213 40 116MB
German Pages 1216 [1178] Year 1998
Semiotik Semiotics HSK 13.2
≥
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer
Herausgegeben von / Edited by / Edite´s par Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand Band 13.2
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
Semiotik Semiotics Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture Herausgegeben von / Edited by Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok 2. Teilband / Volume 2
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die 앪
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Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Semiotik : ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur ⫽ Semiotics : a handbook on the sign-theoretic foundations of nature and culture / herausgegeben von Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 13 ⫽ Handbooks of linguistics and communication science) English and German. Includes bibliographical references and indexes. ISBN 3-11-009584-X (v. 1 : alk. paper) 1. Semiotics. I. Posner, Roland. II. Robering, Klaus. III. Sebeok, Thomas Albert, 1920⫺ . IV. Series: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 13. P99.S3943 1997 302.2⫺dc21 96-49024 CIP
Die Deutsche Bibliothek ⫺ CIP-Einheitsaufnahme Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / mitbegr. von Gerold Ungeheuer. Hrsg. von Hugo Steger ; Herbert Ernst Wiegand. ⫺ Berlin ; New York : de Gruyter. Früher hrsg. von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand Teilw. mit Parallelt.: Handbooks of linguistics and communication science. ⫺ Teilw. mit Nebent.: HSK Bd. 13. Semiotik Teilbd. 2 (1998) Semiotik : ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur ⫽ Semiotics / hrsg. von Roland Posner … ⫺ Berlin ; New York : de Gruyter. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 13) Teilbd. 2 (1998) ISBN 3-11-015661-X
” Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhalt / Contents 2. Teilband / Volume 2 IX.
Geschichte der abendländischen Semiotik IV: Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert History of Western Semiotics IV: From the Renaissance to the Early 19th Century
62.
Stephan Meier-Oeser, Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in general philosophy from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Franke, Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in the philosophy of art and aesthetics from the Renaissance to the early 19th century . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Lenzen, Zeichenkonzeptionen in der Logik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in logic from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trabant, Sign conceptions in the philosophy of language from the Renaissance to the early 19th century (Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard Knobloch, Zeichenkonzeptionen in der Mathematik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in mathematics from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Rauscher, Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in grammar, rhetoric, and poetics from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mario Baroni, Sign conceptions in music from the Renaissance to the early 19th century (Zeichenkonzeptionen in der Musik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joseph Rykwert / Desmond Hui, Sign conceptions in architecture and the fine arts from the Renaissance to the early 19th century (Zeichenkonzeptionen in der Architektur und bildenden Kunst von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . .
63.
64.
65.
66.
67.
68.
69.
1199
1232
1263
1270
1280
1293
1326
1330
VI
70.
Inhalt / Contents
Roger French, Sign conceptions in medicine from the Renaissance to the early 19th century (Zeichenkonzeptionen in der Medizin von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1354
71.
Wolfgang Deppert, Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in natural history and natural philosophy from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1362
72.
Rainer Volp, Zeichenkonzeptionen in der Religion von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert (Sign conceptions in religion from the Renaissance to the early 19th century) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1376
73.
Hans Ulrich Gumbrecht, Sign conceptions in everyday life from the Renaissance to the early 19th century (Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1407
X.
Geschichte der abendländischen Semiotik V: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart History of Western Semiotics V: From the 19th Century to the Present
74.
Adelhard Scheffczyk, Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in general philosophy from the 19th century to the present) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1428
75.
Christoph Hubig, Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in aesthetics from the 19th century to the present) . . 1466
76.
Denis Vernant, Sign conceptions in logic from the 19th century to the present (Zeichenkonzeptionen in der Logik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1483
Karl-Friedrich Kiesow, Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in the philosophy of language from the 19th century to the present) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1512
Klaus Mainzer, Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in mathematics and informatics from the 19th century to the present) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1553
77.
78.
79.
Andreas Dörner, Zeichenkonzeptionen in der Grammatik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in grammar from the 19th century to the present) . . . 1586
VII
Inhalt / Contents
80.
81.
82.
83.
84.
85.
86.
87.
88.
Christiane Pankow, Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in rhetoric, stylistics, and poetics from the 19th century to the present) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eero Tarasti, Sign conceptions in music from the 19th century to the present (Zeichenkonzeptionen in der Musik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Desmond Hui / Joseph Rykwert, Sign conceptions in architecture and the fine arts from the 19th century to the present (Zeichenkonzeptionen in der Architektur und bildenden Kunst vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang U. Eckart, Zeichenkonzeptionen in der Medizin vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in medicine from the 19th century to the present) . . . Ulrich Majer, Zeichenkonzeptionen in der Physik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in physics from the 19th century to the present) . . . . Franz M. Wuketits, Zeichenkonzeptionen in der Biologie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in biology from the 19th century to the present) . . . . Leonhard Bauer, Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in economy from the 19th century to the present) . . . Hermann Deuser, Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in religion from the 19th century to the present) . . . . Winfried Nöth, Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Sign conceptions in everyday life from the 19th century to the present)
XI.
Geschichte der nichtabendländischen Semiotik History of Non-Western Semiotics
89.
Antonio Loprieno, Zeichenkonzeptionen im Alten Orient (Sign conceptions in the Ancient Middle East) . . . . . . . . . . . . . . . Fedwa Malti-Douglas, Sign conceptions in the Islamic World (Zeichenkonzeptionen in der islamischen Welt) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Fiebach, Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika (Sign conceptions in Non-Islamic Africa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bimal Krishna Matilal / Jogesh Chandra Panda, Sign conceptions in India (Zeichenkonzeptionen in Indien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . You-Zheng Li, Sign conceptions in China (Zeichenkonzeptionen in China) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90. 91. 92.
93.
1601
1625
1656
1694
1713
1723
1732
1743
1761
.
1785
.
1799
. 1814
.
1826
.
1856
VIII
94.
Inhalt / Contents
Harald Haarmann, Sign conceptions in Korea (Zeichenkonzeptionen in Korea) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yoshihiko Ikegami, Sign conceptions in Japan (Zeichenkonzeptionen in Japan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Huber, Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen (Sign conceptions in Indonesia and the Philippines) . . . . . . . . . . . . Harald Haarmann, Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens (Sign conceptions in the mainland cultures of South East Asia) . . . . . Gunter Senft, Zeichenkonzeptionen in Ozeanien (Sign conceptions in Oceania) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas König, Zeichenkonzeptionen in Altamerika (Sign conceptions in the Ancient Americas) . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
1881
.
1898
.
1910
.
1928
.
1971
.
1977
XII.
Gegenwartsströmungen der Semiotik Current Trends in Semiotics
100. 101.
Helmut Pape, Peirce and his followers (Peirce und seine Nachfolger) . . . Svend Erik Larsen, Saussure und seine Nachfolger (Saussure and his followers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pirmin Stekeler-Weithofer, Frege und seine Nachfolger (Frege and his followers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sandra B. Rosenthal, Phenomenological Semiotics (Die phänomenologische Semiotik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Walter Schmitz, Die Signifik (Significs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Baldinger, Semasiologie und Onomasiologie (Semasiology and Onomasiology) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Hegselmann, Der Logische Empirismus (Logical Empiricism) Gerrit Haas, Der Konstruktivismus (Constructivism) . . . . . . . . . . . Ursula Niklas, Praxiology (Die Praxiologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . Rom Harre´, Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy (Wittgenstein und die Philosophie der normalen Sprache) . . . . . . . . . Thure von Uexküll, Jakob von Uexkülls Umweltlehre (Jakob von Uexküll and his “Umweltlehre”) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Paetzold, Cassirer und seine Nachfolger (Cassirer and his followers) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert E. Innis, Bühler and his followers (Bühler und seine Nachfolger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Münch / Roland Posner, Morris, his predecessors and followers (Morris, seine Vorgänger und Nachfolger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer, Grübel, Der Russische Formalismus (Russian Formalism) . . . Thomas G. Winner, Prague Functionalism (Der Prager Funktionalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2016
95. 96. 97.
98. 99.
102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113. 114. 115.
2040 2074 2096 2112 2118 2146 2162 2169 2173 2183 2191 2198 2204 2233 2248
IX
Inhalt / Contents
116. 117. 118. 119. 120. 121. 122.
Linda R. Waugh / Stephen Rudy, Jakobson and Structuralism (Jakobson und der Strukturalismus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jørgen Dines Johansen, Hjelmslev and Glossematics (Hjelmslev und die Glossematik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Fleischer, Die Schule von Moskau und Tartu (The Moscow-Tartu School) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herman Parret, Greimas and his school (Greimas und seine Schule) Giampolo Proni, The position of Eco (Die Position Ecos) . . . . . . Søren Kjørup, The approach of Goodman (Der Ansatz Goodmans) Peter Rusterholz, Poststrukturalistische Semiotik (Post-structuralist semiotics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
..
2256
..
2272
. . . .
. 2289 . 2300 . 2311 . 2320
..
2329
1. Teilband / Volume 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Preface . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVI
I. 1. 2. 3. 4.
II.
5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Systematik Systematics Roland Posner, Semiotics and its presentation in this Handbook (Die Semiotik und ihre Darstellung in diesem Handbuch) . . . . . Roland Posner / Klaus Robering, Syntactics (Syntaktik) . . . . . Klaus Robering, Semantik (Semantics) . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Posner, Pragmatics (Pragmatik) . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
1 14 83 219
... ...
247 288
... ... ...
294 300 306
... ...
316 325
...
330
Gegenstand I: Aspekte der Semiose ⫺ Kanäle, Medien und Kodes General Topics I: Aspects of Semiosis ⫺ Channels, Media, and Codes Martin Krampen, Models of semiosis (Modelle der Semiose) . . . Klaus Landwehr, Der optische Kanal (The optical channel) . . . . Gerhard Strube / Gerda Lazarus, Der akustische Kanal (The acoustic channel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Heuer, Der taktile Kanal (The tactile channel) . . . . . . . Jürgen Kröller, Chemical channels (Chemische Kanäle) . . . . . . . Peter Moller, The electric and magnetic channels (Der elektrische und der magnetische Kanal) . . . . . . . . . . . . . . Kurt Brück, Der thermische Kanal (The thermal channel) . . . . . Niels Galley, Die Organisation von Augenbewegungen: Fallstudie einer mehrkanaligen Semiose (The organization of eye movements: A case study of multichannel semiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
X
13. 14. 15. 16. 17.
Inhalt / Contents
Riccardo Luccio, Body behavior as multichannel semiosis (Körperverhalten als mehrkanalige Semiose) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Böhme-Dürr, Technische Medien der Semiose (Technical media in semiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terry Threadgold, Social media of semiosis (Soziale Medien der Semiose) Gavin T. Watt / William C. Watt, Codes (Kodes) . . . . . . . . . . . . . . Rudi Keller / Helmut Lüdtke, Kodewandel (Code change) . . . . . . . .
III.
Gegenstand II: Arten der Semiose General Topics II: Types of Semiosis
18.
Thomas A. Sebeok, The evolution of semiosis (Die Evolution der Semiose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thure von Uexküll, Biosemiose (Biosemiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . F. Eugene Yates, Microsemiosis (Mikrosemiose) . . . . . . . . . . . . . . . Thure von Uexküll / Werner Geigges / Jörg M. Herrmann, Endosemiose (Endosemiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gunda Kraepelin, Mykosemiose (Mycosemiosis) . . . . . . . . . . . . . . Martin Krampen, Phytosemiosis (Phytosemiose) . . . . . . . . . . . . . . Werner Schuler, Zoosemiose (Zoosemiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz M. Wuketits, Anthroposemiose (Anthroposemiosis) . . . . . . . . . Peter Bøgh Andersen / Per Hasle / Per Aage Brandt, Machine semiosis (Maschinensemiose) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Tembrock, Ökosemiose (Environmental semiosis) . . . . . . . . .
19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27.
IV.
Methoden der Semiotik Methods of Semiotics
28.
Wolfgang Balzer, Methodenprobleme der Semiotik (Methodological problems of semiotics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Grotjahn, Daten und Hypothesen in der Semiotik (Data and hypotheses in semiotics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Pelc, Theory formation in semiotics (Theorienbildung in der Semiotik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Pelc, Understanding, explanation, and action as problems of semiotics (Verstehen, Erklären und Handeln als Probleme der Semiotik) . . . .
345 357 384 404 414
436 447 457 464 488 507 522 532 548 571
..
592
..
604
..
617
..
644
V.
Geschichtsschreibung der Semiotik The Historiography of Semiotics
32.
Harald Haarmann, The development of sign conceptions in the evolution of human cultures (Die Entwicklung von Zeichenkonzeptionen in der Evolution menschlicher Kulturen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
668
29. 30. 31.
Inhalt / Contents
33.
34. 35.
XI
Aleida Assmann, Probleme der Erfassung von Zeichenkonzeptionen im Abendland (Problems in the explication of Western sign conceptions) . . . . . . . . .
710
Umberto Eco, History and historiography of semiotics (Geschichte und Geschichtsschreibung der Semiotik) . . . . . . . . . . . .
730
Marcelo Dascal / Klaus D. Dutz, The beginnings of scientific semiotics (Zur Datierung des Beginns einer wissenschaftlichen Semiotik) . . . . . .
746
VI.
Geschichte der abendländischen Semiotik I: Keltisches, Germanisches und Slavisches Altertum History of Western Semiotics I: Celtic, Germanic, and Slavic Antiquity
36.
Harald Haarmann, Zeichenkonzeptionen im keltischen Altertum (Sign conceptions in Celtic Antiquity) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
763
Klaus Düwel, Zeichenkonzeptionen im germanischen Altertum (Sign conceptions in Germanic Antiquity) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
803
Walter Koschmal, Zeichenkonzeptionen im slavischen Altertum (Sign conceptions in Slavic Antiquity) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
822
37. 38.
VII.
Geschichte der abendländischen Semiotik II: Griechische und Römische Antike History of Western Semiotics II: Ancient Greece and Rome
39.
Ezio Pellizer, Sign conceptions in pre-classical Greece (Zeichenkonzeptionen der griechischen Vorklassik) . . . . . . . . . . . . .
831
Karlheinz Hülser, Zeichenkonzeptionen in der Philosophie der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in philosophy in Ancient Greece and Rome) . . . . . . .
837
Pirmin Stekeler-Weithofer, Zeichenkonzeptionen in der Mathematik der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in mathematics in Ancient Greece and Rome) . . . . .
862
Giovanni Manetti, Sign conceptions in grammar, rhetoric, and poetics in Ancient Greece and Rome (Zeichenkonzeptionen in der Grammatik, Rhetorik und Poetik der griechischen und römischen Antike) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
876
Albrecht Riethmüller, Zeichenkonzeptionen in der Musik der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in music in Ancient Greece and Rome) . . . . . . . . . .
893
Alexandros Ph. Lagopoulos, Sign conceptions in architecture and the fine arts in Ancient Greece and Rome (Zeichenkonzeptionen in der Architektur und bildenden Kunst der griechischen und römischen Antike) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
900
40.
41.
42.
43.
44.
XII
45.
46.
47.
48.
Inhalt / Contents
Volker Langhoff, Zeichenkonzeptionen in der Medizin der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in medicine in Ancient Greece and Rome) . . . . . . . . Giovanni Manetti, Sign conceptions in natural history and natural philosophy in Ancient Greece and Rome (Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre der griechischen und römischen Antike) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Graf, Zeichenkonzeptionen in der Religion der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in religion in Ancient Greece and Rome) . . . . . . . . . Wolfgang Schindler und Detlef Rößler, Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben der griechischen und römischen Antike (Sign conceptions in everyday life in Ancient Greece and Rome) . . . . .
912
922
939
958
VIII. Geschichte der abendländischen Semiotik III: Das Mittelalter History of Western Semiotics III: The Middle Ages 49.
50. 51.
52. 53.
54.
55.
56.
57.
Stephan Meier-Oeser, Zeichenkonzeptionen in der Philosophie des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in philosophy in the Latin Middle Ages) . . . . . . . . . Franc¸oise Bare´, Sign conceptions in aesthetics in the Latin Middle Ages (Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik des lateinischen Mittelalters) . . . George Molland, Sign conceptions in mathematics in the Latin Middle Ages (Zeichenkonzeptionen in der Mathematik des lateinischen Mittelalters) Stephen F. Brown, Sign conceptions in logic in the Latin Middle Ages (Zeichenkonzeptionen in der Logik des lateinischen Mittelalters) . . . . . Markus H. Wörner, Zeichenkonzeptionen in der Grammatik, Rhetorik und Poetik des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in grammar, rhetoric, and poetics in the Latin Middle Ages) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franco Alberto Gallo, Sign conceptions in music in the Latin Middle Ages (Zeichenkonzeptionen der in Musik des lateinischen Mittelalters) . . . . . Hans Holländer, Zeichenkonzeptionen in der Architektur und bildenden Kunst des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in architecture and the fine arts in the Latin Middle Ages) Costantino Marmo, Sign conceptions in medicine in the Latin Middle Ages (Zeichenkonzeptionen in der Medizin des lateinischen Mittelalters) . . . Ludger Kaczmarek, Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in natural history and natural philosophy in the Latin Middle Ages) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
984 1022
1029 1036
1046
1060
1065
1094
1099
Inhalt / Contents
58.
59.
60. 61.
Rudolf Suntrup, Zeichenkonzeptionen in der Religion des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in religion in the Latin Middle Ages) . . . . . . . . . . . Klaus Frerichs, Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben des lateinischen Mittelalters (Sign conceptions in everyday life in the Latin Middle Ages) . . . . . . . Franz Tinnefeld, Zeichenkonzeptionen im griechischen Mittelalter (Sign conceptions in the Greek Middle Ages) . . . . . . . . . . . . . . . . . Claude Gandelman, Sign conceptions in the Judaic tradition (Zeichenkonzeptionen in der jüdischen Tradition) . . . . . . . . . . . . . .
3. Teilband (Überblick über den vorgesehenen Inhalt) Volume 3 (Preview of Contents) XIII. Semiotik und andere interdisziplinäre Wissenschaften Semiotics and Other Interdisciplinary Approaches 123.
124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131.
Roland Posner, The relationship between individual disciplines and interdisciplinary approaches (Das Verhältnis zwischen Wissenschaftsdisziplinen und interdisziplinären Ansätzen) Klaus Robering, Semiotik und Wissenschaftstheorie (Semiotics and the philosophy of science) Helmar Frank, Semiotik und Informationstheorie (Semiotics and information theory) Herbert Stachowiak, Semiotik und Systemtheorie (Semiotics and systems theory) Reinhard Köhler, Semiotik und Synergetik (Semiotics and synergetics) Alexandre Me´traux, Semiotik und Theorie der Entwicklungsprozesse (Semotics and the theory of developmental processes) Michael Stadler / Wolfgang Wildgen, Semiotik und Gestalttheorie (Semiotics and gestalt theory) Irene Berkel, Semiotik und Psychoanalyse (Semiotics and psychoanalysis) Oliver Scholz, Semiotik und Hermeneutik (Semiotics and hermeneutics)
XIV. Semiotik und Einzelwissenschaften Semiotics and Individual Disciplines 132. 133.
Roland Posner, The semiotic reconstruction of individual disciplines (Die semiotische Rekonstruktion der Einzelwissenschaften) Pirmin Stekeler-Weithofer, Semiotische Aspekte der Mathematik (Semiotic aspects of mathematics)
XIII
1115
1132 1148 1183
XIV
134. 135. 136.
137. 138. 139.
140. 141.
142.
143. 144.
145. 146. 147.
148. 149.
150.
151.
Inhalt / Contents
Andreas Kamlah, Semiotische Aspekte der Physik (Semiotic aspects of physics) Dieter Hellwinkel, Semiotische Aspekte der Chemie (Semiotic aspects of chemistry) Felix Schmeidler, Semiotische Aspekte der Astronomie und Kosmologie (Semiotic aspects of astronomy and cosmology) Kenneth E. Foote, Semiotische Aspekte der Geographie (Semiotic aspects of geography) Jesper Hoffmeyer, Semiotic aspects of biology: Biosemiotics (Semiotische Aspekte der Biologie: Biosemiotik) Andreas Müller / Joachim R. Wolff, Semiotische Aspekte der Neurophysiologie: Neurosemiotik (Semiotic aspects of neurophysiology: Neurosemiotics) Peter Hucklenbroich, Semiotische Aspekte der Medizin: Medizinsemiotik (Semiotic aspects of medicine: Medical semiotics) John A. Michon / Janet L. Jackson, Semiotic aspects of psychology: Psychosemiotics (Semiotische Aspekte der Psychologie: Psychosemiotik) Hans-Georg Soeffner / Hans Hagen Hildebrandt, Semiotische Aspekte der Soziologie: Soziosemiotik (Semiotic aspects of sociology: Sociosemiotics) Bernard S. Jackson, Semiotic aspects of jurisprudence: Legal semiotics (Semiotische Aspekte der Rechtswissenschaft: Rechtssemiotik) Hartmut Kliemt, Semiotische Aspekte der Wirtschaftswissenschaften: Wirtschaftssemiotik (Semiotic aspects of economics) Pertti Ahonen, Semiotic aspects of political science: Political semiotics (Semiotische Aspekte der Politikwissenschaft: Politiksemiotik) Mauro Wolf, Semiotic aspects of mass media studies (Semiotische Aspekte der Publizistikwissenschaft) Luisa Passerini / Antonis Liakos, Semiotic aspects of the historical disciplines (Semiotische Aspekte der Geschichtswissenschaften: Geschichtssemiotik) Klaus Frerichs, Semiotische Aspekte der Archäologie (Semiotic aspects of archeology) Jörg Peters, Semiotische Aspekte der Sprachwissenschaft: Sprachsemiotik (Semiotic aspects of linguistics: Semiotics of natural languages) Michael Titzmann, Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik (Semiotic aspects of literary studies: Semiotics of literature) Erika Fischer-Lichte, Semiotische Aspekte der Theaterwissenschaft: Theatersemiotik (Semiotic aspects of the performing arts)
Inhalt / Contents
152.
153. 154.
155.
156.
157. 158.
Guerino Mazzola, Semiotische Aspekte der Musikwissenschaft: Musiksemiotik (Semiotic aspects of musicology: Semiotics of music) Rolf Kloepfer, Semiotische Aspekte der Filmwissenschaft: Filmsemiotik (Semiotic aspects of film studies: Semiotics of the cinema) Omar Calabrese, Semiotic aspects of art history: Semiotics of the fine arts (Semiotische Aspekte der Kunstgeschichte: Kunstsemiotik) Claus Dreyer, Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft: Architektursemiotik (Semiotic aspects of the study of architecture: Semiotics of architecture) Volker Heeschen, Semiotische Aspekte der Ethnologie: Ethnosemiotik (Semiotic aspects of ethnology and social anthropology: Ethnosemiotics) Donald J. Cunningham, Semiotic aspects of pedagogy (Semiotische Aspekte der Pädagogik) Eckhard Tramsen, Semiotische Aspekte der Religionswissenschaft: Religionssemiotik (Semiotic aspects of religious studies: Semiotics of religion)
XV.
Ausgewählte Gegenstände der Semiotik Selected Topics of Semiotics
159.
Friedrich Kittler, Geschichte der Kommunikationstechniken (The history of communications technology) Yishai Tobin, Divination and futurology (Mantik und Futurologie) Peter Bøgh Andersen / Berit Holmqvist, Work (Arbeit) Gunter Gebauer, Sport (Sports) Paul Bouissac, Interspecific Communication (Kommunikation zwischen Lebewesen verschiedener biologischer Arten) Philip B. Stafford, Gerontology and Geriatrics (Gerontologie und Geriatrie) Bennetta Jules-Rosette, Tourism (Tourismus) Ute Werner, Geschäftsleben (Business) Augusto Ponzio, Ideology (Ideologie) Karl Grammer, Körpersignale in menschlicher Interaktion (Body signals in human interaction) Ernest W. B. Hess-Lüttich, Multimediale Kommunikation (Multimedia Communication) Søren Kjørup, Pictograms (Piktogramme) Eva-Maria Baxmann-Krafft / Bernd Hartlieb, Zeichennormung für Handwerk und Industrie (Standardization of signs for trade and industry) Umberto Eco, Fakes in arts and crafts (Fälschungen in Kunst und Kunstgewerbe)
160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167. 168. 169. 170. 171.
172.
XV
XVI
173. 174. 175. 176.
Inhalt / Contents
Antonio Tadiotto, Ciphers and other secret codes (Chiffren und Geheimkodes) Jose´ Lambert / Clem Robyns, Translation (Übersetzung) Peter Mühlhäusler, Universal languages and language planning (Universalsprachen und Sprachplanung) Richard Berendzen / Bernard M. Oliver, Extraterrestrial communication (Extraterrestrische Kommunikation)
XVI. Anhang Appendix 177. 178.
Gloria Withalm, Semiotische Organisationen (Semiotic organizations) Gloria Withalm, Semiotische Nachschlagewerke und Zeitschriften (Semiotic reference works and periodicals)
Personenindex (Index of persons) Sachindex (Index of subjects)
IX. Geschichte der Semiotik im Abendland IV: Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert History of Western Semiotics IV: From the Renaissance to the Early 19th Century 62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Zeichentheorie 2. Die Zeichenkonzeption in den logischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts 2.1. Die Definition des Zeichens 2.2. Die ratio signi (der Bestimmungsgrund des Zeichens) und die Zeichenrelationen 2.3. Die Termini und ihre Signifikation 2.4. Die Typologie der Zeichen 3. Die Zeichen in der protestantischen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts 4. Die Zeichentheorie in der Metaphysik des 18. Jahrhunderts 5. Die Zeichen in der hermetischneuplatonischen Naturphilosophie der Renaissance 6. Die Zeichenkonzeption der entstehenden Naturwissenschaften 7. Modelle artifizieller Zeichensysteme 7.1. „Universal language“ und „philosophical language“ 7.2. Die „characteristica universalis“: G. W. Leibniz 8. Das Zeichen in der Erkenntnislehre 8.1. Das Zeichen in der perzeptiven Erkenntnis 8.2. Die Funktion des Zeichens für das Denken 9. Zusammenfassung: die neuzeitliche Entwicklung der Zeichentheorie bis ins frühe 19. Jahrhundert 10. Literatur (in Auswahl)
1.
Mittelalterliche und frühneuzeitliche Zeichentheorie
Das komplexe Gefüge der Kontinuitäten, Transformationen und Neuansätze, welches das Verhältnis von mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Logik und Metaphysik bestimmt, ist auch für die Entwicklung der Zeichentheorie vom 14. bis zum 17. Jahrhundert
charakteristisch. Ein signifikanter Bruch, der benennbar oder gar eindeutig datierbar wäre, fand hier, entgegen der geläufigen Kontrastierung von Mittelalter und Renaissance, nicht statt. Der Fundus der frühneuzeitlichen Zeichentheorie ist im wesentlichen gebildet durch mittelalterliche Vorgaben. Denn sowohl die zentralen zeichentheoretischen Fragestellungen als auch das Spektrum ihrer Beantwortung sowie das hierfür verwendete theoretische und terminologische Instrumentarium der Prämoderne entstammen älteren Diskussionen. Eine Veränderung zeichnet sich allerdings insofern ab, als die Theorie des Zeichens im 17. Jahrhundert in stärkerem Maße zu einem Thema mit eigener Geltung avanciert und ihre Darstellung im Rahmen der philosophischen Lehrbücher mitunter die Form und den Umfang von in sich geschlossenen Zeichentraktaten annimmt (vgl. Conimbricenses 1607 ⫽ 1976; Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930). In der Geschichte der philosophischen Disziplinen lassen sich während des 16. und 17. Jahrhunderts zwei Diskurse aufweisen, innerhalb derer eine allgemeine Zeichentheorie entwickelt wurde. (1) Im katholischen Raum wird die Theorie der Zeichen traditionell als Teil der Logik behandelt und an jenen Systemstellen, die sich auf die Summulae des Petrus Hispanus oder das erste Kapitel der Aristotelischen Schrift Perı` herme¯neı´as beziehen, in die Logiklehrbücher sowie die philosophischen Kurse integriert. (2) Im protestantischen Raum, wo sich eine Erörterung des Zeichens im Rahmen der Logik nur vereinzelt finden läßt (z. B. Derodon 1659, 492 ff), wird die Zeichentheorie seit dem frühen 17. Jahrhundert als Teil der Metaphysik
1200
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
in zahlreiche der für den universitären Gebrauch bestimmten Lehrbücher aufgenommen.
2.
Die Zeichenkonzeption in den logischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts
2.1. Die Definition des Zeichens Die in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Logik zugrunde gelegte Definition des signum ist ⫺ anders als vielfach zu lesen ⫺ nicht die zweistellige Relation des „aliquid stat pro aliquo“. Ausgegangen wird vielmehr allgemein von der auf Petrus Hispanus (ca. 1230) zurückgehenden Zeichendefinition: „Signum est, quod potentiae cognoscenti aliquid repraesentat“ („Ein Zeichen ist etwas, das einem Erkenntnisvermögen etwas repräsentiert“; Soto 1554 ⫽ 1990, fol. 2r; Fonseca 1574, 11). Neben dieser Basisdefinition finden sich zahlreiche Varianten, die entweder vereinfachende Umschreibungen sind oder weitere für das Zeichen und den Akt des Bezeichnens als konstitutiv erachtete Bestimmungen enthalten (vgl. Art. 49). Die gebräuchlichsten lauten: „Significare est potentiae cognitivae aliquid vel aliqua vel aliqualiter ipsam immutando repraesentare“ („Bezeichnen ist etwas oder mehreres oder auf irgendeine Weise einem Erkenntnisvermögen repräsentieren, indem man verändernd auf es einwirkt“; Eck 1517, fol. 71ra; vgl. Nuchelmans 1980, 14 f); „Signum est id, quod facit nos in alicuius rei cognitionem venire“ („Ein Zeichen ist etwas, das uns zur Kenntnis irgendeiner Sache führt“; Arriaga 1632, 178a); „Signum est quod potentiae cognoscenti aliquid repraesentat a se distinctum“ („Ein Zeichen ist etwas, das etwas von ihm Unterschiedenes einem Erkenntnisvermögen repräsentiert“; Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 646a; Compton Carleton 1649, 157a; Ioanniz et Echalaz 1656, 3b; Irenaeus a Sancto Jacobo 1658, 14a). Allen diesen Definitionen gemeinsam ist die Einbindung des Zeichens in ein dreistelliges Beziehungsgefüge. Etwas ist Zeichen von etwas für jemanden ⫺ oder, mit den Worten von Peirce (siehe Art. 100): „A sign stands for something to the idea which it produces, or modifies“ (1931⫺58, 1.339; vgl. 1.346). Diese Definitionen werden zumeist explizit der Augustinischen Zeichendefinition aus De doctrina christiana II,1 („Signum est res praeter
speciem quam ingerit sensibus, aliud aliquid ex se faciens in cogitationem venire“) gegenübergestellt, welche für zu eng erachtet wird, da sie allein für die sinnlich wahrnehmbaren Instrumentalzeichen, nicht aber für die Formalzeichen bzw. die geistigen Begriffe (s. u. § 2.4.1.) gilt (vgl. Art. 49 § 2.1). 2.2. Die ratio signi (der Bestimmungsgrund des Zeichens) und die Zeichenrelationen Nach der gängigen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Auffassung vollzieht sich der Bezeichnungsakt („significatio“) in einem dreistelligen Prozeß, bei dem das Zeichen als Mittler zwischen dem Signifikat und dem Zeichenrezipienten fungiert. Das Zeichen schließt somit zwei Relationen ein: (1) die Beziehung auf das Signifikat und (2) die Beziehung auf das das Zeichen erkennende Vermögen (vgl. Conimbricenses 1607 ⫽ 1976, 9; Arriaga 1632, 179a; Lynceus 1654, 205a; vgl. ferner Willius 1614, 109; Scheibler 1622 ⫽ 1636, 364 f; Derodon 1659, 492; Stannarius 1661, 85). Kontrovers wurde diesbezüglich die Frage diskutiert, ob beide Beziehungen gleichrangig, d. h. für den Vollbegriff des Zeichens im selben Maße konstitutiv sind. Während einige Autoren auf dem notwendigen Vorhandensein beider Beziehungen insistieren (Conimbricenses 1607 ⫽ 1976, 9 f; Lynceus 1654, 205a), vertreten andere die Position, daß etwas, um signifikativ, d. h. um Zeichen zu sein, nicht notwendigerweise etwas anderes aktual repräsentieren muß (Soto 1554, fol. 3v; Arriaga 1632, 179a). So würde auch der von niemandem gesehene Rauch Zeichen des Feuers sein und die Zeichen in einem geschlossenen Buch trotz des Ausfalls der aktualen Beziehung auf ein Erkenntnisvermögen signifikativ bleiben, weshalb nach dieser Auffassung die Worte der Zeichendefinition auch nicht im Sinne eines tatsächlichen Aktes, sondern im Sinne der Eignung zu einem solchen zu verstehen sind (Soto 1554, fol. 3va). Ein Zeichen wäre dieser Lesart zufolge etwas, das geeignet ist, irgendeinem Erkenntnisvermögen etwas zu repräsentieren (vgl. Ecos (1987, 38 f) Modifikation der Morrisschen Zeichendefinition; dazu siehe Art. 113). Nach dieser Meinung genügt bereits die Beziehung auf das Signifikat, um etwas „in actu primo“, d. h. potentiell, zu einem Zeichen zu machen. Durch das Hinzutreten der zweiten Beziehung auf das Erkenntnisvermögen wird das Zeichen lediglich aktuiert, d. h. es wird zu einem Zeichen „in actu secundo“, welches nicht allein signifikativ ist, sondern
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
aktual signifizierend (vgl. Cornaeus 1657, 173; Ioanniz et Echalaz 1656, 215a; Caramuel de Lobkowitz 1642, 6a). Nach einer anderen, vorwiegend von Thomisten wie Francisco de Arau´jo und Johannes a Sancto Thoma vertretenen Lehre, sind beide Beziehungen zu einer einzigen, im Vollsinne dreistelligen Zeichenrelation zusammengebunden, welche direkt auf das Signifikat und indirekt („in obliquo“) auf das Erkenntnisvermögen abzielt (vgl. Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 664; vgl. Beuchot 1980, 50 f). Dort, wo das Zeichen speziell in seiner kommunikativen Funktion thematisiert wird, kann der Bezug zum Erkenntnisvermögen weiter ausdifferenziert und der Bezeichnungsakt als vierstelliges Relationsgefüge interpretiert werden. In diesem Sinne gilt dann: „Signum dicit respectum ad tria: primo ad intellectum a quo imponatur, secundo ad personam cui significat, tertio ad rem, ad quam imponatur“ („Ein Zeichen impliziert einen Bezug auf dreierlei: erstens auf den Intellekt, von dem es eingesetzt wird, zweitens auf die Person, der es etwas bezeichnet, drittens auf die Sache, für die es eingesetzt wird”; Hurtado de Mendoza 1617, 145; Oviedo 1640, 140; Ioanniz et Echalaz 1656, 215a). Da sprachliche Ausdrücke intentional auf Mitteilung bezogen sind, zu einer solchen es aber ebensowohl eines Zeichensenders bedarf, der einen Gedanken qua Zeichen mitzuteilen beabsichtigt, wie eines Empfängers, der in der Lage ist, diese zu verstehen, handelt es sich dort, wo einer dieser Bezüge fehlt, nicht im eigentlichen Sinne um eine Semiose. Das von einem Papageien hervorgebrachte Wort ist dieser Auffassung nach ebensowenig Zeichen im Vollsinn, wie das zu einem Stein gesprochene. Die hiermit betonte Notwendigkeit eines dem Zeichen zugrunde liegenden Verständnisses oder Begriffs auf seiten des Zeichensenders wurde allerdings nicht durchgängig anerkannt, sondern häufig das Zeichenverständnis seitens des Zeichenrezipienten ebenso wie für das natürliche auch für das willkürliche Zeichen als hinreichend angenommen (Caramuel de Lobkowitz 1642, 6a; Compton Carleton 1649, 162 f; Guarini 1665, 730a). Kontrovers war desweiteren die Frage, ob jene Beziehungen den wesensmäßigen Bestimmungsgrund („ratio formalis signi“) ausmachen oder nicht, sowie das damit verbundene Problem, ob es sich bei den in der Zeichendefinition angezeigten Beziehungen um kategoriale Relationen handelt
1201 (was die Behandlung der Zeichentheorie auf der Grundlage der Relationentheorie erforderlich macht) oder lediglich um metaphysisch unbelastete Rücksichten und Eignungen („respectus“, „aptitudines“; vgl. Conimbricenses 1607 ⫽ 1976, 10 f). Erstere Position wurde zumeist von den Thomisten vertreten, nach denen, anders als für die jesuitischen Zeichentheoretiker, das signum in ontologischer Hinsicht zwangsläufig unter die Kategorie der Relation fällt (vgl. Beuchot 1980, 48 ff). Die differenzierteste und theoretisch anspruchsvollste Erörterung des Zeichens vor dem Hintergrund der Relationstheorie findet sich bei Johannes a Sancto Thoma (⫽ Jean Poinsot (1589⫺1644); vgl. Herculano de Carvalho 1969; Deely 1974; 1983). Nach ihm kommt im Begriff des Zeichens zweierlei zusammen: (1) das Moment des Manifestierens oder Repräsentierens und (2) die Hinordnung auf ein anderes, und zwar a) auf die bezeichnete Sache, die, weil nichts Zeichen seiner selbst sein kann, vom Zeichen verschieden sein muß, und b) auf das Erkenntnisvermögen, dem es diese Sache manifestiert oder repräsentiert (Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 646a). Hinsichtlich der von Johannes affirmativ beantworteten Frage, ob das Zeichen unter die Kategorie der Relation fällt, gibt er zu beachten, daß die von diesem geleistete Manifestation oder Repräsentation eine besondere Form derselben darstellt. Denn ein Manifestieren im allgemeinen impliziert noch nicht das Vorhandensein einer Relation, da etwas sowohl (wie das Licht) sich selbst, d. h. ohne Hinordnung auf ein anderes, als auch ein anderes dergestalt manifestieren kann, daß es wie das Licht hinsichtlich der Farben oder die Prämissen hinsichtlich der Konklusion nicht von diesem abhängig ist. Nach Johannes ist jedoch beides, die Hinordnung auf ein anderes ebenso wie die Abhängigkeit vom Manifestierten bzw. vom Signifikat, die er zum Teil in drastischer Weise als Herr-undKnecht-Verhältnis darstellt (1632 ⫽ 1930, 649; 651b; 663a), konstitutiv für das Manifestativsein des Zeichens (646b). Deshalb greift für ihn auch die Zeichendefinition derjenigen zu kurz, die (wie die Jesuiten) den Wesensgrund des Zeichens in dessen Vermögen legen, zur Erkenntnis von etwas anderem zu führen („esse ductivum ad alterum cognoscendum“). Denn dieses Vermögen ist nichts anderes als die „ratio manifestativi seu repraesentativi“ unter Ausschluß der Selbstrepräsentation (647a). Zwar ist ein solches
1202
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Repräsentieren eines anderen wesentliches Bestimmungsmoment des Zeichens. Der Vollbegriff des Zeichens erfordert darüber hinaus jedoch, daß es sich auf sein Signifikat nicht nur wie auf ein von ihm bloß zu Manifestierendes, sondern wie auf ein vornehmlich zu Erkennendes bezieht, welches das Maß seiner selbst (des Zeichens) ist und dessen Stelle es vertritt. Die hier vorliegende Maß- oder Substitutionsbeziehung zum Signifikat ist eine seinsmäßige Relation („relatio secundum esse“). In ihr besteht nach Johannes a Sancto Thoma der Bestimmungsgrund oder das Wesen des Zeichens, die „ratio signi“ (647a). So geht auch im Falle der Präsenz des Repräsentierten die Funktion und der Seinsgrund des Repräsentanten verloren („si res seipsa manifestatur, cessat ratio et officium signi“; 648b) ⫺ ein Theorem, das in politischer Wendung später bei Rousseau zur Begründung der Suspension einer Regierung zum Zeitpunkt der Versammlung aller Bürger dient (Rousseau 1959⫺69, 3.427 f). Weil die „relatio secundum esse“ sowohl die Realbeziehung als auch die gedanklichen Relationen umfaßt, besteht die „ratio formalis signi“, der Wesensgrund des Zeichens, in jedem Fall in einer seinsmäßigen Relation des Zeichens zum Bezeichneten, gleichgültig, ob es sich dabei, wie im Falle des natürlichen Zeichens, um eine „relatio realis“ (656b) oder, wie im Falle des willkürlich eingesetzten Zeichens, um eine „relatio rationis“ (658b) handelt. Das Fundament dieser Relation ist das Vermögen des Zeichens, das Signifikat zu manifestieren bzw. zu repräsentieren. Dieses gründet in einer Übereinstimmung, Proportion oder einem Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Solches kann, wie Johannes, ein gebräuchliches Lehrstück aufgreifend, ausführt, auf dreierlei Weise gegeben sein: (1) durch das Verhältnis einer Ähnlichkeit, Abbildlichkeit oder einer anderen Proportionalität, (2) durch ein Kausalverhältnis und (3), wie im Fall der willkürlichen Sprachzeichen, durch die Einsetzung oder Bestimmung durch die Sprechergemeinschaft (655b). Diese Modi des Zusammenhanges von Zeichen und Bezeichnetem sind damit exakt dieselben, aus denen Peirce seine Trichotomie des Zeichens in „icon“, „index“ und „symbol“ entwickelt hat (Peirce 1931⫺58: 1.372; vgl. Art. 100). Nach Johannes a Sancto Thoma muß zu dem hierdurch begründeten Vermögen des Manifestierens oder Repräsentierens noch die Substitutionsbeziehung zum Bezeichneten hinzukommen, um den Vollbe-
griff des Zeichens zu konstituieren. Fällt diese durch die Nichtexistenz des Signifikats aus (als Beispiel dient das Bild des gestorbenen Kaisers; Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 651a), so ist das Zeichen nicht mehr „formaliter“ bzw. wesensmäßig, sondern nurmehr „fundamentaliter“ oder virtuell ein solches. Weil das Zeichen jedoch nicht aufgrund seiner Stellvertreterrelation sondern aufgrund dieses Fundaments der Relation repräsentativ ist und das Vermögen zur Erkenntnis bewegt, reicht bereits das virtuelle Zeichensein aus, um etwas aktual zu bezeichnen (651a; vgl. 661b). Neben der von Johannes ins Zentrum seiner Erörterung gestellten Relation des Zeichens auf das Signifikat wurde das Zeichen zumeist in eine direkte Relation zum Erkenntnisvermögen gestellt. Eine solche erkennt Johannes nicht an. Hinsichtlich dieser Beziehung ist ihm zufolge zweierlei zu unterscheiden. Das Zeichen bezieht sich nämlich auf das Erkenntnisvermögen (1) insofern es Gegenstand desselben ist und (2) insofern es Zeichen ist. Allein bei der ersten Beziehung, die das Zeichen mit allen übrigen Erkenntnisgegenständen, die selbst nicht Zeichen sind, gemeinsam hat, handelt es sich um eine direkte Beziehung. Als Zeichen dagegen bezieht es sich nur indirekt über die Vermittlung seiner Beziehung zum Signifikat auf das Erkenntnisvermögen. Und in dieser dreistelligen Relation, in der sich das Zeichen direkt auf sein Signifikat und indirekt auf das Erkenntnisvermögen bezieht, besteht der eigentliche Wesensgrund des Zeichens, die „propria et formalis ratio signi“ (664). Beide Momente dieser komplexen Zeichenrelation sind untrennbar miteinander verbunden und zu einer einzigen durchlaufenden Bewegung integriert (665). 2.3. Die Termini und ihre Signifikation Bedingt durch den Kontext, in dem die Zeichentheorie hier abgehandelt wurde, standen logische oder logisch-semantische Problemstellungen im Vordergrund (vgl. Art. 52 und 64). Ein besonderes Gewicht wurde auf die Erörterung der Termini als der elementaren Bestandteile des Aussagesatzes gelegt (vgl. Ashworth 1974, 42 ff; Nuchelmans 1980, 16 ff; siehe Art. 49 § 5.). Allgemein unterscheidet man gemäß mittelalterlichen Vorgaben zwischen (1) dem gesprochenen, (2) dem geschriebenen und (3) dem geistigen Begriff oder Terminus („terminus vocalis, scriptus mentalis“), wobei letzterer seinerseits unter-
1203
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Abb.62.1: Die Signifikationsbeziehungen der Termini nach Johann Eck (1516, fol. 71v): conceptus vocis: a) bezeichnet direkt und auf natürliche Weise das Zeichen (terminus vocis oder scriptum), b) bezeichnet infolge des Zeichens die bezeichnete Sache (signatum), c) bezeichnet infolge des Zeichens und des Bezeichneten zugleich den Sachbegriff (terminus rei), terminus vocalis oder terminus scriptus:
a) bezeichnet auf willkürliche Weise die bezeichnete Sache, b) bezeichnet infolge der bezeichneten Sache den Sachbegriff,
conceptus rei:
a) bezeichnet direkt und auf natürliche Weise die bezeichnete Sache.
teilt wird in a) den geistigen Begriff der Sache („terminus“ oder „conceptus ultimus“) als elementaren Bestandteil des sprachfreien Mentalsatzes und b) in den geistigen Begriff oder die Vorstellung des gesprochenen oder geschriebenen Wortes („terminus“ oder „conceptus non-ultimus“ bzw. „medius“; vgl. Toletus 1615/16, 14a; Soto 1554, fol. 5rv; Fonseca 1574, 16; Hurtado de Mendoza 1617, 10; Aversa 1623, 19a; Arriaga 1632, 3b f; Compton Carleton 1649, 6a). Die beiden Arten des terminus mentalis entsprechen damit ungefähr den Bestandteilen des Saussureschen Zeichens, der Vorstellung und dem Lautbild (der „terminus non ultimus“ wurde bisweilen als „imago vocis“ charakterisiert), ohne jedoch deren untrennbare Verbundenheit zu implizieren (vgl. Art. 101). Vielmehr wird der terminus ultimus, der geistige Begriff einer Sache, als von jeder gesprochenen oder imaginierten Sprache unabhängig aufgefaßt (vgl. Hübener 1983). Wie im Mittelalter gehört
auch im 16. und 17. Jahrhundert die Frage nach der Signifikation der genannten Termini zum festen Bestandteil der Logiklehrbücher (vgl. Abb. 62.1). Herrschte bezüglich der termini mentales dahingehend allgemeiner Konsens, daß der terminus ultimus als Zeichen der Sache und der terminus non ultimus als Zeichen des sprachlichen Ausdrucks in seiner phonologischen oder visuellen Erscheinungsform zu verstehen sei, wurde das Problem der Signifikation des terminus vocalis und ⫺ wenn auch in geringerem Maße ⫺ des terminus scriptus äußerst kontrovers diskutiert (vgl. Ashworth 1981). Denn die Feststellung von Roland Barthes, wonach sich heutzutage „alle darin einig sind, daß das Signifikat kein Ding ist, sondern eine psychische Darstellung von dem Ding“ (1979, 36 f), charakterisiert zwar die seit dem späten 17. Jahrhundert (und, mit Einschränkungen, bis zum frühen 14. Jahrhundert) herrschende Auffassung; für den hier behandelten Zeitraum jedoch gilt sie
1204
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
nicht. Die noch in der Hochscholastik dominierende, seit Scotus, Burleigh und Ockham zunehmend unter Druck geratene Auffassung, daß die sprachlichen Ausdrücke („voces“) unmittelbar die Begriffe und durch deren Vermittlung erst die Dinge bezeichnen („res mediantibus conceptibus“), wird in dieser reinen Form während des 16. und 17. Jahrhunderts nur noch selten vertreten. Verbreiteter sind jene Positionen, nach denen sich die voces in gleichunmittelbarer Weise signifikativ auf die Begriffe und die Dinge beziehen (Soto 1554, fol. 3rb; Conimbricenses 1607, 38 f; Lynceus 1654, 214a), oder die sogar allein die Dinge als das unmittelbare Signifikat der sprachlichen Ausdrücke bestimmen (Eck 1517, fol. 72r; Hurtado de Mendoza 1617, 147; Caramuel de Lobkowitz 1642, 8b f; Franciscus Bonae Spei 1652, 12a; Guarini 1665, 730a). Nach dieser Auffassung läßt sich aus den bezeichneten Sachen allenfalls „consecutive et per illationem“ erschließen, was für ein Begriff im Intellekt des Sprechers vorhanden ist (Aversa 1623, 124b). Hiermit ist auch terminologisch die genaue Umkehrung der früheren „mediantibus-conceptibus“-These des älteren Thomismus erreicht. Die sprachlichen Ausdrücke bezeichnen nicht mehr die geistigen Begriffe und durch deren Vermittlung die Dinge („mediantibus conceptibus“) sondern unmittelbar die Dinge, die Begriffe jedoch erst vermittels eines Rückschlusses von den bezeichneten Dingen auf die beim Sprecher anzunehmenden Konzepte („mediate conceptus“; vgl. Compton Carleton 1649, 159b; Franciscus Bonae Spei 1652, 12a). Auch dort, wo der terminus vocalis aus seiner signifikativen Abhängigkeit von den Begriffen gelöst wurde, blieb die Schrift häufig auf die Sprache bezogen und konnte nicht ebenfalls in eine Immediatbeziehung zu den Dingen treten (vgl. Aversa 1623, 126a). Die Auffassung, nach der die Schrift gleichwertig mit den sprachlichen Ausdrücken unmittelbar die Dinge bezeichnet („tam conceptus quam voces et scripturas esse aequipollentia signa res ipsas immediate significantia“; Caramuel de Lobkowitz 1642, 9a), wurde zwar verschiedentlich vertreten (Oviedo 1640, 141; Compton Carleton 1649, 160b; Mastrius de Meldula 1708, 99a), sie hat sich jedoch im ganzen gesehen nicht durchsetzen können. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil gerade im 17. Jahrhundert stärker zu Bewußtsein kommt, daß es Sonderformen von Schrift gibt, die sich unmittelbar signifikativ auf die
Dinge beziehen. Neben den arithmetischen Zeichen, den Ziffern, werden in diesem Zusammenhang die ägyptischen Hieroglyphen und die chinesischen Schriftzeichen erwähnt (Conimbricenses 1607, 47 f; Aversa 1623, 126b; Arriaga 1632, 184; vgl. Art. 63 § 3.1.3.). 2.4. Die Typologie der Zeichen Mit den verschiedenen Arten der termini war ein Spektrum von Zeichen vorgegeben, dessen eingehende Darstellung die Entwicklung einer Zeichentypologie erforderlich machte, welche ihrerseits den Raum für die Berücksichtigung von Zeichen schuf, die den eigentlichen Bereich der Logik transzendieren. Nicht zuletzt diesem Umstand ist es zu verdanken, daß die Erörterung des Zeichens in den Logik-Lehrbüchern der frühen Neuzeit mitunter den Charakter einer allgemeinen Zeichentheorie annimmt. Die wichtigsten und am ausführlichsten behandelten Zeichendistinktionen sind die zwischen dem formalen und instrumentellen Zeichen („signum formale“ versus „signum instrumentale“) sowie die zwischen dem natürlichen, dem willkürlichen und dem gewohnheitsbedingten Zeichen („signum naturale“ versus „signum ad placitum“ bzw. „signum ex institutione“ versus „signum ex consuetudine“; s. § 2.4.2.). 2.4.1. Signum formale und signum instrumentale Das formale Zeichen („signum formale“), d. h. der geistige Begriff („conceptus mentis“, „terminus formalis“) ist definiert als ein Zeichen, das, ohne selbst erkannt zu werden oder Gegenstand des Erkenntnisvermögens zu sein, zur Kenntnis eines anderen hinführt (Arriaga 1632, 179b). „Formal“ wird es nach Fonseca (1528⫺1599) deshalb genannt, weil es das Erkenntnisvermögen gleichsam bildet und formt (Fonseca 1572, 12). Das instrumentelle Zeichen dagegen manifestiert zuerst sich selbst und dann durch sich etwas anderes (Arriaga 1632, 179b), weshalb es, um seine Zeichenfunktion erfüllen zu können, notwendigerweise zuerst selbst wahrgenommen und erkannt werden muß (Fonseca 1574, 12). Als Beispiele für diesen Zeichentyp dienen zumeist der Rauch als Zeichen des Feuers oder die Spur eines Tieres („vestigium“). Zu ihm gehören aber auch der terminus vocalis und der terminus scriptus. Denn damit das gesprochene oder geschriebene Wort Mensch den wirklichen Menschen bezeichnen kann, muß der Zeichenrezipient sowohl das Wort selbst erfassen als auch dessen Einsetzung
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
kennen (Soto 1554, fol. 2vb). Während das formale Zeichen, da es weder den Erkenntnisgegenstand noch den Erkenntnisakt verdoppelt (Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 694a), eine unmittelbare Erkenntnis konstituiert, ist die durch das Instrumentalzeichen motivierte Erkenntnis stets eine mittelbare. Denn, wie Dominicus Soto (1494/5⫺ 1560) feststellt, „ut res aliqua repraesentet aliam instrumentaliter, duae notitiae requiruntur. Primo notitia ipsius instrumenti, et deinde notitia significationis“ (1554: fol. 2vb; „Damit irgendeine Sache eine andere instrumentell repräsentieren kann, sind zwei Kenntnisse erforderlich. Erstens die Kenntnis des Instruments und ferner die Kenntnis der Bedeutung“). Nach Fonseca (1574, 12) unterscheiden sich die beiden Zeichentypen auch darin, daß das signum formale von verschiedenen Autoren nicht als Zeichen im eigentlichen Sinne („signum proprium“) gewertet werde, da man von ihm ⫺ im Gegensatz zum Instrumentalzeichen ⫺ nur uneigentlicherweise sagen könne, daß es repräsentiert. Im Hintergrund solcher Problematisierungen des Formalzeichens steht die mit diesem unvereinbare Augustinische Zeichendefinition (vgl. Art. 40 § 4.1. und 53 § 1.1.), weshalb auch Soto zu beachten gibt: „Signum secundum Augustinum est illud, quod instrumentaliter significat“ („Zeichen ist nach Augustinus jenes, was instrumentell bezeichnet“). Während Soto, um ⫺ wie er ausdrücklich betont ⫺ sich nicht zu weit von der Sprechweise der Schulen zu entfernen, gleichwohl die Existenz von Formalzeichen einräumt (1554, fol. 2vb), ist ein solches Zugeständnis dort nicht zu erwarten, wo der augustinische Einfluß dominierend war. Von daher ist es auch verständlich, daß sich die berühmt gewordene Zeichendefinition der Logik von Port-Royal („le signe enferme deux ide´es; l’une de la chose qui represente; l’autre de la chose represente´e; et sa nature consiste a` exciter la seconde par la premie`re“; Arnauld 1775⫺83, 41.139; vgl. 38.587) strikt an die älteren Bestimmungen des Instrumentalzeichens anlehnt (vgl. Robinet 1978, 9; siehe Art. 64 § 2. und 67 § 2.4.). 2.4.2. Signum naturale, ad placitum, ex consuetudine Das natürliche Zeichen wird allgemein als ein solches definiert, das unabhängig von einer menschlichen Einsetzung durch seine eigene Natur das Vermögen des Bezeichnens besitzt (vgl. Toletus 1615 ⫽ 1985, 208b; Arriaga
1205 1632, 180a). Insofern bezeichnen die natürlichen Zeichen allen Menschen dasselbe („idem apud omnes“; vgl. Fonseca 1574, 11; Conimbricenses 1607, 17; Hurtado de Mendoza 1617, 144). Zu ihnen gehören all jene Zeichen, die mit ihrem Signifikat durch eine Ähnlichkeits- oder Kausalbeziehung verbunden sind (vgl. Arriaga 1632, 181). Als Exempel dienen zumeist der Rauch als Zeichen des Feuers sowie die Konzepte oder termini mentales, welche traditionell als similitudines rerum (Ähnlichkeiten der Dinge) gelten. ⫺ Willkürliche oder durch Einsetzung gebildete Zeichen („signa ad placitum“, „ex institutione“ bzw. „ex impositione“) bezeichnen dagegen etwas nicht aufgrund ihrer eigenen Natur, sondern verdanken, wie die sprachlichen Ausdrücke, ihre Signifikanz allein der willkürlichen Einsetzung durch den Menschen. Das ihnen zugewiesene Moment der Willkürlichkeit bezieht sich damit nicht auf den jeweiligen Gebrauch, sondern auf den Akt ihrer Einsetzung durch einen ersten Sprachinstitutor. Es ist damit, anders als in der neueren Linguistik, nicht rein funktional, sondern in erster Linie genetisch konzipiert (vgl. Coseriu 1968). ⫺ In die Mitte der seit der Antike fest zum Bestand jeder Zeichentheorie zählenden Distinktion von signum naturale und ad placitum tritt seit dem Spätmittelalter (z. B. Pseudo-Marsilius von Inghen, Hagenauer Kommentar) die Gattung des signum ex consuetudine oder gewohnheitsbedingten Zeichens, dessen Signifikanz weder in der Natur des Zeichenvehikels noch in einer förmlichen öffentlichen Einsetzung begründet ist. Als veranschaulichende Beispiele dienen zumeist die ausgestellten Waren, die ihre eigene Verkäuflichkeit indizieren, die auf den Tischen ausgelegten Servietten als Zeichen des bevorstehenden Mahles sowie der Hund, den man häufig seinem Herrn vorauseilen gesehen hat und der somit zum Zeichen seines nahenden Besitzers wird. Bei einigen Autoren wird die klassische Dichotomie zur Trichotomie erweitert, tritt das gewohnheitsbedingte Zeichen als gleichberechtigter Typ neben das signum naturale und das signum ad placitum (vgl. Toletus 1615, 208b f). In diesem Sinne stellt auch Izquierdo fest: „Signum in primis est triplex“. Er definiert das signum ex consuetudine als dasjenige, “quod supposita consuetudine oriunda ab hominum arbitrio aliud notificat quoquo modo“ („welches unter der Voraussetzung einer aus dem menschlichen Willen entstandenen Gewohnheit etwas anderes auf irgendeine Weise bezeichnet“). Ihm
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
zufolge ist damit jede menschliche Handlung Zeichen dessen, was mit Regelmäßigkeit aus ihr zu folgen pflegt („universim quidlibet solitum ab hominibus fieri notificat id, quod ex eo regulariter sequi solet“; Izquierdo 1659, 104b). Andere Autoren wie Petrus Fonseca, Hurtado de Mendoza oder Dominicus Soto halten an der Dichotomie fest und führen das gewohnheitsbedingte Zeichen auf eines der beiden Glieder der traditionellen Distinktion zurück. Während erstere im signum ex consuetudine eine Sonderform des instituierten Zeichens sehen, bei dem (wie im Falle des vor der Taverne ausgehängten Strauches als Zeichens für den Weinverkauf) an die Stelle der förmlichen Einsetzung der allgemeine Gebrauch („communis usurpatio“) tritt (Fonseca 1574, 13; Hurtado de Mendoza 1617, 144), lehnt Soto das hier implizierte Konzept einer gewohnheitsmäßigen Einsetzung ab und subsumiert das signum ex consuetudine unter das natürliche Zeichen. Denn es sei ⫺ dem gängigen Beispiel gemäß ⫺ ganz natürlich, daß man angesichts der ausgelegten Servietten aus Gewohnheit an das Essen denke (Soto 1554, fol. 3rb). Eine vermittelnde und differenzierende Position vertritt diesbezüglich Johannes a Sancto Thoma. Nach ihm ist zu unterscheiden, ob die Gewohnheit etwas zum Zeichen einsetzt, in welchem Fall es sich um ein signum ad placitum handeln würde, oder ob sie den einfachen Gebrauch einer Sache besagt, aufgrund dessen irgend etwas zum Zeichen wird. In diesem Fall könne das signum ex consuetudine auf das signum naturale zurückgeführt werden. Ist die Gewohnheit dort die Ursache des Zeichens (z. B. „populus consuetudine sua introducat […] aliquem vocem ad significandum“), so verhält sie sich hier nach Art einer Wirkung, welche zur Erkenntnis ihrer Ursache hinführt: Die Gewohnheit, mit Servietten zu essen, zeigt uns die Mahlzeit an, wenn wir die ausgelegten Servietten sehen. Johannes a Sancto Thoma formuliert hiermit (1632 ⫽ 1930, 719) bereits in deutlicher Form die von Roland Barthes in die neuere Semiologie eingeführte Theorie der universellen Semantisierung der Gesellschaft, welche besagt, daß „sobald es eine Gesellschaft gibt, […] jeder Gebrauch zum Zeichen dieses Gebrauchs [wird]“ (Barthes 1964 ⫽ 1979, 36). Die Einführung des signum ex consuetudine ermöglichte eine neue Antwort auf die alte Frage nach der Natürlichkeit oder Willkürlichkeit der sprachlichen Ausdrücke. Die durchgängig vertretene zweite Position implizierte die Annahme eines förm-
lichen Einsetzungsaktes, welcher häufig nach dem Modell der Gesetzgebung durch einen Legislator konzipiert wurde (Hurtado de Mendoza 1617, 145; Arriaga 1632, 182a; Compton Carleton 1649, 162a; Lynceus 1654, 209b) ⫺ ein Modell, das mit dem auch damals allenthalben beobachteten und betonten Phänomen der historischen Veränderung von Sprache allerdings kaum vereinbar ist. Das signum ex consuetudine dagegen machte es möglich, daß unter Aufrechterhaltung des juristischen Paradigmas die Gewohnheit die Funktion der mythischen Figur eines ersten Sprachgesetzgebers übernehmen konnte. Denn, wie Johannes a Sancto Thoma unter Hinweis auf die Gesetzeskraft des Gewohnheitsrechts betont (1632⫺1930, 719b), die consuetudo vermag mit derselben Autorität eine Sache zum Zeichen werden zu lassen, mit der sie ein Gesetz begründet. Durch sie werden neue Worte in die Sprache eingeführt, die vorher nichts bedeuteten, wie auch viele ehemals signifikative Worte nichts mehr bedeuten, weil sie außer Gebrauch geraten sind.
3.
Die Zeichen in der protestantischen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts
Das zweite Zentrum der frühneuzeitlichen Behandlung einer allgemeinen Zeichentheorie bildet die protestantische Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts mit Vertretern wie Timpler (1567/68⫺1624, Keckermann (1571/73⫺ 1608), Calovius (1612⫺1686) und Fromm (1621⫺1683). Den Ansatzpunkt für eine Integration der Zeichentheorie in die entsprechenden Lehrbücher bildete das Lehrstück der „passiones entis disiunctae“ („getrennten Eigenschaften des Seienden“; vgl. Wundt 1939, 190 ff). Während die einfachen Eigenschaften des Seienden, die sogenannten Transzendentalien unum, verum, bonum, nach allgemeiner Auffassung als mit dem Seienden vertauschbar bzw. konvertibel gelten, so daß jedes Seiende auch ein Eines, Wahres und Gutes ist, handelt es sich bei den disjunktiven um solche Eigenschaften, die nur gemeinsam mit ihrem jeweiligen gegensätzlichen Korrelat dem gesamten Begriffsumfang des Seienden kongruent und somit nur als Paar mit diesem konvertibel sind. Zu dieser Gruppe der passiones oder affectiones entis disiunctae gehört neben den Paaren Akt und Potenz, mensura und mensuratum („Maß und Gemessenes“), Ursache und Wirkung etc. auch das Paar von signum und signatum („Zeichen und Bezeich-
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
netes“). Der metaphysische Stellenwert des Zeichenbegriffs ist damit denkbar hoch angesetzt. Denn jedes Seiende ist dieser Bestimmung zufolge entweder Zeichen oder Bezeichnetes („Omne ens aut est signum aut signatum“; Timpler 1606, 312), wenn nicht beides. Es gibt somit nichts, was per se aus dem Gegenstandsbereich einer allgemeinen Zeichentheorie herausfällt. Die angesichts der Tatsache, daß die Zeichenlehre nicht zum traditionellen Themenkanon der Metaphysik gehört, erforderliche Legitimation ihrer Aufnahme, die Begründung also einer positiven Beantwortung der Frage „An doctrina de signo et signato pertineat ad Metaphysicam?“ (Timpler 1606, 315), gibt Anlaß für die erstmalige explizite Formulierung des Programms einer allgemeinen Zeichentheorie. Die als „utilissima“ apostrophierte (Keckermann 1615, 91; Schultetus 1659, fol. A 2r) „doctrina generalis de signo et signato“ betrachtet das Zeichen und das Bezeichnete sofern sie allerallgemeinste Attribute der Dinge sind. Sie ist nach Timpler (1606, 315) von den speziellen Zeichentheorien zu unterscheiden, welche in den Gegenstandsbereich der verschiedenen Einzeldisziplinen fallen, in denen z. B. von den Zeichen der Gesundheit und Krankheit (Medizin), den meteorologischen und physiognomischen Zeichen (Physik) oder den Sakramentalzeichen (Theologie) gehandelt wird. Die auch heute noch diskutierte Frage, ob die Semiotik „eine spezielle Disziplin mit einer eigenen einheitlichen Methode und genau bestimmten Objekten“ ist oder aber „ein Feld von Untersuchungen, die eine noch nicht vereinheitlichte Ansammlung von Interessen sind“ (Eco 1968, 17; vgl. Art. 120 und Art. 123), wird hier somit dahingehend beantwortet, daß man zwischen allgemeiner und spezieller Zeichentheorie bzw. zwischen einer Behandlung des Zeichens „in actu signato“ und einer solchen „in actu exercito“ differenziert, was in etwa der heutigen Unterscheidung von theoretischer und angewandter Semiotik entspricht. Erstere fällt nach Christoph Scheibler (1622 ⫽ 1636, 364) allein in den Kompetenzbereich der Metaphysik, da der von ihr erörterte Begriff des Zeichens als eines solchen („ratio signi ut sic”) alle Einzelwissenschaften transzendiert, während die Behandlung der unterschiedlichen Zeichen „in actu exercito“ an die sie jeweils betreffenden Einzeldisziplinen delegiert werden muß. Das Vorhandensein zumindest des Konzepts einer allgemeinen Zeichentheorie in der protestan-
1207 tischen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts schlägt sich in dem begriffsgeschichtlichen Befund nieder, daß der Terminus „Semiologie“ ⫺ anders als häufig zu lesen ⫺ älter ist als Saussures Cours de linguistique ge´ne´rale von 1916 und auch hinter Hoffbauers Tentamina semiologica (1784) sowie Baumgartens Skizzierung einer als Semiotica oder Semiologia philosophica bezeichneten scientia signorum (1779 ⫽ 1963, 108) zurückdatiert. Denn bereits 1659 stellt Schultetus seine Disputatio de Signo et Signato unter den Obertitel „Semeiologia metaphysike“. Der Grundbestand an semiotischen Fragestellungen und Theoremen der älteren LogikLehrbücher (Toletus, Conimbricenses) bleibt trotz einer überwiegend kürzeren Darstellungsform in der metaphysischen Semiologie der Protestanten präsent. Zeichnet sich dort naturgemäß eine Dominanz logischer und logisch relevanter Themenstellungen ab, so erweist sich auch die „doctrina generalis de signo et signato“ der protestantischen Schulmetaphysiken als deutlich von den Belangen einer speziellen Zeichentheorie geprägt; in diesem Falle von der des Sakramentalzeichens mit seiner kontroverstheologisch relevanten Problematik der Abendmahlslehre. Die sich daraus ergebende konfessionelle Bedingtheit der Zeichentheorie schlägt sich bereits in der jeweils zugrunde gelegten Definition des Zeichens nieder. Während die Lutheraner die Definition des Petrus Hispanus übernehmen und das Zeichen als etwas bestimmen, „quod potentiae cognoscenti aliquid repraesentat“ (Scheibler 1622 ⫽ 1636, 365; Scharf 1643, 234; Spengler 1649, § 24; Calovius 1651, 625; Fromm 1651, 367), greifen die Calvinisten zumeist auf die die sinnliche Erkennbarkeit des Zeichens implizierende Augustinische Definition zurück (Keckermann 1615, 88; Burgersdijk 1642, 200; Maccovius 1645, 107; Heereboord 1659 ⫽ 1680, 930) oder bestimmen es ausdrücklich als „ens sensibile, cognoscenti signatum significans“ („ein sinnlich wahrnehmbares Seiendes, das dem Erkennenden ein Signifikat bezeichnet“; Timpler 1606, 317). Denn die Festlegung der Zeichen ⫺ mit Ausnahme allenfalls der Konzepte (vgl. Timpler 1606, 335) ⫺ auf Erfaßbarkeit durch die äußeren Sinne ermöglicht es ihnen, die lutherische Auffassung, wonach das aus den Elementen Brot und Wein und dem realpräsenten Leib Christi gebildete ganze Abendmahlssakrament („totum sacramentum“) ein Zeichen ist, das uns der göttlichen Gnade versichert, als irrtümlich, weil
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
mit dem Begriff des Zeichens unvereinbar zurückzuweisen (vgl. Schultetus 1659, fol. 3r ff). Kontroverstheologisch überschattet ist auch die Frage, ob Zeichen und Bezeichnetes stets real unterschieden sein müssen. Während die Lutheraner die Meinung vertreten, daß eine gedankliche Unterscheidung von beidem ausreicht, um die Geltung der allseits anerkannten These, daß nichts Zeichen seiner selbst sein kann, zu garantieren (Scheibler 1622 ⫽ 1636, 368 f; Fromm 1651, 381 f), wird von calvinistischer Seite auf der sachlichen Verschiedenheit beider insistiert und diese als Argument gegen die Lehre von der Realpräsenz Christi im eucharistischen Brot genutzt (Timpler 1606, 319; Derodon 1659, 492 ff). Zeichnet sich die semiotische Theorie der protestantischen Schulmetaphysik gegenüber der logischen Behandlung des Zeichenbegriffs durch eine umfassendere Zeichentypologie aus, so lassen sich auch die hier eingeführten Distinktionen und Zeichentypen als überwiegend theologisch motiviert erweisen (vgl. Abb. 62.2 und 62.3). Die zum Standardrepertoire der Zeichentypologie zählende Einteilung des Zeichens nach den drei Zeitekstasen in signa rememorativa, demonstrativa und prognostica entstammt wie die meisten der hier behandelten Zeichentypen der mittelalterlichen Sakramentalzeichenlehre. Theologische Kontroversen ergaben sich hierbei besonders bezüglich des signum exhibitivum und des signum practicum. Die signa exhibitiva bzw. metadotika sind im Gegensatz zu den signa nuda oder semantica jene Zeichen, „quae non solum aliquid certe signant sed et illa signata vere exhibent“ („die etwas nicht nur gewiß bezeichnen, sondern das Bezeichnete auch wahrhaft darreichen“; Schultetus 1659, fol. 8 1v). Bei den Lutheranern dient dieser Zeichentyp zur Beschreibung der Sakramente des Neuen Testaments (vgl. Scheibler 1622 ⫽ 1636, 375 f), insbesondere des Abendmahlssakraments, da Brot und Wein den Leib Christi nicht nur bezeichnen, sondern ihn auch physisch darreichen. Nach ihrer Meinung haben die Zwinglianer und Calvinisten, die lediglich eine ideelle Darstellung annehmen, das Abendmahlssakrament zu einem signum nudum oder pure semantikon gemacht (vgl. Calovius 1651, 629 f; Schultetus 1659, fol. 8 1v ff; Fromm 1651, 383). ⫺ Mit diesem Zeichentyp eng verwandt ist der des signum practicum, welches ebenfalls bereits der mittelalterlichen Sakramentalzeichenlehre entstammt. In Anlehnung an die ältere Definition des Sakraments als „signum gratiae significans et efficax“ („ein die Gnade bezeichnendes und bewirkendes Zeichen“,
Wilhelm von Ockham), wird es bestimmt als ein Zeichen, das, anders als sein Komplementum, das signum theoreticum, nicht nur etwas bezeichnet, sondern „signando etiam aliquid per se efficit“ („indem es bezeichnet, durch sich auch etwas bewirkt“; Calovius 1651, 626). Paradigma des signum practicum ist damit wiederum das Abendmahlssakrament, welches nach katholischer wie lutherischer Auffassung die Gnade nicht allein bezeichnet sondern auch bewirkt. Da die Calvinisten eine solche Wirksamkeit nicht anerkennen, unterbleibt in ihren Metaphysiklehrbüchern die Aufnahme dieses Zeichentyps entweder ganz, oder aber er wird auf den Bereich der natürlichen Zeichen (zu denen das Sakrament eben nicht zählt) beschränkt (vgl. Derodon 1659, 499). Die meisten der ausführlich diskutierten Zeichen entstammen dem kontroverstheologisch brisanten Gebiet der Sakramentalzeichenlehre (vgl. dazu auch Art. 72 § 2.1.). Ihre Aufnahme in die allgemeine Zeichentypologie ermöglicht und motiviert jedoch auch das Aufsuchen außertheologischer Beispiele. So kann als Exempel des signum exhibitivum der gefüllte Geldbeutel angeführt werden, der die Münzen nicht nur anzeigt sondern auch darreicht (Fromm 1651, 369; Schultetus 1659, fol. 8 2v), oder die erhobene Axt des Holzfällers zur Veranschaulichung des signum practicum dienen, da sie den Hieb nicht nur anzeigt, sondern diesen auch real dem Holz mitteilt (Fromm 1651, 369). Die Übersetzung der ursprünglich theologischen Zeichendistinktionen in außertheologische Kontexte verlangt ⫺ bedingt durch die Eigenart kultisch-religiöser Zeichenverwendung ⫺ die theoretische Berücksichtigung auch solcher Zeichenfunktionen, die über das Feld rein semantischer Bestimmungen hinausgehen. Entsprechend tritt verschiedentlich die pragmatische Dimension der Zeichen deutlich in den Blick. So dient bei Keckermann (1615, 90) etwa das unter ein Privileg gesetzte Siegel des Fürsten als Beispiel des signum certificans („versichernden Zeichens“), da es nicht nur den Willen des Fürsten gegenüber dem Adressaten des Privilegs kundgibt, sondern diesen auch verbindlich aller versprochenen Benefizien versichert. In ausdrücklicher Form reflektiert Scheibler (1622 ⫽ 1636, 375) auf die pragmatische Dimension der Zeichen, wenn er betont, man müsse zur Gewährleistung einer sinnvollen Distinktion von signum practicum und signum theoreticum ersteres strikt auf jene Zeichen beschränken, die aus ihrem eigenen Zeichensein heraus etwas bewirken, und zwar
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62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
naturale
phantasma noema (notio)
internum (= conceptus) externum
necessarium contingens
prima secunda inartificiale (Strauch hinsichtlich des Weinverkaufes)
signum
arbitrarium
diversum ex efficiente diversum ex finale
reale verbale
scriptum pronunciatum
profanum artificiale ( Statue) sacrum (Sakrament) commonefaciens (Denkmal) obsignans (Wahrzeichen) notificans (Kennzeichen)
Abb. 62.2: Zeichentypologie nach Clemens Timpler (1606).
Signum: notificans (Strauch hinsichtl. des Weinverkaufs)
commonefaciens (Denkmal)
obsignans (Wahrzeichen, Siegel)
necessarium (legitimer Gebrauch der Sakramente hinsichtl. der wahren Kirche)
contingens (Blässe als Zeichen der Gelehrtheit)
significativum (Strauch hinsichtl. des Weinverkaufs)
exhibitivum (Sakrament, Geldbeutel)
formale (species sensibiles oder intelligibiles)
instrumentale (Grenzmarkierung)
naturale (Rauch hinsichtl. des Feuers)
arbitrarium (Schrift)
doctrinale
non-doctrinale (Gebell, Morgenröte)
internum (geistiger Begriff)
externum (Sprache, Schrift)
rememorativum (Denkmal)
demonstrativum (Klopfen an der Tür)
prognosticon (medizinische Zeichen)
theoreticum (Bild des Fürsten)
practicum (erhobene Axt)
manifestativum (Glockengeläut)
manifestativum et suppositivum (sprachliche Ausdrücke, Namen)
Abb. 62.3: Zeichentypologie nach Andreas Fromm (1651).
nicht nur beiläufig und gelegentlich. Wenn man nämlich jede auf einen Zeichenakt hin erfolgende Aktion als Wirkung des Zeichens interpretiert, gibt es vermutlich kein Zeichen, das nicht auch „praktisch“ wäre („fortasse
nullum signum est, quod non sit practicum“). So bezeichnet der vor dem Wirtshaus ausgehängte Strauch nicht nur den Weinverkauf, sondern motiviert auch den Dürstenden, hineinzugehen und Wein zu kaufen.
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4.
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Die Zeichentheorie in der Metaphysik des 18. Jahrhunderts
Die protestantische Tradition der Behandlung der Zeichenlehre im Rahmen der Metaphysik setzt sich, besonders in der Wolffischen Schule, bis ins späte 18. Jahrhundert fort. Inhaltlich kommt es hierbei allerdings zu erheblichen Umbesetzungen, denn die kontroverstheologische Prägung der metaphysischen Zeichenlehre des 17. Jahrhunderts hat sich vollständig verflüchtigt. All jene Zeichendistinktionen, die in erster Linie mit Blick auf konfessionelle Divergenzen innerhalb der Sakramentaltheologie behandelt wurden (z. B. signum practicum ⫺ theoreticum; signum exhibitivum ⫺ nudum), finden keine Erwähnung mehr ⫺ es sei denn in den philosophischen Lexika, wo sie als „Eintheilungen, die wenig Nutzen haben“ umfassend inventarisiert werden (vgl. Zedler 1749 ⫽ 1964, 548 f). Dasselbe gilt auch hinsichtlich der für die ältere Tradition grundlegenden Unterscheidung zwischen dem signum formale und dem signum instrumentale. Indem das Konzept des Formalzeichens theoretisch ausfällt ⫺ Ideen, Begriffe oder geistige Vorstellungen gelten als Repräsentationen der Dinge („sibi aliquid repraesentare“ ⫽ „sich etwas vorstellen“), nicht jedoch als Zeichen derselben ⫺ wird der Begriff des Zeichens auf den Typ des Instrumentalzeichens festgelegt. Zugleich tritt hiermit die Indexfunktion des Zeichens dominierend in den Vordergrund. So gilt nach Christian Wolff (1736 ⫽ 1962, 688), bei dem die alte Zeichendistinktion hinsichtlich der drei Zeitekstasen bereits in die Definition des Zeichens eingeht: „Signum dicitur ens, ex quo alterius praesentia vel adventus vel praeteritio colligitur“, bzw. „ein Zeichen ist ein Ding, daraus ich entweder die Gegenwart, oder die Ankunft eines anderen Dinges erkennen kann, das ist, daraus ich erkennen kann, daß entweder etwas würklich an einem Orte vorhanden ist, oder daselbst gewesen, oder auch etwas daselbst entstehen werde” (1751 ⫽ 1983, 160). Wenn zwei Dinge von Natur aus entweder stets zugleich sind oder aufeinander folgen, so ist das eine Ding Zeichen des anderen (1736 ⫽ 1962, 689). Jedes Kausalverhältnis wird damit in eine Zeichenbeziehung übersetzbar. Die hinreichende Wirkursache („causa efficiens sufficiens“) ist ebenso Zeichen ihrer Wirkung, wie umgekehrt die Wirkung ihre entsprechende Ursache bezeichnet (692 f) oder aber zwei von derselben Ursache abhängige Wirkungen Zei-
chen füreinander sind (694). Diesen natürlichen Zeichen stehen die signa artificialia oder arbitraria („die künstlichen oder willkürlichen Zeichen“) gegenüber, deren Bezeichnungskraft vom Willen des Menschen oder eines anderen vernunftbegabten Lebewesens abhängt (690 f). Nach Wolff lassen sich vier Funktionen der artifiziellen Zeichen unterscheiden, denn diese dienen entweder a) zur Abkürzung, b) zur Geheimhaltung, c) zur deutlichen Vorstellung oder Mitteilung oder d) „zum Erfinden“. Letztere finden Anwendung in der Algebra sowie in der „ZeichenKunst“ („ars inveniendi“; 1751 ⫽ 1983, 175 f). Grundlegend für diese ist auch die Distinktion in signa primitiva und signa derivativa, d. h. in nicht weiter ableitbare Zeichen und solche, die auf einfachere Zeichen zurückgeführt werden können (1736 ⫽ 1962, 694 f). Wolffs zeichentheoretische Ausführungen haben in der Folgezeit einen bestimmenden Einfluß auf die metaphysischen Lehrbücher sowie auf die Entwicklung des Zeichenbegriffs insgesamt ausgeübt (vgl. Roeder 1927, 14 ff; Haller 1959, 125 ff). ⫺ In komprimierter Form bestimmt Alexander Gottlieb Baumgarten das Zeichen im Wolffischen Sinne als „medium cognoscendae alterius existentiae“ (Baumgarten 1779 ⫽ 1963, 107; vgl. Strack 1751, 4), was sein Schüler Georg Friedrich Meier mit den Worten wiedergibt: „ein jedwedes Ding ist ein Zeichen eines anderen, sofern es ein Mittel ist, die Würcklichkeit des andern zu erkennen“ (Meier 1755, 441). Die Konzeption des Zeichens bleibt, wie bereits in Wolffs Ontologia, auf den Typ des anzeigenden Zeichens restringiert. Insofern kann Meier auch die Worte als Zeichen der Gedanken in eine Reihe mit den Anzeichen der Krankheit, des Wetters oder der „Gemüthsbeschaffenheit“ stellen, denn „wenn wir reden, so kann ein anderer aus unsern Worten erkennen, welche Vorstellungen in unserer Seele eben zu der Zeit würcklich sind“ (Meier 1755, 446). Der vollständige Ausfall des signum formale und die dadurch bedingte Verkürzung des Zeichenbegriffs auf das Modell des signum instrumentale ermöglicht eine problemlose Verschmelzung der Wolffschen Zeichendefinition mit derjenigen der Logik von Port-Royal. Sie unternimmt Georg Bernhard Bilfinger, wenn er das signum bestimmt als „res, quae praeter ideam sui in animo ideam excitat cuiusdam alterius ut praesentis, praeteritae aut futurae“ („eine Sache, die neben ihrer eigenen Idee im Geist zugleich die Idee
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
von irgendetwas anderem als eines gegenwärtigen, vergangenen oder zukünftigen hervorruft“; vgl. Roeder 1927, 20). Die Verflachung der allgemeinen Zeichentheorie im Sinne der älteren „doctrina generalis de signo et signato“, wie sie sich in den Metaphysik-Lehrbüchern des 18. Jahrhunderts abzeichnet, ist jedoch keineswegs Ausdruck eines geringer gewordenen Interesses am Zeichen. Im Gegenteil: die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer fundierten und umfassenden Zeichenlehre wird nirgends emphatischer betont als hier. So heißt es bei Meier (1755, 444): „Da die Zeichen einen so wichtigen und weitläufigen Theil der ganzen menschlichen Erkenntniß ausmachen, da wir ohne Zeichen gar nicht oder sehr wenig und schlecht denken können, und da wir nur vermittelst der Zeichen zu aller unserer Erkenntniß würcklicher Dinge gelangen: so verlohnt es sich wohl der Mühe, die Lehre von den Zeichen recht auszuführen. Daher ist es ein sehr nützliches und nöthiges Unternehmen, wenn die Gelehrten die Lehre von den Zeichen recht anbauen und sie in eine recht vollkommene Wissenschaft verwandeln.“ Die Ansätze zur Einlösung dieses Programms finden sich jedoch nicht mehr in der bereits im Schwinden begriffenen Metaphysik. Die eingehende Behandlung des Zeichenthemas verlagert sich, bedingt durch das Konzept der ars characteristica und die Theorie der cognitio symbolica, in die Erkenntnislehre, Ästhetik und Logik (s. u. § 8.2.4.; vgl. auch Art. 63 und 64).
5.
Die Zeichen in der hermetischneuplatonischen Naturphilosophie der Renaissance
Die hermetisch-neuplatonische Naturphilosophie, die außerhalb der überwiegend aristotelisch geprägten Universitäten des 16. und 17. Jahrhunderts eine starke Verbreitung fand, basiert im Wesentlichen auf der Annahme eines hierarchisch strukturierten Kosmos, der gebildet wird durch (1) den mundus supercoelestis bzw. intellectualis als Region der (je nach Ausdeutung) Engelshierarchien oder spirituellen Naturprinzipien, (2) den mundus coelestis, die Region der Himmelsund Planetensphären und (3) den mundus elementaris, die aus den vier Grundelementen bestehende Erde. Zwischen diesen Welten, die durch zahllose Analogie- und Kausalbeziehungen miteinander verbunden sind, besteht gemäß dem hermetischen Grundsatz,
1211 „quod est inferius est sicut id, quod est superius, et quod est superius est sicut id, quod est inferius“ das Verhältnis einer spiegelbildlichen Entsprechung. Hieraus folgt, wie Agrippa von Nettesheim (1486⫺1535) erläutert, daß „alles Untere unter dem Einfluß des Oberen steht und gewissermaßen […] alles ineinander enthalten ist, nämlich das Unterste im Obersten und das Oberste im Untersten. So befindet sich im Himmel Irdisches, aber der Ursache nach und auf himmlische Weise; auf der Erde dagegen Himmlisches, aber der Wirkung nach und auf irdische Weise. So beziehen sich verschiedene Dinge auf die Sonne, und wieder andere auf den Mond […]. Derartige Dinge empfangen mehrere Wirkungen und Eigenschaften, die den Wirkungen der Gestirne und Sternbilder gleichen, unter deren Einfluß sie stehen“ (Agrippa von Nettesheim 1600 ⫽ 1970, 1.43). Dieser universale Wirkungszusammenhang manifestiert sich durch Zeichen, die das Beziehungsgeflecht zwischen den Dingen anzeigen und verdeutlichen. So haben „alle Sterne […] ihre eigentümliche Natur und Beschaffenheit, deren Zeichen und Merkmale („signacula et characteres“) sie durch ihre Strahlen auch in unsere Welt den Elementen, Steinen, Pflanzen, Tieren und deren Gliedern mitteilen. Jede Sache erhält daher gemäß der harmonischen Ordnung und von ihrem sie bestrahlenden Stern ein besonderes Zeichen oder Merkmal eingedrückt, das den betreffenden Sterneinfluß genau charakterisiert“ (Agrippa von Nettesheim 1600 ⫽ 1970, 1.59). Diese „vertikalen“ Affinitäten zwischen den Sternen und den Dingen liefern das Modell für die „horizontalen“ Wirkungszusammenhänge der Dinge untereinander. Gemeinsam konstituieren sie, so erklärt Paracelsus (1493⫺1541), das dichte Gewebe von geheimen, im Innern der Dinge verborgenen, zugleich jedoch durch äußere Zeichen manifest werdenden Verbindungen, welche jenseits der sichtbaren Oberfläche der Dinge den gesamten Makrokosmos durchziehen und diesen mit dem Mikrokosmos in Beziehung setzen; „dan alles was got erschaffen hat dem menschen zum guten […], wil er nit das es verborgen bleib, und ob ers gleich verborgen, so hat ers doch nicht unbezeichnet gelassen mit auswendig sichtlichen Zeichen“ (Paracelsus 1923⫺33, 11.393). So gibt es nichts, „das die natur nicht gezeichnet habe, durch welche Zeichen man erkennen kann, was im selbigen ist, was gezeichnet ist“ (Paracelsus 1923⫺33, 12.91). Alle „Kräuter, Bäume und andere Gewächse der Erden“ sind
1212
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
„Bücher und magische Zeichen“ (Crollius 1623, 5). Die Textur des großen, in „hieroglyphica grammata“ verfaßten Buches der Natur ist durch die Ähnlichkeit reguliert, der eine tragende Rolle in der Wissens- und Zeichenkonzeption der außeruniversitären, nichtaristotelischen Naturphilosophie des 16. und 17. Jahrhunderts zukommt. Denn die verborgenen Beziehungen und Affinitäten der Dinge, selbst zum großen Teil nach dem Modell der Analogie, Sympathie oder Ähnlichkeit gefaßt, bedürfen der Manifestation durch äußere Zeichen, deren Signifikanz ihrerseits in der Ähnlichkeit begründet ist (vgl. Foucault 1966 ⫽ 1978, 46⫺77). Die Kräuter „reden einen Medicum […] auf Magische Weise durch ihre Signaturn und Zeichen an und geben demselbigen ire innerliche Geheimnusse, so in den Stillschweigen der Natur verborgen, also durch ein Gleichnus zu erkennen (per similitudinem manifestant)“ (Crollius 1623, 5; 1609, praef. admonitoria, 2). Die Mitteilung der Natur an den Menschen erfolgt nicht in arbiträren Zeichen, sondern folgt mit ihren Signaturen dem in seiner Allgemeinverständlichkeit jeder natürlichen menschlichen Sprache überlegenen „modus demonstrandi per similitudinem“ (ebd.). Diese Ähnlichkeit ist es, die anzeigt, daß etwa der Kern der Walnuß, „das Hirn und gantze Haupt gewaltig stärket“ oder daß die dem Augapfel ähnelnde schwarze Beere des Pariskrautes „zu den Gebrechen der Augen eins der aller kräftigsten Mittel ist“ (Crollius 1623, 22 f). Die Erkenntnis der Natur ist damit wesentlich die Dechiffrierung und Interpretation der von ihr eingesetzten Zeichen. „Der von den natürlichen Dingen schreiben will, der muß schreiben aus dem signato und dasselbe aus dem signo erkennen. Sonst ist alles umsonst“ (Paracelsus 1923⫺33, 2.122). Zeichen und Bezeichnetes verhalten sich hierbei stets wie Äußeres und Inneres. Das „Innen“ wird als der Raum der „inneren Werke und Tugenden“ (Paracelsus 1923⫺33, 12.177), der verborgenen Wesenheiten, „innerlich inwohnenden Kräfte“ und „innerlichen Geheimnusse“ der Dinge (Crollius) sowie als „innere Welt“ (Böhme 1622 ⫽ 1957, 19) zum Signifikat schlechthin all der über die Welt verstreuten Zeichen und Charaktere. Zugleich markiert es den eigentlichen Zielpunkt aller wahren Naturerkenntnis, welche anders als die in „unnützlichen disputationes“ befangenen „Nomenclatores“ sich nicht allein um die „eusserliche bittere Rinden bemühet“ (Crollius 1623, 3), sondern wie
die magia naturalis und die besonders im Paracelsismus ausgearbeitete Signaturenlehre (vgl. Weinhandl 1970, 60 ff; Schipperges 1974, 117⫺124; Bianchi 1987) „durch die äußeren Formen das inwendige Herz zu erkennen“ sucht (Paracelsus 1923⫺33, 12.179). In dieser Methode der Erkenntnis des verborgenen Inneren durch äußere Zeichen überschneidet sich die Signaturenlehre nicht nur mit der allgemeinen Physiognomie (Paracelsus 1923⫺33, 8.293), die nach geläufiger Definition lehrt, „ex signis internas corporum naturalium affectiones“ („durch Zeichen die inneren Eigenschaften der natürlichen Körper“) zu erkennen (Alsted 1630, 615), mit der „physiognomia humana“, „quae signa tradit externa, ex quibus internae et occultae hominis affectiones cognosci possunt“ („die die äußeren Zeichen behandelt, aus denen die inneren und verborgenen Eigenschaften des Menschen erkannt werden können“; Timpler 1606, 129), sowie mit jener Kunst der Menschenkenntnis, die Scipio Claramontius 1620 unter dem Titel „Semeiotica moralis“ entworfen hat und für die ein Zeichen ein „beliebiges sinnliches Erfaßbares ist, welchem, indem es existiert oder getan wird, ein mit ihm notwendig oder wahrscheinlich verbundener Charakter zugrunde liegt“ („Signum est sensibile quippiam, quo existente, vel facto, mos certus subest, vel necessario vel probabili nexu“; Claramontius 1620 ⫽ 1665, 10). Sie kommt hierin auch mit der bis ins 17. Jahrhundert hinein gültigen Konzeption empirischer Naturbetrachtung überein. Das Erkennen vollzieht sich als Dechiffrierung und Interpretation von Zeichen (vgl. Art. 57 § 2., 61 und 71).
6.
Die Zeichenkonzeption der entstehenden Naturwissenschaften
Dieses Konzept liegt auch Francis Bacons Programm der „interpretatio naturae“ zugrunde (Bacon 1857⫺74, 1.157 ff). Wie der magia naturalis geht es dieser um ein „introspicere naturam“ (1.280) sowie darum, „ad interiora et remotiora naturae penetrare“ („in das Innere und Verborgene der Natur einzudringen) (1.159). Das Wissenschaftsprogramm Francis Bacons (1561⫺1626) verläßt die ältere Tradition allerdings insofern, als bei ihm der Begriff der Ähnlichkeit beginnt, problematisch zu werden. Die Struktur des Universums gleicht einem Labyrinth, in welchem sich dem Betrachter überall täuschende
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Ähnlichkeiten der Dinge und der Zeichen („fallaces rerum et signorum similitudines“; 1.129) darbieten. Gleichwohl findet sich auch bei Bacon die nachdrückliche Betonung der Wichtigkeit, die Ähnlichkeiten und Analogien zwischen den Dingen aufzuspüren und zu untersuchen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um jene „inanes similitudines et sympathias rerum“ („leeren Ähnlichkeiten und Sympathien der Dinge“), wie sie seiner Meinung nach gerade die Vertreter der magia naturalis beschrieben und erdichtet haben, sondern vielmehr um die „realen, substantiellen und in der Natur selbst begründeten“ Ähnlichkeiten (1.280). Diese manifestieren die Regularitäten und Gesetze, von Bacon als „Formen“ bezeichnet (1.228), die den „verborgenen Prozessen“ und „verborgenen Gestaltungen“ (1.235) zugrunde liegen und deren Erforschung und Erklärung sowohl die Grundlage des Wissens wie dessen praktischer Umsetzung ist (1.229). Eine solche Erkenntnis vermag das syllogistische Verfahren nicht zu liefern, dessen „schlechte und unverständige Abstraktionen“ (1.171) in unheilvoller Verbindung mit der Unangemessenheit und Verworrenheit der menschlichen Sprache stehen, welche ihrerseits der Grund für die „lästigste“ der vier von Bacon analysierten Arten von Idolen (Götzenbilder, d. h. Hauptgründe für den desolaten Zustand der menschlichen Erkenntnis) ist, die „idola fori“ („Götzenbilder des Marktes“). Denn wie die aus leeren Abstraktionen hervorgegangenen Begriffe die Wörter verderben, welche Marken und Zeichen („tesserae et signa“; 1.136) derselben sind, übt umgekehrt die durch sie konstituierte Sprache einen schädlichen Einfluß auf das Denken aus. In einer für die Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Denken, wie sie das 17. Jahrhundert vornimmt, charakteristischen, nämlich kritischen Form bemerkt Bacon (1.171) hierzu: „Die Menschen glauben, ihr Verstand gebiete den Worten; es kommt aber auch vor, daß die Worte ihre Kraft gegen den Verstand umkehren […]. Die Worte aber werden größtenteils nach der Auffassung der Menge gebildet und trennen die Dinge nach Richtungen, die dem gewöhnlichen Verstand besonders einleuchtend sind. Wenn dann aber ein schärferer Intellekt […] die Bestimmungen ändern will, damit sie der Natur entsprechender sind, widerstreben die Worte“ (vgl. Spinoza 1925, 2.33; Arnauld 1775⫺83, 41.168). Die Idole des menschlichen Intellekts sind willkürliche Abstraktionen ohne reale Entsprechungen in
1213 der Natur. Die Ideen des göttlichen Intellekts dagegen sind als „signacula“ (Bacon 1857⫺ 74, 1.218) und „verae signaturae“ den Dingen eingeprägt (1.160). Bacon stellt daher dem syllogistischen Verfahren der aristotelischen Naturphilosophie, welches vorschnell abstrakte Generalia bildet und aus diesen deduktiv fortschreitet, seine Methode der Induktion entgegen, die ⫺ nicht im Sinne der mathematischen Induktion mißzuverstehen ⫺ unter Beachtung dieser wahren Signaturen und Zeichen von der systematischen Beobachtung des Einzelnen stufenweise (gradatim; 1.160) zu jenen allgemeinen Gesetzen, den „generalissima bene terminata“ bzw. Formen aufsteigt, die im Innersten der Dinge stecken („rebus inhaereant in medullis“; 1.137). Die Ablösung der sich formierenden Naturwissenschaften von der älteren Naturphilosophie und der magia naturalis vollzieht sich zu einem nicht unbedeutenden Teil auf der Ebene einer sich wandelnden Zeichenkonzeption. So wird bei Pierre Gassendi (1592⫺1655) der epikureische Zeichenbegriff zur Grundlage der Bestimmung der Naturphilosophie. Der Gegenstandsbereich, den Gassendi der Physik zuweist, ist koextensiv dem Bereich zeichenvermittelter Erkenntnis in der epikureischen Zeichenlehre. Er umfaßt unter Ausschluß der offenbaren und der absolut verborgenen Dinge („res manifestae“, „res penitus occultae”) die von Natur aus und die temporär verborgenen Dinge („res natura, ad tempus occultae“; Gassendi 1658, 1.69a; vgl. Detel 1978, 53 f). Hierbei hat der Begriff des „Okkulten“, gefaßt als das den Sinnen nicht unmittelbar Zugängliche, seine alten magisch-mystischen Konnotationen verloren. Die sinnlichen Erscheinungen haben den Charakter von sichtbaren Zeichen nicht direkt erkennbarer Dinge. Die Festlegung der Naturerkenntnis auf das Medium der Zeichen impliziert, daß jede Erkenntnis ihren Ursprung in den Sinnen hat; „ideo praeire Menti debet Signum quoddam sensile, quo in rei latentis, nec Sensu perceptae notitiam ducatur“ („also muß dem Geist irgendein sinnliches Zeichen voraufgehen, durch das er zur Kenntnis der verborgenen und nicht durch die Sinne wahrgenommenen Sache geführt wird“; 1.81b). Es gibt nach Gassendi somit ein zweifaches Kriterium der Wahrheit; zum einen die Sinne, durch welche die Zeichen perzipiert werden, und zum anderen den Intellekt, durch welchen, ausgehend von den auf ihre Verläßlichkeit überprüften sichtbaren Zeichen, die Sache schlußfolgernd er-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
kannt wird. Resultat dieser Anwendung der epikureischen Zeichenlehre auf die Physik ist bei Gassendi das Programm einer vom Intellekt oder der Ratio geleiteten empirischen, d. h. zeichenvermittelten Naturerkenntnis als des geeigneten Mittels zur Einlösung der Maxime „legendus est liber ipse naturae, si quidpiam certi addiscendum est“ („soll irgend etwas Sicheres gelernt werden, ist das Buch der Natur selbst zu lesen“; 1658, 3. 266). Die Natur und das Universum ist weiterhin als ein Buch ⫺ und wie ein solches ⫺ zu interpretieren. Was wechselt, sind die Zeichen, in denen es geschrieben ist. Für Galilei sind dies nicht mehr die unmittelbar in die Augen fallenden Signaturen und Ähnlichkeiten. „Darum können wir“, wie er in einer berühmt gewordenen Sentenz ausführt, „es erst lesen, wenn wir die Sprache gelernt haben und mit den Zeichen [charatteri] vertraut sind, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne deren Mittel es dem Menschen unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu verstehen“ (Galilei 1968, 232). Solange davon ausgegangen wird, daß die Natur von sich aus ihre Geschichte erzählt und ihre Geheimnisse preisgibt, hat die wahre Philosophie nichts anderes zu sein, als deren „simulacrum et reflexio“ (Bacon 1857⫺74, 4. 640). Die Zeichen, in denen das Buch der Natur verfaßt ist, und die zu seiner Darstellung verwendeten Zeichen müssen einander entsprechen. Die Sprache der Natur liefert somit das Modell für die Sprache ihrer Beschreibung. Die wissenschaftliche Naturerkenntnis beginnt im 17. Jahrhundert, sich auf mathematische Zeichen festzulegen. An die Stelle des qualitativen Vergleichs tritt die quantitative Berechnung, an die des Gleichnisses die Gleichung. Die mathematischen Zeichen dienen nicht mehr zur Eröffnung eines geheimen „Inneren“ der Dinge als des Ortes der verborgenen Wesenheiten und Ursachen, sondern zur Beschreibung und Ordnung der Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Meßbarkeit sowie ihrer Verknüpfung zu einem System (vgl. Cassirer 1906⫺20 ⫽ 1974, 2.401 ff).
7.
Modelle artifizieller Zeichensysteme
7.1. „Universal language“ und „philosophical language“ In De augmentis scientiarum stellt Bacon (1857⫺74, 1.651) fest ⫺ ähnliche Überlegungen finden sich bereits bei älteren Autoren
wie Albert von Sachsen und Paul von Venedig ⫺: „Quicquid scindi possit in differentias satis numerosas, ad notionum varietatem explicandam (modo differentiae illae sensui perceptibiles sunt) fieri posse vehiculum cogitationum de homine in hominem“ („Was immer auch in so viele Teile differenzierbar ist, daß dadurch die Fülle der Begriffe dargetan werden kann, vermag, sofern jene Unterschiede sinnlich wahrnehmbar sind, zum Vehikel der Mitteilung der Gedanken zwischen den Menschen zu werden“). Wenn Sprache und Schrift, wie allgemein üblich, als Systeme arbiträrer Zeichen betrachtet werden, ist es angesichts dieser Fülle möglicher Mitteilungsformen denkbar, daß Zeichensysteme konstruierbar sind, die die jeweils bestehenden in bestimmter oder auch in mehrfacher Hinsicht übertreffen. Nachdem im 16. Jahrhundert zahlreiche Modelle von Geheimschrift (Kryptographia) und Kurzschrift (Brachygraphia) vorgelegt worden waren (siehe auch Art. 173), richtete sich im 17. Jahrhundert das Interesse mehr auf die Entwicklung von skripturalen Zeichensystemen, die die an die natürlichen Sprachen gebundene alphabetische Schrift in ihrer kommunikativen Funktion übertreffen und den Mangel aller natürlichen Sprachen, nicht überall verstanden zu werden, kompensieren sollten (vgl. Art. 175). Gesucht wurde die unter Bezeichnungen wie „lingua universalis“, „common writing“ oder „universal character“ angepriesene Universalsprache (vgl. Knowlson 1975; siehe auch Art. 65 § 5.). Das Modell einer Schrift, durch deren Hilfe „nations of strange languages may communicate their meaning together in writing, though of sundrie tongues“ findet sich bereits 1588 bei Timothy Bright (1588, Epistle dedicatorie), der diese in erster Linie als Kurz- und Geheimschrift konzipiert hat. Die vorgebliche Anwendbarkeit der Kurzschrift Brights als eines universalen Verständigungsmittels resultiert aus der Verwendung von „verbal characters“ anstelle von „spelling characters“. Die Zeichen stehen jeweils für ganze Worte und bezeichnen damit die Dinge unabhängig von den verschiedenen natürlichen Sprachen. Dieser Gedanke einer transidiomatischen Schrift sowie das Prinzip ihrer Konstitution ist bestimmend für die Programme der Universalschrift, wie Cave Becks „Universal character, by which all nations in the World may understand one anothers conceptions, reading out of one common writing their mother tongues“ (Beck 1657; vgl. Salmon 1979, 177⫺190) oder Fran-
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
cis Lodwicks „Common writing“ (1647 ⫽ 1969; vgl. Knowlson 1975, 57 ff). Erklärtes Ziel der Universalschrift ist zunächst die Bereitstellung eines Mittels für die Ermöglichung des wechselseitigen Verkehrs der Nationen sowie für die Ausbreitung des Wissens und der Religion (vgl. Knowlson 1975, 11 f). Die intendierte Universalität der Schrift ist dabei nur zu erreichen, wenn diese ihrer Bindung an die einzelnen natürlichen Sprachen enthoben wird, d. h. nicht länger mehr als alphabetische Schrift nur Zeichen von Zeichen enthält, sondern in eine unmittelbare Zeichenbeziehung zu den Dingen und Begriffen tritt. Bacon hat 1623 in De augmentis scientiarum darauf hingewiesen, daß solche Schriftzeichen („characteres quidam reales, non nominales, qui […] nec literas nec verba, sed res et notiones exprimunt“) in China allgemein in Gebrauch seien. Er unterschied hier zwei Arten von Zeichen („notae“), die unmittelbar die Dinge bezeichnen, nämlich einerseits solche Zeichen, die ihr Signifikat aufgrund einer Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit demselben („ex congruo“) bezeichnen, wie die Hieroglyphen und die Gesten als eine Art transitorischer Hieroglyphen („hieroglyphica transitoria“), und zum anderen die Realcharaktere als willkürlich gebildete Schriftzeichen ohne eine solche Ähnlichkeit zum Signifikat (Bacon 1857⫺74, 1.651ff). Neben den ägyptischen Hieroglyphen und den chinesischen Schriftzeichen galten die Zahlzeichen als Beispiel transidiomatischer Zeichen (vgl. Arriaga 1632, 184). Entsprechend wurden die arabischen Ziffern bei Beck (1657), Johann Joachim Becher (1661 ⫽ 1962) und Athanasius Kircher (1663) zur Konstitution der Universalcharaktere herangezogen. Kam eine Schrift, die aus hieroglyphischen, d. h. eine Ähnlichkeit zum Signifikat aufweisenden Schriftzeichen gebildet war, wegen ihres sehr beschränkten Bereichs möglicher Signifikate zur Bildung einer Universalsprache nicht ernsthaft in Betracht, so war auch die aus Realcharakteren gebildete chinesische Schrift aufgrund der „difficulty and perplexedness“ ihrer Charaktere (Wilkins 1668 ⫽ 1968, 451) kein befriedigendes Modell. Denn für das Hauptproblem der Universalschrift konnte sie keine Lösung aufzeigen, nämlich wie Kürze, Regularität und Einfachheit der Realcharaktere zu erreichen war, wenn diese zugleich die Verschiedenheit und Komplexität der natürlichen Welt adäquat repräsentieren sollten. Um die Anzahl der verwendeten Schriftzeichen möglichst gering
1215 zu halten und die umfangreichen Zeichenglossare überschaubar zu machen, war die Einführung einer systematischen Ordnung erforderlich. Eine solche Strukturierung des Systems der Zeichen ist im Falle von Realcharakteren jedoch immer auch eine Ordnung der Dinge selbst. Diese Aufgabe der Erstellung einer systematischen Ordnung der Dinge nach Art einer Universaltopik bildet den Ansatzpunkt für Einflüsse sowohl von seiten der Tradition der Gedächtniskunst („ars memoriae“) als auch des Lullismus (vgl. Knowlson 1975, 78 ff). Letzterer tritt deutlich zutage bei Kircher (vgl. Schmidt-Biggemann 1983, 176 ff). Im Ganzen gesehen beschränkt er sich zumeist jedoch auf äußerliche Ähnlichkeiten hinsichtlich der kombinatorischen Verknüpfung von Zeichen und Begriffen. Die lullistischen Kategorien selbst werden kaum übernommen. Man ist bemüht, ein eigenes Kategoriensystem philosophisch zu begründen. „Cum enim […] Signa a nobis pro Rebus ipsis supponantur“, bemerkt George Dalgarno (1661, 18), „omnino rationi consentaneum est, ut Ars Signorum Artem Rerum sequatur“ („Da die Zeichen von uns für die Sachen selbst eingesetzt werden, ist es nur vernünftig, daß die Kunst der Zeichen der Kunst der Dinge folgt“). Aus eben diesem Grund hatte sich Descartes bereits 1629 in einem Brief an Mersenne gegen die Realisierbarkeit einer Universalsprache ausgesprochen: „l’invention de cette langue depend de la vraye Philosophie“, so daß ihre Einführung „presuppose de grans changemens en l’ordre des choses, et il faudroit que tout le monde ne fust qu’un paradis terrestre“ (Descartes 1897⫺1913, 1.81 f). Genau zur Herbeiführung dieses Zustandes sollte die lingua universalis nach dem Programm von Johann Amos Comenius beitragen (vgl. De Mott 1955). Sie gilt ihm als das einzige noch fehlende Mittel zur Realisierung seines utopischen Projekts einer „reformatio universalis“ (Comenius 1668, 58 f). In seiner 1641 verfaßten und später der Royal Society dedizierten pansophischen Programmschrift formuliert Comenius (1668, dedicatio n. 9) die an eine solche „lingua prorsus nova, prorsus facilis prorsusque rationalis et philosophica“ zu stellenden Anforderungen. Um als universelles Heilmittel gegen die Verwirrung der Begriffe („confusionis conceptuum antidotum universale“) fungieren zu können, darf sie (1) bis in die kleinsten Bestandteile hinein nur aus signifikativen Elementen bestehen, (2) keinerlei Unregelmäßigkeiten enthalten und
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(3) keine Diskrepanz zwischen den Dingen und den Begriffen zulassen, so daß mit den Worten immer zugleich auch die Naturen der Dinge und ihre Unterschiede ausgedrückt werden (Comenius 1668, 78). Diese formalen Kriterien versuchen auch ⫺ ohne sich jedoch auf ein ähnliches utopisch-pansophisches Programm zu verpflichten ⫺ die beiden umfangreichsten aus dem Kreis der Royal Society stammenden Universalsprachen zu erfüllen, Dalgarnos Ars Signorum (1661; vgl. Salmon 1979, 157⫺175; Rossi 1969, 226 f) sowie John Wilkins’ Entwurf eines „real character“ und einer „philosophical language“ (1668 vgl. Rossi 1960, 223 ff; Knowlson 1975, 98 ff; Clauss 1982). Die Grundlage beider Systeme, die jeweils nicht nur den Entwurf einer Universalschrift sondern zugleich die Methode ihrer sprachlichen Umsetzung vorstellen, bildet eine allgemeine Kategorientafel. Den in ihr enthaltenen Gattungen (17 bei Dalgarno, 40 bei Wilkins) werden jeweils Basiszeichen zugewiesen, die durch Hinzufügung weiterer Zeichen den verschiedenen Arten und Spezies gemäß weiter ausdifferenziert werden können (Abb. 62.4). Für jeden Gegenstand oder Begriff steht somit ein komplexes Zeichen, das ihn nicht allein repräsentiert, sondern auch eindeutig im kategorialen System verortet, ihn also bis zu einem gewissen Grade definiert. Hierdurch vermittelt die Kenntnis der Universalsprache ⫺ die eben deshalb auch als „philosophical language“ apostrophiert werden kann ⫺ zugleich die Kenntnis der Dinge. Dieses Moment unterscheidet, zumindest dem Anspruch nach, die philosophischen Sprachentwürfe von Dalgarno und Wilkins deutlich von den älteren Modellen einer Universalschrift (vgl. Knowlson 1975, 72 ff). 7.2. Die „characteristica universalis“: G. W. Leibniz Die ausführlichsten Ansätze zur Konstruktion eines artifiziellen Zeichensystems zum Zwecke der Erkenntnis finden sich bei G. W. Leibniz (1646⫺1716; vgl. Couturat 1901 ⫽ 1966; Schnelle 1962; Burckhardt 1980; Pombo 1987). In zahlreichen, von ihm selbst zumeist nicht veröffentlichten, Entwürfen untersucht er das Problemfeld von ars characteristica, ars combinatoria und ars inveniendi, das, in enger Verbindung mit seinem metaphysischen System stehend (vgl. Kohler 1913; Matzat 1938), bis zu seinem Tod einen wichtigen Bereich seines Denkens ausmacht (vgl. Art. 64). Begriffs- wie problemgeschichtlich
laufen im Leibnizschen Programm der ars characteristica drei Traditionen zusammen (vgl. Haller 1959, 122): (1) die lingua universalis und philosophical language (vgl. Knowlson 1975, 107 ff), (2) das Konzept einer mathesis universalis (vgl. Poser 1979) und (3) die lullistische Kombinatorik (vgl. Hübener 1983; Schmidt-Biggemann 1983, 186 ff). Leibniz hebt sein eigenes Programm einer ars characteristica deutlich von den älteren Ansätzen einer lingua universalis ab. Denn das von diesen verfolgte Ziel der Erleichterung des wechselseitigen Verkehrs der Völker sei noch der kleinste Nutzen, den eine Universalcharakteristik haben würde (Leibniz 1875⫺90 ⫽ 1978, 7.7; 12; 19): „Ego enim scripturam quandam universalem excogitari posse arbitror, cuius ope calculare in omni genere rerum et demonstrationes invenire possimus perinde ac in Algebra et Arithmetica“ („Ich glaube nämlich, es läßt sich eine Art Universalschrift ausdenken, mit deren Hilfe wir bei allen Arten von Dingen so rechnen und Beweise auffinden können, wie in der Algebra und der Arithmetik“; 7.17; vgl. 184). Die Leibnizschen Realcharaktere sollen also nicht allein die Repräsentation von bereits Bekanntem, sondern vielmehr die Entdeckung von noch Unbekanntem ermöglichen. „Es müßte sich“, meint Leibniz, „eine Art Alphabet der menschlichen Gedanken ersinnen und durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analyse der Worte, die sich aus ihnen zusammensetzen, alles andere entdecken und beurteilen lassen“ (7.185). Zwar kann aufgrund dessen, daß der Bereich der kontingenten Tatsachenwahrheiten nicht der logischen Analyse, sondern allein der Erfahrung zugänglich ist, die ars characteristica universalis das utopische Programm einer Pansophie nicht realisieren (7.19; 200). Für den Bereich der Vernunftwahrheiten jedoch garantiert die algebra generalis unter der Voraussetzung einer gelungenen Einführung der die Natur der Dinge repräsentierenden Realcharaktere die gleichsam maschinelle Auffindung der Wahrheit und die Irrtumsunfähigkeit des Denkens („Haec Algebra […] generalis […] praestat, Errare ne possumus quidem si velimus, et ut Veritas quasi picta, velut Machinae ope in charta expressa, deprehendatur“; 7.10). Jeder Irrtum, Widerspruch und jede falsche Schlußfolgerung wäre nurmehr gleichsam ein syntaktischer Fehler, vergleichbar dem Solözismus in der natürlichen Sprache oder dem Rechenfehler in der Arithmetik („sophismata […] et paralogismi nihil aliud forent quam
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Abb. 62.4: John Wilkins (1668, 387): Beschreibung des „real character“.
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quod errores calculi in Arithmeticis, et soloecismis […] in linguis“; 7.205; vgl. 7.200). Die Universalcharakteristik liefert eine gleichsam mechanische Anleitung des Geistes (vgl. 7.14), mit deren Hilfe „quisquis mediocri licet ingenio praeditus […] difficillima etiam intelligere et pulcherrimas veritates invenire possit“ („jeder auch nur mit mittelmäßigem Verstand Begabte die schwierigsten Dinge verstehen und die schönsten Wahrheiten entdecken könnte“; 7.3). Mit Recht hat daher Couturat (1901 ⫽ 1966, 101) hinsichtlich der Leibnizschen characteristica universalis bemerkt: „Elle n’aide pas seulement le raisonnement, elle le remplace“ („Sie unterstützt den Verstand nicht nur, sie ersetzt ihn“; vgl. auch Art. 64, 66 § 2. und 76).
8.
Das Zeichen in der Erkenntnislehre
Es ist eine der am einhelligsten vertretenen Thesen der philosophischen Tradition, daß die Erkenntnis die Präsenz des Erkenntnisobjekts zur Voraussetzung hat; ein Allgemeinplatz, der in dieser Generalität ⫺ die weder die Art des Erkenntnisvermögens, noch des Erkenntnisobjekts, noch auch die der Präsenz festlegt ⫺ gleichwohl Raum für zahlreiche divergierende Erkenntniskonzeptionen bietet. Die überwiegend anerkannte Tatsache, daß die Dinge nicht selbst in das Erkenntnisvermögen eingehen oder diesem präsent sein können, macht die Annahme einer vermittelnden, vergegenwärtigenden Instanz erforderlich, welche geeignet ist, die fehlende Präsenz des äußeren Gegenstandes durch ihre Repräsentation desselben zu kompensieren (vgl. Yolton 1984). Wenn Locke (1975, 720 f) zur Begründung der Wichtigkeit einer „doctrine of signs“ feststellt: „For since the Things, the Mind contemplates, are none of them, besides it self, present to the Understanding, ’tis necessary that something else, as a Sign or Representation of the thing it considers, should be present to it“, so verwendet er damit eine durchaus traditionelle Argumentationsfigur. „Ad eliciendam cognitionem“, heißt es bei Johannes a Sancto Thoma, „oportet quod obiectum reddatur unitum seu praesens potentiae […]. Et cum hoc non possit per seipsam ingredi potentiam illique uniri, oportet hoc fieri media aliqua forma, quae vocitur species“ („Zum Hervorbringen einer Erkenntnis ist es erforderlich, daß der Gegenstand mit dem Erkenntnisvermögen vereint oder diesem präsent gemacht
wird […]. Und weil dieser nicht durch sich selbst in das Erkenntnisvermögen eingehen und sich mit diesem vereinigen kann, muß dies durch die Vermittlung einer gewissen Form geschehen, welche Spezies [Erkenntnisbild] genannt wird“; 1632 ⫽ 1930, 707b). Diese Vermittlung zwischen dem materiellen äußeren Gegenstand und dem immateriellen Intellekt wurde der im Mittelalter und der frühen Neuzeit überwiegend ⫺ wenn auch keineswegs ausschließlich ⫺ vertretenen Speziestheorie zufolge als ein mehrstufiger Prozeß der Überführung sinnlicher Erkenntnisbilder („species sensibiles“, „species impressae“) in geistige Erkenntnisbilder („species intelligibiles“, „species expressae“) oder Begriffe („conceptus“) aufgefaßt (vgl. Hamilton, in: Reid 1895 ⫽ 1967, 951⫺960), welche als Ähnlichkeiten, Bilder oder Zeichen der Dinge bestimmt wurden („similitudines“, „imagines“, „simulacra“, „signa“). Der Begriff des Zeichens besitzt damit traditionell eine zentrale Stellung innerhalb der Theorie der Erkenntnis. Denn das Erkennen vollzieht sich im Medium der Zeichen, ist als Prozeß der Transformation von Zeichen beschreibbar. Aber auch dort, wo die Speziestheorie abgelehnt wird, bleibt, wie bei Locke, das Konzept des Zeichens selbst präsent und fungiert weiterhin als vermittelnde Instanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis (vgl. Art. 74). 8.1. Das Zeichen in der perzeptiven Erkenntnis Die bis ins 17. Jahrhundert überwiegend anerkannte Speziestheorie bot das Modell einer durch Zeichen geleisteten abgestuften Vermittlung zwischen dem immateriellen Intellekt und dem materiellen äußeren Erkenntnisgegenstand; ein Modell, das gerade dort nicht mehr akzeptiert werden konnte, wo das Problem der geistigen Erfassung körperlicher Dinge sich schärfer stellte als je zuvor: im Dualismus von res cogitans und res extensa bei Descartes (1596⫺1650). Denn bereits die Annahme von species sensibiles, die als von der Materie gelöste, sich im Medium der Luft ausbreitende Formen aufgefaßt wurden, war mit den Prinzipien der cartesischen Physik unvereinbar. An ihre Stelle treten nach cartesischer Auffassung mechanische Bewegungsreize. Anders als die species können diese allerdings in keiner Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Gegenstand stehen, dessen Erkenntnis sie vermitteln. Ebenso ist jede Kausalbeziehung unter der Voraussetzung des radikalen
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Dualismus von Leib und Seele ausgeschlossen. Gleichwohl nimmt auch bei Descartes der Zeichenbegriff eine zentrale Stellung innerhalb der Erklärung der Sinneswahrnehmung ein (vgl. Yolton 1984, 22 ff). Werden durch äußere Einwirkungen körpereigene Nerven affiziert, so setzt sich nach der Auffassung von Descartes diese Bewegung der Nerven bis zu den inneren Gehirnteilen fort und gibt dort dem Geist ein Zeichen, etwas zu empfinden, z. B. einen Schmerz im Fuß (vgl. Descartes 1897⫺1910, 7.88: „motus […] menti signum dat ad aliquid sentiendum“). Zwischen der Bewegung im körperlichen Sensorium oder Gehirn und der Empfindung bzw. Vorstellung im Geiste besteht kein Kausalzusammenhang. Das Modell des Zeichens ermöglicht Descartes die Ersetzung der Kausalbeziehung durch eine semantische Beziehung. Die Bewegung im Körper verursacht nicht, sie bezeichnet die Empfindung. Sie bezeichnet die Empfindung, repräsentiert sie jedoch nicht. Denn, wie Descartes hinsichtlich der Wahrnehmung des Lichts ausführt, „c’est nostre esprit tout de mesme, qui nous repre´sente l’ide´e de la Lumiere, toutes les fois que l’action qui la signifie touche nostre oeil“ („dennoch ist es unser Geist, der uns die Idee des Lichtes darstellt, während die Bewegung, die es bezeichnet, unser Auge trifft“; 1897⫺ 1910, 11.4; vgl. La Forge 1974, 175; Chauvin 1713, 622b). Der Zeichencharakter der Bewegung kann nun weder in einer Ähnlichkeit noch einem Kausalverhältnis zum Signifikat begründet sein. Neben diesen beiden Momenten kennt die traditionelle Zeichentheorie als Begründungsinstanz eines Signifikationsverhältnisses nur noch die willkürliche Einsetzung (s. o. § 2.2). Und genau dieser bedient sich Descartes hier als Modell und Begründung seiner Theorie der perzeptiven Erkenntnis äußerer Dinge. Denn wenn die allein aufgrund menschlicher Einsetzung signifikativen Worte uns Dinge erfassen lassen können, mit denen sie keinerlei Ähnlichkeit verbindet, „pourqouy la Nature ne pourrat’elle pas aussi avoir estably certain signe, qui nous fasse avoir les sentimens de la Lumiere, bien que ce signe n’ait rien en soy, qui soit semblable a` ce sentiment?“ („warum könnte dann nicht die Natur auch ein gewisses Zeichen gebildet haben, das uns die Empfindung des Lichtes haben läßt, obwohl es nichts an sich hat, das dieser Empfindung ähnelt?“ Descartes 1897⫺1910, 11.4). Das Konzept eines nach dem Paradigma der Signifikation willkürlicher Sprachzeichen geregelten Zusam-
1219 menhanges von körperlichen und mentalen Prozessen findet sich im Anschluß an Descartes später auch bei Clauberg (1691 ⫽ 1961, 753) und Cudworth (vgl. Yolton 1984, 28 f). Es stellt eine Möglichkeit dar, das zuallererst in der Wahrnehmung zutage tretende Problem der Vermittlung von Geist und Körperlichkeit ohne Rekurs auf die Annahme einer kausalen Beeinflussung ⫺ und sei es auch nur metaphorisch ⫺ in den Griff zu bekommen. Nicolas Malebranche (1638⫺1715) zieht aus der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis der äußeren Dinge den Schluß, das primäre Erkenntnisobjekt des Geistes sei „quelque chose qui est intimement unie a` noˆtre ame“ („etwas, das unserer Seele eng verbunden ist“), nämlich die „ide´e“ (Malebranche 1958⫺67, 1.413 f). Die Erkenntnis eines jeglichen Gegenstandes setzt im Geist die Präsenz der Idee desselben voraus. Was erfaßt wird, ist nicht der Gegenstand selbst, z. B. die Sonne, sondern die Idee der Sonne (1.413 f). Im Rahmen der Kritik an verschiedenen Modellen zur Erklärung der menschlichen Erkenntnis wendet sich Malebranche neben der aristotelischen species-Theorie und der Lehre von den eingeborenen Ideen auch gegen jenes ebenfalls auf Descartes zurückgehende Erklärungsmodell der Wahrnehmung, nach welchem unsere Seelen „sont excite´es a […] produire les ide´es par des impressions que les objets font sur les corps, quoique ces impressions ne soient pas des images semblables aux objets qui les causent“ („[…] angeregt werden, die Ideen zu produzieren durch die Eindrücke, welche die Gegenstände auf unsere Körper machen, obwohl diese Eindrücke keine Bilder sind, die den Gegenständen, welche sie bewirken, gleichen“). Die Annahme eines solchen die Partizipation an der göttlichen Macht voraussetzenden „se repre´senter les objets“ lehnt er als Ausdruck menschlicher Überheblichkeit entschieden ab (1.422). Der Ausfall der Verursachung der Perzeption durch äußere Dinge wird nicht durch eine Eigenrepräsentation des Geistes kompensiert, sondern dadurch, daß Gott die Erkenntnis in uns bewirkt: „nous voyons toutes choses en Dieu“ („wir sehen alle Dinge in Gott“; 1.437); Malebranche überführt die cartesische Erkenntnismetaphysik in eine Erkenntnistheologie. Unter der Voraussetzung, daß Gott die Ideen aller von ihm geschaffenen Dinge in sich trägt und darüber hinaus mit der menschlichen Seele durch seine Präsenz vereint ist, steht für Malebranche fest (1.437), „que l’esprit peut voir ce qu’il y a
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dans Dieu qui repre´sente les etres cre´ez, puisque cela est tres-spirituelle, tres-intelligible, et tres-pre´sent a` l’esprit“ („daß der Geist das sehen kann, was in Gott ist, welcher die Geschöpfe repräsentiert, denn das ist sehr geistig, sehr erkennbar und dem Geist sehr gegenwärtig“). Gott selbst wird damit zum Garant der Erfüllung jener Bedingungen, die traditionell an das Erkenntnisobjekt (bzw. die es repräsentierenden Spezies) zur Gewährleistung seiner intellektuellen Erfaßbarkeit gestellt wurden (Immaterialität bzw. Spiritualität, Intelligibilität und Präsenz; vgl. Johannes a Sancto Thoma 1632 ⫽ 1930, 823a). Die Erkenntnis aller Dinge in Gott korrespondiert für Malebranche (1.438) zudem mit der „oeconomie de toute la nature“ („Ökonomie der ganzen Natur“). Denn wenn es Gott möglich ist, allein durch seinen Willensentschluß bei den Geistern die Wahrnehmung aller Dinge zu bewirken, so gibt es keinen Grund für die Annahme, daß er sich hierfür zusätzlicher Hilfsmittel bedient. Abweichend von Descartes versteht Malebranche unter „ide´e“ das vom Bewußtseinsakt bzw. der Modifikation der Seele unterschiedene unmittelbare intelligible Erkenntnisobjekt. Diese „Verdinglichung“ der Ideen wird zum Hauptgegenstand einer umfangreichen Kontroverse mit Arnauld (vgl. GarciaGomez 1979, 184), die in gewisser Hinsicht als Neuauflage der im 14. Jahrhundert geführten Debatte um das „esse obiectivum“ angesehen werden kann. Arnauld, für den „l’ide´e d’un objet“ („die Idee eines Gegenstands“) und „la perception d’un objet“ („die Perzeption eines Gegenstands“) dasselbe sind (Arnauld 1775⫺83 ⫽ 1967, 38.207) und für den die Perzeptionsakte somit die einzigen wahren Ideen („vraies ide´es“) sind, attackiert Malebranches Konzept der von ihm als „eˆtres repre´sentatifs“ („repräsentierende Wesen“) apostrophierten Ideen unter Rekurs auf genuin zeichentheoretische Überlegungen. Nach Arnauld sind all jene Dinge, die gewöhnlich als „repre´sentatives“ charakterisiert werden, wie z. B. Bilder, Rede, Schrift und ähnliche Zeichen (somit auch Malebranches „eˆtres repre´sentatifs“) repräsentativ nur durch ihre Beziehung zu unseren Perzeptionen, durch welche allein die Dinge dem Geist präsent sein können. Malebranches Ideen unterliegen ihm zufolge damit, anders als sein eigenes Modell der Perzeptionen, den Bedingungen des Zeichens. Zu einem solchen gehören nach Arnauld jedoch stets zwei Ideen (s. o. § 2.4.1.): zum einen die des Zeichens und zum
anderen die der bezeichneten Sache. Wenn man, wie er Malebranches Beispiel aufgreifend ausführt, das „eˆtre repre´sentatif“ (die Idee) der Sonne als A und die Sonne selbst als B bezeichnet, dann ist es, damit A für mich repräsentativ ist, erforderlich, daß ich nicht allein die Perzeption von A besitze, sondern auch die von B und daß mir A als Mittel dient, B zu erfassen. Sähe mein Geist nämlich allein A, so würde A lediglich als ein Ding und nicht als ein Zeichen aufgefaßt, das B repräsentiert (38.584⫺587). Malebranches „eˆtres repre´sentatifs“ können somit keine Sacherkenntnis bewirken, ja überhaupt nichts repräsentieren, wenn die bezeichneten oder repräsentierten Dinge selbst nicht bereits durch unmittelbare Perzeption bekannt sind. In diesem Fall jedoch verlieren sie jegliche Funktion und erweisen sich als überflüssig. Eine radikale Anwendung des von Descartes entworfenen Erklärungsmodells sinnlicher Erkenntnis findet sich bei George Berkeley (1685⫺1753; vgl. 1948⫺57, 2.69). Sie steht hier jedoch insofern unter veränderten Vorzeichen, als er auch die letzten Konsequenzen aus jenen Überlegungen zieht, die Malebranche zur Konzipierung seiner Erkenntnistheologie veranlaßten. Denn unter der Voraussetzung, daß die Materie nicht auf den Geist einwirken kann und folglich jede Wahrnehmung als unmittelbar von Gott verursacht anzusehen ist, wird dem Sparsamkeitsprinzip gemäß nicht allein die Annahme weiterer erkenntnisvermittelnder Instanzen überflüssig, sondern auch die Existenz körperlicher Dinge selbst. Deren weitere Zulassung hieße, wenn anders die Welt in Anknüpfung an den alten Topos vom Buch der Natur als Mitteilung Gottes an den Menschen zu verstehen ist, unterstellen, „that God has created innumerable beings that are entirely useless“ (Berkeley 1948⫺57, 2.49). Die „doctrine of matter or corporeal substance“ besitzt damit nicht nur keinerlei Erklärungswert hinsichtlich der Phänomene (2.49; 62), sie bildet, indem sie einen der menschlichen Erkenntnis letztlich unzugänglichen Bereich postuliert, zugleich auch den „main pillar and support of scepticism“ (2.81; vgl. 78 f). Berkeleys Versuch einer Abwehr des Skeptizismus zwingt ihn auch zur Zurückweisung der Lockeschen Ideenlehre, in deren Zulassung abstrakter Ideen er das Hauptmotiv und die theoretische Grundlage für die Annahme der extramentalen Existenz erkenntnisunabhängiger körperlicher Substanzen ausmachen zu können glaubt (vgl.
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Armstrong 1969, 164 f). Denn diese ist nach Berkeley allein das Resultat der unzulässigen Abstraktion der Existenz sinnlicher Objekte von ihrem Erkanntwerden (2.42 f). Mag eine solche Abstraktion auch durch den trügerischen Charakter der Sprache begünstigt werden; wenn man sich von deren schädlichem Einfluß frei macht und den „curtain of words“ (2.40) beiseitezieht, so erkennt man, daß das Sein der Dinge mit ihrem Erkanntwerden zusammenfällt: „esse is percipi“ (2.42). Die unmittelbaren Objekte der sinnlichen Wahrnehmung, das Licht und die Farben mit ihren Schattierungen und Abstufungen sind nichts anderes als Zeichen, die in ihrer unendlichen Vielfalt und Kombination jene „optic language“ (3.159) bilden, in der Gott zu den Menschen spricht (vgl. 3.149) und die ihnen die Entfernungen, Figuren, Lagen, Dimensionen sowie die verschiedenen Qualitäten der tastbaren Gegenstände darstellt: „Not by similitude, nor yet by inference of necessary connexion, but by the arbitrary imposition of Providence, just as words suggest the things signified by them“ (3.154; vgl. 1.264 f). Wie jede andere durch arbiträre Zeichen konstituierte Sprache muß auch die „language of vision“ durch Erfahrung und Gewohnheit erlernt werden. Ein Blindgeborener, der später sein Augenlicht erhielte, könnte ihre Zeichen, das Licht und die Farben, ebensowenig deuten, wie die Worte einer ihm unbekannten Sprache (3.155). Berkeleys idealistischer Sensualismus hat weitreichende Konsequenzen für die Naturphilosophie, da er jede Kausalbeziehung in eine Zeichenbeziehung transformiert. Die Verbindung der Ideen impliziert kein Ursache-Wirkungs-Verhältnis sondern allein die Relation von Zeichen und Bezeichnetem: „The fire which I see is not the cause of the pain I suffer upon my approaching it, but the mark that forewarns me of it. In like manner, the noise that I hear is not the effect of this or that motion or collision of the ambient bodies, but the sign thereof“ (2.69). Insofern hält er „die Lehre von den Zeichen [„doctrine of signs“] für einen Punkt von großer Wichtigkeit […], der bei genügender Erwägung kein geringes Licht auf die Dinge werfen und eine gerechte und echte Lösung vieler Schwierigkeiten herbeiführen würde“ (3.307). 8.2.
Die Funktion des Zeichens für das Denken 8.2.1. Thomas Hobbes Nach Thomas Hobbes (1588⫺1679) besteht Philosophie in einem durch diskursives Denken (ratiocination) erlangten Wissen (Hobbes
1221 1839⫺45 a ⫽ 1961, 1.3). Die „ratiocination“ ist eine Art Kalkül, dessen zwei fundamentale Operationen als Addieren und Subtrahieren von Ideen, Gedanken oder Konzepten beschreibbar sind (1.13). Da die Gedanken jedoch flüchtig und vergänglich („fluxae et caducae“) sind, bedürfen sie der Unterstützung durch sinnliche ⫺ im Prinzip von jedem Einzelnen beliebig wählbare ⫺ Merkmale, mit deren Hilfe sie gleichsam fixiert und dem Geist für weitere Überlegungen verfügbar gemacht werden können. Diese sinnlichen Merkmale bezeichnet Hobbes als „marks“ bzw. „notae“. Da der Fortschritt der Philosophie in Form einer gemeinschaftlichen Wissensakkumulation jedoch nur gewährleistet werden kann, „if the same notes be made common to many“ (1839⫺45 a ⫽ 1961, 1.14; 1839⫺45 b ⫽ 1962, 1.12), ist zusätzlich zu den „notes“ ein Mittel zur Allgemeinmachung, zur Kommunikation der Gedanken erforderlich, die signa oder signs. Notae und signa sind somit primär funktional unterschieden (vgl. Dascal 1987, 32 ff). Während die notae zur erinnernden Vergegenwärtigung der Gedanken dienen, haben die signa die Aufgabe, sie anderen mitzuteilen (1839⫺45 b ⫽ 1962, 1.13). De facto werden beide Funktionen von sprachlichen Ausdrücken („voces“, „nomina“, „Words“, „Names“) erfüllt, wobei Hobbes jedoch ausdrücklich die Priorität der mnemonischen gegenüber der kommunikativen Funktion betont: „The nature of a name consists principally in this, that it is a mark taken for memory’s sake; but it serves also by accident to signify and make known to others what we remember ourselves“ (1839⫺45 a ⫽ 1961, 1.15). Während die Worte bereits als einzelne zur Erinnerung von Gedanken und damit als notae fungieren können, werden sie zu Zeichen lediglich im Kontext einer vollständigen Rede, eines Satzes („speech“, „oratio“; vgl. 1839⫺45 b ⫽ 1962, 1.13 f). Da der Zeichencharakter der sprachlichen Ausdrücke für Hobbes aufgrund der funktionalen Unterscheidung von notae und signa nur im Rahmen einer Mitteilung realisiert wird, eine solche sich aber nur in Sätzen als den eigentlichen Grundelementen der Kommunikation vollziehen kann ⫺ ein einzelnes Wort mag im Hörer zwar eine Idee evozieren, es garantiert jedoch nicht, daß diese der des Sprechers konform ist ⫺, werden die einzelnen Redeteile („nomina“) erst im Satz signifikativ (zu den Überlegungen von Hobbes über den Ursprung der Sprache vgl. Art. 65 § 7.1. und Art. 109 § 3.2.). Der in
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diesem Lehrstück enthaltene Ansatz zu einer Satzsemantik (vgl. Hungerland und Vick 1973; Dascal 1987, 33) ist von Hobbes allerdings nicht weiter ausgearbeitet worden. Den notae kommt ihm zufolge eine ⫺ wenn auch notwendige ⫺ Hilfsfunktion zu. Der rationale Diskurs selbst, die „computation“, operiert mit den durch die notae hervorgerufenen Ideen und Gedanken, nicht mit den notae oder anderen Zeichen selbst: „by the ratiocination of our mind, we add and subtract in our silent thoughts, without the use of words“ (1839⫺45 a ⫽ 1961, 1.3). Hobbes knüpft mit der deutlichen Abhebung eines sprachfreien Mentaldiskurses vom „verbal discourse“ oder „train of words“ an die ältere mentalistische Tradition an. Neu bei ihm ist allerdings die Betonung der Bedürftigkeit des Mentaldiskurses sowie die stillschweigende sensualistische Umdeutung der älteren Doktrin. Denn Begriffe sind für ihn nie etwas an und für sich Allgemeines, sondern nur Vorstellungsbilder von Einzeldingen („singularium […] rerum imagines et phantasmata“; 1839⫺45 b ⫽ 1962, 1.18; vgl. Hübener 1977, 84). 8.2.2. Richard Burthogge Wie Hobbes verzeichnet auch Richard Burthogge (1638⫺ ca. 1698) den Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Gebrauch der Worte (1694 ⫽ 1976, 27 ff). Er wendet sich jedoch gegen die strikte funktionale Trennung in marks und signs. Denn „in reference to both their Uses, Words are Signs, since in both, they do signify, either to one self […] or unto others“ (1694 ⫽ 1976, 30 f). In Anknüpfung an die Erkenntnistheorie von Arnold Geulincx (1624⫺1669), nach der die Dinge nicht erkannt werden wie sie an sich selbst sind („res ut sunt in se“), sondern nur unter bestimmten Erkenntnisweisen („modi cognoscendi“), erhalten die Worte einen noch stärkeren Einfluß auf das rationale Denken zugesprochen als bei Hobbes. Denn die Erkenntnis des Verstandes („understanding“) wird ganz von den Worten reguliert und bestimmt. Anders als die Imagination verfügt der Verstand über keine eigenen Bilder von den Dingen, durch welche diese gewußt werden könnten: „The only images it has of things […] are the Words which signify them“ (1694 ⫽ 1976, 27). Die Ideen des Verstandes sind nichts anderes als durch Worte gebildete Definitionen (1694 ⫽ 1976, 28). Die Worte sind für den Verstand in einem Maße bestimmend, daß bereits sein Name sich vom Ge-
brauch derselben herleitet; heißt er doch „understanding“, „because it has the power of seeing things under words that stand for them“ (1694 ⫽ 1976, 28). Das Gewebe der Worte und der durch sie gebildeten Begriffe wird gleichsam den Dingen übergeworfen, welche allein „under the Disguise and Masquerade of Notions“ erkannt werden (1694 ⫽ 1976, 65). 8.2.3. John Locke Eine tragende Funktion für die Erkenntnis räumt auch John Locke (1632⫺1704) dem Begriff des Zeichens ein. In seinem Essay concerning Human Understanding entwirft er eine allgemeine Einteilung der Wissenschaften, die neben der Naturwissenschaft („physike˘ “, Fysikh´ ) und der Ethik („praktike˘ “, Praktikh´ ) als dritte Grundlagendisziplin die „doctrine of signs“ oder „se¯me¯iotike˘ “ (Shmeivtikh´ ) anführt, deren Aufgabe die Untersuchung derjenigen Mittel ist, die für die Erlangung gesicherter Ergebnisse in den beiden übrigen Disziplinen und deren Mitteilung erforderlich sind. Hierbei handelt es sich um die Ideen ⫺ die damit, anders als bei Hobbes und Arnauld, mit unter den Begriff des Zeichens fallen ⫺ und die Worte („words“ bzw. „names“) als die beiden „great Instruments of knowledge“. Da die Worte die gebräuchlichsten Zeichen sind, kann diese Disziplin hinlänglich treffend auch „Logik“ genannt werden. De facto geht es Locke jedoch um eine Ersetzung der von ihm kritisierten traditionellen Form der Logik durch die auf den „right use of signs in order to Knowledge“ abzielende Semiotik (Locke 1690 ⫽ 1979, 720 f). Dieser fehlt es jedoch gerade an der zum Kernbestand der älteren Logiken gehörenden theoretischen Bestimmung des Zeichenbegriffs. Die Subsumption der Ideen unter die Zeichen (721) hat in Verbindung mit der extrem weit gefaßten Bedeutung des Ideebegriffs zur Konsequenz, daß, wie in der älteren species-Theorie, die gesamte menschliche Erkenntnis sich im Medium der Zeichen bewegt. Denn der Begriff der Idee steht „for whatsoever is the Object of the Understanding when a Man thinks“ und umfaßt damit „whatever is meant by Phantasm, Notion, Species“ (1690 ⫽ 1979, 47). Die Unschärfe und Widersprüchlichkeit seiner Bestimmung der Idee, die mal als das Objekt der Perzeption (134), mal als die Perzeption selbst (384) beschrieben wird, verbaut nicht allein die Klärung des Begriffs des Zeichens und dessen Verhältnisses zum Bezeichneten (vgl. Haller
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
1959, 119), sie setzt auch der Anwendung traditioneller Zeichenkonzepte auf den Ideebegriff Grenzen. Eine solche ist möglich hinsichtlich der einfachen Ideen, bei denen es sich um Zeichen („marks“ 388; „characters“ 373) der Eigenschaften externer Dinge handelt. Deren Signifikanz bzw. „reality“ gründet, entsprechend der Theorie der mechanischen Verursachung der Perzeption (135 f) sowie der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten, nicht in einer Ähnlichkeit zum bezeichneten Gegenstand, sondern in der Regularität der Verursachung der Perzeptionen durch äußere Dinge (373; 375). Erfüllen die einfachen und in gewissem Maße auch die komplexen Ideen der Substanzen als „ektypa“ (ektypa) bzw. „Copies“ realer Dinge (383) die gängigen Kriterien natürlicher Zeichen, so fallen die willkürlich aus verschiedenen Arten von einfachen Ideen synthetisierten „mixed modes“ (vgl. 165) aus dem Rahmen der gebräuchlichen Zeichenbestimmungen heraus, da sie, wie ausdrücklich betont wird, „no reference to any Pattern existing, and made by Nature“ haben (390). Sie repräsentieren keine extramentalen Gegenstände, sondern allein das, was sie an sich selbst sind: willkürliche Ensembles einfacher Ideen (vgl. 390; 564). Die Regularität der Verbindung zwischen den einfachen Ideen und den äußeren Dingen erlaubt es, für dieselben die aristotelische Auffassung, der zufolge die geistigen Begriffe „idem apud omnes“ („bei allen Menschen dieselben“) sind, zu übernehmen. Die meisten der einfachen Ideen gleichen sich bei allen Menschen ununterscheidbar (389). Irrtum und Dissens erweisen sich damit als Resultate eines unbedachten Zeichen- und Sprachgebrauchs: „Men, who well examine the Ideas of their own Minds, cannot much differ in thinking; however, they may perplex themselves with words“ (180). Locke unterstreicht die Priorität der Ideen gegenüber den Worten (437; vgl. 689) und unterscheidet ⫺ wie Hobbes und die ältere mentalistische Tradition ⫺ deutlich zwischen einem sprachfreien Mentaldiskurs und dessen nachträglicher Umsetzung in Worte (574 ff). Den beiden Arten von Zeichen, den Ideen und Worten, korrespondieren zwei Arten des Diskurses, die „mental propositions“, „being nothing but a bare consideration of the Ideas, as they are in our Minds stripp’d of Names“, sowie die „verbal propositions“ (574). Auch die Bildung abstrakter und komplexer Ideen vollzieht sich ohne Sprache (429). Den Worten kommt le-
1223 diglich die ⫺ allerdings unverzichtbare ⫺ Funktion einer nachträglichen Fixierung der sprachfrei gebildeten komplexen Ideen zu (435; vgl. 429). Wie Hobbes sieht Locke den Nutzen der Worte in den beiden Funktionen der Erinnerung eigener Gedanken („Recording of our own Thought“) und der Mitteilung an andere („communicating of our Thoughts to others“) (476; 405). Worte sind auf willkürlicher Einsetzung beruhende Zeichen der Ideen (159; 402; 404 ff; vgl. Ashworth 1981; 1984). Ihre Bedeutung ist somit abhängig vom Zeichencharakter der durch sie bezeichneten Ideen: „Words become general, by being made the signs of general Ideas: and Ideas become general by separating from them the circumstances of Time, and Place, and any other Ideas, that may determine them to this or that particular Existence“ (410 f) ⫺ ein Lehrstück, das später von Berkeley und Hume kritisiert wurde, welche die Allgemeinheit von Ideen darin begründet sehen, daß eine partikuläre Idee durch ihre Bindung an einen sprachlichen Ausdruck für andere, ihr ähnliche Ideen stehen kann (Berkeley 1948⫺57, 2.31 f; Hume 1886 ⫽ 1978, 17). Vor dem Hintergrund der Zulassung allgemeiner Ideen darf Lockes These, „‘General’ and ‘Universal’ are inventions and Creatures of the Understanding […] and concern only Signs“ (414) nicht vulgärnominalistisch verstanden werden. Locke hält sich hiermit (da er auch die Idee als Zeichen versteht) strikt im Rahmen der konzeptualistischen Tradition, von welcher er auch die Unterscheidung zwischen einem „particulare in essendo“ und einem „universale in repraesentando“ übernimmt (414). Die These der prinzipiellen Sprachunabhängigkeit des Denkens findet bei Locke ihr Gegengewicht in deskriptiven Aussagen über die individuelle Spracherlernung und den faktischen Gebrauch der Worte. Wenngleich die Ideen genetisch früher sind als die sie bezeichnenden Worte, kehrt sich aus der Perspektive der Spracherlernung das Prioritätsverhältnis um, da die Worte zumeist erlernt werden, bevor die ihnen korrespondierenden Ideen bekannt sind (437). Durch die im Geist eines jeden Einzelnen erfolgende gewohnheitsmäßige Verknüpfung von Ideen und Worten kommt es nicht allein zu einer unmittelbaren Exzitation der Ideen durch die sprachlichen Ausdrücke, sondern häufig auch zu einer Ersetzung (408). Die sprachfreie „mental proposition“ erweist sich damit als Grenzfall: „most Men, if not all, in their Thinking and Reasoning within them-
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selves, made use of Words instead of Ideas“ (574). Der beste Weg zur Erlangung eines klaren und distinkten Wissens wäre jedoch das „examining and judging of Ideas by themselves, their Names being quite laid aside“, was allerdings, wie Locke einräumt, „through the prevailing custom of using Sounds for Ideas […] is very seldom practised“ (579). Locke geht in seinem Zugeständnis eines Einflusses der Sprache auf das Denken nirgends so weit wie Burthogge oder Christian Thomasius (1655⫺1728), bei dem der Gebrauch von Worten als konstitutives Element in die Definition der cogitatio eingeht und ein sprachfreies Denken somit unmöglich wird (Thomasius 1702, 80 f). Sprache bleibt für Locke ⫺ anders als die Zeichen ⫺ prinzipiell hintergehbar. Wenn er die zur Erlangung von Wissen angewandten Zeichen, die Ideen und Worte, behandelt, so ohne dem Begriff des Zeichens auch nur annähernd jenen Grad von Bestimmtheit zukommen zu lassen, der seine Verwendung in den älteren Logiklehrbüchern auszeichnet. Wird der Essay concerning Human Understanding als partielle Einlösung der von Locke postulierten „Doctrine of Signs“ verstanden, so wird deutlich, daß es ihm hierbei nicht um eine theoretische, sondern um eine angewandte Semiotik ging. 8.2.4. Leibniz und die Theorie der „cognitio symbolica“ Bereits in seinen Vorstudien zum Entwurf der ars characteristica (vgl. Art. 64 § 2.3.) betont Leibniz (1646⫺1716) mit Nachdruck die Angewiesenheit menschlichen Denkens auf den Gebrauch von Zeichen: „Omnis ratiocinatio signis quibusdam sive characteribus perficitur. Non tantum enim res ipsae, sed et rerum ideae semper animo distincte observari neque possunt neque debent; et itaque compendii causa signa pro ipsis adhibentur“ („Alles menschliche Denken vollzieht sich mittels gewisser Zeichen oder Charaktere. Denn nicht nur die Dinge selbst, sondern auch die Ideen der Dinge können und sollen vom Geist nicht immer deutlich betrachtet werden; und deshalb werden der Kürze halber statt ihrer die Zeichen verwandt“; Leibniz 1875⫺90 ⫽ 1978, 7.204; vgl. 7.31). In seiner Auffassung von der mnemonischen und fixierenden Funktion der Zeichen für das Denken steht Leibniz in der Folge von Hobbes (vgl. Dascal 1987, 31⫺45; 1978, 134⫺171). Er betont jedoch die erkenntnisfundierende Funktion der Zeichen wesentlich stärker als Hobbes oder
Locke es getan haben. Die Zeichen werden nicht nachträglich mit den in einem sprachfreien Denken entwickelten Ideen verbunden, sondern sind konstitutive Elemente des Diskurses selbst. Zwar ist ein Denken ohne Wörter möglich, nicht jedoch ohne irgendwelche anderen Zeichen („cogitationes fieri possunt sine vocabulis […] at non sine aliis signis“) (1875⫺90 ⫽ 1978, 7.191). Zu diesen rechnet er „literas, figuras chemicas, Astronomicas, Chinenses, Hieroglyphicas, notas Musicas, steganographicas, arithmeticas, algebraicas aliasque omnes quibus inter cogitandum pro rebus utimur“ (7.204). Leibniz bestimmt damit das Zeichen im Sinne der älteren Auffassung vom Instrumentalzeichen, d. h. es muß notwendig den Sinnen zugänglich sein: „Signum est quod nunc sentimus et alioquin cum alio connexum esse ex priore experientia nostra vel aliena judicamus“ („Ein Zeichen ist etwas, das wir jetzt wahrnehmen und von dem wir aus einer früheren eigenen oder fremden Erfahrung urteilen, daß es mit etwas anderem verbunden ist“; Leibniz 1923 ff, 6/2. 500; vgl. Burckhardt 1980, 175; Dascal 1978, 96 ff). Das Modell des signum formale ist bei Leibniz nicht nachweisbar. Als Zeichen fungieren somit nicht die Ideen und geistigen Begriffe selbst, sondern allein die vom Geist zur cogitatio instrumentalisierten artifiziellen notae, Charaktere usw. In den Meditationes de cognitione, veritate et ideis von 1684 unterscheidet Leibniz im Rahmen des dichotomischen Systems von Perfektionsstufen der Erkenntnis zwischen cognitio intuitiva und cognitio symbolica („anschauender“ und „symbolischer Erkenntnis“). Insofern ein Begriff zugleich in all seinen Bestimmungsmomenten erfaßt wird, liegt eine intuitive Erkenntnis vor, wird er dagegen lediglich im Medium eines seine Stelle vertretenden Wortes oder anderen Zeichens erfaßt, handelt es sich um eine symbolische Erkenntnis. Während es von einem einfachen distinkten Begriff keine andere als eine intuitive Erkenntnis geben kann, ist die der komplexen Begriffe in den meisten Fällen symbolisch (1875⫺90 ⫽ 1978, 4.422 f). Die Leibnizsche Unterscheidung von cognitio intuitiva und cognitio symbolica erfährt im 18. Jahrhundert eine breite Rezeption und wird zu einem zentralen Thema der Erkenntnislehre dieser Zeit. Sie tritt hier zumeist an die Stelle der seit dem 14. Jahrhundert diskutierten Unterscheidung von cognitio intuitiva und cognitio abstractiva. Hierdurch werden abstraktive und symbolische Erkenntnis untrennbar miteinander verbun-
62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
den. Dieser Vorgang ist insofern von weitreichender Konsequenz, als abstrakte Erkenntnis unter dieser Voraussetzung nurmehr als symbolische und damit als sprach- und zeichenvermittelte Erkenntnis konzipierbar wird. Zwar wurden auch in der scholastischen Erkenntnislehre alle Instanzen des kognitiven Abstraktionsprozesses (species impressa, species expressa, conceptus) als Zeichen aufgefaßt. Es handelte sich nach deren Verständnis jedoch durchgängig um natürliche Zeichen und nicht, wie im Fall der symbolischen Erkenntnis, um willkürliche. Da zudem bei der Angabe der die deutliche Erkenntnis fundierenden Mittel („Wörter und andere Zeichen“) der zweite Teil aufgrund der Prädominanz der Sprache mitunter wegfällt, lassen sich im Rahmen der Erörterungen der symbolischen oder figürlichen Erkenntnis verschiedentlich Aussagen zum Verhältnis von Sprache und Denken finden, die wie eine Antizipation der „kopernikanischen Wende in der Sprachphilosophie“ klingen ⫺ und es bis zu einem gewissen Grad auch sind. Nach Christian Wolff (1679⫺1754) sind „die Worte der Grund für eine besondere Art von Erkäntniß […], welche wir die figürliche nennen“ (Wolff 1751 ⫽ 1983, 173). Bei dieser „stellen wir uns die Sachen durch die Wörter oder andere Zeichen vor“ (174; vgl. 1736 ⫽ 1962, 204 ff; 248 ff; vgl. Ungeheuer 1983). Die figürliche Erkenntnis hat nach Wolff „viele Vortheile vor der anschauenden, wenn diese nicht vollständig ist, das ist, alles deutlich […] vor Augen lieget, was ein Ding in sich enthält, und wie es mit andern verknüpffet ist und gegen sie sich verhält“ (1751 ⫽ 1983, 176). Da die menschlichen Empfindungen aber größtenteils undeutlich sind und somit dies nicht leisten, wird deutliche Erkenntnis erst durch die „Wörter und Zeichen“ erreicht, mit deren Hilfe die Bestimmungsmomente der Dinge unterschieden werden. „Weil nun aber hierdurch die Aehnlichkeit erhellet, die zwischen verschiedenen eintzelnen Dingen anzutreffen, so gelanget man auf diese Weise zu allgemeinen Begriffen und wird demnach die allgemeine Erkäntniß durch die Wörter deutlich“ (177; vgl. Bilfinger 1725 ⫽ 1982, 267). Ähnliche Thesen vertritt auch Johann Wilhelm Golling in seiner Darstellung der cognitio symbolica (1725). Abstrakte Erkenntnis ist ohne das Instrumentarium der Zeichen, d. h. in der Regel: der Wörter, nicht oder nur sehr unvollkommen zu erlangen. Während sich die sinnliche Erfahrung immer auf Einzeldinge bezieht, können wir mit Hilfe
1225 der Wörter allgemeine Ideen abstrahieren (Golling 1725, 19). Die spezifische Tätigkeit der reinen Vernunft („intellectus purus“), sinnlich nicht erfaßbare Dinge oder abstrakte Begriffe deutlich vorzustellen, ist ohne den Zeichengebrauch der cognitio symbolica nicht möglich (20f). Eine vollständige Festlegung abstrakter auf symbolische Erkenntnis und dieser auf Sprachlichkeit vollzieht Friedrich Christian Baumeister, nach dem die Erkenntnisfunktion des Intellekts in der allein durch Sprache möglichen Formierung allgemeiner Begriffe besteht; einer Fähigkeit, die zugleich das Definiens der untrennbar mit dem Intellekt verbundenen cognitio symbolica ausmacht: „Sensibus cognoscimus res praesentes, quae cognitio dicitur intuitiva. At intellectus in cognoscendis notionibus universalioribus, iisque distincte formandis, versatur, quod nisi per verba, fieri non potest, quae cognitio dicitur symbolica, quae ab intellectu sejungi non potest, […] abstractarum notionum nulla cognitio distincte formari potest, nisi verborum adminiculis“ („Durch die Sinne erkennen wir die gegenwärtigen Dinge, welche Erkenntnis intuitiv genannt wird. Das Geschäft des Intellekts ist es jedoch, die allgemeineren Begriffe zu erkennen und diese deutlich zu bilden, was allein durch die Wörter geschehen kann. Diese Erkenntnis wird symbolisch genannt und vermag nicht vom Intellekt abgetrennt zu werden. […] Von den abstrakten Begriffen kann keine deutliche Erkenntnis gebildet werden, es sei denn mit Hilfe der Wörter“; Baumeister 1765, 236; vgl. Ernesti 1734 ⫽ 1769, 133). Auch Johann Heinrich Lambert (1728⫺1777) eröffnet in seinem Neuen Organon den Entwurf einer Semiotik (vgl. Hubig 1979) mit der Darstellung der „symbolischen Erkenntniß überhaupt“ (Lambert 1764 ⫽ 1965, 5⫺43). Diese gilt ihm als ein „unentbehrliches Hülfsmittel zum Denken“ (11). Denn die Zeichen regulieren gleichsam den Bewußtseinsstrom, weil erst durch sie „unser Denken in eine ununterbrochene Reihe von Empfindungen und klaren Vorstellungen verwandelt wird“ (12). Zudem erweitern allein sie den Horizont des menschlichen Denkens über die Grenzen unmittelbar empfindbarer Gegenstände hinaus und ermöglichen somit abstrakte Erkenntnis: „Da wir […] weder immer die Dinge empfinden, an welche wir denken, und viele Abstracta nicht empfunden werden können so füllet die Empfindung der Zeichen die meisten Lücken in unserem Denken aus, und besonders ist unsere allgemeine oder abstracte Erkenntniß
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
durchaus symbolisch“ (12 f). Mit derselben Deutlichkeit konstatiert auch noch Salomon Maimon (um 1753⫺1800), dessen Interpretation der symbolischen Erkenntnis größtenteils auf Kants Thesen zur schematischen und symbolischen Hypotypose basiert (vgl. Lamacchia 1970): „Die symbolische Erkenntnis ist von großer Wichtigkeit. Durch ihre Hülfe gelangen wir sowohl zu den abstrakten, als zu den aus diesen verschiedentlich komponierten Begriffen, und sind im Stande, aus schon bekannten Wahrheiten neue zu erfinden; d. h. überhaupt unsere Vernunft zu gebrauchen“ (Maimon 1790 ⫽ 1963, 265). Die Behandlung der cognitio symbolica in den Erkenntnislehren des 18. Jahrhunderts bildet einen vielgenutzten Ansatzpunkt für detaillierte Erörterungen der Funktion von Sprache und Zeichen insgesamt für die menschliche Erkenntnis (vgl. Wolff 1968, 204⫺277; Reusch 1734 ⫽ 1750, 228⫺255; Lambert 1764 ⫽ 1965, 2.5⫺216; Maimon 1790 ⫽ 1963, 265⫺332; Hoffbauer 1789). Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Lamberts „Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge“ (vgl. Coseriu 1972⫺ 75, 140⫺149; Roeder 1927, 25⫺33). Kriterium eines „wissenschaftlichen“ Zeichensystems ist es nach Lambert, daß die verwendeten Zeichen nicht allein „die Begriffe oder Dinge vorstellen, sondern auch solche Verhältnisse anzeigen, daß die Theorie der Sachen und die Theorie der Zeichen miteinander vertauscht werden können“ (1764 ⫽ 1965, 2.16). Ziel ist hierbei stets die Reduktion der Theorie der Sachen auf die Theorie der Zeichen. Das „vollkommenste Muster“ eines solchen wissenschaftlichen Zeichensystems (Charakteristik) ist die Algebra (23). Andere von Lambert hinsichtlich ihrer Erfüllung des genannten Kriteriums untersuchte Zeichensysteme sind die musikalische Notenschrift, Feuillets choreographische Notation, die chemischen und astronomischen Zeichen, Emblemata, Hieroglyphen sowie, insbesondere, die Sprache (vgl. 44 ff). 8.2.5. Condillac und die Ideologen Zu ähnlich dezidierten Aussagen zur Sprachabhängigkeit des Denkens, wie sie sich in der Tradition der cognitio symbolica finden lassen, gelangt, wenn auch von anderen Voraussetzungen ausgehend, Condillac (1714⫺1780; vgl. Art. 65 § 6.2.). Thematisch zunächst an Lockes Empirismus anknüpfend, hinsichtlich der Bewertung der konstitutiven Funktion des Zeichengebrauchs für die menschliche Er-
kenntnis jedoch entscheidend über diesen hinausgehend, hat Condillac eine zusammenhängende sensualistische Theorie für die Entwicklung des Denkvermögens vorgelegt. Die höheren Erkenntnisoperationen bzw. das Denken sind ihm zufolge nichts anderes, als mit Hilfe von Zeichen transformierte sinnliche Wahrnehmungen („sensations transforme´s“): „Le germe de l’art de penser est dans nos sensations“ („Der Keim der Kunst des Denkens liegt in unseren Wahrnehmungen“; Condillac 1946⫺51, 1.717a). „[…] l’usage des signes est le principe qui de´veloppe le germe de toutes nos ide´es“ („der Zeichengebrauch ist das Prinzip welches den Keim all unserer Ideen entwickelt“; 1946⫺51, 1.5b). Die Reflexion, der bei Locke noch der Status einer eigenen Erkenntnisquelle zukam, wird damit ebenfalls auf die Sinne reduziert (1946⫺51, 1.325b). Für die Bildung jeder Art von Ideen sind Wörter absolut notwendig („[…] les mots nous sont absolument ne´cessaire pour nous faire des ide´es de toutes espe`ces“; 1946⫺51, 2.396b). Entsprechend lehnt Condillac die von Locke noch zugelassenen „propositions mentales“ ausdrücklich ab (1.738a). Die genetische Abhängigkeit des Denkens vom Zeichengebrauch impliziert eine Korrespondenz von beidem auch auf der jeweils höchsten Entwicklungsstufe: „L’art de raisonner sera re´duit a` une langue bien fait“ („Die Kunst des Denkens wird zurückgeführt auf eine gut gemachte Sprache“; 2.371). Ebenso gilt nach Condillac allgemein, daß eine Wissenschaft, richtig behandelt, nichts anderes ist als eine gut gebildete Sprache (2.419a). Analytische Methode und Sprache sind dasselbe: „Toute langue est une me´thode analytique et toute me´thode analytique est une langue“ („Jede Sprache ist eine Analysemethode, und jede Analysemethode ist eine Sprache“; 2.419a; vgl. Kretzmann 1967, 385 f; Coseriu 1972⫺75, 225⫺229; Knowlson 1975, 164 ff; Robinet 1978, 207 ff). 1795 richtete das neugegründete Pariser Institut National des Sciences et des Arts in seiner zweiten Klasse eine Abteilung mit dem Arbeitsgebiet „analyse des sensations et des ide´es“ ein. Zu deren Mitgliedern, den sogenannten „Ide´ologues“, gehörten bis zur Schließung der Klassen unter Napoleon 1802 u. a. Destutt de Tracy (1754⫺1836), dessen Ele´ments d’ide´ologie dieser Gruppe den Namen gab, Dege´rando (1772⫺1842), Laromiguie`re (1756⫺1837), Cabanis (1757⫺1808), Garat (1749⫺1833), Pre´vost und Lancelin. Zentraler Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer
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62. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
zeichentheoretischen Erörterungen ist die sensualistische Lehre Condillacs. Während Cabanis und Garat an Condillacs Auffassung von der konstitutiven Funktion der Zeichen für das Denken festhalten, zeichnet sich insgesamt bei den Ideologen eine vorsichtige Zurücknahme seiner Thesen ab (vgl. Dascal 1983; Haßler 1981; Ricken 1986). Destutt de Tracy, der in Condillac den eigentlichen Begründer der „ide´ologie“ sieht (1801⫺15 ⫽ 1977, 1.3) und ihn als denjenigen würdigt, der als erster erkannt und bewiesen habe, „que sans signes nous ne pourrions presque pas comparer nos ide´es simples, ni analyser nos ide´es compose´es; qu’ainsi les langues sont aussi ne´cessaire pour penser que pour parler […], et que sans elles nous n’aurions que des notions tre`s peu nombreuses, tre`s confuses et tre`s incompletes“ („daß wir ohne Zeichen unsere einfachen Ideen fast nicht vergleichen noch unsere zusammengesetzten Ideen analysieren könnten; daß daher die Sprachen genau so notwendig sind für das Denken wie für das Sprechen […] und daß wir ohne sie nur sehr wenige, sehr verwirrte und sehr unvollständige Ideen hätten“; 1801⫺15 ⫽ 1977, 1.272), beschränkt die Funktion der Zeichen im wesentlichen auf die nachträgliche Fixation der Ideen und die Unterstützung des Gedächtnisses. Insofern hätte Condillac besser sagen sollen, „que tout signe est l’expression du re´sultat d’un calcule exe´cute´, ou […] d’une analyse faite, et qu’il fixe et constate ce re´sultat“ („daß jedes Zeichen Ausdruck des Ergebnisses der Durchführung einer Rechenoperation oder einer Analyse ist und daß es dieses Ergebnis fixiert und mitteilt“; 1.272). Eine substantielle Revision der zentralen Thesen Condillacs unternimmt Dege´rando in seiner Preisschrift, die 1799 den von der Akademie ausgeschriebenen Wettbewerb mit dem Thema „Determiner l’influence des signes sur la formation des ide´es“ („Bestimmung des Einflusses der Zeichen auf die Bildung von Ideen“) gewann und im folgenden Jahr in einer erweiterten, vierbändigen Fassung unter dem Titel Des signes et de l’art de penser conside´re´s dans leurs rapports mutuels („Die Zeichen und die Kunst des Denkens, in ihren gegenseitigen Beziehungen betrachtet“) erschien. Man habe, so Dege´rando (1800, 1.XXII) „jusqu’ici toujours attribue´ aux signes trop ou trop peu d’influence“ („bis dahin den Zeichen immer zu viel oder zu wenig Einfluß zugeschrieben“) und sei somit in der Folge Condillacs von einem Extrem ins andere gefallen (1800, 1.XX). Dessen Doktrin
sei einseitig: „il a dit en partie ce que les signes sont a` notre esprit, mais il n’a point dit ce que notre esprit est aux signes, et comment il agit sur eux“ („er hat teilweise beschrieben, was die Zeichen für unseren Geist sind, aber überhaupt nicht, was unser Geist für die Zeichen ist und wie er auf sie einwirkt“; 1800, 1.XIX). Wiederholt warnt Dege´rando vor einer Überbewertung der Rolle der Zeichen bei der Herausbildung und Formung der Denkprozesse (1800, 1.292 ff; 3.74; 150 f; vgl. Haßler 1977). Die Perfektionierung der Sprache könne zwar die Kommunikation verbessern, es sei jedoch grundsätzlich falsch, die höheren geistigen Funktionen allein auf diese zurückführen zu wollen oder zu behaupten, jede Wissenschaft sei lediglich eine wohlgeordnete Sprache (1800, 1.XX; 2.121; vgl. Ricken 1986).
9.
Zusammenfassung: die neuzeitliche Entwicklung der Zeichentheorie bis ins frühe 19. Jahrhundert
Das Begriffsfeld von Zeichen und Repräsentation besetzt (auch) in der frühen Neuzeit zentrale Systemstellen der logischen, metaphysischen, naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Diskurse. Hinter diesen Anwendungen auf die verschiedenen Einzeldisziplinen steht mit den zeichentheoretischen Abschnitten innerhalb der neuscholastischen Logik besonders des späten 16. und 17. Jahrhunderts sowie mit der zeitgleich von der protestantischen Schulmetaphysik kultivierten „doctrina generalis de signo et signato“ bereits eine hochentwickelte Form einer allgemeinen Theorie des Zeichens. Als Locke am Schluß seines Essay concerning Human Understanding das Programm einer Semiotik formulierte, waren die umfangreichsten frühneuzeitlichen Diskussionen um eine allgemeine Theorie des Zeichens bereits geführt. Wenngleich deren Einfluß ⫺ vielfach gebrochen und transformiert ⫺ vereinzelt bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus reicht, geraten sie selbst zunehmend in Vergessenheit. Hauptansatzpunkte für die Zeichentheorie des 18. und 19. Jahrhunderts sind neben der Logik von Port-Royal vor allem Locke und Leibniz. Lockes empiristische Theorie führt, besonders in ihrer sensualistischen Verschärfung durch Condillac, an der Wende zum 19. Jahrhundert bei den Ideologen zu einer intensiven Erörterung des Einflusses der Zeichen auf die Erkenntnis so-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
wie zu einer neuerlichen Konjunktur des Zeichenthemas; sein Semiotik-Postulat bildet noch das Fundament für Benjamin Humphrey Smarts Entwurf einer Sematology (1831). Leibnizens Lehre von der cognitio symbolica avanciert in der deutschen Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema der Erkenntnislehre und bildet damit den Ausgangspunkt für eine eingehende Betrachtung der kognitiven Funktion von Zeichen im allgemeinen und Sprache im besonderen. Sein Projekt einer characteristica universalis, in seiner ursprünglichen Intention bald als undurchführbar erkannt, wird im 18. Jahrhundert in vielfach modifizierter Form fortgeführt. Entwürfe eines Zeichenkalküls zum Zwecke der Begründung einer algebraisch orientierten Logik liefern Lambert, Ploucquet, Euler u. a. (vgl. Roeder 1927, 39 ff; Wolters 1980). In erster Linie geht es nun jedoch nicht mehr um die Invention eines Zeichensystems zum gleichsam mechanischen Gewinn eines universellen Wissens, sondern um die Gewinnung einer allgemeinen Wissenschaft von den Zeichensystemen. Diese Wendung zum Konkreten und die Betonung des empirischen Charakters der allgemeinen Zeichentheorie tritt deutlich zutage bei Bilfinger, der anstelle des gebräuchlichen Namens der „characteristica“ den einer „Ars semantica generalis“ vorschlägt (Roeder 1927, 21), bei Baumgarten, der die Zeichensysteme von Sprache, Schrift, Hieroglyphik, Heraldik, Numismatik, Kosmetik usw. als Teilgebiete der „Semiotica“ als der allgemeinen Wissenschaft von den Zeichen bestimmt (1779 ⫽ 1963, 57), in Hoffbauers Semiologia (1789) sowie nicht zuletzt in Lamberts Semiotik (vgl. hierzu Art. 63). Diesem Prozeß korrespondiert vielfach eine „Semiotisierung“ der verschiedenen Einzeldisziplinen wie z. B. der Hermeneutik (vgl. Meier, 1755; siehe Art. 131) oder der Ästhetik (Baumgarten, Lessing, Mendelssohn, Eberhard; siehe Art. 63), in denen der Zeichenbegriff nun eine zentrale Funktion erhält. Die Konjunktur des Zeichenthemas, wie sie sich in Frankreich und Deutschland während des späten 18. Jahrhunderts als späte und vielfach vermittelte Wirkung von Locke und Leibniz zeigt, läßt während des 19. Jahrhunderts mit dem schwindenden Einfluß derselben gleichfalls deutlich nach. Zum Zeitpunkt der Begründung der modernen Semiotik und Semiologie im späten 19. Jahrhundert (vgl. Art. 100⫺103) sind die Semiologie und Semiotik des 18. Jahrhunderts bereits weitge-
hend vergessen und die umfangreichen zeichentheoretischen Diskussionen der frühen Neuzeit vor Locke und Leibniz gar vollständig zu einem Bereich „verschollener Bildung“ geworden. Einschätzungen von der Art, wie Buyssens’ Feststellung „L’histoire de la se´miologie n’est pas longue. Avant Saussure, on trouve, surtout chez les logiciens, des re´marques ge´ne´rales concernant les signes ou les symboles“ („Die Geschichte der Semiologie ist nicht lang. Vor Saussure finden sich, vor allem bei den Logikern, allgemeine Bemerkungen, die die Zeichen oder die Symbole betreffen“; 1967, 12), werden durch die Fülle des historischen Materials entschieden dementiert ⫺ wenngleich dieses zu einem großen Teil erst noch zu erschließen und zu bearbeiten ist.
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Stephan Meier-Oeser, Berlin (Deutschland)
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Einleitung 2. Zeichenkonzeptionen in der Renaissance vom 14. bis 16. Jahrhundert 2.1. Die Sprache der Dichtung im Rahmen der Rhetorik 2.2. Die Darstellung des Sichtbaren im Zeichen der Kunstschönheit: Disegno 3. Zeichenkonzeptionen in der Literatur- und Kunstkritik des 17. und 18. Jahrhunderts 3.1. Die französische Schönheitsphilosophie 3.2. Die pragmatische Dimension der Kunst: Geschmacksdiskussion in England 3.3. Der künstlerische Ausdruck in der deutschen Literatur- und Kunstkritik 4. Zeichenkonzeptionen in der philosophischen Ästhetik und Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts 4.1. Die Semiotik in propädeutischer Funktion 4.2. Die Theorie des schönen Ausdrucks
5. Zeichenkonzeptionen in der frühromantischen Kunst- und Dichtungstheorie 5.1. Der semantische und der syntaktische Aspekt des Symbols 5.2. Der pragmatische Aspekt des Symbolischen 5.3. Die poetische Transformation der Transzendentalphilosophie 6. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
Die Ausbildung der neuzeitlichen Kunstphilosophie geht wesentlich von Italien aus (14.⫺16. Jahrhundert) und hängt mit der Wiederentdeckung und dem Wiederaufleben der antiken Kunst- und Dichtungstheorien
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
und der antiken Philosophie zusammen (vgl. § 2.). Ein weiterer Ansatz geht auf die Literatur- und Kunstkritik zurück, die im 17. und 18. Jahrhundert zunächst in Frankreich und England, dann ebenso in Deutschland ausgebildet wird (vgl. § 3.). Beide Ansätze prägen die Entstehung der philosophischen Ästhetik im Rahmen von Leibnizens und Christian Wolffs Philosophie sowie deren popularisierende Verbreitung im 18. Jahrhundert (§ 4.). Kunstphilosophie und Ästhetik werden an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert fortgeführt und differenziert durch die vom Deutschen Idealismus beeinflußte frühromantische Kunst- und Dichtungstheorie (§ 5.). Außereuropäische Länder, aber auch Skandinavien oder Rußland waren an dieser Entwicklung nicht beteiligt. Doch gibt es beispielsweise in Rußland Untersuchungen zur Ästhetik der Renaissance (Losev 1982, vgl. Batkin 1978); auch nimmt Rußland teil an der europäischen Romantik (Lettenbauer 1970 und Zelinsky 1975). Die Zeichenkonzeptionen in der europäischen Kunstphilosophie und Ästhetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert sind mit dem Wandel des Kunstbegriffs verbunden, dessen Entstehung das zentrale Problem der modernen Ästhetik und ihrer Historiographie ist. Die Antike und das Mittelalter ordneten die bildenden Künste ebenso wie Musik und Dichtung den verschiedenen Wissenschaften sowie handwerklichen und anderen menschlichen Tätigkeiten zu (vgl. Art. 50); unter Kunst wurde ein Kanon von Regeln verstanden, der dazu anleiten sollte, etwas herzustellen. Das Handwerk des Schuhmachers, die Kochkunst und die Kunst des Jongleurs, Grammatik und Arithmetik sind nicht weniger und in keinem andern Sinn ‘Kunst’ als Malerei und Bildhauerei, Dichtung und Musik (Kristeller 1951⫺ 52, 174). Der neue Kunstbegriff, der im Kontext eines ästhetischen Diskurses ausgebildet wird, an dem im Laufe der Jahrhunderte Personen von unterschiedlicher Profession beteiligt gewesen sind ⫺ Humanisten, Philologen, Philosophen, Künstler, Dichter und Kritiker ⫺ ist grundsätzlich am Prinzip der Nachahmung (der Alten bzw. der Natur) orientiert und setzt voraus, daß „Kunst“ ‘Schönheit’ konnotiert (zur Grammatiktheorie der Humanisten vgl. Art. 67 § 2.). Nachahmung (mi¬mhsiw, imitatio) wird seit Platon und Aristoteles im Sinn von Darstellung, auch von Ausdruck verstanden. Aristoteles (Poetik, 1447 b 25) teilt die Künste nach der Art und
1233
Weise ein, in der sie Gegenstände mit Hilfe der Darstellungsmittel, die ihnen jeweils eigentümlich sind ⫺ Form, Farbe, Ton, Rhythmus und Wort ⫺ ins Werk setzen (vgl. Koller 1954). Die Bindung an das Schöne ermöglicht die Unterscheidung der bildenden Künste (Architektur, Bildhauerei, Malerei), der Dichtung und der Musik von den Wissenschaften und Handwerkskünsten. Schönheit ist zudem die Qualität oder der Wert, durch den Kunstwerke von Gegenständen des Alltags unterschieden werden. Der Künstler, dem ein besonderes Ingenium, Genie (vgl. Fabian 1974, Ritter 1974) zugesprochen wird, macht sichtbar, hörbar, erfahrbar, was im Alltag, in der alltäglichen Wahrnehmung verborgen bleibt. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wird in der Bestimmung des Geschmacks („bon gouˆt“, „fine taste“) eine Empfänglichkeit oder Sensibilität für das Schöne thematisiert, die für die Produktion wie für die Rezeption und eine angemessene Kritik von Kunstwerken unverzichtbar ist (vgl. Schümmer 1955). ⫺ Die begriffliche Ausformulierung des neuen Kunstbegriffs impliziert ⫺ mehr oder weniger ausdrücklich ⫺ eine zeichentheoretische Bestimmung der Kunst. Kunstwerke werden als imitative oder expressive Zeichen (N. Goodman; vgl. Art. 121) bzw. als Ensemble von Werten (J. Mukarˇovsky´; vgl. Art. 115) aufgefaßt. Sie sind ästhetische Zeichen im Sinne von ikonischen Zeichen, deren Designat einen Wert darstellt. Werthaft ist die Eigenschaft des Kunstobjektes, durch einen schönen Ausdruck Gefallen zu erregen. Die Erörterung der Entstehung solcher Objekte impliziert die Beschreibung des Kunstwerks als Zeichenprozeß, der semantisch, syntaktisch und pragmatisch konstituiert ist (Ch. Morris, siehe Posner 1987, 52; vgl. Art. 113). Der neue Kunstbegriff gipfelt in der autonomen Bestimmung der Kunst. Die semiotische Rekonstruktion der ästhetischen Theoriebildung hat erst begonnen (vgl. Nöth 1985, 381 ff und Paetzold 1987); berücksichtigt werden bislang insbesondere das 18. Jahrhundert und die Romantik (vgl. Todorov 1977). Detaillierte Erörterungen von Einzelproblemen finden sich in der Zeitschrift für Semiotik (1979 ff). Zeichentheoretisch ist die Ausbildung des neuen Kunstbegriffs gleichbedeutend mit dem Schritt vom Verständnis des Kunstwerks als imitatives ästhetisches Zeichen (siehe §§ 2.⫺4.) zu seiner Auffassung als selbstreferentielles Zeichen (siehe § 5.; vgl. auch Art. 120).
1234
2.
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Zeichenkonzeptionen in der Renaissance vom 14. bis 16. Jahrhundert
Die Poetik der Renaissance, die von Humanisten (z. B. Francesco Robertello †1567) und Philosophen (z. B. Francesco Patrizzi †1597), von Philologen (z. B. Julius Caesar Scaliger †1558) und Dichtern (z. B. Torquato Tasso †1595) geschrieben wird, verbindet im Anschluß an die Ars poetica von Horaz und die Poetik des Aristoteles das rhetorische Konzept der Dichtung mit der Nachahmungslehre (vgl. Borinski 1924 ⫽ 1965, I 208⫺245). Die poetische Sprache wird in diesem Rahmen dem Dekorum unterworfen, das als Norm und maßgebender Wert der Dichtung gilt (siehe § 2.1.). Erst im Zusammenhang mit der Theorie der bildenden Künste bindet die Renaissance, im Rückgriff auf die tradierte Schönheitsmetaphysik (vgl. Art. 50), die Kunst an das Schöne. Die Emanzipation der bildenden Künste aus dem Verbund der artes mechanicae wird begrifflich in der Bestimmung der bildenden als der schönen Künste und zeichentheoretisch in der Theorie des Disegno und im Paragone faßbar (s. u. § 2.2.). 2.1. Die Sprache der Dichtung im Rahmen der Rhetorik Die Probleme der Renaissancepoetik ergeben sich aus der Definition der Dichtung (vgl. Art. 67 § 3. und § 4.). Die Dichtung steht als ars rationalis der Philosophie und der Geschichte nahe und ist als Redekunst der Grammatik, Logik und Rhetorik verbunden (vgl. Weinberg 1961 ⫽ 1974, 1⫺37). Alle diese Künste bedienen sich der Sprache. Die spezifische Differenz der Dichtung liegt in der Verbindung zweier Merkmale, der Nachahmung („assimilatio“, „verosimiglianza“, „repraesentare“), die allerdings auch das Prinzip der bildenden Künste ist, und der besonderen Behandlung der Sprache. Entsprechend den aristotelischen Gesichtspunkten der Wirk-, Zweck-, Material- und Formalursache ist die Wirklichkeit der Stoff (materia) der Dichtung, ihre formale Ursache sind die Wörter (vgl. J. C. Scaliger 1561 ⫽ 1964, I 2, 6A1), oder aber ⫺ so der Aristoteles-Kommentator Filippo Sassetti in einer Manuskript gebliebenen Schrift (vgl. Weinberg 1961 ⫽ 1974, 48⫺50) ⫺ der Vers wird als materiale und die Nachahmung als formale Ursache aufgefaßt. Als nachahmende Kunst ist
die Dichtung an Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit dem Gegenstand gebunden (Scaliger 1561 ⫽ 1964, I 1, 2B1). Die poetische Sprache entsteht aus der Materie der Rede, die in nichts anderem besteht als dem Schriftzeichen oder Buchstaben, der Silbe und dem Vortrag, der Diktion („Orationis autem materia quid aliud sit quam litera, syllaba et dictio?“; II 1, 55D1). Die poetische Diktion beruht auf dem Schmuck der Wörter, der seine Prägung (Charakter) durch rhetorische Figuren und den Numerus, die Zahl der Zeitwerte, d. h. der Aussprachedauer einer kurzen Silbe als metrischer Einheit, erhält („Verba vero duplicem consequuntur ornatum: unum ex figuris, alterum a numeris, quorum ex utroque character constituitur“; IV 1, 174A1; vgl. Lausberg 1960, Artikel „Rhetorik“, „Stil“). Der Reiz der Rede ⫺ so der Humanist Antonio Minturno (De poeta, 1559, 102; vgl. Perpeet 1987) ⫺ liegt in dem, was mit Feinheit, angemessen und schmuckreich („eleganter et apte et ornate“) gesagt wird. Für den Humanisten, Schriftsteller und Literaturtheoretiker Lelio Gregorio Giraldi (Historiae poetarum, 1545, 86; vgl. Perpeet 1987) ist der Dichter ein Mensch, der über große Dinge angemessen und in „gebundener Rede“ („per carmen“) spricht. Als eine von Philosophie und Wissenschaft zu unterscheidende Fertigkeit hat Dichtung den Zweck, den Leser oder Hörer zu erfreuen („delectare“) und ihn zu erschüttern („movere“), um ihn zu belehren („docere“), d. h. um ihm moralische Handlungen erstrebenswert für sein eigenes Verhalten erscheinen zu lassen, „zum Nutzen [beneficio] eines wohlgeordneten Gemeinwesens [ordinata republica]“ (Giasone Denores, Philosoph und Schriftsteller, Poetica, 1588, 2; vgl. Perpeet 1987; siehe Abb. 63.1). Die an Horaz (vgl. Ars poetica 361) anknüpfende Forderung „ut pictura poesis“ („wie ein Bild sei das Gedicht“) wird ebenso in den Vordergrund gerückt wie die Absicht der Dichter zu belustigen oder zu unterrichten („aut prodesse volunt aut delectare poetae“) oder beides zu verbinden und unter einer angenehmen Hülle uns Dinge zu sagen, die im Leben brauchbar sind (vgl. Horaz, Ars poetica 333 f). „Omnis enim oratio eiÓdow, ennoia, mi¬mhsiw quemadmodum et pictura: id quod et ab Aristotele et a Platone declaratum est“ (J. C. Scaliger 1561 ⫽ 1617, 401). Die im Dekorum vorgeschriebene Einheit von „res“ und „verba“ muß den Regeln und Konventionen der einzelnen Gattungen und den Kriterien der drei Stile genügen (vgl. Weinberg
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
1235
Abb. 63.1: Semiotische Dimensionen der Renaissance-Poetik. Von den Bildenden Künsten unterscheidet sich die Dichtkunst dadurch, daß sie sich wie auch die übrigen artes rationales der Sprache bedient; innerhalb der artes rationales hingegen zeichnet sie sich durch ihre besondere Beziehung zu eben diesem Mittel aus. Mit den Bildenden Künsten teilt sie das Verfahren der Nachahmung. Syntaktische und semantische Aspekte poetischer Zeichen werden mit Hilfe der aristotelischen Begrifflichkeit von Material- und Formalursache gefaßt. Aber die beiden Ursachetypen lassen sich keineswegs eindeutig diesen semiotischen Dimensionen zuordnen. Zu erfreuen, zu bewegen und zu belehren werden als anzustrebende pragmatische Effekte der Dichtung angesehen.
1961 ⫽ 1974, 800⫺802, 805⫺808). Wenn der Dichter mit der Schönheit („vaghezza“) der Wörter, dem Wohllaut („dolcezza“) der Reime und der Vielfalt („varieta`“) und Buntheit („floridezza“) der Figuren die geglückte Darstellung der Charaktere, der Gesten und der Handlung verbindet, dann fesselt er den Leser, reißt ihn hin, wir sind dem Alltag und der Gewohnheit, ja gleichsam uns selbst entfremdet („alienati a noi“) und bezaubert von ihrer Schönheit („leggiadria“), sagt der italienische Literaturtheoretiker Benedetto Grasso (De Oratione, 1566, 7; vgl. Perpeet 1987) über die Wirkung der Dichtung. ⫺ Schönheit („venustas“, „pulchritudo“), mit dem Schmuck der Rede („ornatus orationis“) in Verbindung gebracht, bleibt dem Dekorum untergeordnet: „multum opportet esse attentum poetam ad decorum“ (Scaliger 1561 ⫽ 1964, III 16, 99A1). Mit dem Dekorum als Strukturprinzip der Dichtung, das darüber entscheidet, welche Gegenstände es wert sind, den Stoff der Dichtung abzugeben, und das die sprachliche Form bestimmt, ist eine Wertsetzung gegeben, der gemäß Dichtung nicht als ästhetisches Phänomen aufgefaßt wird, sondern als Führerin des Lebens, in welcher Funktion sie
gegen die Vorbehalte verteidigt werden kann, die Platon der Kunst gegenüber geltend gemacht hatte (vgl. Weinberg 1961 ⫽ 1974, 797⫺800). ⫺ Die Forderungen der klassischen Dichtungstheorie an den sprachlichen Ausdruck gehören zu den zentralen Fragen, die den Streit unter anderem über die Divina comedia des Alighieri Dante (1265⫺1321) oder die Dichtung von Torquato Tasso (1544⫺1595) auslösen (Weinberg 1961 ⫽ 1974, 819⫺1112) und dann in der „Querelle des anciens et des modernes“ (vgl. § 3.1.) ausgetragen werden, wie auch in der deutschen Literaturkritik (vgl. Borinski 1886; siehe § 3.3.). 2.2. Die Darstellung des Sichtbaren im Zeichen der Kunstschönheit: Disegno Die Ausbildung des ästhetisch akzentuierten Kunstbegriffs geht mit einem veränderten Selbstverständnis der Renaissance-Künstler einher. Soziologische Voraussetzungen wie die Marktlage der bildenden Künste und die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft (vgl. Warnke 1985, 52 ff) waren dafür ebenso maßgebend wie die neue, aus der Philosophie übernommene ontologische Auffassung des
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Kunstwerks als vollkommene sinnliche Erscheinung (vgl. Perpeet 1987, 252 ff). Damit entsteht das Problem der künstlerischen Bezeichnung des Schönen und der Umschreibung der Kunstschönheit. Die Künstlertraktate der Renaissance unterscheiden sich von der auch im Mittelalter nicht fehlenden Kunstliteratur (vgl. Schlosser 1924 ⫽ 1985, 7⫺67) dadurch, daß nicht mehr gefragt wird, wie etwas gemacht wird, sondern danach, was ein Künstler können und wissen muß, um in seinem Werk Schönheit zur Anschauung zu bringen. Künstler wie Leon Battista Alberti (1404⫺1472), Lorenzo Ghiberti (1378⫺1455), Leonardo da Vinci (1452⫺ 1519), Raffael Santi (1471⫺1528), Michelangelo Buonarroti (1475⫺1564), Lodovico Dolce (1508⫺1568) oder Andrea Palladio (1508⫺1580) (Quellenschriften, meist als Nachdruck verfügbar, verzeichnet bei Perpeet 1987, 400 ff) argumentieren sowohl praxisund werkbezogen als auch philosophisch (vgl. Venturi 1945 ⫽ 1972, 89 ff). Schönheit wurde in der Antike mit dem Nützlichen, wie auch mit dem Guten und Wahren verbunden (vgl. Grassi 1962 ⫽ 1980, 108⫺140, 50 ff, 81⫺92). Dasselbe gilt für das Mittelalter, das Schönheit überdies vorrangig als metaphysisches Attribut Gottes und seiner Schöpfung begriffen hat (vgl. Assunto 1963 ⫽ 1982). Die auf Platon und Plotin zurückgehende Idee der Schönheit wird nun zum philosophischen Leitbegriff der Kunstpraxis (vgl. Panofsky 1924 ⫽ 1989) und gibt den Orientierungspunkt ab für das begriffliche Instrumentarium (Übersicht bei Tatarkiewicz 1974 ⫽ 1987, 3, 296⫺300), mit dem die Künstler ihre Arbeit kommentieren. Sie sehen ihre Aufgabe in der Produktion der Schönheit, um die verborgene Schönheit der Dinge sichtbar zu machen. Die ⫺ mit N. Goodman (1973, 62 ff) gesagt ⫺ Exemplifikation einer fiktiven, durch Kunst erzeugten Welt ist konzentriert auf die Bestimmungen der Nachahmung („imitatio“) und der Auswahl („electio“) (vgl. Perpeet 1987, 136⫺247 und 369⫺392). Kunstschönheit („bellezza“, „venustas“, „vaghezza“, „leggiadria“) ist ein Resultat des Disegno. Der Künstler ⫺ so der Bildhauer und Kunsttheoretiker Vincenzo Danti (Trattato delle perfette proporzioni, 1567, I 11; vgl. Perpeet 1987) ⫺ weiß um die von der Natur beabsichtigte vollkommene Form der Dinge („perfetta forma intenzionale“) und realisiert sie in seinem Werk („mettere in figura“). Nach L. B. Alberti, einem Wortführer der Kunstästhetik in der Renaissance, kommt es
darauf an, Gegenstände gemäß einer „bella invenzione“, entsprechend der „idea di bellezza“ des Künstlers zu bilden (Alberti 1877 ⫽ 1970, 151 f), der hier allein seinem „ingenium“ folgt (136). Die Bestimmung des Disegno, der Zeichnung schließt die Bedeutung von „conceptus“ und von „designatio“ ein. „Designatio“ wurde synonym mit „signum“, „forma“, „descriptio“ gebraucht, umfaßt semantisch Bezeichnung, Anordnung, Begrenzung und wird auch im Sinne von Riß, Plan, Absicht verwendet. Der Kunsttheoretiker und Maler Lodovico Dolce nennt Disegno jene Form, die der Künstler den Dingen verleiht (vgl. Tatarkiewicz 1974 ⫽ 1987, 3, 221 f, 236 ff). Giorgio Vasari, Historiker und Künstler, faßt Architektur, Malerei und Bildhauerei als „arti di disegno“ zusammen: „E perche` il disegno e` padre di ognuna di queste arti ed essendo il dipingere e disignare piu` nostro che loro“. Vasari begreift den Disegno als den äußeren Ausdruck und die zur Anschauung („dichiarazzione“) gebrachte ästhetische Bezeichnung des Konzepts („concetto“) der Schönheit, das ein Künstler in seinem Geist ausgedacht und in Gedanken schon ausgebildet hat (Le opere, ed. Milanesi, 1878, I 168 f; vgl. Panofsky 1924 ⫽ 1989, 33 ff). Dank seiner Kenntnis der Natur und ihrer Maße gelingt es dem Künstler, die Idee eines Naturgegenstandes hervorzubringen und sie zu bezeichnen. Der Theorie-PraxisBezug zeichnet den Begriff des Disegno gegenüber anderen Begriffen wie Idea, Invenzione, Imitatione, Bellezza aus (vgl. Abb. 63.2). Die Geschichte des Begriffs zeigt, daß einmal der Aspekt der Form als Ausdruck eines im Geiste Vorgegebenen im Vordergrund steht und ein andermal das Lineare, Kunsthafte, d. h. der Aspekt der Praxis des Disegno betont wird (vgl. Kemp 1974). Als ⫺ so Alberti (Zehn Bücher über Baukunst, I 1) ⫺ ein im Geist konzipierter, mittels Linien und Formen ausgeführter Riß, kann er als „Prozeß der Entmaterialisierung“ verstanden werden, „die Idee des Disegno zeigt die zunehmende Scheinhaftigkeit der ins Kunstwerk eindringenden Wirklichkeit“ an (vgl. Müller 1972, 58 ff). Der Disegno, verstanden als Verfahren der Welterzeugung durch Malerei, setzt voraus, daß der Künstler die Form der Dinge nicht nach Art der Mathematiker mit dem Verstande mißt, sondern mit dem Auge schaut. Für den Maler kommt es einzig darauf an, nachzubilden, was er sieht („sola studia il pictore fingiere, quello si vede“). Der Prozeß der
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
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Abb. 63.2: Welterzeugung durch Kunst. Der Künstler weiß um die von der Natur beabsichtigte vollkommene Form der Dinge und symbolisiert diese Vollkommenheit im Kunstwerk, indem er diesem einen „disegno“ verleiht, welcher die schöne Erfindung („concetto, bella invenzione“) designiert, die er in seinem Geiste ausgebildet hat.
malerischen Nachbildung der Wirklichkeit beginnt beim Punkt. Der Punkt ist ein Zeichen, das nicht weiter in Teile geteilt werden kann. Ein Zeichen ist das, was immer dergestalt auf einer Fläche sich befindet, daß es von dem Auge wahrgenommen werden kann: „Segnio qui apello, qualunque cosa stia alla superficie per modo che l’occhio possa vederla“ (Alberti 1877 ⫽ 1970, 51). Miteinander verbunden, wachsen Punkte zur Linie an. Die Linie ist ein Zeichen, das in der Weise eingesetzt wird, daß eine Fläche entsteht und auf der Fläche geometrische Figuren ⫺ Kreis, Dreieck, rechte Winkel usw. ⫺ erscheinen. Aus diesen Elementen wird unter Beachtung der Sehpyramide Wirklichkeit in einer bestimmten Distanz zum Betrachter bezeichnet, zur Darstellung gebracht, ins Bild gesetzt. Malerisch bezeichnet wird der Raum nicht allein durch Linien, durch die der Umriß (Contour) erzeugt wird. Hinzu kommen Komposition und Farbe. Die verschiedenen Ebenen des Bildes (vgl. Panofsky 1957 ⫽ 1975, 36 ff) bezeichnen ein Symbolfeld (vgl. Bühler 1934 ⫽ 1978, 179 ff). Für die malerische Bezeichnung gelten Kriterien wie „copia“ und „varietas“, „proportio“ und „prospectiva“, die prinzipiell erfüllt sein müssen, damit ein Bild, aber auch eine Statue oder ein
Bauwerk als Kunstwerke, als ästhetische Zeichen, als Objekte also, angesprochen werden können, denen Schönheit zukommt, und die aus diesem Grunde das Auge des Betrachters erfreuen (vgl. Perpeet 1987, 374 ff). Die Würde der Malerei liegt in der Steigerung der Schönheit der Dinge. Malerei ist nichts anderes, als künstlerisch („con arte“) ein Ebenbild („simile“) zu umfassen, festzuhalten, zu bezeichnen („dipigniere“) ⫺ wie Narziß bei Ovid (Metamorphosen III 407⫺427) das seine aus dem Spiegel der Quelle erblickt (vgl. Alberti 1877 ⫽ 1970, 91 f). Cesare Ripa, Begründer einer Ikonologie, die ausschließlich für Begriffe Zeichen erfindet, stellt in der dritten, 1603 erschienenen Auflage seiner Iconologia (11593), die annähernd vierhundert Begriffe behandelt, von denen einige für die Ästhetik relevant sind (Schönheit, Anmut, Symmetrie u. a., vgl. Tatarkiewicz 1974 ⫽ 1987, 3, 246 ff), den Disegno als Mann dar, der in der einen Hand einen Zirkel und in der anderen einen Spiegel hält (vgl. Abb. 63.3). Die bezeichnende und deutende Kraft der Kunstschönheit, wie sie unter den „arti di disegno“ der Malerei insbesondere zugesprochen wird, gibt im Paragone, dem Wettstreit zwischen den bildenden Künsten und den Wortkünsten des 17. Jahrhunderts (vgl. Per-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 63.3: Ikonologische Darstellung des Disegno. In der Iconologia (31603) des Cesare Ripa findet sich diese allegorische Darstellung des Disegno als Mann mit Zirkel (Maß/Umriß) und Spiegel, der auf die Welt gerichtet ist (Mimesis). Die erste Auflage der Iconologia war bereits 1593 erschienen.
peet 1987, 210 ff), dem im 16. Jahrhundert ein Streit um den Vorrang unter den bildenden Künsten vorhergegangen war, den Maßstab ab. Die Künste des Sehens, des hinweisenden Zeigens, werden den Wortkünsten, den sagenden und schreibenden Künsten, entgegengesetzt und die unterschiedlichen Darstellungsmittel der bildenden Künste, insbesondere die der Malerei und der Dichtung in ihrer semiotischen Eigenart geltend gemacht. Die Rhetorik als Praxis der mündlichen Rede und die Poetik als Lehre von der Dichtung und der gebundenen Sprache behaupten bzw. verteidigen die Kraft des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Der Humanist Lorenzo Valla (vgl. Elegantiae linguae latinae, 1448; siehe Perpeet 1987) beispielsweise bestreitet, daß Bildhauer und Maler es mit der Sprache aufnehmen können. Die Menschen sind auf Verständigung angewiesen, dazu wird die Sprache gebraucht. Die Priorität des Wortes behauptet zudem einen Vorzug der inneren Vorstellungswelt gegenüber der Erscheinungswelt. Der Wettstreit der bildenden Künste und der Wortkünste gipfelt gleichwohl in einem Lob des Auges. Das Kriterium
des Vorrangs der bildenden vor den Sprachkünsten wird in die Bezeichnungskraft der visuellen Künste als der ersten Bedingung des kunstschöpferischen Sehens („virtu visiva“) gelegt, das vom bloß wahrnehmenden und auch vom anschauenden Sehen unterschieden werden muß, weil es die Charaktere der Erscheinungen herausarbeitet und bezeichnet (vgl. Perpeet 1987, 226⫺241). Die sprachlichen Mittel erlauben nur eine hinweisende Schilderung der Merkmale bzw. der Kennzeichen (sxh˜ mata) der Erscheinungswelt. Der Dichter kann die unzähligen kunstreichen Formen, die die Natur geschaffen hat, lediglich beschreiben, der Maler präsentiert sie dem Auge unmittelbar (Leonardo da Vinci 1952, 916). Der Maler sieht die Erscheinungen zum Beispiel von Wasser oder Wolken, indem er Bewegungen erfaßt und sie derart bezeichnet, daß der Betrachter sie nachvollziehen kann (Leonardo da Vinci 1952, 875 f, 497⫺500). Das hör- und lesbare Wort verhält sich zur bildenden Kunst wie der Schatten zum schattenwerfenden Körper, d. h. wie das Vorstellbare und Eingebildete zur sichtbar gegenwärtigen Erscheinung. Die Dichtung
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
legt ihre Gegenstände in die Imagination der Schriftzeichen („lettere“), die Malerei bringt die ihren „realmente“ vor Augen. Das Auge empfängt die Ähnlichkeiten („similitudini“) nicht anders, als wenn sie von der natürlichen Welt herrührten (Leonardo da Vinci 1882/ 1970, 1, I, 2, 4 ff). Der Vorrang der Malerei gegenüber der Dichtung, der auf der Kraft der bildenden Kunst beruht, die Wirklichkeit in ihrem Reichtum und ihrer Mannigfaltigkeit darzustellen und sie in der Schönheit ihrer Werke zu deuten, wird mit anderen Worten auf die Verbindung von indexikalischer und symbolischer Funktion zurückgeführt. Das Kunstschöne deutet die Wirklichkeit als Erscheinung und hat in dieser Hinsicht eine indexikalische Funktion. Aus der Deutung der Erscheinungen bezieht es seine Evidenz und hat in dieser Hinsicht eine symbolische Funktion (Perpeet 1987, 208 ff). Damit ist der moderne Standpunkt vorweggenommen, daß ⫺ so Konrad Fiedler in einem „Bruchstück“ über „Wirklichkeit und Kunst“ (Schriften zur Kunst, 1913/14, ed. Gottfried Boehm, 1971, II 158) ⫺ der sprachliche Ausdruck nicht ausreicht, „um alles zu bezeichnen […], was dem menschlichen Geist überhaupt von der Welt bekannt werden“ könnte.
3.
Zeichenkonzeptionen in der Literatur- und Kunstkritik des 17. und 18. Jahrhunderts
Die Literatur- und Kunstkritik des 17. und 18. Jahrhunderts, wie sie in Frankreich (§ 3.1.), England (§ 3.2.) und Deutschland (§ 3.3.) entstanden ist, impliziert zeichentheoretische Ansätze, die in unterschiedlich akzentuierte Problemstellungen eingebunden sind. Leitend ist die Diskussion der Darstellungsprobleme, die sich für die einzelnen Künste aus dem Grundsatz der Nachahmung und der Bindung an das Schöne ergeben. Thematisiert wird unter anderem das Vergnügen („plaisir“, „pleasure“) oder die Lust als erwünschte Wirkung der Künste sowie ⫺ als Instanz des ästhetischen Urteils ⫺ der gebildete Geschmack („bon gouˆt“, „fine taste“), über den der Produzent von Kunst, das Genie (vgl. Ritter 1974, Sp. 279⫺309), und der Rezipient verfügen muß. Das methodische Gewicht semiotischer Ansätze erweist sich in den Bezügen zu diesen Fragen. Die zeichentheoretischen Implikationen sind dabei durch Vorgaben geprägt, die mit den Entstehungsbedingungen der modernen Literatur- und
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Kunstkritik und ihrer Einbindung in das europäische Kunstleben (vgl. Dresdner 1915 ⫽ 1968, 149⫺234) sowie in soziale, historische und ideengeschichtliche Zusammenhänge wie den Cartesischen Rationalismus (vgl. Krantz 1882), den Empirismus (J. Locke, D. Hume) und die Leibnizsche Metaphysik verknüpft sind (vgl. Wellek 1959, 21 ff). 3.1. Die französische Schönheitsphilosophie In Frankreich verbindet sich die Kritik mit den Dichtungs- und Kunsttheorien, deren Wertsetzungen normativen Rang gewinnen (vgl. Knabe 1972, 141⫺155). Die Betonung der „de´licatesse“ als Kriterium der poetischen Sprache und des „sentiment“ als einer spezifischen Empfindlichkeit für ästhetische Gegenstände, die die Entstehung der neueren Ästhetik vorbereitet (vgl. Baeumler 1923 ⫽ 1967, 18⫺60), bestimmt die im Kontext der „Querelle des anciens et des modernes“, also im Zusammenhang des Streites „über die Vorbildlichkeit der Antike und die Fortschrittlichkeit der mündig gewordenen Moderne“ (Jauß 1964, 9), geführte Erörterung über die Charaktere des Schönen (vgl. Art. 82 § 1.1.). Der Streit darüber, ob Schönheit subjektiv und relativ sei oder aber objektiv, allgemeingültig und rational faßbar, wie es die, vom Cartesischen Rationalismus geprägte, Auffassung der klassischen Theoretiker der Dichtung (Jean Chapelain, N. Boileau-Despre´aux) und der Kunsttheoretiker (N. Poussin, G. Bellori) war, verschafft der neuen subjektivistischen Deutung der Kunst gegenüber der nach wie vor verteidigten klassischen objektivistischen Konzeption (vgl. Bray 1927 ⫽ 1961) mehr und mehr Geltung (vgl. Tatarkiewicz 1974 ⫽ 1987, 3, 421⫺431). Der Phantasie und Erfindungskraft des Künstlers wird mehr Raum gegeben und darin ein Fortschritt der Kunst gesehen, mit dem Ergebnis, daß die antike Kunst in eine historische Distanz gerückt wird (Jauß 1964, 60 ff). In diesem Zusammenhang werden Charaktere des Schönen (Ch. Perrault, P. Andre´, J. Crousaz, D. Bouhours) erörtert (§ 3.1.1.), wobei zwischen natürlichen und arbiträren Zeichen unterschieden wird. Diese Unterscheidung ist leitend für den Vergleich der Künste unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung. Dieser Vergleich wird im Kontext der Bindung der Künste an das Nachahmungsprinzip thematisiert, das die Ikonizität der künstlerischen Zeichenwelten zur Folge hat (J. B. Dubos, Ch. Batteux, D. Diderot) (siehe § 3.1.2.⫺ 3.1.3.).
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
3.1.1. Die Charaktere des Schönen Der Fortschritt der Kunst, der gleichbedeutend mit einer fortschreitenden Verwirklichung des Schönen, d. h. des Grades der erreichten Vollkommenheit in der Geschichte der Kunst ist (Perrault 1688 ⫽ 1964, III 154), wird im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen einem „beau absolu“ und einem „beau relatif“ behandelt (vgl. Jauß 1964, 47 ff). Die Arten der Bezeichnung (modi significandi) oder Charaktere des Schönen ergeben sich aus der Forderung nach einer künstlerischen Realisierung oder Bezeichnung der Schönheit in den einzelnen Künsten, insbesondere der Architektur, Musik, Malerei und Dichtung. Für den Maler beispielsweise besteht die schwierige künstlerische Aufgabe nicht darin, die Dinge gut, d. h. täuschend genau darzustellen, so daß man glaubt, sie leibhaftig vor Augen zu sehen, sondern schöne Gegenstände, die Dinge in ihrer ursprünglichen Schönheit, ins Bild zu setzen („La plus grande difficulte´ ne consiste pas a` bien repre´senter des objets, mais a` repre´senter de beaux objets“; Perrault 1688 ⫽ 1964, III 214). Das „beau absolu“ beruht auf dem Gedanken einer rationalen, auf die Vernunft und das Wahre bezogenen und in diesem Sinne objektiven Schönheit, deren Kennzeichen („caracte`res re´els et naturels du beau“) durch Mannigfaltigkeit („variete´“), Einheit („uniformite´“), Proportion und Ordnung bestimmt sind. Das „beau absolu“ ⫺ zu dem beispielsweise der Schmuck (ornatus) der poetischen Rede gehört ⫺ bleibt prinzipiell unvergleichbar (Perrault 1688 ⫽ 1964, III 11⫺13). Ein „beau relatif“ ist vom Zufall und von der Gewöhnung abhängig. Es gibt in der Baukunst Arten der Schönheit, die immer gelten, bei allen Völkern und zu allen Zeiten, bei den „Anciens“ wie bei den „Modernes“, es sind natürliche, ein für allemal gegebene Schönheiten, die zu allen Zeiten und an allen Orten und unabhängig von der Behandlung, vom Herkommen und der Mode gefallen („des beaute´s naturelles et positives qui plaisent toujours, et inde´pendamment de l’usage et de la mode“). Dem stehen Schönheiten gegenüber, die Vergnügen bereiten, weil die Augen sich daran gewöhnt haben („qui plaisent parceque les yeux s’y accoustumez“). Die Verschiedenheit der Proportionen in der Architektur zeigt, daß ihre Schönheit geschichtlich, nämlich in der Konvention der Menschen begründet, somit der Mode unterworfen ist (Perrault 1688 ⫽ 1964, I 138 ff). Das zeitlos Schöne („beau absolu“) kann weder für den Künstler noch für den Kritiker
allein maßgebend sein. Der Rezipient ist vielmehr auf eine von der Vorstellung des Schönen („ide´e du beau“) geleitete ästhetische Sensibilität angewiesen, die „Geschmack“ („bon gouˆt“) genannt wird (Perrault 1688 ⫽ 1964, I 38 f, 182 f, II 47⫺49). Darunter wird die Fähigkeit („disposition naturelle“), das geistige Vergnügen am Schönen zu erfahren, verstanden, zu dem prinzipiell alle Menschen fähig sind (Crousaz 1715, 52 f, 68 f); es ist mit angenehmen Gefühlen oder Vorstellungen („sentiments agre´ables“) verbunden, die in dem Urteil „das ist schön“ zum Ausdruck gebracht werden: „[…] cela est beau c’est dire, j’apperc¸ois quelque chose que j’approuve, ou quelque chose qui me fait plaisir“ (Crousaz 1715, 7). Jede Sprache („langue“) hat die ihr eigene Schönheit. Die Beredsamkeit setzt sie ein, um die Leidenschaften („passions“) der Menschen zu erwecken. An Bauten und vor allem an der Musik bewundern wir komplizierte Kombinationen, die durch die Charaktere des Schönen bezeichnet sind. Sie üben die „Herrschaft der Schönheit“ über unsere Gefühle („l’Empire de la beaute´ sur nos sentiments“) aus, die auf einem Beziehungsgeflecht der Ähnlichkeit („rapport de ressemblance“) zwischen dem Gegenstand und seiner künstlerischen Realisierung beruht (Perrault 1688 ⫽ 1964, 45). Das Kriterium der Ähnlichkeit entscheidet über die Qualität des Kunstwerks. Künstler und Kritiker müssen es beachten, um eine wahre von einer falschen Darstellung unterscheiden zu können. Auf dem Gebiet der schönen Literatur, der geistreichen Werke („ouvrages d’esprit“, „belles lettres“) hat in diesem Zusammenhang D. Bouhours den modernen (d. h.: nicht-antiken) Standpunkt geltend gemacht und das Kriterium der Wahrscheinlichkeit („vraisemblance“) einer künstlerischen Darstellung der alten (klassischen) Maxime entgegengehalten, daß allein das Wahre schön und liebenswert sei: „Rien n’est beau que le vrai. Le vrai seul est aimable“ (N. Boileau-Despre´aux, Epistres X, 11⫺12; vgl. Boileau 1966, 141). Die sogenannte „Logik ohne Dornen“ („logique sans e´pines“) soll dazu dienen, die Diktion eines literarischen oder poetischen Textes von der eines wissenschaftlichen zu unterscheiden. Die Logik ohne Dornen betont den Abbildcharakter des Denkens wie auch der Sprache: „Les pense´es […] sont les images des choses, comme les paroles sont les images des pense´es“ („Die Gedanken sind die Bilder der Dinge, wie die Worte die Bilder der Gedanken sind“). Denken heißt so, in sich das Bild von Dingen zu formen, die geistig oder aber
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
anschaulich, empfindbar, sinnlich wahrnehmbar sind („[…] former en soi la peinture d’un objet ou spirituel ou sensible“; Bouhours 1687 ⫽ 1756, 11). Lebendigkeit und Brillanz sind die verlangten Kennzeichen der poetischen Rede, sie soll frei von Trockenheit und Abstraktion sein („ni seche, ni abstrait“). Die poetische Schreibart ist dabei auf die Verwendung rhetorischer Figuren angewiesen. Die Erdichtung („fiction“), das Mehrdeutige („l’e´quivoque“) und die Übertreibung („l’hyperbole“) machen das Geistreiche im poetischen Denken und Schreiben aus. Die Welt der Poeten („monde des Poe`tes“) hat ihre eigene Wahrheit. Sie stellt einen Zusammenhang eigener, erdichteter Ordnung und Verknüpfung, ein „syste`me fabuleux“ dar, wobei der Künstler einer ontologischen Vorgabe, dem Wesen der Dinge („essence des choses“) verpflichtet bleibt. 3.1.2. Die Ikonizität der künstlerischen Zeichenwelten Die strukturelle Ähnlichkeit der Kunstwerke mit der Welt, in der wir leben, d. h. die Ikonizität der künstlerischen Zeichenwelten, ist vorausgesetzt, wenn Jean Baptiste Du Bos ⫺ seine Re´flexions sur la poesie et la peinture, im Jahre 1719 anonym erschienen, erlebten bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mindestens 16 Neuauflagen im Original und in Übersetzungen ⫺ den fiktiven Charakter der Kunst betont und in dieser Hinsicht die semantische, syntaktische und pragmatische Dimension der Kunst aufeinander bezieht. Die Kunst erweckt durch Nachahmung wirklicher Begebenheiten im Rezipienten tatsächliche Leidenschaften. Die Quelle des Vergnügens liegt aber nicht in der Illusion, sondern beruht auf der Fiktion: „L’imitation la plus parfaite n’a qu’un eˆtre artificiel“ (Du Bos 1719 ⫽ 1770, I, III 27 f). Die Frage nach den Bedingungen der Erzeugung solcher Kunstwelten bringt die Eigenart der Zeichen, ihre Bedeutung und Anordnung in den Blick, die eine Kunstwelt in der Dichtung und in der Malerei konstituieren. Der Malerei wird, wie schon im Paragone der Renaissance, eine größere Kraft als der Poesie zugesprochen: „la peinture n’employe pas des signes artificiels, ainsi que le fait la Poe¨sie, mais bien des signes naturels“ (Du Bos 1770, I, XL 413). ⫺ Charles Batteux geht von der Ikonizität der Kunst aus, indem er die schönen Künste („beaux arts“) auf ein- und dasselbe Prinzip der Nachahmung der Natur, d. h. „alles dessen, was ist, oder was wir uns leicht als möglich vorstellen können“ zurückführt (Batteux
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1746 ⫽ 1976, I 2, 26). Die künstlerischen Verfahren beschreibt Batteux, der damit den entscheidenden Schritt zum System der Künste getan hat (Kristeller 1951⫺52 ⫽ 1975, 188 f), im Hinblick auf das Vergnügen („plaisir“), das sie uns bereiten und das für ihn ihre Autonomie begründet. Das Vergnügen unterscheidet Musik, Malerei, Bildhauerkunst und Tanzkunst vom Handwerk und von den Künsten des Bedürfnisses, denen Batteux auch die Architektur, ihrer Nützlichkeit wegen, zuordnet. Das Vergnügen beruht darauf, daß die künstlerischen Zeichenwelten Nachbilder der „schönen Natur“ („belle nature“, vgl. Batteux 1746 ⫽ 1753 ⫽ 1976, II 4) darstellen. Nachahmen heißt ein Muster nachbilden: „Imiter, c’est copier un mode`le.“ Dieser Begriff impliziert den des Vorbildes („prototype“), dessen Züge nachgeahmt werden sollen, und den des Nachbildes („copie“), welches diese Züge vorstellt. Die Forderung einer Darstellung des schönen Wahren („beau vrai“), wozu Genie gefordert wird, ergibt sich aus der Anwendung des Grundsatzes der Nachahmung auf die verschiedenen Künste: „Le Ge´nie n’a pu produire les Arts que par l’imitation: ce que c’est qu’imiter“ (Batteux 1746 ⫽ 1976, I 2; vgl. Abb. 63.4). Die Malerei bezeichnet die schöne Natur durch Farben, die Bildhauerkunst durch erhabene Figuren („par les reliefs“), der Tanz durch Bewegungen und die Stellungen des Körpers, die Musik durch Töne („par les sons inarticule´s“), die Poesie durch abgemessene Werke („par la parole mesure´e“). Poesie und Malerei haben eine so große Gleichförmigkeit („conformite´“) miteinander, daß man „für Poesie, Fabel, Versbau, nur Malerei, Zeichnung (desseign), Colorit“ zu setzen brauche (Batteux 1746 ⫽ 1976, III 2). Musik und Tanzkunst können verglichen werden in Bezug auf die Rede, den Ton der Stimme, die Gebärde oder den Gestus: „Gestus est conformatio quaedam et figura totius oris et corporis“ (Batteux 1746 ⫽ 1976, III 1, vgl. Cicero, In Orat. I 25). Während die Sprache dazu dient, daß Menschen „einander ihre Gedanken deutlicher mitteilen können“, sind die Gebärden und Töne „gleichsam das Wörterbuch der einfältigen Natur“, deren Sprache allen Menschen seit ihrer Geburt geläufig ist („[…] la Parole est un langage d’institution, que les hommes ont fait pour se communiquer plus distinctement leurs ide´es: les Gestes et les Tons sont comme le Dictionnaire de la simple Nature; ils contiennent une langue que nous savons tous en naissant […]“; Batteux 1746 ⫽ 1976, III 3, 1).
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Abb. 63.4: Der ästhetische Zeichenprozeß nach Batteux. Das mimetische Verfahren der Schönen Künste beschreibt Batteux im Hinblick auf das Vergnügen, das sie dem Rezipienten bereiten. Durch dieses unterscheiden sie sich von den Künsten des Bedürfnisses und den Handwerken. Ihrem Charakter nach sind die Schönen Künste ikonisch; sie beruhen auf der idealisierenden Nachahmung eines Musters.
Durch Kunst, verstanden als „Sammlung von Regeln, wie man etwas […] gut machen solle“, durch Takt, Bewegung, Modulation und Harmonie erlangen die Ausdrucksmittel des Menschen Vollkommenheit („perfection“), es entstehen Versifikation, Musik und Tanz (III 3). Der Ausdruck („expression“) wird von der Kunst nicht geschaffen, wohl aber geordnet und verstärkt: „L’Art ne cre´e les expressions, ni les de´truit: il les re`gle seulement, les fortifie, les polit.“ Batteux unterstreicht, man bediene sich „im Gespräch des Umgangs und in der Poesie“ derselben Worte, auch seien „die Züge und Farben an den natürlichen Gegenständen […] mit den Zügen und Farben in Schildereyen einerley und auch beim Ausdruck der Leidenschaften, sie mögen wirklich oder erdichtet sein, werden einerlei Töne und Gebärden gebraucht“: „Les mots sont les meˆmes dans la conversation et dans la Poe¨sie; les traits et les couleurs, dans les objets naturels et dans les tableaux; et par conse´quent, les tons et les gestes doivent eˆtre les meˆmes dans les passions, soit re´elles, soit fabuleuses“. Die Ausdrücke sind an sich weder natürlich noch künstlich: „les expressions, en ge´neral, […] ne sont que des signes“. Da sie auf Sinn („sens“) und Bedeutung („signification“) angelegt sind, kann sich die Kunst „aus dem Bezirke der Natur nicht herauswagen“ (Batteux 1746 ⫽ 1976,
III 3, 3). Die hier implizierte Auffassung des Kunstwerks als eines ikonischen Zeichens gibt das entscheidende Kriterium für seine Bewertung ab. Musik muß man ebenso beurteilen wie eine „Schilderey“, an der Züge und Farben zu erblicken sind, deren Sinn der Rezipient versteht, der ihm „schmeichelt“ („flatter“) und ihn „rührt“ („toucher“). „Was würde man wohl von einem Maler sagen, […] der einen Haufen Farben […] auf die Leinwand kleckste, ohne daß sie mit gewissen bekannten Gegenständen einige Ähnlichkeit hätten?“ („[…] qui se contenteroit de jetter sur la toile des traits hardis, […], sans aucune ressemblance avec quelque objet connu?“ Eine derartige Darstellung ist ohne Charakter, sie findet kein Muster („mode`le“) in der Natur, wie es für die Werke aller Künste gefordert wird (Batteux 1746 ⫽ 1753 ⫽ 1976, III 3, 3). Den, aufgrund des alle Künste miteinander verbindenden Grundsatzes der Nachahmung, von ihren Werken geforderten Charakter beschreibt Batteux im einzelnen im Hinblick auf die Musik. 3.1.3. Die Hieroglyphe in den Künsten Den Vergleich der Künste unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit bringt Denis Diderot in ein Modell der ästhetischen Produktion und Rezeption ein, das er sowohl Batteux als auch
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
der französischen Schönheitsphilosophie (P. Andre´, J. P. Crousaz) (siehe § 3.1.1.) sowie der Theorie der ästhetischen Wirkung, wie sie gleichzeitig in England (Shaftesbury, Hutcheson) (siehe § 3.2.1.) ausgebildet wird, entgegensetzt. Diderot handelt seinerseits „Sur l’origine et la nature du beau“ („Über den Ursprung und die Natur des Schönen“, 1751) und führt die Schönheit und das Wohlgefallen an ihr auf die Kenntnis und die Wahrnehmung der Beziehungen („rapports“) zurück, die fiktionale, als Geflecht von Beziehungen strukturierte Zeichensysteme begründen, wie sie die Werke der einzelnen Künste als solche ausweisen. Die Künste unterscheiden sich zwar durch ihre Darstellungsmittel voneinander, sind hinsichtlich ihrer Wirkung jedoch gleichrangig. Die bildenden Künste, deren Ausdrucksmittel natürliche Zeichen sind, wenden sich unmittelbar an die Sinne und somit an die visuelle Einbildungskraft. Die Dichtung, die sich im Material der Sprache als einem System arbiträrer Zeichen artikuliert, erreicht durch ihre poetische Valenz dieselbe Wirkung. Gegen das cartesianische Ideal einer vernunftsmäßigen Diktion auch in der Dichtung macht Diderot die Schöpfung originaler Metaphern geltend, die entlegene Bereiche miteinander verbinden, unvermutete Beziehungen aufdecken und die Wahrnehmung von Analogien ermöglichen, die über das Assoziative hinausgehen. Aufgrund ihrer Zeichenstruktur ist Dichtung sinnbildhaft, sie artikuliert sich, ebenso wie die Musik, durch Hieroglyphen, d. h. durch ein artifiziell verschlüsseltes Zeichensystem (vgl. Art. 73 § 4.), das ihren je eigenen Ausdruck bestimmt (Diderot 1875⫺77, I 387, vgl. Doolittle 1952, 148 ff). Jede Kunst hat ihre eigene Hieroglyphe, jedes Kunstwerk sein eigenes semantisches und syntaktisches Beziehungsgeflecht. Die Ähnlichkeit der Sinnbilder („emble`mes“), die die einzelnen Künste produzieren, macht Diderot in den Lettres sur les sourds et les muets (1751) geltend gegen Batteux’ Bestimmung einer „belle nature“. Es komme nicht darauf an, die Schönheit einer Kunst gegen die einer anderen abzuwägen, sondern darauf, die gemeinsamen Schönheiten, ihre Analogien zu zeigen und zu erklären, wie ein und dasselbe Bild („image“) vom Dichter, vom Maler und vom Musiker wiedergegeben wird, die flüchtigen Sinnbilder ihres Ausdrucks festzuhalten und nach Ähnlichkeiten zwischen ihnen zu suchen (Diderot 1875⫺77, I 384 f). Damit hängt auch das Laokoon-Problem der Abgrenzung der Dich-
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tung von der Malerei ⫺ „Ut poesis pictura non erit“ („Salons“ 1767, XI 71 f; II 56⫺62) ⫺ (siehe § 3.3.1.), d. h. die Frage zusammen, warum unserer Einbildungskraft Bilder gefallen, die dem Auge mißfallen. Zum Exempel nimmt Diderot einen Vers von Lukrez (De rerum natura I 810 f): „[…] und jegliches Leben/ schwänd uns völlig dahin, da Sehnen und Knochen sich lösten“ („[…] Vita quoque omnis/ Omnibus e nervis atque ossibus exsolvatur“; I 387). Weil der Maler nur über einen Augenblick verfügt, kann er den Tod nicht durch ebensoviele Zeichen wie der Dichter darstellen. Die malerische Darstellung zeigt die Sache selbst: Das „Exsolvatur“ des Lukrez ist in der ganzen Gestalt zu erkennen (vgl. Abb. 63.5). 3.2. Die pragmatische Dimension der Kunst: Geschmacksdiskussion in England Die englische Kunst- und Literaturkritik akzentuiert mit dem Geschmack („fine taste“), ausgehend von unterschiedlichen methodischen Ansätzen, eine spezifische Sensibilität für die Wirkung von Kunst (vgl. Klein 1967). Die Ausleuchtung der pragmatischen Dimension der Kunst steht im Zusammenhang einer gefühlsbetonten, ästhetischen Weltzuwendung und ist mit Abgrenzungsproblemen verbunden, die unter der Fragestellung einer Eigenständigkeit des Gefühls gegenüber dem Verstand erörtert werden (vgl. Franke 1981). Die besondere Bedeutung des Gefühls wird in einer psychologischen bzw. bewußtseinsphilosophischen Perspektive im Rahmen der englischen Moralphilosophie aufgedeckt, die im Anschluß an John Lockes Essay concerning Human Understanding (1690) moralische und ästhetische Tatsachen des Bewußtseins analysiert. Für Anthony Ashley Cooper, später Graf von Shaftesbury (1671⫺1713), der den Denkern der Cambridger Schule, insbesondere deren Naturanschauung nahesteht, ist das ästhetische Gefühl, der Sinn für Schönheit als ein Sinn für das natürlicherweise Anmutige, „a sense of what is naturally graceful“, eine allen Menschen zukommende, natürliche Empfänglichkeit für das Erhabene und das Schöne in Dingen („common and natural sense for the sublime and the beautiful in things“; Shaftesbury 1711 ⫽ 1964, I 89 f, vgl. I 216). Gemeint ist eine kontemplative, „uninteressierte“ Zuwendung zu den Dingen (vgl. Stolnitz 1961 b), die sich gleichermaßen auf ästhetische, geistige und moralische Sachverhalte wie auch auf
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Abb. 63.5: Das Exsolvatur des Lukrez in der Ausdrucksweise des Malers. Darüber ein Beispiel für die musikalische Realisation (vgl. Diderot, ed. Asse´zat und Tourneux 1875⫺77, I 385 f). Für Diderot kommt es nicht darauf an, die Schönheit einer Kunst gegen die einer anderen abzuwägen, sondern darauf, zu erklären, wie ein und dasselbe Bild („image“) vom Dichter, vom Maler und vom Musiker wiedergegeben wird.
Erfahrungen, die der Mensch mit der Natur und der Kunst macht, beziehen kann. Thematisiert werden auf diesem Hintergrund dann aber auch die Ästhetizität oder Polyvalenz (Schmidt 1971) als eine Bedingung der Wirkung von Kunst sowie Fragen der ästhetischen Kommunikation und der ästhetischen Wertsetzung. Unter diesen Gesichtspunkten werden die Künste miteinander verglichen (siehe §§ 3.2.1.⫺3.2.3.; zur Diskussion über ästhetischen Geschmack in Architektur und Kunst vgl. auch Art. 82 § 1.). 3.2.1. Polyvalenz als Bedingung der Wirkung von Kunst Francis Hutcheson (1694⫺1747), Professor der Moralphilosophie in Glasgow, sieht, be-
zogen auf die Kunst, im „sense of beauty“ einen inneren Sinn, der dazu befähigt, die als Einheit in der Mannigfaltigkeit begriffene Komplexität der Schönheit zu erfassen, mit der ein Kunstwerk Ideen darstellt oder bezeichnet: „The internal sense of beauty is a passive power to receiving ideas of beauty from all objects in which there is uniformity, amidst variety“ (Hutcheson 1725 ⫽ 1971, I 1, 10). Schönheit ist dabei nicht als eine Beschaffenheit zu verstehen, die in dem Gegenstand vorausgesetzt wird und die von sich aus schön sein würde, ohne Beziehung auf einen Geist, der sie empfindet: „[…] by Absolute or Original Beauty, is not understood any Quality suppos’d to be in the Object that should of itself be beautiful, without relation to any
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
Mind which perceives it“. „Schönheit“ wie auch andere Namen, die wir sinnlich erfahrbaren Ideen geben, bezeichnet oder bedeutet genau genommen nichts anderes als die Vorstellung eines geistbegabten Wesens: „For Beauty, like other Names of sensibles Ideas, properly denotes the Perception of some Mind“. Ebenso bezeichnen „kalt“, „heiß“, „süß“, „bitter“ nichts anderes als Empfindungen („sensations“), mit denen die Objekte, die diese Ideen in uns hervorrufen, keine Ähnlichkeit („ressemblance“) haben, obgleich wir uns meistens einbilden, daß irgendetwas in dem Gegenstand unserer Vorstellung entspricht („however we generally imagine that there is something in the Object just like our Perception“; Hutcheson 1725 ⫽ 1971, I 17). Auf die Kunst bezogen gilt, daß die Komplexität oder Mehrdeutigkeit („those complex ideas of objects, which obtain the names of beautiful, regular, harmonious“), mit anderen Worten die Ästhetizität oder Polyvalenz des Kunstwerks ein viel größeres Vergnügen auslöst als dasjenige, das eine einzige Sinnesempfindung („simple idea of sensation“) begleitet. Farbkompositionen erfreuen das Auge mehr als der Anblick einer einzigen Farbe, und eine musikalische Komposition wirkt unvergleichlich intensiver auf das Gehör als der auf eine einzige Note zu-
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rückgehende Klang: „Die Wirkung beruht auf jener Harmonie, jener Übereinstimmung von Einfällen oder Ideen, die wir als angenehm empfinden und die aus der Zusammensetzung der Töne entstehen; unter einem ‘guten Ohr’ aber verstehen wir die Fähigkeit, dieses Vergnügen zu empfinden“ („Harmony also denotes our pleasant ideas arising from composition of sounds, and a good ear (as it is generally taken) a power of perceiving this pleasure“; Hutcheson 1725 ⫽ 1971, I 1, 9, vgl. I 1, 8). Der feingebildete Geschmack („fine taste“) ist auf die Sinne zwar angewiesen, geht darin aber nicht auf (vgl. Abb. 63.6). Schönheit, konstituiert durch Proportion (bildende Künste), Harmonie (Musik) und das mit ihr verbundene Vergnügen sind Werte, auf denen die Überredungskraft der Künste beruht. Um die damit bereits angesprochene pragmatische Dimension der Kunst herauszuarbeiten, bindet der englische Schriftsteller und Kritiker, Begründer der Wochenschrift Spectator, Joseph Addison (1672⫺1719) (vgl. The Spectator 1788, Nr. 409, 411⫺421) den Geschmack, der für das Vergnügen an Kunstwerken maßgebend ist, an die Einbildungskraft („imaginatio“, auch „fancy“). Bei dem Vergnügen, das Kunstwerke vermitteln, handelt es sich um „pleasures of imagination“, die zwischen Sinnlich-
Abb. 63.6: Die pragmatische Dimension der Kunst in der englischen Kunst- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. (i) Hutcheson: Indem das Kunstwerk auf den Geschmack einwirkt, der zur Empfindung des ästhetischen Vergnügens (Vergnügen am Schönen) allererst befähigt, bewirkt es ein solches Vergnügen. Dieses ist eine Empfindung, deren Intensität mit seiner Komplexität zunimmt, so daß ein polyvalentes Kunstwerk größeres Vergnügen bereitet als ein solches, das lediglich von einfachen Empfindungen begleitet wird.
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Abb. 63.7: Die pragmatische Dimension der Kunst in der englischen Kunst- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. (ii) Addison: Natur und Kunst affizieren gleichermaßen den menschlichen Geist und können so Vergnügen hervorrufen. Das Vergnügen an einem Kunstwerk ist ein sekundäres Vergnügen („secondary pleasure“) der Einbildungskraft, welches auf der Fähigkeit beruht, Ideen, die auf Natureinwirkungen beruhen, mit solchen zu vergleichen, die durch Kunsteinwirkungen hervorgerufen sind.
keit und Vernunft („ratio“) eingestuft werden. Die Wirkungen der Kunst werden als Vergnügen sozusagen zweiter Ordnung („secondary pleasures“) mit der Wirkung der Natur („primary pleasures“) verglichen (Addison 1788, 411, VI 64 ff; vgl. Abb. 63.7). Kunstwerke appellieren an die Handlung des Geistes, durch welche die Ideen, die von einem wirklichen Objekt hervorgerufen werden, mit denen verglichen werden, die wir von einem Standbild, einem gemalten Bild, einer Beschreibung oder einem Ton als den Repräsentationen wirklicher Dinge empfangen („[…] that action of the mind which compares the ideas arising from original objects with the ideas we receive from the statue, picture, description or sound that represents them“; Addison 1788, 416, VI 90). Diese Künste erreichen ebenso wie auch Architektur und Gartenkunst eine augenfälligere Repräsentation des Wirklichen als die an Sprache gebundene Dichtung. Doch können Wörter, wenn sie gut gewählt sind, eine so große Kraft in sich tragen, daß eine Beschreibung uns lebhaftere Ideen („lively ideas“) vermittelt als die unmittelbare Ansicht der Dinge. Sie legt unsere Einbildungskraft fest, während sie durch die dichterische Beschreibung freigesetzt wird. Einen anderen Akzent setzt Edmund Burke (1729⫺1797), politischer
Schriftsteller und Ästhetiker, wenn er der persuasiven Kraft der Künste einen ausgezeichneten Stellenwert für die Geselligkeit im Sinne einer ästhetischen Kommunikation zuspricht. Die von ihm in Anknüpfung an die Rhetorik durchgeführte, an der Affektenlehre orientierte Analyse des Geschmacks, die die Erfahrung des Schönen wie die des Erhabenen („sublime“) berücksichtigt, zeigt, daß die Erfahrung des Erhabenen den Menschen auf sich selbst zurückwirft, während die ästhetische, angenehme Empfindungen auslösende Erfahrung des Schönen das Bedürfnis weckt, sich anderen mitzuteilen (Burke 1756 ⫽ 1958, 5. Kap.; vgl. Abb. 63.8). Der poetischen Qualität und Wirkung der Worte kommt in dieser Hinsicht Priorität zu, wobei zwischen „dramatic poetry“ und „descriptive poetry“ unterschieden wird. Das Verfahren der Dichtung, aus dem sie ihre Wirkung bezieht, beruht hauptsächlich auf Substitution („descriptive poetry operates chiefly by substitution“) als Mittel des metaphorischen Sprechens (Burke 1958, 172 f; vgl. Klein 1967, 106 f). Dabei ist die Sprache nicht in der Funktion der Abbildung oder Repräsentation ⫺ „to present a clear idea of things themselves“ ⫺, sondern in der des affektiven Ausdrucks („strong expression“) aufzufassen (vgl. Wecter 1940). Die Sprache erzeugt wirkungsvoller als die
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
Abb. 63.8: Die pragmatische Dimension der Kunst in der englischen Kunst- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts. (iii) Burke: Burkes Analyse des Geschmacks berücksichtigt gleichermaßen die Erfahrung des Schönen wie die des Erhabenen. Während letztere den Menschen auf sich selbst zurückwirft, weckt die Erfahrung des Schönen das Bedürfnis nach Kommunikation. Dementsprechend räumt Burke den Künsten einen ausgezeichneten Stellenwert für die Geselligkeit im Sinne ästhetischer Kommunikation ein.
Abb. 63.9: Die Leidenschaften als Designate poetischer Sprache. Das hauptsächliche Verfahren der „descriptive poetry“ ist die Substitution. Wesentlich für diese ist jedoch nicht die Darstellungs-, sondern die Ausdrucksfunktion der Sprache.
anderen Künste, beispielsweise die Malerei, den Ausdruck des Schönen und Erhabenen, der vor allem auf Leidenschaften beruht, als deren natürliche Zeichen die Worte in dieser Hinsicht verstanden werden können (Niehues-Pröbsting 1987, 22; vgl. Abb. 63.9). 3.2.2. Musik als Schwesterkunst der Poesie Zeichentheoretisch ist insbesondere der bisher wenig beachtete Versuch des Kunstkritikers Daniel Webb (1719⫺1798) von Inter-
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esse, der im Bezugsrahmen der Rhetorik den Zusammenhang zwischen der kompositionellen Struktur des Kunstwerks und seiner Rezeption neu bestimmt. Die Relation zwischen der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Dimension der Kunst, das Ästhetische also, wird nicht von formalen Beziehungen zwischen Kunstwerk und Betrachter ausgehend bestimmt, sondern, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Popularität der Newtonschen Philosophie, als Funktion mechanistisch verstandener Bewußtseinsoperationen aufgefaßt und das ästhetische Vergnügen dabei als Resultat vorrationaler Identifikation von Zeichen und Bezeichnetem verstanden (Kerkhoff 1974, XXIII, vgl. LI ff). In einer Abhandlung über Schönheit in der Dichtung (Remarks on the Beauties of Poetry, 1762) beispielsweise wird die Funktion des Verses zum einen im Hinblick auf die Wirkung untersucht, die der Vers auf das Gefühl des Lesers oder Hörers eines poetischen Textes ausübt, zum andern steht seine auf Bedeutung, auf Sinn abzielende, bezeichnende Funktion in Frage. Beide Funktionen der Versifikation zielen auf die Empfindung von Harmonie ab. Der Fluß der Verse erfreut am meisten das Ohr, unabhängig vom Sinn, der Ton oder das Versmaß korrespondiert aber auch mit der Idee und begleitet sie: „The first [aim of versification] consists in a general flow of verse, most pleasing to the ear, but independent on the sense: the second, in bringing the sound or measure of the verse to correspond with, and accompany the idea. The former may be called a verbal harmony: the latter a sentimental“ (Webb 1762 ⫽ 1974, 5). Die künstlerische Verarbeitung des Materials, die auf die Stimulierung der Emotionen des Rezipienten abzielt, bleibt am Prinzip der Nachahmung der Natur orientiert, und zwar insofern, als die Gefühlswelt des Menschen zur ästhetischen Repräsentation gelangen soll (vgl. Kerkhoff 1974, XL ff). Die Malerei als Raumkunst kann zeitliche Vorgänge nicht abbilden. Dichtung und Musik sind dazu hervorragend geeignet, da das Material ⫺ Wörter („words“) und Töne („sounds“) ⫺, in dem diese Künste sich ausdrücken, von sich aus als imitatio aufzufassen ist so, daß unter diesem Gesichtspunkt nunmehr die Musik als Schwesterkunst der Dichtung angesehen wird (Webb 1769 ⫽ 1974, 63 ff). Die Musik wird onomatopoetisch, als Tonmalerei, verstanden und gibt in dieser Sicht ein bevorzugtes Ausdrucksfeld der Leidenschaften und Empfindungen ab, die sie unmittelbar auf den Hörer
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(i) Webbs allgemeine Analyse ästhetischen Vergnügens. Das ästhetische Vergnügen resultiert aus der Identifikation des Zeichens mit dem Bezeichneten in einer vorrationalen Bewußtseinsoperation.
(ii) Die doppelte Funktionsweise des Verses bei Webb. Der Vers wirkt einerseits durch seinen Zeichenkörper auf das Gehörsempfinden (Ohr) des Rezipienten und erzeugt so die Empfindung verbaler Harmonie. Dadurch, daß er in Ton und Versmaß mit der von ihm ausgedrückten Idee korrespondiert, wirkt der Vers aber auch auf das Gefühl/den Geist und führt zum Empfinden sentimentaler Harmonie. Beide Empfindungen sind dazu geeignet, im Rezipienten Emotionen zu stimulieren. Abb. 63.10: Die Ästhetik Webbs.
überträgt (Webb 1769 ⫽ 1974, 1 ff). Diese Wirkung ist vergleichbar mit dem „musical rhythmus“, der das Vergnügen („pleasure“) am sprachlichen Ausdruck („by words significative“) zur Bezeichnung von Gefühlen ausmacht (vgl. Art. 68 § 3.). Diese zeichentheoretisch akzentuierte, als Theorie der Empfindungen ausgeführte Theorie der Kunst impliziert folgerichtig Kriterien für die Bewertung von Kunstwerken, die in die ästhetische Erfahrung als Erfahrung des Vergnügens („pleasure“) oder Mißvergnügens („pain“, „display of imagination“) im Umgang mit ästhetischen Objekten gelegt wird (vgl. Webb 1769 ⫽ 1974, 12 ff; 152 ff). 3.2.3. Funktionen der Kunst Die Semiose, die ein Kunstwerk veranlaßt, wird im Zusammenhang des Vergleichs der Künste von James Harris (1709⫺1750) thematisiert. Der englische Philosoph und Kritiker hält daran fest, daß die Künste in ihrer mimetischen Komponente übereinstimmen. Je nachdem ob die Mittel zur Bezeichnung ihrer Gegenstände natürlich sind oder künstlich, d. h. willkürlich, gewählt sind, differieren die Künste dann aber im Hinblick auf die Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem und damit auch in ihrer Wirkung: „They dif-
fer, as they imitate by different Media. Painting by Figure and Colour; Music by Sound and Motion; Painting and Music, by Media which are natural; Poetry, for the Greatest Part, by a Medium which is Artificial (Harris 1744 ⫽ 1765 ⫽ 1970, II 1). Eine gemalte Figur oder eine musikalische Komposition hat immer einen natürlicherweise gegebenen Bezug („nature Relation“) zu dem, was, im Medium der Kunst dargestellt, Ähnlichkeit („Resemblance“) intendiert. Die Beschreibung durch Worte hat eine solche natürliche Relation nur zu einzelnen Ideen, deren Symbole die Wörter sind („of which those Words are the Symbols“). Die poetische Beschreibung versteht nur, wer die Sprache spricht, in der sie abgefaßt ist. Musikalische und bildnerische Darstellungen („imitations“) dagegen seien für alle Menschen verständlich („intelligible to all Men“). Die syntaktische Dimension der Kunst, mit anderen Worten die künstlerischen Verfahren der Komposition, der Anordnung von Elementen oder Zeichen als Teile eines Kunstwerks, ihre Zusammensetzung zu einem Ganzen wird im Blick auf die Unterscheidung zwischen Zeit- und Raumkünsten thematisiert, bereichert durch die später von Herder (siehe § 3.3.1.) aufge-
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
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Abb. 63.11: Syntaktische Kriterien zur Klassifikation der Künste. Nach der Ordnungsrelation (Neben- bzw. Nacheinander), die der Bildung komplexer Zeichen zugrunde liegt, unterscheidet Harris Raum- und Zeitkünste. Diese Unterscheidung manifestiert sich auch im ontologischen Status ⫺ Werk vs. Energie ⫺ der Hervorbringungen der jeweiligen Künste. Diese Differenzierungen sind später von Herder (vgl. § 3.3.1.) weitergeführt worden.
nommene, weitere Entgegensetzung von Werk und Energie: „there is no Production, but will be either a Work or an Energy“ (Harris 1744 ⫽ 1765 ⫽ 1970, I 33) ⫺ worunter Harris die je eigentümliche Wirkung der bildenden Künste bzw. der Dichtung und der Musik wie auch des Tanzes begreift (vgl. Abb. 63.11). ⫺ Eingehende sprachkritische Erörterungen bieten die Elements of Criticism („Grundsätze der Kritik“, 1762) des schottischen Ästhetikers Henry Home (Lord Kames, 1696⫺1782). Die Elements sind zudem wegen der kommunikativen und kultivierenden Funktion semiotisch relevant, die dem poetischen Ausdruck wie den Künsten insgesamt zugeschrieben wird. Die Schönheit der Sprache („beauty of language“) wird in Orientierung an der Umgangssprache im Hinblick auf den Ton („sound“), die Bedeutung („signification“) und die Ähnlichkeit („resemblance“) zwischen Ton und Bedeutung untersucht. Mit vielen Beispielen aus antiken und neuzeitlichen Autoren (unter anderen Vergil, Horaz, Plautus, Milton und Shakespeare) werden insbesondere Metapher und Allegorie als Ausdrucksmittel der poetischen Sprache behandelt und figürliche Redewendungen verzeichnet, die ein Subjekt oder ein Prädikat poetisch ausdrücken. Die poetische Sprache als künstlerischer Ausdruck der Leidenschaft, als „language of passion“, komme ebenso wie die Umgangssprache unserem Hang entgegen, unsere Meinungen, Gemüts-
bewegungen und alles, was uns rührt, andern mitzuteilen („to communicate our opinions, our emotions, and every thing that affects us“; Home 1762, chap. 17). Der unterstellte unmittelbare Bezug zum Leben und Erleben bedingt auch die gesellschaftliche Relevanz der Kunst. Die schönen Künste ⫺ so Home in der Widmung an den König ⫺ seien von klugen Herrschern immer gefördert worden, nicht allein wegen der persönlichen Unterhaltung oder Belustigung, sondern auch wegen ihres nützlichen Einflusses auf die Gesellschaft: „The fine Arts have ever been encouraged by wise Princes, not singly for private amusement, but for their beneficial influence in society“ (Home 1762, I 3). Die kultivierende Funktion der Kunst wird anthropologisch aus der Annahme einer gemeinschaftlichen Natur des Menschen und einer allen Menschen zukommenden Sensitivität begründet. 3.3. Der künstlerische Ausdruck in der deutschen Literatur- und Kunstkritik Methodisches Gewicht gewinnen semiotische Aspekte ausdrücklich in der Diskussion über die Grenzen des künstlerischen Ausdrucks in der Dichtung und den bildenden Künsten, wie sie im Kontext der deutschen Literaturund Kunstkritik insbesondere von Lessing und Herder geführt worden ist (§§ 3.3.1.⫺ 3.3.2.), und für die Erörterung der Ausdruckskunst des Schauspielers im Theater des Barock (§ 3.3.2.).
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3.3.1. Die Grenzen des künstlerischen Ausdrucks Gotthold Ephraim Lessing knüpft in seiner, Fragment gebliebenen (vgl. Lessing, ed. Bluemner 1880, 277 ff), Untersuchung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) insbesondere an die kunstkritischen Analysen von Du Bos, Batteux und Diderot (vgl. § 3.1.2.⫺3.1.3.), Harris und Home (vgl. § 3.2.3.) sowie von Mendelssohn (vgl. § 4.2.) an. Lessing arbeitet zum ersten Mal die Eigenart des poetischen Textes, d. h. Merkmale der Literarität heraus. „Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen“, fallen in den Bereich der Poesie. Solche Gegenstände heißen Handlungen, sie schreiten, wie am Beispiel der Kunst Homers und ihrer Rezeption gezeigt wird, in der Zeit fort (vgl. 1766 ⫽ 1880, XVII und XVIII). Die in der Abgrenzung zur Malerei herausgearbeitete Eigenart des poetischen Textes basiert weiter auf zeichentheoretischen Voraussetzungen; sie sind ihrerseits eingebunden in eine Theorie des schönen Ausdrucks, in der produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte in einer werkästhetisch akzentuierten Perspektive entwickelt werden. Ausgehend von der Aufgabe des Künstlers, in seinem Werk Ausdruck und Schönheit miteinander zu verbinden, unterstellt Lessing einen Gegensatz von barock überbordendem Ausdruck, wie er insbesondere dem Theater zugehört (vgl. § 3.3.2.), und einer aus der antiken Bildhauerkunst überkommenen Schönheitsvorstellung. Das Laokoon-Projekt thematisiert die Bedingungen einer Verbindung des auf Inhalte bezogenen Ausdrucks und einer auf Form bzw. Gestalt bezogenen Schönheit in der dichterischen wie auch in der bildnerischen Darstellung. Die Abgrenzung dieser Künste voneinander unterliegt normativen Vorgaben. Die Gesetze der Form verlangen im Fall der bildnerischen Darstellung des mit Schlangen kämpfenden Laokoon, den Ausdruck des Schmerzes zu dämpfen. Denn Schönheit ist die Bedingung der erstrebten Affekt-Wirkung des Mitleids, der Sympathie (Laokoon I und II; vgl. Hamburgische Dramaturgie, 1767⫺69 ⫽ 1964, 42. Stück). Diese Wirkung stellt sich gegenüber einer verzerrten Gestalt nicht ein. Lessing bestimmt daher die Grenze zwischen der bildenden Kunst und der Dichtung im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der künstlerischen Zeichensysteme unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung, schönen Formen Gestalt und Aus-
druck zu verleihen, d. h. solche Formen zu bezeichnen, bei denen es „unstreitig“ ist, daß „die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben“ (Lessing 1767⫺69, 16. und 17. Stück). Lessings Untersuchung der „Verwendungsgesetze des künstlerischen Materials“ hat in der neueren Forschung große Beachtung gefunden. Lessings ästhetische Theorie wird rekonstruiert (vgl. Hardenberg 1979), kritisiert, und es werden Ansatzpunkte für einen rationalen ästhetischen Diskurs aus ihr entwickelt, z. B. in der semiotisch orientierten Literaturwissenschaft (Todorov, Stierle), in der auf die Kunsttheorie angewandten Semiotik von Peirce oder der Epistemologie von Symbolsystemen (N. Goodman; vgl. Gebauer 1984). ⫺ Die zeichentheoretisch begründete Gegenüberstellung von natürlichen und künstlichen Darstellungsund Ausdrucksmitteln sowie die Entgegensetzung und Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten wird von Johann Gottfried Herder in der Absicht noch einmal aufgenommen, die Sinnebene, also die semantische Dimension insbesondere der Poesie, unter einem weiteren Gesichtspunkt zu bestimmen. Die Zeichen der Poesie, die Wörter, haben einen Sinn, der sich durch die Opposition von Raum und Zeit nicht erfassen läßt. Herder spricht daher von „Kraft“, von „Energie“, um die von der Bedeutung des Kunstwerks ausgehende Wirkung zu erfassen. Die Künste des Raumes (Malerei, Bildhauerei) bringen Werke hervor; die der Zeit, insbesondere die Musik, aber auch der Tanz sind Künste der Energie. Die Dichtung hat an beiden teil, sie eröffnet, durch die Vorstellung ihrer Gegenstände, einen fiktiven Raum, zugleich wirkt sie in der Zeit, weil sie eine Rede ist, d. h. sich sukzessiv entfaltet. Raum und Zeit schließen sich in der Poesie, aufgrund der ihr eigentümlichen Zeichenstruktur, zu einer Einheit zusammen (Herder, 1. Kritisches Wäldchen, 1769 ⫽ 1967, III 74⫺82; vgl. Nivelle 1960, 171⫺174). 3.3.2. Ausdruckskunst im Theater des Barock Die Unterscheidung zwischen natürlichen und künstlichen Zeichen ist im Zusammenhang mit Entwürfen zu einer Ästhetik der Schauspielkunst, die um 1800 entstanden ist, auf den schauspielerischen Ausdruck übertragen worden. Lessing gab in der Auseinandersetzung mit Diderot (vgl. Paradoxe sur le come´dien, 1769⫺1778) in Deutschland den Anstoß zu einer Diskussion über die Schauspielkunst (vgl. Theatralische Bibliothek, 1754).
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
Abb. 63.12: Nachahmung eines Eimers, von dem gerade die Rede ist. Die malende Geste des Schauspielers bleibt dem Ausdruck, den seine Rolle erfordert, oft äußerlich (vgl. Engel 1804 ⫽ 1971, VIII 51 ff).
Neben Goethe und Schiller sowie Mendelssohn und Nikolai, die mehr an dichtungstheoretischen Fragen interessiert waren, haben die Popularphilosophen Joh. Georg Sulzer, Joh. Kaspar Lavater, Georg Christoph Lichtenberg und vor allem der Berliner Spätaufklärer Joh. Jakob Engel (1741⫺1802) die Ausbildung einer Theorie der Schauspielkunst gefördert (vgl. Fischer-Lichte 1983, 156⫺177). Engel, der von 1787 bis 1794 das Berliner Nationaltheater leitete, leistete mit seinem Buch Ideen zu einer Mimik, das 1785 und 1786 in zwei Teilen erschien und bald danach ins Französische und Holländische übersetzt wurde, einen originellen Beitrag zur Diskussion über den Ausdruck in der Schauspielkunst. Engel bestimmt den schauspielerischen Ausdruck im Anschluß an die Rhetorik
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als „significatio affectionum animi“ (Engel 1804 ⫽ 1971, VII 68) und legt im Anschluß an die neuzeitliche Affektenlehre (Re´ne´ Descartes) und die Charakterologie (Charles Le Brun) den Schwerpunkt auf die bis dahin noch wenig erörterte Mienen- und Gebärdensprache (vgl. Art. 69 § 4.). Die Ideen zu einer Mimik werden als dramaturgische Typik der Affekte entfaltet, die dem Schauspieler Mittel und Wege zeigt, um an der Gestalt, die er in seiner Rolle verkörpert, durch die Kunst seines Ausdrucks die moralische Natur des Menschen hervortreten zu lassen, sie vorzuzeigen (Franke 1995). Die Signifikationen der Gemütsbewegungen, aufgefaßt als Ausdrucksgebärden, werden streng von den gestischen, den malenden und deutenden Gebärden unterschieden. Gesten entsprechen der rhetorischen Demonstration. Die malende Gebärde demonstriert oder illustriert das gesprochene Wort, beispielsweise durch eine gestikulierende Nachbildung des Gegenstandes, von dem gerade die Rede ist (vgl. Abb. 63.12). Die Ausdrucksgebärde kann zwar mit den gestischen oder deutenden Gebärden verbunden werden; jedoch muß sie in dieser Kombination den Aufbau der Gestalt, die der Schauspieler in einer Rolle vorführt, prägen und ihr Profil verleihen (Engel 1804 ⫽ 1971, VIII 68 f). In der Ausdruckssprache, die, in Verbindung mit dem Mienenspiel, durch das Gebärdenspiel des Körpers konstituiert wird, gipfelt die Kunst des Schauspielers, der lernen muß, alle äußerlichen Kennzeichen und Merkmale nachzuahmen, von denen man weiß, daß sie etwas Bestimmtes ausdrücken. Aus Le Brun nimmt Engel sowohl ein Beispiel für seine Beschreibung des analogen Ausdrucks der Bewunderung als auch für den Ausdruck des physiologisch bedingten Mienenspiels, in dem wir den Ausdruck des Lachens wiedererkennen (Engel 1804 ⫽ 1971, I 124; vgl. Abb. 63.13 und 63.14). Mit der Herausarbeitung der Ausdrucksgebärde weist die Mimik von Engels voraus auf die Gestalttheorie (vgl. Bühler 1933 ⫽ 1968, 38 ff).
4.
Zeichenkonzeptionen in der philosophischen Ästhetik und Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts
Der, von ihm selbst so genannten, Semiotik hat Alexander Gottlieb Baumgarten, der philosophiehistorisch zu den Schülern von Chri-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 63.13: Charles Le Brun (Ausdruck der Affecten, deutsche Übersetzung Nürnberg 1721): „L’admiration“. Wenn man jemanden bewundert, will man sich ihm ähnlich machen. Der analoge Ausdruck des inneren Zustandes verweist hier auf die Disposition zur Nachahmung des Objekts (Engel 1804 ⫽ 1971, VIII 52).
Abb. 63.14: Das Lachen. Mit Le Brun sieht Engel im Lachen ein physiologisches, unwillkürliches Mienenspiel. Sein Charakteristikum: Nase, Mund und Augen folgen der Bewegung der Augenbrauen, die sich gegen die Mitte der Stirn hinziehen.
stian Wolff gehört (vgl. Franke 1988, 351 ff; siehe Art. 62 § 8.2.4.), im Kontext der von ihm begründeten philosophischen Ästhetik eine propädeutische Funktion für die Erkenntnis zugewiesen (siehe § 4.1.). Die Popu-
larphilosophie (z. B. Moses Mendelssohn, Joh. Georg Sulzer) verbindet die kunst- und literaturkritische Unterscheidung zwischen natürlichen und arbiträren Zeichen mit der ästhetischen Theorie des „schönen Denkens“
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
(„pulchre cogitare“) zu einer Theorie des schönen Ausdrucks (§ 4.2.). 4.1. Die Semiotik in propädeutischer Funktion Zeichen sind für Baumgarten im Anschluß an die große Tradition seit Augustinus (vgl. Coseriu 1970⫺75, 105 ff und Haller 1959, 128 ff) von sich aus auf das durch sie Bezeichnete hingeordnet. Das Zeichen ist insofern Ziel des Bezeichneten, als zwischen Zeichen und Bezeichnetem ein immer schon vorgegebener Bezeichnungszusammenhang besteht: „Nexus inter signum et signatum significativus est, signoque tributus significatus dicitur“ (Baumgarten 1739 ⫽ 1779 ⫽ 1963, § 347). Zeichen sind Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Dinge. Die, erstmalig in der zweiten Auflage der Metaphysica (1742; 1 1739) berücksichtigte, erkenntnispsychologisch begriffene Fähigkeit, Zeichen zu bilden und sie auszulegen, ein „Vermögen der Zeichenkunde“ („facultas characteristica, facultas signatrix“) (Baumgarten 1779 ⫽ 1963, § 619), wird sowohl für die intellektuelle Erkenntnis, deren Feld die Wissenschaften sind, in Ansatz gebracht als auch für die ästhetische Erkenntnis („cognitio sensitiva“), die in den Künsten Ausdruck findet. Die Semiotik oder philosophische Semiologie wird als Zeichentheorie („scientia signorum“) im Sinne eines Regelkanons zur Erfindung und Auslegung von Zeichen eingeführt. Die ästhetische Zeichentheorie ist zunächst als Charakteristik der Rede konzipiert, verstanden als Philologie oder auch ⫺ da sie Regeln angibt, die für viele Sprachen Gültigkeit haben ⫺ als Grammatik; ihr werden Orthographie, Etymologie, Syntax, Prosodie wie auch die lexikographische Bedeutung der Wortzeichen und die Schönschreibekunst („Philologia Graphice“) zugewiesen. Als Regelkanon der Beredsamkeit („eloquentia“) berücksichtigt die ästhetische Charakteristik die prosaische und die gebundene Rede, so daß ihr nicht nur die Rhetorik, sondern auch die Poetik zugeordnet wird. Die Erfindung („inventio“) und die Auslegung („interpretatio“) ästhetischer Zeichen verlangt eine Theorie, aus der die Grundsätze für die Schönheit der poetischen Rede abgeleitet werden können (vgl. Meier 1748⫺50 ⫽ 1976, § 516). Baumgarten löst die poetische Rede aus dem rhetorischen wie auch aus dem dichtungstheoretischen Rahmen, wie er z. B. für Johann Christoph Gott-
1253
scheds (1730 ⫽ 1751 ⫽ 1962, VII⫺XII) Bestimmung „von poetischen Wörtern“, der „poetischen Schreibart“ usw. noch verbindlich ist. Als ein Organon des poetischen Ausdrucks konzipiert, wird die rhetorische Ausdruckslehre („elocutio“) in Rücksicht auf den metaphysischen Grund der Ästhetik Baumgartens (vgl. Paetzold 1983, 8⫺41; Franke 1972, 9⫺11 und 76 ff) zu einer Semiotik in der Bestimmung einer ästhetischen Propädeutik umgeformt (vgl. Franke 1979). Die Konzeption der Semiotik, die in der unvollendet gebliebenen „Aesthetica“ Programm bleibt (siehe Abb. 63.15), zeichnet sich in der Magisterschrift Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus („Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes“; vgl. Baumgarten 1735 ⫽ 1983) bereits ab. Die zeichentheoretische Konzeption geht von der ästhetischen Erkenntnis („cognitio sensitiva“; vgl. Baumgarten 1750/58 ⫽ 1961, § 17) aus, die ein Gedicht („oratio sensitiva perfecta“) in Rücksicht auf die Vorstellungen oder Ideen sowie auf ihre Verknüpfung und hinsichtlich der Worte oder artikulierten Laute bestimmt, die aus Buchstaben als den Zeichen der Worte bestehen: „Orationis sensitivae varia sunt repraesentationes sensitivae, nexus earum, voces sive soni articulati litteris constantes earum signa“ (Baumgarten 1735 ⫽ 1983, § 6). Sinnliche Vorstellungen verlangen als „perceptiones praegnantes“ prägnante, bedeutungsschwangere Ausdrücke. Der poetische Ausdruck ist als metaphorischer Ausdruck („vox impropria“) von vielsagender Bedeutung („significatus improprius“), der er auch seine persuasive, ins Gemüt gehende Kraft oder Wirkung verdankt (Baumgarten 1735 ⫽ 1983, § 79; 1739 ⫽ 1963, § 517 ff). Den Tropen, d. h. dichterischen Wendungen, Umschreibungen, wie sie Metapher, Synekdoche oder Allegorie leisten, kommt eine genuin poetische Qualität zu, weil sie die Komplexität sinnlicher, miteinander verknüpfter („confundere“) Vorstellungen unterstützen („quia suppeditant repraesentationes complexas confusas“; Baumgarten 1735 ⫽ 1983, § 79), d. h. einen metaphorischen „nexus“ begründen, dessen zeichentheoretischen Kontext Umberto Eco (1984 ⫽ 1985, 133 ff) im Hinblick auf traditionelle Definitionen untersucht. Durch seine Bindung an Kriterien wie (moralische) Größe („magnitudo“), Klarheit und Wahrheit („dignitas signi“; Baumgarten 1750⫺58 ⫽ 1961, § 22) soll der poetische Ausdruck der prinzipiellen Funktion des Zeichens gerecht werden, mit dem Bezeichneten eine Verbindung
Aesthetica
de ratiociniis
de judiciis
de conceptibus
artificialis (theoretica sive docens)
Aesthetica characteristica
ars
# #
Semiotica
scientia ... ars scientia ... ars scientia
#
Methodologia
Heuristica
naturalis (dispositio totius animae ad pulchre cogitandum)
artificialis (theoretica sive docens)
naturalis (dispositio ad intelligendum)
#
heuristica hermeneutica (interpretatio aesthetica)
#
Veritas aesthetica (pulchre cogitare)
Veritas logica (recte cogitare)
Mundus optimus
Abb. 63.15: Die Stellung der Semiotik in Baumgartens Aesthetica (1750/58). Die Aufgliederung ist nur so weit fortgeführt, wie es für den Standort der Semiotik in der Tradition der Ästhetik nötig erscheint. Die jeweilige Dreiteilung der „Logica artificialis“ und der „Aesthetica artificialis“ soll keine Parallelität anzeigen (vgl. Franke 1979, 349).
Instrumentalphilosophie
Logica
Die Ästhetik als Instrumentalphilosophie
1254 IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
einzugehen, die den Bezeichnungszusammenhang in der Welt repräsentiert. Aufgrund ihrer Ordnungstruktur stellt eine Dichtung, wie jedes Kunstwerk, eine artifizielle Welt für sich dar. Kunstwerke bieten eine analoge Ansicht zum Kosmos im Gegensatz zum Chaos (Baumgarten 1735 ⫽ 1983, § 68). Sie sind Zeichen des Universums (vgl. Franke 1979, 354 f). ⫺ Die ästhetische Charakteristik hat Georg Friedrich Meier in ihrer hermeneutischen Bestimmung, als „Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen erkannt werden“, die in erster Linie auf die Rede bezogen wird, im Anschluß an Baumgarten, ausgeführt. Auslegen heißt nichts anderes als „den Zusammenhang der bezeichneten Sache mit ihren Zeichen“ einzusehen (Meier 1757 ⫽ 1965, § 1 und 3). „Sinnlichen Schriften“ ist eine „ästhetische Auslegung“ („interpretatio aesthetica“) angemessen. Sie wird von Meier, der darin Baumgarten folgt, erkenntnismetaphysisch aus der Repräsentationskraft der sensitiven Fähigkeiten des Menschen begründet, die als ein Analogon der Vernunft (vgl. Franke 1972, 51 ff) das Auslegen des Sinns einer ästhetischen Rede („sensus orationis sensitivae“) gewährleisten. Die ästhetische Rede stellt eine „Reihe von Worten“ dar, die miteinander verbundene Vorstellungen bedeuten (Meier 1757 ⫽ 1965, § 103). Als Gegenstand der Auslegung wird die Rede zum Text, dessen Sinn aus Zeichen, dem Ausdruck („terminus“), der gewöhnlicherweise in einer menschlichen Stimme besteht, daher „Wort“ („vocabulum“) heißt, ermittelt werden muß (vgl. Art. 131). 4.2. Die Theorie des schönen Ausdrucks In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht im Anschluß an die durch Leibnizens und Christian Wolffs Philosophie geprägte Ästhetik von Baumgarten (siehe § 4.1.), aber auch unter dem Einfluß der englischen Kritik (siehe § 3.2.) eine Theorie des schönen Ausdrucks. Diese verbindet die traditionelle Einteilung der Künste nach der Art und Weise der Bezeichnung mit der philosophischen Bestimmung des Schönen, bezogen sowohl auf die semantische als auch auf die syntaktische und pragmatische Dimension von Kunst. Das Wort Ausdruck, das „bald dem Zeichen, als der Ursache der Vorstellung, bald seiner Wirkung beigelegt“ wird, meint in der „Kunstsprache“ solche Vorstellungen, „die vermittelst äußerlicher Zeichen“, also durch die verschiedenen Darstellungsmittel, im Gemüt erregt werden, durch Wörter und Sätze,
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Töne und Tonsätze, Gesichtszüge, Gebärden, auch die Gesichtsfarbe, oder ⫺ im Tanz ⫺ durch Stellung, Gebärden und Bewegung (Sulzer 1771⫺74, Artikel „Ausdruck“). Die artifizielle Bezeichnung soll eine künstlerische Form so prägen, daß jener Wert, der „das Schöne“ genannt wird, „für einen Menschen von Geschmack sinnlich wahrnehmbar wird“. Die künstlerische Form muß begrenzt sein, um „ohne Anstrengung“ rezipiert werden zu können; bereits Aristoteles (vgl. Rhetorik III 8) merkte an, „daß das Unbeschränkte nicht angenehm, ja sogar nicht begreiflich sei“ (vgl. Sulzer 1771⫺74, Artikel „Ganz“). Durch die Komposition soll die Vielfalt der einzelnen Elemente zur Einheit gebracht erscheinen, die Zeichen sollen mit anderen Worten so verknüpft werden, daß eine Semiose entsteht, d. h. so, als ob sie „in Eines zusammenfließen“ (Sulzer 1771⫺74, Artikel „Schön, Schönheit“). Die Realisierung einer solchen, syntaktisch wie pragmatisch begründeten Ordnungsstruktur muß prinzipiell „dem Materiellen des Werks angemessen sein“, sie beruht in den bildenden Künsten, beispielsweise in der Baukunst (Sulzer 1771⫺74, Artikel „Säulenordnung“), auf anderen Regeln als in der Musik oder Dichtung. Aufgefaßt als „Beherrscherin aller unserer Empfindungen“, ist Schönheit in der Natur nur „zerstreut“ anzutreffen. Der „Geist des Menschen“ bildet sie in den Werken der Kunst nach. Die der Maxime eines durch die Kunst vorgestellten Werks, das sinnlich vollkommen ist, genügenden Zeichenkonstellationen und Konfigurationen besänftigen die Leidenschaften des Menschen. Das gilt sogar für die Baukunst. Prächtige und majestätische Gebäude erregen Ehrfurcht und Schaudern. Lustschlösser laden zur Fröhlichkeit ein, Einsiedeleien zu Ernst und Tiefsinn usw. (Mendelssohn 1757 ⫽ 1892, 144⫺147). Die „richtige“ Abbildung eines Gegenstandes, die „bloß ihrer Ähnlichkeit wegen“ gefällt, wird durch die Polyvalenz des Ausdrucks weit übertroffen. Der Wert der poetischen Sprachbilder beispielsweise bemißt sich nach der Menge von Merkmalen, die der Ausdruck auf einmal in das Gedächtnis zurückbringt und uns das Bezeichnete lebhafter empfinden läßt als das Zeichen. Aus der unterschiedlichen Art und Weise der Bezeichnung ergibt sich die Einteilung in schöne Künste und schöne Wissenschaften („beaux arts et belles lettres“), wobei zu den letzteren sowohl die Dichtung als auch die Rhetorik gehört. Die schönen Kün-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
ste artikulieren sich insoweit durch natürliche Zeichen als die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst begründet ist, während diejenigen Zeichen „willkürlich“ zu nennen sind, die von sich aus mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben, sondern aufgrund einer Vereinbarung willkürlich dafür genommen werden (Mendelssohn 1757 ⫽ 1892, 153 ff). Die Allegorie wird dabei als ein natürliches Zeichen verstanden, „das an die Stelle der bezeichneten Sache gesetzt wird“. Denn in der Allegorie liegt ein Bild, aus dem die Sache, die dargestellt werden soll, erkannt werden kann (vgl. Sulzer 1771⫺74, Artikel „Allegorie“). Solche Bilder haben sowohl in den „redenden“ als auch in den „zeichnenden“ Künsten die Funktion, in der Art des Beispiels, Gleichnisses, der Fabel oder Parabel abstrakten Vorstellungen einen Körper zu geben, wodurch die Vorstellungen anschaulich und faßlich werden. Die Quellen, aus denen diese artifiziellen Bilder, Erfindungen der Einbildungskraft, geschöpft werden, sind insbesondere Natur, Geschichte, Mythologie oder auch die „Sitten der Tiere und der Menschen“ (Sulzer 1771⫺74, Artikel „Bild“). Die Grenzen der natürlichen Zeichen sind auch die des Ausdrucks in den bildenden Künsten (vgl. § 3.3.1.). Im übrigen verleiht die Herstellung einer ästhetischen Ordnung auch solchen Dingen eine ästhetische Kraft, die uns sonst völlig gleichgültig wären. Eine Menge verstreut liegender Feldsteine, die wir ohne jegliche Aufmerksamkeit sehen, kann durch Ordnung in einen Gegenstand verwandelt werden, der Aufmerksamkeit erregt und uns wohlgefällt (vgl. Sulzer 1771⫺74, Artikel „Ordnung“). Die Kriterien des Ganzen, der Einheit und Harmonie, die den schönen Ausdruck gewährleisten (vgl. die entsprechenden Artikel bei Sulzer 1771⫺74), verweisen so am Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal auf die klassische Bestimmung des geschlossenen Kunstwerks, das Umberto Eco (1962 ⫽ 1977) mit dem offenen Kunstwerk der Moderne konfrontiert hat (vgl. Art. 120).
5.
Zeichenkonzeptionen in der frühromantischen Kunst- und Dichtungstheorie
Es entsteht im Kontext der frühromantischen Kunst- und Dichtungstheorie, die durch die Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere durch das Denken Fichtes, geprägt
ist (vgl. Link 1978), die Idee der Kunst als eines Reflexionsmediums der Formen (Benjamin 1920 ⫽ 1973, 82). Die Kunsttheorie, die sich von einer bloß technischen Theorie der Kunst unterscheiden will, geht davon aus, daß der Inbegriff der Künste die Kunst ist. Um die Autonomie der Kunst zu behaupten, wird methodisch der historische mit dem kritischen Gesichtspunkt verbunden (A. W. Schlegel 1884 ⫽ 1968, 3⫺31). Aufgefaßt als autonom, unendlich vielfältig und rezeptionsästhetisch vieldeutig erscheint das romantische Kunstwerk als Anlaß für einen offenen, selbstreferentiellen Zeichenprozeß. Die imitative Auffassung der Kunst und ihrer auf natürliche bzw. arbiträre Zeichen bezogenen Darstellungsmittel wird von einer expressiven Bestimmung der Kunst abgelöst. Infolgedessen tritt die Allegorie zugunsten des Symbols zurück. Um einer modernen Auffassung des Ornaments gerecht zu werden, unterscheidet Karl Philipp Moritz, der „Symbol“ im Sinne eines konventionellen Zeichens verwendet, zwischen einer deiktischen, d. h. „bloßen Allegorie“ und einer „schönen Allegorie“, der die Funktion eines selbstreferentiellen Symbols zukommt (vgl. Franke 1996). Zwischen beiden Begriffen wird erst am Ende des 18. Jahrhunderts begrifflich scharf unterschieden, nachdem Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790, § 59) Schönheit als Symbol der Sittlichkeit aufgefaßt hatte. Bis dahin ist „Symbol“ als ästhetischer Terminus selten. In der zweiten Auflage von Joh. Georg Sulzers „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (1792) kommt das Wort noch ebensowenig vor wie bei dem Kantianer Wilhelm Traugott Krug (1802). Die neue Bewertung der Allegorie, die aus der Rhetorik herausgelöst und in den Kontext idealistischer Theoriebildung eingebracht wird, und des Symbols in seiner ein Kunstwerk strukturierenden Funktion impliziert zeichentheoretische Ansätze, an denen das allmähliche Verblassen des klassischen Kunstideals ebenso offensichtlich und faßbar wird wie die Überwindung der klassischen Kunst- und Dichtungstheorien des 18. Jahrhunderts (Todorov 1977, 179⫺260; vgl. Abb. 63.16). 5.1. Der semantische und der syntaktische Aspekt des Symbols Während bis dahin die Allegorie als ein natürliches Zeichen (vgl. § 4.2.) und das Symbol als ein willkürliches Zeichen verstanden wurde, wird nunmehr das Symbol als natürliches Zeichen aufgefaßt. Diese Bestimmung
63. Zeichenkonzeptionen in der Kunstphilosophie und Ästhetik
1257
Abb. 63.16: Schema/Allegorie bei Kant (a) und in der idealistischen Ästhetik nach Kant (b). Für Kant drückt ein Schema einen Verstandesbegriff durch eine ihm korrespondierende Anschauung aus, während ein Symbol einer Idee (⫽ Vernunftbegriff) eine Anschauung unterlegt, obwohl ihr keine solche angemessen sein kann. ⫺ In der idealistischen Ästhetik nach Kant werden Schema/Allegorie und Symbol (manchmal neben Zeichen und Bild) als Modi der Bedeutungskonstitution unterschieden. Bei Schema und Allegorie vermitteln ggf. mehrere semantische Relationen zwischen dem Signifikanten und den Komponenten seiner Bedeutungsstruktur, während das Symbol die semantischen Relationen dieser Komponenten oder sogar Bedeutendes und Bedeutetes miteinander identifiziert. So bedeutet (R1) etwa bei Sulzer die Allegorie etwas (x), das von dem (y) verschieden ist, was sie darstellt (R2), während beim Symbol seit der Romantik ⫺ in Sulzers Lexikon (1771⫺74) gibt es dafür noch kein Stichwort ⫺ Bedeutetes (x) und Dargestelltes (y) übereinstimmen (R1 und R2 also zu demselben Relat x ⫽ y führen). In der romantischen Kunstphilosophie, bei F. Schlegel, Wackenroder, Novalis wie dann auch bei Schelling ist das Symbol (s), was es bedeutet; bei ihm fällt also nicht nur R1 mit R2 (und dementsprechend x mit y) zusammen, sondern bildet auch eine Schleife (so daß x ⫽ s ⫽ y gilt). Damit ist der Gedanke des offenen Kunstwerks vorweggenommen.
setzt die der Natur als eines beseelten und daher symbolisch sprechenden Organismus voraus, die sich bereits bei Herder findet (vgl. Herder, Ausgabe Suphan 1878 ⫽ 1967, XXII 322⫺324; vgl. ferner Sörensen 1963, 58 ff), der sie allerdings auf die orientalischen, insbesondere die ägyptischen Bildwelten anwendet, die später noch Hegel (vgl. Ästhetik 1835 ⫽ 1955, I 298) lediglich als „Vorkunst“ gelten läßt. Demgegenüber wird das Symbol jetzt als Ausdruck des Poetischen im Sinne dessen, was allen Künsten gemeinsam ist, begriffen: Das Schöne ist eine in sich bedeutsame symbolische Erscheinung (A. W. Schlegel 1884 ⫽ 1968, 118). Unter Voraussetzung einer naturmystischen Weltauffassung, der sowohl philosophische als auch poetische Wahrheit zugesprochen wird, werden alle Dinge als in einem wechselseitigen Beziehungsgeflecht stehend verstanden, alles bedeutet alles, jeder Teil des Universums spiegelt das Ganze. Nach der „poetischen Ansicht der Dinge“ kann „das Unendliche“ nur „symbolisch, in Bildern und Zeichen“ repräsentiert werden (A. W. Schlegel 1884 ⫽ 1968, 91 f; vgl. 100 ff).
Die romantische Weltanschauung gipfelt in einer Sprachphilosophie, dergemäß die physiognomische Symbolsprache der organischen Natur, als das Äußere, die Sprache des Inneren ist (vgl. Fiesel 1927), Ausdruck der „Verfahrungsweise des poetischen Geistes“ (vgl. Hölderlin 1969). Die poetische Sprache wird auf diesem Hintergrund durch eine metaphysische Metapherntheorie bestimmt, nach der die künstlerische Darstellung ein Ausdruck der „gegenseitigen Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochenes Symbolisieren“ ist (A. W. Schlegel 1884 ⫽ 1968, 93). Das Symbol wird mit anderen Worten auf die Gesamtstruktur eines Kunstwerks bezogen, die aus der Korrelation vieler Zeichen entsteht (Titzmann 1979, 650). 5.2. Der pragmatische Aspekt des Symbolischen Die pragmatische Dimension eines symbolisierenden, alles mit allem verkettenden und so dem Unendlichen analogen Kunstwerks macht Wilhelm Heinrich Wackenroder am Beispiel der bildenden Künste, der Architek-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
tur und der Musik geltend. Die Sprache der Worte bleibt für ihn hinter der Wirkung zurück, die Farben und Töne auf das Gefühl der Menschen ausüben können. Das emotional bestimmte Symbol wird auf die „zwei wunderbaren Sprachen“ der Natur und der Kunst und die „geheimnisvolle Kraft“ dieser Sprachen bezogen. Diese Sprachen rühren sowohl unsere Sinne als auch unseren Geist. Zwar haben wir die „irdischen Dinge“ in unserer Hand, „wenn wir ihre Namen aussprechen, wir herrschen durch Worte über den ganzen Erdkreis, […] nur das Unsichtbare ziehen Worte […] nicht in unser Gemüt herab“. Die Malerei redet durch Bilder, sie bedient sich einer „Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem äußeren nach kennen und verstehen“. Sie „schmelzt das Geistige und Unsinnliche […] in die sichtbaren Gestalten hinein“, daß wir „von Grund auf bewegt werden“ (Wackenroder 1797 ⫽ 1968: 55⫺ 58). Das Kunstwerk wird so auch zum Symbol des menschlichen Inneren, ja des Unbewußten, der menschlichen Seele (vgl. Sörensen 1963: 204⫺210; siehe auch Art. 72 §§ 2.4.⫺2.5.; zur Vorgeschichte des Symbolbegriffs vgl. Art. 34). 5.3. Die poetische Transformation der Transzendentalphilosophie Bezogen auf die Sprache wird die traditionelle Einteilung der künstlerischen Ausdrucksmittel in natürliche und willkürliche Zeichen zwar übernommen, nun aber von der Poesie gefordert, die Sprache zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen und „Zeichen der Verabredung in natürliche und an sich bedeutende Zeichen umzuwandeln“ (A. W. Schlegel 1884 ⫽ 1968, 279 ff). Die poetische Transformation beruht auf der „Symbolik der Wortsprache“ als dem „Medium der Poesie“, mit anderen Worten auf der metaphorischen Kraft, die der Sprache selbst innewohnt. Unter dieser Voraussetzung wird die Selbstbezüglichkeit des romantischen Sprachkunstwerks begründet: Es ist mit der Sprache „wie mit den mathematischen Formeln. Sie machen eine Welt für sich aus. Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus“ (Novalis 1799 ⫽ 1960 ff, II 2, 672 f). Gemäß der metaphysischen Vorgabe, daß alles mit allem verwoben ist, drückt die ⫺ ebenso wie mathematische Formeln ⫺ mit sich selbst spielende Sprache von sich aus unmittelbar das Unendliche aus. Die Poesie, das Poetische kann so „die transcendentale Erinnerung des Ewigen
im menschlichen Geiste“ genannt werden, „als das gemeinsame Gedächtnis des Menschengeschlechts“ (F. Schlegel 1828⫺29 ⫽ 1958 ff, X 399) so, daß der Mythologie ein hoher Stellenwert zukommt. Das Poetische ist der Geschichte unterworfen, wie auch das Gedächtnis des Menschengeschlechts „von Jahrhundert zu Jahrhundert, von einer Nation zur anderen fortgeht“. Im wechselnden Gewand der Zeiten weist das Poetische als Ursprung des künstlerischen Ausdrucks auf das Unendliche, „jenes Erste und Ewige“ zurück (vgl. Art. 75 § 1. und § 2.). Das romantische Kunstwerk ist mit anderen Worten in dem Sinn autoreflexiv, daß es den Geist des Autors ausdrückt, wie es im Hinblick auf den Roman als die exemplarische romantische Kunstform heißt (F. Schlegel 1798 ⫽ 1958 ff, II 182, Athenäumsfragment Nr. 116). Aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit wird die Kunst und das romantische Kunstwerk, Expression des Poetischen, als prinzipiell unabgeschlossen verstanden. Das Poetische kann „nie vollendet sein“. Die Erfahrungen des Menschen in der Welt und mit dem Unsichtbaren erscheinen durch die „poetische Reflexion“ vervielfacht „wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln“ (F. Schlegel 1798 ⫽ 1958). Damit ist der Gedanke des offenen Kunstwerks, das nurmehr dem Geist des Künstlers verpflichtet ist und dessen Botschaften vieldeutig sind (vgl. Eco 1962 ⫽ 1977), vorweggenommen.
6.
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1263
64. Zeichenkonzeptionen in der Logik
64. Zeichenkonzeptionen in der Logik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Einleitung 2. Erweiterungen der Syllogistik 2.1. Extension und Intension 2.2. Quantität und Qualität 2.3. Vorarbeiten zur Charakteristik oder Universalsprache 2.4. Quantifikation des Prädikates 3. Die Ideen zur Logik von Leibniz 3.1. Die Algebra der Begriffe 3.2. Die Satzlogik 3.3. Die Quantorenlogik 4. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
In der Logik-Geschichtsschreibung (Bochenski 1956, § 36) wird die Periode zwischen der Spätscholastik und der beginnenden mathematischen Logik des 19. Jahrhunderts als eine bloße Zeit des Übergangs angesehen, die zu keinen nennenswerten Weiterentwicklungen geführt hat. Tatsächlich beschränkten sich die Logiker jener Zeit ⫺ mit einer großen Ausnahme ⫺ darauf, die Kompendien der traditionellen Syllogistik zu überarbeiten und höchstens punktuell zu erweitern. Die für die Semiotik interessantesten Erweiterungen werden in §§ 2.1.⫺2.4. vorgestellt. Einen Überblick über weitere logische und semantische Entwicklungen findet man bei Kneale (1962, Kap. V) und bei Kretzmann (1967, 375⫺391). Genauere Informationen zu den Beiträgen, die diese Epoche zur Philosophie der Logik, zur Semantik und zur Ontologie geleistet hat, findet man auch bei Rabus (1868), Wundt (1938) und in den betreffenden Kapiteln von Angelelli (1967). Angesichts der wohl berechtigten negativen Einschätzung Bochenskis, was die technische Entwicklung der Disziplin Logik in diesem Zeitraum anbelangt, verdient es der besonderen Erwähnung, daß z. B. Leibniz die Beiträge dieser Epoche in den genannten Bereichen durchaus geschätzt hat. Die Abschnitte §§ 3.1.⫺3.3. behandeln dann den erwähnten Ausnahmelogiker G. W. Leibniz, dessen Entwürfe den Rahmen der „klassischen“ Logik bei weitem überragen und die zum Teil sogar Entwicklungen des 20. Jahrhunderts antizipieren (vgl. Art. 62 § 8.2.4. und Art. 76 § 1.). Zum einen hat Leibniz die Syllogistik zu einem Kalkül der Begriffsalgebra verallgemeinert, der be-
weisbar isomorph ist zur üblichen Mengenalgebra. Ferner ist es Leibniz mittels eines genial einfachen ‘Tricks’ gelungen, diese Begriffsalgebra in eine Algebra der Sätze zu überführen, die einen Kalkül der strikten Implikation ergibt. Schließlich hat er noch Begriffsquantoren (in der verkappten Gestalt von „unbestimmten Begriffen“) eingeführt, die die logische Definition von Individualbegriffen ermöglichen und damit letztendlich zu einem begriffslogischen Kalkül zweiter Ordnung führen (zu der grammatiktheoretischen Position von Leibniz vgl. Art. 67 § 2.4.). Diese Entdeckungen haben allerdings den Fortgang der Logikgeschichte praktisch nicht beeinflußt, weil die einschlägigen Fragmente von Leibniz mehr als 200 Jahre lang im Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek verschlossen waren, bis sie 1903 durch den französischen Mathematiker Louis Couturat publiziert wurden.
2.
Erweiterungen der Syllogistik
2.1. Extension und Intension Eine erste semiotisch bedeutsame Theorie besteht in der Unterscheidung der Extension bzw. der Ausdehnung von generellen Termen bzw. von „Ideen“ einerseits und der Intension bzw. ⫺ wie es in der Terminologie der Logik von Port-Royal heißt ⫺ der „Komprehension“ andererseits: „Bei den universellen Ideen ist es wichtig, zwei Sachen streng auseinanderzuhalten, die Komprehension und die Ausdehnung. Unter der Komprehension einer Idee verstehe ich die Attribute, die sie in sich schließt und die man nicht wegnehmen kann, ohne sie zu zerstören. Unter der Ausdehnung einer Idee verstehe ich die Gegenstände, denen diese Idee zukommt“ (Arnauld und Nicole 1662, 59) Diese Unterscheidung läßt sich etwa durch das folgende Beispiel veranschaulichen: „Wenn ich sage Der Mensch ist ein Lebewesen, so will ich [extensional] gerade dies ausdrücken: die Menschen sind unter den Lebewesen zu suchen, d. h. wenn etwas kein Lebewesen ist, so ist es auch kein Mensch“ (Leibniz 1903, 235). Man kann diese Aussage jedoch auch intensional deuten, und dann gilt, daß „umgekehrt der Begriff des Lebewesens
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Teil des Begriffs ist, der dem Menschen zukommt; denn Mensch ist vernünftiges Lebewesen. [… Der Begriff] Lebewesen umfaßt mehr Individuen als Mensch; aber Mensch umfaßt mehr Ideen […]; der eine besitzt mehr Extension, der andere mehr Intension“ (Leibniz 1875 ff, Bd. 5, 469). Das hierbei angesprochene Reziprozitätsgesetz (vgl. WaltherKlaus 1987) lautet ausführlicher: „Die Methode der Begriffe ist konträr zu der der Individuen, das heißt nämlich: Wenn alle Menschen einen Teil aller Lebewesen darstellen, bzw. wenn alle Menschen in allen Lebewesen [enthalten] sind, dann ist umgekehrt der Begriff des Lebewesens im Begriff des Menschen [enthalten]; und so wie es mehrere Lebewesen außer den Menschen gibt, so ist [umgekehrt] irgendetwas zur Idee des Lebewesens hinzuzufügen, damit die Idee des Menschen entsteht. Indem nämlich die Bedingungen vermehrt werden, vermindert sich die Anzahl“ (Leibniz 1903, 235). 2.2. Quantität und Qualität Die Theorie der Quantität und der Qualität der Terme einer kategorischen Satzform ist eine Ausarbeitung der scholastischen Lehre der distributiven Terme, die in der Logik von Port-Royal die folgende Gestalt annimmt: „Je nachdem, ob das Subjekt einer Aussage universal oder partikulär genommen wird, resultiert die Aussage als universale oder partikuläre […]. Das Prädikat einer affirmativen Aussage […] wird stets als partikulär betrachtet. […] Das Prädikat einer negativen Aussage wird stets als universal betrachtet“ (Arnauld und Nicole 1662, 183). Aus diesen Theoremen werden allgemeine Regeln für Syllogismen der Art hergeleitet, daß zum Beispiel ein Begriff in der Konklusion nur dann universal auftreten darf, wenn er auch in der Prämisse universal auftritt. Solche allgemeinen Regeln führen weiterhin zu speziellen Restriktionen für die einzelnen syllogistischen Figuren, mit denen schließlich gezeigt werden kann, daß nur die traditionell als gültig akzeptierten Modi formal schlüssig sind. Arnauld und Nicoles Theorie ist jedoch unbefriedigend, weil sie keine präzise Definition dafür liefert, wann ein Begriff in einer Aussage universal bzw. partikulär auftritt. Daß zum Beispiel das Prädikat der affirmativen Aussagen Jeder Mensch ist ein Lebewesen bzw. Ein Mensch ist gelehrt partikulär ist, ist zwar einigermaßen plausibel, sofern man die letztere in der Form Ein Mensch ist ein Gelehrter paraphrasiert. Daß jedoch das Prädi-
kat der negativen Aussagen Kein Mensch ist ein Stein bzw. Ein Mensch ist nicht ein Stein universal ist, läßt sich erst dann einsehen, wenn man zu der folgenden, „unnatürlichen“ Paraphrase übergeht: Jeder Mensch ist verschieden von jedem Stein, Ein Mensch ist verschieden von jedem Gelehrten. Leibniz hat dagegen ein allgemeines, quantorenlogisches Kriterium dafür gefunden, wann ein Term innerhalb einer Aussage universal bzw. partikulär vorkommt. Und es ist ihm auch gelungen, die fraglichen Regeln der Quantität und Qualität aus den Grundgesetzen der Begriffslogik in Strenge herzuleiten (für Einzelheiten vgl. Lenzen 1990 a; zur Theorie der Attribute vgl. Art. 3 § 3.). 2.3.
Vorarbeiten zur Charakteristik oder Universalsprache
2.3.1. Charakteristische Zahlen Leibniz hoffte, dereinst eine universelle Sprache oder Charakteristik erfinden zu können, „deren Zeichen oder Charaktere das gleiche leisten würden wie die arithmetischen Operationen bei den Zahlen“. In einer solchen Sprache würde „jedem Ding eine eigene charakteristische Zahl zugeordnet werden. […] Wenn die charakteristischen Zahlen […] erst einmal festgesetzt sind, wird das menschliche Geschlecht über eine neue Art von Organon verfügen, das die Kraft des Verstandes um vieles mehr verstärkt als die optischen Gläser den Augen geholfen haben“ (Leibniz 1875 ff, Bd. 7, 184⫺187). Dies war natürlich ein unerfüllbarer Wunschtraum, weil er es erlaubt hätte, die Wahrheit beliebiger, auch kontingenter Aussagen auf die Wahrheit arithmetischer Beziehungen zu reduzieren und somit unfehlbar ‘auszurechnen’. Immerhin hat Leibniz jedoch eine Möglichkeit entdeckt, mittels beliebig angenommener charakteristischer Zahlen die logische Wahrheit von Aussagen bzw. von Schlüssen entscheiden zu können: „Wenn irgendeine Aussage vorliegt, dann werden für jeden ihrer Terme, nämlich für das Subjekt und für das Prädikat, zwei Zahlen hingeschrieben, die eine mit dem Pluszeichen, ⫹, die andere mit dem Minuszeichen, ⫺, versehen. […] Dabei ist nur auf das Eine acht zu geben, daß die beiden Zahlen eines Terms keinen gemeinsamen Teiler haben.“ Dann kann man festlegen: „Die universal affirmative Aussage (zum Beispiel Jeder Weise ist fromm) ⫹70 ⫺33 ⫹10 ⫺3
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64. Zeichenkonzeptionen in der Logik
[…] ist wahr, wenn jede charakteristische Zahl des Subjekts (z. B. ⫹ 70 und ⫺33) durch die charakteristische Zahl des Prädikates mit dem gleichen Vorzeichen (⫹ 70 durch ⫹10 und ⫺33 durch ⫺3) exakt (das heißt so, daß kein Rest bleibt) geteilt werden kann. […] Die partikulär negative Aussage ist wahr, wenn die universal affirmative nicht wahr ist, und umgekehrt. Zum Beispiel
untereinander ebenso viele Geraden gezeichnet wie es Terme gibt, und die Aussagen werden durch die Verhältnisse der Geraden ausgedrückt, indem [nämlich] Gerade Gerade enthalten. Dabei muß man acht geben, daß nicht mehr ausgedrückt wird, als der Form nach billig ist. […] Universal affirmative Aussage Jedes B ist C
Ein Frommer ist nicht weise ⫹10 ⫺3 ⫹70 ⫺33 […] Die universal negative Aussage (zum Beispiel Kein Frommer ist elend) ⫹10 ⫺3 ⫹5 ⫺14 […] ist wahr, wenn irgendwelche zwei Zahlen verschiedener Terme mit verschiedenen Vorzeichen (wie ⫹10 und ⫺14, denn jene hat das Vorzeichen ⫹, diese das Minuszeichen, jene stammt vom Subjekt, diese vom Prädikat) einen gemeinsamen Teiler besitzen (⫹10 und ⫺14 lassen sich nämlich beide exakt durch 2 teilen). […] Die partikulär affirmative Aussage ist wahr, wenn die universal negative nicht wahr ist, und umgekehrt“ (Leibniz 1903, 78⫺80). Diese arithmetischen Bedingungen legen wie folgt einen Begriff der logischen Gültigkeit fest: „In diesem Kalkül lassen sich alle Modi und Figuren alleine durch die Rechenregeln beweisen. Wenn wir wissen wollen, ob irgendein [Schluß] formal gültig ist, müssen wir sehen, ob die Negation der Konklusion mit den Prämissen verträglich ist, d. h. ob sich Zahlen angeben lassen, die zugleich die Prämissen und die Negation der Konklusion erfüllen; wenn keine solchen gefunden werden können, ist das Argument formal schlüssig“ (Leibniz 1903, 247). Daß dies tatsächlich ein Modell für die Syllogistik darstellt, wurde zum erstenmal von Lukasiewicz (1951, § 34) verifiziert. 2.3.2. Liniendiagramme Mehrere Logiker haben unterschiedliche graphische Repräsentationen der kategorischen Satzformen erfunden, mit denen man die Gültigkeit von Syllogismen überprüfen kann. Ein erster Ansatz geht auf Leibniz zurück: „Ich habe einige Male darüber nachgedacht, wie man die Logische Form durch das Zeichnen von Linien überprüfen kann. Es werden
B ———— C ——————
[…] Universal negative Aussage Kein B ist C
B ———— C ————
[…] Partikulär affirmative Aussage Ein B ist C
B ———— C ————
[…] Partikulär negative Aussage Ein B ist nicht C B —————— C ————“ (Leibniz 1903, 292⫺293). Diese Darstellung läßt jedoch u. a. unklar, ob die universalen Satzformen die jeweiligen partikulären im Sinne der sogenannten Subalternation implizieren oder nicht. Dieses Problem wird erst durch die folgende Verbesserung gelöst: „Eine senkrechte Linie bezeichnet die Grenzen, außerhalb welcher sich die Terme nicht, aber innerhalb welcher sie sich unbeschadet der Aussage, d. h. der Begriffsbeziehung, erstrecken können. So wie eine senkrechte Linie das Maximum bezeichnet, so bezeichnet eine doppelte waagrechte Linie das Minimum, d. h. das, was nicht unbeschadet der Begriffsbeziehung weggenommen werden kann“ (Leibniz 1982, § 113). Das frühere Diagramm für die universal affirmative Aussage soll also dadurch verbessert werden, daß man die B-Linie beiderseits durch senkrechte Striche eingrenzt und zugleich das darunter liegende Stück der C-Linie doppelt zeichnet: Jedes B ist C
B |————| C ————— ——————
Bei der partikulär affirmativen Aussage ist entsprechend der „Durchschnitt“ beider Linien doppelt zu zeichnen: „Ein B ist C […]
1266
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
—— B ———— —— C ————“ (Leibniz 1982, § 114).
III. In besonders bejahenden Sätzen: Einige A sind B, fällt ein Theil des Zirkels A in den Zirkel B:
Die Darstellung der universal negativen Aussage kann praktisch unverändert übernommen werden: „Die Negation von Ein B ist C […] wird so ausgedrückt: B ————| C |————“ (Leibniz 1982, § 120). Das Diagramm der partikulär negativen Aussage schließlich soll zum Ausdruck bringen, daß das „Minimum“ von B disjunkt ist mit dem Umfang des Begriffs C, also außerhalb des „Maximums“ von C liegt: „[D]ie Negation von Jedes B ist C wird so ausgedrückt: —— B ———— C |————“ (Leibniz 1982, § 121). Mit diesem verbesserten Ansatz können nicht nur die traditionell als gültig angesehenen Syllogismen, sondern auch die Oppositions-, Konversions- und Subalternationsgesetze verifiziert werden (vgl. Lenzen 1990, Kap. 1). 2.3.3. Kreisdiagramme Bereits Leibniz hatte neben den Linien- auch Kreisdiagramme in Betracht gezogen. Der „locus classicus“ für diese Variante ist jedoch (Euler 1769 ff, 114⫺115): „I. Die Vorstellung eines allgemein bejahenden Satzes wird also diese seyn:
A B
[…] IV. Endlich was die besonders verneinenden Sätze betrifft, Einige A sind nicht B, so muß ein Theil des Zirkels A außer dem Zirkel B fallen, wie hier
A
B
Mit diesen Kreisdiagrammen, die sich vor Euler bereits bei Lange (1712) finden lassen, sind ähnliche Probleme wie mit den einfachen Liniendiagrammen von Leibniz verbunden, die Gergonne (1816) zu der folgenden Verbesserung führte: Eulers Diagramm für die partikulär affirmative Aussage wird so interpretiert, daß A und B einen gemeinsamen Durchschnitt besitzen, aber weder A in B enthalten ist noch umgekehrt. Eulers Darstellung der universal affirmativen Aussage wird hingegen so verstanden, daß A eine echte Teilmenge von B ist; daneben benötigt Gergonne nun zusätzlich die konverse Relation:
B
A
.“
A
B
sowie die durch
II. Für allgemein verneinende Sätze werden die beyden Zirkel A und B […] voneinander abgesondert, und also vorgestellt:
A
B
AB
symbolisierte Beziehung des Zusammenfallens von A und B. Auf der Grundlage dieser modifizierten Beziehungen transformiert sich die traditionelle Syllogistik in die Theorie der
1267
64. Zeichenkonzeptionen in der Logik
Gergonne-Syllogismen, die zum Beispiel von Faris (1955) ausführlich untersucht wurde (siehe auch May 1995). 2.4. Quantifikation des Prädikates W. Hamilton hat versucht, die Prädikatbegriffe der syllogistischen Satzformen durch die Quantorausdrücke alle bzw. einige zu modifizieren. An Stelle der universal affirmativen Aussage, die im Englischen entweder durch Every A is B oder durch All A are B ausgedrückt werden kann, sollte zum Beispiel All A is all B bzw. All A is some B treten. Versteht man das Wort all in einem kollektiven Sinn, so besagen diese Formeln, daß die ganze Menge A mit der ganzen bzw. mit einem Teil der Menge B zusammenfällt. Entsprechend drückt Some A is all B bzw. Some A is some B aus, daß ein Teil der Menge A mit dem gesamten bzw. mit einem Teil von B zusammenfällt. Bednarowski (1956) hat gezeigt, daß diese Deutung zu einer Variante der Gergonne-Syllogistik führt, bei der jedoch die von Hamilton (1866, Bd. II, 258 ff) zusätzlich erwähnten negativen Formeln Any A is not any B, Any A is not some B, Some A is not any B bzw. Some A is not some B keinen vernünftigen Sinn machen. Diese verlangen stattdessen eine distributive (auf Einzeldinge bezogene) Deutung, wie sie schon Leibniz in Betracht gezogen hatte. Fügt man bei den affirmativen Aussagen vor dem Prädikat den Existenzquantor ein ein, so besagt Jedes A ist ein B bzw. Ein A ist ein B, ‘daß jeder beliebige von denen, die A genannt werden, identisch ist mit einem von denen, die B genannt werden’ bzw. ‘daß irgendeiner von denen, die A genannt werden, identisch ist mit einem von jenen, die B genannt werden’. Die negativen Aussagen Jedes A ist nicht ein B bzw. Ein A ist nicht ein B bedeuten entsprechend, daß jeder beliebige bzw. zumindest „ein gewisser von denen, die A genannt werden, verschieden ist von jedem beliebigen derer, die B genannt werden“ (Leibniz 1903, 193). Darüber hinaus sind nun auch die affirmativen Formeln mit einem Allquantor vor dem Prädikat: Jedes A ist jedes B bzw. Ein A ist jedes B durchaus sinnvolle, wenngleich in der Regel falsche Aussagen. Man muß sie nämlich analog so verstehen, daß alle bzw. einige von denen, „die A genannt werden, identisch sind mit allen, die B genannt werden“, und das ist nie der Fall, außer wenn es nur genau ein B gibt. Entsprechend werden die negativen Formeln Jedes A
ist nicht jedes B bzw. Ein A ist nicht jedes B trivialerweise wahr: „Es wäre unnütz zu sagen, […] jeder beliebige von denen, die A genannt werden, ist verschieden von irgendeinem jener, die B genannt werden, das versteht sich nämlich von alleine, außer wenn B ein Einziger ist“ (Leibniz 1903, 194).
3.
Die Ideen zur Logik von Leibniz
3.1. Die Algebra der Begriffe Die universal affirmative Aussage wurde bereits von Aristoteles intensional als Beziehung zwischen Begriffen gedeutet, daß nämlich der Begriff A den Begriff B enthält. Diese durch AeB zu symbolisierende Relation der Inklusion stellt das erste Element der Algebra der Begriffe dar. Als seine wesentlichen Eigenschaften erkannte Leibniz die Reflexivität (AeA) sowie die Transitivität (AeB & BeC → AeC). Auch das zweite Element der Begriffsalgebra geht auf Aristoteles zurück: die Begriffsnegation Non-A oder formal ⬃A. Die wichtigsten Gesetze hierfür, insbesondere das der doppelten Verneinung (⬃⬃A⫽A) und das der Kontraposition (AeB ↔ ⬃Be⬃A), wurden allerdings erst in der Scholastik formuliert, die übrigens auch die universal negative Aussage gemäß dem Prinzip der sogenannten Obversion auf die entsprechende affirmative Aussage mit negativem Prädikat (Ae⬃B) reduzierte. Ein einziger weiterer logischer Operator reicht aus, um eine konzeptuell vollständige Algebra der Begriffe zu erzeugen: die Begriffskonjunktion A und B, formal AB. Ein paar einfache Gesetze hierfür finden sich zum Beispiel bei Jungius (1638), der sich nach Ashworth (1967) teilweise auf frühere Autoren stützen konnte. Die entscheidende Ausarbeitung gelang erst Leibniz, der neben den Gesetzen der Symmetrie (AB⫽BA) und der Idempotenz (AA⫽A) insbesondere das folgende Grundgesetz formulierte: AeBC ↔ AeB & AeC: „Daß A B enthält und daß A C enthält ist das gleiche, wie daß A BC enthält“ (Leibniz 1982, § 35). Mit den genannten 3 Operatoren lassen sich zahlreiche andere Elemente der Begriffsalgebra definieren, u. a. die Identität (A⫽B ↔ AeB & BeA), die Disjunktion bzw. das Kommune zweier Begriffe (A∨B⫽df ⬃(⬃A⬃B)) sowie die Widerspruchsfreiheit oder Möglichkeit eines Begriffs (M(A) ↔ ÿ(Ae⬃A)). Zusammen mit Begriffs-Inklusion, Negation und Konjunktion geht dieser systematisch
1268
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
bedeutsame Operator in das folgende Fundamentalprinzip ein: AeB ↔ ÿM(A⬃B). Mit den angeführten Gesetzen war Leibniz bereits 1686 eine vollständige Axiomatisierung der Begriffsalgebra gelungen, die isomorph ist zur üblichen Mengenalgebra (vgl. Lenzen 1984; siehe auch Wessel 1995). 3.2. Die Satzlogik Ähnlich wie Aristoteles die Syllogistik unter stillschweigender Voraussetzung elementarer satzlogischer Prinzipien entwickelte, hat auch Leibniz den allgemeineren Kalkül der Begriffslogik zunächst unter Voraussetzung gewisser aussagenlogischer Gesetze aufgebaut. Es kam ihm jedoch bald die Idee, Aussagen selber nach Art der Begriffe aufzufassen und die aussagenlogischen Gesetze im nachhinein in direkter Analogie zu den begriffslogischen Gesetzen zu gewinnen: „Wenn ich […] alle Aussagen nach Art der Begriffe und alle hypothetischen Aussagen nach Art der kategorischen auffassen und so alle einheitlich behandeln kann, so verspricht dies eine wunderbare Leichtigkeit in meiner Charakteristik […], und sie wird eine Erfindung von größer Bedeutung sein“ (Leibniz 1982, § 75). Hypothetische Aussagen nach Art der kategorischen aufzufassen, bedeutet dabei, die Wenn-dann-Beziehung zwischen Sätzen analog zur Inklusionsbeziehung zwischen Begriffen zu verstehen, so daß sich die Gesetze für ,e‘ in Gesetze für ,→‘ transformieren: „Was auch immer über einen Begriff gesagt wird, der einen anderen Begriff enthält, das läßt sich auch über eine Proposition sagen, aus der eine andere Proposition folgt“ (Leibniz 1982, § 189). Auf diese Weise erhält man aus den Gesetzen für ‘e’ zunächst entsprechende Prinzipien der Reflexivität (a→a) und der Transitivität ((a→b) & (b→g) → (a→g)) der Satzimplikation. Außerdem ergeben sich aus den obigen Prinzipien der Begriffskonjunktion analoge Gesetze der Symmetrie (a& b ↔ b&a) und der Idempotenz (a&a ↔ a) der Satzkonjunktion; ferner gehen die Grundgesetze der doppelten Verneinung und der Kontraposition vom Bereich der Begriffe unmittelbar in den Bereich der Sätze über: ÿ ÿa ↔a bzw. (a→b) ↔ (ÿb →ÿa). Schließlich gewinnt man aus dem oben erwähnten Gesetz AeB ↔ ÿM(A⬃B) das satzlogische Pendant (a→b) ↔ ÿ앳(a&ÿb) gemäß dem Gedanken: „A enthält B ist eine wahre Aussage, wenn A Non-B einen Widerspruch impliziert. Das trifft sowohl auf kategorische als auch auf hypothetische Aussagen zu“ (Leib-
niz 1903, 405). Hier zeigt sich besonders deutlich, daß die Folgerungsbeziehung bei Leibniz immer eine strikte oder logische, und nicht eine bloß materiale Implikation darstellt. Für weitere Einzelheiten vgl. Lenzen (1987). 3.3. Die Quantorenlogik Leibniz hat in den reiferen Entwürfen eines allgemeinen Kalküls neben den Begriffskonstanten A,B,C,… auch Begriffsvariable („unbestimmte Begriffe“) betrachtet, die implizit durch entsprechende Quantoren abgebunden werden. So fungiert etwa Y in der Formel A⫽YB für die universal affirmative Aussage als Existenzquantor, d. h. im Sinne von Y(A⫽BY), denn: „A enthält B ist dasselbe wie A fällt zusammen mit einem gewissen B, d. h. A⫽BY“ (Leibniz 1982, § 16). Daneben benutzte Leibniz gelegentlich auch „unbestimmte Begriffe“ in der Funktion von Allquantoren, die er durch eine spezielle ⫽, Symbolik zu unterscheiden versuchte: „Y d. h. der unbestimmte [Begriff] mit einer Linie, bedeutet für mich ‘jeder beliebige’; Y ist ⫽ ist jeder beliebige“ ein unbestimmtes, Y (Leibniz 1982, § 81). Ein typisches Gesetz mit einem Allquantor lautet: „A enthält B ist dasselbe wie zu behaupten ‘Wenn X A enthält, so folgt, daß auch gilt X enthält B’“ (Leibniz 1903, 260), formal: AeB ↔ X(XeA → XeB). Mit Hilfe des Allquantors kann man dann Individualbegriffe auf rein logische Weise als vollständige (und widerspruchsfreie) Begriffe auszeichnen: „Manche Terme bezeichnen [einzelne] Dinge, andere [… allgemeine] Begriffe. So bezeichnen die Terme gelehrt, A, und reich, B, [allgemeine] Begriffe, und wenn man diese beiden setzt, folgt nicht, daß man zwei [verschiedene] Dinge gesetzt habe; und es kann passieren, daß YA⫽XB ist, d. h. daß ein gewisser Gelehrter derselbe ist wie ein gewisser Reicher. Wenn A jedoch Alexander den Großen bezeichnet, B hingegen den Diktator Caesar, dann kann so etwas nicht geschehen, denn wenn A und B [einzelne] Dinge sind, so folgt, gesetzt A ist nicht ⫽ B, daß auch YA nicht ⫽ XB ist. Der Grund hierfür ist, daß A und B vollständige Terme sind, in denen bereits alles enthalten ist, was man ihnen [konsistenterweise] hinzufügen kann, und es ist YA⫽A“ (Leibniz 1982 a, 133). Die letztere Bestimmung besagt sinngemäß, daß bei einem Individualbegriff A für jeden beliebigen ⫺ mit A verträglichen ⫺ Begriff Y gilt YA⫽A, d. h. AeY. Mit I(A) als Abkürzung für A ist ein Individualbe-
64. Zeichenkonzeptionen in der Logik
griff ergibt sich formal I(A) ⫽df M(A) & Y(M(AY) → AeY), wobei die triviale Bedingung hinzugefügt wurde, daß A selber widerspruchsfrei ist. Auf diese Weise wird Leibnizens Kalkül zu einer Begriffslogik zweiter Stufe, denn man kann eine neue Sorte von über Individuen (bzw. genauer: über Individualbegriffe) laufenden Quantoren per Definition einführen. Für Einzelheiten sei auf (Lenzen 1990, Kap. 3) verwiesen.
1269
Kneale, William und Martha (1962), The Development of Logic. Oxford.
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1270
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
65. Sign conceptions in the philosophy of language from the Renaissance to the early 19th century 1. Preliminary remarks 2. The discovery of the mother tongue and the semiotic tradition 2.1. “Locutio naturalis” versus “locutio artificialis” 2.2. Dante’s semiotics 3. The revival of Latin and the appearance of a new semiotics 3.1. The historicity and peculiarity of Latin 3.2. Valla’s semiotics 4. The victory of the vernacular and the return to the semiotic tradition 4.1. The victory of the vernacular 4.2. The defense of the national languages 5. In search of the lost universality 5.1. Historicity and universality 5.2. General Grammar and Cartesian semiotics 5.3. “Lingua adamica” I: the Ur-language 5.4. “Lingua adamica” II: the characteristica universalis 6. On the way to a semantics of individual languages: worldviews 6.1. Arbitrary ideas 6.2. Cognitive function and the artificiality of the sign 6.3. Worldviews (“Weltansichten”) 7. The semiotics of origin 7.1. The biblical tradition 7.2. Beyond the Bible 7.3. From conjectural diachrony to transcendental origin and to history 8. The word between sign and symbol 9. Selected references
1.
Preliminary remarks
In the period between Dante and Humboldt there was neither a discipline nor a direction of philosophical investigation that could be called “philosophy of language”. Indeed, the term “philosophy of language” is barely used during this time. Herder is probably the first ⫺ and only one ⫺ to even use the expression; even Humboldt, who at the end of the time span under discussion quite clearly practices what we today would call “philosophy of language”, does not use the term per se. Nonetheless, philosophical reflections on language are contained within various philosophical, poetological, political, logical, religious, and linguistic writings of this era, and the historical progression of these various theories leads directly to the establishment of the discipline “philosophy of language”: Dante’s and Du
Bellay’s reflections on language, for example, are situated within the framework of a poetics; Speroni’s tract is part of a “cultural political” discussion; Hobbes’, Locke’s, and Condillac’s treatises are clearly “philosophical”; while Humboldt wanted to practice linguistics, rather than philosophy. Thus, philosophy of language like semiotics and aesthetics ⫺ as Eco (cf. Art. 34) has shown ⫺ develops implicitly in other fields, ante litteram, unknown to itself, under other headings. Hence, the difficulty of this article lies in the fact that it tries to work out semiotic conceptions from the as yet unoutlined field of “the philosophy of language”, which is just now developing, and to relate these conceptions to the even more vaguely outlined domain of “semiotics”. This article will necessarily overlap with the articles on semiotic conceptions in Philosophy (62), Grammar, Rhetoric and Poetics (67), Logic (64) and Religion (72), and the reader is referred to these articles. The era stretching from Dante to the beginning of the nineteenth century encompasses a half-millenium. European thought needed these 500 years in order to clarify some of the essential questions posed in that triangle of Being, Thought, and Language which, according to Eco, Aristotle had bequested to European thought as a semiotic exercise. From the point of view of philosophy of language, this time period represents a unified era insofar as Dante stands at the beginning of a series of reflections on the diversity of languages ⫺ arising in opposition to the universal language of the Middle Ages ⫺ that comes to a certain conclusion with Humboldt. It is the era of the “discovery of the mother tongue”, as Weisgerber (1948) called it (cf. Art. 77 § 9.3.). The main problem addressed during this time is the question of the place and function of the so-called “natural” languages, i. e., of the individual historical languages, in man’s mastering of the world. The discovery of individual historical languages means recognition of the profound semantic differences among human languages and, bound up with that, insight into the cognitive function of language, into the linguistic nature of thought. At least since Augustine, and thus for all Western thought, language has unquestioningly been subsumed under the category of
1271
65. Sign conceptions in the philosophy of language
the signum, the sign (Eco 1984, 33). The increasingly exact insight into the diversity of languages ⫺ which since Aristotle has been discussed essentially only from the perspective of the arbitrariness (“kata` synthe˘ ke¯n”, kata¡ synuh¬khn) of material words ⫺ makes it necessary to revise the semiotic status of language during the time period under consideration.
2.
The discovery of the mother tongue and the semiotic tradition
2.1. “Locutio naturalis” versus “locutio artificialis” In his treatise De vulgari eloquentia Dante (1265⫺1321) is concerned with justifying the writing of poetry in the mother tongue rather than in Latin, and with investigating which of the available Italian “vulgar” languages would be suitable for this poetic composition. The opposition between Latin (or “grammatica”) and the “vulgar tongue” is first conceived of as an opposition between “locutio artificialis” and “locutio naturalis”, where the “locutio naturalis” is the language learned from the environment and from the nanny (not from the mother! ⫺ although the term “materna locutio” does eventually appear). Thus, it is an opposition between a language transmitted without wilful intervention (and in this respect non-arbitrary) and a language brought into fixed rules by scholars. “Naturalness” also means that the language changes in space and time, while the “grammatica” is immutable, set down once and for all, translocally and transtemporally. Thus, at the beginning of modern European thought about the diversity of languages we find the experience and the reflection of a diaphasic and stylistic differentiation of languages. The diversity of the languages themselves is primarily sought, quite in accordance with tradition, in the differences between the material words, the signifiers (to which different values are attributed). In addition, the languages differ with regard to their rhetorical and aesthetic qualities. These two differentiating factors ⫺ the material-lexicological and the rhetorical one ⫺ will remain the parameters for the comparison of languages until the beginning of the 19th century, when the “internal structure” of language (F. Schlegel) moves into the center of comparative linguistics. Dante does not yet go so far as to see the semantic diversity of languages, since the
different “languages” that he discusses, i. e., the “vulgar” Latin dialects, are much too closely related for him to have distinguished such differences. Dante’s petition for a “high” vernacular literary language does not have any immediate echo, since Humanism ⫺ the revival of classical studies and the linguistic norms of classical Latin ⫺ arose at the same time and suppressed this publicity for the “vulgar tongue”. Not until two hundred years later in the cultural-political battle for the Italian literary language would these initiatives be introduced again. 2.2. Dante’s semiotics Dante’s search for the “illustrious” mother tongue suited for poetry is built on the traditional Aristotelian theory of signs transmitted by Thomas Aquinas. Thus, in Dante the Latin formula introduced by Boethius for Aristotle’s “kata` synthe˘ ke¯n”, namely “secundum placitum”, is just as self-evident (cf. Coseriu 1967) as is the subsumption of the word under the class of sign (“signum”), which had been commonplace since Augustine. Dante bases the question of the semiotic structure of language on man’s position in the world. He places the “animal rationale” between the animals and the angels. The incorporeal angels understand each other via the “speculatio spiritualis”, the direct mirroring of their spirits. Animals understand each other via corporeal gestures, with which they depict “passiones” directly. Human beings need sensiblerational signs in order to communicate their ideas (“conceptiones”) to each other (the purpose of signs here is, quite traditionally, communication): “rationale signum et sensuale”. The sign is sensible in that it is a sound (“in quantum sonus est”); rational insofar as it “evidently means something arbitrarily” (“rationale vero in quantum aliquid significare videtur ad placitum”; De vulg. el. I,III). “Ad placitum” (or “a nostro beneplacito”, I, IX) refers in traditional Aristotelian manner to the relationship between the material sign and the concept (“conceptio”).
3.
The revival of Latin and the appearance of a new semiotics
3.1. The historicity and peculiarity of Latin Decisive insights into the structure of language arise within the framework of the Humanist revival of Latin, since the Humanist objective of the return to classical standards
1272
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
makes the historical change of Latin evident (cf. Art. 63 § 2.). In Humanism the experience of the diachronic differentiation of language leads to an increased understanding of the semiotic structure of language. Moreover, the new influence of Plato brought about by this renewal of Greek studies also begins to shake up the predominantly Aristotelian semiotics of the late Middle Ages. According to Waswo (1987, 111), Lorenzo Valla (1407⫺1457) is the first to contradict the dominant Western conception of language as a communicative, instrumental nomenclature which represents objects. Meaning is no longer equated with the signified object. Language no longer represents reality; rather it constitutes a reality made by man. Thus, language is the second creation of the world, as it were, the ingenious invention (“ingeniosum inventum”; Gerl 1974, 225). To be sure, it is characteristic that this semantic insight of Valla’s only refers to Latin, and is in no way bound up with a linguistic relativism, but rather with giving precedence to a religiously elevated Latin, the “Latini sermonis sacramentum” (Gerl 1974, 243). Juan Luis Vives (1492⫺1540), whom Coseriu (1969, 139) presents as a typical representative of Renaissance linguistic thought, adopts Valla’s new semantic conception ⫺ although not in its complete radicalism ⫺ and expands its applicability: Linguistic meaning is not referential; it is created socio-historically; meaning (“significare”) is “being said in different respects” (“dici secundum respectum”). Vives, however, still does not know what concretely makes up the peculiar character of each language (“proprietas, quod a Graecis idı´oma dicitur”; Coseriu 1971, 240). Vives has not only the classical languages in mind, but other languages as well. Indeed, he already argues for the maintenance of the mother tongue (the “lingua patria”) ⫺ a remarkable novelty in the Humanist era (Coseriu 1971, 240). 3.2. Valla’s semiotics It is characteristic that the opposition between “given by nature” and “made by man” moves into the center of the semiotic discussion of the word (cf. Art. 40 § 3.2.). Valla’s position is best characterized by the following quotation: “Even if the sounds are given by nature, the words and the meanings are given by the creator: of these, the ear perceives the sounds, the mind perceives the meanings, both perceive the words” (“Ut soni
sint a natura, voces autem et significationes ab artifice: quorum sonos auris, significationes animus, voces ambo percipiunt”; Dial. I. xiv, 676). On the one hand meanings are considered to be created by man, by the maker himself: “ab artifice” or “ab institutione”. Thus, in a certain sense “arbitrariness” is extended to meaning, i. e., the subject’s active role in cognition is strengthened and seen as a linguistic component. In the Aristotelian tradition the “kata` synthe˘ ke¯n” (which corresponds to “ab institutione”) referred only to the signification-relation (of the signs to the content of consciousness), and not to the cognitionrelation (of the content of consciousness to the objects), which was thought of as a relation of universal images (homologies) to the objects. On the other hand, the naturalness of the “vox” is strongly emphasized in opposition to its traditional arbitrariness. The spiritual-corporeal double nature of the “vox” proves to be a natural-artificial double nature. The word is both: natural tones perceived by the ear (Aristotle’s “agra´mmatoi pso´phoi”, agra¬mmatoi co¬foi) as well as artificial meaning, made by man and perceived by the mind, so that it is perceived by both (“voces ambo percipiunt”): “Vox humana naturalis illa quidem est, sed eius significatio ab institutione descendit” (Dial. I. xiv, 676). As a further element of the “naturalness” of words, Valla emphasizes a “certain” (“quasi”) iconicity of words: “voces sunt quasi imagines significationum”. Valla thus goes against tradition in emphasizing the artificial character of meaning, at the same time stressing the “naturalness” of the material words, which had traditionally been conceived of as arbitrary (cf. Art. 67 § 2.2.). Not until Humboldt would linguistic theory once again determine so exactly the semiotic place of the word between sign and image (see § 8. below).
4.
The victory of the vernacular and the return to the semiotic tradition
4.1. The victory of the vernacular The 16th century sees the decisive breakthrough of national languages (cf. Art. 67 § 2.3.). This breakthrough took on different forms in accordance with the traditions of the various European countries. Court and popular literature, as well as the religious discussions in the Reformation controversies, and increasingly also the various branches of the general and technical sciences use the var-
1273
65. Sign conceptions in the philosophy of language
ious national languages rather than Latin. Political organization is now explicitly bound to the language of the people in that country. In 1492, the year in which America was discovered and Granada was reconquered, Antonio de Nebrija (1441⫺1522) presents his Castilian grammar to the Queen with an indication of the political, imperial usefulness of his work: “siempre la lengua fue compan˜era del imperio” (“language has always been a companion of the empire”; Nebrija 1492 ⫽ 1980, 97). Furthermore, the states’ administrations explicitly renounce Latin. Franc¸ois I, for example, decrees in the Edict of VillersCottereˆts (1539) that France will use the “langage maternel franc¸ois”, and not Latin in all official proceedings and documents. The discovery of the printing press effectively secures the national distribution of these vernacular writings. Protestantism, founded on the return to the text of the Bible (“scriptura sola”), resolutely promotes literacy in the national languages (cf. Art. 33 § 3.3.1.). The diastratic and sociological opposition between Latin and the vernacular, which is considered to be intolerable, has now become the movens of linguistic reflection. 4.2. The defense of the national languages The process of emancipating the national languages in 16th-century Europe is supported everywhere by a propaganda program of written defenses which, like the most famous of them, Du Bellay’s Deffence et Illustration de la Langue Franc¸oyze (1549), are based on Sperone Speroni’s Dialogo delle lingue (1542). While this dialogue brings to a head positions of the “questione della lingua” which had only been discussed in Italy in this manner, it also contains the basic problematics at stake in the entire Western culture: namely, the question of the relationship of modern languages to the revived linguistic culture of Antiquity. Whereas traditional Humanism assigns to poetry and to “elevated” linguistic activities the exclusive use of Latin, the modern mindset, conditioned by courtly fashions and by natural sciences, demands the use of the vernacular, i. e., the real spoken language (“locutio naturalis”) for literary and scientific purposes. Between these two extremes is the position of the so-called “umanesimo volgare”, which, following the model of the classical “imitatio”, calls for an imitation of the “vulgar” classics ⫺ at least for poetry. What is remarkable about this constellation is that the “modern” side pro-
moting the vernacular is also the side of the “old” ⫺ i. e., Aristotelian ⫺ semiotic theory. Propounding a universal identity of meanings, it argues for tolerance of the diversity of arbitrary signifiers: Every language is capable of expressing everything, therefore the use of the old language, Latin, is an unnecessary impediment that only perpetuates the outdated social privileges of the academic caste. The “outmoded” learned position under attack here did not only cling to the classical languages because of the great stature of the antique writers, but also because it was convinced of the special semantic qualities of these languages, which in explicit ⫺ if perhaps not justifiable ⫺ reference to Plato made it appear doubtful that everything could be expressed in all languages equally well. Du Bellay’s De´fense is interesting precisely in its semiotic inconsistency. On the one hand he explicitly adopts the “Aristotelian” position of Speroni’s dialogue as his own (all languages are equal and differ only materially), yet in his eulogizing of French Du Bellay cannot completely forego a “Platonic” allusion to the specific ⫺ even if only connotative ⫺ peculiarities of the vernacular languages (“je ne sais quoi propre seulement a` elle”; Du Bellay 1549 ⫽ 1904, 88).
5.
In search of the lost universality
5.1. Historicity and universality Waswo (1987, 85) points out that despite the insights of Valla or Vives into the historicity and individuality of languages, and despite the changes in the linguistic practices of the European peoples, these reflections on language tend to lie fallow and do not produce a new linguistic conception of the Renaissance period as a whole. Rather, the Renaissance still remains largely rooted in the “Aristotelian” tradition (e. g., Scaliger), which the rationalist and enlightened discussion can continue without break (cf. Art. 62 § 7.1.). Indeed, it follows from Speroni’s dialogue that in each case the different linguistico-political program is, in a manner of speaking, bound to the “wrong” semiotic theory: The universalist propaganda for Latin is bound to the insights into the semantic individuality of languages and the cognitive function of language; while the triumphant propaganda for the individual national language is bound up with the universalist “Aristotelian” concep-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
tion of language as a set of arbitrary signs serving the purpose of communication. It must be pointed out that in spite of the prevailing universalism, it can in no way be construed that historical understanding was exhausted in the 17th century and did not surface again until the end of the 18th century. Aarsleff (1975) has emphasized that documentation of historical empirical material increases extraordinarily in the 17th century, and thus presents a strong counterweight to ahistorical rationalism. The empirical anthropology emerging in the 18th century tries to draw scientific conclusions from material gathered in the 17th century, and one of the results of this research is the establishment of the discipline of linguistics. Of course, reference must also be made to philosophers like Leibniz, who regards the diversity of the historical-empirical as manifestations of the human spirit which are worthy of investigation; and to the philologicalhistorical insights that Giambattista Vico (1668⫺1774) sets against Cartesian universalism. By the 17th century the linguistic diversity of Europe is a fait accompli. The Latin universality of the Middle Ages endures only in a few academic enclaves. The lost linguistic catholicity leaves behind an obvious yearning for unity, and there are various attempts to satisfy this yearning. For instance, the comparatively short-lived rise of French to the new universal language of Europe, “la langue Soleil”, begins. Similarly, General Grammar searches for the common factor behind the diversity of languages. Both the reconstruction of the Ur-language from existing languages and the project of the construction of a new universal language are efforts to find the lost universality of the “lingua adamica”. 5.2. General Grammar and Cartesian semiotics The stated intention of the Grammar of PortRoyal (1660) is to explicate the common elements of all languages (“les raisons de ce qui est commun a` toutes les langues”), as it is announced in the title of the Grammaire ge´ne´rale et raisonne´e. The Port-Royal Grammar is the starting point of a whole series of General Grammars, those of Beauze´e (1767), Condillac (1775), Domergue (1799), Thie´bault (1802), Destutt de Tracy (1803), and Bernhardi (1801⫺3 and 1805), to mention a few. The semiotics underlying the Grammaire ge´ne´rale and realized in the Logic of Port-Royal
(1662⫺83) is an Aristotelian sign theory augmented by the Augustinian-Cartesian duality of body and mind. Descartes himself (1637) had granted language, which for him serves only communicative purposes, merely the function of being a “witness” for the presence of thought in man. This is why the PortRoyal Logic (which sets the Cartesian-Augustinian “intellection pure” of incorporeal, pure thought against the empiricist genesis of thought from sensible-corporeal “ideas”) sees words only as a means of communication: they do not belong to pure incorporeal thought, but can be appended to thought as a necessary bodily evil. As materially appearing entities they are bound up with ideas by habit (“accoutumance”). This connection between sound and idea is “arbitrary” (“d’institution et d’e´tablissement”; Logique I. iv), i. e., without a necessary, or perhaps iconic connection. Ideas, however, are in no way arbitrary: “c’est une chose purement arbitraire, que de joindre une telle ide´e a` un tel son plutoˆt qu’a` un autre; mais les ide´es ne sont point des choses arbitraires, et qui de´pendent de notre fantaisie” (Logique I. i). This essentially traditional Aristotelian semiotic theory of language, which transfers the strict mind-body division to the division between word and idea, is not an innovation of the Port-Royal Logic. What is new here is the return to Stoic semiotics, which in a certain sense annuls this mind-body division. As in Stoic semiotics, the sign is identified as a double-sided unity of the ideas of the “representing” and the “represented” thing. This conception of the sign is not repeated again until Hegel (cf. Art. 74 § 5.), and it is from here that Saussure (cf. Art. 101) later adopted his terminology: “Ainsi le signe enferme deux ide´es: l’une de la chose qui repre´sente; l’autre de la chose repre´sente´e; et sa nature consiste a` exciter la seconde par la premie`re” (Logique I. iv). The sign as a double-idea is a psychological entity which surpasses the material realities of both things (“choses”), the represented object and the concretely appearing signifier. According to Hegel (1830), intelligence, “by making its own that bond which is the sign”, turns “the intuition which the name is initially, into a representation, so that the content, the meaning, and the sign are identified and become One representation“ (“die Intelligenz, jene Verknüpfung, die das Zeichen ist, zu dem Ihrigen machend, macht die Anschauung, welche der Name zunächst ist, zu einer Vorstellu ng, so daß der Inhalt, die Be-
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deutung, und das Zeichen identifiziert, Eine Vorstellu ng sind”; Hegel 1830 ⫽ 1970, § 461). 5.3. “Lingua adamica” I: the Ur-language Leibniz (1646⫺1716), who against Locke considers the multiplicity of human languages as “the best mirror of the human spirit” (“le meilleur miroir de l’esprit humain”) in the “marvelous variety of its operations” (“la merveilleuse varie´te´ de ses ope´rations”; Nouv. Ess. III. vii, 6 and ix), and who was a proponent of the use of the vernacular, nevertheless thought the reconstruction of an onomatopoeic iconic original language from existing languages to be possible. He himself presented such onomatopoeic Ur-roots, which in his opinion the Adamic language had also exhibited (cf. Leibniz 1710). Not only is this the beginning of reconstructive attempts in historical comparative linguistics ⫺ which now, as ever, are motivated by the search for the lost unity hidden behind diversity ⫺ it is also a renewed attempt to criticize the dominant Aristotelian sign theory. When Leibniz states that signifiers were originally iconic, this is a recourse to Kratylos’ position in the Platonic dialogue of the same name (cf. Art. 40 § 3.2.1.). 5.4. “Lingua adamica” II: the characteristica universalis From the experience of the diversity of languages it becomes increasingly clear that natural languages ⫺ to put it negatively ⫺ present “significations confuses” (Descartes), that as “mist before our eyes” (Locke) they do not afford a clear view of the world, that they transmit “ide´es inde´termine´es” (Condillac). Even if they are ⫺ seen positively ⫺ the best mirror of the marvelous variety of the human spirit, the philosophical-scientific yearning for clear and distinct ideas apparently remains unfulfilled in the medium of the natural languages. Just as historical reconstruction tries to restore the “natural”, iconic, and therefore true origin covered over by historical development, a newly constructed “lingua adamica” would strive for the “correct” signification of clear and distinct ideas. Rene´ Descartes (1596⫺1650) considers such a philosophical universal language based on an analysis of the world via the “vraie philosophie” possible, but not practically achievable. Nonetheless, this Cartesian idea was already taken up in the 17th century in corresponding concrete suggestions (e. g.,
by Bishop John Wilkins and George Dalgarno). In this respect, too, Leibniz’s linguistic thought, in complete sympathy with the rich diversity of human languages, remains oriented to the unity behind diversity, to the possibility of the construction of an ⫺ at least written ⫺ universal scientific language, of a “characteristica universalis”, which he sometimes explicitly calls the “lingua adamica” (cf. Art. 62 § 7.2. and Art. 64 § 2.3.). Analogous constructions of a universal written language of concepts (“Begriffsschrift”) have been attempted up until the present (cf. Articles 102 and 175). Humboldt, who sees man and his thought set in language, and that means simultaneously in the historical relativity of a language (which, however, he can transcend in many ways; cf. Art. 77 § 1.), considers, as does Hegel, these attempts to try to place man outside language to be futile.
6.
On the way to a semantics of individual languages: worldviews
In the 17th and 18th centuries, after the experiences of diaphasic, diachronic and diastratic linguistic differentiation, Europeans acquire increasing knowledge about the diatopic diversity of human languages. This knowledge, gained through the colonial subjugation of the other continents of the world, promotes an increasingly exact formulation of the semiotic particularity and function of language. It is no coincidence that John Locke (1632⫺1704) is one of the first to refer to languages of the New World in a theoretical linguistic context (“the Caribbee or Westoe tongues”; Essay III. v, 8), and indeed within the context of a discussion of how individual languages shape very different types of thought in various peoples. Humboldt has frequently said that a linguistic theory which sees language as a set of arbitrary signs serving the purpose of communication is an inadequate description of the essence of language and is detrimental to the study of languages. Linguistic research, according to Humboldt, is only interesting when it investigates the “participation of language in the formation of ideas” (“den Antheil der Sprache an der Bildung der Vorstellungen”; VI, 119). In other words, linguistic research should recognize that language has a cognitive function and that the “formation of ideas” works differently in each language; i. e., that the di-
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versity of languages is not only a diversity of sounds, but a “diversity in worldviews” (“eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst”; IV, 27). In rationalist linguistic theory ⫺ by virtue of its traditional Aristotelian semiotic basis ⫺ the insight into the diversity of languages is reduced to the traditional understanding of the difference among languages as a difference in sounds. Yet while Locke explicitly propounds the same sign theory according to which ideas are bound up with the words “arbitrarily” or “voluntarily”, and for which the function of language is first and foremost communication, in a discussion of these “ideas” he nonetheless comes close to the insight into the individual structure of meaning of each language. Thus, in empiricist philosophy there arises a fruitful conflict between an Aristotelian theory of signs and a non-Aristotelian cognitive theory. 6.1. Arbitrary ideas Because of its theoretical epistemological premises, empiricism finds itself confronted with the problem of understanding. In renouncing the notion of (innate) universal ideas of pure thought and conceiving of ideas as originating from the sensory perceptions of each individual, empiricism is faced with the problem of explaining how it is possible to produce the same ideas in another person. Thus, methods for the intersubjective assurance of mutual understanding must be developed, above all for scientific and philosophical use, but also, for example, with regard to politics in the safeguarding of peace, for the avoidance of conflicts arising from misunderstandings. Locke does not take the route of the universal language, but rather that of the standardization of the “natural” language. In this connection, Locke distinguishes between two classes of ideas: “simple ideas” and “complex ideas”. Complex ideas are subdivided into ideas of “mixed modes”, “relations”, and “substances”. The class of mixed modes is the interesting one for further linguistic reflection, in that these ideas are not given passively through sensory impressions, like the simple ideas, but rather through an “arbitrary”, deliberate combination of ideas put together by free choice (“a voluntary collection of ideas put together in the mind, independent from any original patterns in nature”; Essay III. v, 5). Not only is the principle of semantic componential analysis anticipated here; more importantly, the principle of arbitrariness is explicitly carried over
to meaning, and thus, as numerous of Locke’s examples show, the semantic individuality of at least part of the vocabulary is recognized (cf. Art. 62 § 8.2.3.). When Leibniz (in the Nouveaux Essais) always sees nature and arbitrariness at work in linguistic meaning, he is not only criticizing the Lockean distinction between arbitrary and natural significations, but also recognizes a unified principle ruling in the formation of all linguistic meanings (cf. Art. 62 § 8.2.4.). 6.2. Cognitive function and the artificiality of the sign While Locke still discusses language completely from the perspective of the communication of essentially pre-linguistic thought, E´tienne Bonnot de Condillac (1714⫺1780) sees that human cognition is not possible without signs. The transition from natural to artificial signs marks the border between man and animal, and thus the transition to specifically human cognitive capacities. Condillac systematically integrates linguistic theory into a cognitive theory that is presented as the diachronic progression from sensible perception to reason. In recognizing the cognitive function of the sign, Condillac is the first real philosopher of language, or rather the first real semiotic philosopher, since he conceives of language as only one of the many semiotic potentialities of man. This semiotic, rather than linguistic, orientation of his philosophy is the reason why ⫺ in spite of his recognition of the constitutive role of signs in thought ⫺ Condillac’s insights into the specific structure of individual languages remain relatively traditional: He links the individuality of languages, the “ge´nie des langues” shaped by climate and political conditions, to the different syntactic succession of ideas, as well as to the so-called “ide´es accessoires”, i. e., to the lexical connotations, and not yet to their particular semantic structures. The semiotic basis of Condillac’s linguistic theory, the “neocratylism” of his theory of signification, which goes back to Leibniz, is a decisive departure from Aristotelian theory. It is his criticism of the arbitrariness of the sign (cf. Trabant 1986, ch. 5). The profound rationalist Aristotelian dualism between body and spirit, the split between “arbitrary” signifiers and ideas, is overcome in the name of a monist sensualist theory. In his Grammaire (1775) Condillac thus specifies that signs are not “arbitrary” in the sense of “contingent” and “non-depicting”. Rather, they are cre-
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ated by man and hence “artificial” (cf. Valla’s “ab artifice”; see § 3.2.), but they are originally dependent on the “ordre de la nature”, and are thus deeply rooted in the objective arrangement of the world. The “arbitrariness” of the sign is thus explicitly limited to the moment of “artificiality”, and “nature” ⫺ i. e., objectivity ⫺ is given much more weight than the free will of the subject (cf. Art. 62 § 8.2.5.). Condillac’s suggestions for “true” philosophical speech amount to following the “ordre de la nature” again, which has been displaced by the rampant development of individual languages. As for Locke, the construction of an artificial universal language is not necessarily the correct way back to “nature”. 6.3. Worldviews (“Weltansichten”) With his term “worldviews” (“Weltansichten”) Wilhelm von Humboldt (1767⫺1835) takes up the various intuitions of the semantic diversity of languages extending from the classical connotative “je ne sais quoi” over the Lockean mixed modes to the syntactic combinations and “ide´es accessoires” of Condillac’s “ge´nie des langues” It is through “worldviews” that languages are distinguished from each other. In concurrence with Friedrich Schlegel’s formula of the “internal structure” of language as the parameter of language comparison, Humboldt sees that languages do not only differ lexically ⫺ which by and large was the extent of linguistic discussions up until then ⫺ but that it is actually grammar that is the carrier of the structural individuality of a language. This insight into the specificity of the individual language is the foundation for modern structural linguistics, a foundation which without question was laid by Humboldt (even if for the time being linguistics primarily pursued other paths of investigation; cf. Art. 67 and 77 § 1.).
7.
The semiotics of origin
7.1. The biblical tradition For Christianity, the question of the origin of language (as well as the origin of linguistic diversity) is unequivocally settled in the Bible and in the Augustinian interpretation of the relevant biblical passages. This is why up until Thomas Hobbes (1588⫺1679, see his Leviathan 1651 ⫽ 1839, I, 4) one finds almost exclusively variations on Adam’s giving of
1277 names in Genesis. Dante is noteworthy in that he ignores the biblical story of the Adamic naming or quite evidently does not consider this speech (“locutio”). Rather, independent of the Bible, in which a woman is presented as the first speaker, he imagines his own story for Adam’s first speech: Adam’s first word was the word for God, which was spoken as an answer (“responsio”) to the word of God for the purpose of glorifying God. Against Dante’s complicated interpretation of Genesis, Hobbes concisely declares: “The first author of Speech was God himself, that instructed Adam how to name such creatures as he presented to his sight; For the Scripture goeth no further in this matter” (Hobbes 1651 ⫽ 1839, I, 4; cf. Art. 62 § 8.2.1.). After the construction of the Tower of Babel people forgot the Adamic language and must invent language again, out of “need”, says Hobbes. 7.2. Beyond the Bible The problem which the Enlightenment discussion of the origin of language faces is how to escape from the weight of the Bible and from Church sanctions. Condillac, for example, does this by explicitly calling his hypotheses on the origin of language a “novel”. From today’s perspective, the then centrallydiscussed question of the divine or human origin of language is secondary to the question of the semiotic place and the functions of language tied up with that place. Thus, for example, the empiricist discussions of the origin of language are concerned with determining the “need” of the origin presumed by Hobbes. For Condillac (1746) physical needs induce the “cris des passions” that become signs which man makes use of voluntarily, via a process of habitualization. In opposition to Condillac, Jean Jacques Rousseau (1712⫺ 1778) roots the origin in moral needs (“besoins moraux”; Rousseau 1781). Essentially, however, both authors see the origin of language in an interactive necessity. Johann Gottfried Herder (1744⫺1803) protests against this presumption of an origin of language in the pragmatic dimension, conceived of as a dimension of sensations, of “passions” and not of thought (see Herder 1772). Herder, taking up Leibniz’s notion of an imitative origin, sees the origin of language in the onomatopoeic imitation of living creatures which produce sounds. This imitative capability derives from the human disposition to “reflection” (“Besonnenheit”), and
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Herder thus sees the origin of language in the cognitive semantic dimension, in the confrontation of man with the world (vgl. Art. 72 § 2.4.). Vico (1744), who escapes the theological tradition by postulating two origins, a “biblical” and a “heathen” (of which only the latter interests him), also does not place much importance on the interactive necessity at the beginning of language, but much more on the “poetic” elaboration of the world: a “wild”, corporeal, pre-reflexive thought in “fantastic universals”, which first expresses itself in completely somatic, iconic actions (“atti e corpi”). Only gradually does language become specialized into the communicative function (“lingua pistolare”) and the articulated language (“lingua articolata”), and distances itself from its “natural”, iconic, “similar”, metaphorical origins, in order to appear as an arbitrary sign (“a placito”), which, however, it can never really become, since man can never completely emancipate himself from his corporeal, “wild”, fantastic origins. 7.3. From conjectural diachrony to transcendental origin and to history Locke does not yet ask the question about the origin of ideas diachronically, but he asks about their “eternal” basis in human faculties. To be sure, he repeatedly cites the diachrony of the mental development of the child in support of his argument, and thus here and there alludes to an ontogenetic development. Condillac gives the question of the origin of human cognition a clearly diachronic answer, related to the phylogenesis of the human species (which the child in turn reproduces in its ontogenetic development). This diachronic formulation of the question remains decisive for the 18th century, until Immanuel Kant (1724⫺1804) makes the sharp distinction between the (temporal) beginning (“Anheben”) and the (transcendental) origination (“Entspringen”), recognizing only the question of the transcendental origin of cognition as a philosophical question. Humboldt, coming from Leibnizian philosophy, and thinking within the framework of Kantian philosophy, turns the question of the origin of language into a transcendental question. He is no longer concerned with diachrony, but rather with the ongoing genesis of language from man’s faculties, which have always been and always will be at work in all speaking. Humboldt’s entire language-philosophical thought revolves around this origin.
As Johann Georg Hamann (1730⫺1788) had done before, he identifies the problem of the synthesis of thought left open in Kant, the combining of understanding and sensibility in the imagination, as the production of language. The linguistic production of thought is not due to “need”, but is a free, poetic, luxurious and simultaneous producing of “idea” and “word” in an insoluble unity. The word is really produced as sound, perceived by the speaking-thinking person himself, and simultaneously perceived and re-produced by another person. The linguistic synthesis of thought is only completed in the re-production of the word by this perceiving other. With regard to the other aspect of the origin discussion, diachrony, Humboldt is no longer interested in the conjectural “history” constructed by Enlightenment philosophy. Rather, in accordance with modern historical research, history begins where documents exist, where an event can be proven empirically. Developments and changes in language can be traced here. With the documents available to us, however, we are always situated in the middle of this history, and cannot say anything about the origin (at least nothing “scientific”, i. e., empirically documentable).
8.
The word between sign and symbol
At the beginning of his linguistic work, Humboldt writes that the error of conceiving of language as an arbitrary sign has long disappeared (with which he was presumably alluding to the Leibnizian context familiar to him). In the course of his research, however, he is forced to see that this is not at all the case, and that this theoretical arch-enemy of all linguistic study must be fought perpetually, that, indeed, the goal of comparative linguistics on the whole should be a critique of arbitrariness, “in order to see languages less and less as arbitrary signs and, by delving deeper into mental life, to seek out in the individuality of their structure aids for the investigation and recognition of truth and for the formation of the way of thinking and of character” (“die Sprachen immer weniger als willkührliche Zeichen anzusehen, und, auf eine tiefer in das geistige Leben eingreifende Weise, in der Eigenthümlichkeit ihres Baues Hülfsmittel zur Erforschung und Erkennung der Wahrheit, und Bildung der Gesinnung, und des Charakters aufzusuchen”; IV, 32 f). Thus, the linguistic research which conceives of lan-
65. Sign conceptions in the philosophy of language
guages as “worldviews” is based on a semiotic theory that takes the word out of its traditional subsumption under the notion of sign and draws closer to the image (symbol; cf. Art. 63 § 5.1.), where the word as a semiotic structure sui generis is differentiated from both sign and symbol categorically. The word is differentiated from the sign through synthesis, the indissoluble unity between expression and content. In the sign “the signified has an existence independent of its sign”, while in language “the concept only becomes complete through the word, and the two cannot be separated from each other” (V, 428). In the image or symbol, which shares with the word this indissoluble unity between expression and content, expression and content fuse: “idea and material [“Körperstoff”] coincide”, while in the word they are inseparable, yet distinct. This connection between expression and content which is characteristic for the word is manifested in the structural semiotic characteristic that modern semiotics has dubbed “double articulation” (Martinet 1960; cf. Art. 101). The phonetic “articulation” (the segmentation of the sound in phonemes) is the structural representation of the segmentation of the thinkable in “portions” (the segmentation in monemes), which Humboldt calls “reflection”. The production of the word is thus a synthetic generation of reflection and articulation. This is why language is the “formative organ of thought” (“das bildende Organ des Gedanken”).
9.
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66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. 2. 3. 4. 5.
Semiotische Probleme des Unendlichen Kalküle und Zeichenwahl Die Entwicklung der analytischen Geometrie Synthetische Geometrie und Zeichentechnik Ansätze zu metamathematischen Untersuchungen: die Unabhängigkeit des Parallelenpostulates 6. Der Status arithmetischer und geometrischer Axiome 7. Zahlsysteme und Algorithmen 8. Literatur (in Auswahl)
1.
Semiotische Probleme des Unendlichen
Die überragenden Fortschritte der Mathematik im 17. Jahrhundert betrafen die Algebra, die analytische Geometrie und den Infinitesimalkalkül. Die seit den Griechen bis dahin grundlegende mathematische Disziplin der Geometrie (vgl. Art. 41) gab die Führungsrolle an die Algebra ab. Algebra wie Infinitesimalkalkül blieben bis ins 19. Jahrhundert ohne konsistente logische Begründung. Die bis dahin gültigen Grenzen der griechischen Geometrie für zulässige Größen wie die bis
dahin geforderte Strenge der Methoden wurden von den Mathematikern nicht länger beibehalten (Kline 1972, 398 f). Die Begriffe Größe, Variable beziehen sich, wenn nichts anderes gesagt ist (Cavalieri, Carnot), hier und im folgenden auf Zahlen bzw. Zahlbereiche. Die Mathematiker rechneten mit Zeichen auch dann, wenn der ontologische Status des Bezeichneten nicht geklärt oder nicht definiert war, sogar dann, wenn die Zeichen nach eigener Erklärung nichts Existierendes bezeichneten (Toth 1987, 114). Dieses Problem trat stets beim Umgang mit dem Unendlichen auf. P. de Fermat (1601⫺1665) entwickelte 1629 eine „Methode zum Bestimmen von Extremwerten und zum Anlegen von Tangenten“. Er führte dazu eine kleine, aber endliche, positive, konstante Größe E ein und betrachtete die Ausdrücke A und A ⫹ E als annähernd gleich. A ist eine Variable. In moderner Bezeichnungsweise lehrte sein Verfahren, f(A ⫹ E) ⫺ f(A) zu bilden, nach der DiviE sion durch E dieses E Null zu setzen und aus
66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
dem übrigbleibenden Ausdruck A zu ermitteln. Deshalb hat ihn Laplace den eigentlichen Erfinder der Differentialrechnung genannt. Der Erfolg seiner Methode ließ Forderungen nach Konsistenz und Rechtfertigung vergessen. Er vermerkte ausdrücklich, daß man keine allgemeinere Methode angeben könne. Tatsächlich wurde Allgemeinheit, die in einem mechanisch handhabbaren Algorithmus offenbar wurde, zum Gütekriterium für die später entwickelten Infinitesimalmethoden und zum Gütezeichen der sich entwikkelnden Algebra. Bereits 1635 veröffentlichte B. Cavalieri (1598?⫺1647) seine Geometrie, durch die Indivisibeln von Kontinuen auf eine neue Weise fortentwickelt. 1647 führte er die Überlegungen in einem zweiten Werk fort. Er war der einzige Mathematiker des 17. Jahrhunderts, der eine neue Integrationsmethode schuf, die nicht vollständig mit der griechischen Tradition brach. Er dehnte die griechische Theorie der Größen auf Quantitäten aus, die unendlich viele Elemente haben: seine omnes- oder alle-Begriffe (Andersen 1985). Um zu verstehen, was er z. B. im ebenen Fall mit „allen Linien“ oder „Indivisibeln“ bezeichnete, wähle man eine geschlossene ebene Kurve K und denke sich im Punkt A eine Berührungslinie, die „Regel“. Dann gibt es unendlich viele Parallelen bis zur gegenüberliegenden Tangente im Berührungspunkt C. Die Gesamtheit der innerhalb von K liegenden Parallelenabschnitte bildet eine Größenklasse „alle Linien“ bezüglich der gewählten Regel.
Abb. 66.1: Cavalieris Indivisibelnmethode.
Je nachdem, ob er die Kollektive von Linien (Ebenen) oder die Linien (Ebenen) paarweise verglich, sprach er von einer kollektiven oder ersten bzw. distributiven oder zweiten Methode. Der Ausdruck „Indivisibeln“ führte Cavalieris Leser bis in unsere Tage in die Irre.
1281 Nicht Cavalieris genuine Begriffe übten einen Einfluß auf die weitere Entwicklung aus, sondern das, was er nach Interpretation seiner Nachfolger vermeintlich darunter verstand, nämlich Summen: E. Torricelli (1608⫺1647) glaubte fälschlich, ebene Figuren seien nach Cavalieri die Summen von Liniensegmenten, und G. P. de Roberval (1602⫺1675), ebene Figuren seien nach Cavalieri die Summen von Infinitesimalien, das heißt unendlich kleinen Größen; G. W. Leibniz (1646⫺1716) übernahm die Mischung von Namen und Begriffen, die mit Integrationen verbunden waren. Er gebrauchte in der Frühzeit (1675) den Cavalierischen Ausdruck omnes zur Bezeichnung einer Summe und wollte 1676 die andernfalls trügerische Indivisibelngeometrie mit Hilfe der unendlich kleinen Größen zu einer sicheren Methode ausbauen (Leibniz 1993). 1655 erschien die arithmetische Integrationsmethode von J. Wallis (1616⫺1703). In seiner „Arithmetik der unendlichen Größen“ rechnete Wallis mit unendlichen Größen wie mit endlichen. ⬁ bezeichnet die Zahl 1 Unendlich, eine unendlich kleine Größe. ⬁ Im 18. Jahrhundert sagte E. B. de Condillac (1714⫺1780) dazu, wenn die Mathematiker mit dem Unendlichen rechnen könnten, dann nur, weil sie es mit dem Zeichen ⬁ tun (Rousseau 1986, 318). Wallis war sich der Gefahr des Irrtums bewußt und gab ausführliche Erläuterungen in der Art, daß gelten sollte: 1 1 · ⬁ ⫽ 1, A · ⬁ ⫽ A. ⬁ ⬁ Er räumte ein, daß das Produkt ⬁ · 0 keine Zahl auf bestimmte Weise bezeichne. Es kann aber gleichsam „virtualiter“ an die Stelle einer beliebigen Zahl treten. Eine ähnliche Argumentation verwandte L. Euler im 18. Jahrhundert. Die syntaktischen Gebrauchsregeln für ⬁ entnahm Wallis also durch Analogie dem Bereich endlicher Größen. Eine genauere Klärung des ontologischen wie semantischen Status unterließ er (zur Vorgeschichte vgl. Art. 51 § 5.). I. Newton (1643⫺1727) und G. W. Leibniz versuchten sich ⫺ erfolglos ⫺ an einer Lösung dieser Frage. Beide verwandten unendlich kleine Größen. Newton gründete dazu seine Infinitesimalmathematik auf mechanische, kinematische Vorstellungen. Die sich in der Zeit ändernden Größen x hießen „Fluenten“, deren endliche Wachstumsgeschwindigkeit „x˙“. Mit „o“ bezeichnete Newton einen
1282
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
unendlich kleinen Zuwachs der Variablen x, später ein unendlich kleines Zeitintervall. Demnach ist o Null, wie Newton sagte, oder im Vergleich mit endlichen Größen äquivalent mit Null. Die Inkonsistenz dieser Erklärungen veranlaßte ihn 1687, in den Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie auf Infinitesimalien zu verzichten und mit Hilfe des zentralen Begriffes der Bewegung die Theorie der ersten und letzten Verhältnisse der eben beginnenden bzw. verschwindenden Zunahmen einzuführen. Die Frage, wie zwei Größen, die beide Null sind, ein (letztes) Ver0 hältnis haben können, was also „ “ bedeu0 ten sollte, konnte er so nicht erklären. Leibniz betrachtete demgegenüber Folgen unendlich benachbarter Werte. Ein Differential dx bezeichnete danach eine Differenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden Werten in der Folge (Bos 1974). So wie Newton Fluxionen von Fluxionen bildete, führte Leibniz Differentiale von Differentialen ein: ddx, dddx usf. Sieht man von der Erstveröffentlichung seines Differentialkalküls im Jahre 1684 ab (Jusˇkevicˇ 1969), in der dx als konstante Größe definiert wurde, verstand Leibniz unter einer unendlich kleinen Größe dx eine variable positive Größe, die kleiner als jede vorgegebene Größe gemacht werden kann und insofern auch Null gesetzt werden darf. Es gibt also unendlich viele derartige Größen. Kritikern wie B. Nieuwentijt (1654⫺ 1718) hielt Leibniz entgegen, daß es durchaus Größen seien. Es sind fiktive, ideale Hilfsgrößen, die ebensowenig wie imaginäre Zahlen wirklich existieren, die aber für die Rechnung nützlich sind (Robinet 1986, 283⫺294). Das Ergebnis der mit ihrer Hilfe durchgeführten Rechnung läßt sich ohne diese formulieren. Semiotisch gesprochen führte dies aber auf Bezeichnungen, denen nichts Bezeichnetes entsprach, ein Unding für den Kritiker G. Berkeley (1685⫺1753). Die Mathematiker des 18. Jahrhunderts gaben sich mit dieser Semantik nicht zufrieden. L. Euler (1707⫺1783) bekannte 1755 seine Überzeugung, daß die einzige rigorose Methode, infinitesimale Verfahren zu rechtfertigen, darin bestehe, unendlich kleine Größen und Differentiale als absolute Nullen zu interpretieren. Das Verhältnis der Nullen, die mit verschiedenen Symbolen wie dx, dy bezeichnet werden, nicht die Nullen selbst, seien Thema des Calculus (Juschkewitsch 1959; Youschkevitch 1971). ⫺ J. Le Rond d’Alembert (1717⫺1783) vertrat ab 1754 Newtons
Standpunkt, daß der Grenzwertbegriff die Grundlage für den Calculus liefern müsse. Sein vom heutigen Grenzwertbegriff abweichendes Konzept brachte Schwierigkeiten mit sich, die eine breite Akzeptanz seiner Ideen verhinderten. ⫺ J. L. Lagrange (1736⫺1813) entwickelte stattdessen 1772 einen algebraischen Aufbau der Analysis, der frei von aller Metaphysik, allen Theorien unendlich kleiner oder verschwindender Größen sein sollte. Er definierte die Ableitung einer Funktion als Koeffizienten des zweiten Terms einer unendlichen, der sogenannten Taylorschen Reihe. Die Eigenschaften dieser Reihe sollten in rein algebraischer Form dargelegt werden. Auch Lagranges Vorgehen war erfolglos. L. Carnot (1753⫺1823) definierte 1797 in den „Überlegungen über die Metaphysik des Infinitesimalkalküls“ die Infinitesimalanalysis als die Kunst, hilfsweise infinitesimale Größen anzuwenden, um die Beziehungen zwischen vorgegebenen Größen zu entdecken. Der exakte Begriff derartiger Größen sei sehr einfach: dx, dy seien unendlich kleine Größen, nicht weil man sie als sehr klein ansah, sondern weil man sie als Größen betrachtete, die kleiner werden können, als man sie in beliebiger Kleinheit vorausgesetzt hatte. Für Carnot waren die unendlich kleinen Größen ⫺ im Gegensatz zu Euler ⫺ keineswegs wirklich Null. Sie mußten und konnten eliminiert werden, ohne daß ihnen ein bestimmter Wert zugeordnet wurde. Es waren zu jeder Zeit variable, unbestimmte Größen. Denselben semiotischen Status hatte ihnen Leibniz in der Argumentation mit Mathematikern zugewiesen. Die Ähnlichkeit mit L. A. Cauchys (1789⫺1857) Umgang mit unendlich kleinen Größen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist nicht zufällig. In seiner „Algebraischen Analysis“ (1821) definierte er „unendlich klein“ als mögliche Eigenschaft einer Variablen: Eine Variable wird unendlich klein, wenn ihr Grenzwert Null ist. Unendlich kleine Größen waren für Cauchys Analysis grundlegend, mit Strenge vereinbar und ermöglichten Einfachheit (Laugwitz 1987; Edwards 1979).
2.
Kalküle und Zeichenwahl
Die Entwicklung der Algebra zur Leitdisziplin der Mathematik im 17. und 18. Jahrhundert stand in untrennbarem Zusammenhang mit der Entwicklung einer leistungsfähigen algebraischen Symbolik. Ihre Leistungsfähigkeit umfaßte (1) die Allgemeinheit der Me-
66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
thoden und Lösungen, (2) die Mechanisierung, das heißt Kalkülisierung des Überlegungsprozesses, (3) die Minimierung der Denkarbeit beim Problemlösen, (4) die erkenntnisfördernde, heuristische Funktion. Diese vier Kriterien wurden von den Neuerern (Vie`te, Descartes, Newton, Leibniz, Euler, Lagrange) wie von den nacheifernden Befürwortern (Condillac, Carnot) hervorgehoben (Knobloch 1980). Sie spiegelten sich in der verwandten Terminologie wieder. F. Vie`te (1540⫺1603) nannte das Werk, in dem er seine symbolische Algebra darlegte, Einführung in die analytische Kunst (1591). Er griff damit den antiken Begriff „Analysis“ als Methode der Erfindung auf. Da er Buchstabenkoeffizienten statt positiver Zahlen verwandte, löste seine Gleichungstheorie in einem Zuge unendlich viele Fälle. Er strebte mit Hilfe seiner Symbolik eine deduktive Wissenschaft von Größen an. „Analysis“ nahm allmählich die Bedeutung ‘algebraische Methode’ an. D’Alembert verwandte in der Encyclope´die (Diderot und d’Alembert 1751⫺ 1780) „Analysis“ und „Algebra“ als Synonyme. „Arithmetica universalis“ war der von W. Whiston (1667⫺1752) gewählte, von Newton beibehaltene Name für die Algebra. Newton wie Leibniz betrachteten den Calculus als eine Erweiterung der Algebra (vgl. Art. 62 § 7.). Leibniz hatte es ausdrücklich als Aufgabe formuliert, die er selbst auf vorbildliche Weise löste, für die neue Analysis das zu tun, was Vie`te für die Gleichungstheorie und Descartes für die Geometrie getan hatte, eine Algebraisierung auszuarbeiten, das heißt die Rückführung der infinitesimalen Analysis auf einen Operationenkalkül mit einheitlichem Bezeichnungssystem von algebraischem Charakter. Denn Descartes gebrauchte „Analysis“ als Bezeichnung für die Anwendung der Algebra auf die Geometrie, da die Algebra dazu diente, geometrische Konstruktionsprobleme zu lösen. Der Terminus „analytische Geometrie“ beschrieb dieses Vorgehen. Lagrange sagte 1797 in seiner „Theorie der analytischen Funktionen“, der Calculus sei nur eine Verallgemeinerung der elementaren Algebra. Carnot definierte in demselben Jahr den Differentialkalkül als die Rechnung, die zur Elimination der unendlich kleinen Größen nur die gewöhnlichen, algebraischen Transformationen erfordere. Leibniz habe gezeigt, daß seine Methode die auf einen Algorithmus reduzierte archimedische Exhaustionsmethode sei. Leibnizens Infinitesimalkalkül rage unter den verschiedenen Metho-
1283 den wegen der Vollkommenheit seines Algorithmus und des Reichtums der Anwendungen hervor. Daher war der Infinitesimalkalkül für J. H. Lambert (1728⫺1777) das Paradigma einer Kalkülisierung. Leibniz selbst versuchte, seinen Differentialkalkül unter anderem durch Bezugnahme auf die gewöhnliche Algebra zu rechtfertigen. Für E. B. de Condillac war die Algebra die Sprache der Mathematik. Sein 1798 posthum erschienenes Werk Die Sprache der Kalküle wiederholte die Überzeugung seines früheren Werkes zur Erkenntnistheorie ⫺ er sprach von „Logik“ ⫺: Das mathematische Wissen ist durch die analytischen Eigenschaften dieser vollkommensten und einfachsten aller Sprachen definiert. Die Algebra hat diese Vorzüge, weil sie von der Analogie, das heißt der Erfindungsmethode gebildet ist. Ihre Zeichen stehen für exakte Ideen, mit denen man in verschiedenen Beziehungen manipuliert. Denn Denken hieß für Condillac Rechnen. Seine Analogie wird zu einer sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaft der Zeichensysteme (vgl. Art. 78 § 5.3.). Der Infinitesimalkalkül war der bei weitem wichtigste Kalkül, der in der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelt wurde. Aber der Wille, mathematische Probleme einer quantitativen operationalen Behandlung zugänglich zu machen, führte zur Erfindung oder mindestens Projektierung zahlreicher anderer Kalküle. Die Anwendung von Fermats und Descartes’ algebraischen Methoden auf geometrische Probleme, insbesondere Kurvenuntersuchungen, führte zum Kalkül der analytischen Geometrie. Leibniz bemühte sich in zahlreichen Entwürfen, einen Logikkalkül (Mittelstraß 1986, Lenzen 1990; vgl. auch Art. 64) wie eine „analysis situs“, einen geometrischen Kalkül der Lage aufzubauen (Echeverrı´a 1980). Während die analytische Geometrie den Umweg über die Algebra geht, sollten die Charaktere dieses neuen Kalküls, der geometrischen Charakteristik, unmittelbar der geometrischen Anschauung folgen. Die betreffenden Versuche blieben Fragmente und ebenso weitgehend unbekannt wie seine Ausarbeitung eines Determinantenkalküls. An sie knüpft aber im 19. Jahrhundert wieder H. Grassmann (1809⫺1877) an (vgl. Grassmann 1847; siehe auch Art. 78 § 2.2.). Zu den Wegbereitern der Matrizen- und Determinantenrechnung im 18. Jahrhundert gehörte auch Lagrange (1773). Lagrange, neben Euler der führende Vertreter der analytischen Methode im 18. Jahrhundert, wurde
1284
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
jedoch seit 1754 vor allem zum Begründer des neuen analytischen Kalküls der Variationsrechnung. 1788 veröffentlichte Lagrange seine in analytischer Sprache geschriebene „Analytische Mechanik“. Die dort auftretenden Differentialgleichungssysteme löst er mit Hilfe seines Variationskalküls. Euler hatte von Anbeginn an die Leistungsfähigkeit des neuen Kalküls anerkannt und diesen übernommen. Bei aller Kalküleuphorie fehlte es nicht an Kritikern, die an den Grundbegriffen und Methoden der neuen Kalküle Anstoß nahmen (B. Nieuwentijt, G. Berkeley). Anders als M. Rolle (1652⫺1719) bestritt Berkeley (1734) nicht die Exaktheit des Newtonschen oder Leibnizschen Infinitesimalkalküls (Berkeley 1969). Aber die exakten Ergebnisse seien nur auf Grund von Fehlerkompensationen möglich. Dies war in Carnot’s (1797) Augen kein Makel, da der Kalkül unausweichlich zur Kompensation der Fehler führe. Berkeley bestritt nicht die Wahrheit, wohl aber die Wissenschaftlichkeit des Fluxions- und des Differentialkalküls. Die Mathematik als Wissenschaft werde von der blinden Anwendung mathematischer Rechentechniken durch die Methode bzw. das Beweisen unterschieden. Seine Kritik fußte auf seiner strengen Trennung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Der mathematische Zeichenapparat führe im Falle der Fluxionen oder Differentiale zu Zeichen, denen keine Vorstellung entspreche, deren Designatum nicht perzipiert werden könne und deshalb nichts sei. Zeichen und Figuren seien nur Repräsentanten, durch deren beliebigen Bezug zu den repräsentierten Vorstellungen mathematische Allgemeinheit zustande komme. Die Beliebigkeit der Zeichenwahl findet insbesondere an der Forderung nach Konstanz der Zeichenbedeutung ihre Grenze. Bedeutungslose Zeichen, die für sich genommen sinnlos sind, seien grundsätzlich nicht zugelassen. Auch später eliminierbare Zeichen müßten sinn-, d. h. bedeutungsvoll sein. Carnots Position zeigte, daß man bei gleicher Ontologie ⫺ auch er lehnte die Existenz negativer oder imaginärer Zahlen ab ⫺ entgegengesetzte semiotische Positionen vertreten konnte. Der Erfolg des Leibnizschen Differentialkalküls gegenüber dem Newtonschen Fluxionskalkül beruhte nicht zuletzt auf der gewählten Symbolik. Leibnizens Bezeichnungsweise machte deutlich, daß es sich bei d und s um Operatoren handelte. Newton verwandte
kaum ein Zeichen für die Integration. Seine Punktnotation x˙ für Fluxion erforderte, alle Variablen als Funktionen einer Variablen, der Zeit, zu betrachten. Sie ließ im Gegensatz zu Leibnizens Bezeichnungsweise keine Übertragung auf Fälle zu, in denen die Variablen von mehr als einer unabhängigen Variablen abhingen. Grundsätzlich interessierte sich Leibniz weit mehr als Newton für Bezeichnungsfragen, für eine gute Charakteristik, da diese eine der größten Hilfen des menschlichen Geistes darstelle. Sein Kalkül könne alles ausdrücken, was vorher nur figürlich darstellbar war. Gemäß Leibniz sollen Zeichen alles ausdrücken, was in der bezeichneten Sache verborgen liegt, das Denken erleichtern und heuristisch wertvoll sein. Er hat diesen Vorsatz insbesondere bei der Entwicklung seines Determinantenkalküls zu verwirklichen versucht. Er verwandte fiktive Zahlen, deren numerische Werte hauptsächlich relationalen Zwecken, nicht Größenangaben dienten. Dementsprechend erklärte Euler 1764 den Vorrang der Mathematik unter den anderen mit Wahrheitssuche befaßten Wissenschaften damit, daß sie über geeignete Zeichen verfüge, eine Argumentation, die Eulers Bewunderer Condillac wieder aufnahm. Gemäß dem Grundgedanken der Leibnizschen Charakteristik trete an die Stelle der Sukzession der Denkschritte die reine Simultaneität, eine Leistung, die nur das symbolische Denken zu vollbringen vermag. Die Symbolik führte also zur Fortbildung der Technik und Methodik des mathematischen Beweises (vgl. Art. 62 § 7.2.).
3.
Die Entwicklung der analytischen Geometrie
Durch Vermischung algebraischer und geometrischer Methoden schufen P. de Fermat und R. Descartes (1596⫺1650) im 17. Jahrhundert die Koordinatengeometrie. Beide verwandten weder diese Bezeichnung noch die Idee von Achsen. Ihre grundlegende Idee war die Verbindung algebraischer Gleichungen mit Kurven und Oberflächen. Beide beschränkten sich auf positive Werte (Boyer 1956). Ihre „Koordinatensysteme“ ermöglichten, semiotisch gesprochen, eine anschauliche Darstellung der relativen Lage der Kurvenpunkte zueinander, die gegenüber einer Koordinatentransformation invariant blieb. Ihre Vorgehensweisen waren jedoch zueinan-
1285
66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
der entgegengesetzt. Fermat ging unter Verwendung der von Vie`te geschaffenen algebraischen Symbolik von einer algebraischen Gleichung aus, um daraus die Kurveneigenschaft abzuleiten. Sein grundlegend neues Prinzip lautete: Wenn in einer Schlußgleichung zwei unbekannte Größen auftreten, die durch Strecken repräsentiert werden, so haben wir einen geometrischen Ort. Das Ende einer von beiden beschreibt eine gerade oder gekrümmte Linie. Fermats Anliegen war eine allgemeine Methode zum Studium geometrischer Örter. Ohne die y-Achse explizit zu benutzen, legte er die Lage eines Kurvenpunktes durch die variable Größe A (heute x), die auf einer Grundlinie von einem ausgezeichneten Punkt N aus gemessen wurde, und die schräg zur Grundlinie abzutragende variable Größe E (heute y) fest. Die Grundlinie lieferte zusammen mit der variablen Größe E ein eindeutig bestimmtes Bezugs- oder Koordinatensystem. Fermat wußte, daß eine Transformation dieses Systems eine Vereinfachung der Gleichungen zweiten Grades erlaubte. Der Zusammenhang zwischen A und E, der durch die algebraische Formel gegeben war, wurde mit Hilfe der Koordinaten in einen „geometrischen Ort“, in einen geometrischen Zusammenhang, eine Kurve übersetzt. Im Gegensatz zu Fermat ging Descartes vom Ort einer kinematisch konstruierten Kurve aus und bestimmte anschließend eine algebraische Gleichung. Seine Idee war, die durch stetige und reguläre Punktbewegung erzeugten Kurven in einer Hierarchie algebraischer Gleichungen zu klassifizieren. Betrieb Fermat eine geometrisch interpretierte Algebra, so betrieb Descartes eine algebraisch interpretierte Geometrie. Seine Bezugssysteme bestanden aus beliebig-winkligen Geraden-, Strecken- und Tangentensystemen, nicht aus den nach ihm benannten Cartesischen, rechtwinkligen Koordinaten. Insofern war er weniger ein Begründer der analytischen Koordinatengeometrie als einer der ersten bedeutenden Theoretiker der algebraischen Kurven und Funktionen (Mainzer 1980, 97 f). Das Neue an Fermats und Descartes’ Methode war die graphische Repräsentation von unbestimmten Gleichungen. Um den Übersetzungsprozeß zu ermöglichen und zu erleichtern, gab Descartes geometrische Deutungen algebraischer Größen und Operationen. Auch höheren Potenzen, die geometrisch weithin für nicht interpretierbar gehalten wurden, ordnete er Streckengrößen zu. Des-
halb konnte er auf die Beibehaltung des Homogenitätsprinzips verzichten. Dieser Verzicht zog eine unschätzbare Rechenerleichterung nach sich. Dennoch hat sich Leibniz ihrer in zahllosen nachgelassenen Entwürfen nicht bedient. Zugleich wählte er um 1676 Beispiele aus der Mechanik, um höhere als dritte Potenzen als real existierend interpretieren zu können (Leibniz 1976, 98⫺107). Sie erlaubten ihm eine reale Darstellung der im Geiste stattfindenden Multiplikation. Die Nachfolger von Fermat und Descartes hoben deren Beschränkung auf positive Koordinaten bzw. die eine gewählte Art des Bezugssystems auf. J. Wallis führte 1655 in seiner Schrift Über die Kegelschnitte negative Abszissen und Ordinaten ein und betonte die Überlegenheit der algebraischen Vorgehensweise. Newton betrachtete 1671 erstmalig polare und bipolare Koordinaten. Newton war zwar von der heuristischen Zweckmäßigkeit der analytischen Methoden überzeugt, trat jedoch für eine Trennung der Arithmetik von der Geometrie ein und gab sich als Verfechter der antiken synthetischen Geometrie. Besonders scharf wandte sich Thomas Hobbes (1588⫺1679) gegen eine solche Vermischung von Geometrie und Algebra. Er sprach von „der Herde der formelgläubigen Modernisten“ und meinte damit insbesondere Wallis. Tatsächlich wurden die analytischen Methoden zur Behandlung geometrischer Probleme wesentlich auf dem Kontinent fortentwickelt, von Leibniz, Jakob (1654⫺1705) und Johann (1667⫺1748) Bernoulli und ihrem Schüler Jakob Hermann. Am nachhaltigsten beeinflußte Euler die Geometrieauffassung des 18. Jahrhunderts, insbesondere mit seinem Lehrbuch „Einführung in die Analysis unendlicher Größen“, dessen zweiter Teil eine umfassende Darstellung der analytischen Geometrie war. Lagrange vertrat ohne Einschränkung den analytischen Standpunkt und betonte ausdrücklich, daß seine Lösungen ohne Figuren verstanden werden könnten. Die geometrische Anschauung spielte für ihn keine Rolle mehr.
4.
Synthetische Geometrie und Zeichentechnik
Die Grundlage der modernen elementaren analytischen Geometrie legte G. Monge (1746⫺1818). Zugleich schuf er den neuen
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Zweig der darstellenden Geometrie. Semiotisch gesprochen erlaubten das durch ein standardisiertes Projektionsverfahren gewonnene zweidimensionale Zeichengebilde, die Ebenenaufrisse, einen eindeutigen Rückschluß auf dreidimensionale Raumgebilde, die einer strengen Definition fähig sind. Monges beide Werke zur darstellenden wie zur analytischen Geometrie, die von 1795 an erschienen, zeigen, daß er die figürliche Darstellung ebenso wie analytische Methoden für wichtig hielt. Die Ausbildung im technischen Zeichnen umfaßte einen hohen Prozentsatz der Unterrichtsstunden an der Ecole Polytechnique (Klein 1926⫺27, I, 66). Zur Entwicklung der Anschauung ließ er mathematische Modelle anfertigen und wurde so zum Begründer der Unterrichtstechnik, sich solcher Anschauungshilfen zu bedienen. Die darstellende Geometrie hatte vier Vorläufer: (1) die Architekturzeichnung, (2) die Perspektive, (3) die Schattentheorie, (4) die Kartographie (Taton 1951). Auf diesen Vorläufern aufbauend bestand Monges Prinzip darin, daß eine Raumfigur vollständig durch die Projektion auf zwei aufeinander senkrecht stehende Ebenen definiert ist. Monge entnahm die Richtigkeit dieses Prinzips der cartesischen Geometrie des Raumes von A. Clairaut (1713⫺1765) und L. Euler. Die
Abb. 66.2: Veranschaulichung der Mongeschen Drehkonstruktion.
zweite Ebene wird sodann auf die erste durch Drehung um deren Schnittgerade heruntergeklappt gedacht. Die beiden Projektionen befinden sich nun auf derselben Senkrechten zur Erdlinie. Die Nachfolger von Monge gaben seinen Standpunkt auf, daß analytische und synthetische Geometrie gleichberechtigt sind. Die Quelle des sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Gegensatzes lag in L. Carnots 1803
Abb. 66.3: Mongesche Drehkonstruktion um die vertikale Achse durch Q (wahre Länge und Neigungswinkel einer Strecke).
erschienener Geometrie der Stellung. Carnots Bestrebungen erinnern an Leibnizens Fragment gebliebene Versuche, eine koordinatenfreie „Characteristica geometrica“ auf Grund logischer Symbole, ein Gegenstück zur analytischen Geometrie von Descartes, aufzubauen. Carnot selbst sah den Zusammenhang, betonte jedoch den Unterschied beider Konzepte. Er wollte die Geometrie in rein synthetischer Form neu entstehen lassen. Er wollte die Geometrie von der „Hieroglyphenschrift der Analysis“ befreien, ohne deshalb ein Gegner der Infinitesimalanalysis zu sein. Im Gegenteil, sechs Jahre zuvor hatte er ein Loblied auf den Leibnizschen Kalkül gesungen. Seine Ablehnung beruhte auf seinem Verständnis mathematischer Größen und Vorzeichen. Carnot unterschied zwischen wahren Größen und algebraischen Werten, die nur fiktive, für Rechenzwecke eingeführte Objekte seien, wie negative oder infinitesimale Werte. Sie bezeichnen keine Größen. Denn jede Größe war für ihn ein reales Objekt, das der Geist begreifen kann (mindestens ihre Darstellung in der Rechnung). Für ihn war eine negative Größe eine Größe, der ein falsches Vorzeichen vorangeht. Carnot wollte die Zeichenregeln nur durch die Betrachtung der Figuren und ihrer Änderungen selbst entstehen lassen, eine Theorie der „korrelativen Figuren“ schaffen, der er schon 1801 eine Veröffentlichung gewidmet hatte. Er bezeichnete damit Figuren, die als verschiedene Stellungen eines einzigen variablen Systems nach einer Transformation nicht merkbaren Grades betrachtet werden können. Aus Carnots Korrelativität der Figuren wurde J. V. Poncelets (1788⫺1867) Prinzip der Kontinuität: Eine an einer Figur mit hinreichender Allgemeinheit erkannte Bezie-
66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
hung gilt auch für alle anderen Figuren, die sich aus ihr durch kontinuierliche Lageveränderungen ableiten lassen. Poncelets neue Art geometrischer Anschauung, „das projektive Denken“, ließ ihn zum Entdecker und Begründer der projektiven Geometrie werden, die auf den Prinzipien der Projektion und der Reziprozität aufbaute. Da Poncelet die Analysis ablehnte, konnte er seinem neuen Gedankengebäude, den imaginären Punkten oder dem Kontinuitätsprinzip, keine sichere Grundlage geben.
5.
Ansätze zu metamathematischen Untersuchungen: die Unabhängigkeit des Parallelenpostulates
Das euklidische fünfte, sogenannte Parallelenpostulat lautet: „Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann treffen sich die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.“ Das metamathematische Parallelenproblem besteht in der Frage: Ist der wahre Satz E (das Parallelenpostulat) ein Theorem der absoluten Geometrie, oder ist er von den Axiomen der absoluten Geometrie logisch unabhängig (Toth 1982, 143)? Die Unabhängigkeit als objektive Eigenschaft von E war metamathematisch beweisbar und wurde in der Sprache der Geometrie bewiesen. Dagegen war das Metaprädikat „wahr“ durch keinen Beweis begründbar (Toth 1987). Als vom 18. Jahrhundert an E durch non-E ersetzt wurde, implizierte die Konsistenz des neuen geometrischen Systems nicht seine Wahrheit. Nach vorausgegangenen Diskussionen im Mathematikerkreis um Eudoxos hatte Euklid zum ersten Mal die richtige Lösung gegeben (vgl. Art. 41). Er wies dem Satz E den Wert der Wahrheit zu und fügte ihn als neues Axiom den vorhandenen absolut geometrischen Axiomen hinzu. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieser Wissensstand wiedergewonnen. Der Beweis der logischen Unabhängigkeit von E ist im Rahmen der absoluten Geometrie möglich. Die im 19. Jahrhundert aufkommende nicht-euklidische Geometrie ist für die Lösung des Parallelenproblems nicht notwendig. Die Lösung des Parallelenpro-
1287 blems ist für die nicht-euklidische Geometrie nicht hinreichend (Toth 1982). Die Entwicklung eines Systems, das dem euklidischen entgegengesetzt war, ist historisch auch wirklich vor der Lösung des Parallelenproblems aufgetreten. Der schottische Philosoph Th. Reid (1710⫺1796) entwarf 1764 durch seine „geometry of visibles“ eine elliptische, parallelenlose Geometrie. Die Kritik an Euklids Entscheidung und damit die metamathematische Problematik wurde in Westeuropa nach 1550 neu aufgenommen (Bonola 1908, 13). Im hier betrachteten Zeitraum sind zwei einander überschneidende Perioden zu unterscheiden (Gray 1987). Die Mathematiker der ersten Periode betrieben synthetische Geometrie im klassischen Stil Euklids. Ihr bedeutendster Vertreter war A.-M. Legendre (1752⫺1833). Ihr Ziel war und blieb nachzuweisen, daß E ein Theorem ist. Die Mathematiker der zweiten Periode ersetzten die anschaulich-geometrischen Aussagen weitgehend durch trigonometrische Formeln. Ihre bedeutendsten Vertreter waren N. I. Lobatschewski (1792⫺1856) und J. Bolyai (1802⫺1860). Diese akzeptierten, daß E ein Axiom ist, und wurden so zu Begründern der nicht-euklidischen Geometrie. Die Angehörigen der ersten Gruppe wollten den in ihren Augen nicht hinreichend selbstverständlichen Satz E beweisen. Sie legten ihren Beweisversuchen Prinzipien (Äquidistanz, Ähnlichkeit) zugrunde, die sie unmittelbar der räumlichen Anschauung entnehmen zu können glaubten. In Wahrheit waren es zu E äquivalente Charakterisierungen. G. Saccheri (1667⫺1733) versuchte 1733 einen indirekten Beweis mit Hilfe von Winkelsummen. Seine Grundfigur war das nach ihm benannte Viereck, das zwei einander gegenüberliegende, gleiche, auf der Grundseite senkrecht stehende Seiten hat. Die Winkelsumme des Vierecks könnte (1) 360∞ (Euklidische Geometrie), (2) größer oder (3) kleiner als 360∞ sein. Sein Ziel war es, die zweite und dritte Hypothese des stumpfen und des spitzen Winkels auf einen Widerspruch zu führen. Unter der Voraussetzung der Unendlichkeit der Geraden konnte er die Hypothese vom stumpfen Winkel ausschließen. Auch seine mißglückte Widerlegung der Hypothese des spitzen Winkels nahm auf die „Natur der Geraden“ Bezug. Er schloß in unzulässiger Weise von Eigenschaften, die für Figuren in endlicher Entfernung gelten, auf dieselben Eigenschaften in unendlicher Entfernung. Le-
1288
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
gendre stützte sich unter anderem auf Saccheris Ergebnisse. Johann Heinrich Lambert war der erste bedeutende Vertreter der zweiten Gruppe von Mathematikern. Seine Grundfigur war das nach ihm benannte dreirechtwinklige Viereck. Die drei Hypothesen des rechten, stumpfen bzw. spitzen Winkels wurden über die Beschaffenheit des vierten Winkels gemacht. Seine „Theorie der Parallellinien“ (vgl. Engel und Stäckel 1895) zeichnete sich dadurch aus, daß sie die erste ausgearbeitete Theorie der hyperbolischen Trigonometrie enthielt, in der wichtige Sätze der späteren hyperbolischen Geometrie abgeleitet waren (Mainzer 1980, 123). Er vermerkte, er sollte fast den Schluß ziehen, daß die dritte Hypothese bei einer imaginären Kugelfläche vorkomme. Doch er verwarf die Hypothese, zumal sie ihn gezwungen hätte, die Existenz eines absoluten Streckenmaßes anzunehmen. Eine Reihe von Mathematikern, wie F. K. Schweikart, F. A. Taurinus und F. C. Wachter, leiteten nach Lambert Sätze der hyperbolischen Geometrie ab, zwangsläufig ohne auf Widersprüche zu stoßen. Die Frage blieb, inwiefern diese Geometrie eine Raumgeometrie sein konnte. Denn eine akzeptable nicht-euklidische Geometrie sollte physikalisch akzeptabel sein. N. Lobatschewski (1826) und J. Bolyai (1823) waren die ersten, die in Veröffentlichungen von 1829 bzw. 1831 für die Richtigkeit der neuen Geometrie eintraten. Ihre trigonometrischen Ausführungen machten eine nicht-euklidische Geometrie intuitiv plausibel und mathematisch handhabbar (vgl. Art. 78 § 2. und Art. 84 § 2.).
6.
Der Status arithmetischer und geometrischer Axiome
Mit den euklidischen Axiomen hatte man seit der Antike eine axiomatische, wenn auch wegen des Parallelenproblems kritisierte Grundlage für einen deduktiven Aufbau der Geometrie. Etwas Vergleichbares gab es für die Arithmetik nicht vor dem Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Art. 78 § 3.). Zu umstritten blieb der ontologische Status negativer und imaginärer Zahlen, wie noch das Beispiel Carnots und Cauchys im 19. Jahrhundert zeigt. Die semiotischen Grundfragen der Axiomatik betrafen die Existenz der bezeichneten Objekte und die Begründung der durch die Axiome formulierten oder implizierten Gesetze. Weder platonische intellektuelle An-
schauung noch der aristotelische Prozeß der Abstraktion führten auf derartige Objekte. Wohl aber konnte Anschaulichkeit den ontologischen Status von Objekten sichern, wie C. F. Gaußens (1777⫺1855) geometrische Deutung der komplexen Zahlen zeigte (1799). Erst im 19. Jahrhundert suchte R. Hamilton (1805⫺1865) in Analogie zur Geometrie nach einem Bereich der Erfahrung, aus dem man die Regeln der Algebra ablesen kann, und fand ihn in der Zeit (Theory of Conjugate Functions or Algebraic Couples, with a Preliminary Essay on Algebra as the Science of Pure Time, 1835; vgl. auch Volkert 1986, 42). Als Ausweg blieb der Formalismus, wie ihn etwa Leibniz, Euler und Lagrange vorschlugen. Diese Vorgehensweise wurde auf den Umgang mit dem Unendlichen übertragen, das mit dem Endlichen analogisiert wurde. So sprach Wallis von der „Arithmetik der unendlichen Größen“ (1655). Leibniz gründete auf das Kontinuitätsgesetz die Überzeugung, daß die Regeln des Endlichen im Unendlichen gültig bleiben. Euler ging davon aus, daß sich alle Funktionen wie die algebraischen verhalten. Er übertrug die Eigenschaften von endlichen Summen auf unendliche Reihen. Um jeder, auch jeder divergenten Reihe eine Summe zuordnen zu können, definierte er 1754/55 „Summe“ als den algebraischen Ausdruck, aus dem die Reihe entwikkelt wurde. Lagrange setzte Funktion und unendliche Reihe gleich, um seinen formalen Aufbau des „Calculus“ durchzuführen. Für die Geometrie gab Descartes eine rationalistische Begründung durch den Verstand. Die geometrische Ausdehnung der Körper sei eine dem Verstand angeborene Idee. Die Ausdehnung aller physischen Körper sei durch Streckenverhältnisse bestimmt. Daher führte Descartes die Geometrie auf den Begriff der Einheitsstrecke und der Strekkenverknüpfung zurück. Das Zurückgehen auf die anschauliche Evidenz der Axiome war für seine analytische wie für Euklids synthetische Geometrie zwangsläufig. Leibniz sah darin keine hinreichende Grundlage für die Geometrie. Seine Beweisversuche der Euklidischen Axiome beruhten auf seiner analytischen Wahrheitstheorie: Definitionen, die von Charakteren zu unterscheiden seien, seien Ausdrücke der Ideen. Geometrische Axiome und Sätze seien reduzierbar auf Definitionen. Der Beweis sei eine Kette von Definitionen. Jedes Axiom und jede Definition Euklids müsse durch Analyse in einfache Terme zerlegt werden. Die wahre
1289
66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
Grundlage der Geometrie sei das Alphabet der geometrischen Sprache. Da alle Wahrheiten ohne unendlichen Regreß durch Zerlegung beweisbar seien, sei das Ziel der Vervollkommnung der Geometrie und der Reduktion auf Charaktere erreicht, wenn alle Axiome bewiesen seien. Dieses Vorhaben verfolgte Leibniz als notwendige Vorstufe für den Aufbau seines neuen geometrischen Kalküls. Die Sensualisten hoben demgegenüber die Rolle der Wahrnehmung mit den Sinnesorganen auch bei der geometrischen Erkenntnis hervor. J. Locke (1632⫺1704) unterschied zwischen objektiven und subjektiven Eigenschaften eines Körpers, für D. Hume (1711⫺1776) waren die geometrischen Eigenschaften eines Körpers nur subjektiv. I. Kant (1724⫺1804) nahm zwischen der rationalistischen und empiristischen Begründung der Geometrie eine Mittelstellung ein. Dazu begann er seine Kritik der reinen Vernunft (1781) mit der Einführung in die transzendentale Ästhetik, die Wissenschaft von den apriorischen Prinzipien der Sinnlichkeit, insofern es um apriorische synthetische Urteile geht. Der Erfolg der logischen Methode der Mathematik beruhe darauf, daß die Mathematik über einen unabhängig von aller Logik gesicherten Besitz an Erkenntnis verfüge. Raum und Zeit seien keine Begriffe, sondern subjektive, apriorische Formen der reinen Anschauung. Der Verstand sei das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung räumlich und zeitlich zu denken. Die mathematische Erkenntnis sei die Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe (etwa eines Dreieckes), das heißt: aus der apriorischen Darstellung der ihm entsprechenden Anschauung. Die Sätze der reinen Mathematik seien intuitive synthetische Urteile a priori, das heißt: allgemeingültig, notwendig, erfahrungsunabhängig, für jede Erfahrung geltend, sie erst ermöglichend. Da die geometrischen Formen gemäß Kant unveränderlich und erfahrungsunabhängig sind, kann über ihre Eigenschaften, über die Sätze der Geometrie nicht durch Erfahrung entschieden werden. Im Gegenteil, die räumliche Form der reinen Anschauung legt die geometrischen Axiome und damit die Eigenschaften des physikalischen Raumes fest: Sie schreibt diesem die Gesetze der Euklidischen Geometrie a priori vor. Gegen Kants apriorisch-subjektive Interpretation der Geometrie war nicht erst die rein diskursive Neuformulierung der geome-
trischen Urteile durch die nichteuklidischen Theorien des 19. Jahrhunderts ein Schlag. Sieben Jahre vor seiner Kritik der reinen Vernunft war Th. Reids Inquiry into the Human Mind erschienen, in der Reid die Möglichkeit einer elliptischen Geometrie aufgezeigt hatte.
7.
Zahlsysteme und Algorithmen
Welche Objekte, Zahlen, Operationen in der Mathematik waren möglich? Das Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit algorithmischer Verfahren (Gleichungslehre, Reihenentwicklungen usf.) und der Wunsch, diese möglichst universell einzusetzen, führte dazu, daß die Mathematiker Zeichen für „unmögliche“ Operationen und Objekte, gegebenenfalls in Form fiktiver Hilfsgrößen, einführten und verwandten. Für die Algebraiker bis zum 17. Jahrhundert war Möglichkeit oder Unmöglichkeit eine absolute, innere Qualität der bezeichneten Operationen, des bezeichneten Objektes: „a ⫺ b“ hatte nur eine Bedeutung, solange galt: a ⬎ b. In dieser Auffassung spiegelte sich der Bezug zur Praxis wider. Die Vie`tesche Algebra war aus der Arithmetik hervorgegangen, die für den Bedarf der Praktiker entwickelt worden war. Die Einsicht, daß „möglich“ und „unmöglich“ relative Begriffe sind, die davon abhängen, welche Beschränkungen man dem Operanden auferlegt, wurde erst im 19. Jahrhundert durch eine formale Herangehensweise an die Mathematik gewonnen. J. Wallis plädierte 1655 in seiner „Arithmetik unendlicher Größen“ dafür, Zeichen für im strengen Sinn unausführbare Operationen einzuführen, und zwar durch Analogiebildung zu bekannten Operationen. So erfand er negative und gebrochene Exponenten, um zwischen unendlichen Reihen zu interpolieren. Wallis sagte selbst, daß Unmögliches schon früher in der Arithmetik aufgetreten sei: negative und imaginäre Zahlen. Die Mathematiker rechneten mit ihren Zeichen seit dem 16. Jahrhundert, obwohl ihre Definition widerspruchsvoll war, ihre Existenz geleugnet oder bezweifelt wurde. Michael Stifel (1487?⫺1567) definierte 1544 negative Zahlen als „kleiner als nichts“, die absurd und Ergebnis reiner Fiktion seien. Descartes (1637) nannte sie „falsche“ Zahlen. Sie waren für Christian Wolff (1679⫺1754) keine wahren, für Carnot überhaupt keine Größen. Sie führten nicht nur auf ontologische, sondern auch auf logische und semantische Schwierig-
1290
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
keiten. Da 1 :⫺ 1 ⫽ ⫺ 1 : 1, galt nicht mehr der Satz, daß das Verhältnis des Größeren zum Kleineren dem Verhältnis des Größeren zum Kleineren gleich ist. Für Leibniz waren es daher keine „wahren“, sondern „imaginäre“ Verhältnisse, während Wallis sie für größer als unendlich erklärt hatte. Von negativen Zahlen konnte man sich mit Hilfe der Erweiterung des Zahlenstrahls zur Zahlengeraden eine Vorstellung verschaffen. Dies entfiel im Falle der imaginären Zahlen. Wallis schlug 1685 erstmalig eine geometrische Deutung vor, die sich nicht durchsetzte (Gericke 1970, 72 f). Leibniz parallelisierte sie mit den unendlich kleinen und unendlichen Größen. Es seien zum Rechnen geeignete Fiktionen (Thiel 1982, 49). Die Redeweise 兹⫺1 sei eine mögliche Größe, sei nur von der Analogie gestützt (Leibniz 1980, 462), streng genommen nicht richtig, nur in tolerierbarer Weise wahr. Eine imaginäre Zahl sei ein Monstrum der idealen Welt, fast ein Amphibium zwischen Sein und Nichtsein. Euler erklärte, sie sei nicht unter die möglichen Zahlen zu rechnen, da alle vorstellbaren Zahlen entweder größer oder kleiner als Null oder Null selbst seien (Toth 1987, 115). Für Lambert war „兹⫺1“ ein Symbol der Absurdität, für Kant eine Marke, ein Zeichen ohne Bedeutung. Auch für Condillac bezeichnete dieser Ausdruck nichts (Rousseau 1986, 117). Die gleiche Ansicht vertrat Cauchy 1821. Eine solche Zeichenkombination sei rein symbolisch und habe keinen Sinn. Durchgesetzt hat sich jedoch erst die geometrische Interpretation von Gauß (1831). 1837 hat R. Hamilton die erste einwandfreie rein arithmetische Begründung gegeben. Seine Einstellung hinderte Euler nicht, mit den Zeichen für imaginäre Zahlen äußerst erfolgreich zu rechnen. Wenn sich eine Aufgabe nicht lösen ließ, so vertrat er die Ansicht, es werde dies mehr am Analytiker als an der Analysis liegen. Er beherrschte virtuos die Magie der mathematischen Zeichensprache. Er hatte den algorithmischen Gesichtspunkt von seinem Lehrer Johann I. Bernoulli übernommen, dem er auch die Definition der Funktion als eines analytischen, das heißt algorithmischen Ausdrucks verdankte. Daher entwickelte er selbst neue Algorithmen, etwa für Kettenbrüche. Das Lösen von Integrationsaufgaben und Differentialgleichungen war, wie vor allem die Arbeiten zur Mechanik zeigten, insbesondere deshalb so schwer, weil dem Verfahren der Integration weithin der algorithmische Charakter fehlte, der dem Dif-
ferentialkalkül zu eigen war. Carnot (1970, 123) sprach von dem Infinitesimalalgorithmus, mit dessen Hilfe die Geistesarbeit abgekürzt und erleichtert werden könne, da sie auf mechanische Arbeit reduziert werde (siehe auch Art. 133).
8.
Literatur (in Auswahl)
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66. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik
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1292
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
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Eberhard Knobloch, Berlin (Deutschland)
1293
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Einleitung 2. Grammatik 2.1. Zeichengebrauch versus Zeichenstruktur 2.2. Die humanistische Grammatik 2.3. Normierung und Pflege der Nationalsprachen 2.4. Universale und rationale Grammatik 2.5. Historie und Erfahrung als Parameter 3. Rhetorik 3.1. Rhetorik als Fundament von Grammatik und Poetik 3.2. Ausdifferenzierung von Rhetorik im praktischen Kontext 4. Poetik 4.1. Die Etablierung der Poetik als Disziplin 4.2. Rhetorisches und antirhetorisches Verständnis der Poetik 4.3. Der Weltbezug der Dichtung 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
Logik, Rhetorik und Grammatik, als Trivium der sieben „artes liberales“ während des Mittelalters in engem Zusammenhang stehend, durchdringen einander auch in dem zu behandelnden Zeitraum. Grammatische, rhetorische und logische Bestimmungen stehen in so enger Wechselbeziehung zueinander, daß der Ort der hier zu differenzierenden Gesichtspunkte: poetische, rhetorische und grammatische Zeichenkonzeptionen, hinsichtlich der zeitgenössischen Etikettierung changiert. Grammatische Überlegungen werden in Rhetoriken abgehandelt ⫺ systematisch häufig die Satzsyntax ⫺ und in der Logik fundiert, Darstellungen der Rhetorik firmieren unter Poetik und umgekehrt, und Teile der Poetik sind unmittelbarer Bestandteil traditioneller Grammatiken, vor allem im Bereich der Prosodie. Die Poetik, nicht als eigenständige „ars“ gezählt, sondern teils der Rhetorik, teils der Grammatik zugerechnet, bemüht sich gerade deshalb im 14. Jahrhundert um eine Apologie der Poesie und bestimmt diese als hoch über den „artes“ stehend (Petrarca). Damit wird trotz der für die Gesamtepoche der Renaissance und des Barock charakteristischen Rhetorisierung der Poetik ein Gegenmoment akzentuiert, das im Ausgang des 18. Jahrhunderts in der Abwertung der Rhetorik und in dem paradigmatischen Verständnis der Poesie als Erkenntnis und Sprache strukturierenden und ermögli-
chenden Zeichensystems seinen Schlußpunkt findet (vgl. Art. 63 § 4.). Die enge Verzahnung der Bereiche bedingt, daß historische Verlaufslinien (sei dies bezüglich des Eigenwerts der Nationalsprachen, sei es bezüglich der pragmatischen bzw. rationalistischen Fundierung oder bezüglich des Bewußtwerdens der Historizität der Zeichensysteme und ihrer Regeln), die für das Zeichenverständnis von besonderer Relevanz sind, in allen drei Bereichen zum Tragen kommen. Wenn die Disziplinen im folgenden gesondert abgehandelt werden, so gilt es diese enge Verbundenheit und die gemeinsamen geistesgeschichtlichen Einflußströme mitzubedenken. Eine Rechtfertigung findet die Aufspaltung darin, daß die Etablierung der Poetik als eigenständiger Disziplin ⫺ in bewußter Distanzierung zum Kanon der „artes“ ⫺ eine nicht unbedeutende Differenz zum mittelalterlichen Wissenschaftsverständnis anzeigt (vgl. Art. 63 § 5.).
2.
Grammatik
Die zeichentheoretisch relevanten Grundannahmen bezüglich der Grammatik finden sich nicht so sehr in einzelnen grammatischen Regeln, auch nicht in Regeln über die Form der Grammatik, sondern sie zeigen sich in der Weise, wie Grammatiken geschrieben werden, sowie in den Fragen, was als Argument verwendet wird, welche Geltungsgründe für Regeln benannt werden und was überhaupt zum Gegenstand grammatischer Beschreibung wird. Das weite Spektrum des Begriffsraums läßt sich anzeigen mit der sprachphilosophisch bedeutsamen Differenz in der Verwendung der Begriffe Tiefen- versus Oberflächengrammatik in der Moderne bei L. Wittgenstein (1953; vgl. Art. 109) und deren Spannungsverhältnis zur Chomskyschen (1965 ⫽ 1969; vgl. Art. 79 § 4.) Konzeption von Tiefen- und Oberflächenstruktur der Sprache und den spezifischen Folgerungen für eine grammatische Beschreibung. 2.1. Zeichengebrauch versus Zeichenstruktur Die zwei Betrachtungsebenen ⫺ zunächst nur als je andere Akzentuierung und Topikalisierung der Blickrichtung auf Zeichengebrauch
1294
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
(Wittgenstein) und apriorische rationale Zeichenstruktur (Chomsky) erscheinend ⫺ entfalten in den systematischen Folgerungen grundsätzlich verschiedene Paradigmen. Auch der in Rede stehende Zeitraum läßt sich in seinem Gesamt kennzeichnen als ein Gegenspiel und Ineinander dieser zwei Theorieansätze, die beide Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst abbrechen bzw. ihr Artikulationsforum nicht mehr in der Sprachwissenschaft finden, ähnlich wie die universalsprachlichen Bemühungen (vgl. Art. 62 § 7.1. und Art. 65 § 5.) zum Erliegen kommen und in veränderter Form in den Kunstsprachen der Logik (einerseits) und den Welthilfssprachen (andererseits) andersgeartete Fortsetzungen erfahren (vgl. Art. 175). Der Versuch einer historiographischen Aufarbeitung der rationalistischen Richtung durch Chomsky selbst (Chomsky 1966) verdeutlicht dies nicht nur in seiner zeitlichen Terminierung der cartesianischen Linguistik (von Descartes bis W. v. Humboldt), sondern auch in seinen Gegenakzentuierungen, sei es, indem er die Argumentationsrichtung der Grammatik von PortRoyal (1660) im Gegenspiel zur „grammaire d’usage“, namentlich von Vaugelas (1647), referiert, sei es, daß er gegen den Rekurs auf die Kategorie des Gebrauchs in der Moderne, namentlich Wittgenstein, argumentiert. Ein weiteres Moment korreliert dieser skizzierten Dichotomie und verstärkt sie. Es ist das Gegeneinander von Relativismus (auf usus und Lebensform rekurrierend) und Universalismus. Dabei entspricht dem Relativismus der theoretischen Ebene auf der Ebene der Praxis eine eher normative Tendenz, die aus dem Versuch erwächst, über die soziale Rechtfertigung feste Strukturen zu etablieren. Die Norm ist eben genau dort notwendig, wo das Gesetz ⫺ ob als naturwissenschaftliche oder logische Vorgabe ⫺ fehlt. Die universalistische Auffassung ist dem Problem der Norm ⫺ einem pragmatischen Geltungsproblem ⫺, insofern sie Gründe benennt, weitgehend enthoben. So liegt beispielsweise das fundamentale Novum Scaligers (1540), der selbst durchaus in Renaissance-Denken und Humanismus eingebettet ist, darin, daß er im Gegensatz zur Beschreibung der Sprache bei den Humanisten Ursachen („causae“) geltend macht. Damit greift er einerseits auf die feste Ordnung des Mittelalters zurück und weist andererseits voraus auf die universalistische Grammatik PortRoyals. Scaliger (1484⫺1558) steht somit in Gegensatz zu den vorausliegenden humani-
stischen Grammatikern und bringt das apriorische Moment stärker zur Geltung (vgl. Abb. 67.1). Solche Gegenüberstellungen können nur Strukturen verdeutlichen. Die vielfältigen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten, wie sie vor allem für die Grammatik von Port-Royal (Arnauld, 1612⫺1694) und die „grammaire d’usage“ (Vaugelas, 1585⫺1650) erarbeitet wurden (vgl. Hillmann 1972), geraten dabei leicht aus dem Blick. Doch gilt dies für alle Schematisierungen, und die Gegenüberstellung erschließt Betrachtungsperspektiven. Einen Problemfall bilden lediglich jene Arbeiten, die gleichsam einem dritten Strang zugehören, indem sie Momente beider Seiten zeigen, was vor allem bei Abhandlungen, die in der sprachphilosophischen Entwicklungslinie von J. Locke angesiedelt sind, der Fall ist. Chomskys Ungenügen ⫺ von Aarsleff und zahlreichen weiteren Rezensenten in bezug auf Chomsky (1966) konstatiert ⫺ rührt von einer Fehleinschätzung solcher Ansätze her. Die grammatischen Konzeptionen von Condillac (1714⫺1780) und Horne Tooke (1736⫺1812), die gleichsam sensualistische Variationen von Port-Royal darstellen, wären dafür Beispiele (vgl. § 2.5.; siehe auch Art. 62 § 8.2.5.). Doch sei zunächst der historische Verlauf skizziert. 2.2. Die humanistische Grammatik Die humanistische Grammatik muß gesehen werden vor dem Hintergrund des neuen Lernens und dem Bildungsideal des „homo eruditus“ und damit auch in Zusammenhang mit dem neuen Selbstentwurf des Menschen, dem eher die selbstbestimmte Setzung der gesellschaftlichen Institutionen Geltungsgrund war als irgendwelche metaphysisch verankerten Gesetze. Seinen Ausdruck fand dies nicht zuletzt darin, daß ein Bewußtsein für die Legitimität der eigenen Normen und Setzungen entstand. Grammatik interessiert nicht als Vorgabe einer höheren Ordnung und nicht als universelle Struktur, sondern als gesellschaftliche, gesetzte oder zu setzende Norm. Die Eloquenz als über den gesellschaftlichen Erfolg definierte Könnerschaft im Umgang mit Sprache bestimmte Interesse und Fragestellung. Hierin liegt der Grund dafür, daß die humanistischen Sprach- und Volkserzieher (z. B. Valla, 1407⫺1457, Vives, 1492⫺1540) die Verwerfung der mittelalterlichen grammatikalischen Traktate und Lehrbücher forderten (zu diesen vgl. Art. 53 § 4.). Der richtige Gebrauch stellte das Kriterium dar, und
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
Relativismus Normenverpflichtetheit wegen relativer Beliebigkeit; Relation Sprecher⫺Hörer für Zeichenkonstitution bedeutsam; Regeln und Wahrheit durch Kohärenz und Angemessenheit bestimmt; Relation „res“⫺„verba“ durch praktische Adäquatheit festgelegt; „ordre social“; Kategorie des Gebrauchs; purete´; grammaire du bon usage; beschreiben; „usus“; Valla; Vaugelas; Vico; Wittgenstein; Sprache als Kommunikationsmittel prägt die Struktur des Denkens; Berufung auf Praxis und Sprachgemeinschaft als konstitutive Momente der Sprache legt Wendung gegen Privatsprache nahe.
1295
Universalismus Freiheitsmoment innerhalb a priori gegebener Strukturen; Relation Sprecher⫺Hörer vernachlässigbar; „adaequatio ad rem“; „res“⫺„verba“-Relation und Verknüpfungsregeln durch geistige Struktur bestimmt; „ordre naturel“; Kategorie des Ursprungs; principes; grammaire raisonne´e; erklären; „causae“; Scaliger; Arnauld; Descartes; Chomsky; Sprache ist primär Ausdruck des Denkens; Verständnis von Kommunikation als sekundärem Moment und Berufung auf a priori gegebene Strukturen implizieren die Möglichkeit von Privatsprache.
Abb. 67.1: Gegenüberstellung von Relativismus und Universalismus in der Sprachtheorie.
das hieß zunächst, daß die Frage nach den Gründen obsolet erschien. Es galt nicht Gesetzmäßigkeiten zu erklären, sondern die gesellschaftlichen Normen zu beschreiben. Das steht nicht in Widerspruch zu der Hinwendung zu den Quellen, sondern rechtfertigt gerade diese Hinwendung als Frage nach dem „usus“. Es ist sicher nicht richtig, die scharfe Wendung der Humanisten gegen die logischen Spitzfindigkeiten der mittelalterlichen Grammatiker als Minimalisierung der Bedeutung der Grammatik zu interpretieren, doch gilt eindeutig ein Primat der Rhetorik. Ein Musterbeispiel ist Vallas De linguae Latinae elegantia (ca. 1440). Sowohl die Berufung auf Donat und Priscian wie die Verurteilung der mittelalterlichen grammatischen Arbeiten und die Ausrichtung auf die Verbesserung des geschriebenen Lateins nach den antiken Mustern finden sich dort. In zeichentheoretischer Hinsicht ist der Aspekt des Musters entscheidend für das Verständnis der Zeichenkonstitution und der Regelung der Zeichenverwendung. Geltungsgrund der grammatischen Regeln sind ausgezeichnete Muster, die einen Standard festsetzen und damit normativ wirken. In ähnlicher Weise wie Valla präsentieren sich die humanistischen Grammati-
ken von Perottus (1468) und Sulpitius (1475) eher als elementare Lehrgrammatiken denn als grammatische Theorien. Mit ihrem normativen Anspruch stellen sie Beispiele dar für die bis ins 18. Jahrhundert konstante Form der Lehrgrammatik ⫺ auch und gerade im Rekurs auf Donat und Priscian ⫺ und in der Übertragung der grammatischen Beschreibungssprache auf die nationalsprachlichen Grammatiken. Der zeichentheoretische Status der Volkssprachen bestimmt sich von daher ambig, da einerseits die klassischen Sprachen als Muster und Vorgabe für die Strukturierung des Zeichensystems fungieren und somit der Grammatik der Volkssprachen sekundären Status zuordnen, andererseits die adamitische Ursprache analog zur Volkssprache gedacht wird (vgl. § 2.3.1. zu Dante). Eine der typischsten Ausprägungen einer Lehrgrammatik für das Lateinische stellt die Shorte Introduction William Lilys (1468?⫺ 1522) dar (Lily 1549; zur Editionsgeschichte vgl. Padley 1976, 24 f). Sie ist nicht nur eine normsetzende Instanz, sondern gleichsam eine Institution. Dabei spielt nicht die wissenschaftliche Durchdringung oder der Reichtum der Beobachtungen die entscheidende Rolle. Thomas Linacres (ca. 1460⫺1524)
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grammatische Überlegungen (Linacre 1524), durchaus wie die von Lily im Rahmen humanistischer Grammatiktradition stehend, sind fundierter und reichhaltiger. Entscheidend jedoch ist die Etablierung der Grammatik als normativer Instanz im gesellschaftlichen Leben. Dies wird in Lilys Fall durch die Empfehlung von Edward VI. bezüglich der Einheitlichkeit einer Grammatik ⫺ im Vorwort von 1549 ausdrücklich erwähnt ⫺ gewährleistet und durch kirchliche Vorschriften festgeschrieben. So kommt es, daß Lilys Werk ohne Übertreibung als „die Schulgrammatik“ (Padley 1976, 24) angesehen werden kann. Weit über zwei Jahrhunderte blieb diese Grammatik bestimmend, und ihr Einfluß reicht bis in die heutige Zeit. Semiotisch interessant sind dabei charakteristische Folgerungen, die sich analog in den fremdsprachlichen Lehrgrammatiken finden lassen ⫺ als Musterbeispiel sei auf Theodor Arnolds Grammatica Anglicana concentrata (Arnold 1736 ⫽ 1838) verwiesen, die als maßgebende Englischgrammatik für Deutsche nahezu eineinhalb Jahrhunderte bestimmend blieb. Definiert wird die Struktur des Zeichensystems grundsätzlich über das nicht weiter hinterfragbare Muster. Kennzeichnend für diese Arbeiten im Paradigma der Lateingrammatik sind denn auch häufig Doppelgrammatiken oder gar, dem Bildungsideal entsprechend, drei bzw. vier Sprachen strukturell gleich darbietende Grammatiken, die sich in nahezu identischer Weise auf das universale Muster der Lateingrammatik stützen (vgl. etwa Johann Elias Greiffenhahns Italiänische (1714), Französische (1716) und Englische (1723) Grammatik für Studierende, die eine nach der anderen in Jena erschienen). Das nun darf nicht verwechselt werden mit einer universalgesetzlichen Begründung der grammatischen Kategorien und Regeln, sondern leitet sich her aus dem Zusammenhang der Normetablierung aufgrund eines bestimmten kulturell ausgezeichneten Gebrauchs. Dieses normative Moment findet sich auch in den Grammatiken der einzelnen Volkssprachen, und sowohl Gottscheds (1700⫺1766) Grammatik wie die seiner zeitgenössischen Opponenten ⫺ etwa Aichinger und Antesperg ⫺ liegen in dieser Linie (vgl. § 2.3.). Charakteristisch für die verschiedenen Stränge der volkssprachlichen Grammatik ist die Fundierung der Zeichen in einem Gebrauch, der nicht von der Struktur des Denkens her zu analysieren ist. Es liegt freilich in der Natur der Sache, daß dennoch in unter-
schiedlichem Ausmaß Gedankengut aus der Linie der rationalistischen Grammatik in die einzelsprachlichen Grammatiken des 18. Jahrhunderts Eingang findet, obwohl letztere ihrer Struktur und Geschichte nach dem völlig anderen Verständnis von Zeichenkonstitution und Regelfundierung über Muster und Gebrauch weitgehend verpflichtet bleiben. Die Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland geführte Diskussion „Was ist Hochdeutsch“, in der Adelung (1732⫺1806) den Gebrauch der besten Schriftsteller als Norm etabliert wissen wollte, gewinnt nicht nur wegen der Fundierung des Geltungsanspruchs im Gebrauch Zeigecharakter, sondern auch dadurch, daß Adelung spekulative Überlegungen hinsichtlich der historischen Entwicklung in seine Ausführungen zur Sprache einbezieht. Die Etikettierung „philosophischer Sprachlehrer“ ⫺ durch Salomon Maimon (um 1753⫺1800) ⫺ erfolgt deshalb zu Recht, weil sich bei Adelung strenges Räsonnement im Sinn der „grammaire raisonne´e“ verbindet mit dem Blick auf Erfahrung und Historie und die eigentliche Zielrichtung gleichwohl die Etablierung einer Norm bleibt. Adelung bringt so gewissermaßen eine Versöhnung aller drei Stränge: (1) Muster und Gebrauch, (2) logische Ursache und apriorische Bestimmtheit und (3) Historie und Erfahrung. 2.3.
Normierung und Pflege der Nationalsprachen 2.3.1. Volkssprachliche Grammatiken Die Anfänge der Beschäftigung mit der Grammatik der einzelnen Volkssprachen fallen zusammen mit Dantes (1265⫺1321) eher poetologischem Werk De vulgari eloquentia (ca. 1310), das auch eine allgemeine Sprachtheorie enthält. Initiale Anstöße konnte das Werk freilich nicht liefern, da es unvollendet blieb und erst Anfang des 16. Jahrhunderts erstmals gedruckt wurde (vgl. Art. 65 §§ 2.⫺3.). Als „locutio vulgaris“ bestimmt Dante jene Sprache, die Kinder im Erstspracherwerb erlangen, indem sie ihre Amme nachahmen, ohne irgendeine Regel zu befolgen („nutricem imitantes sine omni regula“; I,i,2). Dieser Muttersprache werden die Sprachen gegenübergestellt, die über eine Grammatik und damit geregelte Zeichensysteme verfügen, wie das Lateinische und das Griechische. Dante betont die Priorität der natürlichen Sprache („nobilior est vulgaris“), ist doch die adamitische Sprache als natürliche Sprache („locutio vulgaris“) zu denken. Diese Rang-
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
bestimmung der Volkssprache kennzeichnet das kulturelle Klima der Zeit und lenkt die Aufmerksamkeit auf semiotische Systeme, die ungeregelt scheinen, bzw. nicht nach Regeln erlernt werden. Der Aufweis, daß die Volkssprachen genauso geregelt sind wie das klassische Latein, war dann ein Hauptanliegen der frühen volkssprachlichen Grammatiken, was wesentlich zu dem dargelegten Abhängigkeitsverhältnis vom Latein beitrug. Dantes allgemeine Ausführungen zum Zeichenbegriff beziehen sich auf Sprache überhaupt, was ein Zurücktreten der Frage nach der Grammatik bedingt. In seiner Entfaltung der Geschichte der menschlichen Sprache bestimmt er als Ziel der Sprache, die Begriffe unseres Denkens mitzuteilen. Wegen des fehlenden Verstandes („ratio“) bedürfen die Tiere und wegen der für sie überflüssigen Sinnlichkeit („medium sensuale“) die Engel der Sprache nicht. Dante betont, daß wir die anderen nicht aus eigenen Gebärden und Passionen heraus verstehen, sondern daß es für das sprachliche Zeichen („signum“) notwendig ist, etwas im Verstand und in den Sinnen zu haben („aliquod rationale et sensuale habere“; I,iii,2). Wenn Dante die körperliche („sensuale“) Seite des Zeichens dann als die des Lauts bestimmt und die verstandesmäßige („rationale“) als die Bedeutung (I,iii,3), dann wird deutlich, inwiefern die fundamentalen Bestimmungen des Zeichens der cartesischen Grammatik Port-Royals ähneln und die spätere Dichotomie Saussures zwischen „signifie´“ und „signifiant“ als natürliche Distinktion gedacht wird (vgl. Art. 101). Der Grund für diese Parallelität liegt aber nicht in der Entfaltung humanistischer Konzeptionen, sondern in der gemeinsamen Verpflichtetheit gegenüber mittelalterlichem Denken. Ein Musterbeispiel für die neue Gewichtung der Volkssprache stellt Nebrijas Grama´tica sobre la lengua castellana (1492) dar. Bei ihm findet sich die deutliche Akzentuierung der Besonderheit der Volkssprache in charakteristischer Form verknüpft mit der Bezugnahme auf klassische Muster. Anfänglich liegt die Rechtfertigung der Beschäftigung mit den Volkssprachen nicht in erster Linie in ihrem Eigenwert als dem von Zeichensystemen eigener Struktur und Prägung, sondern verdankt sich einem anders motivierten, stark von der Poesie und Poetik bestimmten humanistischen Interesse an der Volkssprache. Die grundsätzliche Entwicklungslinie verläuft dabei so, daß zunächst in Anlehnung an das lateinische Muster gezeigt wird, daß
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die Volkssprache ⫺ genau wie das unstrittige Latein ⫺ alle Eigenschaften einer (im alten Sinne von „te¬xnh, te´chne¯“) kunstwürdigen Sprache hat, worauf dann der Eigenwert der Volkssprache, ihr besonderes Verdienst und ihre spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten in den Vordergrund rücken. Dieses historische Verlaufsmuster gilt durchgängig und läßt sich sowohl für die Renaissance (etwa in Leon Battista Albertis, 1404⫺1472, Grammatik von 1450; vgl. Percival 1975, 248) wie für den Barock (etwa am Beispiel des bedeutendsten deutschen Grammatikers des 17. Jahrhunderts Justus Georg Schottel, 1612⫺1676) unmittelbar zeigen. Schottel übersteigt den humanistischen Sprachbegriff hin zu einer „tieferen Sprachdeutung aus mystisch-naturphilosophischen Kreisen“ (Hecht 1967, 9*). Die Orientierung an der geschriebenen Sprache und dem Muster des Latein bleibt bei ihm zwar zu einem gewissen Grad erhalten, und sein Bemühen, Regeln und Gesetze der Grammatik anzugeben, ist gekennzeichnet von dem normativen Moment humanistisch-rhetorischer Festschreibung der Sprachrichtigkeit, doch zielen seine Überlegungen zur „Grundrichtigkeit“ der Sprache auf eine der Sprache zukommende natürliche, ihrem Wesen entsprechende Gesetzmäßigkeit. Schottel dachte dabei nicht an sprachliche Universalien, sondern bezog sich in seiner Lehre von den Stammwörtern in ausgezeichneter Weise auf die Muttersprache. Das Deutsche erachtete er wegen des Reichtums an Stammwörtern und der Möglichkeiten der Wortbildung als besondere Sprache. Vor allem der Wortbildung als zeichengenerierendem Prinzip galt seine Aufmerksamkeit, und hier liegen seine größten Verdienste als Sprachtheoretiker. Die Heraushebung systematischer zeichengenerierender Prozesse ist ein wichtiger Schritt hin zu einem dynamischen Verständnis des Zeichens, weg vom reinen Thesauruscharakter des Lexikons und gleichzeitig weg von einer ahistorischen Betrachtungsweise (vgl. § 2.5.). Auf der Ebene des Elementarzeichens, beim einsilbigen Stammwort ist die Korrelation von „verbum“ und „res“ als eine in der Sache motivierte gedacht, insofern Stammwörter „ihr ding/dessen Namen sie sind/eigentlich austrükken“ (Schottel 1663 ⫽ 1967, 62; vgl. auch Hecht 1967, 12* f). Schottel vertritt demnach eine Auffassung von der menschlichen Sprache, die den „fy¬sei (phy´sei)“-Charakter der Zeichenrelation stark betont. Dieses Beharren auf der Motiviertheit
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der Zeichen wird auch für die Poesie wichtig. Schottels auf Lautsymbolik gestützte Beispiele (Schottel 1663 ⫽ 1967, 59 f) machen deutlich, in welcher Weise er die Wörter als „wesentliche“, d. h. das Wesen der Dinge lautlich darstellende Abbildungen denkt. Tritt aus dem Gesagten klar zutage, inwiefern Schottels Streben nach Normen des Deutschen in den theoretischen Grundlagen sich vom humanistischen Rekurs auf das Muster und den Gebrauch doch deutlich unterscheidet, so zeigt sich gleichzeitig, daß seine Art der rationalisierenden (begründenden) Grammatik deutlich von der rationalistischen Grammatik (vgl. § 2.4.) zu unterscheiden ist (vgl. Hecht 1967, 18*). Stärker sind eher noch die Parallelen zu der auf Geschichte und Erfahrung hin orientierten Linie der Sprachbetrachtung (§ 2.5.). Wie bei Schottel sind rund hundert Jahre später Gottscheds grammatische Arbeiten geprägt von sprachpflegerischen und sprachpolitischen Intentionen. Gottscheds Deutsche Sprachkunst (1748 ⫽ 1762) wurde zur Standardgrammatik seiner Zeit und steht damit in direkter Kontinuität sprachpflegerischer Bemühungen des Deutschen. Im Vergleich mit Schottels epochemachendem Werk ist Gottscheds Arbeit freilich nicht nur konventioneller; sie entbehrt im Gegensatz dazu jedweder Originalität. Gerade deshalb kommt in zeichentheoretischer Hinsicht jener Aspekt, den wir schon an Schulgrammatiken herausgehoben haben und der für die praktische Etablierung der Volkssprachen und die Pflege dieser Zeichensysteme von eminenter Bedeutung ist, deutlicher heraus. Das Verdienst Gottscheds um die Grammatik beschränkt sich weitgehend darauf, die Etablierung und Durchsetzung einer Norm für die hochdeutsche Schriftsprache vorangetrieben, wenn nicht erreicht zu haben. Dieses Moment der Institutionalisierung und des Festschreibens der Regeln des Zeichensystems durch Schaffung einer Berufungsinstanz als soziales Faktum entspricht dem Zeichenverständnis, das für das Sprachdenken der Renaissance und die Etablierung der Lehrgrammatiken typisch war. Nicht das theoretische Moment, sondern das praktische ist in diesem Zusammenhang entscheidend. Dem entspricht, daß dieses Zeichenverständnis nicht unbedingt in theoretischem Widerspruch zu fundamentaleren Konzeptionen, die nicht den Musteraspekt betreffen, stehen muß. Oft liegt nur eine unterschiedliche Topikalisierung verschiedener Fragestellungen vor. Sowohl Schottel wie
Dante können als Beispiel dienen. Die Blicknahme der Gebrauchsbedingungen der Zeichensysteme und die Bemühungen um die Etablierung von im sozialen Raum abgesicherten Invarianten müssen nicht notwendigerweise im Widerspruch zu den Ergebnissen einer rationalen Grammatik stehen. Doch blendet die Konzentration auf die sprachpflegerischen Aspekte notgedrungen das Eigentümliche rationaler und universaler Grammatik aus. Eine Ausnahmestellung kommt Adelung zu, bei welchem sich sprachpflegerische Aspekte mit philosophisch-rationalistischer Sprachbetrachtung verbinden und das Normierungselement als Residuum des Gebrauchsansatzes ebenso hereinspielt wie die Suche nach Gründen. Die Grammatik sucht dabei die Beschreibungsadäquatheit in Richtung auf Erklärungsadäquatheit zu überbieten. 2.3.2. Lexikographie Dabei ist in Zusammenhang mit der Etablierung und Durchsetzung einer Norm auch an die Lexikographie zu denken, und keineswegs zufällig waren die meisten der Grammatiken dieser Art von Wörterbuchprojekten begleitet. Schottel trug sich mit dem Plan zu einem Wörterbuch der deutschen Sprache, und Kaspar Stielers Wörterbuch (1691 ⫽ 1968) steht in Zusammenhang mit den Bemühungen der Sprachgesellschaften um die Sprachpflege (vgl. Abb. 67.2). Die konkrete Ausgestaltung, die spezifischen Unzulänglichkeiten wie die methodischen Vorgaben können hierbei zunächst vernachlässigt werden. Wichtig ist im gegebenen Betrachtungsrahmen mehr die zum Ausdruck gelangende Tendenz, den Zeichenvorrat eines im Gebrauch gegebenen Zeichensystems durch Bezugsetzung zu seinen historischen Vorstufen festzuhalten und gleichzeitig zu definieren, d. h. durch Aufnahme ins Lexikon den Sprachstand zu beschreiben und normativ vorzugeben. Einige der wichtigeren lexikographischen Arbeiten stehen in engem Zusammenhang mit den dem Gebrauch verpflichteten Grammatiken. So ist auch der Plan des Wörterbuchs der Acade´mie Franc¸aise mit dem Namen Vaugelas verknüpft. Er war über einen längeren Zeitraum (1637) mit dem Wörterbuch, das die Akademie zu etablieren suchte, befaßt, doch fanden seine Arbeiten dann (das Wörterbuch erschien 1694) keinen Eingang in die tatsächliche Fassung.
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
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Abb. 67.2: „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“, Kupferstich aus der Erstausgabe des gleichnamigen lexikographischen Werks von Caspar Stieler (Pseudonym: „Der Spate“), Nürnberg 1691 (Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 8⬚ Ling. VII, 5015). Der volle Titel lautet: „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, oder Teutscher Sprachschatz, Worinnen alle und iede teutsche Wurzeln oder Stammwörter, so viel deren annoch bekant und ietzo im Gebrauch seyn, nebst ihrer Ankunft, abgeleiteten, duppelungen und vornemsten Redarten, mit guter lateinischer Tolmetschung und kunstgegründeten Anmerkungen befindlich. Samt einer Hochteutschen Letterkunst, Nachschuß und teutschem Register. So Lehrenden als Lernenden, zu beider Sprachen Kundigkeit, nötig und nützlich, durch unermüdeten Fleiß in vielen Jahren gesamlet von dem Spaten“ (Abbildung entnommen aus Hennig und Lauer 1985, 340).
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Am deutlichsten tritt die normative Tendenz in dem berühmten Vocabolario della Accademia della Crusca (1. Ausgabe Florenz 1612; 5. Ausgabe 1863⫺1923; abgebrochen) zu Tage, wobei bezeichnenderweise die Kritik an dem Wörterbuch vor allem Unangemessenheit in der Erfassung des tatsächlichen Sprachgebrauchs und die Aufnahme zahlreicher Archaismen ⫺ das Vocabulario orientiert sich am Trecento (vgl. § 2.3.1. zu Dante) ⫺ moniert. Es zeigt sich jedoch gerade in der puristischen Distanzierung vom „gewöhnlichen“ Gebrauch implizit die Verpflichtung auf das der Grammatik des Humanismus zugrunde liegende relativistische, an der Grundkategorie des „usus“ ausgerichtete Zeichenverständnis. Das Wörterbuch leistet so eine praktikable Normierung mit Orientierung an sozial etablierten Mustern (vgl. Abb. 67.1 und § 2.2. zur Lehrgrammatik). Besinnen wir uns auf die an den Anfang gestellte Erschließungsperspektive Wittgenstein versus Chomsky zurück, so ist es nicht uninteressant zu bemerken, daß Wittgensteins tiefengrammatische Betrachtungen auf den semantischen Raum lexikalischer Einheiten zielen und von daher semantische Besonderheiten syntaktischer Fügungen in den Blick genommen werden. Chomsky hingegen schenkt im Wesentlichen der Untersuchung semantischer Unterschiede nur am Rande Beachtung, soweit eben Fragen der Syntax berührt werden. Das Faktum, daß Wittgensteins einzige Veröffentlichung neben dem Tractatus ein Wörterbuch für Volksschulen (1926) blieb, hat vielleicht über das bloß Symbolische hinaus Indikatorfunktion. Für Deutschland findet sich in der Lexikologie wiederum die Summe der Bemühungen um eine Grundlage und Norm für die Standardsprache am Ende des 18. Jahrhunderts durch Adelung gezogen. Sein Werk, der Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart (5 Bände, 1774⫺1786), stellt einen zwar theoretisch bald in der Konzeption des Grimmschen Wörterbuches überholten Ansatz dar, doch bedeutet es einen Gipfel sprachpflegerischen Bemühens im Rahmen des normativ-gebrauchsorientierten Zeichenund Sprachverständnisses und überbietet die vorausgegangenen unzulänglichen Versuche weit. Daß solche lexikalischen Arbeiten der theoretischen Konzeption nach nahezu immer die volkssprachlichen Grammatiken begleiten sollten ⫺ Antespergs groß angekündigte Projekte sind gerade in ihrem Scheitern
symptomatisch ⫺ ergibt sich aus dem grundlegenden Zeichenverständnis, gemäß welchem Grammatik und Wörterbuch eine analoge und wechselseitig ergänzende Funktion bei der Etablierung der Norm zukam. Adelungs Werk entsprach der Intention und Leistung nach durchaus einem solchen normsetzenden Wörterbuch, wenn auch bei ihm der Aspekt der Beschreibung des Sprachstands gegenüber der präskriptiven Festlegung des Standards an Gewicht gewann. In England legte Samuel Johnson (1709⫺1784) Mitte des 18. Jahrhunderts das autoritative Wörterbuch der englischen Sprache vor (Dictionary of the English Language, 1747⫺1755), wobei hier im Vergleich zu vorangehenden Versuchen Baileys und Boyers ein zeichentheoretisch interessantes Phänomen zu beobachten ist. Es zeigt sich ein allmählicher Übergang von universalenzyklopädischen Tendenzen zu einem reinen Wörterbuch an, insofern Zeichen, die durch unmittelbare Korrelation zum Weltwissen bestimmt sind, verstärkt aus dem Wörterbuch der Einzelsprache herausgenommen werden. 2.3.3. Sprachgesellschaften und Akademien Ein Wort ist in diesem Zusammenhang zu dem Wirken der Sprachgesellschaften und Akademien angezeigt. Ihre Bedeutung liegt auf dem praktischen Gebiet der Normierung und Verankerung der Volkssprachen als eigenständiger Literatursprachen. Deshalb fand nicht nur Grammatik und Rechtschreibung sowie die Sammlung und Bewahrung des Zeicheninventars im Lexikon Beachtung, sondern vor allem auch die Sprachpflege in der Poesie. Insofern die Herausgabe der im vorigen Abschnitt erwähnten Wörterbücher sowohl bei der 1582 in Florenz gegründeten Accademia della Crusca wie bei der 1635 gegründeten Acade´mie Franc¸aise zu den wichtigsten Leistungen zählt, bietet der Abschnitt eine gute Illustration der Bemühungen der Akademien und beleuchtet deren Rolle für Konstitution und Pflege eines hochentwickelten sozial verankerten Zeichensystems. Die bedeutendste deutsche Sprachgesellschaft, die 1617 gegründete „Fruchtbringende Gesellschaft“, orientierte sich ganz am Vorbild der Accademia della Crusca (vgl. Otto 1972 und die dort ausgewiesene Literatur). Die Grundtendenz der Bemühungen um die Sprache lief darauf hinaus, für alle Bereiche praktischer Sprachverwendung, ob im poetischen oder politisch-gesellschaftlichen
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
Referenzrahmen (siehe die Rhetorik), gemäß poetologischen und grammatikalischen Regeln ein Normierungsgerüst bereitzustellen. Mehr als konkrete Ergebnisse der Gesellschaftsarbeit ⫺ als Beispiel ist jedoch die Deutsche Rechtschreibung von Gueintz (1645) für Sprachreinigung und Normierungsstreben sehr bezeichnend ⫺ verdient diese Grundintention der Gesellschaftsarbeit Beachtung. Zeichentheoretisch zielt dies auf die Etablierung der für das Sprachsystem unverzichtbaren Invarianten ab, wobei die Aufnahme solcher sprachinhärenter Verlaufslinien als direkter Programmpunkt natürlich eine sprachpolitische Steuerung der Selbstorganisation der Gebrauchsregeln bedeutet. Je fundamentaler die Rolle des Gebrauchs für die Zeichenkonstitution gedacht wird, um so dringlicher und bedeutsamer erscheint eine solche Aufgabenstellung. Als rein praktische Aufgabe, also ohne Implikationen auf der Ebene der konstitutiven Regeln des Zeichensystems, bleibt ein solch sprachpflegerisches Bemühen auch bei universalistischen Ansätzen rationaler Grammatik bestehen, rückt dort aber ⫺ sieht man von den universalen Interessen Leibnizens ab ⫺ nie in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Die im einzelnen bereits angesprochenen, bzw. unter § 3. abgehandelten Autoren (Opitz; Schottel; Buchner; Harsdoerffer; vgl. auch §§ 2.3.2. und 2.4. zu Vaugelas) vermitteln auch ein Bild der über puristische Bestrebungen hinauszielenden und wirkungsgeschichtlich weiterweisenden Arbeiten. Erwähnung verdient die Ausstrahlung des sprachpflegerischen Grundgedankens und die Aufnahme dieser Intentionen in den Gelehrtengesellschaften des 18. Jahrhunderts, selbst wenn diese sich ausdrücklich von den barokken Sprachgesellschaften distanzierten. In systematischer Sicht überwiegen hinsichtlich Zeichenpflege und Regelauffassung die Gemeinsamkeiten die Differenzen weit. Insbesondere die vielerorts im 18. Jahrhundert blühenden „Deutschen Gesellschaften“ ⫺ deren „spiritus rector“ in Leipzig Gottsched war ⫺ gilt es zu beachten und selbst der 1885 gegründete „Allgemeine Deutsche Sprachverein“, dessen Nachfolgeorganisation bis in die heutige Zeit wirkt, zeigt sich in seiner Zielvorgabe („den echten Geist und das eigentümliche Wesen der deutschen Sprache zu pflegen und den Sinn für ihre Reinheit, Richtigkeit, Deutlichkeit und Schönheit zu bele-
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ben“; Otto 1972, 69) unmittelbar den programmatischen Zielen der Fruchtbringenden Gesellschaft verpflichtet. Eine Wurzel ⫺ wenngleich mit Sicherheit nicht die bedeutendste ⫺ der 1700 auf Anraten von Leibniz gegründeten Preußischen Akademie der Wissenschaften, mag vielleicht auch in der Arbeit der Fruchtbringenden Gesellschaft zu sehen sein. Leibniz selbst hoffte zwar, wie die Unvorgreifflichen Gedanken (1693; vgl. § 2.4.) belegen, auf eine Verbesserung der Stellung des Deutschen, verfolgte also im Grunde ähnliche sprachpolitische Ziele wie die Sprachgesellschaften, stand jedoch den konkreten puristischen Bestrebungen distanziert, wenn nicht sogar verständnislos gegenüber (vgl. Leibniz 1693, § 16 ff). Leibnizens Interesse für die Probleme der praktischen Zeichenpflege zeigt sich daneben in seiner Propagierung umfangreicher Wörterbuchprojekte (vgl. Leibniz 1693, § 32 ff). Grundsätzlich steht die Normierung und Pflege der Zeichensysteme jedoch in engem Zusammenhang mit dem sich aus der humanistischen Grammatiktradition herleitenden Zeichen- und Grammatikverständnis, wenn es dieses, wie anhand von Schottel gezeigt, auch gelegentlich überbietet. Nicht die rationalistische Traditionslinie von Scaliger über Sanctius und Port-Royal wirkte sich hier aus, sondern das Korrektheitsideal der Humanisten. Dabei bestimmte zwar die lateinische Tradition der Humanismusgrammatik den Rahmen, doch verband sich dies mit dem wachsenden Interesse an den nationalen Sprachen. Diese humanistische Quelle der Entdeckung der Eigentümlichkeit und des besonderen Werts der Volkssprachen macht deutlich, daß trotz des Spannungsverhältnisses zum lateinischen Muster die Grammatik sehr eng dieser Tradition korreliert. Ein ganz anderes Moment kommt hingegen mit der Betonung des historischen Aspekts bei Condillac, Herder und Vico herein (zu diesem zweiten Aspekt vgl. § 2.5.). Doch gibt es auch hier Parallelen und Verknüpfungspunkte. Nicht zu Unrecht weist Hecht (Nachwort zu Schottel 1663 ⫽ 1967, 19*) auf die Zukunftsträchtigkeit der bei Schottel bereits „erahnten“ geschichtlichen und systematischen Aspekte im Hinblick auf Sprache als gestaltende Kraft hin. Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Linie erfolgte dann ohnehin in dem völlig anderen sprachwissenschaftlichen Paradigma des 19. Jahrhunderts (vgl. Art. 79).
1302 2.4.
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Universale und rationale Grammatik
2.4.1. Scaliger Entwickelt sich in der Renaissance also ein relativistisches, den Kategorien des Gebrauchs und des Musters verpflichtetes Verständnis von Grammatik, mit einer zeichentheoretisch bemerkenswerten Einbindung des Sprecher-Hörer-Verhältnisses als Konstitutivum ⫺ zumindest wird dies durch die Theorie inpliziert⫺, so wird in der Spätrenaissance mit dem 1540 erschienenen Werk Scaligers (1484⫺1558) die Aufmerksamkeit in die andere Richtung gelenkt, indem die Gesetze und Regeln der Sprache nicht gemäß ihrer sozialen Etablierung beschrieben werden, sondern nach den Regeln gefragt wird, die der sozialen Etablierung der Sprache vorausliegen. Scaligers Frage nach den Ursachen („causae“) nimmt dabei direkt die Fragerichtung der Grammatik von Port-Royal voraus. Zwar gilt für Scaliger ⫺ wie übrigens auch für Port-Royal ⫺, daß der Grammatiker den Gebrauch zu beschreiben hat, doch die Intentionsrichtung ist anders als in der humanistischen Grammatik Vallas. Nach den Gründen für bestimmte Strukturen in der Sprache wird gefragt, nicht werden die Muster als Grund benannt. Deshalb trennt Scaliger Grammatik und Stilistik, die in Vallas Schriften eine ununterscheidbare Einheit bilden, und gelangt dabei zur prinzipiellen Unterscheidung von Grammatikalität und Akzeptabilität (vgl. Ste´fanini 1976, 322 und 326). Man könnte sagen, daß die Verletzung konstitutiver Regeln des Zeichensystems ⫺ das sind Regeln, die einen rationalen Grund haben ⫺ der Nichtbeachtung von Angemessenheits- und Gebrauchsregeln gegenübergestellt wird. Die Grammatik sieht Scaliger in eine umfassende allgemeine Zeichentheorie eingebettet, dergestalt, daß sie die artikulierte Sprache zum Gegenstand hat. Diese selbst steht in Opposition zu nicht artikulierten stimmlichen Lauten und stellt zusammen mit diesen eine Untergruppe der Zeichensysteme dar, die auf den Gehörsinn Bezug nehmen. Bei der Umsetzung der Verstandesbegriffe in ein sinnlich wahrnehmbares Medium, wie sie für die Zwecke der Kommunikation erforderlich ist, ist nach Scaliger neben den Zeichen für den herausgehobenen Gehörsinn jedoch auch an Zeichen für den Gesichtssinn zu denken, womit nicht lediglich Verschriftung gemeint ist. Situiert Scaliger die menschliche Sprache also wie Saussure im Rahmen einer allge-
meinen Zeichentheorie, so stimmt er auch in der Auffassung von der Arbitrarität des Zeichens mit diesem ⫺ wie mit Port-Royal ⫺ überein. Die konstatierte Arbitrarität des Zeichens kollidiert dabei ebensowenig mit der Annahme von Begründungsstrukturen wie die rigide Einforderung der Beachtung der Regeln des Gebrauchs. Diesen hält Scaliger, dem Humanismus darin stark verpflichtet, als Sprachrichtigkeit („latinitas“) ganz im rhetorischen Sinn hoch und wert. Entscheidend für die gewandelte Blicknahme des sprachlichen Zeichens ist nicht eine Abwertung des richtigen Gebrauchs in der praktischen Sprachverwendung, sondern die Annahme einer rationalen Organisation, die der Sprache im lexikalischen Bereich wie insbesondere in der grammatischen Struktur eignet und die dem Gebrauch vorausliegt. 2.4.2. Sanctius Betrachtet man die Inseln universalistischrationalistischer Sprachreflexion in der humanistischen Tradition, so gilt es auch auf die 1585 erschienene Minerva von Sanctius (1554⫺1628) hinzuweisen (vgl. Salus 1976, 88). Als Lateingrammatik angelegt, bietet das Werk tiefgründige Überlegungen zur logischen Struktur der Grammatik allgemein, und die Unterscheidung einer Oberflächenund Tiefenstruktur, die Chomsky an der Port-Royal-Grammatik hervorhebt, findet sich der Sache nach eindeutig schon bei Sanctius (vgl. Percival 1976). Festzuhalten ist auch bei Sanctius das Bemühen, Erklärungen bezüglich der sprachlichen Phänomene zu geben, was auf jene grundlegende Differenz zwischen rationalistisch-universalistischer und humanistisch-rhetorischer Sprachbetrachtung und Zeichenkonzeption verweist, die mit der Unterscheidung von Beschreiben des korrekten Gebrauchs und Erklären der Phänomene angezeigt ist. Die Fronten hinsichtlich der Frage nach der Arbitrarität des einzelnen sprachlichen Zeichens korrelieren dabei wie gezeigt nicht der Unterscheidung begründend vs. beschreibend, wofür die Port-RoyalGrammatik, die die Doktrin von der Arbitrarität des Zeichens vertrat, deutliches Beispiel ist. Die Frage der Logik der Zeichenverknüpfung und das Problem der Begründbarkeit grammatikalischer Kategorien ist vielmehr entscheidend. So gewinnt die Grammatik von PortRoyal einen Gutteil ihres zeichentheoretischen Interesses aus der Gegenüberstellung zu Vaugelas, da die „grammaire d’usage“ und
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
die rationale oder philosophische Grammatik grundlegend verschiedene semiotische Räume etablieren. Die Tendenz der Arbeiten ist dabei ausschlaggebend. Die unterschiedliche Gerichtetheit überwiegt bei weitem die in jüngerer Zeit von der Forschung (vgl. Hillman 1975) wieder stärker in den Blick genommenen oberflächlichen Gemeinsamkeiten. 2.4.3. Vaugelas Claude F. de Vaugelas (1585⫺1650) etablierte mit einer Grammatik der Anmerkungen zum richtigen Gebrauch einen Typus, der auf Beobachtung einer ausgezeichneten Variante der Alltagssprache, nämlich der Sprache des Hofs, beruht. Der Gebrauch war, wenn nicht die einzige, so doch die ausschlaggebende Autorität. Das Zeichen und die Verknüpfung der Zeichen wurde folglich auch wesentlich von der Oberflächenstruktur her bestimmt. Zu einer theoretischen Fundierung des dekriptiven Ansatzes gelangt Vaugelas allerdings nicht. Zwar tritt bei ihm an die Stelle der Erklärung die Beschreibung, was Wittgensteins Diktum, daß alle Erklärung durch Beschreibung ersetzt werden muß, Genüge leisten würde, doch eine analoge Konzeption zu Wittgensteins Unterscheidung von Oberflächengrammatik und Tiefengrammatik, wo die Einbettung in Gebrauchszusammenhänge und die Rechtfertigung durch Institutionen die Tiefenstruktur beschreibt, ist bei Vaugelas nicht zu finden. Es setzt dies eine Reflexion darüber voraus, daß die grammatikalische Form selbst die Differenzen des tatsächlichen Gebrauchs zu verschleiern vermag. Dies ist erst möglich, wenn eine philosophische Fundierung stattfindet, die der Praxis und der Erfahrung unmittelbar eine kategorienbildende Funktion zuschreibt. Ansätze dazu erwachsen später aus anderen sprachphilosophischen Konzeptionen bei Condillac, Hamann und Herder (vgl. § 2.5.). 2.4.4. Die Grammatik von Port-Royal In der Port-Royal-Grammatik begegnet man, wie Chomsky richtig bemerkt, einem grundsätzlich anderen, rationalistischen und universalistischen Rekurs auf eine Differenz von Tiefen- und Oberflächenstruktur. Die Logik von Port-Royal und die Grammatik sind dabei als Einheit zu betrachten, wie sowohl Dominicy (1984) als auch Donze´ (1967, 175) feststellen, die darauf verweisen, daß die Grundlegung rationalistischer Grammatik des 18. Jahrhunderts auf dem Gesamtkomplex von Grammatik und Logik beruht. Die
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Tiefenstruktur im Sinn der Port-RoyalGrammatik zeigt die universelle, rationale Denkstruktur, wie sie dem Urteil zugrunde liegt, an und bringt die Bedeutung zum Ausdruck. Sie ist entsprechend der Universalität des Denkens allen Sprachen gemeinsam. Die Diversität der Sprachen gründet zum einen darin, daß die Regeln, die die Tiefenstruktur mit dem materiellen Korrelat des geäußerten Satzes verbinden (wir können hier in moderner Terminologie von Transformationsregeln sprechen) sprachspezifisch sind, zum anderen in der Arbitrarität des Zeichens, die Arnauld (1612⫺1694) in Logique (1662) wie Grammaire (1660) betont. Chomsky gewichtet die Parallele der „grammaire ge´ne´rale“ zu modernen Konzeptionen so stark, daß er feststellen zu können glaubt, daß die moderne Theorie der transformationellen generativen Grammatik als explizitere Version der Port-Royal-Theorie verstanden werden kann (Chomsky 1966, 38 f). Es ist hier angezeigt, darauf zu verweisen, daß die Korrelation zu neueren Chomsky-Thesen nicht so problemlos aufgewiesen werden kann. Dafür ist kennzeichnend, daß die von Chomsky (1966, 33 f) beispielhaft verwendete Analyse des attributiven Adjektivs als Relativsatz heute von ihm selbst nicht mehr vertreten wird. Diese an der Struktur logischer Zeichenverknüpfung orientierte Analyse Arnaulds betrifft allerdings eine Grundthese der PortRoyal-Grammatik, wie am Verständnis der Rolle des Verbs deutlich wird. Der von Chomsky als Beispiel benutzte Satz Dieu invisible a cre´e´ le monde visible wird von Arnauld als zusammengesetzte Aussage von drei Teilen verstanden, deren jede ein eigenes affirmatives Urteil ausdrückt. Die berühmte Theorie über den zeichentheoretischen Status des Verbs als Verknüpfung von zwei Ideen in einer affirmativen Aussage spielt hier herein, da der Satz zu analysieren ist als ‘Dieu est invisible & Dieu a cre´e´ le monde & Le monde est visible’. Die Nominalphrase (Adjektiv ⫹ Substantiv‚ dieu invisible) wird als Satz analysiert, bei welchem das „verbe substantif“ ⫺ die Kopula est ⫺ weggefallen ist. Das „verbe substantif“ spielt insofern eine ausgezeichnete Rolle, als es die Affirmation, die eigentliche Grundfunktion des Verbs, rein ausdrückt. In den anderen Fällen, die PortRoyal-Grammatik spricht vom „verbe adjectif“, werden akzidentelle Beziehungen zusammen mit der prinzipiellen Bedeutung der Affirmation verknüpft, seien dies Beziehungen
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zum Attribut ⫺ so schließt das lat. vivit in Petrus vivit die reine Affirmation und das Attribut ‘lebend’ ein ⫺, zum Subjekt oder zur Zeit. Die traditionellen Definitionen des Verbs werden auf dieser Basis kritisiert, und der Vorwurf wird erhoben, daß diese ihre Aufmerksamkeit auf akzidentelle Phänomene wie Kongruenz und Tempus gelegt haben. Deutlich wird hier der Rückgang auf logische Strukturen als Begründungsmuster (vgl. auch Leibniz) für die grammatischen Kategorien und die Herleitung der Eigenschaften der Zeichen und Zeichensysteme von den universal gedachten Verstandesstrukturen. Es ist dies der Wesenszug der rationalen Grammatik cartesianischer Ausprägung sowohl im allgemeinen Anspruch wie im Benennen von Vernunftgründen. Dies hält im Prinzip auch Foucault (1967, 7) fest, wenn er resümiert, daß „la grammaire ne saurait valoir comme les pre´scriptions d’un le´gislateur“ sondern „e´nonce les re`gles auxquelles il faut bien qu’une langue s’ordonne pour pouvoir exister“ („die Grammatik dürfte keine Wertungen geben wie die Vorschriften eines Gesetzgebers“, sondern sie „gibt die Regeln an, nach denen eine Sprache sich wohl richten muß, um existieren zu können“). Es benennt dies exakt jene Differenz in der Auffassung des Zeichens und der Organisation des Zeichensystems, die wir in ihrem dialektischen Gegeneinander als fundamentale Verlaufslinie des betrachteten Zeitraums zugrunde legen. Die konkreten Ausführungen zum Verb zeigen dabei, daß die Port-Royal-Grammatik auf der Basis logisch-kategorialer Unterscheidungen auch pragmatische Phänomene in den Blick nimmt. Swiggers (1984, 111) weist darauf hin, daß eine originäre Leistung der Grammaire in der Unterscheidung zweier Funktionen des Verbs liegt, deren eine intern (syntaktisch-semantisch), deren andere hingegen extern (performativ und pragmatisch) bestimmt ist. Die Unterscheidung korreliert Ausarbeitungen der universalen rationalistischen Grammatik bei Du Marsais, wo mit der Gegenüberstellung von „proposition“ und „e´nonciation“ dieser Unterschied aufgegriffen wird (zu den Weiterungen der Diskussion bei Beauze´e vgl. Swiggers 1984, 112 f). 2.4.5. Beauze´ und Du Marsais Dezidiert festgelegt wird die Bestimmung und Funktion einer allgemeinen Grammatik in der Nachfolge von Port-Royal. Beauze´e (1717⫺1789) und Du Marsais können als Schlüsselfiguren der universalistisch-rationa-
listischen Grammatik angesehen werden. Die zeichentheoretischen Implikationen kommen dabei am besten in der Auseinandersetzung mit der sensualistisch begründeten Grammatik in der Folge Condillacs in den Blick, beispielhaft etwa in der für das 18. Jahrhundert charakteristischen Diskussion über das Inversionenproblem. Finden sich bei Du Marsais auch sensualistische Einflüsse, so kommt doch im Streit um die Existenz eines der Vernunft entsprechenden Satzbaus als „ordre naturel“ (vgl. Abb. 67.1) bei ihm die klassisch rationalistische und universalistische Position deutlich zum Ausdruck. Der Grundgedanke besagt, daß erfahrungsunabhängige sprachliche Parameter als universelle Vorgabe in den Einzelsprachen nur zufällige Modifikationen erfahren. Dementsprechend werden auch die Sprachen hinsichtlich der universellen Struktur als unmittelbar vergleichbar gedacht, was zu der These von der Universalität der französischen Sprache führte, da hier die Oberflächenstruktur der gesprochenen Sprache der logischen Tiefenstruktur des Denkens in der Anordnung der Zeichen entspricht (vgl. Rivarol 1784: Discours sur l’universalite´ de la langue franc¸aise). Vertreten wurde die Theorie vom „ordre naturel“ des Französischen bereits von der Port-Royal-Grammatik, doch erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts entfaltete sich die grammatische Kontroverse im Gegeneinander der sprachphilosophisch divergenten Grundannahmen von Sensualismus und Rationalismus (vgl. Ricken 1976; dort weitere Literaturangaben). Bezeichnenderweise artikulierten sich Gegenmeinungen zur Annahme eines verbindlichen Prinzips der Wortfolge in der Entwicklung des cartesischen Denkens selbst und zwar dort, wo das Interesse nicht auf die rationale Struktur und die „res cogitans“ gerichtet war, sondern wo die Psychophysiologie von Descartes auf die Sprache angewendet wurde. Ricken verweist auf Bernhard Lamy als Autor des ersten theoretischen Versuchs einer Widerlegung, und es ist keineswegs zufällig, daß damit ein Rhetoriker genannt wird, der Sprache von der Seite der res extensa her betrachtet und dabei die Passionenlehre ins Spiel bringt (Ricken 1976, 462 f). Die Passionenlehre benennt ein Prinzip, das in allen Sprachtheorien angenommen wird, wobei der Status der Passionen für die Etablierung sprachlicher Einheiten jedoch signifikant differiert. So kann es beim Zustandekommen des sprachlichen Zeichens um die Verbindung des Eindrucks eines Gegenstan-
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
des mit dem Eindruck eines Wortes gehen oder um den unmittelbaren Ausdruck einer Empfindung wie bei den Interjektionen. In letzterer Form kommt eine auf Passionen gründende ‘Sprache’ selbst dem Tier zu, was Herders rhetorischer Formulierung „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ als Verweis auf die Sprache der Empfindungen zugrunde liegt (Herder 1772; vgl. auch Art. 65 § 7.2. zu Herder). Die Rückführung auf Sinneseindrücke (vgl. § 2.5. zu Horne Tooke) spielt ebenso eine Rolle wie die Auslösung affektiver Reaktionen. Die Bezugnahme auf Passionen stellt immer ein psychologisches Argument dar und findet sich sowohl in der Rhetorik wie in der Poetik in der Frage der Evokation von Affekten, sei es durch poetische Mittel, sei es durch rhetorische Figuren. In der Grammatik nun hängt von der Gewichtung der Rolle der Sinneseindrücke ab, ob und inwiefern apriorische rationale Prinzipien angenommen werden. In Hinsicht auf die Wortstellung argumentierte Lamy in Analogie zur Sinneswahrnehmung für einen gedanklichen Gesamtgehalt des Satzes, der nicht an sich nach logischen Kriterien strukturiert sei, sondern nur für die sprachliche Mitteilung in lineare Aufeinanderfolge zu bringen sei. Damit ist die Prämisse des „ordre naturel“ hinfällig und der Weg frei für eine Wortstellung, die rhetorischen Kriterien eher denn logischen Gesetzen gehorcht. „Als notwendiges Prinzip der Wortfolge gilt nunmehr eine psychologisch wirksame, die Aufmerksamkeit des Hörers fesselnde Gedankenverbindung“ (Ricken 1976, 463). Wendete sich später Condillac eher indirekt gegen eine genormte Reihenfolge, so brachte Batteux in den Lettres sur la phrase franc¸oise compare´e avec la phrase latine (1748) eine Auszeichnung der Wortfolge gemäß der Intensität der von den Dingen bewirkten Sensationen zum Vorschlag, also das direkte Gegenbild zu einer apriorischen universalen Ordnung. Auch bei Batteux ist wiederum auf den sogar dezidiert gesuchten Konnex zur Rhetorik hinzuweisen, den er im Traite´ de la construction oratoire (1764), seiner Entgegnung auf Du Marsais, unmittelbar im Titel kundtut. Auch Condillacs aus dem Inversionenstreit erwachsene Art d’e´crire (1769⫺73), eine sensualistische Stiltheorie, macht die rhetorische Komponente deutlich. Auf der rationalistischen Seite fand das rhetorische Moment und der Ausdruck der Passionen als Darstellung der affektiven Wertigkeit und des Interesses (Topikalisierung) bei
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Du Marsais seine Berücksichtigung in der Annahme einer „construction figure´e“, die allerdings auf die „construction naturelle“, die vorgängige, universelle Ordnung, angewiesen bleibt. Allein diese universale Struktur ist originärer Gegenstand der Grammatik. Die von Interesse und Affekten geleitete rhetorische Wortstellung kann wegen des Fehlens einer festen Ordnung unter keine Regeln ⫺ die traditionelle Bestimmung der Grammatik (vgl. § 2.3.1. zu Dante) ⫺ gebracht werden. Die „construction usuelle“, von Du Marsais als Mischform von „construction naturelle“ und „construction figure´e“ gedacht, die in den unterschiedlichen Formen der Einzelsprachen zum Ausdruck gelangt, kann daher nur beschrieben werden und entzieht sich der Erklärung. Nicolas Beauze´e formulierte dann in seiner Grammaire ge´ne´rale, ou Exposition raisonne´e des e´le´ments ne´cessaires du langage pour servir de fondement a` l’e´tude de toutes les langues (1767) die rationalistischen Prinzipien in zugespitzter Form, um den Angriff von Batteux auf Du Marsais zu beantworten. Beauze´e stellt somit in seiner Argumentation bezüglich der „science grammaticale“ als allgemeiner Grammatik, die allen Einzelsprachen vorausliegt, und der „art grammaticale“, die a posteriori die verschiedenen Sprachen untersucht, den Musterfall der universalen rationalistischen Grammatik dar. Betrachten wir von dieser Problemstellung aus die heutige ‘rationalistische’ Position Chomskys, so ist zum einen festzuhalten, daß Chomsky die Lehre von der Wortstellung als durch logische Prinzipien vorgegebener Grundlage der Sprache ablehnt (vgl. Ricken 1976, 484), daß er aber andererseits der Grundidee einer apriorischen Vorgabe, die nicht von Kommunikation und Passionen im klassischen Sinn bestimmt ist, durchaus Folge leisten würde. Chomsky könnte im übrigen auch der philosophischen Position des Sensualismus folgen, in dem Sinne, daß die apriorischen Strukturen sich evolutionär entwickelt haben. 2.4.6. Leibniz In der Geschichte der rationalen Grammatik nimmt G. W. Leibniz (1646⫺1716) einen prominenten Platz ein, wenn er auch lediglich in Fragmenten seine Überlegungen zur „grammatica rationalis“ bzw. „grammatica universalis“ vorgelegt hat und sie nicht in einer zusammenhängenden, ausgearbeiteten Form präsentiert (die meisten finden sich in Coutu-
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rat 1903). Brekle (1971) hat gezeigt, inwiefern Ersetzungen, die nach Leibniz von der im normalen Sprachgebrauch gegebenen Form zur logischen Grundform des a est b führen, mit Ersetzungsregeln der generativen Grammatik vergleichbar sind. Die „grammatica rationalis“ bestimmt sich nach Leibniz vornehmlich als Disziplin, welche die Regeln solcher Ersetzung angibt. Wir verweisen beispielsweise auf den Gedanken der Ersetzung des Verbs durch ‘Nomen ⫹ est’ oder der Kasus durch den ‘Nominativ ⫹ Partikel’ (Couturat 1903, 35). Die Definitionen des Satzes greifen bei Leibniz zurück auf traditionelle Formulierungen, wie sie in der Rezeption des aristotelischen Organons das ganze Mittelalter hindurch gebräuchlich waren (vgl. Burkhardt 1980, 127 ff, der einige Beispiele versammelt). Berührt werden damit die Grundlagen des metaphysischen Systems: Der Gedanke, daß das Prädikat dem Subjekt inhärent sei („praedicatum inest subiecto“), ist vor dem Hintergrund des Leibnizschen Substanzbegriffs zu sehen ebenso wie die Aufgaben der Logik ⫺ Leibniz rechnete die nichtsyllogistischen Schlußformen der Grammatik zu. Dies mag nochmals den rationalistischen Ansatz bei Leibniz verdeutlichen, der jedoch in den sprachpolitischen und den sprachwissenschaftlichen etymologischen Überlegungen zurücktritt. Im Gegensatz zu den anderen Rationalisten finden sich bei Leibniz sowohl das kommunikative Moment als zeichenprägende und definierende Gestaltungskraft berücksichtigt wie auch Sprachentwicklungslinien bedacht, die das Verhältnis von Lautgestalt und begrifflichem Gehalt als Wirkungsgröße von natürlicher Motiviertheit und historischer Veränderung begreifen. Gedanken, wie sie in den Arbeiten Herders, Condillacs oder Horne Tookes ihren Niederschlag finden, klingen hier an (vgl. § 2.5.). Die Ausführungen zur rationalen und universalen Struktur der Grammatik zielen ihrem Wesen nach bei Leibniz hingegen stärker auf eine Ideal- oder Universalsprache. Da weder die sprachphilosophischen noch die universalsprachlichen Konzeptionen Gegenstand dieses Artikels sind (vgl. Art. 65), sei auch auf die fundamentalen Überlegungen von Leibniz zu einer Klassifikation der Welt, die sich in der Zeichenstruktur widerspiegelt und das idealsprachliche Lexikon bestimmen müßte, nur ganz am Rand verwiesen. Leibnizens Anmerkungen zum Deutschen und zu anderen natürlichen Sprachen sind so deutlich zu unterscheiden von seinen Überle-
gungen zu einer Idealsprache, wenngleich festzuhalten bleibt, daß auf einer sehr grundlegenden Ebene doch eine gemeinsame Struktur gedacht wird. Die natürliche Sprache stellt gleichsam die unterste Stufe der Zeichentheorie dar (Poser 1979, 311; Heinekamp 1976, 550). Dies wird insbesondere in den etymologischen Erwägungen augenfällig. Deutlich erkennbar ist eine Verwandtschaft mit Schottel, sowohl hinsichtlich der Wurzelworte wie hinsichtlich der Motiviertheit der Zeichen. Insgesamt nimmt Leibniz in der Frage der Arbitrarität des Zeichens einen vermittelnden Standpunkt ein. Bereits aus der Tatsache, daß die Anzahl möglicher motivierender Korrelationen zwischen Zeichen („signifiant“) und Bezeichnetem unbegrenzt ist ⫺ die unmittelbare onomatopoetische Abbildung, der Leibniz einige Aufmerksamkeit widmet, umfaßt nur einen kleinen Teil der Zeichen ⫺, folgt ein hoher Grad an Arbitrarität. Doch neigt Leibniz letztlich einer naturalistischen These zu, insofern er den Wurzeln, den letzten Elementen der Sprache, seien dies einzelne Wörter oder Wortpartikel, eine natürliche Bedeutung („significatio naturalis“; vgl. Heinekamp 1976, 540 ff) zubilligt. Es liegt auf der Hand, daß Leibnizens metaphysisches Prinzip des zureichenden Grundes hier zum Tragen kommt, und somit wird eigentlich eine Verbindung der rationalen und genetischen Denkrichtungen ⫺ der Untersuchung von logischer Struktur und Sprachursprung ⫺ geleistet. Wenn Leibniz die mnemonischen und erkenntnisfundierenden Funktionen der Zeichen und der Zeichenoperationen betont und zugleich auf die kommunikative Funktion der Sprache als eigentlichen Grund für deren Erfindung hinweist (1705 ⫽ 1765), dann erwächst dies nicht aus widersprüchlichen Intuitionen, sondern beruht auf der Verknüpfung empirischer und rationaler Konzeptionen. In der Sprachvergleichung ⫺ Leibniz kommen auch Verdienste hinsichtlich der Etablierung der finno-ugrischen Verwandtschaftsbeziehungen zu (vgl. Droixhe 1987, 91⫺114) ⫺ leistet Leibniz gerade vor dem Hintergrund eines universalistischen Denkens der Sprache seinen Beitrag, da er in der Phänomenbetrachtung die einzelsprachlichen Parameter um so deutlicher zu analysieren sich bemüht. Zeichentheoretisch interessiert Leibniz bei der Betrachtung der natürlichen Sprachen nicht in erster Linie das universale Moment, obwohl er die verschiedenen Strukturen von einer einheitlichen Theorie her denkt ⫺ eine
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
Leistung, die in unserer Zeit das wesentliche Verdienst der Chomskyschen Arbeiten ausmacht. Leibniz selbst richtete das Hauptaugenmerk nicht auf den Nachweis der universalen Strukturen der Einzelsprachen, sondern auf die philosophische Durchdringung des Zeichensystems Sprache, wobei die Grammatik des Verstandes („grammatica rationis“) direkt zu Überlegungen hinsichtlich der Sprachplanung und Verbesserung der Sprachen und damit zum Aufbau der Kalkülsprachen führt (vgl. Heinekamp 1976, 533; siehe auch Art. 175 und Art. 176). Damit ist dann allerdings ein fundamentaler Unterschied, nicht nur in der Interessenrichtung, zu Chomsky angezeigt. Die Zeichenkonzeption von Leibniz beleuchtet am besten sein berühmter und vielzitierter Vergleich des sprachlichen Zeichens mit Rechenpfennigen (1693, § 7; vgl. auch Heinekamp 1976), wobei hier zugleich der Spannungsbogen zwischen „grammatica rationis“ und einzelsprachlichen Wort- und Strukturbestimmungen deutlich wird. Um „die Worte als Ziffern oder als Rechenpfennige“ gebrauchen zu können, ist es zwar notwendig, daß sie „wohl gefaßt, wohl unterschieden, zulänglich, häufig, leichtfließend und angenehm“ sind ⫺ logische und pragmatische Erfordernisse finden sich hier gut gemischt ⫺, doch von der Motiviertheit des Zeichens ist hier keine Rede, und historische Veränderungen treten, bedenkt man die Konzeption, nur als Störfall auf. Denn, obwohl diese Erläuterungen im Kontext von Überlegungen zur deutschen Sprache stehen, bestimmt sich das Ziel als universale Findungsmethode einer „ars inveniendi“, deren empirisch in den Sprachen erfahrbarer Gehalt („daher braucht man oft die Worte als Ziffern […]“) als Beleg für die Sprachtheorie einer „characteristica universalis“ dient. Da „die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen sind“ (1693, § 5), können und sollen sie vornehmlich dazu dienen, durch wohldefinierte Operationen ⫺ die Regeln der Grammatik (und Logik!) ⫺ zu neuen Erkenntnissen zu führen. Man operiert gleichsam mit Chips (Rechenpfennigen), um am Schluß das Ergebnis in Goldwährung (Erkenntnis) umzutauschen (vgl. Artikel 41 § 2.). Die Wohldefiniertheit der Zeichen und der Operationen vorausgesetzt, erhalten wir so auf einfache Weise Resultate unserer Denkbemühungen. Hier sieht Leibniz die eigentliche Bedeutung des sprachlichen Zeichens, und dies ist der Gehalt seiner erkenntnistheoretischen Forderung: „Calculemus“.
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In verschiedener Hinsicht entspricht diese Auffassung vom sprachlichen Zeichen recht genau sensualistischen Konzeptionen; so, wenn die Abstraktionsleistung und die Instrumentalisierung des Zeichens als eines Kürzels in Denkprozessen angesprochen sind. Auf der philosophischen Ebene bleibt bei Leibniz allerdings gleichwohl die rationale Vorgabe ⫺ und sei es auch nur die fundamentale des Prinzips des zureichenden Grundes und des Satzes der Identität ⫺ wichtig. Nur jedoch, insofern die Grammatik auf solche Grundprinzipien sich stützt, kann davon gesprochen werden, daß sie rational und allgemein zu denken ist und a priori gegeben ist. Es läßt dies in allen konkreten Fragen einen weiten Spielraum für empiristische Positionen. Der Leibnizsche Grundgedanke des Rechnens mit Zeichen, die für Begriffe stehen, läßt sich am besten verstehen, wenn man auf der anderen kategorialen Ebene der Sätze Wittgensteins Tractatus-Konzeption betrachtet. Bei Wittgenstein sind die Worte (der „Satz“) ebenfalls der Gedanken („Gedanke“) wie der Dinge („Sachverhalt“) Zeichen (Tractatus 3, 1922), und hier funktioniert das Prinzip des Rechnens (mit Wahrheitswerten) tatsächlich so, daß sich am Ende der Rücktransfer vom Zeichen (dem „Satz-Bild“) über den Gedanken (das „Gedanken-Bild“) zu den Dingen bzw. deren Verhältnis zueinander (dem „Abgebildeten“) herstellen läßt (vgl. Art. 109). Die Traditionslinie einer allgemeinen Grammatik umfaßt von Arnauld ausgehend Leibniz, Du Marsais (1729), Beauze´e (1767), Condillac und die Ideologen, wobei die Mischung rationalistischer und empiristischer Stränge das eigentliche Charakteristikum darstellt. Diese bleibt bei Leibniz noch von rationalistischen Grundannahmen eingeholt, bei Condillac erfährt sie jedoch jene sensualistische Ausrichtung, die den Leibnizschen Opponenten Locke als einen Gewährsmann ersten Ranges ins Spiel bringt. Chomsky verkennt in seiner Cartesianischen Linguistik genau jene bei Leibniz virulenten Momente, die bei Locke deutlich akzentuiert werden. Historiographisch stellen sie sich dar als Rekurs auf Historie und Erfahrung statt auf apriorische Kategorien. 2.4.7. Bernhardi Bevor wir uns dieser, der rationalen Universalgrammatik einerseits konkurrierenden, sie andererseits aufgreifenden Richtung zuwenden, sei beispielhaft auf einen Vertreter ratio-
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nalistischer Grammatik verwiesen, der allein schon deshalb Beachtung verdient, weil er das Kantische Programm eines erkenntnistheoretischen Idealismus rigoros auf die Sprache und die Grammatik der Sprache anwendet und gleichzeitig romantischem Gedankengut nahesteht: August Ferdinand Bernhardi (1769⫺1820). Bernhardi deduziert die Möglichkeit einer universalen Grammatik aus einer Sprachursprungstheorie, die Sprache als „früheste reinste Aeußerung des Verstandes“ (Bernhardi 1797, 8) und Abbild desselben versteht. Von daher scheint es ihm evident, daß es einen allgemeinen Kern der Grammatik geben muß, der diese Gemeinsamkeit des Vernunftursprungs widerspiegelt. Bernhardis grammatische Untersuchungen zielen in den Anfangsgründen der Sprachwissenschaft von 1805 auf die „nothwendige“ oder „idealische Form“ der Sprache, die realiter in keiner empirischen Sprache gegeben ist. Die Zeichendefinition Bernhardis selbst entbehrt einer besonderen Originalität, da er Sprache als „Ganzes von artikulierten Lauten“ bestimmt, die der Darstellung menschlicher „Vorstellungen“ dienen: „Dasjenige was die einzelne Vernunft in der äußeren Anschauung hervorbringt, um sich mit anderen zu verknüpfen, heißt: eine Darstellung“ (Bernhardi 1805, 12). In dieser Bestimmung klingt das kommunikative Ziel, das teleologische Ursache des Sprachursprungs ist, an, aber auch die von Kantischer Erkenntnistheorie geprägte Vorstellung einer allgemeinen absoluten Vernunft, die sich ihrer Selbstübereinstimmung in der Übereinstimmung der Einzelsubjekte vergewissert. Es zeichnet Bernhardi aus, daß er in der rationalen, von apriorischen Denk- und Erkenntnisstrukturen bestimmten Darstellung gleichwohl den kommunikativen Aspekt betont und die Kommunikationssituation für systematische Unterscheidungen wie die zwischen „gebundener“ und „freier“ Darstellung ⫺ erstere erfordert den unmittelbaren situativen Bezug auf die Kommunikationspartner, bei letzterer kann von den konkreten Umständen abstrahiert werden ⫺ nutzt. Die überaus geläufige Unterscheidung „willkürlicher“ und „nachahmender“ Zeichen erfährt vor dem Hintergrund der Kantischen Begrifflichkeit ihre besondere Note. Als Funktion der Einbildungskraft erhalten wir motivierte Zeichen, die, wenn der Verstand sich dieser Zeichen bemächtigt, zu den willkürlichen Zeichen werden, die für die
Sprachdarstellung charakteristisch sind (vgl. Bernhardi 1805, 43). Auf Kant nimmt Bernhardi auch in seiner Urteilstheorie Bezug, wobei das synthetische Moment in Begriffsbildung und Gegenstandskonstitution liegt, während die Urteile immer analytischen Charakter, gemäß der Kantischen Bestimmung des analytischen Urteils, haben. Wir finden uns damit eigentlich rückverwiesen auf Leibniz, bei dem im Prinzip alle Sätze analytischen Charakter haben. Bei den kontingenten Sätzen kann jedoch die Demonstration, insofern der Mensch über keine vollständige Vorstellung („notio completa“) verfügt, nicht immer geleistet werden. Sowohl Bernhardis Verständnis der Substanz als „Vereinigung mehrerer Eigenschaften zu einer Einheit“ (Bernhardi 1805, 118) als auch seine Analyse der Satzstruktur mittels „Inhärenz“ (die Anwendung des Prinzips „praedicatum inest subjecto“) entspricht Leibniz. Die Kopulatheorie, die Bernhardi konkret vertritt, unterscheidet sich auch kaum von der Auffassung von PortRoyal. Zusammenfassend ist festzustellen, daß nicht die Zeichendefinition Bernhardi interessant macht, sondern die Situierung in einem Argumentationsraum, in dem romantische Gedanken einer universalpoetischen Fundierung neben rationalem Kalkül stehen, historische Entwicklung in einer Bewegung der Vernunft aufgehoben wird und Kommunikationsgesichtspunkte sich mit apriorischen Denkstrukturen überschneiden. So kann Bernhardi für den Universalismus der apriorischen Denkgesetze stehen und zugleich auf den Universalismus der historischen Veränderung und der poetischen Kraft verweisen. Der Gebrauch als etablierter „usus“ hat hier keinen systematischen Ort; wenn der Sprachgebrauch hereinspielt, dann als dem Symbolisierungsvermögen innewohnende Kraft, die in historisch je spezifischer Weise zum Ausdruck gelangt. 2.5. Historie und Erfahrung als Parameter Von Leibniz ausgehend können wir ein Gegenmodell der Sprachbetrachtung, das auf den großen Leibnizschen Opponenten Locke (1632⫺1704) zurückgeht, betrachten (vgl. Art. 62 § 8.2.3.). Dieses steht nicht im philosophischen Paradigma des Rationalismus cartesianischer Prägung. Damit wird gleichzeitig eine dritte Komponente unserer anfänglichen Gegenüberstellung (vgl. Abb. 67.1) angesprochen, die zwar rationalistische Begrün-
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dungsmodelle anzuwenden sucht, gleichzeitig aber einem strikten Sensualismus verpflichtet ist und von daher das Schema sprengt. Es gibt dann keine apriorischen aller Erfahrung vorausliegenden Strukturen der Sprache, andererseits gibt es wohl gesetzmäßige Zusammenhänge und Entwicklungen, die die Zeichenkonstitution unabhängig von Muster und freier Konvention steuern, bzw. diese erst fundieren. Am Beispiel Horne Tookes sei dies erläutert. H. Tookes radikaler Sensualismus hinderte ihn nicht daran, die Port-Royal-Grammatik mit großem Respekt zu betrachten, und seine Fragestellung zielte genau wie die von PortRoyal auf philosophische Prinzipien der Grammatik und auf Erklärungsadäquatheit. Seine Topikalisierung des Abkürzungsverfahrens als Grundphänomen der Zeichenkonstitution in der Sprache hat seine Parallelstellen in der Erklärung des Adverbs durch die Port-Royal-Grammatiker, welche auch Condillac zugrunde legte. Doch während sich Abkürzungen im Port-Royal-Paradigma auf die Konstruktion beschränkten (vgl. die Relativsatzanalyse), wirkt die Abkürzung bei H. Tooke in dreifacher Form (vgl. Aarsleff 1967, 51). Bei der Begriffsbildung fassen die Namen die Mannigfaltigkeit der Einzeleindrücke in für die Kommunikation brauchbare kurze Ausdrücke zusammen ⫺ hier verweist Tooke auf Locke, und hierin liegt der Grund, wieso Tooke für Lockes Essay concerning Human Understanding als angemesseneren Titel „a Grammatical Essay“ ansieht. Bei den Wortarten steht als Zielvorgabe für Tooke die generelle Rückführung auf die Nomina, für die das benannte Schema der Zusammenfassung von Sinneseindrücken unmittelbar einsichtig ist. Doch verbleibt dann als Problemfall das Verb. Aus kommunikationstheoretischen Überlegungen muß Tooke es neben dem Nomen als eigene Kategorie in die primäre Zeichenklasse aufnehmen, die alle für die Kommunikation notwendigen Wörter beinhaltet (vgl. Aarsleff 1967, 47 f), da eine vollständige Reduzierung auf nominale Bestandteile den Grundcharakter der Aussage verfehlt. Die dritte Art der Abkürzung schließlich ist die hinsichtlich der Konstruktion, die auch in der Port-Royal-Theorie und den Überlegungen der universalistischen Grammatik von jeher eine bedeutende Rolle spielte. Von Du Marsais wurde sie beispielsweise als universales Prinzip angenommen.
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Neben der Abkürzung als zeichengenerierendem Prinzip kommt bei Tooke als Erklärungsmuster der Etymologie besondere Bedeutung zu. Etymologie ist allerdings das Werkzeug, um die deduzierte universale Theorie des sprachlichen Zeichens als Zusammenfassung von Sinneseindrücken im Nomen zu stützen, nicht liegen Etymologien als induktive Basis der Theorie zugrunde. Es kann und braucht an dieser Stelle nicht auf die häufig mangelnde Adäquatheit der etymologischen Erklärungen, die ganz im Dienst der Zurückführung der Wortarten auf Nomina („noun reduction“) stehen, eingegangen werden. Als theoretische Folgerung ergibt sich aber, daß die Etymologie in die universale Grammatik hineinwirkt, ja erst die universellen Momente hervortreten läßt. Diese liegen nicht mehr in der Repräsentation eines vor- oder unsprachlichen kognitiven Gehalts und orientieren sich damit auch nicht an den Operationen universaler Denkprozesse, sondern betreffen den Ablauf der sprachlichen Konstitution und die Normierung des kognitiven Apparats und der allgemeinen Begrifflichkeit (vgl. auch Arndt 1979). In Abhebung zur rationalen Universalgrammatik gilt es festzuhalten, daß Universalität hier auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt ist. Das Verfahren selbst, der Zeichenkonstitutionsprozeß, wird universell verstanden, doch durch die Umkehrung der Wirkungsrichtung der Relation Denken⫺Sprache (universelle Denkoperationen garantierten für Port-Royal die Universalität der Sprache als Abbild des Denkens, während nun die Sprache einen aktiven Part als Prägung des Denkens spielt) kommt ein starkes Moment der Relativität herein. Und diese Relativität erweist sich nicht als Epiphänomen wie in der rationalen Grammatik cartesianischer Form, sondern als Folge der Konzeption des Rückgangs auf die Sinneserfahrung als Quelle des Zeichens. Die Betonung des Primärziels der Kommunikation mittels Sprache statt des Blicks auf die Funktion eines Ausdrucks des Denkens durch sprachliche Zeichen verstärkt das relativistische und dynamische Moment. Aarsleff (1967, 54) deutet dies an, wenn er bei Tooke von „germs of a very romantic and mystical notion of language“ spricht, und es sind unschwer Topoi der Argumentation selbst noch des romantischen Rationalisten Bernhardi hier zu erkennen. Rational ist bei Tooke jedoch nur das Begründungsverfahren, keinesfalls nimmt er auf
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rationale Grundprinzipien bezug, die der Erfahrung vorausliegen. Wir finden solche Momente bei Johann Gottfried Herder (1744⫺1803) und Condillac ebenso, und es ist keineswegs ein Zufall oder Mißverständnis, daß Herder vehemente Kritik an der Kantischen Philosophie gerade auf dieser Basis übt. Geschichte und Erfahrung bestimmen nach Herder die Sprache und deren grammatische Struktur, keineswegs legen apriorische Kategorien den Raum der Erfahrung fest (vgl. Herder 1792). Die Entdek kung der Geschichtlichkeit der Sprache und der nationalen Eigentümlichkeiten, für die wir summarisch auf Condillac, Vico und Herder verweisen, erlangt von daher einen anderen und zwar eminent wichtigen Stellenwert. Bleibt scheinbar die Zeichenauffassung als Zuordnung eines materiellen Korrelats zu einer ideellen Komponente unverändert, so bestimmt sich der ganze Strukturraum neu, insofern nicht von der allgemein und unveränderlich gedachten Seite des Denkens die Zeichen und Zeichenoperationen in den Blick genommen werden, sondern aufgrund der empirischen Einflußgrößen und deren unstrittiger Variabilität die allgemeine und apriorische Natur des Denkens in Frage gestellt wird. Deutlich wird dabei auch, wie sich die benannten semiotischen Grundkonzeptionen überschneiden. Bestimmt sich das Interesse an den nationalen Eigentümlichkeiten und die Pflege und Normierung der Einzelsprachen zum einen von der dem Gebrauch und der gesellschaftlichen Akzeptanz zugewandten relativistischen Renaissancelinie (vgl. § 2.3.) her, so kommt aus der Linie der Locke-Rezeption die philosophische Begründung einer erfahrungsabhängigen Grundlegung von Sprache und Denken, die ihrerseits den Blick auf die Relativität der einzelnen Sprachen stärker ins Spiel bringt als die universale Struktur des Denkens. Condillac kann insofern als Musterfall angesehen werden, als er auf der einen Seite die rationalen Prinzipien der universalen Grammatik zugrunde legt, auf der anderen Seite einen ausgeprägten Sensualismus vertritt (Aarsleff 1967, 14; vgl. auch die Diskussion um die Wortstellung in § 2.4.; siehe außerdem Art. 65 § 8.2.5.). Von diesen Gegebenheiten her läßt sich das Gesamtbild der semiotischen Konzeptionen der Grammatik als Feld dreier Wirkungslinien beschreiben, deren eine, universalistisch und rationalistisch, Sprache von der Logik und den Denkgesetzen her betrachtet,
deren andere den Musteraspekt und damit Konvention und „usus“ betont und deren dritte, vom Sensualismus geprägt, Erfahrung und Historizität als fundamentale Einflußgrößen der Sprachentwicklung und Zeichenkonstitution ansieht. Daß letztlich die Positionen immer in vielfältigen Facetten schillern, daß Momente der einen Position oft nur in anderer Gewichtung bei Gegnern aufgenommen sind, zeigt sich sowohl bei PortRoyal wie bei Leibniz deutlich und in anderer Weise auch bei Scaliger oder Dante. Der Blick auf antagonistische Grundtendenzen klärt weniger die Zeichendefinitionen als den Raum, in dem diese Definitionen stehen, und die Implikationen, die damit verbunden sind. Er macht gleichzeitig verständlich, warum bestimmte Tätigkeitsfelder wie die Lexikographie in manchen Zeiten blühen, in anderen ganz am Rande des Interesses liegen. Insofern die Historiographie selbst keinen neutralen Standpunkt hat und einnehmen kann, läßt sich vom Blick auf solche Grundstrukturen doch auch erkennen, worin die Ursachen für Blindstellen mancher historiographischer Entwürfe liegen. Chomsky hat durchaus recht, wenn er eine Linie der allgemeinen, apriorischen, rationalen Grammatik zieht, doch übersieht er dabei die vielen Querverbindungen und schließlich auch, daß ein Großteil der Leistungen, die er reklamiert, genauso auf einer anderen Basis gewonnen werden können. Seine Vorwürfe treffen am ehesten einen Relativismus, der das Fundament der Zeichenkonstitution und der grammatischen Regeln in der gesellschaftlichen Praxis ortet. Ein tiefer greifender Rekurs auf den Gebrauch als Resultante von historischen und empirischen Einflußgrößen bleibt den Chomskyschen Angriffen weitgehend entzogen bzw. wird von den Vorwürfen der Beliebigkeit und Beschränkung auf oberflächliche Beschreibung nicht getroffen. So könnte Herder, den Chomsky selbst als Beleg für eine rationalistische Fundierung anführt, in manchem auch als Gegenbeleg verwendet werden, und Locke, den Chomsky zu verwerfen scheint, in manchem als Beleg für cartesianische Linguistik in der bei Chomsky skizzierten Form.
3.
Rhetorik
3.1. Rhetorik als Fundament von Grammatik und Poetik Die Rhetorik durchläuft seit der Renaissance eine Entwicklung, die zwischen ihrer Bewertung als Muster für Grammatik und Poetik
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
und ⫺ in der Zeit ihres höchsten Ansehens ⫺ als Paradigma des Wissenschaftsverständnisses einerseits, und völliger Verwerfung ihrer Verfahren und Mittel andererseits schwankt (zur Rhetorik des Hochmittelalters vgl. Art. 53 §§ 3.⫺5.). Steht auf der einen Seite die Fundierung des Wahrheitsbegriffs und seine Aufgabe im „aptum“ und die Bestimmung noch der materialen Erkenntnis in Abhängigkeit von formaler Adäquatheit, so steht auf der anderen Seite gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Auffassung, daß selbst für den Fall, daß die richtigen Inhalte vertreten werden, deren rhetorische Aufbereitung abträglich sei. Dieses Verständnis wird in der Debatte um den Mißbrauch der Wörter („abus des mots“) bei den Ideologen eher verdeckt, da hier der Mißbrauch der Rhetorik angegriffen wird, während der Forderung nach Eliminierung der Rhetorik zugunsten einer pädagogisch egalitären, wissenschaftlichen Betrachtung der Sprache eigentlich ein anderes Grundverständnis der Relation Sprecher⫺ Zeichen⫺Hörer zugrunde liegt, das Zeichen und Rede von den affektiven Komponenten loszulösen sucht und die dyadische Korrelation von Zeichenform (Laut) und Gegenstand (Bedeutung) bzw. von Satz und Proposition im Sinne von Port-Royal in Reinkultur anstrebt. Der mit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts einsetzende Niedergang der Rhetorik korreliert unmittelbar der Entwicklung hin zu rationalistischer Universalität und Gewißheit der Erkenntnis, sei dies im cartesianischrationalistischen Sinn, sei dies in der sensualistischen Gewißheit des Empirismus (Perelman 1977⫽1980, 17; vgl. §§ 2.4. und 2.5.). Die theoretischen Aspekte einer rhetorischen Fundierung des Sprachsystems sind in § 2. in den Grundzügen skizziert. Für die praktischen Folgerungen der unterschiedlichen Gewichtung und Akzentuierung von Figurenlehre und Affektenlehre beispielsweise und die spezifische Aufnahme der antiken Rhetorik wirkte sich entscheidend aus, daß der eigentliche Ort der angewandten Rhetorik völlig verändert war. Dies führte einerseits zu einer verstärkten Gewichtung von Rhetorischem als sprachkonstitutivem Moment, mit entsprechenden erkenntnistheoretischen Implikationen, andererseits jedoch zu dem völligen Zusammenbruch der Rhetorik, sobald sie als nichtkonstitutiv für die Zeichenetablierung auf der primären sprachlichen Ebene angesehen wurde, vor allem seitdem das poetische Zeichen seine Geltung im Zuge der
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Emanzipation der Poetik ebenfalls nicht mehr aus rhetorischen Regeln herleitete (vgl. § 4. und die Tendenz zum „poeta vates“; siehe auch Art. 63 § 2.1.). Der Grund hierfür ist in der spezifischen Ausdifferenzierung des praktischen Kontexts von Rhetorik zu suchen. 3.2. Ausdifferenzierung von Rhetorik im praktischen Kontext Für die humanistisch-lateinische Rhetoriktheorie ist die „prinzipielle Isolation von der politischen, sozialen Realität des 17. Jahrhunderts“ charakteristisch (Barner 1970, 154). Es ist dies eine Folge der Norm- und Zeichenetablierung vom höfischen Ideal her ⫺ Baldassare Castigliones (1478⫺1529) Cortegiano (1528) bezeichnet Barner (1970, 369) als „Schlüsselwerk der höfischen Barockrhetorik“. Diese läuft in dem Moment, wo die rednerische Praxis im wesentlichen auf die zeitlose epideiktische Gattung der Rede beschränkt wird (Barner 1970, 154), leer. Zwar wird die Sprache des Hofs zum Muster, so daß durchaus ein rhetorisches Moment zum Tragen kommt, doch gleichzeitig wird die generative Kraft der Rhetorik beschnitten, da die Praxis der Rede keinen Raum läßt zur Konsensherstellung im Argumentieren. „Der große, vor allem am Beispiel Ciceros studierte, Bereich der politischen ‘beratenden Rede’ entfällt, […] weil absolutistische Kabinettspolitik kein öffentliches ‘genus deliberativum’ benötigt“ (Barner 1970, 154). Der „Neubeginn im Zeichen des Politischen“ (Barner 1970, 167, Kapitelüberschrift; siehe auch 190) ⫺ für den Christian Weise (1642⫺1708) als Beispiel stehen kann ⫺ korreliert zum einen der Betonung des Werts der Nationalsprachen in der Rhetorik, bringt aber auch eine Umorientierung der politischen Rede mit sich. Das rhetorische Grundverständnis des Zeichensystems Sprache mit dem Einbezug der Sprecher-Hörer-Gewöhnung in den zeichendefinierenden Raum gelangt bei Weise jedenfalls auch in der Anwendung der Rhetorik als Argumentationskunst wieder zur Geltung. Doch Weises Propagierung des adressatenkonformen Sprechens führte die Rhetorik gleichwohl in die Richtung, die eine Seite des Dilemmas der Rhetorik im Ausgang des 18. Jahrhunderts ausmachte. Gegenüber dem Volk empfiehlt Weise die „euserliche Larve“ (Weise 1696) und weiß sich hierin durchaus mit seinen Kritikern Hallbauer und Fabricius einig (vgl. Gabler 1982, 45 f). Festzuhalten bleibt, daß mit Weise eine Wendung gegen die Lobrede, die epideikti-
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sche Gattung („genus demonstrativum“), die sich auf die Häufung von manieristisch „curiösen Realien“ und gesuchten Formen beschränkt (vgl. G. E. Grimm 1982) zu verzeichnen ist. So kommt eine „Reaktualisierung einer ihre persuasorischen Grundlagen hervorkehrenden Rhetorik“ (Gabler 1980, 14) zum Tragen, auch wenn die Rede als öffentliche weitgehend auf das „genus demonstrativum“ beschränkt bleibt. Doch korreliert der Weiseschen Wendung zu persuasorischen Aspekten eine Verschiebung im Adressatenbereich. Die ‘politische’ Rhetorik Weisescher Prägung findet im privaten Bereich statt und ihre Wirkungsintention zielt nicht zuerst auf die Vertretung einer Sache, sondern auf den Beifall des Hofes. Die Anbindung der Beredsamkeit an die Staatsform stellt sich also in ganz anderer Form dar als in der Antike (vgl. Barner 1970, 48), und die Nähe der Lobrede wirkt fort. Bleibt dem öffentlichen Bereich der Lobrede das Pathos und der Redeschmuck als Ziel und Mittel zugleich erhalten, so fordert aber doch die private Rede von der und für die Sache das Argument, die Fähigkeit des Überzeugens und den Gewinn des Interesses wieder ein. Zeichentheoretisch ist diese Veränderung der Sender-Empfänger Relation, welche Weise von Lohenstein unterscheidet, ebenso bedeutsam wie die von Grimm (1982) hervorgehobene Wendung Hallbauers gegen die ‘politische’ Rhetorik Weises unter Berufung auf Sachverpflichtetheit und philosophische Wahrheit jenseits der Rhetorik (siehe unten). Grimm (1982) sieht die Differenz zwischen der „öffentlichen Rede“ und der „philosophischen Rede“ richtig, doch entgeht ihm die Differenz zwischen der persuasorischen privaten politischen Rede und den institutionalisierten Festreden. Weise verbindet, soweit er diesen privaten, nicht-institutionellen Bereich ins Spiel bringt, doch einiges mit Hallbauer und dem, was Grimm als „philosophische Redekunst“ kennzeichnet. Wie bereits erwähnt, plädierte Friedrich August Hallbauer (1692⫺1750) in seiner Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie (1725) mit Weise durchaus für die ‘rhetorische Schminke’, und seine Kritik an Weise betrifft dessen Realienverliebtheit, d. h. dessen Rückgriff auf Beispielsammlungen und ähnliches, denen Hallbauer ihren Real-Charakter, verstanden als Sachangemessenheit bezüglich des Redegegenstandes, gerade abstreitet. Die Tendenz in der Rhetorik, die Einschränkung der Praxis aufzuheben und weg-
zugelangen von der Beschränkung auf die Feier der Lobrede, geht über Weise hinaus und führt zu den Punkten, die seine Kritiker thematisieren. Sucht Weise die Gesichtspunkte der Rede wieder in Erinnerung zu rufen, die bei der im „genus demonstrativum“ präsupponierten Einmütigkeit zwischen Hörer und Sprecher keine Rolle mehr spielen, so bleibt für die Kritiker Weises die Rede noch immer zu entleert von inhaltlicher Relevanz, und wenn sie auch nicht über den Redeschmuck allein definiert wird, so scheint ihnen doch die Anknüpfung des Argumentierens an die Preziosität der entscheidende Punkt. Damit aber kommt indirekt ein Argument gegen die rhetorischen Mittel selbst zum Tragen. Wird in der Rhetorik die Gewichtigkeit rhetorischer Mittel zugunsten der Sachargumentation minimalisiert, Rhetorik nur mehr verstanden als pädagogische Krücke für die Vermittlung einer jenseits der Rhetorik angesiedelten Wahrheit, dann gewinnt die Kantische Kritik der Rhetorik an Plausibilität. Sie erscheint dann nur als mehr oder minder schädliches Beiwerk, sei es, daß man ihrer nicht bedarf, weil man sich an den aufgeklärten, verständigen Fachmann richtet, sei es, daß man folgert, daß das gemeine Publikum aufzuklären ist, das heißt von Rhetorik zu befreien. Perelman (1977 ⫽ 1980, 16) akzentuiert diesen Aspekt heute deutlich, wenn er festhält, daß „eine Argumentation keine Gewißheit verschaffen kann, und gegen Gewißheit sich nicht argumentieren läßt“. Nur bei umstrittener Gewißheit ⫺ dies kann allerdings auf einer sehr fundamentalen Ebene liegen, weshalb Perelman sich auf Wittgenstein (Über Gewißheit, 1969) beruft ⫺ kommt die Argumentation und damit Rhetorik ins Spiel. Weise abstrahiert weitgehend von der „res“ als Redegegenstand und achtet allein auf die Wirkung, was realiter bedeutet, daß jedes Argument vertreten werden kann; Hallbauer und in der Folge Gottsched tendieren zu einer Aufwertung der Beweisgründe, um „auch der Redekunst zur demonstrativen Gewißheit zu verhelfen“ (Grimm 1982, 91), und zielen somit auf eine Ebene, auf der die Argumentation aus theoretischen Gründen aufgehoben ist. Wenn Hallbauer Weise vehement kritisiert, dann im Blick auf das deliberative Genus. Nur vor diesem Hintergrund ist die Wendung gegen die Kollektaneen und Ratschläge, die Weise für die „inventio“ bereithält, verständlich. In der Neubewertung der Muttersprache
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und der Grundtendenz einer Verlagerung des Interesses auf die Argumentation stimmen sie überein. „Ab Chr. Weise finden sich die oratoria mit den politica verbunden und verlegt sich Rhetorik verstärkt auf Redesituationen, in denen eine reale Beeinflussung ermöglicht und notwendig wird“ (Gabler 1980, Anm. 28; zu Weise vgl. insbesondere Barner 1970). Dies ist gleichsam die Bedingung, unter der auch Hallbauer, Fabricius und Gottsched stehen. Doch während Weise die Aufmerksamkeit stärker auf die Beeinflussung des Hörers durch rhetorische Mittel legt, beziehen sich Hallbauer in seiner Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie (1725) und Johann Andreas Fabricius (1696⫺1769) in seiner Philosophischen Oratorie (1724) auf Sachadäquatheit. Es bedeutet dies gleichzeitig einen Übergang vom Richtmaß des äußeren „aptums“ zum sachlichen Angemessenheitsideal des inneren „aptums“. Steht bei Weise die Gewinnung des Interesses im Vordergrund und ist sein Ziel die „Vermittlung einer für die Alltagsangelegenheiten bestimmten Redefertigkeit“ (Grimm 1982, 66), so sucht die philosophische Redekunst die Sachangemessenheit des sprachlichen Ausdrucks zu befördern und in den Blickpunkt zu rücken. Eine Anmerkung zum Verhältnis von „res“ und „verba“ (vgl. auch § 4.) ist hier nötig. Das Verhältnis zwischen „res“ und „verba“ kommt in mehrfacher Weise ins Spiel: (a) „res“ kann stehen für die in der Rede zu verhandelnden Sachen (das Thema), denen die Ausführung der Rede entsprechen muß; (b) in spezifischerer Weise liefert die inventio unter Ausnützung der „loci“ Gedanken („res“), die zum Thema beitragen (auch als exempla). Die Kritik der philosophischen Redekunst an Weise betrifft nun die Beziehung zwischen (a) und (b), insofern deren Vertreter (Hallbauer; Fabricius; Gottsched) Weises Realien („res“ nach (b)) die angemessene Ordnung untereinander und in Bezug zur verhandelten Sache („res“ nach (a)) bestreiten (inneres „aptum“; vgl. Ueding 1976, 227 f). Die „res“ (b) werden in ähnlicher Weise wie die Gedanken in der Theorie von Emanuele Tesauro (1591⫺1675) zu von der Sache (a) losgelösten Versatzstükken. Das Verhältnis der Worte zum Bezeichneten („res“), nach Maßgabe einer „phy´sei“oder „the´sei“-Auffassung von der Sprache ⫺ die „thesei“-Auffassung entspricht einem rhetorischen Verständnis der fundamentalen Konstitutionsebene eher ⫺ spielt auf dieser Ebene keine Rolle (vgl. Ueding 1976, 87). Am
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Rande sei in diesem Zusammenhang vermerkt, daß, so sich in den Rhetoriken unmittelbare Zeichendefinitionen finden, diese wenig besagen und kaum etwas vom Eigentümlichen der vertretenen Position wiedergeben. So würde Fabricius’ allgemeine Bestimmung der Rede als Fähigkeit „durch einen […] veränderlichen laut, andern seine gedanken und regungen, von einer sache zu erkennen zu geben“ (Fabricius 1724, 3) von keinem der hier behandelten Grammatiker, Rhetoriker oder Poetologen in Frage gestellt. Die Gegenbewegung zu Weise und die Hinwendung zu einer ‘philosophischen’ Rhetorik, die den inhaltlichen Gesichtspunkt in den Vordergrund rückt, könnte den Eindruck erwecken, daß die Rhetorik im 18. Jahrhundert nochmals die fundamentale erkenntnistheoretische Rolle zurückgewinnt, die ihr in der Renaissance zunächst zukam. Doch dieser Eindruck täuscht. Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis werden allgemein wie bei Kant oder den Ideologen als direktes Gegenmoment der Rhetorik bestimmt. Dort wo praktische Beeinflussung eine entscheidende Rolle spielt, in Fragen der Politik oder etwa in der Predigt, wird der Bezug zur klassischen Rhetorik eher vermieden und die Eigentümlichkeit der politischen Rede oder der Predigtlehre betont. Wenn J. G. Herder fragt: „Sollen wir Ciceronen auf der Kanzel haben?“ (1766), dann ist für ihn die Ablehnung der tradierten Redeformen für die geistliche Rede aus den verschiedensten Gründen selbstverständlich. Nicht nur scheint ihm die Affekterregung nicht am Platz zu sein, auch bedarf die Vermittlung ewiger Wahrheiten im Unterschied zu tagesabhängigen Fragen nicht der tradierten Rhetorik. Das rhetorische Sprachzeichen wird also nun unmittelbar verstanden als von der Sache weitgehend gelöstes affekterzeugendes Mittel, das sich für Fragen von Bedeutung und zur Darstellung der Wahrheit eher verbietet. Das Plädoyer für den mittleren Stil versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst. Für die politische Rede stellte Herder in ähnlicher Weise fest, daß die Bedingungen antiker Rhetorik in der gegenwärtigen Zeit nicht erfüllt seien. Diese Standardklage seit der frühen Aufklärung erfährt zwar in den Umwälzungen der französischen Revolution eine praktische Veränderung, was die Bedeutsamkeit des „genus deliberativum“ im politischen Diskurs betrifft, doch die theoretische Aufarbeitung erfolgt erst im 19. Jahrhundert. Vor allem in Deutschland findet die politi-
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sche Rede erst spät Beachtung, z. B. bei Adam Müller, 1779⫺1829. Für die Rhetorik läßt sich in groben Umrissen folgende historische Verlaufslinie skizzieren. Im Zug der Entwicklung nach der Renaissance wird die Rhetorik in ihrer praktischen Anwendung als Redekunst immer stärker auf das „genus demonstrativum“, die epideiktische Rede eingeschränkt, obwohl auf der Grundlagenebene die Fundierung von Erkenntnis wie die Etablierung des Sprachsystems gemäß rhetorischen Prinzipien gedacht werden. Doch gilt es hier zu unterscheiden zwischen der Fundierung der Zeichen aufgrund rhetorischer Prinzipien und den zur Anwendung gelangenden rhetorischen Zeichen. Die Rezeption der antiken Rhetorik führte aufgrund der Praxis letztlich zu einer Hochschätzung der Figurenlehre und des Redeschmucks (vgl. § 4. zu Tesauro) unter Vernachlässigung der Argumentationslehre. Die theoretische Hochschätzung der Rhetorik kam so der Grammatik ⫺ im weiten Sinn von Sprachwissenschaft ⫺ und der Poetik zugute, nicht aber der Rhetorik als Redekunst. In dieser kam es gemäß der aristotelischen Bestimmung des „genus demonstrativum“ zu einer Überbetonung der Redemittel, und dies bedeutete zugleich den weitgehenden Ausschluß rhetorischer Momente aus der Wissensvermittlung, sobald die rationalistische Gegenbewegung das rhetorische Fundament im Streben nach Erkenntnisgewißheit aufhob. So blieb die öffentliche Rede das ganze Barock hindurch Lobrede im hohen Ton, und die aufkommende politische Rede blieb dem privaten Bereich vorbehalten. Die angestrebte grundlegende Reform der Rhetorik führte in der veränderten Konstellation eher zu einem Aufweis ihrer Überflüssigkeit, denn zu einer Neubestimmung. So kennzeichneten in der Folge am Ende des 18. Jahrhunderts „Theoriefeindlichkeit, Ablehnung der antiken Tradition und volkstümliche Anwendung der Rede“ das Bild der Rhetorik, was letztlich einer Zurückweisung der Rhetorik (cf. Ueding 1976, 114) gleichkommt. Auf der formalen Seite kann man zwei Grundmomente der Rhetorik herausstreichen, die in den verschiedenen Stadien in unterschiedlicher Gewichtigkeit den Verweisungsraum der Zeichen bestimmten. In den Gesamtkomplex des äußeren „aptum“ einzuordnen, findet sich „die Pathoslehre, die sich mit der affektiven Beeinflussung des jeweiligen Publikums beschäftigt“, regelmäßig in den Lehrbüchern enthalten
(Barner 1970, 152). Die Pathoslehre ist so zunächst bei Weise wie auch bei Lohenstein von besonderer Bedeutung. Doch findet sich eine durchaus verschiedene Gewichtung. Die Vorliebe des Barock für den hohen Stil mit dessen Möglichkeiten für Pathos und „movere“ wird schon bei Weise in Frage gestellt. Mit der Abwertung des hohen Stils verliert die Pathoslehre ihre Bedeutung in der Rhetorik in dem Moment, wo die Aufmerksamkeit sich auf das innere „aptum“ richtet. Bleibt sie residual zunächst noch für die Poetik von Bedeutung in der Korrelation von Gattungen und Stilarten ⫺ Gottsched ordnet den erhabenen Stil der Poesie zu und fordert für die Rede generell den mittleren (vgl. Ueding 1976, 109) ⫺ so verliert sich die Bedeutung der Pathoslehre in dem Moment, als die technische Handhabung der Affekterzeugung mit den klassischen Mitteln der Rhetorik in den Hintergrund tritt und selbst die Tragödienlehre mit Lessing auch noch die Gottschedschen Einschränkungen aufhebt. Damit ist die spezifische Wertigkeit der sprachlichen Zeichen in funktionaler Abhängigkeit vom Sprecher, wie sie in den Festlegungen der Poetik nochmals festgeschrieben wurde, aufgehoben. Die Figurenlehre stützt zum einen die Versuche der affektuösen Beeinflussung, indem ein Repertoire zur Verfügung gestellt wird, die eigenen Affekte auszudrücken. So ordnet Meyfart (1634) den einzelnen Figuren des Redeschmucks unmittelbar spezifische Affektqualitäten zu. Zum anderen besteht die Tendenz, die Figuren wie die Tropen um ihrer selbst willen zur Anwendung zu bringen. Der Redeschmuck steigt im „genus demonstrativum“ ohnehin zum Eigenwert. Ist dafür beispielhaft der Manierismus Tesauros, so zielt die Stoßrichtung der innerhalb der Rhetorik angedeuteten Kritik der rhetorischen Mittel auf alle formalen Besonderheiten. Mit der Verwerfung der antiken rhetorischen Mittel (vgl. Ueding 1976, 113) wegen des formalen Leerlaufs, der zwar nicht den antiken theoretischen Konzeptionen zuzurechnen war, sondern aus den spezifischen Anwendungsbedingungen der Rede erwuchs, verlor auch die Lehre von den Figuren und Tropen ihre Bedeutung. Bedeutsam erscheint dies vor dem Hintergrund der heutigen Situation, insofern in der Neugewichtung der Rhetorik bei Perelman die Figurenlehre zugunsten der argumentativen Seite in den Hintergrund rückt, während Dubois (1970 ⫽ 1974) versucht, gerade über
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eine moderne Rekonstruktion der rhetorischen Figuren die Neubewertung der Rhetorik als Grundlagenwissenschaft zu stützen. Keineswegs zufällig orientiert sich Dubois am literarischen Bereich, während Perelman die politisch-gesellschaftliche Dimension im Blick hat. Insofern Poetik und Rhetorik über weite Teile ineinsfallen (vgl. Ueding 1976, 108 f), behandeln die folgenden Überlegungen zur Poetik gleichermaßen rhetorische Fragen. Den systematischen Ansatz der zur Trennung führenden Entwicklung akzentuiert § 4. als Verlaufslinie innerhalb der Poetik.
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Poetik
Der zu behandelnde Zeitraum (zur Poetik des Mittelalters vgl. Art. 53 §§ 2.⫺4.) bringt die Etablierung der Poetik als eigenständige Disziplin gegenüber dem Kanon der „artes“ und fällt nach Auffassung mancher Theoretiker in seinem Endpunkt mit ihrem Ende zusammen (vgl. Boetius 1974, 133). Mag diese Zäsur auch zu streng angesetzt sein, so gilt gleichwohl, daß die Poetik mit den großen Entwürfen der Romantiker hinsichtlich einer Universalpoesie einen End- und Kulminationspunkt erreicht, insofern jedes sprachliche Zeichen und insbesondere die poetologische Reflexion ihre Geltung vom Poetizitätsgrad des Zeichens her gewinnt. Friedrich Schlegels berühmtes Diktum, daß die wahre Kritik der Poesie selbst Poesie werden müsse (1798: Kritische Fragmente, 117) ist als zeichentheoretisches Axiom über das Verhältnis von Objekt (⫽ Dichtung) und Metasprache (⫽ Kritik) zu verstehen. 4.1. Die Etablierung der Poetik als Disziplin Dantes De vulgari eloquentia (ca. 1310 ⫽ 1957; für die Poetik sind vor allem die Abschnitte II iv ff relevant) liefert den Ausgangspunkt für die poetologische Reflexion, nicht nur in der Berücksichtigung der volkssprachlichen Dichtung, sondern auch in der Apologie der Poesie und der Ausrichtung am Modell der antiken Rhetorik und Poetik mit den Mustern Cicero und Virgil. Poesie wird definiert als „fictio rhetorica musicaque poita“ (II iv2, 3), womit die rhetorische Grundlage der Poesie deutlich akzentuiert wird. Man könnte trotz der Hochschätzung der Poesie von der Poetik als einem Sondergebiet der Rhetorik sprechen, das zum einen formal durch die musikalische Struktur von Metrum
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und Reim bestimmt ist, zum anderen durch die besondere Art des Wirklichkeitsbezugs. Zeichentheoretisch wichtig ist daneben die von Dante im Convivio aufgegriffene Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die nichts anderes besagt, als daß dem Zeichen qua „signifiant“ auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Bedeutungen zugemessen werden (vgl. Art. 58 § 3. und Art. 60 § 4.3.). Dies korreliert eng der hermeneutisch bedeutsamen Lehre von den zwei Wahrheiten. So kann es auch nicht verwundern, wenn Petrarca (1304⫺ 1374), in den Grundzügen Dante verwandt, in seiner Apologie der Poesie den allegorischen Veritasbegriff heranzieht. Das Wahrheitsproblem der Dichtung ist zeichentheoretisch folgenreich, sowohl in einem technischen Sinn in der Frage der Zuordnung von Wahrheitswerten zu Aussagen, deren Termini keinen Bezug in der Welt haben, wie auch in jenem emphatischen Sinn, der eine Wahrheit jenseits der Aussagenwahrheit meint und der in den Konzeptionen des späten 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Für die volkssprachliche Poesie gilt analog zur Grammatik der Volkssprachen (siehe oben § 2.3.1.), daß der Musteraspekt der Antike und damit gleichzeitig die Möglichkeit von Regularität analog zum durch Regeln bestimmten Vorbild verstanden wird. Den Aspekt des Regelhaften unterstreicht die sich zunächst ausdifferenzierende und verstärkende Rhetorisierung der Poetik. Das ganze Barock hindurch wird die Poesie als spezifische Rede in gebundener Form betrachtet; die Poetizität eines Textes wird demnach überwiegend an einem reinen Formmerkmal festgemacht. Ob Erdmann Neumeister (1742) die Poesie als „galante Art der Eloquentz“ bestimmt oder Walch sie als eine „Art der Wohlredenheit“ (1726) auffaßt, die Gleichsetzungen und Unterordnungen der Poesie unter die Beredsamkeit legen den Raum auch der Poetik fest, die eben eine Art Rhetorik darstellt (vgl. § 3.). Doch findet sich schon bei Petrarca mit der Sonderstellung der Poesie gegenüber den „artes“ der Ansatz grundgelegt, der in der Betonung der Rolle des Dichters als „poeta vates“ statt des rhetorisch erforderten „poeta eruditus“ in der Folgezeit die Regelverpflichtetheit immer stärker in Frage stellen wird und das Ursprungsmoment des poetischen Zeichens, die „creatio“ statt der sekundären „imitatio“ der Muster in den Vordergrund bringen wird. Mit den rhetorischen Bestimmungen kommt nicht nur die Regelgeleitetheit zum
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Ausdruck, auch die Lehre der „convenientia“ erlangt dichtungstheoretische Bedeutsamkeit. Für den poetischen Text als Makrozeichen gibt es demnach eine Auswahlfunktion, die bezüglich der einzelnen Stilarten Zuordnungen im Blick auf Sujet, Personen, Worte und Topoi gewährleistet. Das „aptum“ der Rhetorik wird somit auch für die, Horaz aufgreifende, Poetik zum grundlegenden Moment, wobei, über Horaz hinausgehend, als dritte Funktion der Dichtung in völliger Entsprechung der rhetorischen Trias im 15. Jahrhundert neben das „delectare“ und „docere“ das „movere“ tritt. Die Funktion des „movere“ zeigt jedoch auch gegenläufige Momente an, deren antirhetorische Tendenz später im Rückgriff auf peri¡ yÕcoyw (Perı` Hy´psous, 1. Jh. n. Chr., fälschlich C. Longinus zugeschrieben) artikuliert werden. Der Pseudo-Longinus peri¡ yÕcoyw (Über das Erhabene) kam wirkungsgeschichtlich erst im 18. Jahrhundert durch Nicolas Boileau(-Despreaux) (1636⫺1711) ⫺ welcher selbst dichtungstheoretisch eher eine Gegenposition vertrat ⫺ zum Tragen, doch bereits im 15. Jahrhundert wird im Zug der Platon-Renaissance durch die Aufnahme der „furor“-Lehre, beispielsweise bei Marsiglio Ficino (1433⫺1499), das „Gegenmotiv“ zum rhetorisch geprägten Mimesiskonzept mit der „imitatio“ der Muster deutlich akzentuiert. Die Adäquatheitsbedingungen für poetische Zeichen unterscheiden sich für beide Konzeptionen beträchtlich, auch wenn bei Renaissanceautoren (z. B. Cristofero Landino, 1424⫺1492) gelegentlich beide Prinzipien ⫺ „furor divinus“ und „imitatio“ der Muster ⫺ ungeachtet der Widersprüchlichkeit gleichzeitig dezidiert vertreten werden. Die Situation verkompliziert sich durch die Tatsache, daß quer zu diesen Unterscheidungen und interagierend der aristotelische Mimesisbegriff in der zweifachen Ausformung der Nachahmung der Natur (aus der Physik) und der Nachahmung von Handlungen (aus der Poetik) steht. Im Fall der „imitatio“, gekoppelt mit dem Konzept des „poeta eruditus“, ergibt sich eine Tendenz zu steigender Elaboriertheit der Regeln des poetischen Zeichensystems. In einer Ausformung führt dies zu einer Wertung der „res“-„verba“-Relation, die das „signifiant“ qua „signifiant“ als originäres Material der Dichtung begreift und eine Form des Manierismus pflegt, die von der hypertrophen Ausgestaltung formaler rhetorischer Mittel des Redeschmucks lebt. In einer anderen Ent-
wicklungslinie führt der rhetorische Strang zu den ausdifferenzierten inhaltlichen Vorschriften klassisch aufklärerischer Poetik (Gottsched, Boileau), die so den technischen Regelapparat der „ars rhetorica“ auf der inhaltlichen Seite weitertragen. Scheint der inhaltliche Aspekt auch in der „argutezza“Lehre des Manierismus berührt, so ist zu beachten, daß die Inhalte selbst zum formalen Element werden. Der Manierismus wertet in der Überakzentuierung der Regeln bezüglich des „signifiant“ des dichterischen Zeichens sowohl die reine Worthülse (das „signifiant“ der natürlichen Sprache) auf, wie das leerlaufende Spiel der Begriffe ⫺ die zwar auf der Ebene der natürlichen Sprache inhaltlich gedeckt sind (darauf beruht die „argutezza“), auf der Ebene des poetischen Zeichens jedoch selbst Formelemente der „signifiant“-Ebene darstellen (vgl. § 3.2. zu Tesauros Figurenlehre). Die „furor“-Lehre hingegen, gekoppelt mit dem Konzept des „poeta vates“, begünstigt die individuelle Regeländerung. Diese erfährt ihre Rechtfertigung über die inhaltliche Ebene, das heißt, den Konnex zu den eigentlichen „res“, eine Relation, die als hochmotiviert angesehen wird, sich jedoch der Erfassung durch Regeln entzieht. An der „pa´thos“-Lehre treten die differenten Anschauungen deutlich hervor. Die Voraussetzung der Rhetorik ⫺ die „pa´thos“Lehre impliziert eine technische Handhabung des äußeren „aptums“ ⫺ wird durch die „furor“-Lehre negiert. Zwar gibt es auch im Manierismus, bei Tesauro etwa, eine Theorie des „furor poeticus“, indem aus den Leidenschaften der Seele der ingeniöse Scharfsinn hergeleitet wird (vgl. Rotermund 1968, 254), doch ist die Poetik in ihrem Gesamtduktus dergestalt ausgelegt, daß Pathos als Gegenstand der Dichtung thematisiert wird und die Pathosgeste als rhetorische Figur benützt wird. Eine ganze Reihe von rhetorischen „figurae patheticae“ (Apostrophe, Interrogatio, Exclamatio, Hyperbel) werden so in den Poetiken für die Darstellung der Affekte angeführt. Im Heraustreten aus den konventionellen Geltungen werden in der „furor“-Lehre die Zeichen der gewöhnlichen sprachlichen Ebene auf eine höhere Wahrheit hin überboten (vgl. Abb. 67.1 sowie Abb. 67.4, Relation A⫺D). Es ist dies strikt zu unterscheiden von der angestrebten preziösen Überbietung der gewöhnlichen Rede im formalen Manierismus (Marini), die gerade keinen emphatischen
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Wahrheitsanspruch erhebt. Die antirhetorische „furor“-Lehre geht einher mit einem Verständnis des poetischen Zeichens in Relation zu den eigentlichen „res“, wie es bei August Wilhelm Schlegel (1767⫺1845) am Ende des 18. Jahrhunderts in der Kennzeichnung des Dichtens als eines Vermögen, die Sprache zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen, zum Ausdruck kommt: „Zeichen der Verabredung […] beinah in natürliche und an sich bedeutende Zeichen umzuschaffen“ (Schlegel, A. W. (1795), Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache; vgl. dazu Preisendanz 1964). Wenn hier „antirhetorisch“ verwendet wird als Kennzeichnung, dann ist anzumerken, daß das Gegenmoment durchaus im Rahmen einer Theorie der Rhetorik zu konstruieren wäre, es entspricht einer nichtartistischen Rhetorik, die den „te´chne¯“Aspekt zurückstellt. Die Rechtfertigung einer Rede von gegenrhetorischen Momenten ergibt sich aus dem historischen Wandel des Selbstverständnisses von Poetik und Rhetorik im hier behandelten Zeitraum. 4.2. Rhetorisches und antirhetorisches Verständnis der Poetik Stellt man die Positionen eines regelgeleiteten rhetorischen Poetikverständnisses und eines Regeln und Konventionen überbietenden antirhetorischen Grundverständnisses der Poesie schematisch gegenüber, so kann dies nur Tendenzen anzeigen, Kraftlinien verdeutlichen. Grundsätzlich gilt, daß bei den einzelnen Autoren rhetorische Momente durchgän-
Rhetorische Tendenz der Poetik Cicero, Quintilian, Horaz; „imitatio“ der Muster; „concetto“ und „argutezza“ (Scharfsinn); formale Komponente; Sozialordnung/Konvention; Gottsched; Regelpoetik; „poeta eruditus“; Manierismus als Regelverselbständigung in „inventio“ und „ornatus“ (Schwulst); Klangmalerei als Formspiel; Universalrhetorik und Convenienz; nominalistische Auflösungstendenz der „res“⫺„verba“-Relation zum gesetzten Verbum ohne semantische Deckung außerhalb des „usus“.
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gig mit antirhetorischen widerstreiten. Johann Jakob Breitinger (1701⫺1776) zeigt sich in seiner Critischen Dichtkunst (1740) für sich betrachtet der rhetorischen Linie und dem Nachahmungsprinzip verpflichtet. So ist denn auch in der Grundkonzeption die Übereinstimmung mit Gottsched offenkundig. Doch in der Erhebung des Wunderbaren zum konstitutiven Moment der Poesie ist ein Gedanke angesprochen, der in jene andere Richtung weist, die letztlich Rhetorisierung der Poetik und Nachahmungsprinzip zugunsten der Betonung des Kreativen verwirft. Das Neue ist denn auch bei Breitinger ein ästhetisches Kriterium und die semantische Fundierung des Zeichens verstärkt diese Akzentuierung des Schöpferischen. Der Bezug der dichterischen Begriffe und Vorstellungen liegt nicht in der Welt der „würcklichen Dinge, sondern in irgend einem anderen möglichen Welt-Gebäude“ (vgl. Abb. 67.4; Aufwertung von A⫺C). Angesprochen ist damit Leibnizens Konzept der möglichen Welt (vgl. Bender 1973, 91 f), und verlagert wird so das Schwergewicht auf die Eigenwertigkeit der fiktionalen Welt, während die „verisimilitudo“ als Mimesisprinzip zurücktritt. Das folgende Schema (Abb. 67.3) soll Gewichtungen und Tendenzen im skizzierten Sinn darstellen, wobei von dieser Perspektive aus die Auseinandersetzung um den englischen und französischen Geschmack (Gottsched versus Lessing) und die Positionen von Theoretikern wie Scaliger, Harsdoerffer, Buchner und Schlegel geortet werden.
Antirhetorische Tendenz der Poetik Longin- und Platon-Rezeption und Umwertung; Schau; überbegrifflich Wunderbares; inhaltliche Motiviertheit; Natürlichkeit/Gefühl; Bodmer & Breitinger; Genie; „poeta vates“; mystische Überhöhung manieristischer Stileffekte, ekstatischer Manierismus (Harsdoerffer); Lautsymbolik als Bedeutungsträger; Universalpoesie und mystische Wahrheit; realistische Auflösungstendenz der „res“⫺„verba“-Relation zum gegebenen Verbum als eigenwertiger „res“.
Abb. 67.3: Gegenüberstellung der Leittendenzen im Verhältnis der Rhetorik zur Poetik.
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Beide widerstreitenden Tendenzen enthalten in sich antagonistische Momente, so daß etwa Gottsched, dem Grundanliegen der Rhetorik gemäß, mit Regelverpflichtetheit gegen den Regelleerlauf des Schwulst argumentieren kann, andererseits Lessing die Opposition gegen Gottscheds starre Regeln mit den gleichen Argumenten, nämlich Sachangemessenheit und vernünftiger Natürlichkeit, betreibt, die Gottsched gegen den Formalismus artikuliert. Mit der gleichen Stoßrichtung wie Lessing (1729⫺1781) und doch gegen ihn beruft sich der Sturm und Drang auf Natürlichkeit, jedoch nun von der Empfindung des Subjekts her bestimmt. Obwohl der Manierismus generell als Verstoß gegen das rhetorische Prinzip des „aptum“ verstanden werden kann, ist er als Stilphänomen gleichzeitig Musterbeispiel für eine Entwicklung der Rhetorik, die nicht mehr vordringlich der Sache sich verpflichtet weiß, sondern die die Gesuchtheit der Figuren und Tropen und ganz allgemein den Redeschmuck in den Vordergrund stellt. Die Trennung des „verbum“ von den „res“ kommt bei Tesauro im Cannochiale Aristotelico (1670) in der Verteidigung der freien Metapher zum Ausdruck. Die nominalistische Auflösungstendenz führt auf zwei Ebenen zu einer Betonung der Formseite. Zum einen tritt die Relation zu den „res“, der konventionellen Bedeutungsseite gegenüber einem selbstgenügsamen Spiel der Laute, zurück, zum anderen wird die Beziehung „verba“⫺ „res“ als beliebig gesetzte verwendet, um im Formspiel mit Bedeutungen frei von inhaltlicher Bedeutsamkeit jenseits der formalen Ebene operieren zu können. Das scharfsinnige Spiel mit Begriffen verweist nicht über sich hinaus, sondern erfüllt sich in der formalen Figur. Wird hierbei die rhetorische Argumentationslehre „empfindlich getroffen“ (Wiegmann 1977, 37), so erwächst doch ein solches Konzept letztlich aus der Verselbständigung der formalen Seite der Rhetorik, soweit sie Figurenlehre und Redeschmuck betrifft. Die Form wird zum eigentlichen Zeichenträger. Tesauros Werk liefert hierin, trotz der Berufung auf Aristoteles, eine pointierte formale Gegenposition zum Aristotelismus, der die Grundbedingungen überzeugender Argumentation hinsichtlich der Sache in den Vordergrund rückt. Die Zuordnung Tesauros zu einer Richtung der Poetik, die von der formalen Kraftlinie der Rhetorik geprägt ist, macht somit auch deutlich, daß die Aufnahme ari-
stotelischen Gedankenguts zur Poetik ⫺ die Poetik des Aristoteles wurde erst nach der Edition des Originaltexts (1508) wirkungsgeschichtlich bedeutsam ⫺ in gewisser Hinsicht sowohl in der Konzeption der Mimesis wie der Affektenlehre auch eine antirhetorische Wendung beinhaltete. Die im Zuge der Aristoteles-Rezeption entwickelten Poetiken, wie Castelvetros (ca. 1505⫺1571) kommentierte Aristoteles-Ausgabe von 1570, die erstmals die in der Folgezeit so bedeutsame Forderung nach den drei Einheiten der Handlung, des Orts und der Zeit vertritt (es entspricht dies einer Forderung nach Motiviertheit der Relation des poetischen Makrozeichens im Bezug zu der fiktionalen (möglichen) Welt und der Festlegung der Zugänglichkeitsrelation zur wirklichen Welt; vgl. Abb. 67.4), stehen somit in einem Spannungsverhältnis sowohl zu den rhetorischen Poetiken wie zu den platonisierenden Tendenzen. Die bedeutsamste Synthese bieten Scaligers Poetices libri septem (1561). Scaliger verarbeitet die rhetorische Tradition und verbindet die Konzepte des „poeta vates“ und des „poeta eruditus“ ⫺ wobei der erstere einer „phy´sei“-These hinsichtlich der Natur des poetischen Zeichens zuzuordnen ist (die Relation wird in entrückter Schau erkannt), während letzterer einer Konventionstheorie (mit lehrbaren Fertigungstechniken) zuneigt. Außerdem leistet Scaliger von Aristoteles ausgehend eine zukunftsweisende Synthese, da er für die Poetizität des Texts nachprüfbare notwendige Bedingungen benennt, die aber nicht hinreichen, weshalb er für den Auffindungszusammenhang die Inspirationslehre benützt. Seine Betonung der „verisimilitudo“ knüpft das poetische Zeichen über die Abbildrelation an die wirkliche Welt, wobei der schöne Schein gut aristotelisch die Natur vollkommener zur Darstellung zu bringen vermag. Die „res“ sind als „altera natura“ (vgl. Gaede 1978, 52 ff) darzustellen. 4.3. Der Weltbezug der Dichtung Scaliger war von immensem Einfluß, und die Barockpoetik eines Martin Opitz (Buch von der Deutschen Poeterey, 1624) kann im wesentlichen als Adaptation von Scaliger verstanden werden, wobei Opitz (1597⫺1639) die Lehrbarkeit der Dichtung ⫺ und damit das rhetorische Moment ⫺ stärker akzentuiert. Wichtig ist Opitz, insofern er für die deutsche Poetik und Poesie normsetzend wirkt. Dabei ist die Etablierung der Unterscheidung zwischen quantitierender lateini-
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
scher und akzentuierender deutscher Metrik zeichentheoretisch bedeutsam, impliziert dieser Rückgang auf das germanische Betonungsgesetz (erstmals bei Philipp Sidney, An Apology for Poetry, 1595) doch nicht nur die Kongruenz von Vers- und Wortbetonung ⫺ ein eher marginales Phänomen der Korrelation poetischer und natürlicher Sprache ⫺, sondern im Rekurs auf nationalsprachliche Eigentümlichkeiten auch eine vorsichtige Distanzierung von Poetologie als universaler Theorie ⫺ was einhergeht mit einer stärkeren Gewichtung der materialen Seite des Zeichens, die von spezifischen einzelsprachlichen Parametern bestimmt wird. In anderer, akzentuierterer Form kommt dieser Gedanke bei Georg Philipp Harsdoerffer (1607⫺1658) zum Tragen, da der Rückgriff auf die materiale Zeichenkomponente in Klangmalerei und Sprachartistik Sprache in ähnlicher Weise von ihrer inhaltlichen Funktion loszukoppeln scheint wie die Manieristen. Doch wird bei Harsdoerffer zugleich eine mystische Qualität der Sprache mitgedacht (vgl. Boetius 1973, 123), die eine engere Verbindung von „res“ und „verba“ annimmt als sie für die konventionelle Alltagssprache gilt. Das poetische Zeichen ist gerade durch die motivierte Verknüpfung der Laute mit nicht genau bestimmbaren korrelierenden Entitäten, die durch den Klang angezeigt werden, charakterisiert. W. Kayser (1962, 167⫺184) zeigt, daß die Klangmalerei bei Harsdoerffer den sprachtheoretischen Grundannahmen und Lehren Schottels verpflichtet ist. Gelten für Schottels Wurzelworte der Sprache (vgl. § 2.3.) ähnliche Überlegungen, so basieren jedoch auch Herders Ausführungen über die Poesie als Ursprache der Menschheit, „wo alles tönte“, auf solchen Gedanken. Trotz der Verpflichtetheit auf Rhetorik ist in der Grundkonzeption bei Harsdoerffer also ein wirkmächtiges Gegenmoment zum formalen Apparat der Rhetorik vorhanden. Bei August Buchner (1591⫺1661) finden wir in seiner Anleitung zur Deutschen Poeterey (1665 ⫽ 1966) andererseits die klassische rhetorische Stillehre in Beziehung gesetzt zum Klangwert der Buchstaben (Buchner, Anleitung, 1665 ⫽ 1966, 106 f). Es läuft dies auf eine Hypostasierung jenes Prinzips der Angemessenheit hinaus, das Handlung, Gattung, Personenstand und Sprachstil in festgelegter Weise korreliert.
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Der Unterschied zwischen Poet und Orator stellt sich für Buchner zunächst minimal dar (Anleitung, 1665 ⫽ 1966, 15 f), wobei dem Orator eine Mittelstellung zwischen Philosoph und Poet zukommt. Doch bedenkt Buchner auch in Ansätzen die schöpferische Komponente, die er in der kleinen Schrift Poet (1665 ⫽ 1966; von Praetorius gesondert herausgegebener Teil der Poetik) stärker herausstellt. Das poetische Zeichen ist wie bei Dante über seine Fiktionalität bestimmt; d. h. daß der Bezug fehlt. Die Eigenwertigkeit einer dichterischen Bezugswelt wird von Buchner jedoch nicht gesehen, und er löst die Wahrheitsproblematik ⫺ hier im Sinne von Adäquatheitsforderung ⫺ im klassischen Sinn, sich an Scaliger anlehnend, über die „verisimilitudo“. Das „prodesse“ bleibt eigentliches Dichtungsziel und die Poesie ermöglicht es, die Wahrheit verdeckter und angenehmer zu vermitteln. Die Relation A⫺C (das Verhältnis zwischen Dichtung und möglicher Welt; vgl. Abb. 67.4) wird minimalisiert zugunsten von A⫺B (dem Verhältnis zwischen Dichtung und historisch-empirischer Welt) einschließlich des sozial etablierten Regelapparats. Buchners grammatische Überlegungen zur Wortbildung (Anleitung, 1665 ⫽ 1966, 56 f) ⫺ er streift am Rande Konzeptionen wie das Kopfprinzip und parallelisiert die Wortbildung mit der Konstruktion von Satzphrasen ⫺ sind nicht nur als Erwägungen bezüglich der Generierung neuer Zeichen interessant, sie zeigen gleichzeitig, daß der Raum der poetischen Lizenz im Gegensatz zu den allgemeinen Ausführungen zum Poeten als Schöpfer extrem eingeschränkt bleibt. Das poetische Zeichen unterliegt den gleichen grammatischen Restriktionen wie die gewöhnliche Sprache. Können die Vorgenannten ⫺ Buchner und Harsdoerffer ⫺ bei aller Verschiedenheit als Opitzianer und damit im Scaligerschen Rahmen verstanden werden (vgl. Wiegmann 1977, 50), so kommt es mit Gottscheds Versuch einer Kritischen Dichtkunst (1730) zu einem deutlicher markierten Neuansatz. Gaede (1978, 98 ff) betont zwar den Rückgriff auf aristotelisches Gedankengut zu stark als Eigentümlichkeit Gottscheds, da dieser Rückgriff sich bei Scaliger genau so findet wie bei Lessing, dem zeitgenössischen Antipoden Gottscheds. Man kann jedoch Gaede darin folgen, daß unter Bezugnahme auf metaphysische Konzeptionen von Leibniz der „Ver-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
mögliche Welt
exemplifiziert
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ist angelegt in
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B historischempirische Welt
Abb. 67.4: Das Verhältnis von Dichtung und Welt in der Poetiken des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Dichtung bildet die historisch-empirische Welt ab, indem sie eine mögliche Welt darstellt, welche die höhere Wirklichkeit exemplifiziert, die in der historisch-empirischen Welt angelegt ist. Die mögliche Welt ist durch Widerspruchsfreiheit und innere Wahrscheinlichkeit gekennzeichnet. Sie ist von der historisch-empirischen Welt aus zugänglich durch ihre Ähnlichkeit und äußere Wahrscheinlichkeit. Die im Text besprochenen Dichtungstheorien unterscheiden sich voneinander durch die verschieden starke Akzentuierung der einzelnen Relationen.
knüpfungsgedanke“ besonderes Gewicht gewinnt. Damit verlagert sich das Mimesisprinzip von der Nachahmung der Natur und der Nachahmung der Muster hin zur Nachahmung der „Zusammensetzung und Verbindung der Sachen“ und damit auch zur Abbildung des Handlungsraums, nicht als reales Abbild, sondern als Strukturisomorphie. Dies bedingt indirekt die Hochschätzung der Fabel. Das einheitsstiftende Prinzip ⫺ sowohl das Band zwischen Dichtung und realer Welt betreffend wie die interne Handlungseinheit der fiktionalen Welt ⫺ siedelt Gottsched dabei außerhalb der Dichtung in einem allgemeinen moralischen Satz an. Trotz dieser starken Gewichtung des außerpoetischen Zwecks der Dichtung und der Festlegung auf Erkenntnis und Vermittlung dieser Wahrheit („docere“) findet sich in Gottscheds Versuch einer kritischen Dichtkunst (1730) auch ein Gedanke, der dann von seinem Schweizer Gegner Breitinger mit der Betonung des Wunderbaren
dezidiert vertreten und topikalisiert wird: der Gedanke, daß kennzeichnendes Merkmal des Poetischen eine bestimmte Differenz zum „Ansehen der Wahrheit“ sei (vgl. Preisendanz 1964, 74). Dies bedeutet eine Aufwertung der schöpferischen Komponente A⫺C (vgl. Abb. 67.4) auch schon bei Gottsched, die bei den Schweizern dann verstärkt zum Tragen kommt. Die Betonung der Kategorie des Wunderbaren und staunenmachenden Neuen („movere“) in Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) hat hier ihre Quelle, und so wird deutlich, inwiefern Gottsched zwar im Vergleich zu Breitinger stärker dem rhetorischen „aptum“ und der Regelbestimmtheit zuneigt (vgl. Abb. 67.3), daß jedoch bei aller zeitgenössischen Polemik ein eher gradueller Unterschied gegeben ist. Anhand von Abb. 67.4 läßt sich dieses Verhältnis verdeutlichen, wobei die Differenzen zwischen englischem (Lessing, Lenz) und französischem Geschmack (Boileau, Gottsched) sich daran ebenfalls exemplifizieren lassen.
67. Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik
Für Gottsched gilt bei aller Akzentuierung des eigenständigen Moments der Dichtung dennoch die Regelverpflichtetheit der Rhetorik in jenem klassischen Sinn, daß nicht die leerlaufende Rhetorik des Redeschmucks und der Figuren und die Indienstnahme der ‘Sachen’ als kuriose aber beliebige Redegegenstände, losgelöst von einer echten Sachverpflichtetheit (vgl. die in § 3.2. beschriebene Differenz zwischen Weise und Hallbauer), zählt, sondern jene Angemessenheit von Form und Inhalt, die eigentliches Ziel der rhetorischen Argumentationslehre darstellt. Daraus folgt die Gewichtung lehrbarer Grundsätze der Dichtung und die Festlegung auf klassische Regeln, wie sie in der französischen Poetik und Dichtung (Boileau, Corneille) musterhaft gegeben waren. Die Zugänglichkeit (C⫺B) der dichterischen (möglichen) Welt für die wirkliche Welt wird als festgelegt gedacht und gemäß dem Muster der Alten bestimmt. In der Querelle des Anciens et des Modernes steht Gottsched auf Seiten der Alten, betont die Ausrichtung an den Mustern und den daraus gewonnenen Regeln, womit gleichzeitig dem individuellen Schaffensspielraum enge Grenzen gezogen sind. Lessings Kritik an Gottsched und der Regelakribie der Franzosen ist letztlich ein Plädoyer dafür, das Gegenmoment dieser Relation, die freie Schöpfung (A⫺C), zu betonen. Dies findet sein paradigmatisches Demonstrationsobjekt im Werk Shakespeares. Die Bestimmung der Zugänglichkeitsrelation zwischen wirklicher Welt und möglicher Welt der Dichtung differiert bei Lessing in zweifacher Weise von Gottsched. Zum einen ist die größere Freiheit der Dichtung ⫺ hierin Breitinger gleich ⫺ gegenüber der Welt zu vermerken als Freiheit der Abbildungskorrelation von jener Art von Wahrscheinlichkeit und Verpflichtetheit auf Wirklichkeitsstrukturen, wie sie durch die drei Einheiten vorgegeben oder besser nachgezeichnet werden soll. Zum anderen findet sich die Einforderung einer natürlicheren Darstellung der Welt unter Hintansetzung der gesellschaftlichen Konvention, wie sie gemäß dem rhetorischen „aptum“ etwa in der durchgreifenden Strukturierung durch die Dreistillehre (vgl. Art. 53 § 3.) gegeben war. Dieses Gegenüber von „englischem Geschmack“ ⫺ rigoroser als Lessing nahm Jakob Reinhold Michael Lenz (1751⫺1792) auf Shakespeare Bezug und forderte die „hundert Einheiten“ des dichterischen Kunstwerks qua dichterischen Werks, womit er den Eigenwert der geschaffenen
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Welt entschieden unterstrich ⫺ und französischem Klassizismus kam bereits in der Betonung des paradigmatischen Status von Milton bei den Schweizern zum Ausdruck. Ein anderer Akzent kommt nochmals in Schillers (1759⫺1805) poetologischen Konzeptionen zum Tragen. Im Prinzip ist bei Schiller die Trennung der Poetik von der Rhetorik abgeschlossen, doch findet sich eine ambivalente Aufwertung rhetorischer Momente und damit „eine Theorie reaktiviert, die der Stürmer und Dränger noch zu den ‘abgeschmackten Konventionen’ gerechnet hatte“ (Ueding 1976, 124). Übersehen werden darf jedoch nicht, daß Argumentationen, die in Zusammenhang mit der rhetorischen Linie bei Schiller verstanden werden müssen, aus einem ganz anderen Deutungshorizont erwachsen. So zielt Pathos in Schillers Überlegungen „über das Pathetische“ nicht primär auf den Pathosbegriff der Rhetorik (vgl. Wiegmann 1977, 90). Wenn mit Recht davon gesprochen werden kann, daß „Wirkung als zentrale dramentheoretische Kategorie beibehalten wird“ (Ueding 1976, 151), dann ist in der Folgerung „einer quasi-rhetorischen Affektenlehre“ (ebd.) das „quasi“ zu unterstreichen. Die entscheidende Differenz zu genuin rhetorischen Fundierungen liegt bei Schiller in der Autonomisierung des künstlerischen Scheins. Die bei Schiller für das poetische Zeichen entscheidenden Beziehungen liegen zwischen A (Dichtung), C (im Kunstwerk konstruierter möglicher Welt) und D (einer wirklicheren Wirklichkeit, auf die in B als utopisches Moment verwiesen ist). Der Bezug zu B (der historisch-empirischen Welt) spielt in dem durch das dichterische Zeichen eröffneten Raum eine nachgeordnete Rolle. Soweit Schillers Gedanken „über die ästhetische Erziehung des Menschen“ eine sozialethische Funktion der Kunst ansprechen, ist diese in einer Wirkungslinie D →B zu orten. Der Gegensatz zu Gottsched tritt hier deutlich zu Tage. Bei diesem wird ein allgemeiner moralischer Satz (ein Satz, der in B gilt) exemplarisch durch die Dichtung abgebildet, wobei das Gelingen dieser Abbildung, die dichterische Wahrheit, wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann, durch die relativ starre Zugänglichkeitsrelation C⫺B gewährleistet wird. Bei Schiller dagegen liegt die „poetische Wahrheit […] in der ‘inneren Möglichkeit’ einer ‘res’, nicht in der faktischen Wirklichkeit“ (Wiegmann 1977, 93), bestimmt sich also nach dem Verhältnis A⫺C⫺D.
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In den Schlußakzenten gleichsam der Poetik im Ausgang des 18. Jahrhunderts treten insbesonders Friedrich Schlegel (1772⫺1829) und Novalis (1772⫺1801) mit Konzeptionen hervor, die den Status der Poesie als metaphysisch fundamental bestimmen, so daß die Poesie nun für die grammatischen und rhetorischen Aspekte des Zeichensystems Sprache grundlegend wird. Es bedeutet dies eine Wendung vom Gedanken der genetischen Priorität in der Abfolge der Sprachentwicklung ⫺ wie sie Herder (1772) in seiner Sprachursprungstheorie skizziert ⫺ hin zu einer systematischen Priorität. Begründet findet sich diese Auffassung durch ein Verständnis der Poesie als eines „wahren Realismus“, weshalb F. Schlegel auch anraten kann, daß wer ins „Innere der Physik dringen“ wolle, sich in „die Mysterien der Poesie“ einweihen lassen solle (Fragmente 1798). Auch die Rede von der Natur als der „eigentlichen Verfasserin“ der Poesie Homers weist in die Richtung eines Poesieverständnisses, das sich von der Beziehung zwischen der Dichtung (A) und der „wirklichen Wirklichkeit“ (D) ⫺ hier mit der Charakterisierung eines Unendlichen ⫺ her bestimmt. Die Kennzeichnung der romantischen Poesie als „progressiver Universalpoesie“ ist zugleich programmatische poetologische Forderung: „in gewissem Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein“ (116. Athenäumsfragment). Aus dem unabgeltbaren Überschuß des semantischen Potentials des Unendlichen gegenüber der endlichen Sprache ergibt sich der Gedanke der unendlichen Progression der Poesie als approximativer Annäherung an das Unendliche. Dies gilt für Novalis ebenso wie Schlegel. Im Beziehungsgeflecht des poetischen Zeichens muß man die romantische Konzeption als Relation zwischen A, C und D verstehen. Die Betonung des Grundsatzes „daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“ (Fragment 116) bedeutet die theoretische Aufhebung aller Restriktionen bezüglich der Zugänglichkeitsrelation B⫺C, wie sie einerseits für rhetorische Forderungen des „aptum“, andererseits aber auch für gegenrhetorische Natürlichkeitsforderungen galten. Doch grundgelegt findet sich hier eine Sprachauffassung, die in ihren Weiterungen bis in die sprachphilosophischen Konzeptionen eines Martin Heidegger Bedeutung erlangt (vgl. Art. 70 § 20). Es gibt nämlich durchaus eine Einflußrichtung von der Dichtung aus auf die Welt. Dem liegt eine beson-
dere Auffassung von der Sprachlichkeit der Welt zugrunde. Diese Sprachlichkeit der Welt ist in dem zweifachen Sinn zu verstehen, daß (i) die Welt (B) selbst Zeichencharakter hat hinsichtlich des Unendlichen (D) ⫺ eine Modifikation Hamannscher Gedanken ⫺ und daß (ii) die Welt (B) in ihrer ontologischen Verfaßtheit in Abhängigkeit von der Sprache und damit der Poesie zu bestimmen ist. Hieraus ergibt sich eine Relativität der Sprache, die ganz anders begründet ist als die theoretische Relativität, die sich aus der Berufung auf usuelle Gebrauchsmuster ergibt (siehe oben § 2.1.). Die Poetik als Theorie der Poesie findet sich romantisch in der Poesie aufgehoben. Die Nachwirkungen der Konzeption vom poetischen Zeichen als eigentlichem Geltungsgrund und Wahrheitsstifter finden sich heute eher in der Sprachphilosophie (vgl. Art. 77) denn in der poetologischen Reflexion (vgl. Art. 150).
5.
Literatur (in Auswahl)
5.1. Quellen (in historischer Reihenfolge) [1310 ca.] Dante, Alighieri, De vulgari eloquentia. Neudruck, ed. A. Marigo. Florenz 1957. [1440] Valla, Laurentius, De linguae Latinae elegantia. In: Opera Omnia. T.I. Basel 1540. Nachdruck Turin 1962. [1450 ca.] Alberti, Leon Battista, Regole della lingua fiorentina. Ed. C. Grayson 1964: La prima grammatica della lingua volgare. Bologna. [1468] Perottuss, Nicolaus, Rudimenta Grammatices. 1475 Sulpitius, Verulanus, De arte grammatica opusculum compendiosa. Perugia. 1481 Nebrija, Antonio, Introductiones Latinae. Salamanca. 1492 Nebrija, Antonio, Gra´matica sobre la lengua castellana. Salamanca. 1524 Linacre, Thomas, De emendata structura Latini sermonis libri sex. London. 1540 Scaliger, Julius Caesar, De causis Latinae linguae libri tredecim. Lyon. 1544 Talaeus, Audomarus, Instituiones oratoriae. Paris. 1549 Lily, William, A Shorte Introduction of Grammar, Generally to be Used in the Kynges Majesties Dominions, for the Bryngynge up of all Those that Entende to Atteyne the Knowledge of the Latin Tongue. London. 1559 Ramus, Petrus, Scholae in liberales artes.
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1323
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1324
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
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5.2. Sekundärliteratur Aarsleff, Hans (1967), The Study of Language in England, 1780⫺1860. Princeton. Aarsleff, Hans (1975), „The Eighteenth Century, Including Leibniz“. In Sebeok 1975: 383⫺479. Arndt, Hans Werner (1979), „Semiotik und Sprachtheorie im klassischen Rationalismus der deutschen Aufklärung“. Zeitschrift für Semiotik 1: 305⫺308. Arnold, Heinz Ludwig und Volker Sinemus (eds.) (1973), Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Band 1. Literaturwissenschaft. München.
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Josef Rauscher, Mainz (Deutschland)
1326
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
68. Sign conceptions in music from the Renaissance to the early 19th century 1. 2. 3. 4. 5.
Introduction Music as a numerical harmony Music as an emotional stimulus Further developments Selected references
contradiction between the two notions and both are present in many theoretical works of the four centuries.
2. 1.
Introduction
In the four centuries from the Renaissance to the years of the French Revolution, numerous social and cultural events gave rise to important transformations of the philosophical and aesthetical frameworks inherited from the medieval and classic traditions (cf. Art. 62, 63, 65 and 67). In the same period these same events induced in European music (cf. Art. 54) a large number of stylistic changes: transformations from polyphonic to monodic conceptions and from modal to tonal hierarchies; developments in instrumental music and in musical theatre; and the growth of new national and religious traditions (cf. Art. 72 and 73). These philosophical and stylistic changes gave birth to a complex system of new ideas also in the field of music theory (cf. Art. 84). Explicit references to sign conceptions or to clear semiotical or presemiotical terminology are rarely seen in the musical writings of this period, but a potentially semiotic conception did exist and was present throughout Europe, that is, the conviction that music can be philosophically or psychologically interpreted, the implicit tenet that musical sound stat pro aliquo. In order to draw a general, simplified picture of this point of view, it is necessary to make an initial reference to two ancient principles, both of which were present in the writings of Plato and widely known also in the Middle Ages: the notion of music as a numerical harmony, as a symbol of the formal perfection of the universe, and the notion of music as a powerful stimulus, able to give rise to emotional effects in human minds (cf. Art. 43). Both notions are taken up and discussed in the works of the philosophers and music theorists of the humanist period; in the centuries which followed both are developed and enriched with new philosophical and scientific ideas, as well as with new empirical data coming from the observation of contemporary music. In the following sections they will be presented separately, even though there is no direct
Music as a numerical harmony
Platonic philosophy was studied in depth in Florence in the second half of the fifteenth century, particularly by Marsilio Ficino (1433⫺1499; cf. Ficino 1576), who translated into Latin not only Plato’s dialogues, but also works by Plotinus and Porphyry, and treatises of the hermetic tradition. In this complex body of rational thought and mystical intuition, a central point is devoted to the idea of spirit, conceived as a sort of airy substance which governs cosmic motions. Music too consists of airy substance and of motions. Therefore there is a fundamental likeness between spirit and music; moreover their motions are likewise governed by numerical laws. The connection of music and the mysterious perfection of cosmic forces explains its strong power on the human soul and the human body. In the works by Gioseffo Zarlino (1517⫺1590; cf. Zarlino 1558), traces of this kind of musical conception (a revised version of the ancient ‘harmony of the spheres’ of Pythagoras) can be found in the idea of ‘natural’ chords based on the numerical proportions of the strings (cf. Art. 71, Fig. 71.5: Kircher’s organ). One can divide a fifth using two different mathematical procedures: the so-called harmonic or the so-called arithmetic proportions. In the first case we obtain a major triad, in the second case a minor one. The human ear always responds with pleasure to this numerical perfection, but with two different attitudes: The major third is inclined to happiness, the minor to melancholy. Once again a natural concordance is implied between the passions of the soul and the numerical order governing physical and cosmic events. An even stronger connection between music and astronomy can be found in the works of Johannes Kepler (1571⫺1630; cf. Kepler 1619). His principal intuition was based on a surprising correspondence between the movements of celestial bodies and those of musical strings, particularly when he discovered that the orbits of the planets were not round but elliptical, and that their speed
1327
68. Sign conceptions in music
increased or decreased according to their distance from the sun. Thus in his version the relationships between music and astronomy are no longer of arithmetical but of geometrical order. According to his calculus, the sounds theoretically produced by the movements of the planets correspond to a polyphonic mixture quite similar to the music of his time, except for a much more extensive use of dissonances. For Kepler, however, human music is not an imitation of heavenly music. Rather, each of them reflects the cosmic perfection in its own sphere. A substantial contribution to the development of this philosophical conception came from experimental science: The idea that perfect chords used in contemporary music were based on natural laws found strong confirmation when Sauveur (1701 ⫽ 1743) gave experimental evidence to the existence and the structure of harmonic vibrations in complex sounds. Leibniz, who was aware of this new field of investigation, added to his philosophical and esthetical ideas about universal harmony the modern notion that the human mind was unconsciously able to calculate and to appreciate with a feeling of pleasure the subtle perfection of vibratory phenomena (Leibniz 1875⫺1890 ⫽ 1932). But this theoretical tendency reached its more complete organization in the works of J. Ph. Rameau (1683⫺ 1764), who combined the philosophical tradition, experimental research and the actual music of his time into an organic synthesis (Rameau 1722, Rameau 1754). Tonal harmony, as it was practised from the last decades of the eighteenth century onward, was based on a well organized hierarchy of tonalities and of chords within each tonality, with a center identified in the ‘natural’ perfection of the chord of the main tonality in a piece. Rameau gave a structural description of such a system, thus not only confirming the ancient idea of music as a symbol of geometrical perfection, but also explaining the emotional phenomenon of musical ‘tension’ by means of the distance of chords from their basic tonal center. In the music-theoretical tradition outlined above, no clear semiotic consciousness can be found. In the relationships between music and cosmic harmony sound is never conceived in terms of a ‘signifier’. The cognitive means of this epoch offered other kinds of concepts: Philosophers preferred to speak of ‘imitation’ or of ‘correspondence between’ or ‘revelation of’ (cf. Fig. 68.1). But there is a
difference between the use of conceptual categories and the act of listening to music. It is probably in the latter situation that one can notice a sort of implicit semiotic process: On these occasions the mysterious perfection of sound is really evoking and ‘standing for’ something else.
3.
Music as an emotional stimulus
In the period under review a parallel theoretical tradition was developed, which was based on the notion of the ‘effects’ of music. It too has its origin in classical Greek culture. Initially it occurs in ancient religious rituals and myths, later also in philosophical works, such as Plato’s dialogues, and it was in this philosophical version that it was passed down to the medieval world. Complexus effectuum musices (ca. 1473) by Johannes Tinctoris (1436⫺1511) is one of the first Renaissance treatises that systematically discusses these classical theories, adapting them to the contemporary uses of music. A further substantial stimulus to studies in this field was given by reflections on a crucial stylistic problem of Italian secular court music of the sixteenth century: that of the relationships between music and poetry. Almost all writers on music of that period and many of the composers (e. g., Monteverdi) discuss this problem extensively. The basic idea, clearly underlined in the treatises of Nicola Vicentino (1511⫺ 1572; cf. Vicentino 1555), is that music can (and must) ‘imitate’, with its proper means and expressive powers, concepts and feelings in verbal language. Vincenzo Galilei (ca. 1520⫺1591; cf. Galilei 1581), goes even further: In his opinion not the concepts of verbal language but the vocal inflexions and the gestures of the actors on the stage must become the model of the art of a good musician. Another source of useful suggestions was the ‘imitation’ of oratorial procedures, whose success was particularly due to the great tradition of classical rhetoric: Joachim Burmeister (1606), for example, tried to ‘translate’ rhetorical procedures into musical techniques. The impulse towards theatrical and oratorial inflexions was confirmed by the birth of opera and oratorio, but it was present also in many forms of instrumental music. There was a close stylistic relationship between the vocal and the purely instrumental music of the epoch, but from a theoretical point of view the difference between the two genres was more important (compare also the developments in churchmusic after the Re-
Fig. 68.1: A table of the numerical correspondence between musical intervals and natural objects (from Kircher, Musurgia universalis, 1650: II 393).
1328 IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
68. Sign conceptions in music
1329
Fig. 68.2: Effects of music according to Athanasius Kircher: „Puella tarantata, quae non nisi tympanis curari poterat“ („A girl bitten by a tarantula, who could not be cured except by drums“; Kircher, Phonurgia nova, 1673: 206).
formation; Art. 72 § 1.3.). In the case of vocal music the discussion was developed primarily over the problem of the hierarchical relationships between poetry and music (cf. Art. 63 § 3.2.2.). The supporters of modern style affirmed that music ought to imitate the laws of poetry (or be its ‘servant’). In the case of purely instrumental music, on the other hand, music possessed its own rhetorical laws, and for this reason it was considered, more or less explicitly, to be a sort of language endowed with specific semiotic powers. These were normally described both according to rhetorical ideas and to the theory of ‘effects’, mainly emotional effects, as they were viewed in the German tradition of the Affektenlehre. One of the main topics of classical treatises on ‘ars rhetorica’ was the discussion of the different oratorial styles. A direct consequence of this was the diffusion of a typology of musical styles, such as the one proposed by Athanasius Kircher (1602⫺1680; cf. Kircher 1650), where the semiotic powers of music also assumed a pragmatic importance, each style being suited to particular social circumstances (cf. Fig. 68.2). In the first half of the eighteenth century Johann Mattheson (1681⫺1764; cf. Mattheson
1739), gave a clear and systematic summary of this body of theory in an attempt to shield music from the charge of being the most irrational of the arts. An important contribution to the discussion about the rational-irrational nature of music was constituted by the philosophical French quarrels of the same century: On the one hand the rationalist tradition affirmed that the only function of music was to add a sort of pleasure to the content of the words, whereas on the other hand Jean-Jacques Rousseau (1712⫺1778) in his Essai sur l’origine des langues asserted that the union of melody and words was not additive in character: In his opinion, melody was the primordial condition of language when language and music occurred as a single entity (cf. Art. 54 § 2.). Traces of this idea have survived in modern Europe, so that music (and above all melody) appears as a real language, an inarticulate, but vivid and passionate language, more full of energy than words (Rousseau 1838). Denis Diderot (1713⫺1784) has a similar argument; in particular, he claims that music is a ‘cris animal’ able to attain and to bring to light the great vitality of instinctive life (Diderot ca. 1760).
1330
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
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Ficino, Marsilio (1576), “De triplici vita”. In Opera Omnia. Basilea: 493 ff.
Mario Baroni, Bologna (Italy)
4.
Further developments
In the opposition between Rameau’s conception of musical harmony as a natural code reflecting the mathematical structure of the universe and Rousseau’s conception of melody as a natural code emerging from the anthropological functions of human mind, two very ancient lines of thinking attain conflicting positions (cf. Art. 67 § 2.). Both conceptions are semiotically important, for in both cases music can refer to ‘something else’, but in the former the musical signifier is identified in the secret regularity of the relationships between sounds that are homomorphic with the rational organization of the world, whereas in the latter it is identified in the energetical relationships between sounds that are homomorphic with human physiological and vocal gestures. Such an opposition will be developed further: Some traces can be found even in nineteenth-century discussions about form and content in music, where form is conceived as a rational order between sounds and content as inner pulsions and visions of human imagination (cf. Art. 81).
5.
Selected references
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69. Sign conceptions in architecture and the fine arts from the Renaissance to the early 19th century 1. The semiotics of Vitruvius 2. Alberti and the semiotic foundation of the classical canons 3. The sources of sign conceptions in theories of art 3.1. Astrology ⫺ the heavenly signs 3.2. Physiognomy ⫺ the bodily signs 4. Scientific studies of sign conceptions 5. The moral aspects of sign conceptions and their impact on artistic doctrines 5.1. Decorum 5.2. Character 6. The absolutization of sign conceptions 7. Conclusion 8. Selected references
1.
The semiotics of Vitruvius
The idea that you could look at architecture as a sign system was already suggested by Vitruvius (active 46⫺30 B. C.) in his De architectura, the earliest surviving handbook on the subject, written at the time of the Roman Emperor Augustus. At the beginning of his treatise (I. i. 3) Vitruvius divides discourse and especially architectural discourse into two parts: that which signifies and that which is signified (“quod significat et quod significatur”). That which is signified is the proposed
69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
thing of which one speaks (“significatur proposita res, de qua dicitur”), that which signifies is the demonstration unfolded and explained in systems of teachings or instructions (“demonstratio rationibus doctrinarum explicata”). It is not quite clear what Vitruvius actually refers to by “res”, but interpreting from the context, it is fair to assume that the thing signified is the practice and the handy execution of a design, for he says (I. i. 1) that the science of the architect consists of both “fabrica” and “ratiocinatio”. “Fabrica”, as Vitruvius explains, is the constant and grinding practice through which material is given whatever shape is required by the design, while “ratiocinatio” demonstrates and accounts for how things were to be made according to theory and a predetermined design. Vitruvius goes on to say that an architect needs experiences of both kinds ⫺ of “quod significat” and of “quod significatur” ⫺ and that he must have both a natural gift (“ingenium”) and also readiness to learn (“disciplina”). He also demands of the architect skill in craft as well as familiarity with mathematics, history, philosophy, music, medicine, law and astronomy. Vitruvius proceeds to explain how an architect draws on various disciplines. As an example, he shows how the use of caryatids may be justified historically by the humiliation of the Caria by the Greeks for their conspiracy with the Persians. Their matrons were led away into slavery but were not even allowed to lay aside their finery and ornaments. As an eternal warning to posterity, the architects of the time designed marble statues of long-robed women instead of columns to support the mutules and cornices (I. i. 5). Similarly the Spartans, having conquered the Persians, built a colonnade in which they placed statues of their captives to support the roofs and the architraves to signify the merit and courage of their citizens (I. i. 6). Vitruvius’ concern here is not the problem of what a building signifies but rather how an architect can apply historical knowledge in justifying designs. A general education, he says, is put together like a body from its members, so that those trained in various studies recognize the same characters in all the arts and see the intercommunication of all disciplines (I. i. 11). For all arts are composed of two things: craftsmanship (“opus”) and theory (“ratiocinatio”). Craftsmanship is specific to the singular art, theory is shared among the educated persons according to Vitruvius (I. i.
1331
Fig. 69.1: Leonardo da Vinci: The Vitruvian Man, Academy, Venice, Italy, circa 1490.
15). The use of the body as a simile for the structure of general knowledge and theory is very important, since Vitruvius applies the same metaphor again when he talks about the organization of buildings (III. i). Vitruvius’ exposition of the semiotic aspect is brief and marginal, yet he is the first to record this idea and to apply it specifically to architecture, probably following Greek masters whose writings have perished. The series of opposites: “significat”/“significatur”, “fabrica”/“ratiocinatio”, “opus”/ “ratiocinatio”, seem to be mere reiterations of the same idea. Later commentators have tried to articulate this idea further in different ways. In the early sixteenth century, Cesare Cesariano (1483⫺1543), the first extensive commentator, points out that Vitruvius restates the same idea at the end of Book VI, where he compares the architect’s and the layman’s abilities to conceive and to perceive. All men, not only architects, can approve what is good. But the difference between the architect and the layman is that while the latter only comprehends what is already done, the former, once he has formed his plan, has a definite idea how the design will turn out
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Fig. 69.2: Cesare Cesariano: The Vitruvian Man (from Commentary of Vitruvius, Como, 1521).
in reality. Cesariano extends this by saying that the thing signified is the designation of ideas in plan and elevation and that therefore the architect himself is the agent who signifies. Cesariano’s interpretation offers a twofold articulation of the semiotic problem. In the first place, the plan (“ichnographia”) and elevation (“orthographia”) which Vitruvius speaks about in I. 2 as “dispositio”, one of the three “ordinationes” of architecture, are signs themselves (“significat”) in relation to the actual building which is signified (“significatur”). By introducing the architect as the one who signifies (“significat”), it is the “disposi-
tio” that becomes signified (“significatur”). In this sense, Cesariano may have anticipated Peirce’s (1839⫺1914) introduction of the interpretant between the signifier and the signified. The next important 16th century commentator, Daniele Barbaro (died 1569), elucidates the problem on a more general semantic level. He begins with a reflection about the semiotic nature of various disciplines. Among the arts, he says, there are some whose aims do not pass beyond the consideration of what is contained within the subjects, such as mathematics; there are others whose opera-
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69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
tion will need nothing for their completion, such as the playing of musical instruments; yet others leave some relic of their process, such as the arts of production; others require learning and the acquisition of skills, such as hunting; still others do not consider, nor finish, nor require intentions but correct and amend the errors and the harm of things already done, an example being medicine. Architecture, according to Barbaro, calls on all of them. He generalizes: the thing signified is the effect, the work of all the arts, and conclusions of all the sciences; while reasons, proofs and causes are that which signifies, because “the sign refers to the thing signified: the cause to the effect, the conclusion to the proof” (Barbaro 1556 ⫽ 1629, Commentary I. i. 3). Barbaro sees every work to be the outward expression, the material sign, of a corresponding form conceived in the intellect, and considers that this is particularly true in architecture. He further holds that every art is to signify, that is, to represent the things according to their properties, which concur principally to form the concept according to its intention. Lastly, he differentiates some signs as being closer to the things they represent while others are more superficial and feebly connected. The architect must leave it to the orator, the poet and the dialectician to engage in a more fictitious discourse. Barbaro’s observation that architecture, as well as the other visual arts, are signs closer to the signification of matter than some other arts, such as rhetoric, poetry or dialectic, was made shortly after the major dispute in the cinquecento among the artists regarding which art was greatest. The results of this dispute were summed up by the famous “paragone inchiesta” conducted by the great humanist Benedetto Varchi (1502⫺1565), later published as Della maggioranza delle arti, in which Varchi ranked architecture second only to medicine. Barbaro’s interpretation of the signifier and the signified as cause and effect was echoed again in the 17th century commentary of Claude Perrault (1613⫺ 1688). In fact, the latter modified the original interpretation of the semiotic dichotomy and spoke of “appearances” rather than effects. For him, the thing signified is what appears to be; and the reasons for its appearance are that which signifies. Such novel interpretations of the semiotic approach to architecture ⫺ the close association with matter and the reduction to the concept to appearance where meaning is sought only in the visible and superficial ⫺ provided the major ar-
guments for the 19th century philosophers to rank architecture and the fine arts lower than the other disciplines. This unfortunately reversed the original intention of Vitruvius (cf. Art. 63 § 2.2.).
2.
Alberti and the semiotic foundation of the classical canons
The Renaissance extolled Greek and Roman civilization as a model for imitation and emulation. In architecture and the fine arts, there was an attempt to formulate “classical” canons to replace medieval precepts and exchange antique motifs for Gothic forms (cf. Art. 55). Vitruvius’ treatise was well known to literary and philosophical authors in the Middle Ages. However, it seems not to have been read as a source-book by architects and artists until the Renaissance. Architecture and the fine arts were only then put on a par with other classical learning by the humanists, the first and most influential of whom was the Florentine Leon Battista Alberti (1404⫺1472). However, despite the developing interests in historical studies and hence in Vitruvius’ text, Alberti was so critical of his Roman predecessor that he set out to write his own ten books on architecture, having already composed a treatise on painting and another on sculpture. The basic doctrines regarding the fundamental principles in architecture, in spite of Alberti’s criticism of his predecessor, remain surprisingly alike although he is a more subtle thinker, and a better stylist. Concerning the nature of the subject, Alberti says in his preface to the De re aedificatoria that he considers a building a kind of body consisting, like all other bodies, of lineaments (“lineamenta”) and matter (“materia”); the first produced by thought, the other taken out of nature; so that one is the result of mental process and the other of preparation and choice. He further reflects that neither one nor the other is sufficient in itself, without the hand of an experienced artificer, who knows how to give form to his materials according to the proper design. In the first chapter of Book I, he restates the distinction between the signifier and the signified as the semiotic relation between design and matter, since the whole art of building consists of lineaments (“lineamenta”) and structure (“structura”): “It is the function and duty of lineaments to prescribe an appropriate place, exact numbers, a proper scale, and a graceful order for whole buildings and for each of their constituent parts […]. It is
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Fig. 69.3: Claude Perrault: The Vitruvian Man (from Commentary of Vitruvius, Paris, 1673).
quite possible to project whole forms in the mind without any recourse to the material, by designing and determining a fixed orientation and conjunction for the various lines and angles.” Anticipating Cesariano, Alberti spells out here the distinction of the syntactical nature of design within the semiotics of architecture. For lineamenta are “the precise and correct outline, conceived in the mind, made up of lines and angles, and perfected in the learned intellect and imagination”. This double semiotic nature of architecture and design perhaps
reveals a common origin of “the arts of making visible” (“arti del disegno”) as investigated later by Vasari (cf. Art. 63 § 2.2.). In terms of design principles, Alberti followed Vitruvius’ account of the mimetic origin of architecture, of art from nature. Considering the art of building to have begun in Asia (the Near East and Egypt), Alberti goes on to describe its fullness in Greece, where it was refined by the observation of nature: “They performed all manner of experiment, surveying and retracing the steps of Nature,
69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
mixing equal with unequal, straight with curved, light with shade; they considered whether a third combination might arise, as from the union of male and female, which would help them to achieve their original aim” (VI. iii). On arriving in Italy, the art of building was brought to perfection by the conclusion that the members in buildings ought to be contrived in the same manner as in animals; as, for instance, in a horse, whose limbs are generally most beautiful when they are most useful for service. On partition (“partitio”) and on the origin of building, Alberti also says that “part should relate to part in buildings just as members relate to members in animals” (I. ix). The members of a building should stand in such proportion to each other that the whole building might appear to be an entire and perfect body. Alberti here reiterates an idea which is most crucial to the traditional “ratiocinatio” of architecture: the body as the raison d’eˆtre of the whole conception of the classical canons in architecture and the fine arts. The definitive canon of proportion for the human body has been attributed to the fifth century sculptor Polyclitus. Vitruvius also mentions this analogy in describing the principle of symmetry in buildings, especially in temples, claiming that it must have an exact proportion worked out after the fashion of the members of a finely-shaped human body (III. i). From the body, proportionate dimensions are extracted for the building operations: the finger or inch, the palm, the foot, the cubit. These are then grouped into perfect numbers, of which Vitruvius mentions three: six, ten and sixteen (1 ⫹ 2 ⫹ 3 ⫽ 6, 1 ⫹ 2 ⫹ 3 ⫹ 4 ⫽ 10, 1 ⫹ 2 ⫹ 3 ⫹ 4 ⫹ 3 ⫹ 2 ⫹ 1 ⫽ 16). Moreover, the body is seen to embody two perfect geometries derived from the square and the circle: For a man lying on his back with hands and feet outspread and the centre of a circle placed on his navel will have his figure and toes touching the circumference; the height of a man with his arms outstretched forms a square (cf. Fig. 69.1). Vitruvius’ passage had been quoted in several medieval manuscripts, especially in the vast encyclopaedia, the Speculum, compiled by Vincent of Beauvais (1190⫺1264). But such mentions were not accompanied by any image or illustration. The first illustrated Vitruvius appeared in 1511 but the illustrations for the Vitruvian man in square and circle were a little earlier. The first, probably done about 1430, is to be found in Mariano Taccola’s treatise De ingeneis (1433). The next appeared
1335 about 1470 in Taccola’s pupil Francesco di Giorgio’s (1439⫺1501/2) treatise on architecture and engineering. The third, some twenty years later, is the famous one drawn by Leonardo da Vinci in the Academia in Venice (cf. Fig. 69.1). A newly discovered Vitruvian manuscript in Ferrara (Sgarbi 1993), which is dated about the end of the fifteenth or the beginning of the sixteenth century, also contains illustrations of the homo bene figuratus. From the sixteenth century on, a profusion of similar drawings appeared in the various Vitruvian commentaries and a few major treatises on art, architecture and philosophy (cf. Fig. 69.2 and 69.3; see also Scholz 1994). The analogical conception of body and building is manifested clearly again in one particular member of classical architecture, the column, or the whole assemblage with pedestal and entablature, usually referred to as the “Order” (Fig. 69.4; cf. Art. 2 § 5.1.2.). Alberti regards the column as the major ornament of any building. He finds nothing that deserves more care and expense in the whole art of building, or ought to be more graceful, than the column (I. x). The origin of the different Orders, according to Alberti, comes from the imitation of nature. “By studying in Nature the patterns both for whole bodies and for their individual parts, they [‚i. e., ancient architects] understood that at their very origins bodies do not consist of equal portions, with the result that some are slender, some fat, and others in between […]. Following Nature’s own example, they also invented three different ways of ornamenting a house, their names taken from the nations who favored one above the others, or even invented each, as it is said. One kind was fuller, more practical and enduring: this they called Doric. Another was slender and full of charm: this they named Corinthian. The one that lay in between, as though composed of both, they called the Ionic; they devised these for the body as a whole” (IX. v). Alberti does not follow Vitruvius exactly in the detailed proportioning of the Orders, yet he repeats Vitruvius’ account of their origins. Both record the invention of the Corinthian Order by the fourth-century sculptor Callimachus who, having seen the beautiful composition of the acanthus leaves growing under the weight of a tile covering a basket over the grave of a virgin, made a drawing of the grouping, fixed the proportions and named that style of column “Corinthian” (Vitruvius IV. i. 9; Alberti VII. vi). The heights of the columns were first taken from the measures of a man’s footstep and later
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Fig. 69.4: Vincenzo Scamozzi: The Five Orders (from L’idea della architettura universale, Venice, 1615).
amended for slenderness in the subtlety of judgements for the different Orders (Vitruvius IV. i. 8; Alberti VII. vi). The differences in measurements of the parts in the Orders became more divergent with the production of ever more theories and treatises among the later theorists. This led to the dispute in the 17th century about the nature of the authority the ancients could exercise over the moderns in the matter of proportional rules, and finally, to the collapse of the whole doctrine (cf. Art. 63 § 3.1.1.).
3.
The sources of sign conceptions in theories of art
The body remained a powerful image and object of investigation not only for a formulation of a proportional doctrine as in architecture and design, but also for both literal and figurative representations. Alberti’s De statua, Pomponius Gauricus’ (died 1530) De sculptura, Dürer’s (1471⫺1528) Vier Bücher von menschlicher Proportion were all com-
69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
posed with such an intention in mind. But the study of the body as a sign went beyond the mathematical and geometrical measures (cf. Art. 82 § 1.3.). One empirical approach involved anatomy and the direct borrowing from medicine. It is interesting to note the relation between architecture and medicine with regard to the study of the human body for a history of sign conceptions. The term “semeiotic” (“se¯meio¯tiko´s”, the etymological origin of the now more commonly used “semiotic”) in fact originates from a branch of medical procedure known today as symptomatology. Medical semiotics deals with the diagnosis and interpretation of symptoms to assess the individual’s health from the external bodily signs (cf. Art. 45, 56 and 70). In architecture, the body serves as an example for the manifestation of the microcosmic order ⫺ the term “fabrica” implies a metaphoric chain from world order to buildings and bodies (cf. Vesalius 1543). It is therefore not surprising that Renaissance artists were also among the first practitioners of anatomy: the Pollaiuolo Brothers, Verocchio (1432⫺1488), Signorelli (1440⫺1525), Bramante (1444⫺1514), Leonardo (1452⫺1519) and Michelangelo (1475⫺1564). Indeed the great anatomist Vesalius (1514⫺1564) had complained that the crowds of artists at his lecture-demonstrations were pushing out the bona-fide medical students. Their constructive passions led them to investigate the exact relationship of bone and sinew and to understand the make-up of the tissues and the frame of the body fabric. The impact of anatomy on artistic theories might have been appreciated in Michelangelo’s pupil Vincenzo Danti’s (1530⫺1576) treatise Trattato delle perfecte proporzione. Unfortunately most of this work was lost. Parallel to the empirical anatomical approach for an understanding of the physical human body, there were other methods, inextricably linked with the medical tradition since antiquity, which purported to be capable of gaining knowledge of the internal workings of the body otherwise inaccessible to anatomical dissection. These were astrology and physiognomy. 3.1. Astrology ⫺ the heavenly signs Astrology, widely diffused since time immemorial (cf. Art. 46 § 5.2.), remained powerful in the Renaissance. Its rationale, reformulated on neo-Platonic cosmology, was a theory of macrocosm and microcosm which found its application in medicine: man, who
1337 represents the world in summarized form, is influenced by the cosmic forces, which are combined in his make-up in the same proportions as in the universe; by inference, the fate of a patient is thus dependent on astronomical calculations. According to the Greek principle of “melothesı´a”, each zodiacal sign rules over some part of the body while each planet relates to a certain organ or limb. The body’s anatomy and physiology are governed by the stars and the physician or surgeon must know how to operate accordingly. Illustration of this principle could be found as early as the eleventh century, but the most famous one was the miniature of a zodiacal man illuminated by the Limburg Brothers (active in the 15th century) for Jean de France, Duc de Berry (1340⫺1416), in his Tre`s Riches Heures, produced about 1416 (cf.
Fig. 69.5: The Limbourg Brothers: Zodiacal Man (from Tre`s Riches Heures of Jean, Duke of Berry, Muse´e Conde´, Chantilly, France, circa 1416).
Fig. 69.5). The profusion of the images of the zodiacal man as carrying the astro-medical theme perhaps culminated in the seventeenth century in Silvestro Giannotti’s (1680⫺1750) carving of an array of stellar demigods around the central figure of Apollo ⫺ the inventor of medicine ⫺ on the ceiling of the astronomical theatre of the Archiginnasio in Bologna.
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Fig. 69.6: Albrecht Dürer: “Der Verzweifelnde” (“Despairing Man”; copperplate engraving, ca. 1516).
An important component of the astrological theory of medicine was the doctrine of humors and temperaments which were thought of as the products of the necessary preponderance of one of the four elements: earth, water, air and fire ⫺ of which the body, like the rest of the world, was made. The connection between astrology and humors was well stated by the Venerable Bede (675⫺735) in his meditations on the calendar: “Man himself, whom the wise call ‘microcosmos’ (that is, a little world) has a body wholly tempered by qualities which surely imitate the individual humors of which it is composed, as if it were following the seasons by which it is dominated.” The elements are kept apart or attracted to each other by the dialectic principles of “philotis”, “eros” and “poleimon” which sustain the order of the whole world fabric effecting both its per-
manence and its continuous flux. From the four elements are composed the four humors of the body ⫺ blood, phlegm, choler and melancholy ⫺ and hence the four temperaments: sanguine, phlegmatic, choleric and melancholic. The impact of the pervasiveness of these theories on the artistic productions of the Renaissance can be seen, for example, in Dürer’s “Der Verzweifelnde” and “Melencolia I” (Fig. 69.6 and 69.7). But the person who formulated the most extensive art-theoretical statement about them was the 16th century Milanese painter and theorist Giovan Paolo Lomazzo (1538⫺1600). Lomazzo’s ideas are set out in his two books Trattato dell’arte della pittura (1584) and Idea del tempio della pittura (1590) in which he lists five important aspects of painting: proportion, motion, color, light and perspective. He subsequently shows how each of
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69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 69.7: Albrecht Dürer: “Melencolia I” (iron etching, 1514).
these aspects corresponds to planetary control. Different types of proportion are suitable for different types of body, according to the planetary influence of their nature. For example, a body of ten face-lengths belongs to Mars and therefore has to be regulated to the imitation of the Martian form. For a long and slender body is formed by the heat and dryness which results from an impetuous and choleric nature. Motion (“moto”) Lomazzo defines as the outward expression and extrinsic demonstration in the body of things which the mind bears internally. The mechanism by which the passions of the mind affect the body is exemplified: Melancholy, to take one temperament, is earthy; therefore the actions of such a body are slow, heavy and restrained. The consequences are anxiety, disquiet, sadness, stubbornness etc. which all tend downwards, making parts of the body hang and decline. Thus anxiety, horror and despair appear most forcibly in these bodies. From this conjunction, Lomazzo arrives at
the idea of imitation, which is a hidden and secret power of similitude by which one body induces others to participate in its affections. He subsequently invokes the power passions and affections show in the natural instinct and inclination, which proceed from superior bodies. Without this knowledge, no artist can really succeed in his work. An artist must, moreover, know his own artistic temperament for an efficient exercise of his skills, for he himself is also subject to planetary influence. The antique idea of the body as the principal source of sign conceptions acquired new force in Lomazzo’s writings, which went beyond the abstract and quantitative realm of analogy. The proportion of the body as a theoretical ideal was no longer a static embodiment of geometrical and numerical ratios of members. It had to encompass the dynamic expressive changes of the body as a result of the internal workings of the soul. Cornelius Agrippa (1486?⫺1535), on whom
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Fig. 69.8: Leonardo da Vinci: “Five Grotesque Heads”, Windsor Collection, Berkshire, England.
Lomazzo relied heavily in his work, expresses this clearly in his De occulta philosophia: “As the consonance in the body consists in a due measure and proportion of the members: so the consonance of the mind in a due temperament and proportion of its virtues and operations ⫺ concupiscible, irascible and reasonable ⫺ which are so combined” (Agrippa 1533: II. xxviii. 170 f). 3.2. Physiognomy ⫺ the bodily signs The theory of expression in the arts owed its rationale to another tradition⫺physiognomy. Physiognomy was a branch of natural science in ancient Greece which aimed to establish the relations between characters and temperaments through external bodily signs. Many ancient authors wrote on the subject, among them Polemon (active in the 3rd century), Adamantius (active in the 4th century) and Apuleius (active in the 2nd century). The first systematic treatment (attributed to Aristotle) became very popular in the Middle Ages after
Bartolomaeus de Messina (active in the 13th century) translated it into Latin. The GrecoRoman tradition emphasized the zoomorphological aspect of the study by drawing analogies between the physical resemblances of man and animal. It was adopted by several medieval thinkers, the most influential being Albertus Magnus (1193?⫺1280). Another branch, which developed from Arabic sources, became more familiar in the Middle Ages, introducing astrological and occult beliefs. It found wide applications in matters from the choice of ministers to the purchase of slaves. It was given sanction by authors such as Michael Scot (the court astrologer and magician of Emperor Frederic II) as well as in several medical books such as the Secretum secretorum and the Liber Alamansorius. The two trends ⫺ the classical and the Arabic ⫺ remained separate until Peter d’Abano (1250⫺1316) attempted a systematic synthesis in his book Liber complicationis phisionomie in 1295 and in his chapters on Physiog-
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69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
nomy in the Conciliator in 1310. Michele Savonarola, the physician to the Marquis Nicolas III d’Este in Ferrara (1384⫺1461), relied heavily on the latter for his Speculum physionomiae (ca. 1450) which was a remarkable work trying to bring physiognomy and medicine together. The animal analogy in physiognomy was added to the correspondence between elements and complexions: air/sanguine/monkey, water/phlegmatic/lamb, fire/ choleric/lion and earth/melancholy/swine. During the Renaissance, interest in the subject revived with a profusion of reprints of the ancient texts. A major work called Chyromantie ac physionomie anastasis by the Bolognese physican and hermetic philosopher Bartolomeo Cocles (1467⫺1504), appeared in 1503 with an introduction by the anatomist Alessandro Achillini (1463⫺1512); concerning chiromancy and other techniques of divination cf. Art. 160. The relation between physiognomy and art was explicitly mentioned by Pomponius Gauricus in the chapter on physiognomy in his De sculptura (1504): “Physiognomy is a method by which we observe and deduce qualities of the mind according to the signs of the body. As the proverb says, one knows the artisan from his tools and the nature of the master from his house. Now this rule is reversible [“antistrophon”] and can be taken in two senses. It will be wholly indispensable to the sculptor because we will either have to produce the image according to the living model […] or have to imagine the appearance of the dead according to their well attested moral characters […]. We have seen with pleasure that this has been done by Veronius for Cartullus, Vitruvius, Marcus, Celsus and Pliny whom one thereby assumes as fellow citizens. It is indeed hardly possible to express in words all the service which physiognomy renders to the sculptor, and not only to the sculptors, but to all mankind.” Gauricus’ intention to utilize physiognomy as a tool to reconstruct the famous dead ⫺ his aim of art for the perpetuation of great men ⫺ could also be applied in the fabrication of the ideal and the imaginary as in the case of Leonardo, who wrote an essay called De fisonomia e chiromanzia. His famous studies of the grotesque heads can be seen as a formal exercise on the variations of proportions and of types corresponding to the different expressions and emotions (Fig. 69.8). In his studies for the Trivulzio monument, Leonardo shows warriors who assimilate images of lions or dragons. Many Renaissance artists also experimented with this
animal physiognomical idea, which was promulgated widely towards the end of the 16th century with the appearance of Giambattista della Porta’s (1540⫺1615) treatise Della fisonomia dell’huomo in 1586. Della Porta’s treatise follows the Aristotelian tradition. He affirms the principle of correspondence between body and soul and theorizes: “Therefore the disposition of the body responds to the power and virtue of the soul. Thus the soul and the body with all correspondences are so entangled with each other that one is the cause of joy, the other of sorrow” (Book 1, ch. 2). “Beauty is a measured disposition of the body members, which is the model and image of that of the soul. The parts within have the same composition as those outside and those that have a similar action demonstrate on the outside a similar form. Therefore, nature has fabricated a body which conforms to the effects of the soul” (Book 4, ch. 11). Della Porta even associates animals with historical figures. Plato is compared to the dog, Socrates to the hart and Vitellius to the owl. The high nose in Plato as in the dog indicates unaffectedness and good sense (Fig. 69.9). Aristotle’s nose, which was snub, like that of the hart indicates luxuriance. The big head in Vitellius like that of the owl indicates an obstinate spirit and a cowardly character. Della Porta’s treatise was an immediate success and became very popular in the beginning of the 17th century, inspiring many artists including Rubens (1577⫺1640) and Charles Le Brun (1619⫺1690; cf. Art. 63 § 3.3.2.).
4.
Scientific studies of sign conceptions
While physiognomy examines permanent traits of character, the study of expressions and the temporary emotional changes of countenance belongs to pathognomy. By mid-17th century, this was studied with the rising enthusiasm of modern science. A theory of the human figure was first taken up by the theologian Coeffeteau (1574⫺1623). Subsequent investigations, however, became increasingly more concerned with the scientific relation between body and mind. The physician Marin Cureau de la Chambre (1640⫺1662) wrote Les characte`res des passions between 1640 and 1662, which was physiologic and mechanistic in its approach. He postulated the heart as the seat of passion. This was contradicted by Descartes (1596⫺1650), who asserted that the link be-
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Fig. 69.9: Giambattista della Porta: Plato and the Dog (from Della fisonomia dell’huomo, Naples, 1598).
tween the soul and the body was the tiny pineal gland, located at the base of the brain, which transmitted the passions and affections of the soul to the body. The face was the most accurate index of the mind since it contained the brain and the eyebrows, the latter being the most expressive organs of the face because they were closest to the seat of the soul. This theory of deduction from a few established a priori rules marked a significant change from the pseudo-scientific physiognomy of Porta and the occult astrology of Lomazzo. It was made apparent by Charles Le Brun, who summarized both Cureau and Descartes in his treatise on expression. Le Brun believes that passion is a movement of the soul which induces action in the body. Action is a movement of muscles induced by the nerves which act through the spirits contained in the cavity of the brain. Le Brun follows Descartes in his belief that the seat of the soul is in the brain and not in the heart. The soul receives the impressions of passions in the brain and experiences the effects in the heart. Like Lomazzo, Le Brun elaborates a list of
“motions”. His description of the passions, however, is more physiological. For example, he explains that admiration is a surprise which makes the soul consider a rare and extraordinary object with admiration. This surprise may be so powerful that it sometimes pushes the spirit towards the object. While the subject is occupied in considering this impression, there remains no more spirit to motivate the muscles, and the body becomes immobile as a statue. An excess of admiration thus causes astonishment. Le Brun’s account is almost a paraphrase of Descartes. He reiterates Descartes’ ordering of the passions by distinguishing the simple from the complex ones. There are six primary passions: admiration, love, hatred, desire, joy and sadness. All other passions are either aspects of these six or composed from them. Estimation and contempt, for example, are kinds of admiration. The soul is divided into two sensitive parts: “l’appe´tit concupiscible”, which houses the simple passions, and “l’appe´tit irascible” which accommodates the more savage types including fear, boldness, hope, despair, anger and dread.
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69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 69.10: Charles Le Brun: Geometry in the physiognomy of animals.
Le Brun’s understanding of physiognomy is zoomorphological. He seems to know della Porta (perhaps through Cureau), but differs from the pseudo-Aristotelian tradition in recognizing that animals of the same species do not all look alike nor necessarily have the same characters. He proposes to codify the signs which mark the passions of different animals, first by examining them in one species which is universally subject to one passion, next comparing them with others which only display that passion in particular cases. Furthermore, he suggests that the head is the place which most readily shows the inclinations of the body. One must also identify the dominant features of a sign responsible for that particular inclination when correlating it to the human face because some people may have some resemblance to a certain animal and yet do not possess its characteristic passions. Le Brun’s version of physiognomic semiotics is certainly an improvement on della Porta’s simplistic syllogism. He is also an innovator in introducing geometry into the interpretation of physiognomic signs (cf. Fig. 69.10). By establishing certain key points on an animal head, Le Brun superimposes geometrical lines passing through them to form in each case a circumscribing equilateral triangle. A line parallel to that side of the triangle which runs down from the ear and passes through the corner of the eye and the mouth, would indicate that the animal is ferocious and carnivorus. Otherwise it is herbivorous. The same line would also indicate that the animal is strong if, by projecting it up, it cuts the brow at a prominence and not
at a depression. One can also compare the intelligence among animals by projecting a line from the exterior corner of the eye tangentially to the eyelid towards the forehead. If this line cuts the forehead at a prominence rather than a depression, the animal is intelligent. This intersection on the front of the human face marks the location of the pineal gland. Le Brun’s theory was born at a time when the narrative nature of art, an essential element in historical paintings, relied heavily on expressions (Fig. 69.11). But the concern for expression in art had been apparent in the
Fig. 69.11: Charles Le Brun: “Agony in Garden”, painting, private collection, circa 1657.
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Renaissance since Alberti’s Della pittura and manifested itself perhaps most clearly in the works of Domenichino (1581⫺1641), whom Poussin (1594?⫺1665) greatly admired for his expressive skills. Domenichino had realised that there was a need for a theoretical study of the problem of expression in order to transfer the passions from the artist’s mind onto the canvas. Poussin, his disciple, formulated a theory of “modes” by borrowing from ancient music, which was first introduced into the academy by Le Brun. But Le Brun’s treatise provided the systematic theory of the subject (cf. Art. 63 § 3.3.2.). Le Brun’s work, especially his geometrization of the head, initiated an enormous interest in studying the geometry of the skull. One important figure was the Dutch physician and anatomist Pierre Camper (1722⫺1789). Camper’s interest in drawing led to his investigation into the connection between anatomy and art (cf. Art. 82 § 4.3.). As a professor of anatomy, he dissected many corpses and collected skulls of all races from many parts of the world. Following Le Brun’s method of geometrical reduction, he demonstrated how different species of animals could be transformed from one into another according to a few biomechanical rules. His major contribution is the idea of the facial angle, which, he believes, regulates intelligence both in animals and in man. The facial angle is formed by the line connecting the prominence of the forehead and the tip of the maxilla with the horizontal. Camper shows that this angle increases with the progression of intelligence, from monkey (42 degrees), ape (58 degrees), Negro (70 degrees), European (80⫺90 degrees) to ancient Greek (100 degrees). This hypothesis foreshadowed Darwin’s theory of evolution in the next century (cf. Art. 85). It also marked the beginning of the scientific zeal to measure man’s intelligence, epitomized with the 19th century craze of skull measuring. One notable example was Johann Friedrich Blumenbach (1752⫺1840) in Göttingen. The ethnological implication of this work was utilized by the Nazi politicians to support their pan-German attitudes. Despite this unfortunate development into a scientific racism, the study of the skull later became an indispensable tool in the new study of physical anthropology.
5.
The moral aspects of sign conceptions and their impact on artistic doctrines
The moral dimension of the study of human signs became apparent in the 19th century in
an important work on physiognomy which appeared towards the end of the 18th century ⫺ the Physiognomische Fragmente of Johann Caspar Lavater (1741⫺1801), a theologian and Protestant minister from Zürich. Goethe, who had contributed to the work, noted that the direction of Lavater’s research was towards the moral and religious aspects. Lavater first published his work on the subject in a small booklet called Von der Physiognomik, to be edited by his friend J. G. Zimmermann whom he regarded highly for his expertise in medical semiotics. This booklet, which contained Lavater’s thesis in summary form, was later developed into the more comprehensive treatise to be published in Leipzig and Winterthur between 1775 and 1778. The treatise is copiously illustrated with portraits of numerous famous men. It includes chapters on various aspects of physiognomy, for example, on bodily signs of health and sickness, on resemblance between parents and children, on differences between the sexes, the young and the aged, even the living and the dead. But the study on the whole concentrates on facial features and includes extracts from many authors which range from Buffon’s (1707⫺1788) study on national physiognomy to Winkelmann’s (1717⫺1768) history of art, besides other famous figures such as Aristotle, della Porta, Camper, as well as the more recent philosopher Kant (1724⫺ 1804) and his contemporary Lichtenberg (1742⫺1799). Lichtenberg’s inclusion was interesting as he was skeptical of and opposed to the study of physiognomy. The exchanges between him and Lavater reflect both the strength and weakness on either side. While Lichtenberg’s refutation of physiognomy cannot be absolute, Lavater’s defence of the subject remains concessive. The debate indeed reveals the limitations not only of physiognomy but also of other human and social scienes, since generalizations drawn from the relations between signs and effects in physiognomy, unlike the laws in physical and natural sciences, can never be definite. Like the generalizations in other social sciences, they always coexist with counterexamples, or at least the possibility of counterexamples, and still proclaim their predictive power. Lavater’s defense perhaps lends a view to the inevitability of this predicament. In response to Lichtenberg’s statement, “Our senses acquaint us only with surfaces, from which all deductions are made. This is not very favourable to physiognomy, for which some-
69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
thing more definite is required, since this reading of the superficies is the source of all our errors, and frequently of our ignorance”, Lavater replies, “So it is with us in nature: we can read absolutely nothing other than superficies. In a world devoid of miracles, the external must ever have a relation to the internal; were we to prove that all reading of the superficies were false, what should we achieve but the destruction of all human knowledge? All our inquiries produce only new superficies; all our truth must be the truth of the superficies. It is not the reading of the superficies that is the source of all our error; for, if it were so, we should have no truth; but the not reading, or, which is the same in effect, reading not rightly” (Lavater 1775⫺78 ⫽ 1969: IV. 27 f). A unique feature of Lavater’s system is his use of Christian theology to defend physiognomy. He believes that an ideal physiognomist should also be a Christian, for his knowledge of the heart would then be associated with philanthropy. By his physiognomical wisdom, he would discern the presence of the divine radiance in man’s visage, not only the virtues and characters; and his philanthropy would prompt him to minister to his subject’s needs. He quotes the Scripture to support his ideas, for example, Matthew 6:27, 28, 33: “Which of you by taking thought can add one cubit unto his stature? ⫺ And why take ye thought for raiment? ⫺ Seek ye first the kingdom of God, and his righteousness; and all these things shall be added unto you” (Lavater 1775⫺78 ⫽ 1969: IV, 202), interpreting this as a justification for the physiognomical belief that the external is the expression of the internal, that man should take care of the internal and a sufficient care of the external will be the result. 5.1. Decorum The moral aspect in sign conceptions is reflected in theory of art under the doctrine of decorum, which assumed a new prominence in the 17th century, leading to the inception of the idea of ‘character’ in the 18th century. The concept of decorum in the visual arts was borrowed from classical rhetoric and poetics, with its moral precept already implicit in Cicero who translated it from the Greek word “pre´pon”: “What in Latin is called “decorum” (propriety), in Greek is called “prepon”. Such is its essential nature, that it is inseparable from moral goodness, for what is proper is morally right, and what is morally right is proper. The
1345 nature of the difference between morality and propriety can be more easily felt than expressed. For whatever propriety may be, it is manifested only when there is pre-existing moral rectitude” (Cicero, De officiis: I, xxvii). It is clear from Cicero’s definition that there is an inherent connection between ethics and aesthetics, that it is meaningless to speak about one in isolation from the other. Similarly, in Horace and Quintilian, who were the chief sources cited in later discussions of decorum, the poetical principle is always understood within a moral context. The Greek concept of “e¯thiko´s” ⫺ which Cicero translated as “moralis” ⫺ was quite different from its etymological descendant “moral”. “Ethiko´s” means ‘pertaining to character’ where a man’s character is his set of dispositions to behave in one way rather than another, to lead one particular kind of life. The early use of the word “moral” found its closest meaning in “practical”, and it was only in the 16th and 17th centuries that the word began to take on its modern connotations (MacIntyre 1981). Alberti had alluded to this doctrine in Della pittura, insisting that all body parts had to be fitted to each other so that the limbs expressed the same physiological type and the gestures as well as the movements were in accordance with the character depicted; he also introduced it in the concept of “istoria” whereby conventions could be set with reference to precedents. Vitruvius had indeed mentioned “decor” as one of the key principles in architecture. “Decor”, he says, “is the faultless ensemble of a work composed in accordance with precedent [“auctoritas”] of approved details, and is based on convention [“statio”], or custom [“consuetudo”] or nature [“natura”]” (I. ii. 5). The later concept of decorum returns to the ancient ideal of the concept as not only an aesthetic but also a moral one. In the writings of 17th century theorists such as Dolce (1616⫺1686), Boileau (1636⫺1711) or Fe´libien (1619⫺ 1695), there was the same emphasis that art should not only be pleasing to the senses but be morally edifying as well. Lavater’s work on moralizing physiognomic signs can therefore be seen as an anticipation of a 19th century full scale moral crusade in art and architecture (cf. Art. 75; for a discussion of taste in art see Art. 82 § 1.). 5.2. Character The 18th century notion of ‘character’ was a further transformation of the concept of decorum stimulated by the renewed interest in
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the study of physiognomy and expression. This had achieved wide circulation at the end of the 17th century through Jean de la Bruye`re’s translation of a treatise on character by Theophrastus, to which he added his own “modern” version. It had a powerful impact on the new literary form of the novel, on painting and sculpture and also on architectural thinking. One of the forerunners for such a theory of character was Germain Boffrand (1667⫺1754), who in his treatise, which is a deliberate emulation of Horace, wrote, “Architecture, though its object seems only to be the use of that which is material, is capable of different genres, which render its parts, so to speak, animated by the different characters which it can express. A building expresses by its composition, as if on a stage, whether the scene is pastoral or tragic, whether it is a temple or a palace, a public building or a particular house intended for a certain use. These different buildings, by their disposition, their structure, the manner in which they are decorated, should announce their purpose to the spectators, and if they do not establish this they trespass against the expression […]” (Boffrand 1745: 16). This opinion was echoed by J. F. Blondel who even subordinated the idea of style to character; he says, “After all it matters little whether our monuments resemble former architecture, ancient, Gothic, or modern, provided that they have a satisfactory effect and a character suited to each genre of edifice” (Blondel 1771⫺78: II, 318). Another theorist, Nicolas Le Camus de Me´zie`res wrote Le ge´nie de l’architecture ou l’analogie de cet art avec nos sensations in 1780, which argues that a building should evoke a suitable emotion by its character. He explores how this could be achieved by composing architectural forms under the effect of light and shadow. Quatreme`re de Quincy (1755⫺1849) also devoted a long discussion to “caracte`re” in his Dictionnaire historique d’architecture in 1832. In England, too, a contemporary of Boffrand by the name of Robert Morris (1701⫺1754) attempted a character study of the orders of architecture, by relating them to the ‘character’ of the landscape in which the buildings were to be situated. Many of the theories were an attempt to revalidate a theory of the Orders in the context of the new post-Le-Brun intellectual atmosphere. Boffrand maintains that it is in the proportions of the Orders that one can discover the character suited to each type of
Fig. 69.12: Diego de Sagredo: Entablature and profile of the human head.
building. By an analogical comparison with music and poetry, he even reduced the analysis of character down to the basic element, the lines: “These different lines in architecture are as the tones in music, which express in different chords joy and sorrow, love and hatred […]. Indeed one has employed the forms and contours in the mausolea and the churches which suit only the theatres […]. This disorder comes from the misunderstanding of proprieties of these different lines, and the lack of attention to the effects which they produce […]” (Boffrand 1745: 9). “The profiles of the mouldings and the other parts which compose a building in architecture are as the words in discourse. There are only three types of lines which form all buildings, the straight, the concave and the convex” (Boffrand 1745: 22; cf. Fig. 69.12 and 69.13). This doctrine was moreover extended by Jacques-Franc¸ois Blondel, who taught that the mouldings could “signify” the character of a building.
6.
The absolutization of sign conceptions
Boffrand’s reduction of the concept of ‘character’ to proportion and lines indicated a shift of interest in the study of expression to the more abstract and fundamental geometrical elements. This was accompanied by the decline of interest in the academic history of painting. The new direction of artistic sign conceptions was formulated in Humbert de Superville’s (1770⫺1849) treatise Essai sur les signes inconditionnels dans l’art published in
1347
69. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 69.13: Jacques-Franc¸ois Blondel: Trabeation of the Tuscan Order (according to Vignola, Cours d’Architecture …, Paris, 1771, Planches, Tome 1, Planche XII).
Leiden between 1827 and 1832. As the title suggests, Superville’s theory was about the “unconditional” signs in art. By “unconditional” he means those signs which convey the same emotions and meanings to all men universally. In other words, these signs are absolute, their interpretations free from any cultural or historical context; their justification can only be based on myth ⫺ the primordial encounter between man and the universe. Superville investigates the problem systematically. He starts with lines, of which there
are three possible directions in relation to a vertical axis: horizontal, descending and ascending obliques. The correlation of these to the human face displays their emotive significance as is shown by the movement and change of directions of the various organs. Superville identifies each direction with one of the three goddesses of the Judgment of Paris, seen as the three basic human properties: pleasure, wisdom and power. The ascending oblique line associates with Venus, Queen of Cythera; it signifies passion, movement, agitation, beauty, inconstancy and
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change. The descending one he associates with Juno Ludovisi, which represents meditation, profundity of thought, grandeur of soul, gravity and the sublime. The horizontal, mediating between the two, is Minerva, the Pallas of Velletri, which stands for order, equilibrium, dignity, stability and duration. The transition from the pathognomy of faces to their physiognomic characterization is theoretically ambiguous, for Superville gives no explanation for how “weeping” turns into “reflection” or “greatness”. However, he escapes this difficulty by resorting to a physiological principle which does not deal with objective character but with a subjective judgment of character. Using this tripartite schema, Superville also formulates a theory of color, with red and black occupying the ends which stand for agile and solemn while white takes the center representing the calm. Yellow is situated between red and white and azure between white and black. He projects this category of three onto the plant kingdom, shown by the pine, the oak and the fir. Superville next considers the relevance of this principle to the arts. The three linear schemes govern three kinds of architecture: Gothic, Chinese and Greek. The Gothic church, according to Superville, signifies man’s physical and moral dignity, hence the solemnity and power. Chinese architecture, with its capricious constructions and expansive colors, conveys a sense of gaiety opposite to the Gothic. Superville even draws an analogy between the national physiognomy of the Chinese and their characteristically curving roofs, thus relating physio-ethnology to aesthetics. The third type of architecture is the Greek Doric temple, which induces a sense of calm and tranquility through its predominantly horizontal lines and the whiteness of the stone construction. Superville, however, disdains Greek sculpture. He exalts the Egyptian sculpture instead. The former embodies to him no meaning beyond mere formal beauty, while the latter, originating from the sarcophagus, which commemorates death and the regeneration of life, is a truly open, disinterested production of art. It constantly eludes the limiting circle of human imagination and thought with its omission of details and avoidance of imitation. Superville gives the highest rank to painting, regarding it as the most spiritual of the arts because it is an art of signs devoid of the materiality of architecture and sculpture. It is the visible expression of the nonverbal lan-
guage of the mind, the manifestation of the intellectual idea in the form of an external sign (cf. Art. 82 § 2.1.).
7.
Conclusion
Humbert de Superville’s theory may seem overly simplistic and, if taken quite literally, could not possibly account for all the richness and complexity of the language of form. Nevertheless, it was a major source of influence for the development of abstract art from the romantic expressionism of the 19th century. With its naı¨ve force of reduction, moreover, it emphasized one important point, that the interpretation of signs resides in myth. It may even be argued that all artistic creation is thus based on a poetic mythos. Having investigated the theories of proportion and the parallel development in the studies of physiognomy and expression since the Renaissance, we have finally come to a theory of art which unites form and meaning on the most elementary level. It is no longer based on taking physical objects as signs, but turns to the absolute signs of line and color. The apparently eccentric Superville in fact takes up some of Camper’s ideas. Although his book had limited circulation, his ideas formed the basis of Charles Blanc’s (1813⫺1882) Grammaire des arts du dessein, which was the most widely read manual of art in the 19th century. Through Blanc’s manual it influenced many of the leading artists of the late nineteenth and early twentieth century, and its echoes may still be heard in contemporary discussions (cf. Art. 154 and Art. 155).
8.
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1354
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
70. Sign conceptions in medicine from the Renaissance to the early 19th century 1. Introduction 2. Signs, symptoms, and semiotics: urines and pulses 3. Medical semiotics 4. Signs and natural philosophy 5. Elicitation of signs 6. Conclusion: a historical view 7. Selected references
1.
Introduction
For the purposes of this chapter, the Renaissance was the period when the classical word, and practice, “semiotics”, was born again in the West. Galen, physician to Marcus Aurelius in imperial Rome, had divided medicine up into five great divisions, physiology, pathology, semiotics, therapeutics and hygiene. These respectively dealt with how the body worked, how it went wrong, how to understand the signs produced in health and disease, how to treat illness and how to maintain health. Semiotics therefore stood on the boundary between the theory and the practice of medicine and was the point at which the ‘rationalist’ physician guided his practice by means of his understanding of how the body functioned and malfunctioned (cf. Art. 40; see also Art. 69 § 3.). In other words it is in medicine above other disciplines that we can see a genuinely historical use of the word, and practice, of semiotics. Within this use, medical men from the Renaissance to the early nineteenth century consciously discussed the theory and practice of semiotics. It is part of the purpose of this article to outline this discussion in order to provide a historical model for modern discussions of wider-than-medical semiotics. It is also a purpose of this article to look briefly at how signs were seen, understood and used in medicine outside the formal category of medical semiotics. It will be convenient to begin with this. The Renaissance physician, then, apart from the formal semiotics of the Galenic corpus, read, understood and acted upon signs in a number of ways. Signs, indeed, were fundamental to the practice of medicine, because diseases, particularly internal diseases, could not be seen directly (cf. Art. 46 § 1.). Here we must distinguish between the physician and the surgeon, for many of the conditions that the surgeon
treated were directly perceptible to the senses. Many of the surgeon’s practices ⫺ the closing of wounds, the draining of abscesses, the excision of tumours ⫺ were in a sense empirical in not requiring theoretical knowledge for their performance. In contrast the physician had secured the place of medicine as a doctrine within the universities by emphasizing its theory rather than its practice. With an education, a licence to teach and a licence to practise behind him, the Renaissance physician like his medieval predecessor, tried ⫺ and largely succeeded ⫺ in gaining control of the medical profession. Correspondingly his status and the status of his internal medicine was greater than that of the surgeon and his external medicine and that of the apothecary. The physician’s maintenance of his status was achieved by his control over who was admitted to that level of the profession. In a university context this not only meant that the licence was commercially valuable, but also that the qualifications required by aspiring physicians were largely those that were taught verbally, not practically. All this meant that of the various classical medical sects described by Galen, and now with the classical revival of the Renaissance becoming important again, that of the Rationalists was the most attractive to university trained physicians. The Rationalists believed that knowledge of the structure and function of the body was possible and necessary for the doctor, who had to intervene in that structure and function when things went wrong (cf. Art. 71 § 4.). But the structure and function of the body were not sui generis and depended, for the great Rationalist Galen, upon the natural philosophy of Aristotle and the medical precepts of Hippocrates. It followed that discussions of signs were couched in terms of Aristotelian causality, substance, essence and accidents. We shall see that in the period of review semiotic theory within medicine varied in accordance with the natural philosophy of the writer (cf. Art. 62 §§ 5. and 6.).
2.
Signs, symptoms, and semiotics: urines and pulses
But before examining this relationship between natural philosophy and the theory of signs, we must, as promised, look at medical
70. Sign conceptions in medicine
signs outside the field of formal, Galenic, semiotics. These also depended on a knowledge of the structure and functioning of the body. The first group of signs I want to consider are those involved in uroscopy. Although the examination of urines is characteristic of medieval medicine, its practice continued into the Renaissance, and then as before diagnosis and prognosis from a sample of urine was a device used by the doctor to secure his reputation. Diagnosis and prognosis are of course the very essence of reading signs, and here we are again taken back to Galen, whose use of these techniques in a Rome where they were not otherwise practised helped him become physician to the emperor. The Renaissance doctor who could tell what was wrong with, and what would happen to a distant patient from a sample of urine, was an impressive figure to beholders. Also impressive was the university-trained physician’s narration of the theory behind his reading of the signs. Galen too had recognised the advantages of an elaborate theory in this way; and his doctrine of urines, taken from a number of separate remarks in the Hippocratic writings and elaborated into a coherent theory in line with Galen’s own physiological doctrines, was the basis of Renaissance uroscopy. This theory postulated that urine was a byproduct of perhaps the most basic physiological change of the body, the production of blood from food. This change was held to take place in the liver, the smallness of the vessels of which required that the constituents of the forming blood should be carried by a very fluid watery vehicle. This watery substance was superfluous when the generation of blood was complete and was removed by the kidneys. The proximity of this fluid ⫺ now urine ⫺ to the central process of sanguification left obvious signs, it was argued, in the urine. Sanguification was a function exercised by the fundamentally important natural faculty, and thus the physician, inspecting the urine, was looking at signs that indicated the state of a central bodily activity. The normal appearance of urine was held to be an orange color, a reflection of the red color of normal blood. If the vital faculty, the instrument of which was partly heat, was disordered, it might well “burn” the blood (a process known as adustio), giving the urine a higher color. Other colors in the urine represented excess of one or more of the other cardinal humors in the body.
1355 The physician inspected the urine in a “jordan”, a glass vessel shaped like the bladder. The purpose was to reproduce the situation in the body, in order that the signs could be read more accurately. Apart from color, the physician was looking for different levels in the urine: for sediment, for anything that rose to the top and at the central zone. Part of the physician’s apparatus was a color reference chart, sometimes arranged in a circle, from which he could read off the diagnosis from the appropriate color. The second group of signs the Renaissance physician used was that related to the pulse. Galenic theory held that the heart was the seat of the vital faculty, the second of the three great bodily faculties, depending on the nutritive, blood-making faculty of the liver and supporting the highest, the animal or rational faculty of the brain. The vital faculty turned venous blood from the liver into arterial, which it imbued with heat and vital spirit. The action of the heart was to expand forcibly, drawing in venous blood and air. The concocted arterial blood was then drawn out into the arteries by the forceful expansion of the arteries beginning at the heart and flowing outwards, the pulse. By feeling the pulse of the patient, then, the doctor was reading signs that he believed had been generated at the site of the operation of the vital faculty. A weak pulse meant a weak vital faculty. There was an extensive categorization of pulses: strong and weak; full and thin; frequent and infrequent, regular and irregular, leaping; creeping; wormlike. Prognostication from these signs was equally elaborate and relied on interpreting the state of the vital faculty. There was much in common between these two systems of sign-reading. In both cases the source of the signs was an important faculty, which was part of a detailed theory of bodily action. This theory ⫺ of the microcosm ⫺ was closely related to that of the world at large ⫺ the macrocosm: it was part of natural philosophy. Both faculties were of course internal and hidden from the senses and could only be read by signs (cf. Art. 71 Fig. 71.6). A complete theoretical knowledge of medicine was required to read both kinds of signs. In both cases the display of reading the signs and the associated rationalist account of how this part of the practice of medicine was explicable even to the extent of macrocosmic natural philosophy was impressive to the patient and other observers and so
1356
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
professionally useful to the doctor. (See the works by Philaretus and Theophilus in the Articella, and that by Recorde.) We may take the writing of Jean Fernel (1497?⫺1558) as an example of the Renaissance practice of semiotics (Fernel 1643, 335; 377). Book 4 of his Seven Books of Pathology is devoted to urines and pulses, which he describes as “reliable signs” (“certa signa”) within the art of medicine. Over and above what has been said above about the specific indications of each sign, Fernel takes the pulse as being the principal sign of general bodily vigor, and the urine as supplying more obscure signs of vigor. The differences between pulses, that is, the signs the doctor reads from the wrist, are said by Fernel to be threefold, deriving either from the arterial diastole, the period of “quiet” between successive diastoles or from their rhythm. Each of these three he again subdivides, so that signs from diastole are of five sorts: the size of the diastole, its strength, its duration, and the nature and fullness of the artery. At a second level of subdivision, “size” of diastole, for example, is taken to mean length, breadth and height and their opposites, short, narrow and low. In the same way there are said to be six signs taken from the period of rest between the diastoles, and seven from the rhythm or sequence of diastoles. These categories also are subdivided, so that the reader is faced with a large number of individual signs. Each is irreducible, but might be meaningful only in combination with others. For example, the pulse was normally taken by the doctor laying two or three fingers across the wrist, and one or more qualities of the pulse would only appear as they appeared successively beneath the fingers. Thus Fernel’s “wavy” pulse is one that feels strong under the first and third finger but weak under the second and fourth. Another example is that the traditional kinds of pulse are also made up of individual signs: The pulse that “creeps like ants” (“formicans”) is small, languid, quick and unequal. Fernel’s method of working, like that of his Renaissance colleagues, was to set out first what was natural among the groups of signs that constituted the types of pulse. Normality ⫺ naturalness ⫺ included what was proper for the age and sex of the patient, his state of activity (after exercise; in sleep), his eating habits, the state of his mind and the season of the year. Thus prepared with a picture of the normal, the doctor in the sickroom could more easily dis-
cern what was unnatural. Each unnatural condition had its combination of signs, beginning with general humoral imbalance and the kinds of fever (see also Art. 83 § 1.).
3.
Medical semiotics
To turn now to formal semiotics in Renaissance medicine, we must first understand what was meant in the Renaissance by the terms involved in the argument about the source, medium and reception of signs. It was broadly agreed (following Galen) that medicine was about the naturals, the non-naturals and the contra-naturals. The seven naturals were the components and workings of the body, from similar and organic parts to the spirits and faculties. The non-naturals were things external to the patient that could be manipulated by him or the doctor, like sleep, exercise and diet. Contra- (or praeter-) naturals were those that damaged the body. Disease was disordered function. On this basis the Renaissance physicians built an elaborate doctrine of signs. We may again take as an example (because he rapidly became known as the prince of the neoterics) Jean Fernel. He distinguished between sign (“signum”) and symptom (“symptoma”). Signs were the bigger category and included symptoms, so that every symptom was also a sign. Symptoms, then, were signs of things that were beyond (“praeter”) nature. Fernel extends this traditional categorization by distinguishing things beyond nature from things against (“contra”) nature. It is only contranaturals that damage the body, said Fernel, so that symptoms as affections beyond nature were not the same as diseases. The dark color of skin burnt by the sun, or the color of urine, while they do not damage the body and are simply beyond nature, are merely symptoms and not diseases. Disease itself is that which damages the body, and always had to be considered in conjunction with its cause, which itself might damage the body, if only accidentally. We should note in this usage of Fernel’s that symptom is not tightly tied to disease. A symptom is not a symptom of a disease, but a sign that relates to causes, to disease or to accidental results of a cause. Fernel admits that there was another, tighter, definition of symptom in use. This allowed only that the praeternatural affections coming from the disease were symptoms.
1357
70. Sign conceptions in medicine
The distinction between sign and symptom was maintained in a different form by the second of our examples, the seventeenth century Regius professor of medicine at Montpellier, Lazarus Riverius (1737, 47). By now it was becoming common to call Galen’s fivefold division of medicine the Institutes, that is, the body of theoretical medicine. But within this scheme Riverius places his discussion of symptoms wholly outside semiotics. Instead, consideration of symptoms is the fourth and final part of pathology. So here symptoms are not categorized with signs; they are the praeternatural result of the disease, following it as effects follow causes, and specific to the disease. Riverius held that there were three kinds of symptoms: damaged function, praeternatural effects in the excreta (such as a bad color of urine) and changed temperament. So for Riverius signs, the subject of semiotics, are quite different from symptoms. Signs are those things used by the doctor in investigating the location and nature of the disease and the possibilities of cure. A sign is something obvious to the senses that signifies (“significat”) something else lurking in the body. Some are pathognomic and appear and disappear with the disease, like the thoracic pain, the cough, the spitting of blood and fever of pleurisy. Others are more accidental and can be used by the doctor to make judgments about the outcome. This is surely the nub of the matter: While symptoms are merely the results of disease, signs are things that the physician uses to make diagnoses and prognoses. Riverius feels that he is following Galen’s Ars parva in grouping signs into those relating to health, those of illness and those of the neutral condition; likewise signs tell of what has gone, what is, and what will be. For Riverius signs not only indicate disease and its outcome, but the cause of the disease and its effects: There are signs of symptoms. This doctrine of signs relates to a body that suffers according to the principles of Galenic pathology. Excess or defect of humors, disturbed balance of the elementary qualities, defects in concoction, critical days, all supply signs to the doctor. These pathological changes are in themselves not available to the senses, and Riverius supplies analytical tables that graphically derive perceptible signs from the invisible pathology. The result is almost a classification of signs as later writers were to classify diseases.
The system adopted by Boerhaave (1660⫺1734; cf. Boerhaave 1727, 318; 404), the greatest teacher of medicine of the eighteenth century, was somewhat similar. Again, symptoms were part of pathology, and Boerhaave, like Riverius, related symptom to disease as effect to cause. But there were symptoms too of the cause of the disease, and symptoms of symptoms: that is, symptoms arising from earlier symptoms as effects from a cause. With the ancients and with Riverius, Boerhaave felt he was dealing with three causes: damaged function, disorders in the excrements (and food) and change in the (temperamental) quality of the body. Symptoms such as anorexia or excessive appetite revealed disordered digestive function, for example.
4.
Signs and natural philosophy
Like the ancients too, Boerhaave looked for causes of symptoms in contemporary natural philosophy. While the Hippocratic writings are sometimes self-consciously hesitant about introducing explanatory theory into medical descriptions, Galen had no such scruples, and borrowed extensively from the natural philosophy of Aristotle and Plato to rationalize the Hippocratic observations. The result was a microcosm in which the moving powers were the soul, or souls, and the associated faculties. The natural philosophy that was available and attractive to Boerhaave, in contrast, was mechanism, partly at least Newtonian. Faculties had no part in this mechanism and the soul was purely a rational and immortal entity. In its place Boerhaave and others traced the path of motion ⫺ and thus also of change, whether pathological or physiological ⫺ through a series of observable and wholly material structures. Mechanism was the natural necessity of moving matter. Boerhaave found the causes of symptoms in the mechanical properties of the bodily fluids and solids. Viscous and inert phlegm obstructed the small vessels; excessive sharpness of the particles composing fluids was held to be corrosive; the laxity of fibers caused weakness. Like Riverius, Boerhaave treated signs quite separately from symptoms in the third of the five divisions of medicine, semiotics. The difference was partly one of causality. Symptoms were proper to their causes as necessary effects, while signs were distinct from
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
these causes, although arising from them: An Aristotelian would have called them accidents. To put it another way, signs were signs only in virtue of being perceptible and capable of being used by the doctor in making diagnoses and prognoses. Boerhaave lists the signs of health and disease. Signs of future illness, he says, are to be sought in changes in the accustomed functioning of the body, in changes in the temperament of the patient and of his parts, and from a knowledge of epidemics and predisposing causes. Signs of past diseases are the relics of their disabling effects. There are signs too, of the causes of disease, firmly located within Boerhaave’s particulate chemistry: the signs of “alcaline acrimony” are an unpleasant smell of the body, like putrefying flesh or urine, an erosion of the flesh associated with certain colors, a great thirst, a lack of appetite, frothy urine, dry skin and mouth, thin and florid blood that does not clot readily, and a number of others. Boerhaave also has “acid”, “oily” and “muriatic” acrimony, each with a list of signs. The pulse and urine retain the traditional place as special categories of sign, to which Boerhaave adds respiration. Mechanism as a way of explaining bodily actions became widespread in the first half of the eighteenth century. The mechanical “model” was a device either of Newtonian hydraulics or a Cartesian concatenation of solid parts. The attraction of these models was that the body could be explained in terms of the knowable laws of physics and that the unknowable essence of “faculty” or “soul” could be dispensed with. But by midcentury a number of people had begun to think that life, perception and reproduction could not be explained mechanically. If the body were indeed a machine, then what moved the machine? What enabled the inert matter of the machine to perceive? How can a machine be rational? The answer to these three questions was, for those distrusting mechanism, “the soul”. But it was no longer the tripartite soul of Renaissance Aristotelianism or Platonism, but the single, rational, immortal soul of the eighteenth century Enlightenment. Often too it was identified with the Hippocratic “healing power of nature” and it was argued that it was the soul’s power of perception and motion that made the body active. Disease was no longer a damaged material and mechanical function, but was the soul’s perception of, and attempt to throw off some noxious cause. That a notion of the im-
portance of soul gave a different understanding of the relationship between sign, symptom and disease may be seen in the work of J. T. Rosetti (1734, preface, 1⫺13). Attempting to bring the art of Hippocrates up to date after the achievements of Harvey, Willis, Descartes and others, Rosetti announces that the mechanism of recent years has to be interpreted in the light of the fact that the Hippocratic enormon is not only identifiable with “soul” but is of central importance to pathology. He rejects the notion that disease is caused by externals invading the body and replaces it with the notion that illness is caused by the soul departing from the correct manner of governing the body. It follows that disease is not damaged function, where function is mechanical system of cause and effect, and it also follows that the intricate relationship ⫺ used by the mechanists ⫺ between cause, disease, symptom and sign could no longer hold true. Rosetti has no systematic discussion of symptoms and signs, no semiotics: his scheme is a “New System”, not an Institutes. Many of the ‘animists’ of the eighteenth century have been said by historians to have been influenced by Georg Ernst Stahl (1660⫺1734) of Halle (Geyer-Kordesch 1987). His doctrine of a freely-acting, physiological soul as the centre of the body’s physiology and pathology was seen by some of his contemporaries as retrogressive, an attempt to restore the doctrines of Aristotle. And a number of the animists who came after Stahl rejected his notions. Some, like Robert Whytt (1714⫺1766) of Edinburgh, could see no attractions in an account of pathology that attributed so much wilfulness to the soul (French 1969). Others, like Boissier de Sauvages, were animists, paradoxically, because the very power of the mechanical model of bodily activity convinced them that the body needed a non-mechanical source of power (French 1990). By now, too, the natural philosophy of Aristotle had disappeared from the schools. In the absence of his elaborate scheme of causality and his distinction between accident and necessity it became more difficult to maintain the distinction between sign and symptom that Riverius and Boerhaave had maintained. In addition the animists held that the self-preserving, sentient and occasionally wilful action of the soul was the cause of disease: There was no longer a mechanical necessity that linked symptoms to
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their proper diseases and distinguished them from signs. Moreover, animists like Boissier de Sauvages, holding that the soul was the Hippocratic healing power of nature, abandoned the old terms “contra-” and “praeternatural”. Diseases, he said, were eminently natural, however undesirable. In this way Sauvages pushed away the Galenic definitions as well as those of the mechanists, seeing that every relationship between such categories relied on some form of natural philosophy. In its place he attempted to restore the practice of the ancient Methodists, who had, he believed, eschewed theory. His resultant “Methodical Pathology” was, he hoped, an account of diseases that relied on their characteristics alone, rather than on any underlying theory. The related attempt to classify diseases as the botanists classified plants ⫺ and Sauvages was perhaps the most famous of the early nosologists ⫺ was likewise based on the similarity of the phenomena. Often of course symptoms, being manifest to the senses, were treated as diseases by some authors. Animism in its mid-century form gave way by the end of the century to a vitalism that conferred special powers on living matter without necessarily deriving those powers from a soul. Nosology, which is likely to have been related to animism in the way suggested above, was practised into the nineteenth century. This background ⫺ belief in a soul or special living forces, the decay of Aristotelian natural philosophy ⫺ led to the loss of the distinction between symptom and sign. Friedrich Hoffmann (1660⫺1742) was a colleague of Stahl at Halle, but with very different, and mechanical ideas of how the body worked. He made an extensive defense of his own doctrines when they seemed to be threatened by the animistic teaching of Stahl (Hoffmann 1748⫺49 II), and his principal argument was that Stahl’s system could not provide a satisfactory pathology. Hoffmann represented Stahl’s doctrine as teaching that every disease came from the soul’s attempt to throw off noxious matter. Even poison was said to have its effects not by any innate action (Stahl said matter was inert) but by the soul’s fear and consequent reactions. These reactions constituted the symptoms of poisoning, which were very similar in origin to symptoms of other disease. These points raised questions that threatened the traditional Institutes of medicine of early eighteenth century medicine. If fever was a beneficial action of the
1359 soul in throwing off some noxious agent, then how could it be a disease, a contranatural event, or damaged function? Perhaps fever was rather a symptom of something else. The whole question of the relationship between symptom and disease was reopened. In our terms, what was the sign, and what was the signified? Hoffmann was aware of the “great confusion” (Hoffmann 1748⫺49 I, 164) that reigned on the issue of the distinction between disease and symptom, and does not give an extended discussion of symptomology or semiotics. A good example of doctors taking different views on what constituted a disease and what a symptom in eighteenth century medicine is the case of scrophula. “Scrophula” was not a term that could be found in classical medicine. It seemed then to be a more or less new disease, dating only from the Middle Ages. But scrophula was also known as the King’s Evil, a condition that could be cured by the touch of a monarch of a ‘true line’ of descent, that is, one whose position in the scheme of things had been ordained by God. The Stuarts in England and in exile, and the kings of France continued to touch for the Evil in the eighteenth century, for political reasons; but the followers of the Hanoverians, and the inhabitants of republican states denied that kings had any special powers. Indeed, they also denied that scrophula existed as a disease. Instead, they picked upon one of what in England were regarded as its symptoms, the swollen glands of the neck. They could then call this a disease, which could be identified with the ancient desriptions of struma. So in this case largely political and religious considerations determined which of two systems of interpretation of symptoms were to be adopted. In England what was signified by a number of signs, provided they all occurred together, was a disease entity. In Holland the English signs became disease entities, sometimes accidentally occurring together. It seems too that in this plethora of different opinions, the older distinctions between, on the one hand, the symptom, as a cause-effect product of the disease or its cause, and on the other the sign, as a noncausal but visible clue usable by the physician in prognosis, was lost. Certainly by the end of the century, for example James Gregory (or more correctly, Gregorie, 1638⫺1675; cf. Gregory 1837), used the term “signum” in his overview of medicine to cover what had
1360
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
earlier been covered by “sign” and “symptom”. His translator in the early nineteenth century uses indifferently “sign” and “symptom” for Gregory’s “signum”.
5.
Elicitation of signs
We have seen how in the Renaissance the reading of signs from the urine and pulse was part of the display used by the doctor to impress and gain the confidence of his patient. During the eighteenth century the doctor continued to read these signs, and depended too on the patient’s own account of past symptoms, accidents, disease and anything that could be used by the doctor in making a prognosis. The patient’s story contained signs for the doctor, and went to make up the medical “case” in the descriptive, Hippocratic sense. By the end of the century the doctor was taking a more active part in establishing what signs were readable in the patient. Maximilian Stoll, in Vienna, layed down systematic rules for examining his patients, so that it was the doctor rather than the patient who determined what constituted a sign and what made up the case (Stoll 1786⫺90, Pars sexta; 269). He began by asking routine questions. Has the patient suffered the diseases of childhood? If he has suffered from any serious illness as an adult, was it cured by a doctor or spontaneously? In what state of health was he before the present illness? When did the illness begin? Stoll warns the doctor not to interrupt too often, lest he make the patient forget some part of the story. It seems likely from his interest in the “constitution” of the years that Stoll was attempting by asking such questions to format the replies into a Sydenhamian or Hippocratic case, which would give him clues as to the outcome. But he goes further than these predecessors in seeking signs from the body of the patient. He begins by playing down the role of the pulse, observing that it is a very unreliable sign in the young and old, and should never be used on its own. He is also nervous about giving too much credence to signs taken from the urine, because, he says, such things have become part of quackery, “pseudomedicine”. (Yet he believes, like his medieval forebears, that the state of urine indicates that of blood.) He adds respiration as a source of signs to be taken in conjunction with the pulse, and proceeds to add a systematic observation of the state of the body in order to generate signs. An examination of the face, eyes, tongue, mouth, hypo-
chondre, midriff and abdomen follows. According to Stoll, the signs to be read from the tongue were extremely important, affording insight into the condition of the neighboring parts, so often inflamed in disease, into that of the digestive tract, and of the whole of the circulating fluids. Stoll’s examination of the lower parts of the body was more direct. The normal relaxed and smooth state of the hypochondre could be disturbed by a number of things the doctor could feel with his hands: internal tumours, tensions, throbbing or hardness. The doctor could also discover signs of pain by probing. We are told that Stoll used Auenbrugger’s percussion method, that is, he actively took part in the generation of signs by percussing the patient and listening. After death Stoll attempted to find the anatomical lesion that had helped to produce the signs he had elicited. This systematic ⫺ and quite lengthy ⫺ process was suited to the examination of small numbers of patients. Stoll’s clinic contained only 12 beds, and it was his preference “to see much in few” patients rather than little in many. His cases were probably selected from those in the General Hospital; this was certainly the case a few years after his death, when the Hospital took 13,000 cases a year. Large numbers were also characteristic of the hospitals of post-revolutionary Paris (Maulitz 1987). Here egalitarian sentiment and the pressing need to service a large army resulted in the union of surgery and traditional internal medicine. The two branches of medicine had their own pathological traditions, which combined fruitfully in the early years of the nineteenth century. State support of medical education, large hospitals with an abundance of examples of pathological processes and the new surgicomedical approach ultimately gave rise to pathological anatomy in the sense we now use the term. Central to this new programme was a changed role of signs. According to Lesky (1976) the new technique was a modification of that used in Vienna by Stoll; and certainly the new feature was the elicitation of signs. This was “physical diagnosis”, the generation and reading of “physical signs”. It sought to correlate perceptible pathological change in the living with post mortem appearance. Auenbrugger’s percussion and Laennec’s stethoscope were techniques of exploring the cavities of the body by sound. Healthy empty cavities echoed satisfactorily, and the movement of morbid fluids could be detected; the
70. Sign conceptions in medicine
motion of blood in the heart and air in the lungs could be heard. Here then is a fundamental shift in medical semiotics. In the earlier period the doctor was the receiver of signs. It was not of course a passive process, and his medical training had taught him which among the many observable phenomena pertaining to the patient were signs, symptoms and diseases. But his action was one of selection between signs sent by the body: from the body’s mechanism, from Nature, from the soul, or from whatever dominated the natural philosophy of the doctor. But now the doctor himself was initiating the semiotic process by percussion or shaking. He was by his actions specifying what kinds of sign he wanted to receive and the body was the transmitter of the sign. Such, then, is a summary of formal semiotics in medicine from the Renaissance to the early nineteenth century, together with some note of the part played by signs outside formal semiotics. Both terms, “semiotics” and “sign” have been used as they were used by people in the past: It has not been the intention of this chapter to present an analysis of history in terms of a modern theory of semiosis. Nevertheless it will be convenient to end with suggestions as to how a historian, rather than a linguistic or logical semiotician might view the role of signs.
6.
Conclusion: a historical view
The most striking thing about the historical account given above is the variability of signs and symptoms. We have seen how at different times for different people, the distinction between sign and symptom and between symptom and disease, broke down. Even at the same time different doctors saw different things as symptoms or signs. We have also seen how this was related to the underlying natural philosophy of the observer, and even to his religion and politics. Historically, then, it is very difficult to pin down, at any level above that of the individual, and for purposes of a modern semiotic analysis, what a sign was. If one observer, A, thought that B was the symptom of a disease, C, and another observer thought, that B was itself a disease, not a signifier but the signified, then no scheme of semiotics will cover both cases. What claims the historian’s attention is the observer, the physician. The historian operates perhaps mostly in the field of pragmatics. I want to argue that it is not historically
1361 justifiable to regard the physician as simply a ‘receiver’ of information, as in Robering’s discussion (Article 3) about means of information. Nor even is it justifiable to see the physician merely as an interpreter of signs, in the way set out by Posner in Article 1. Rather, the physician generates, or more properly constructs signs in a way which is described by Th. von Uexküll (Article 110). This was so at all periods covered by this discussion. The physician began the process of constructing the sign even before he saw the patient. He began with an idea of the normal, which was given to him by his training. This is explicit practice in some of the Hippocratic and Galenic works and was acted upon in the Renaissance. His observation of the patient then revealed a number of things that were not natural. There were irreducible components of what he saw: absences or novelties, changes in color, shape, size, heat, number and so on. Can we call these “signs”? They are not passively received by the doctor, nor independently transmitted to him: They are only signs in differing from a model of the natural in his mind; indeed they are only seen by him because they do differ. In practice the number of variations from the natural is finite and the doctor carries in his mind a series of possibilities: He knows what kind of thing to expect and he recognizes something as a sign only when it matches something he knows. In a similar way it is only when the irreducible portions of sensation reach a certain level of complexity or combination that the physician acts. The action may be simple recognition that he can now see a sign or a symptom, or it may be an appropriate therapeutic move, as if he were acting on a stimulus (as in Posner’s Article 4). But again, recognition of a symptom or sign arises from the physician’s training alone, and we cannot say that there is anything in the sign itself that refers to a signified. Taken to an extreme this would imply that medical semiotics is almost entirely pragmatics in concentrating on the fact that perception is an active, not a passive process. This particularly applies to the formal field of historical semiotics of traditional internal medicine, which was intended to penetrate the barriers enclosing the internal body. When the physician came to elicit physical signs he was surely constructing the sign to an even greater degree. Here the number of possibilities of what a sign can be is small. They are all models in
1362
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French, Roger K. (1990), “Pathology and the Soul”. In: The Medical Enlightenment of the Eighteenth Century, ed. A. Cunningham and R. French. Cambridge GB.
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Galen (1527), Microtegni seu Ars parva. In Galeni operum impressio novissima. Venetiis apud Iuntas.
Roger French, Cambridge (Great Britain)
the physician’s mind. He arranges circumstances in which the auditory sensation will or will not occur. This is a sign only in making, in the physician’s mind, a correspondence with another set of eventualities which he believes to be the causes (lesions). And it was a sign, in the first instance to an Auenbrugger or a Laennec. It is only at the level of the individual that we can talk of a semiosis happening, and that only if we accept as independently existing what was claimed to exist by the physician, not what we would impose on him by hindsight (cf. Art. 83).
7.
Selected references
Articella, (1483) Venice. Boerhaave, Hermann (1727), Institutiones medicae. Leyden. Fernel, Jean F. (1643), Universa medicina. Geneva. French, Roger K. (1969), Robert Whytt, the Soul and Medicine. London.
71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Allgemeines 2. Was gilt als Zeichen? 3. Zeichenkonzeptionen der Renaissance 3.1. Zeichenkonzeptionen des Realismus 3.2. Nominalistische Zeichenkonzeptionen 3.3. Holistische Zeichenkonzeptionen 4. Zeichenkonzeptionen der Aufklärung 4.1. Rationalistische Zeichenkonzeptionen 4.2. Empiristische Zeichenkonzeptionen 4.3. Konstruktivistische Zeichenkonzeptionen 4.4. Transzendentalistische Zeichenkonzeptionen 5. Allgemeine Tendenz in der Entwicklung der Zeichenkonzeptionen 6. Literatur (in Auswahl)
Formen, Inhalten oder Gegenständen, durch deren Existenz die menschlichen Sinneswahrnehmungen gedeutet werden. Für diese Deutung sind Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre (vgl. Art. 46) erforderlich, durch die festgelegt ist, (1) was als ein Zeichen gilt, (2) wodurch es eine Bedeutung erhält und (3) wie das Subjekt die Kenntnis über die Bedeutung des Zeichens erwirbt. Zeichenkonzeptionen können ganz oder teilweise explizit oder implizit vorliegen.
1.
Die im mythischen Denken (vgl. Art. 47 §§ 1.⫺3.) noch nicht vorhandene Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem entsteht durch die Unterscheidung von Ursprünglichem und Abgeleitetem. Das Ursprüngliche
Allgemeines
Ein „Zeichen“ ist gemäß Art. 1 ein für ein Subjekt verstehbarer Bedeutungsträger. „Naturlehre“ heißt hier die Lehre von den Wesen,
2.
Was gilt als Zeichen?
71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre
1363
Abb. 71.1: Geschoßbahn von Tartaglia und Ryff. Die Zeichensetzungsfähigkeit des Menschen manifestiert sich anfänglich in Abbildungen von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen. Diese Kompetenz steigert sich durch die Vorstellung, auch naturgesetzliche Zusammenhänge mit Hilfe von geometrischen Konstruktionen darstellen zu können. Zum Beschreiben der Geschoßbahn benutzte Nicolo Tartaglia (1499⫺1537) einfachste geometrische Figuren wie Geraden, Kreise, rechtwinklig-gleichschenklige Dreiecke ⫺ in Vorahnung der cartesischen Vorstellung, daß Gott in seiner Güte die Welt so einfach wie möglich erschaffen habe, damit der Mensch sie erkennen könne (vgl. Harig 1984, 19).
gehört stets zur Bedeutung des daraus Abgeleiteten, das im semiotischen Verhältnis dadurch zum Zeichen für das Ursprüngliche wird. Die metaphysischen Vorstellungen darüber, was das Ursprüngliche ist, legen bestimmte Zeichenkonzeptionen fest. Im nichtmythischen Verständnis der Sprache sind die Begriffe die zentralen Bedeutungsträger. Begriffe sind hier als sprachliche Elemente zu verstehen, die je nach Betrachtungsweise etwas Einzelnes oder etwas Allgemeines reprä-
sentieren (Deppert 1989, 18). Der mittelalterliche Universalienstreit (vgl. Art. 52 § 4.) brachte für die Beantwortung der Frage, ob das Allgemeine oder das Einzelne das Ursprüngliche sei, die drei Denkmöglichkeiten des Realismus, des Nominalismus und des Holismus hervor: (1) Position des Realismus: Das Allgemeine ist das Ursprüngliche, und das Einzelne ist daraus abgeleitet, d. h. etwas Einzelnes ist Zeichen für etwas Allgemeines, wie im
1364
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.2: Jacob Böhmes „Gelassenheit“. Zu den ersten Zeichenkonzeptionen gehört die Vorstellung, daß ein Strahl die Verbindung vom Abhängigen zum Ursprünglichen herstellt. Die Göttlichkeit wird darum als ein Strahlenquell dargestellt. Das Erschaffene erscheint in runden Formen, wobei die in sich geschlossenen Formen, wie die Kreise, auf unvergänglich Geschaffenes verweisen. Es kann durch die Strahlen der Göttlichkeit erkannt werden, die sich nach der Darstellung Jacob Böhmes (1575⫺1624) im Geschaffenen selbst spiegeln (vgl. J. Böhme, Von der Menschwerdung Christi, 1620).
Platonismus (vgl. Art. 40 § 3.2.1.), wo das Einzelne der Sinnenwelt Anteil an den ewigen Ideen hat und mithin auf diese hinweist. (2) Position des Nominalismus: Das Einzelne ist das Ursprüngliche, und das Allgemeine ist erst daraus abgeleitet, d. h. etwas Allgemeines ist Zeichen für etwas Einzelnes, in dem das Allgemeine erst durch das Gemeinsame von Einzelnem entsteht, so daß ein (allgemeines) Prädikat auf die einzelnen Gegenstände verweist, die es erfüllen. (3) Position des Holismus: Einzelnes und Allgemeines sind in gleicher Weise ursprüng-
lich, wie Teile eines Ganzen, d. h. Einzelnes kann auf Allgemeines verweisen („pars pro toto“) und umgekehrt („totum pro parte“). Da diese drei Positionen genau den Möglichkeiten des relationalen Verständnisses von Begriffen entstammen, finden sie sich auch in den sprachphilosophischen Zeichenkonzeptionen wieder. Die Philosophen der Renaissance lassen sich zwar nicht eindeutig diesen drei grundsätzlichen Zeichenkonzeptionen zuordnen. Die Entwicklung führt jedoch hin zu den Zeichenkonzeptionen der Aufklärungszeit, die in
71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre
1365
Abb. 71.3: Christiaan Huygens Luftfernrohr. Aufgrund des Kosmisierungsprogramms (vgl. Deppert 1989, 223 und 1993, 115) versuchen die Naturwissenschaftler bis heute, alle beobachtbaren Erscheinungen durch kosmische Gesetze zu erklären (das sind Gesetze, die im ganzen Kosmos gelten und diesen charakterisieren). Darum war die Astronomie die erste Wissenschaft. Die Zeichen der kosmischen Ordnungsmacht waren die Lichtstrahlen der Himmelskörper (vgl. Abb. 71.2). Durch das Zeichnen von gesetzmäßigen Wirkungslinien (vgl. Abb. 71.1) in Form von optischen Strahlengängen konstruierte Huygens (1629⫺1695) Fernrohre, durch die das mit dem bloßen Auge sichtbare Lichtbild bzw. die Reichweite des Sichtbaren vergrößert werden konnte. Dadurch sollten die ewigen Gesetze des Kosmos genauer studiert werden können, damit sie zur Erklärung des irdischen Geschehens dienen konnten (vgl. Schreier 1988, 179).
rationalistische, empiristische und konstruktivistische sowie in transzendentalistische Positionen eingeteilt werden können.
3.
Zeichenkonzeptionen der Renaissance
3.1. Zeichenkonzeptionen des Realismus Die christliche Metaphysik, nach der der Ursprung allen Seins auf Gottes Schöpfertat und mithin auf seine Schöpfungsgedanken
als allgemeinste Universalien zurückzuführen ist, bewirkte in der Renaissance die Auffassung, die gesamte Schöpfung sei als verschlüsselte Offenbarung anzusehen, d. h. alles Seiende sei als bedeutungsträchtiges Zeichen seines göttlichen Ursprungs zu betrachten. Dabei bedeutet größere Nähe zu Gott höhere Existenzform, weil der alles hervorbringende Energiestrom nur durch das Höhere zum Niederen gelangt (vgl. Hübner 1985, 344 ff). Dadurch wird das Niedrigere stets zum Zeichen für das Höhere.
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.4: A. Kirchers Abhöranlagen. Den Regenten war es schon immer wichtig, die Pläne der Untergebenen zu kennen. Darum konstruierte Athanasius Kircher (1602⫺1680) Abhöranlagen. Darin sollten nach dem Prinzip von optischen Strahlengängen (vgl. Abb. 71.1 und 71.2) und mit Hilfe der vom Bau des Ohres abgesehenen Schneckenform die einzelnen akustischen Ereignisse auf dem Hof oder im Saal in Schalltrichtern gesammelt und an den Abhörort geleitet werden (vgl. Kircher 1650 ⫽ 1970, Buch IX).
Für Nikolaus Cusanus (1401⫺1464) verweist alles Einzelne auf das Ganze der Schöpfung, und „Namen und Worte haben Hinweischarakter auf ein ihre Trennung Übersteigendes“ (Gerl 1989, 54). Ähnlich versteht Paracelsus von Hohenheim (1493/94⫺1541) alle wissenschaftliche Arbeit als Einübung im Fortschreiten vom Bild zum Wesen (vgl. Art. 62 § 5.). So entspricht der Erforschung des menschlichen Organismus als eines Mikrokosmos die Erforschung des Makrokosmos (Gerl 1989, 81). Paracelsus entwirft eine Lehre von der Signatur der Dinge („signatura rerum“), nach der Erkenntnis in der Entzifferung der Zeichen besteht, die Gott der gesamten Schöpfung aufgeprägt hat. Es geht um das Enträtseln des „Buches der Natur“ (vgl. Art. 33 § 4. und Art. 57 § 2.). Diese Gedanken sucht Jacob Böhme (1575⫺1624) durch Versenkung in die Sprache zu verwirklichen, um so die Natursprache, d. h. die adamische Sprache des Garten Eden zurückzugewinnen (vgl. Art. 65 § 5.). Denn durch die nach der babylonischen Sprachverwirrung übriggebliebenen einzelnen Sprachen ist nach Böhme dem Menschen
die grundsätzliche Verbindung zu Gott geblieben, so daß der Mensch durch mystische Versenkung in die das Ding beschreibenden Worte wieder mit Gott verschmelzen und damit der göttlichen Macht über die Naturdinge teilhaftig werden kann. „Natur wie Geschichte sind für ihn das ‘ausgesprochene Wort Gottes’“ (Gerl 1989, 91). „Je tiefer die Vertrautheit mit den ‘signaturae’, desto wahrscheinlicher ist der Gewinn der hinter ihnen stehenden Wirklichkeiten“ (Bausani 1970, 96 f). 3.2. Nominalistische Zeichenkonzeptionen Der Nominalist sieht den Ursprung aller Erkenntnis in dem einzeln Gegebenen, d. h., alles Allgemeine bezieht seine Bedeutung nur durch dieses Einzelne, wobei das einfachste Einzelne gesucht wird, aus dem alles andere zusammengesetzt ist (vgl. Art. 62 § 2.3.). Johannes Reuchlin (1455⫺1522) faßt darum alle Sprachen als „rätselhafte aber entzifferbare Baupläne des Universums“ auf, und er sieht „im Alphabet mit seinen qualitativen Zahlenwerten“ die „Elemente des Wirklichen“ (Gerl 1989, 74). Auf diesem Hintergrund entsteht die Idee einer Pasigraphie, ei-
71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre
1367
Abb. 71.5: Musik als Zeichen für die Harmonie der Welt. Athanasius Kircher stellt in seinem Werk Musurgia universalis (1650, Buch X, S. 366) mit Hilfe einer Orgel die schon aus der Antike von den Pythagoreern stammende Idee dar, daß die Musik die durch Zahlenverhältnisse gegebene Harmonie der Welt beweise. Kircher ordnet durch sechs verschiedene Register jedem der sechs Schöpfungstage seine eigene Harmonie zu. Die volle Registratur repräsentiert die umfassende Harmonie der ganzen Schöpfung, weil „die Natur und die gantze Welt nichts anderster zu seyn scheinen/ als ein vollkommene Music/ und Musicalische Harmony“ (Kircher 1650 ⫽ 1970, Buch VIII). Der einzelne Orgelklang ist Zeichen für die allgemeinen Schöpfungsgedanken Gottes.
ner universellen Zeichenschrift, die aufgrund der Darstellung elementarer Dinge für alle Menschen verständlich ist. Die ägyptischen und mexikanischen Hieroglyphen (vgl. Art. 63 § 3.1.3.) sowie die chinesischen Schriftzeichen werden als mögliche Vorläufer einer Pasigraphie angesehen (Bausani 1970, 94). Francis Bacon (1561⫺1626) hat darüber hinaus als erster die Möglichkeit einer universellen Kunstsprache diskutiert. Hier liegt auch die gedankliche Quelle der pasigraphischen Theorie der „real characters“. Die Welt in ihrer Vielfalt durch die Kombination weniger (27) Bausteine zu verstehen, war für
Athanasius Kircher (1602⫺1680) ein durchaus noch nominalistisch zu verstehender Versuch zur Konstruktion von Universalsprachen: „wer diese Kunst (‘ars combinatoria’) versteht/ dem wird in der gantzen Natur nichts verborgen sein können/“ (Kircher 1663, 231). 3.3. Holistische Zeichenkonzeptionen Ganzheitliches Argumentieren ist stets dadurch charakterisiert, daß gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse dargestellt werden. Mit dem Gedanken der „coincidentia oppositorum“ führt Cusanus (vgl. Art. 49 § 13.) die
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.6: Sympathie zwischen dem Mikrokosmos und dem Makrokosmos (Megakosmos). Noch Athanasius Kircher ist von der platonischen Idee beseelt, daß die Übereinstimmung von Makrokosmos und Mikrokosmos durch die Zahlenverhältnisse der Musik bestimmt ist. Kircher ordnet hier ganz im Sinne von Paracelsus den einzelnen Körperzonen des Menschen Tierkreisbereiche zu, wobei das Ganze durch die Sphärenmusik der Mond-, Sonnen-, Planeten- und Fixsternsphären harmonisch zusammengehalten wird (vgl. Kircher 1650 ⫽ 1970, 401 ff).
Gegensätze sogar in einer größeren Einheit zusammen. Auch Marsilio Ficino (1433⫺1499) spricht von Zeichen, die in Form von Bildern ihre Bedeutung in sich tragen. Diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen Zeichen und Bedeutung wird dabei durch die Seele vermittelt, die Ficino das „Zentrum der Natur“ nennt (Osterhus 1987, 109) und die „die Bilder von allem in sich trägt“ (Gerl 1989, 62). Auch in der Alchemie (vgl. Art. 69 § 3.1.) und in der frühen neuzeitlichen Chemie (etwa bei Paracelsus) wird in jedem Existierenden eine wechselseitige Abhängigkeit von qualitätslosem Urstoff (meist Quecksilber) und qualitätserzeugendem Urstoff (die Seele, die sich als Schwefel materialisiert) gedacht; denn jede Qualität bedürfe eines stofflichen Trägers
(vgl. Dijksterhuis 1983, 92 ff). Diese zum Teil noch aristotelischen Vorstellungen über die Struktur der Materie bestimmten weitgehend die naturwissenschaftlichen Nomenklatursysteme der Neuzeit (vgl. Art. 62 § 6.).
4.
Zeichenkonzeptionen der Aufklärung
4.1. Rationalistische Zeichenkonzeptionen Die rationalistische Metaphysik versteht eine Wahrnehmung implizit als ein nicht vom Menschen gesetztes Zeichen, das auf bekannte Bedeutungen hinweist. Galileo Galilei (1564⫺1642) sagt: „Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben“
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1369
Abb. 71.7: Prager Uhr. Durch den Wunsch, den Aszendenten und den Stand der Planeten zur Bestimmung des Horoskops auch für Tagesgeburten leicht angeben zu können, waren die ersten Räderuhren als Nachbildungen des Kosmos entstanden. Der Hauptzeiger dieser sogenannten Volluhren läuft mit der Sonne einmal während einer vollen Tag-Nacht-Periode um. Er weist dadurch auf den Sonnenstand zur Tages- und Nachtzeit hin. Zugleich zeigt er auf einer exzentrischen Kreisscheibe, die in einem Jahr einmal umläuft, das Sternbild an, das am Horizont aufgeht. Die ganze Uhr ist ein Zeichen für die gegenseitige Abhängigkeit des Allgemeinen und des Einzelnen. Der Kosmos als Ganzes ermöglicht das einzelne Geschehen in ihm, das in seiner zyklischen Abfolge wiederum das Ganze darstellt. Die kosmischen Uhren können darum auch als Beispiel einer holistischen Zeichenkonzeption angesehen werden. Die Bewegung des Zeigers weist dabei auf den Pulsschlag der Seele des Schöpfers hin.
(Gerl 1989, 210). Indem wir die Natur betrachten, werden wir uns der uns angeborenen allgemeinen Bedeutungen, wovon die Mathematik nur ein bestimmter Teil ist, bewußt. In einem Brief an Mersenne denkt Rene´ Descartes (1596⫺1650) an eine Universalsprache, die sich auf „die einfachen in der Vorstellungskraft des Menschen liegenden
Ideen“ stützt, „aus denen sich alles zusammensetzt, was sie denken“ (Descartes 1949, 29). Gottfried Wilhelm Leibniz (1646⫺1716) versucht den Aufbau einer solchen Sprache, die er „adamische Sprache“ nennt, zu beginnen, indem er ein „Wörterbuch der Ideen“ und eine rationale Grammatik zu erstellen sucht, die alle möglichen Beziehungen der Ideen auszudrücken gestattet (Bausani 1970,
1370
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.8: Theatrum Cometicum (1667). Die eingeborenen Ideen konnten im Rahmen rationalistischer Zeichenkonzeptionen nur dann zu einer wahren Beschreibung der Natur führen, wenn die Vernunftwahrheit im Einklang mit der Offenbarung stand. Darum stellt der polnische Unitarier Stanislav Lubieniecki (1623⫺1675) auf dem Titelbild seines Theatrum Cometicum den zwischen Erde und Gott stehenden Menschen mit den Büchern Revelatio (Offenbarung) und Ratio (Vernunft) dar. Die Kometen, die bis dahin ausschließlich als Ankündiger von Unheil angesehen wurden, werden nun auch als Zeichen für die Gesetzmäßigkeit des kosmischen Geschehens aufgefaßt, die von der Allmacht Gottes beherrscht wird und der Mensch erkennen muß, um das irdische Geschehen verstehen zu können (vgl. Abb. 71.3). Das Bibelzitat Jer. 10,2 auf dem Fries über dem Bild der Silhouette einer Stadt mit einem Kometenbeobachter bringt dies zum Ausdruck: „A signis coeli nolite metuere, quae metuunt gentes“ („Vor den Zeichen des Himmels sollt ihr euch nicht fürchten, wie es die Heiden tun“; vgl. Weidemann 1987, 5 f).
105 f; vgl. Art. 65 § 5.). Wenn diese „Algebra der Ideen“ vorliegt, „dann wird Denken und Rechnen das Gleiche sein“ (Couturat 1903, 27 f). 4.2. Empiristische Zeichenkonzeptionen Die empiristische Metaphysik faßt das Wahrnehmen als den Quell aller Vorstellungen über die Realität auf. Diese Realität wird
durch die christlich geprägte Tradition als von Gott geformt und vorgegeben aufgefaßt. Die durch ihn gestifteten Gesetze, nach denen sich alle natürlichen Gegenstände verhalten, lassen sich mit Hilfe von Experimenten erschließen. Die Ergebnisse von Experimenten sind Zeichen für das Vorliegen bestimmter Naturgesetze. „Die Dinge sind zu nehmen, wie sie sich selbst geben, dann zeigen
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1371
Abb. 71.9: Eines von Otto von Guerickes Luftdruckexperimenten. Acht Männer sind nicht in der Lage, einen Kolben aus einem Zylinder zu ziehen, aus dem die Luft herausgepumpt wurde. Hier verweist Otto von Guericke (1602⫺1668) durch das Experiment auf den naturgesetzlichen Zusammenhang der Schwere der Luftsäule und der damit verbundenen Kraftentwicklung (vgl. Schreier 1988, 154).
sie uns, wie sie zu verstehen sind“, sagt John Locke (1632⫺1704; vgl. Locke 1978, 52 f). Nach David Hume (1711⫺1776) erkennt der Mensch, indem er das durch die Sinne gelieferte Material zusammensetzt, umstellt, vermehrt oder vermindert (vgl. Hume 1928, 19). Für Locke sind die Wörter nichts als Zeichen, die auf die so entstandenen Vorstellungen hinweisen (Locke 1962, 1 ff; vgl. Art. 62 § 8.2.3.). Indirekt verweisen demnach die Wörter auf die wahrgenommenen Sachen, die die Vorstellungen erzeugen. Demgemäß entstand die Idee einer Sprache der Sachen (der „real characters“), wie sie etwa von John Wilkins (1614⫺1672) entworfen wurde. Konstruktionen entstehen aus einem Zweck. Der Zweck ist hier das Ursprüngliche. Darum verweisen konstruktivistische Zeichen auf Zwecke. 4.3. Konstruktivistische Zeichenkonzeptionen Wenn Gott die Welt geschaffen hat, so muß es im Falle der Identifikation von menschli-
cher und göttlicher Vernunft möglich sein, die einzelnen Schöpfungsakte nachzuvollziehen. Dadurch wird der Mensch fähig, selbst die Bedeutungen von Zeichen zu setzen. Dies galt schon früh für die handwerklichen Erzeugnisse des Menschen. Der Wunsch, den Aszendenten und den Stand der Planeten zur Bestimmung des Horoskops auch für Tagesgeburten leicht angeben zu können, führte im 13. und 14. Jahrhundert dazu, Maschinen zu konstruieren, die die Himmelsbewegungen synchron nachvollziehen. Die Zeiger der so entstandenen Räderuhren waren Zeichen für die tatsächlichen Sternstellungen. Nachdem der Mensch die Himmelsbewegungen erkannt und ein Modell des sich bewegenden Kosmos nachgebaut hatte, konnte er den so geschaffenen Zeichen Bedeutungen verleihen (Deppert 1989, 154 ff). Ebenso versteht Thomas Hobbes (1588⫺1679) die Philosophie als die „rationale Erkenntnis der Erscheinungen oder Wirkungen aus der Kenntnis ihrer […] faktischen Erzeugungen, die wir aus der Kenntnis
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.10: Leonardos Situs-Figur der Frau Leonardo da Vincis (1452⫺1519). Aufgabe der Philosophie war die Sichtbarmachung aller Realität (vgl. Sukale 1987, 23 ff), da nur das Auge direkten Zugang zur Wirklichkeit besitze. Nur ein sichtbares Zeichen konnte darum auf Realität verweisen. Deshalb zeichnete Leonardo den ersten gläsernen Menschen, um das räumliche Ineinandergreifen der einzelnen Organe sichtbar zu machen. Die Allgemeinheit der Darstellung wurde dabei aus vielen einzelnen anatomischen Studien zusammengetragen (vgl. Leonardo da Vinci 1952, Tafel VI).
der Wirkungen gezogen haben“ (Hobbes 1967, 56). „Die Empirie vermittelt uns Kenntnis der Objekte. Die Erklärungen liefert sie uns nicht, sie sind unsere Konstruktionen“ (Fiebig 1973, XII). 4.4. Transzendentalistische Zeichenkonzeptionen Die transzendental-philosophische Metaphysik sieht in einer Wahrnehmung oder im Denken eines Urteils explizit sowohl ein Zeichen für das Vorhandensein apriorischer Bedeutungen als auch für die Möglichkeit zu aposteriorischer Erfahrung. Erfahrung ist ein Zeichen für das Vorhandensein der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung
(Kant 1787, 269 ff). Diese liegen in den Bewußtseinsstrukturen bewußter Wesen bereit und spannen den Rahmen möglicher erfahrbarer Naturgesetze auf. Das Ursprüngliche (die reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes) des zu Erkennenden liegt im Menschen selbst und nicht mehr bei einem Schöpfergott. Es läßt sich „bei Gelegenheit der Erfahrung“ aufdecken (Kant 1770, § 8), inbesondere durch die vollständige Klassifikation der Erfahrungsurteile (Kant 1787, §§ 9 f). Durch das transzendentale Auswahlprinzip wird die Wahrnehmung zum Zeichen für das empirische Faktum (vgl. Deppert 1989, 46 ff); denn erst mit Hilfe der Wahrnehmung kann entschieden werden, welche der
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71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre
vollständigen Abhängigkeit des Menschen von Gott hinsichtlich seiner Fähigkeit des Festlegens von Zeichen und ihrer Bedeutung und endet mit der vollständigen menschlichen Zeichensetzungskompetenz ohne irgendeinen Rückgriff auf göttliche Offenbarungen.
6.
Literatur (in Auswahl)
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Abb. 71.11: Das allgemeine Schema von John Wilkins. Nach dem abgebildeten Schema versuchte J. Wilkins alles Bennennbare in einer Sprache der Sachen zu ordnen. Für die allgemeinste Einteilung benutzte er das Begriffspaar ,Allgemeines ⫺ Besonderes‘. Während die Aufteilung des Allgemeinen ihn nur auf allgemeine Dinge und allgemeine Worte führt, liefert ihm die weitere Untergliederung des Besonderen mit Hilfe des Begriffspaares ,Schöpfer ⫺ Geschöpf‘ die ganze Welt mit ihren weiteren Aufteilungen (vgl. Wilkins 1668, 23).
a priori bereitliegenden Möglichkeiten in der Erscheinungswelt realisiert sind (vgl. Deppert 1993).
5.
Allgemeine Tendenz in der Entwicklung der Zeichenkonzeptionen
Die Entwicklung der Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre von der Renaissance bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts beginnt mit der
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1374
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 71.12: Leonardos Lasthebemaschine. Leonardos Prinzip der Sichtbarmachung des Verborgenen brachte ihn erstmals auf die Idee einer sogenannten Explosionszeichnung, durch die die Funktionen der Teile im Gesamtzusammenhang der Konstruktion der Maschine wahrnehmbar werden. Die Zeichnung wird dadurch zum Zeichen für die Konstruktionsidee, die ursprünglicher ist als die Konstruktion (vgl. Sukale 1987, 39, Nr. 20).
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71. Zeichenkonzeptionen in der Naturlehre
1375
Abb. 71.13: Fernrohr des Astronomen Johann Hevel (Hevelius). Gewiß gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit für astronomische Erkenntnisse spätestens seit Christiaan Huygens ein Fernrohr. Dies aber sind Bedingungen, die auf Grund von Erfahrungen hergestellt werden können und die in einer transzendentalistischen Zeichenkonzeption nicht gemeint sind. Es geht um die Bedingungen für Erfahrung überhaupt. Ihnen folgen aber nach Kant die Prinzipien der Konstruktion dieses imposanten Fernrohrs, da dabei die transzendentale Voraussetzung eines euklidischen Raumes gemacht werde, d. h. angenommen wird, daß die Lichtstrahlen geradlinig verlaufen. Da die euklidische Raumstruktur nach Kant die reine Form der äußeren Anschauung ist und damit der apriorische Ursprung aller Raumerfahrungen, so ist in einer transzendentalistischen Zeichenkonzeption jede astronomische Erkenntnis mit Hilfe dieses Fernrohrs ein Zeichen für diesen apriorischen Ursprung der reinen Anschauungsformen (vgl. Hevel, 1670).
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1376
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
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Wolfgang Deppert, Kiel (Deutschland)
72. Zeichenkonzeptionen in der Religion von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert 1. Die Wandlungen der Zeichenwelten vom 16. bis 19. Jahrhundert 1.1. Christlicher Kult 1.2. Kanzelrede und Dialogkultur 1.3. Kirchenmusik 1.4. Sakralbauten 1.5. Kirchenausstattung 2. Theoretische Aspekte der Theologie, Philosophie, Sprachauffassung und Rhetorik 2.1. Renaissance und Reformation 2.2. Von der altprotestantischen Orthodoxie zur Aufklärung 2.3. Hamann 2.4. Herder 2.5. Schleiermacher 3. Literatur (in Auswahl)
1.
Die Wandlungen der Zeichenwelten vom 16. bis 19. Jahrhundert
Die Umwälzungen der Zeichenwelten des ausgehenden Mittelalters griffen weit über die Renaissance hinaus (vgl. Art. 63 § 2.). Nicht nur die Entdeckung der Antike in den sprachlichen und ästhetischen Kodes der gelehrten Welt schuf ein neues Bewußtsein, vielmehr ermöglichte die Sehnsucht nach einer Reform des Reiches „an Haupt und Gliedern“ eine wenigstens religiöse Reformation mit folgenreichen Umschichtungen der üblichen Zeichenwelten. Insbesondere das Verhältnis zu den Repräsentanten der kirchlichen Institution änderte sich, der Umgang mit Literatur drang noch im 16. Jahrhundert
in alle Volksschichten ein und bewirkte neue fundamentale Beziehungen zwischen Raum und Sprache. Die deutsche Reformation wurde zum Ausgangspunkt eines stark veränderten Verhältnisses zum Kult (vgl. § 1.1.), zur öffentlichen Rede (§ 1.2.) und zur Musik (§ 1.3.), auch im übrigen Europa. 1.1. Christlicher Kult Die Kritik der Reformatoren an der Ablaßpraxis zerstörte die Illusion, daß Bedeutungen des Rituals aus dem Handlungsverlauf selbst ablesbar seien und beendeten ein unbefragtes vektorielles Denken (es beruht auf der Annahme, daß zwei Dinge, die aneinander angrenzen, sich auch wechselseitig darstellen oder beeinflussen können). Nicht mehr teilte das Heilige (oder auch das Unreine) seine Kraft durch Angrenzung, Berührung und Einverleibung mit. Man bestritt jetzt, daß Fehlleistungen durch irgendwelche Einflußnahmen auf das Heilige wieder gutzumachen seien (vgl. dazu Huizinga 1935 ⫽ 1975, 291 und Fleischer 1984, 280). Zwar betrachtete man die Welt immer noch als „ein Netzgeflecht untereinander verknüpfter und sich ständig abbildender oder beeinflussender Zeichen und Raumsphären“, „alles war potentiell Zeichen eines andern, alles wirkte auf den Zustand des Ganzen und wirkte wie das Ganze“ (Huizinga 1935 ⫽ 1975, 280; vgl. Art. 71), doch die Undurchschaubarkeit der Wege dieser Wirkungen machte es erforder-
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72. Zeichenkonzeptionen in der Religion
Abb. 72.1: Taufe zur Zeit der Reformation. Holzverkleidung am Taufstein der Liebfrauenkirche Bamberg, 1520. Der Säugling wird ganz in das Becken getaucht (nach Volp 1993, II, 417).
lich, daß die ⫺ mit der Rhetorik präsente ⫺ sogenannte „necessitas“ für die Zeichenproduktion neu begründet wurde. Die Reduktion unendlich vieler Sakramentalien, Segenshandlungen und der 7 Sakramente auf lediglich 2 bis 3 Sakramente (Taufe, Abendmahl und gegebenenfalls Beichte), innerhalb weniger Jahre in Westeuropa allenthalben akzeptiert und sogar populär, zeigt etwas von der Kraft der Umschichtung. Die westliche Sucht nach rechtlich Verbindlichem hatte den Sakramentsbegriff (durch Tertullian, ca. 160⫺220 n. Chr.) gegenüber dem griechischen Mysterion eingespielt: den Mysterienkulten ähnlich wollte man die Feier der Ursprungshandlung vor Profanierung schützen, erweiterte sie jedoch dann auf Sekundär-Mysterien wie Firmung, Eheschließung, Priesterweihe, letzte Ölung und Beichte (vgl. Art. 58 §§ 2.⫺4. und Art. 60
§ 4.5.). Anders als Augustin hatte Thomas von Aquin (1225⫺1274) das „Signum“ noch einmal in „Materia“ und „Forma“ unterschieden: bei suppositio materialis steht das Zeichen für Laut bzw. Laut und Bedeutung; bei suppositio formalis steht das Zeichen für eine allgemeine Bedeutung („Mensch“ bezeichnet einmal /mins/ und einmal ‘Menschlichkeit’, d. h. die Idee des Menschen). Dadurch verflüchtigt sich die situativ gedeckte „res“ zugunsten spekulativ, rechtlich oder magisch gedachter Signifikate. Die Reformatoren (s. u. §§ 2.1.2.⫺2.1.4.) stellten das Bewußtsein des Zeichenvorgangs in den Mittelpunkt, so daß verbale Substitute wie Predigt, Glaubensverhör bei der Anmeldung zum Kommunionsempfang und eine Fülle Gottesdienstempfehlungen die Folge waren. Martin Luther ebenso wie Thomas Münzer veröffentlichten 1523 unter-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 72.2: Taufschüssel aus Teterbüll (Schleswig-Holstein), 18. Jahrhundert. Die Höhe (12 cm) erlaubt nur die Benetzung mit Wasser („Aspersis“). Der breite Rand ermöglicht es, die Schüssel in alte Becken einzuhängen (nach Volp 1993, II, 420).
schiedliche Taufordnungen, die beide zum ersten Mal den gesamten Verlauf des Rituals in deutscher Sprache anboten, weil bisher die Beteiligten „nichts davon verstehen, was da geredet und gehandelt wird“. Die Verschiebung auf das verbale, d. h. durch arbiträre Zeichen vermittelte, Verstehen wird schon darin deutlich, daß Luther die dreimaligen Exorzismen auf einen verkürzt; die zweimalige Rezitation des Credo erhält jetzt die Funktion der Patenverpflichtung, das Vaterunser wird ebenfalls mitgebetet. Die Darreichung des Salzes (datio salis), bisher Symbol der noch nicht eingelösten eucharistischen Gemeinschaft, wird begleitet mit den Worten: „Nimm das Salz der Weisheit, die dich fördere zum ewigen Leben“, wird also spiritualisiert. Durch das sogenannte „Sintflut-Gebet“ erhält die Taufe eine eindeutige Ausrichtung im Sinne von Röm. 6 (vgl. Abb. 72.1). ⫺ Luthers anfänglicher Versuch, die Semantik des Wassers heraufzuholen („Ersäufen des alten Adam“), wird im Taufbüchlein von 1526 wieder aufgegeben, da die Ganztaufe nicht mehr geübt wird. Hier fällt die datio salis ganz weg, ebenso die Salbungen vor und
nach der Taufe und die Überreichung der Kerze (vgl. Abb. 72.2). Calvin fordert die Taufe im Gemeindegottesdienst, wodurch die Aufnahme in die Kirche dokumentiert wird. Die Darreichung des Taufkleides wird allerdings beibehalten. Die anglikanische Kirche übernimmt das Taufbüchlein Luthers von 1526, die römische Kirche (1614) baut die Patenbefragung aus, behält aber im Ganzen die mittelalterlichen Bräuche bei. Die Taufliturgien in der lutherischen Kirche gerieten immer wieder unter die Auseinandersetzung über Exorzismus (Austreibung des Bösen), Abrenuntiatio diaboli (Absage des Täuflings an den Götzendienst) und die Frage an die Kinder (Kinderglaube) ⫺ Symptome der Spannung zwischen Analogiedenken und arbiträrer Zeichenauffassung. Erst hier bürgerte sich die Verpflichtung ein, die „Einsetzungsworte“ (Mt. 26,28; Mk. 16,16) hinzuzufügen. Das Problem der Einsetzungsworte ist vor allem für das Abendmahl (Eucharistie) kennzeichnend. Am Streit darüber brach die Reformation in einen reformierten und einen lutherischen Teil auseinander (s. u. § 2.1.). In
72. Zeichenkonzeptionen in der Religion
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Abb. 72.3: Das Mithandeln der gesamten Ortsgemeinschaft dokumentiert sich in den mitten im Raum stehenden sogenannten „Prinzipalstücken“ Altar, Taufbecken und Kanzel sowie in der Bedeutung des Gesangs und der Malereien (die Ausschnitte aus biblischen Geschichten zeigen). Dorfkirche in Weiler bei Heilbronn, erbaut 1760.
beiden Fällen wurde die bisherige Gottesdienstpraxis (vgl. dazu Art. 58 § 4.) völlig neu strukturiert, insofern nicht der Priester, sondern der sogenannte „Hohepriester“ Christus als historische und gleichzeitig mythische Gestalt den Schlüssel für die Gesamtstruktur des Gottesdienstes lieferte. Bezeichnend dafür ist Luthers Vorschlag der sogenannten Deutschen Messe (1524): Er brach den Kanon, also die heiligste Sequenz mit Präfation, Fürbitten und eucharistischem Gebet aus dem Syntagma des Gottesdienstes heraus, weil die ursprüngliche Intention des Ganzen sich in ihr Gegenteil verkehrt hatte: das vektorielle Denken hatte ein theurgisches Einflußnehmen des Priesters auf das göttliche Handeln angenommen. Luther empfahl statt dessen, nach einer Paraphrase des Vaterunsers die Einsetzungsworte zu singen, während Brot und Wein jedem zur Kommunion gereicht werden. Allerdings war dieser Vorschlag nur ein Modell von dreien: Die sogenannte „Formula missae et communionis pro ecclesia Wittenbergensis“ von 1523 behielt die lateinische Sprache ⫺ abgesehen von Predigt, Credo-Lied usw. ⫺ bei, wechselte nur die mißverständlichen Passagen aus. Die so-
genannte „Dritte Weise“ „derer, die mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen“, empfahl er als Ersatz für die aufgelösten Klostergemeinschaften: freie und doch verbindliche Ordnungen in Gemeinschaften, die später zum Vorbild der pietistischen Bewegung wurden (vgl. Abb. 72.3). Die in der Vorrede zur Deutschen Messe empfohlenen drei Gottesdienst-Modelle bilden ein Paradigma, welches die Universalität der Sprache (Formula missae), das experimentelle Element (Deutsche Messe) und die Mitverantwortung des Handelns (Dritte Weise) in den Mittelpunkt stellt. Es ist deutlich, daß diese aus der Rhetorik (Mitdenken, Miterleben und Mithandeln) genommene Perspektive einen Kosmos von möglichen Gottesdienstformen hätte entwickeln können, doch aufs Ganze gesehen wurde der Sonntagvormittag-Gottesdienst zum Kristallisationspunkt religiösen Lebens: eine Mischung aus mittelalterlicher Messe, allerdings verdeutscht und zunehmend von Theologen in schwarzen Talaren verantwortet, und sogenanntem „Prädikanten-Gottesdienst“. Dadurch erhielten die Amtshandlungen als Nachfolgehandlungen der Sakramen-
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Abb. 72.4: Tafelbild (160 ⫻ 100 cm) in der Stadt-Kirche St. Blasius von Bopfingen (Württemberg), 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts: die Sakramente (Abendmahl vorne, Taufe hinten) und Segenshandlungen (Trauung rechts im Hintergrund), Betreuung Trauernder (links im Hintergrund) sowie Musik (links) und Bildbetrachtung (rechts). Die Liturgen tragen das Chorhemd über dem Predigertalar. Die Kommunikanten empfangen rechts das Brot, links den Wein (nach Volp 1993, II, 373).
talien wieder eigene Bedeutung: so die Konfirmation anstelle der Firmung (mit Glaubensverhör der Heranwachsenden), die Trauung, die Beerdigung und auch die Pfarrer-Ordination (vgl. Abb. 72.4). Einweihungen von Kirchen nannte man „Indienstnahme“ durch „Heiligung“: Der häusliche Gottesdienst machte es möglich, die Kirchen tagsüber zu schließen und sie nur zu öffnen, wenn man sich gemeinsam versammelte. Hausandachten und tägliches Bibellesen, das Segnen der Kinder und der Ernte, der Reisesegen und Segenshandlungen im Angesicht des Todes sowie Morgen-/Abendsegen ⫺ das waren protestantische Sakramentalien, denen auch Prozessionen (z. B. anläßlich von Trauung und Beerdigung) wie selbstverständlich folgten. Die konfessionellen Auseinandersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts verstärkten die kontrastierenden Zeichenwelten: je mehr Predigt im evangelischen Raum, desto mehr Selbstdarstellung der Kirche mit Prozessionen (z. B. die Fronleichnamsprozes-
sion) im römischen Verständnis. Je stärker Protestanten die Kirchenräume umfunktionierten, desto mehr waren Katholiken geneigt, ihre Kirchen als göttliche Tempel auszustatten (Jesuiten-Stil). Auch darin spalteten sich die Zeichengebräuche: Katholische Kinder wurden zur Kommunion vorbereitet durch Einübung liturgischer Praxis, insbesondere im Meßdieneramt; evangelische Kinder hatten den Katechismus zu lernen, um den wahren Glauben zu kennen. Natürlich war damit die Einübung in das nahezu alles entscheidende Liedgut verbunden. Ihr Überleben verdankt die Firmung als Konfirmation keiner dogmatischen oder gar biblischen Begründung, sondern dem „Glaubensexamen“, dem sich die Familien, vor allem die Kinder, bei ihrer Anmeldung im Pfarrhaus oder in der Sakristei vor dem jeweiligen Abendmahlsgang zu unterziehen hatten. So entstand aus der Beichte eine öffentliche Konfirmationsfeier mit sogenannter „Vorstellung“. Die Popularität der Konfirmation erwuchs aus dem Glaubensverhör als Erneuerung des
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Taufgelübdes unter dem Einfluß des Pietismus (Ph. J. Spener, 1635⫺1705) als „Verspruch der Treue zum Heiland Jesus Christus“, im Rationalismus als Aufnahme in die Erwachsenenwelt der Christenheit. Obwohl die „Ordination“ des Pfarrers ähnlich feierlich ausgestaltet wurde wie zuvor die Priesterweihe, zeigte sich doch auch darin eine Umschichtung der Zeichenwelten: in der Regel verheiratet, wurde der Pfarrer nicht vom Bischof legitimiert, sondern von mehrheitlich mit Laien besetzten Synoden; er stellte sich zunehmend als Seelsorger und Theologe, weniger als Priester dar. Die Verankerung der Entscheidung in der Basis machte die Stärke des Protestantismus aus („Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, schon als Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl nicht einem Jeglichen ziemt, solch Amt zu haben“; M. Luther, WA VI, 408,11⫺13). Die Differenzierung der Ämter wird nicht in Hierarchien, sondern in der Übernahme nicht eingelöster Aufgaben gesehen. Anfangs war „Ordination“ jede Einführung eines Theologen in ein neues Pfarramt, analog der Praxis der alten Kirche. Der Ordination zum kirchlichen Amt stand die Eheschließung als Schöpfungsauftrag gegenüber. Anders als die im Tridentinum festgelegte Jurisdiktion der Kirche unterschied Luther in seinem Traubüchlein von 1529 den Akt der Kopulation ⫺ hier handelt der Pfarrer aushilfsweise als Beauftragter öffentlicher Ordnung ⫺ von dem der Benediction als fürbittendem Segen der Gemeinde. Das Brauchtum der Begleitung von Sterbenden und Toten bietet Aufschluß über Tendenzen, die den jeweiligen Intentionen zum Teil entgegenlaufen. Die Kritik der Reformation richtet sich gegen eine Totenmesse, welche Konnotationen des Handelns am Toten auslöst. Begräbnisse sollten „ehrlich mit der Nachbarschaft und Freundschaft gehalten werden, daß wir bei solchen Begräbnissen anzeigen die Liebe, die wir gegen die unseren haben“ (Pommern 1535). Lieder, Lesungen und Gebete werden zum Teil der Totenmesse entnommen, doch unterschiedliche Funktionsträger im Umkreis der Verstorbenen dokumentieren die reale Beziehungsstruktur der Situation: Beim Tod sprach der Älteste der Anwesenden den Segen, der mit einem Dank an Gott, der sogenannten „Parentation“ schloß; die „Abdankung“ war der Dank durch ein Mitglied der Familie vom Altar aus, für Hilfe und Geleit während des Sterbens und der Bestattung; die sogenannte
1381 „Standrede“ am Grab und die Leichenpredigt (Evangeliumsverkündigung) mit Lebenslauf von der Kanzel war Aufgabe des Pfarrers (vgl. Abb. 72.5). Nicht der Repräsentant kirchlicher Institution, sondern die Gemeinde, repräsentiert in Delegationen von Nachbarschaften, Freundschaften, Zünften usw., war verpflichtet zur Sterbebegleitung und dementsprechend auch zur Begleitung der Leiche. Im 18. Jahrhundert gerieten Beerdigungen bei Nacht deshalb in Mode, weil Familien und Freundschaften die nächtlichen Begräbnisse (zuvor nur für unbußfertige Sünder, Selbstmörder und Ungetaufte vorgesehen) als Privileg von geistig Gebildeten entdeckten. Erst seit dem 19. Jahrhundert repräsentierte der Pfarrer, analog dem römischen Brauchtum, die gesamte Institution. Damit wurde zum vorherrschenden Zeichen die Grabrede, die insbesondere zur Zeit der Orthodoxie eine Hochblüte erlebt hatte. 1.2. Kanzelrede und Dialogkultur Zu den großen Entdeckungen des 16. Jahrhunderts gehört die gegenüber dem Mittelalter veränderte Praxis der Kanzelrede: die Reformationsbewegung nutzte sämtliche Möglichkeiten zur Predigt, die das späte Mittelalter geboten hatte, häufig Mischformen zwischen Stundengebet und PrädikantenGottesdienst, auch den Messen mitunter vorangestellt (vgl. Abb. 72.6). Vom Nominalismus (vgl. Art. 62 § 2.3 sowie § 4.) übernahm Luther die Grundentscheidung, daß nicht das Wasser bzw. Brot und Wein mache, was Taufe und Abendmahl sakramental erscheinen läßt, sondern der Glaubensvorgang: „Wir aber sollen […] lernen mehr das Wort als das Zeichen, mehr den Glauben als Werk“ (De captivitate Babylonica, 1520, WA II, 727⫺737). Das Wort als jenseitige Verheißung führt zu einer Krise der Zeichenhandlung, die von der Zeichenhandlung des Wortes absieht: „Es ist alles besser nachgelassen, denn das Wort. Und es ist nichts besser getrieben denn das Wort“ (Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine, WA XII, 37). Ohne freie Rede kein Gottesdienst, war die Devise. Obwohl bis ins 18. Jahrhundert hinein alle westlichen Liturgien ein in sich kohärentes Zeichenuniversum von Raum und Zeit darstellten, hat die Polemik zwischen den Konfessionen bestimmte Zeichenqualitäten hochstilisiert, hier die der Predigt. Die sogenannten „Kanzelaltäre“ belegen dies architektonisch (zur früheren Ausstattung des Altarraums vgl. Art. 58 § 4. und Art. 60 § 4.6.): Auf
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Abb. 72.5: Österlicher Gottesdienst bei Sonnenaufgang in Herrenhut (seit 1715). Die Gemeinschaft mit den Verstorbenen dokumentiert ewige Gleichheit vor der göttlichen Güte. Es gibt keine Grabsteine, nur Platten mit Inschriften.
der Kanzel wurde katechisiert, Seelsorge getrieben, wurden Informationen kirchenleitender Art weitergegeben (vgl. Abb. 72.7). Im reformierten Gottesdienst feierte man ohnehin nur viermal im Jahr das Abendmahl, so daß sich die Predigt als Zentralfigur der Liturgie herausbildete. Gegenüber diesem Instrument rechtgläubiger Frömmigkeit protestierten wiederum pietistische freie Zirkel durch Gemeinschaftsbildung mit Bibelstunden, Hauskreisen, Predigtnachgesprächen und anderen Redekulturen, die die sogenannte „Dialogkultur“ des 18. Jahrhunderts vorbereiteten. In die öffentlichen Gottesdienste brachte man die Bibel mit zum Nachlesen der Texte. Nach Johann Rambach (1693⫺1735) hat die Predigt den dreifachen Zweck: Überzeugung von der Wahrheit der Heilstatsachen (finis proximus), Erbauung und Weihe der Herzen (finis intermedius) und Erlangung der Seligkeit (finis
altimus). Die Aufklärung rückte die Predigt noch mehr in den Mittelpunkt. Für Johann L. von Mosheim (1694⫺1755) hat die Predigt zwei Zwecke: die Erbauung des Verstandes (Verstehen der „Wahrheiten“) und die Erbauung des Willens (zur Besserung). Die Rhetorik erhält wieder einen höheren Stellenwert, um Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen (vgl. Art. 67 § 3.2.). Die Zentralfunktion der freien Rede verdankt sich nicht nur der Fähigkeit, zu normieren und zu protestieren. Seit dem 17. Jahrhundert verliert die verbale Sprache ihren angestammten Charakter einer selbstwirksamen Weltbeschreibung dank der bis dahin stets unterstellten Analogie zum göttlichen Reden. Der reformatorischen Wiederentdeckung dieser Analogie steht eine andere Entdeckung gegenüber: überkommene, magisch gefüllte Sprache wird auch als Hindernis für den kritischen Geist angesehen. Das
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Abb. 72.6: Lutherpredigt aus dem Jahre 1519. Mit Luthers Bild wurde die Reformbewegung auch propagandistisch gestützt (Kunstsammlung, Veste Coburg).
nötigt dazu, Sprache als System, ja als Kunstsprache zu entwickeln: Für Leibniz (1646⫺1716) sollen die Zeichen (⫽ characteres) dieses Systems so universell angeordnet sein, daß sie untereinander in derselben Beziehung stehen wie Denkinhalte (vgl. Art. 62 § 7.2.). Dadurch steht die Sprache als ein ei-
genes Ordnungssystem der Ratio dem System magischer Zeichen und Zeichenhandlungen des Volkes gegenüber. Die sprachtheoretischen Neuansätze von Hamann, Herder, Schleiermacher und Humboldt (vgl. Art. 65 und 77) boten der Predigt die Chance, das magische und analoge Denken gleichsam un-
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Abb. 72.7: Kanzelaltar in Sachsen. Inneres der Jakobikirche in Einsiedel (Erzgebirge), 1850⫺62: ein 2-emporiger Saalbau, dessen Kanzel auf der Höhe der Männerempore in der vertikalen Mitte der Gemeinde angebracht ist (aus Kunst und Kirche 1, 1968: 32).
terhalb der rationalen Sprache an deren Berührungspunkten als Poesie für die Liturgie zu entdecken. So konnte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Kanzelrede den Prosastil der deutschen Sprache maßgeblich beeinflussen, auch wenn sich jenseits der kirchli-
chen Kultur eigenständige Dialogkulturen etablierten. 1.3. Kirchenmusik Musik als Zeichenuniversum ist am besten unter den Spannungen von drei Bedeutungs-
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Abb. 72.8: Titelblatt der Folio-Ausgabe des Frankfurter Kirchengesangbuches (1569⫺1630). David demütigt sich oben vor den Posaunen des Gerichts (der Prophet Nathan predigt); unten führt er mit der Harfe einen Zug von Musikanten an (Foto: Bayerische Staatsbibliothek München, VD 16, K 928).
achsen erkennbar: 1. Volk und Klerus, 2. Vokal- und Instrumental-Musik sowie 3. weltliche und geistliche Musik. 1.3.1. Gemeinde- und Chorgesang Den Ausgang des Mittelalters kennzeichnet eine starke Spannung zwischen mehrstimmi-
ger Wucherung der Chöre in Hymnen, Sequenzen und Tropen einerseits und dem einstimmigen Singen volkstümlicher Lieder jenseits der Messe in Andachten, Prozessionen und Wallfahrten andererseits. Ein wesentlicher Erfolg der Reformation beruhte auf der Übernahme des chorischen Liedgutes
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durch das Volk, das damit am Verkündigungsauftrag des Klerus beteiligt wurde. Man nahm Gemeinde- und Chorgesang als Einheit, die lediglich funktional unterschieden wurde. Bis ins 18. Jahrhundert hinein sind Gesangbücher (vgl. Abb. 72.8) als Ritualhilfe lediglich im Besitz von Pfarrherren, Kantoren, Chorknaben oder sonstigen Chormitgliedern, während die Gemeinde singt, was sie kennt: so insbesondere die sich wiederholenden Detempore-Lieder und die Verdeutschung der Psalmen. Die Chöre bestanden weithin aus Schülern, nach dem 30jährigen Krieg entstanden Kantoreien und die sogenannten „Adjuvanten-Chöre“, d. h. Vereinigungen musikliebender Bürger kleinerer Ortschaften ohne Lateinschulen und Kurrenden. Seit dem 17. Jahrhundert bürgert sich der Besitz des Gesangbuches für die Familien ein, so daß die damals aufblühende Dichtung der Kirchenlieder schnell populär wurde. Das Tridentinum reinigte auch die römische Messe von mehrstimmigen Wucherungen, indem sie den abgeklärten A-Capella-Stil Palestrinas empfahl. 1.3.2. Vokal- und Instrumentalmusik Die Instrumental-Musik, von den Calvinisten zunächst aus dem Gottesdienst verbannt, gewinnt eine hohe Bewertung durch Luthers Musikauffassung: „Nach der Theologie sei keine Kunst, die der Musik gleichgesetzt werden könne, da sie allein nach jener vermag, wessen sonst nur die Gottesgelahrtheit fähig ist: ein ruhiges und fröhliches Gemüt zu schenken“ (Luther, WA, Briefwechsel V (1529⫺1530): 639; zit. von H. J. Moser 1954, 27). Immer sind natürliche Zeichenbeziehungen im Spiel (Donum Dei et naturae), der Geometrie, Arithmetik und Astronomie vergleichbar. Der bis ins kleinste Dorf hinein geübte Einsatz von Schulchören erforderte zudem instrumentelle Begleitung. Die hohe Blüte der Kirchenmusik seit dem 17. Jahrhundert (Schütz, Prätorius, Schein, Scheidt und Buxtehude) verdankt sich einer Synthese von Instrumental- und Vokal-Musik, die mit städtischer Kultur häufig gleichgesetzt wird. Nach dem 30jährigen Krieg erlernen Schüler und Bürger in den Kantoreigesellschaften das Instrumentalspiel, das im Zuge der neuartigen Spielmusik zunehmend Autonomie gegenüber dem Singen gewinnt. Die geistliche Kantate entwickelt sich aus (a) der Motette, dem mehrstimmigen (figuralen) Kunstgesang mit einer Liedstrophe oder einem Bibelwort, anfänglich ohne Instrument von Kurrenden
und Schülerchören in Sachsen bzw. Thüringen zwischen 1500 und 1675 gepflegt; außerdem sind es (b) die weltlichen Madrigale mit ihren von den Kirchentonarten abweichenden frei erfundenen Singweisen (auch Einflüsse des französischen Chansons) und später (seit Johann Sebastian Bach) einer Ausdrucksskala in differenzierter Chromatik: die Melodien erscheinen in der Solostimme, während die Instrumente eigene Vor- und Zwischenspiele übernehmen; (c) auch Einflüsse der italienischen Oper (Monteverdi) verknüpfen Solo und mehrstimmigen Gesang mit Instrumentalmusik (vgl. Art. 68 § 3.). In dem Maße, in dem die Instrumente Choräle begleiten und umgekehrt Kirchenlieder in die neue Kunstform der Kantate und des Oratoriums eindringen (J. S. Bach), entsteht eine Symbiose von Wort und Musik, die die religiöse Kultur des Protestantismus bis heute bestimmt. Bachs Aufgabe war es, jede Woche musikalisch eigenständig Schriftauslegung und Lobpreis in einer Dramaturgie von Anamnese und Epiklese durchzukomponieren. Die Kritik des Pietismus und der Aufklärung brachte diese Entwicklung am Ende des 18. Jahrhunderts zum Niedergang. 1.3.3. Weltliche und geistliche Musik Von der Reformation ⫺ Johann Walter vertonte Luthers Hymnen, Psalmenlieder, Katechismusstücke u. a. ⫺ bis zu J. S. Bach waren es weltliche Musiken, Liebeslieder des Volkes eingeschlossen, die für den kirchlichen Gebrauch übertragen wurden, wie umgekehrt auch Chorlieder in das Volkslied eindrangen. Der Hintergrund: Tonkunst war immer Gleichnis der göttlichen Weltharmonie (vgl. Art. 68 § 2.): „wo diese nicht in Acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik, sondern ein teuflisches Geplärre und Geleier“ (J. S. Bach, Generalbaßlehre, 1738). Individuelle Werte, erotische Konnotationen und höfische Würdesymbole werden ohne weiteres für den religiösen Gebrauch aufbereitet. Die konfessionellen Unterschiede sind am Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch präsent: während im Protestantismus alle musikalischen Zeichen-Hierarchien auf die Gemeindegesänge hin orientiert sind ⫺ Chöre unterstützen die Gemeinde, singen mit ihr alternativ oder gipfeln die Stimmung an Festtagen auf ⫺ wird im römisch-katholischen Bereich immer noch streng unterschieden zwischen den dem Klerus bzw. den Chören vorbehaltenen Beiträgen einerseits und bloßen Andachtsliedern des Volkes
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Abb. 72.9: Kirchenräume der Renaissance: 1 St. Peter, Rom; Entwurf Michelangelos (1546) 2 Reformierter Temple Paradis, Lyon (1564) 3 Reformierte Kirche, La Rochelle (1577) 4 Reformierte Kirche, Caen (1611) 5 Reformierte Kirche Oosterkerk, Amsterdam (1669⫺71) 6⫺7 Lutherische Kirche, Amsterdam (1668) (nach Volp 1993: I, 392 f)
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Abb. 72.10: Inneres der Frauenkirche in Dresden (Architekt: Georg Bähr, erbaut 1722⫺43). Mit dem Verkauf des Anrechts auf Plätze (5 Emporen!) finanzierten die Bürger den Raum für 2400 Besucher. Sie kamen zur Taufe auf das untere Podest, zum Abendmahl auf das obere. Darüber ein Gemälde der Himmelfahrt Jesu und ganz oben der Orgelprospekt ⫺ ein Gesamtkunstwerk (nach Volp 1993, I, 372).
andererseits. Die Verselbständigung einer nichtkirchlichen, wenn auch religiös durchaus affizierten weltlichen Musikkultur im 19. Jahrhundert ist eine Folge dieser nicht zur Eigendynamik entwickelten Diastase (vgl. Art. 81). 1.4. Sakralbauten An Kirchenräumen zeigen sich die Zeichenhierarchien besonders eindrücklich (zu den
bevorzugten Kirchenräumen im Christentum der Antike und des Mittelalters siehe Art. 60 § 4.6. und Art. 55 § 5.2.; vgl. auch die Tempelarchitektur der griechisch-römischen (Art. 47 § 2.1.), hinduistischen (Art. 92 § 5.1.) und buddhistischen (Art. 96 § 8. und 97 § 5.2.) Kulturen). Drei Bedeutungsachsen sind auch hier aufschlußreich: 1. das Umfunktionieren überkommener Großräume versus Demon-
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Abb. 72.11a: Grundriß der Frauenkirche in Dresden: Wo in katholischen Kirchen Seitenaltäre sind, befinden sich hier Türen, um den Zusammenhang von öffentlichem Gottesdienst und Hausandacht zu demonstrieren (nach Volp 1993, I, 370).
Abb. 72.11b: Grundriß-Entwurf für den Umbau des Berliner Doms von Friedrich Schinkel (1815): in der Mitte der Gemeindeversammlung der Altar, auf den oberen Rängen die Kanzel (nach Volp 1993, I, 379).
stration der Renaissance römischer Baukunst, 2. hörfähige Räume versus schaufähige Räume, 3. Zentralbauten für das Volk versus Zentralbauten für den Klerus. 1.4.1. Gebrauchsarchitektur Der überschaubare Einraum der Renaissance, ein vom Kubus her komponierter in sich ruhender harmonischer Raum, geprägt von sinnlicher Gegenwärtigkeit, bot für beide Positionen der westlichen Kirchen Entwicklungschancen. Die durch die Reformation bestimmten Gemeinden richteten sich in der Vielzahl überkommener Bauten neu ein, funktionierten diese demonstrativ um, indem sie zum Beispiel den Altar mitten in das Schiff stellten und das Volk in den Chorraum hereinließen. Eigenständige Bauten standen im krassen Kontrast zu den DemonstrativProjekten Roms (Bramantes bzw. Michelangelos St. Peter in Rom): man baute bescheidene Schloßkapellen und Kleinkirchen (vgl. Abb. 72.9). 1.4.2. Hörfähige versus schaufähige Räume Auffallend im protestantischen Kirchenraum war der Einbau von vielen Emporen und zahlreichen Bänken, notwendig zum Zuhören langer Predigten, während die römische Tradition den offenen Prozessionsraum bevorzugte. Selbst bei gleichen Stiltendenzen der Barockzeit entstanden typische Analogien und Differenzen: einerseits der theatermäßige Aufbau eines Kanzelaltars samt Orgel, auf den sich mehrere Emporen hin ausrichteten (z. B. die Frauenkirche in Dresden; vgl. Abb.
72.10, 72.11 und 72.12), andererseits ein durch Schaueffekte hochgezüchteter Altarraum, auf den hin sich das Volk ausrichtete, dem man zunehmend Bankreihen gestattete (vgl. Abb. 72.13). Das Pathos war je nach Region (Mittelmeer-Raum bzw. Südamerika) unterschiedlich (vgl. Art. 73 § 4.). 1.4.3. Volks- versus klerusbezogene Bauformen Der bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebte Zentralraum (noch F. Schinkels Grundidee!) war, je nach Konfession, von unterschiedlichen Motiven und daher auch Zeichenhierarchien geprägt. So gab es bis zu 6000 Personen fassende protestantische Großkirchen, die, häufig im Holzfachwerkbau konzipiert (schlesische Friedenskirchen), den Charakter riesiger Wohnstuben annahmen. Entscheidend war der für jeden ungehinderte Blick auf die Kanzel und der Zugang zu Abendmahlstisch und Taufstein (vgl. Abb. 72.14). Die oberhessischen Fachwerkkirchen ebenso wie die hugenottischen Zentralbauten belegen ein der damaligen Wohnkultur verwandtes Zeichenuniversum. Die tägliche Andacht kulminierte im gemeinsamen Gottesdienstbesuch am Sonntag, weswegen Kirchenräume in der Woche verschlossen bleiben konnten. Schinkels Pläne für den Berliner Dom wollen das Volk in einem großen Kreis, entsprechend einer Volksversammlung, um die liturgischen Prinzipalstücke herum scharen. Vorgänger sind zahlreiche Bauten und Ideen der Barockzeit (J. Furtenbach und L. Chr. Sturm), die das griechische Kreuz variieren
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Abb. 72.12a: Grundriß der Sophien-Kirche, Berlin, erbaut 1712⫺13 (nach Volp 1993, I, 375).
Abb. 72.12b: Grundriß der Dreifaltigkeits-Kirche, Berlin, erbaut 1739. Mit Kanzelaltar (nach Volp 1993, I, 375).
und das Kleeblatt, das Oval, die Fünfkonchen-Kirche, das Dreieck, das Quadrat, das zentrierte Rechteck, das Vieleck, die Winkelhakenform oder ineinander geschobene Schiffe entworfen haben. Im anglikanischen Raum verbreiteten sich Saalbauten im Recht-
eck, Vieleck, im Oval und Kreis mit klassizistischen Säulenfronten, häufig als eine Synthese von Ratio und Gefühl, Sparsamkeit und Progressivität. Der freie Umgang mit Raumformen im Protestantismus war einer der Anlässe, warum sich in katholischen Kir-
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Abb. 72.13: Jesuitenkirche St. Michael, München, erbaut 1583⫺1597. Das mit Bänken vollgestellte Schiff zwingt zur Schau in den Altarraum. Die Gegenreformation nimmt den gestreckten Prozessionsraum wieder auf.
Abb. 72.14: Lutherische Oosterkerk, Amsterdam (Architekt: Adriaan Dorsmann, erbaut 1669⫺71). Zum Abendmahl wurde das Gestühl in der Mitte weggeräumt, um die Tische zu bereiten.
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Abb. 72.15: Kirchensaal von Herrenhut, 1756. Die weiße Farbe (des Orgelprospekts, der Bänke, der Gewänder, der Vorhänge) schafft einen Zusammenhang „österlicher Freude“, in dem das Abendmahl an Tischen auf dem Podest seitlich des Bischofssitzes (Graf von Zinzendorf) und vor den Presbytern „in Armut“ gefeiert und an alle Teilnehmer ausgeteilt wird (nach Volp 1993, I, 373).
chen dann im späteren 19. Jahrhundert der basilikale Stil durchsetzte: er galt als Garant für eine auf den Klerus bezogene Raumform. 1.5. Kirchenausstattung Bilder, Geräte und Gewänder (zu deren Interpretation im Mittelalter vgl. Art. 58, Abb. 58.13) sind ebenfalls unter drei Bedeutungsachsen zu begreifen: 1. Mystische und magische Tendenzen lösen sich ab, 2. pädagogische und propagandistische Interessen bilden eine zweite semantische Achse, und 3. allegorische Ideen und bürgerliche Repräsentation bestimmen die Barockkultur. 1.5.1. Mystische und magische Tendenzen Die Lichtmetaphysik Augustins (vgl. Art. 50 § 3. und Art. 60 § 4.4.2.) hat die abendländische Bildtheologie stark vom arbiträren Zeichen her bestimmt, denn das Licht galt stets als die Kraft des göttlichen Wortes. Das Wort hielt man ⫺ von den Mystikern des
Mittelalters bis in die Neuzeit herein ⫺ für wirkungskräftiger, da es die Unmöglichkeit dokumentiert, sich von Gott ein zutreffendes Bild zu machen. „Bild“ hieß in der westlichen Argumentation häufig „figura“, ein rhetorischer Terminus, während das lateinische „imago“ wenn nicht magische, so doch wenigstens pädagogische Konnotationen enthielt. Ikonische Zeichen im „uti et frui Dei“ sind immer nur mittelbare Wahrnehmungsbeziehungen, den austauschbaren Zeichen unsrer Sprache entsprechend. Nicht nur das Ohr hat keinen Ton aus sich selbst, auch das Auge ist auf das Außen des Lichts gewiesen: hierin unterschied sich Augustin (Confessiones XII, 5,7) von Plotin. Bilderkenntnis vollzieht sich im Modell des Redens: „Das Licht, welches Glas durchdringt, ohne es zu durchbrechen, gleicht dem Wort Gottes, dem Licht des Vaters, das durch den Leib der Jungfrau gegangen ist“ (Bernhard von Clairvaux zu den gotischen Glasfenstern). Diese nur dem
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Abb. 72.16: Georg als Drachentöter, Hochaltar der Klosterkirche Weltenburg in Bayern (Architekten: Gebrüder Cosmas und Egid Asam, erbaut etwa 1716⫺1736). Die indirekte Beleuchtung soll das Bild pathetisieren (nach Volp 1993, I, 479).
Gebildeten bewußte Interpretation fächert sich an der Schwelle der Reformation in drei unterschiedliche Auffassungen: a. Das Volk verbindet mit Bildern, Geräten und Gewändern magische Vorstellungen, die zum Stiften von Bildern führen, zu Wallfahrten und verwandten Praktiken. b. Die Malerei wird zunehmend zur Mythisierung der Natur (Auferstehungsglorie in M. Grünewalds Altarbild von Colmar) oder zur Mythisierung der
Antike (Renaissance-Malerei); die Lichtmetaphysik erreicht in der Barockkultur (vgl. Abb. 72.16), auch in der Malerei etwa von Rembrandt (vgl. Abb. 72.17), eine eigenständige Semantik. c. Sofern die Räume von Bildern entleert werden (reformierte Praxis, weiß getünchte Räume der Herrnhuter Brüdergemeine; vgl. Abb. 72.15), verbirgt sich das Zeichenuniversum in der Mythisierung der Sprache.
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Abb. 72.17: Rembrandt van Rijn (1606⫺1669), „Gethsemane“. Bilder werden im reformierten Christentum für die Privatandacht geschaffen.
1.5.2. Pädagogische und propagandistische Zwecke Die pädagogische Verwendung der Bilder ist eine alte abendländische Tradition (seit den Libri Carolini, dem von Karl dem Großen in Auftrag gegebenen Werk über die Bildverehrung von 791). Das plötzliche Ende des Bilderstiftens und des Reliquienkults seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts (zu Parallelen in der Antike vgl. Art. 47 § 3. sowie § 7.2, Art. 60 § 4.7. und Art. 61 § 2.2.5.) verschaffte den Malern neue Wirkungsbereiche in den Predigtpostillen, Andachts- und Gesangbüchern, aber auch auf zahlreichen Retabel-Altären. Der pädagogischen Verwendung des Bildes korrespondiert die propagandistische: zahlreiche Flugblätter der Reformationszeit dämmen die Flut der Andachtsbilder von Wallfahrtsorten ein, erhalten aber wiederum in der Gegenreformation Nachfolger. Die Propaganda-Funktion wurde auf das Altarbild und die Geräte (Monstranz) ausgeweitet. 1.5.3. Allegorie und bürgerliche Repräsentation Eine Abmilderung der pädagogisch-propagandistischen Bedeutungsachse zeigt sich im allegorischen Bildergebrauch, der sich in der
manieristischen Ornamentalik des 16. Jahrhunderts vorbereitet. Hier korrespondiert der ornamentalen Allegorik die Selbstdarstellung von Adligen, Pfarrern und später auch verdienten Bürgern (Epitaphien); auch Geräte und Gewänder sind in der Regel Stiftungen. Der Aufbau einer eigenständigen Symbolwelt der Frühromantik (vgl. Art. 63 § 5.) stand dann allerdings wieder in einem scharfen Kontrast zu der Geschmackskultur der ausgehenden Aufklärung (vgl. Abb. 72.18), womit sich die Diastase zwischen der individuellen Kunst und dem öffentlichen Kunstbetrieb (auch in der Kirche) auftat. 1.5.4. Konfessionelle Gegensätze Die Entwicklung der Geräte und Gewänder in dieser Epoche ist wesentlich durch konfessionelle Gegensätze gekennzeichnet: während sich die römische Kultur mit barockem Pomp überbot, meinten Protestanten, sich durch zunehmende Abstinenz von Farben auszeichnen zu müssen. Dadurch wurde der schwarze Gelehrtentalar der Reformation im 18. und 19. Jahrhundert zur Standeskleidung der Pfarrer, dem die Römische Kirche das immer glanzvollere Priesterornat entgegenhielt (vgl. Art. 73 § 4.).
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Abb. 72.18: Caspar David Friedrich (1774⫺1840), „Kreuz im Gebirge“ (sogenannter Tetschener Altar), 1808. Rituelle Figuren (Rahmen) und individuelle Figuration (Gemälde) deuten sich gegenseitig (nach Volp 1993, I, 483).
2.
Theoretische Aspekte der Theologie, Philosophie, Sprachauffassung und Rhetorik
2.1. Renaissance und Reformation Die Umbrüche des 16. Jahrhunderts wurzeln in der Auffassung, daß die Zeichen (⫽ Hand-
lungen/Worte) nicht durch ihrer Natur nach dunkle Dinge bewirkt sind, sondern sich auf zuvor längst bewußte und bekannte Sachverhalte beziehen. Sie beanspruchen also für sich selbst Geltung, sofern sie in bezug auf offene Sachverhalte („res“) von anderen Zeichen interpretiert werden. Und sie deuten sich dem Subjekt, unabhängig von einem nur weni-
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gen zugänglichen dunklen Welt-Bild und -System, in einem unendlich (genauer: perspektivisch) erscheinenden Raum gegenseitig. Die Wirklichkeit der Zeichen wird selbst in Bild, Symbol und Ritus als berechenbares (A. Dürer) oder glaubwürdiges System (Reformatoren) durchschaut und rekonstruiert. So gelten auch Bilder und Riten als „Schriften“, deren Botschaft unsre Augen lesend rekonstruieren. Der Zusammenbruch theologischer Systeme (z. B. der Transsubstantiationslehre; vgl. Art. 62 § 3.) geht einher mit einer Neubewertung der Artes liberales, insbesondere der Grammatik, Dialektik und Rhetorik, und führt damit zur Neuentdeckung von Augustins Semiotik. Mit ihm verwirft man einen Dualismus, der die Zeichen zu Elementen eines spekulativen Systems erklärt; die Abneigung der Humanisten und Reformatoren dagegen führt dazu, das Signum als Handlungselement in bezug auf die Intelligenz handelnder Subjekte in bestimmten Situationen zu fassen: Zeichenvorgänge haben einen didaktischen Wert („docere“), der exhortative, informative oder ähnliche Funktionen hat. Dieser steckt aber, wie jede Perspektive, voller Fallen, die sich das menschliche Wissen selbst bereitet. Die „vox articulata“ (Signifikant) ist nur durch bestimmte Umstände dank sprachlicher Systeme („nomina“) auf Bedeutungen bezogen (Signifikate), mit deren Hilfe die „res“ gedacht werden kann. Somit ist ein direkter Zugriff auf die „res“ im Signifikat nicht möglich, sondern immer nur semiotisch vermittelt denkbar; es handelt sich um einen Prozeß, in dem der Sinn der „res“ in einer Vielzahl neuer Zeichenbeziehungen zum Vorschein kommt. Das Signum verwirklicht „res“ nur durch Funktionsbezüge. In jedem Zeichen ist Wissen enthalten, unabhängig von der Sache, die es bezeichnet (Augustin, De magistro; Confessiones X u. a.). Zur Bewältigung dieser neuen Aufgabe bieten Humanisten (die Protagonisten der Renaissance) und Reformatoren unterschiedliche Erklärungsmodelle an. Abgesehen von den in der Rhetorik und Grammatik neu entdeckten Zeichentheorien schichtet sich auch das Gewicht des Wertekosmos etwa so um: ⫺ die Sprache ist das wichtigste Instrument menschlicher Kommunikation; ⫺ es gibt unterste Texte, die eine gleichsam absolute Priorität besitzen, auch wenn sie durch menschliche Vereinbarung, wie z. B. die Kanonbildung der Bibel, entstanden sind;
⫺ alle praktischen Aufgaben erschließen sich fast vollständig durch die Neubewertung der Sprache, etwa durch Übersetzungen in die Volkssprache, Übereinstimmung von neuen Lehren mit Theorien praktischen Handelns. Der Diskurs entsteht über die Frage, wie die Zeichen in ihren bisherigen nomina und genera dank neuer Signifikate die religiöse und kulturelle Praxis verändern. Die Folge ist eine Neubegründung europäischer Hermeneutik (vgl. Art. 62 § 5.) und öffentlicher Redekultur (theologische Wissenschaft, öffentliche Predigt und andere kulturelle Umbrüche; vgl. Art. 67 § 3.2.). 2.1.1. Erasmus Erasmus Rotterodamus (1466/69⫺1536) gestand ⫺ von Plato, Origenes, Hieronymus und Augustin beeinflußt ⫺ den äußeren Zeichen die Fähigkeit zu, Mittel zur vollständigen Spiritualität zu sein: als Sprache notwendig für die Erkenntnis, als Ritus erforderlich für die Schwäche des Glaubens. Programmatisch versuchte er, eine Synthese zwischen den bonae litterae und den sacrae litterae der Primärtexte, also der klassischen Texte der Antike, für eine neue christliche Ethik zu finden. Ähnlich wie Dürer Hieroglyphen der neuen Weltsicht schuf, verfaßte Erasmus Zeichenensembles als Epigramme, Kommentare und Anleitungen zum Leben im Sinne der Bergpredigt. Er gab die Werke der Kirchenväter heraus, das Neue Testament und Streitschriften, war selbst aber von irenischer Natur. 2.1.2. Zwingli Huldrych Zwingli (1484⫺1531), angestoßen durch Erasmus, aber auch durch Studien antiker Texte, besonders von Paulus und Augustin, entwickelt Theorien, welche die Unabhängigkeit individueller Glaubenskraft (siehe die Illuminationstheorie Augustins; vgl. Art. 40 § 4.1.) von den in Zeichen bzw. Worten vermittelten Glaubenssystemen und Handlungsaufforderungen herausarbeitet. Seine 67 Schlußreden sind die erste reformatorische Dogmatik in deutscher Sprache. Musikalisch hochgebildet und Sammler von Kunstwerken seiner Zeit, bekämpfte er leidenschaftlich die Idolatrie des Kultbildes und die Behauptung einer Wiederholung des Opfers Christi, weil dadurch eigene religiöse Erfahrungen verhindert werden (2. Züricher Disputation, 26.⫺29. 10. 1523). Punktuell verbannte er sogar die Musik, damit jeder Beteiligte eigenständige Kombinationen der Zei-
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chenzusammenhänge herstellen kann. Zumal die Ästhetik der Bilder verführe dazu, den Votivakt zu perpetuieren und jenseits der religiösen Handlung das Zeichen mit dem Bezeichneten zu verwechseln. Jeder am Gottesdienst Beteiligte soll eigenständig Regeln jener Situation rekonstruieren, wie sie ⫺ aus den biblischen Texten erhebbar ⫺ die Jünger in Gegenwart Jesu zur Zeichenkonstitution verwendeten (vgl.: Action oder Bruch des Nachtmahls, 1525). Das Abendmahlsgedächtnis kann nach Zwingli das Kreuzopfer Jesu nicht wiederholen (vgl. Hebr. 7, 25), weil weder die damalige noch die heutige Situation des Mahls dem Kreuzopfer analog sei, sondern schon von Jesus als symbolisierende Handlung angesehen wurde: dem Abendmahlsvollzug analog sind Erinnerung und Dank. Nur in der Analogie zu diesem Akt könne Glauben entstehen, da damit in Christus nicht nur eine historische Person geehrt werde. Die überlieferten Worte Christi „hoc est corpus meum“ sind als propositio singularis zu lesen; sie sind keine Gattungsanzeige, sondern eine situative Aussage, also eine nur „per notam et demonstrationem“ in die Situation eingebundene propositio. Das „est“ verbindet als Kopula zwei Dinge in einer Situation, meint also keine Existenzaussage. Das „hoc“ bezieht sich eindeutig auf die Handlung, also weder auf den Gegenstand (gegenüber Karlstadt, der behauptet hatte, Jesus habe auf sich selber geschaut) noch auf Substanzen. Die Handlung, in der Jesus sein „corpus symbolicum“ gab, steht für Zwingli im Mittelpunkt: es geht um eine Handlungsanalogie, keine vektorielle Verbindung von Brot und Jesus. Im Streit mit Luther (Eine klare Unterrichtung vom Nachtmahl Christi, 1526 und: Daß diese Worte „das ist mein Leib“ ewiglich den alten Sinn haben werden, 1527) besteht Zwingli darauf, daß die Worte Christi „das ist mein Leib …“ angesichts des Brotes als „Zeichen, Bild und Gedächtnis“, als „Tropen“ als „Abbild“ interpretiert werden. Dem Zentralsymbol „Christus“, wenn es nicht im Wissen aufgelöst werden soll, kann nur eine differente Nomenklatur, können nur „unterschiedliche Worte“ gerecht werden, damit der gleiche Sinn in unterschiedlichen Situationen zum Vorschein kommt. Daraus folgt, daß das Sakrament im strengen Sinn als „Zeichen oder Zeremonie“, d. h. Zeichenhandlung gesehen wird, mittels derer der Mensch glaubhaft macht, daß er entweder „ein Kandidat oder Soldat Christi ist“. Auf die Setzung Christi bezieht sich die aktuelle
1397 Handlung, die darin zum Beweis wird, daß der Zeichenbenutzer dem Tod Christi traut, ihm dafür Dank sagt und am Lob der Gemeinde teilnimmt. Der Umgang mit den Geräten und das Decken des Abendmahlstisches soll also so weit wie möglich analog der Ursprungssituation geschehen. 2.1.3. Luther Martin Luther (1483⫺1546), bewegt von Paulus- und Augustin-Studien, beeinflußt vom Nominalismus W. v. Ockhams, beruft sich häufig ausdrücklich auf die Artes liberales (einschließlich der Musik, die er vor alle anderen setzt) gegenüber den spekulativen Systemen. Alle Zeichen sind kulturell vermittelt, auch wenn sie Gottes Schöpfung zu erkennen geben (mit Augustin: neben den signa data sind signa enuntiata natürliche Zeichenelemente des Wissens). Alle Güter „sind in zwei Stücke in Christo: Gabe und Exempel“ (WA, Kawerau V, 122); nur im Vollzug wird Glaube erkannt, entweder als „frui“ („fides qua“) oder im „uti“ („fides quae“), dem Wissen vom Glauben (⫽ „docere“). Auch sakramentale Zeichen sind grundsätzlich arbiträr, weswegen Luther besonders auf dem Interpretationshorizont der Musik (Gesang) und ⫺ in Metafunktion ⫺ auf dem des „Wortes“ (der freien Rede) besteht. Die Praxisumstände entscheiden über den Sinn einer Aussage: gegenüber Rom werden andere Probleme herausgearbeitet als gegenüber den „Schwärmern“ (zu denen er Zwingli rechnet). Es wirken in Handlungen die Zeichen, der Bezugsrahmen und die Interpretanten zusammen. Insofern ist die Trias seiner methodisch exakten Vorgehensweise in den Schriften durchaus „semiotisch“ (vgl. Volp 1994, 727⫺ 747). Es sind „drei Dinge die man wissen muß vom Sacrament“, daß es sei (1) „äußerlich und sichtlich in einer leiblichen Form oder Gestalt“ als „das Sacrament oder Zeichen“, daß es (2) „in dem Geist des Menschen“ „innerlich und geistlich sei“ als „Bedeutung desselben Sacraments“ und daß es 3. die Aufgabe habe, „beide zusammen zunutz und in den Brauch [zu] bringen“, insbesondere als „Glaube derselben beiden“ (Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe, 1519: WA II, 727⫺737). Zu 1: Gegenstand der syntaktischen Betrachtungsweise sind „Text und Form“ (Vorrede zum Kleinen Katechismus). Auf unterschiedlichen Ebenen werden gegenseitige Relationen bestimmt: Glaube, Liebe und Hoffnung (ethische Syntax); Glaube, Vaterunser
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und 10 Gebote (katechetische Syntax) sowie die „Marken und Kennzeichen“ der Kirche bzw. „Wahrzeichen der Christen“: „die Taufe, das Brot und das Evangelium“ (1520; WA VII, 720, 32⫺38). Entsprechend lotet Luther die Mißbräuche der Kirche aus: „Gottes Wort verschweigen“, „unchristliche Fabeln und Lügen …“ verbreiten und den „Gottesdienst als ein Werk“ sehen (WA XII, 35⫺37). Analog wird ein Universum von drei korrespondierenden Gottesdienstmodellen entworfen: (a) formula missae (universell erkennbare Sprachelemente), (b) öffentlich erlebnisfähige Formen: „Deutsche Messe“ und (c) ein Modell mündiger Christen, das die Handlungsbereitschaft aller Beteiligten voraussetzt (die „Dritte Weise des Gottesdienstes“; Vorrede zur Deutschen Messe; WA XIX, 44, 70⫺113). Zu 2: Der semantische Horizont steht unter den Bedeutungsachsen von „uti et frui“ („Gesetz und Evangelium“): allen Erkenntnisvorgängen im Zeichen, auch der sakramentalen Handlung, geht immer schon das unverfügbare Testament voraus, dem menschlichen Zeichen das göttliche Zeichen (1520; WA VI, 518, 14⫺15). Begriffe sind auswechselbar (WA XIX, 44, 70⫺113). Selbst Christen sind „heilige Zeichen“ geworden, die sich selbst durch die evangelische Geschichte je neu zu interpretieren haben („Simul Iustus et peccator“; WA IX, 440). Die obersten ethischen Achsen sind „Glaube und Liebe“ bzw. Freiheit und Dienst („Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan […], ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“; WA VII, 20, 25⫺ 21,4) oder auch Hören und Handeln bzw. Loben und Danken (WA IL, 588). Zu 3: Praktische Regeln bestehen in der Kunst als einer unendlichen Aufgabe (WA XXIX, 494, 14 f). Das Bedeutende kann das Bedeutete nie erreichen, erschöpft sich doch Bedeutung nicht in der „Handlung eines Augenblicks“ (WA VI, 534, 31⫺34); es erfährt seine Bedeutung in der Kommunikation der Gemeinschaft bzw. in der Frucht des Tuns (WA VI, 532). Der Glaube ist somit ein Wagnis, „sapientia experimentalis et non doctrinalis“ (WA IX, 98), auf Sinnevidenz in unendlicher Interpretation angewiesen (WA XXIX, 494, 14 f). 2.1.4 Calvin Johannes Calvin (1509⫺1564), von Melanchthon und Luther beeinflußt, maßstabsetzend für die reformierten Kirchen, befaßte
sich besonders intensiv mit Augustins Sakramentenlehre. Das Bewegtwerden (Glauben) vom Werk Christi (illuminatio, frui) ist grundsätzlich nicht beeinflußbar durch das Wissen bzw. die Arbeit an den Zeichen (sacramenta, uti). Die Dummheit, das Volk mit Zeichen zu amüsieren, deren Bedeutung man ihm nicht darlege, hat aber nicht zur Folge das „bloße (d. h. hüllenlose) Anschauen“ Gottes (Institutio IV, 14, 4 f; vgl. 14, 15). Denn die vorausgehende Gnade (Prädestinationslehre), obwohl unabhängig von menschlicher Erkenntnis durch Zeichen („extra usum“), veranlaßt desto mehr, sich derselben zu vergewissern (zur Prädestinationslehre Institutio III, 24). Die absolute Trennung zwischen „signum“ und „res“ ordnet die Wirkung von Gottes Rede nicht menschlicher Predigt zu, sondern dem Glauben (⫽ der „Wahrheit in der Erfüllung von Zusagen“; Institutio IV, 13). Menschen brauchen nicht nur irgendwelche Zeichen, sondern Merkzeichen („Symbole“), die der Situation und ihrer Erkenntnisfähigkeit entsprechen. Dazu hat Christus seiner Gemeinde zwei Zeichenhandlungen (Taufe, Abendmahl) als unterschiedlich gegliederte Signifikanten hinterlassen. Fünf semiotische Funktionen (vgl. Volp 1994, 748⫺760) sind daran bemerkenswert. 1. Um zu entscheiden, ob wir ein Sakrament „gebrauchen oder empfangen sollen“, gilt zunächst „die sicherste Regel“: „Wir sollen in leiblichen Dingen die geistlichen empfangen, als ob sie uns vor Augen gestellt wären“, nicht so, als ob diese „an das Sakrament angebunden oder in es eingeschlossen wären“, sondern weil es uns durch eine bildliche Darstellung die Zuversicht der Erfüllung vermehrt (Institutio IV, 15,14). 2. Das Bild oder die Zeichenhandlung eines Menschen will sein ein „Merkzeichen seines Willens“, indem sie eine Korrelation herstellt zwischen Intention („Dienst am Wort“) und Extension (Üben und Verwalten der Sakramente) (Institutio IV, 1,9; IV, 14,4; IV, 15,14). 3. Die Funktion der Zeichen für das Wissen kann eine unbegrenzte Semiose auslösen, braucht aber ihrerseits als Interpretanten Gebet und Predigt (Vorrede des Genfer Gesangbuches von 1542/43). Als Selbsterkenntnis sind die Zeichenhandlungen „Merkzeichen und Beweis unserer Reinigung“ (Institutio IV, 15,1); „mortificatio in Christo und nova vita“ (15,5) verpflichten im öffentlichen Bekenntniszeichen zu Lobpreis, Reden und Treue (IV, 15, 13).
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4. Da jedes Zeichen zugleich Gott und den Satan bezeichnen kann, besteht Calvin auf „Einfachheit statt Prunk“, „Lauterkeit des Herzens“ statt „Werkerei“, aber auch auf einem jeweils neuen theologischen und politischen System. 5. Die konkrete Handhabung der Sakramente kann je nach Region und Situation unterschiedlich geschehen: „Ob der Täufling ganz untergetaucht wird, ob das einmal oder dreimal geschieht, oder ob man ihn bloß mit Wasser übergießt und damit besprengt“ (IV, 15,19). 2.2. Von der altprotestantischen Orthodoxie zur Aufklärung Die nachreformatorische Epoche ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Emanzipation der Liturgik und Hermeneutik, die sich auf die methodischen Grundregeln der Artes liberales, insbesondere der Rhetorik und Grammatik, berufen. Epochemachend für das deutschsprachige Bildungswesen ⫺ mit starken Einflüssen auch auf den Katholizismus ⫺ war Luthers Freund und Berater Philipp Melanchthon (1497⫺1560). Er schuf nicht nur die Grundlagen der Gelehrtenschule sowie die bis ins 18. Jahrhundert üblichen Lehrbücher für den Elementar-Unterricht, sondern war auch maßgeblich für die Propädeutika der Universitäten, der Neugründungen ebenso wie der reformfreudigen. Aristoteles, Plato, die Stoa und Cicero lieferten das Arsenal methodischen Argumentierens; Melanchthon wendete die rhetorischen Grundbegriffe auf das Studium der Bücher an. Das antike Verhältnis von „caput“ und „membra“ geriet zum Postulat: alle einzelnen Zeichen sind aus dem Ganzen und das Ganze aus allem Einzelnen zu verstehen. Melanchthon förderte das Interesse an der kopernikanischen Lehre und wirkte als Quellensammler anregend. Sein Hauptwerk, die Loci communes (1521) mit dem Prinzip „sacra scriptura sui ipsius interpres“ („die Heilige Schrift ist verständlich aus sich selbst“) hatte nicht nur auf die altprotestantische Dogmatik, sondern auch auf die Hermeneutik der Aufklärung Auswirkung. Semiotisch ist die Epoche noch unerforscht (vgl. Art. 62 § 3.), obgleich der Begriff „Semiotik“ nicht gerade selten vorkommt (vgl. J. C. Dannhauer; s. u. § 2.2.2.). Im Rahmen dieses Artikels sind so nur einige erste Hinweise möglich.
1399 2.2.1. Gerhard Johann Gerhard (1582⫺1637) führt gegen die Behauptung vom kirchlichen Interpretationsrahmen der Heiligen Schrift (Robert Bellarmini 1542⫺1621) das Postulat von der Selbstevidenz und hinreichenden Vollkommenheit der biblischen Schrift ins Feld. Entsprechend ihrem Charakter sprachlicher Zeichen ist die Schrift allerdings kein Glaubensartikel, sondern nur „principium articulorum fidei“ (Loci theologici; cum pro adstruenda veritate …, I, 11). Die von Augustin übernommene Lehre der inneren „illuminatio“ führt ihn bezüglich der biblischen Schriftsteller zur sogenannten „Inspirationslehre“. Das Verhältnis von „signum“ und „signatum“ ist ein Verhältnis von Wortgestalt und unausschöpflichem Sinngehalt, deren „res“ weder durch kirchliche Lehre noch durch „immediata spiritus sancti inspiratio“ (I, 237 b) bestimmt wird, auch wenn das innere Zeugnis des heiligen Geistes die „perspicuitas und efficatia“ der Schriftzeichen begründet. Die „regula fidei“ ist lediglich der hermeneutische Schlüssel, „Wort und Sakrament“ dagegen sind die „Wahr-Zeichen“, in denen sich Christus selbst offenbart. Da das Lehren (⫽ docere) eine praktische Aufgabe von Apologetik bzw. Polemik ist, entsteht kein in sich konsistentes System, sondern eine Hierarchie von Bedeutungsachsen, ausgehend von der Dialektik von „Gesetz und Evangelium“. Intention und Extension von Gottes Wort, Glauben und Wissen bilden jeweils situationsadäquate Achsen im Legitimationszusammenhang. Insofern kann man von einer semiotischen Denkweise im Sinne dieser Trias sprechen: ⫺ Alle Lehre ist entscheidbar auf dem Hintergrund von semantischen Bedeutungsachsen; ⫺ ihr vorgelagert ist die Lehre von der Heiligen Schrift, eine Hermeneutik der Syntax aller biblischen Zeichen, die ihre Rahmenbedingungen in sich selbst haben; ⫺ der Artikel „de usu“ schließt jeden anderen Artikel ab. Eine ähnliche Einteilung zur Liturgik (Trias von „necessitas“, „utilitas“ und „modus“) findet sich auch andernorts (vgl. z. B. J. Molther 1599, Zur Liturgik). In dem Maße, in dem sich historisches Wissenschaftsinteresse und empirisch gelenkter Pragmatismus vom bisherigen Ethos und Pathos der Künste emanzipieren, verliert auch das Bewußtsein gegenüber religiös in sich evidenten Zeichenkomplexen an Überzeugungskraft.
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2.2.2. Dannhauer Johann Conrad Dannhauer (1603⫺1666), Professor für Rhetorik und Theologie in Straßburg, hat als Schüler J. Gerhards und als Lehrer des einflußreichen Pietisten Ph. J. Spener einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Methodologie des 17. Jahrhunderts ausgeübt. Seine Idea boni interpretis (1630) stellt eine „hermeneutica generalis“ als „modus sciendi“ für die drei höheren Fakultäten auf. Erst recht sein Buch Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum von 1654 hat ein neues Fundament rhetorischer Regeln des Bezeichnens und Organisierens von Rede gelegt, die die „Kunst des Lesens“ einbezieht. Im Gegensatz zur synthetischen Methode des Aristoteles entwickelt Dannhauer eine „methodus resolutiva“, d. h. eine „hermeneutica analytica“, die als Vorstufe analytischer Logik gilt. Wahre und falsche Folgerungen einer Aussage festzustellen ist unabhängig von der Wahrheit der Dinge. Über Thomasius vermittelt, wurde dann die Unterscheidung zwischen Meinung und Wahrheit zum Thema der Philosophen in Halle (Chr. Wolff u. a.). Den dogmatischen Stoff trägt Dannhauer in symbolisch-allegorischer Form vor (Hodosophia christiana sive Theologia positiva, 1649; viele Auflagen). In seinem Liber conscientiae pertus sive theologia conscientiaria von 1662/ 1667 stellt er „alle sittliche Betätigung im Lichte einer fortdauernden Gewissenskur dar, an der sich eine Jatrik und Therapeutik, eine moralische Physiologie, Pathologie und Semiotik beteiligen“ (Bosse 1898, 464). 2.2.3. Die Theologie der Aufklärung Die meisten Theologen der Aufklärung argumentieren selbstredend mit dem Zeichenbegriff. In seinem Buch von 1706 über die Elemente einer instrumentellen Philosophie behauptet Johann Franz Buddeus (1667⫺ 1729): „signa seu notae sunt infallibiles“ („Zeichen oder Begriffe sind unfehlbar“). Denn das Zeichen ist immer „prius signato“ (297). Das Zeichen ist „quod potentiae cognoscendi aliquid repraesentat“. Buddeus unterscheidet zwischen dem „signum naturale“, was von Natur aus „cum signato cohaeret“ (also kein bloß natürliches Zeichen!), und dem „signum arbitrarium“, welches zu einem zu Bezeichnenden aus göttlicher oder menschlicher „institutio“ („Einsetzung“) zugesprochen wird. Als Bezeichnetes dagegen gilt dasjenige, „quod potentiae cognoscendi
per signum repraesentatur“ („was dem Erkenntnisvermögen durch das Zeichen vergegenwärtigt wird“; 297). Der Streit um die „subtilitas intelligendi et explicandi“, ergänzt durch die „subtilitas applicandi“ (J. J. Rambach, 1693⫺1735), läßt eine Methodik aufscheinen, die Urteilskraft verlangt, welche nicht selbst wieder durch Regeln gesichert werden kann ⫺ ein durchaus semiotisches Erbe. 2.3. Hamann Johann Georg Hamann (1730⫺1788), Vorläufer der analytischen Sprachtheorien, hatte erhebliche Wirkungen auf den Sturm und Drang, den frühen Idealismus, Herder, Goethe, die Romantik, Hegel und Kierkegaard (vgl. Art. 77). Nach ihm dürfen Symbolbegriff (1) und Zeichenbegriff (2) nicht verwechselt werden. 1. Will man „die Geschichte des menschlichen Geschlechts und der Seele“ erfassen, dann ist vor aller allgemeinen Betrachtung der Historie die Sprache zu studieren (1759; Briefwechsel I, 393). In der Kritik an der Verbalinspiration ebenso wie an den Unzulänglichkeiten der Historiker zitiert er immer wieder Luthers Votum, daß die Theologie nichts anderes zu sein habe als eine Grammatik der Heiligen Schrift (Briefwechsel II, 90). Denn die Sprache arbeitet mit Symbolen, die etwas „bedeuten“, in denen „gediegene Bedeutung aufbewahrt wird“ (N III, 305). Symbolische Lehrbücher enthalten das anerkannte Bekenntnis einer religiösen Gemeinschaft (N II, 209). Wiewohl der Ausdruck „Symbolum“ „den Mysterien der Heiden entlehnt“ ist, ist es etwas, woran man etwas erkennt als Losung, Sinnbild oder Glaubenssatz (N III, 147, 150; V, 315). Dank Gottes Demut hat auch die Sprache Geschlechtlichkeit („vestigia trinitatis“): „Er, Sie, Es“ (N III, 179) sind Symbole seiner Selbstdarstellung. 2. Das „Zeichen“ setzt Hamann gleich mit der „Idee des Lesers“; „nur er selbst kennt“ es; es ist des Autors „Muse und Gehilfin“: der Autor baut das „Bild und den Leib des Lesers aus den feinsten Adern des beredten Pluton […]“ (N II, 358). Autoren und Leser erschaffen sich jeweils neue künstliche Sinnesapparate, um wirkliche Gegenstände zu bestimmten Begriffen und wieder diese Begriffe zu sinnlichen Anschauungen durch abstrakte Zeichen zu verwandeln (N III, 387). So besitzt die Sprache ein „ästhetisches und logisches Vermögen“ (N III, 288): indem sie Anschauungen aufnimmt und Begriffe denkt,
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liegt das ästhetische Vermögen darin, daß sie Laut und Buchstabe ist. Töne und Buchstaben nämlich sind ⫺ ohne es zu wissen oder zu wollen ⫺ Zeichen der Gedanken (N III, 238). Das logische Vermögen beruht auf der Fähigkeit, die Zeichen mit den vorhandenen Bildern zu verknüpfen. Als Einheit beider Vermögen ist sie vor dem Denken da: als Wesen, das eine Sprache hat, vermag der Mensch etwas zu verlauten und etwas zu bezeichnen (N III, 288). 2.4. Herder Johann Gottfried Herder (1744⫺1803) besteht im Gegensatz zu Kants transzendentalphilosophischen Spekulationen darauf, einen Inbegriff aller Zeichen als Erkenntnismedium zu suchen, den er in der Sprache findet (S VIII, 197; XXI, 96; X, 164; vgl. Art. 77 § 1.). Was über Hamann hinausgeht, sei ebenfalls entsprechend den Ausdrücken „Symbol“ (1) und „Zeichen“ (2) unterschieden. 1. Die symbolische Handlung, Statthalter einer praktischen Wahrheit, steht am Ursprung der Sprache (Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen, 1798; M XVIII, 255). Ihr Vorzug ist, „daß, indem sie durch sie selbst spricht, sie vielseitig gedeutet werden kann und jedem nach seinem Gesichtspunkt etwas Neues sage“ (M XVIII, 252). Der exemplarische Charakter ⫺ in Christentum, Taufe und Abendmahl ⫺ macht sie zum Zeichen ihrer ursprünglichen Kraft. Rituelle Wiederholung stellt Verbindung mit dem Ursprung her. Hermeneutische Regeln haben darauf zu achten, daß der Sinn der Ursprungshandlung nicht durch Lehrmeinungen überdeckt wird („Die Lehrmeinung spricht, und die Sinne der Wähnenden, von ihr tantalisiert, schweigen“; M XVIII, 242). Will der Sinn der ursprünglichen Handlung zum Vorschein kommen, dann sind zu unterscheiden: a. Der Kern der Handlung: Wie hat „ihr Erfinder […] symbolisieret“? (M XVIII, 255; vgl. 188). b. Welche Ursprungselemente enthält die „authentische Erklärung“ des Urhebers? c. Welches sind die begleitenden Umstände, gleichsam „die Seele der Handlung“, die auf die Veranlassung, den Zweck sowie den Charakter des Handelnden in einem bestimmten Moment schließen lassen? (M XVIII, 255). Hermeneutik hat also die Aufgabe, die sekundären und tertiären Symbolisationen, die sich über die ursprünglichen allmählich geschoben haben, kritisch zu befragen. Dabei sind drei hermeneutische Grundregeln zu beachten: die große Regel
1401 unserer Natur, die höchste Regel aus dem Gefühl des Zusammenhangs als eines Ganzen in unserem Selbstbewußtsein und die „innigste Regel“ der Religion, welche aus der „sich verstärkenden Gemeinschaft“ ihre Wirkung bezieht (M XVIII, 238). 2. Im Sprechen zeigt der Mensch, daß er „zum Vernunftgebrauch organisiert“ ist (S XIII, 91, 115). Daher ist schon das Denken ein innerliches Sprechen (S XXI, 88). Alle Tatsachen, die wir als Zeichen wahrnehmen, sind Gesetze einer inneren Struktur. Deshalb besteht die „Sprache des sinnlichen Menschen“ zunächst aus „Bildern und Zeichen, welche die Handlungen über den Augenblick hinaus festhalten“ (Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, 1774, S V, 140). Da jede Erfahrung zwischen Ausdruck und Begriff unterscheidet, sind die Regeln zu suchen, welche „Worte in der Schrift, Bilder in Zeichen, Töne in Zügen“ analysieren helfen (S V, 151). Auf der synthetischen Seite ist alles Sprechen eine Kunst, welche nicht Ideen illustriert, sondern ursprüngliche Ideen verkörpert. „Leibhafte Form ist der Tempel. Und Geist die Gottheit, die ihn durchhaucht“ (Plastik. Wahrnehmungen über Form und Gestalt an Pygmalions bildendem Traum, 1778). Deshalb braucht die Kunst, sowohl die der Auslegung wie die des Bildens, „Besonnenheit“ in der Verbindung von Empfindung und Erkennen, eine Art Metakritik als „inneren Sinn“, der alle niedrigen Seelenkräfte „umfaßt und zu […] einem höheren Eins“ erhebt (S XXI, 87). 2.5. Schleiermacher Friedrich Schleiermacher (1768⫺1834) hat in Auseinandersetzung mit I. Kant (vgl. Art. 74 § 2.) ein bislang noch nicht ausgewertetes semiotisches Instrumentarium erarbeitet, das einen erheblichen Einfluß auf die neuzeitliche Pädagogik, Hermeneutik, Sprachphilosophie, Soziologie und Theologie ausgeübt hat (vgl. Art. 74 § 8.). Ein auch nur ungefährer Einblick in das schwer zugängliche umfangreiche Werk muß an dieser Stelle aphoristisch bleiben. Einem allgemeinen Überblick (1) folgt ein Hinweis auf die Zeichendefinition der Frühzeit (2), auf seine Theorie des darstellenden Handelns (3) und die ausdrücklich semiotische „Trilogie“ (4). 1. Schleiermachers Interesse an der neuzeitlichen Bestimmung eines autonomen Religionsbegriffs bringt ihn zu einer prozessuralen Methodologie, welche ⫺ im Gegensatz zur idealistischen Philosophie (deren oberste
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Begriffe sind ihm bloße „Einfälle, Erzeugnisse des freien und künstlerischen Denkens“, DJ, 602, 607, 565) ⫺ als offenes System sowohl Wissenschaftstheorie und Ethik als auch Einzeldisziplinen, die Theologie eingeschlossen, beschreibt. Bewußtsein ist nur „Symbol“ des bezeichnenden Handelns, das „unmittelbarste freilich“ (E 573; vgl. 433; 586); andererseits ist aber jedes Symbol immer schon organisierte Vernunft (E 247; 425 u. ö.). Alles Handeln der Vernunft in der Natur ist bezeichnende Tätigkeit; da keine Wissenschaft einen unmittelbar gewissen Satz an ihre Spitze stellen kann (E 245), konstruiert Schleiermacher eine Ethik, die „alles wahrhaft menschliche Handeln umfassen und verzeichnen“ kann (E 246). Sie ist selbst nur „vorläufige Bezeichnung des Lebens der Vernunft und dieses in seinem notwendigen Gegensatz ist Handeln auf die Natur“ (E 247). Deshalb hat auch das Gefühl („etwas zu tun“) erkennende Funktion, ja es gibt „Zeichen“ wie z. B. leibliche „Gebärden“, die sich „verhalten […] zum Gefühl ganz wie die Sprache zum Denken“ (ÄO 29). So ist Ethik nur zu verstehen als Zusammenspiel von symbolisierendem (⫽ erkennendem) und organisierendem (⫽ bildendem/gestaltendem) Handeln, von Gemeinschaftsbildung und Persönlichkeitsbildung, von nicht übertragbaren und übertragbaren Bildern. Erst das Resultat aller ethischen Prozesse in der Menge symbolisierender und organisierender Akte kann als „höchstes Gut“ zur Hypothese werden, die selbst wiederum nur als Bezeichnung eines Resultats dient, das durch die Wirkungsgemeinschaft aller einzelnen hervorgebracht wird (E 584 u. ö.). Symbole sind also immer nur „approximative“ Werte (E 425). So wird selbstredend auch der allgemeine Begriff der Religion wie der Kirche in der so verstandenen Ethik aufgestellt (GL § 2.2). 2. „Zeichen sind nöthig“, da selbst „von dem, was wir in unsrer Seele gewahr werden“, keine unmittelbare Mitteilung möglich ist: das Zeichen löst Empfindungen aus, welche für den Produzenten wie den Rezipienten unterschiedliche Erinnerungen herbeibringen, die als „Ausdruck“ miteinander zu vergleichen sind (US 365 f). „Natürliche Zeichen“, zunächst bloße Folgen unsrer Empfindungen, sind Indikatoren, „wesentliche Zeichen“ wirken durch gemeinschaftliche Ähnlichkeit; dagegen wird die semantische Bindung an die Sache durch die Verabredung „willkürliche Zeichen“ genannt (US 365).
Während sich die natürlichen Zeichen in der Folge von Gebärden und Tönen finden, bedient sich die Bildende Kunst ikonischer Funktionen; die Worte werden zu den willkürlichen Zeichen gezählt: sie bedürfen der Sprache, die Schleiermacher als „allgemeines Bezeichnungssystem“ inauguriert (US 365; DO 372 f). ⫺ Die Allgemeinheit der Sprache versteht sich entweder als Schema (Resultat) eines Prozesses oder als dessen Propositum (Urbild). So sind selbst Begriffe immer nur „schwebende Einheiten“ (DO 196, 342 f; vgl. 133), lediglich dem Willen zur Übereinstimmung von Intension und Extension im Sinne sokratischer Begriffsbildung gedacht. Das Wissen ist deshalb als ein System „von Folgerungen an einem bestimmten Punkt“ zu denken (E 319), weil es Schemata (Gattungsbilder) gibt, die in ihrer Abstufung nicht des Denkens bedürfen, sofern sie nicht dem andern zum Bewußtsein gebracht werden wollen (Psychologie 247). Die Idee des Schematismus kommt am besten in der „Gebärdensprache“ zum Vorschein (Schleiermacher nennt Kinder, Taubstumme und Menschen in differenten Sprachen). Die Gebärde will „nichts anderes sein als ein Zeichen“, während auf dem organisierenden System ohne Bedeutung die „Tonsprache“ beruht (E 305; PT 295). Das organisch gedachte Allgemeine wird zum Signifikanten, wenn das Zeichen des Ausdrucks auf ein System schließen läßt, das jenem System entspricht, in dem sich die Ideen als „Totalität aller Erkenntnisacte“ darstellen (E 305). 3. Der Ausdruck „Gefühl“ steht nach Schleiermacher für das Prinzip kommunikativer Kompetenz, beinhaltet also eine Erkenntnisfunktion: es ist „bezeichnende Tätigkeit“ selbst (E 647) unter dem Charakter eigentümlicher Bestimmtheit. Es steuert freie Entscheidungen im Bewußtsein „schlechthinniger Abhängigkeit“, ist also gleichzusetzen mit der „Stetigkeit des Selbstbewußtseins“ (E 646). Sofern der Mensch durch das Allgemeine „zum Bewußtsein seiner Freiheit gelangt“ (ÄO 83), ist er zu einem „permanenten Bewußtsein des Göttlichen in sich selbst“ fähig (ebd.). Diese Permanenz des religiösen Gefühls kann also nicht Ausdruck eines allgemein Gedachten sein, sondern konstituiert sich durch unendlich viele „Zeichen eines Allgemeinen“ in jedem Produzierenden (PT 71). „Das Einzelne ist nur wahr, sofern es das Allgemeine des Produzierenden in sich trägt“ (ÄO 80). Deshalb bestimmt Schleiermacher das Verhältnis von individuellem Allge-
72. Zeichenkonzeptionen in der Religion
meinen zum sozialen Allgemeinen als das Verhältnis des Glaubens zum Wissen bzw. des Umgangs mit Signifikanten des Glaubens zum Bezeichnungssystem Sprache. „Wenn das Bilden der Phantasie in und mit seinem Heraustreten Kunst ist, und der Vernunftgehalt im eigenthümlichen Erkennen Religion, so verhält sich Kunst zu Religion wie Sprache zum Wissen“ (E 324 f). ⫺ Im Mittelpunkt des sozialen Lebens steht das „Fest“ als „Tätigkeit selbst“, d. h. Kompetenz und Performanz von Regeln erhöhten Bewußtseins (PT 71; CS 61). Wichtigster Vorgang ist die „Darstellung des Undarstellbaren“ (Mimesis). Gemeint ist nicht der subjektive Ausdruck von Ideen, sondern die Organisation von Signifikanten, die für das Einströmen des Unbekannten Raum bieten: „Das darstellende Handeln ist das In-die-Erscheinung-treten der Gemeinschaft selbst, also auch dasjenige, wodurch die Gemeinschaft erst ein Object des Bewußtseins werden kann“ (CS 513). Ihr Prinzip, die Liebe, macht, daß repräsentative Funktionen durch Korrektive Wirkungen hervorbringen, in denen sich „die beständige Realisation des menschlichen Wesens selbst“ (CS 517) zeigt. Sprache ebenso wie Kunst sind Darstellungsmittel, die sich zum Wissen bzw. Glauben verhalten wie „Form“ zu „Stoff“ (CS 528; PT 789). Kunst ist zwar freie Produktivität, im Gegensatz zu Fichte kommt jedoch das Gefühl nur im Subjekt zustande; es wird nicht vom Subjekt bewirkt, da es immer schon kulturell kodiert, im Lichte einer Einheit erschlossen wird, die ihrer Verfügung entgleitet. Die innerste Einheit des Lebens ist als solche immer nur vorausgesetzt gedacht, nie „Gegenstand“ für das Bewußtsein (E 576). Das individuelle Symbolisieren an der Kunst („Selbstmanifestation“) wird also von innen begrenzt durch das Organisiertsein in der Sozialität. Der unüberwindbare Bruch einer „fehlenden Einheit“ (DO 290), uneinholbar selbst dem Gefühl bewußt als Kluft zwischen dem „Sich-selbst-setzen“ und dem „Sichselbst-nicht-so-gesetzt-haben“ (GL § 5), macht die Semiose zu einem notwendigen Instrument menschlichen Bewußtseins (vgl. R 182 f). 4. Eine Enzyklopädie der Theologie verfaßt Schleiermacher als „Trilogie“ (KD 13) syntaktischer, semantischer und pragmatischer Theoriebildung. Die Syntax „religiöser Lebensmomente“ umfaßt die gesamte „Entwicklung der Religion von den ersten Symbolen des Alten Testaments an bis in die gegenwärtige „Statistik“ (KD 11 f). Die
1403 „Kenntnis des zu leitenden Ganzen“ kann nur als „Ergebnis der Vergangenheit begriffen werden“ (KD 11). Da „sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (HF 92), kann die Differenz der Zeichensysteme nicht induktiv, aber die Kombination möglicher Inhalte auch nicht deduktiv gewonnen werden. Deshalb entwickelt Schleiermacher eine Methodik der sogenannten „Divination“, welche ⫺ ähnlich wie die Abduktion bei Ch. S. Peirce (vgl. Art. 100) ⫺ auch unbewußtes Schließen intersubjektiv nachvollziehbar ausweist. Divination ist eine Weise, Tätigkeit und Fähigkeit des Erkennens auch als Hypothesenbildung in der Form des logischen Schlusses zu begreifen (Daube-Schakkat 1984, 263⫺278). ⫺ Die sogenannte „philosophische Theologie“ (KD 13⫺30) ist deshalb im strengen Sinne „semantisch“ zu nennen, weil sie ihren Sinn nur durch die „Einwirkung ihrer Resultate auf einen unmittelbaren Lebensmoment“ erhält (KD 99). Philosophie ist Kritik differenter Bedeutungsregeln hinsichtlich des Verhältnisses idealer Intention zur realen, d. h. situationsadäquaten Exposition. ⫺ Praktische Theorien fragen nicht nur nach der „richtigen Methode“, sondern dank Klassifikationen und Strukturierung nach dem Verhältnis von „Masse und Einzelnen“ in Entscheidungssituationen (KD 99 ff), nach der Methodologie eines Problemfeldes. Zusammenfassend (zu § 2.5.) ist zu sagen: Alle Notationen der Kultur werden bei Schleiermacher 1. als Syntax der Symbole, 2. als Beziehung zum Objekt und 3. als „Organ für beides“ angesehen (E 88). „Alles soll Jedes sein, nur in verschiedener Beziehung und zwar nicht für die Persönlichkeit, sondern für die Vernunft“ (E 93). Insofern setzt sich Schleiermachers Methodologie von der späteren Symboltheorie ⫺ etwa Creuzers ⫺ ab, als zwar Symbole immer schon strukturierte Texte sind, jedoch nur im situativen Zeichenvorgang des Mitteilungsaktes ihre Funktion erfüllen. „Mitteilende Darstellung“ und „darstellende Mitteilung“ ermöglichen die gegenseitige Überprüfung der Zeichenkomplexe von Kommunikation. Insgesamt (zu § 2.) ist festzustellen, daß die anbrechende Neuzeit und die heraufziehende Moderne in Europa wesentlich durch den Gegensatz zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Hermeneutik geprägt waren. Seit der Renaissance verlangte man den Rückgriff auf die Urtexte als
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
Grundlage humanistischer Bildung, und die Reformation war eine Konsequenz dieses Verlangens. Parallel zur vorurteilslosen Erforschung der Urtexte forderte man jedoch auch eine vorurteilslose Erforschung der Natur. Das von Rene´ Descartes formulierte Ideal der Mathesis universalis und die von Leibniz angestrebte Characteristica universalis sollten das menschliche Wissen auf mathematisch auslegbare Grundlagen stellen. Um die Konkurrenz zwischen diesen beiden Wissenschaftsidealen zu überwinden, bedurfte es der Mathematik wie der Textinterpretation gleichermaßen fähiger Geister wie Friedrich Schleiermacher und Charles S. Peirce. Beide versuchten eine Lösung auf der Basis von Überlegungen über die Natur der Zeichen. Die Konsequenzen des Peirceschen Ansatzes für die Zeichenkonzeptionen der Religion untersucht Art. 87.
3.
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73. Sign conceptions in everyday life
73. Sign conceptions in everyday life from the Renaissance to the early 19th century 1. 2. 3. 4. 5.
A topic with dim contours The subject as an agent of signification Certainty turning inwards Theatricality of the outside world Sincerity, expression and the risks of representation 6. State-representation and the resistance of opacity 7. Selected references 7.1. Sources 7.2. Secondary literature
1.
A topic with dim contours
The idea of casting the numerous sign conceptions that emerged in European everyday life between the Renaissance and the early nineteenth century into the form of a historical narrative is so full of pitfalls that it might appear as an act of intellectual daring to venture upon such a project. For, first of all, identifying the phenomenal level to which the complex notion of “sign conceptions in everyday life” is meant to refer poses a particular difficulty (cf. Art. 48 § 1., Art. 59 § 2., and Art. 88 § 3.). Should it come close to what Michel Foucault brought to light through his epistemological archeology: “l’expe´rience nue de l’ordre et de ses modes d’eˆtre […] entre l’usage de ce qu’on pourrait appeler les codes coordinateurs et les re´flexions sur l’ordre” (“the naked experience of order and its modes of being […] somewhere between what we can call the coordinating codes and the reflections on the phenomenon of order”; Foucault 1966, 12 f)? It is clear that the (meta-)history of reflections on sign-codes, which Foucault mentions in the first place, is assigned to other parts of this Handbook, and that the codes proper (as stocks of social knowledge), belong to the field of social history, rather than to semiotics. Is, however, that “naked experience of order and its modes of being” which Foucault has in mind even capable of historicity? In this article, I will be working upon the assumption that what imposes itself as quasi ‘ontological’ evidence of order and structure in acts of everyday experience can be interpreted as a phenomenal layer which in fact depends on a variety of historically specific conditions. While sociologists have come to define the presuppositions constitut-
ing this layer as “basic elements of social knowledge”, they appear as sign conceptions specific to various everyday cultures as soon as they become manifest in institutionalized techniques of signifying (cf. Art. 15). Once circumscribed, however, our topic confronts us with a series of further problems. It is clear, for example, that instead of exclusively reducing the scope of the investigation to ‘popular’ layers of past societies, the adjective “everyday” emphasizes the aspect of institutionalization in the phenomena we thematize. Nevertheless, everyday culture does include “popular culture”, thus confronting us with the notorious problem caused by the lack of primary sources for sociohistorical contexts where writing was not routine. In reconstructing these spheres, we will have to rely mostly on descriptions provided by intellectuals ⫺ descriptions which are of course influenced by their authors’ specific perspectives (cf. Art. 59 § 2.). But even if we were able to dismiss this difficulty, it cannot be taken for granted that the various sign conceptions occurring on various levels of past societies and in various national contexts will let themselves be totalized in all-encompassing descriptions. Furthermore, it is not obvious that the sequence of such common denominators, should they exist at all, will end up constituting the form of a history. Specifically, this last difficulty has often been alluded to as a reason for the impossibility of periodizing everyday culture in early modern Europe (Burke 1987, 102). We simply seem to observe too many overlapping shifts, beginnings and relapses for a clear-cut history to be traced. In other words, to write the following pages required the decision to behave in a more daringly Hegelian way than the present epistemological discussion would normally allow; furthermore, even under such a premise, the status of this article will at best be no more than that of a challenge for more detailed research in the future. With such an apology, the question arises whether the analytical repertoire offered by semiotics is sufficiently differentiated to do justice to the amazing variety of sign conceptions encountered in three and a half centuries of European culture between 1450 and 1800. Only three basic models of totalization come to
1408
IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
mind. Signifier and signified can be experienced as (1) fused, as a unity which seems to refute the possibility of a distinction between them; (2) as mutually corresponding or, in other words, as the unity of their distinction; (3) as finding themselves in a movement towards mutual independence, whereby they tend to lose the character of signifier and signified. In order to enrich this relatively narrow range of interpretative models, we will include in our central field of observation the different modes in which the human body was positioned (and sometimes eliminated) both as an agent and/or object of signification. The first historiographical requirement to be fulfilled, then, by our tools of analysis and totalization is the description of a sign concept typical for the various everyday cultures in the European Middle Ages (or, more precisely, a description of the historically specific assumptions preconsciously underlying what was then accepted as the evidence of experience). This will serve as a background against which the specificity of early modern sign conceptions can appear in contrast. Certainly, one basic feature of medieval culture was the belief that, through the event of divine Creation, each object of experience (including the human body) had its specific cosmological place and its inherent meaning(s); furthermore, it was expected that such meanings would remain hidden from human understanding unless they were disclosed through divine revelation. Whereas medieval culture, at least ideally, did not yet regard signification as an act performed by human beings, we will try to show (in § 2. of this article) how early European Modernity can be characterized by the emergence of subjecthood, i. e., through the progressive occupancy of the roles of agency in signification by the human mind. Within this development, the phenomena experienced and the meanings attributed to them were increasingly seen as separated (Gumbrecht 1985). Therefore, the emergence of subjecthood brought forth two new and divergent modalities in the experience of signification. On the one side, it produced the growing conviction that irrefutable evidence could only be encountered in a self-reflective movement towards the inner spheres of the human psyche (§ 3.); on the other side, the rise of subjecthood was accompanied by the feeling that the outside world, as constituted in human acts of signification, was “but a theatre”
(§ 4.). In § 5., we will demonstrate how the European Enlightenment, from the late seventeenth century onward, established a new norm of sincerity against this overwhelming feeling of theatricality, and that the norm of sincerity ended up producing the expectation that the outer appearance of the human body was capable of expressing inner truths (analogous to the visible world representing an invisible world-order). The age of the bourgeois reforms and revolutions around 1800 thus saw both the gigantic effort of the State to institutionalize this world view of ideal transparency and also the beginning of its collapse (§ 6.). Ever since, the opacity of the human body and the materiality of the signifiers have been played out against what is now seen as a simulacrum of transparency and representation staged by the State.
2.
The subject as an agent of signification
In 1513, in a now famous passage of the twenty-first chapter in the Principe, Niccolo Machiavelli presented Fernando de Arago´n, who, with his wife, Isabel de Castilla, ruled over Spain, as the incarnation of the ideal politician: “Nessuna cosa fa tanto stimare uno principe quanto fanno le grandi impresi e dare di se´ rari esempli. Noi abbiamo ne’ nostri tempi Ferrando di Aragona, presente re di Spagna. Costui si puo` chiamare quasi principe nuovo, perche´ di uno re debole e` diventato per fama e per gloria il primo re de’ Cristiani” (“Nothing contributes so much to the esteem in which a prince is held as great exploits and the capacity to set stunning examples. In our times, we have Ferdinand of Arago´n, the present King of Spain. He can indeed be hailed as the new prince because, after beginning his reign as a king with but little power, he has become, in terms of fame and glory, the first king of Christianity”; Machiavelli 1513 ⫽ 1963, 71). In the catalogue of Fernando’s achievements evoked by Machiavelli, one feature recurs, which seems to be regarded as the main reason for the Spanish king’s superiority as a politician: “[…] per potere intraprendere maggiori imprese, servendosi sempre della religione si volse a una pietosa cruelta`, cacciando e spoliando del suo regno de’ Marrani, ne´ puo` essere questo esemplo piu` miserabile ne´ piu` raro. Assalto` sotto questo medesimo mantello l’Africa: fece im-
73. Sign conceptions in everyday life
presa di Italia: ha ultimamente assaltato la Francia: e cosı` sempre ha fatte e ordite cose grande, le quali sempre hanno tenuti sospesi e ammirati gli animi de’ sudditi e occupati nello evento di essi. E sono nate queste sua azioni in modo l’una dall’altra, che non ha dato mai infra l’una e l’altra spazio alli uomini di potere quietamente operarli contro” (“always recurring to religion as a legitimation for increasingly daring actions, he turned to a pious form of cruelty when he expelled the muslims from his reign; this was a both horrible and stunning deed. Under the same religious coat he attacked Africa, led the Italian campaign, and has recently attacked France, and thus he has always achieved great things which kept occupied the spirit and the admiration of his subjects. Each of his actions gave birth to the next so that there was never enough space between them to quietly plan operations against him”). More precisely, it was a structure of duplicity which impressed Machiavelli as a most remarkable innovation. Fernando calculated his actions so that they would not only fulfill their expected military or religious functions, but also so that their appearance and the speed of their performance would serve as a “coat” (“mantello”) under which he could cover future projects. Around 1500, the metaphor of the coat (shield, disguise) was frequently used to designate the capacity for producing deceitful realities and the imposition of their pretended meanings upon one’s enemies in the context of political strategies (Burke 1987, 9 ff). We can therefore read it as a symptom for man’s passage to the subject-role in the act of signification. From first being experienced as inherent to the world of objects and actions, meaning was now transformed into a quality conveyed to or withdrawn from objects and actions by human artifice. Typically enough, Fernando’s contemporaries found this capacity equally characteristic of his wife Isabel (Gumbrecht 1990, 221 ff): she became famous for having suffered labors in the births of her two children without letting any expression of pain appear on her face. On the other hand, Isabel explained, in extensive letters to her confessor, that she had only given in to the temptation of wearing precious dresses under the strategy of impressing her guests, the members of the French court, with such a sign of the economic strength of the Spanish crown. Not by coincidence is the fifteenth century referred to as the historical period in which differences in clothing (which
1409 had been unchangeable elements belonging to different life-forms in the medieval estates) began to be displayed as a surface of individual identity-presentation, especially in festive attire and the garb of mercenaries (Thiel 1985, 153). It is therefore interesting to see that, since the 1530s, Isabel’s forerunners as the rulers of Castille had been harshly criticized by their contemporaries for what we can identify as the one-dimensionality of their appearance. Isabel’s half-brother and immediate predecessor Enrique IV, much to his political detriment, had never even tried to conceal a leaning towards the pleasures and forms of Islamic culture. Juan II, Isabel’s father, had become so completely absorbed in the sphere of an uninterrupted courtly feast organized by his favorite and chancellor Alvaro de Luna that he was thought to have forgotten the everyday world which lay beyond the border of his joyful environment; he had progressively abandoned the ritual functions and even the larger responsibilities belonging to his role as king. However, the new capacity of controlling one’s appearance, of imposing its intended meaning upon others and of hiding behind such facades, had its flip-side in a growing awareness ⫺ and fear ⫺ of the interpretative depth of the other party (without analyzing their interrelatedness, Norbert Elias mentions both concerns as important steps in the “process of civilization”; 1977, I. 69, 101 f). As a reaction to this fear we find, from the 1470s on, a growing number of legal documents in the reign of Fernando and Isabel trying to reinforce the law that obliged Jews and Muslims to mark their religious identity through specific symbols displayed on their clothes (Sua´rez Ferna´ndez 1964, 141 ff). But despite such measures ⫺ and in a climate where the hetero´doxos were more inclined towards conversion than ever before ⫺ the Catholic monarchs ended up falling prey to the projections of their own subjecthood. Contemporary historiography presents their decision to bring the Inquisition to Spain as based on the interpretation of symptoms (mainly the smell of food) which the Jewish inhabitants of Seville could not help producing ⫺ against the appearance of their newly embraced Christianity. “Habeis de saber, que las costumbres de la gente comun de ellos ante la Inquisicion, ni mas ni menos era de los propios hediondos judios, y esto causaba la continua conversacion que con ellos tenian; ansı´ eran tragones y comilones, que nunca perdieron el comer a cos-
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tumbre juda´ica de manjarejos, e´ olletas de adefina, manjarejos de cebollas e´ ajos, refritos con aceite, y la carne guisaban con aceite […]; y el aceite con la carne es cosa que hace muy mal oler el resuello, y ansı´ sus casas y puertas hedian muy mal a´ aquellos manjarejos; y ellos ese mesmo tenian el olor de los judios por causa de los manjares y de no ser baptizados. Y puesto caso que algunos fueron baptizados, mortificado el cara´cter del baptismo en ellos por la credulidad, e por judaizar, hedian como judı´os” (“You must know that, before the Inquisition, their habits were exactly the same as those of the stinking Jews ⫺ and this came from their continued contact with them; thus they were gluttons who never gave up the habit of cooking Jewish food with onions and garlick and of frying their meat in oil […]; and oil with meat produces a very bad smell; and thus their houses and their doors had the bad smell of that food; and they had themselves that smell of Jews because of the food and because they were not baptized. And although some among them were baptized, they repressed the effect of the baptism with superstition ⫺ and because of their Jewish life-style they smelled like Jews”; quoted after Gumbrecht 1990, 238). The symptomatological character of Fernando’s and Isabel’s reaction described in this passage lies both in the fact that what they interpreted as a sign had of course never been intended to be taken as such and in the lack of an institutionalized code that related the smell of certain types of food to religious convictions. Whereas such a ‘reading’ radically ignored the intentions of the monarchs’ potential victims, we know that, less than a century earlier, the pure intention articulated in the act of former Jews becoming christianized had been regarded as sufficient to free them from any suspicion and subsequent persecution. As one might expect, the Spanish Inquisition ended up producing as an effect that which had been presupposed as its cause and legitimation. Under the pressure of the Sanctum Officium, an increasing number of Jews and Muslims returned to the orthodoxy of their religions. Sometimes the Muslims’ situation was eased by the official license of their religion to hide their adherence to Islam by making a distinction between imposed behavior and true intentions “Y si os forcaran sobre beber el Vino, pues bebed lo, no con voluntad de hazer vicio del” (“And if they force you to drink wine, then you may drink it ⫺ as long as you do not drink it with vicious inten-
tions”; quoted after Kruells-Hepermann 1990, 14). Radically different from the expectation of “threefold” or “sevenfold” meaning-levels guaranteed by the medieval reading of the Scriptures (cf. Art. 58 § 3.), this unfolding of a hitherto unknown dimension of depth in the process of interpretation played an important part in the emergence of early Modern European culture. From that time on, interpretative depth also became typical in the reception of texts and paintings (Burke 1984, 151). Our ⫺ opposite ⫺ tendency to classify the bureaucratic cruelty and violence of the Inquisition as typically medieval is probably but a faint contribution to the retrospective legitimation of Modernity (Toma´s y Valiente 1976, 18). What makes the Inquisition singular in the early modern context ⫺ and what perhaps provoked its recourse to physical repression and extermination ⫺ was the new experience of an endlessness of interpretation. If the initial insistence of the accused on their Christian orthodoxy was no longer sufficient to dilute the Inquisitors’ suspicions, which is why they quite regularly proceeded to extract ‘confessions’ under conditions of torture. But, as modern subjects, the Inquisitors even distrusted the ‘evidence’ they themselves produced, thereby making a formal confirmation of such testimony, some days after the torturing, a legal requirement. Quite naturally, the defendants used to recant. This led to renewed torture ⫺ and opened up the unending chain of acts of interpretation that could ultimately only be cut short through the auto da fe´ (Toma´s y Valiente 1976, 17; Lea 1985, 218 ff). Our account of the emergence around 1500 of a new sign conception ⫺ based on the acts of simulation and interpretation as constitutive of modern subjecthood ⫺ could find ample confirmation in the theological debates and political controversies of the Reformation. But it seems to differ widely from Foucault’s description of “la prose du monde” as “episte´me´” of the sixteenth century (Foucault 1966, 32 ff). What he highlights is an enlacement of meanings (“langue”) and things (“objets”), a superimposing of the mapping and the deciphering of phenomena (1966, 44 ff). This archeological reconstruction might well describe, due to Foucault’s concentration on French sources, an intermediate state between the medieval situation of meaning-immanence (as distinguished from an experience of enlacement and superimposing) and the modern disposability of meaning
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Fig. 73.1: Courtly dinner table. Woodcut by Michael Wolgemut from Schatzbehalter, Nuremberg 1491 (cf. Wiswe 1970, 6).
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Fig. 73.2: Upper-class dinner table with intarsia. Bavaria 1743. The inlaid plates, cups, knives, forks, and spoons were to demonstrate high-level dining culture (cf. Jacobeit and Jacobeit 1986, 211).
for the strategies of the subject (not available before the world was perceived as a surface to be read). If we follow Machiavelli, this stage was reached in Spain (and, of course, in Italy) considerably earlier than in the rest of Europe. There is an obvious relation of concomitance between the emergence of subjectivity and the establishment of that “invisible wall of affectivity separating individual bodies”, whose history Norbert Elias has so meticulously described (1977, I.70 ff). Among other areas of behavior, his demonstration focusses on a transformation in the eating-habits. From the late fifteenth century onward, it became regarded as unmannered to pick up pieces of food with both hands (“only three fingers” were a better solution, recommended Erasmus); and the use of individual knives and forks established further distance between the food and the person eating it (cf. Fig. 73.1 and 73.2). In a different context, the institutionalization of the printing press after 1450 was a parallel ‘agent’ in this process of
transformation (Eisenstein 1979). It not only caused a split between signifying as a spiritual act and the now mechanical aspects of text-production, thereby helping to establish the author-role; at the same time, by occupying a space between the writer’s hand and the page covered with characters, the printing press contributed to the completion of a development through which the body was isolated from any intellectual activities. Written language in print became increasingly interwoven with various forms of professional practice (Giesecke 1980). Taking into account the fact that, in medieval culture, the art of writing had been almost exclusively applied to religious functions, one might emphasize among the effects of printing an aspect of desacralization, in addition to the formation of new codes or writing in non-Latin languages. As far as the written representation of quantities is concerned, this development seems to have been completed even before the end of the fifteenth century. Up until 1300, acts of calculating and ac-
73. Sign conceptions in everyday life
counting had been performed through the exclusive use of the abacus; only their final results were represented by Roman numerals. As late as 1299, merchants were formally forbidden to use Hindu-Arabic numerals for purposes of trade (Struik 1987, 81). But the growing complexity of economy, navigation, astronomy and politics brought about an astonishingly swift bridging of this gap between the practice of calculating and the tools of its representation (cf. Art. 51 § 2.). With the introduction of a sign for the zero value, for the empty column on the abacus, the dominance of the manual instrument over the notation of quantities was finally broken (NeillWright 1952, 127 ff). This new “calculability of the world” (Georg Simmel’s term is “Rechenhaftigkeit”) greatly contributed to the rise of bureaucracy in European culture (Burke 1987, 39 and 130).
3.
Certainty turning inwards
As the history of the Spanish Inquisition shows, the price paid for the subject’s new role of active participation in the acts of signifying was the impression of a loss of stability and reliability in the world of meanings. This may have been the ground for a tendency towards self-reflexivity and the impetus for a search of cognitive evidence inside the human psyche, which we can observe after 1500. Self-observation seemed to be exempt from the newly discovered fallacies in the interpretation of the exterior world and, at the same time, it could be perceived as an intellectual gesture protecting against any external control. The classical locus of this inward turn is the very passage in Descartes’ Discours de la me´thode (1636) which leads to the conclusion “cogito ergo sum”. What makes this text so relevant for our purpose is a double strategy invented by Descartes: On the way to philosophical certainty, he disregarded any kind of knowledge which he could not irrefutably claim as dependent of the human mind itself, and, at the same time, he used the fiction of not having a body: “je me re´solus de feindre que toutes les choses qui m’e´taient jamais entre´es en l’esprit n’e´taient non plus vraies que les illusions de mes songes […]. Puis, examinant avec attention ce que j’e´tais, et voyant que je pouvais feindre que je n’avais aucun corps, et qu’il n’y avait aucun monde, ni aucun lieu ou` je fusse; mais que je ne pouvais pas
1413 feindre, pour cela, que je n’e´tais point; et qu’au contraire, de cela meˆme que je pensais a` douter de la ve´rite´ des autres choses, il suivait tre`s e´videmment et tre`s certainement que j’e´tais […]” (“I decided to act as if all the things that had ever come to my mind were not truer than the illusions of my dreams […]. Then, attentively examining my own being and seeing how I could feign that I did not have a body and that there was neither a world nor a place where I found myself; but that, nevertheless, I could not feign that I did not exist and that, on the contrary, from the very fact that I could have the intention to challenge the truth of all other things, it very obviously and very certainly followed that I did exist […]”; Descartes 1636 ⫽ 1966, 59 f). More than half a century earlier and in a radically different cultural context, the (mostly female) discourse of Spanish mysticism had described a strikingly similar introspective movement by focussing on the human psyche as the place of an intimate encounter between transcendency and immanence. In this sphere a double-levelled observation took place: The mystic observed her soul enjoying a vision of God (Luhmann and Fuchs 1989). For our task of interrelating sign conceptions from different fields of everyday practice, it is important to note that the contemplative use of religious paintings as an initial step in the process of mystical experience had become a standard device. From first being an object of veneration (on the basis of the assumption that paintings provided a quasi-magical presence of whatever they represented), they passed on to inspiring veneration through their impact on imagination as a precondition for identification (Burke 1984, 118). In the words of Santa Teresa de Avila (1515⫺1582): “Tenı´a este modo de oracio´n, que, como no podı´a discurrir con el entendimiento, procuraba representar a Cristo dentro de mı´; y halla´bame mejor, a mi parecer, de las partes adonde le veı´a ma´s solo. Parecı´ame a mı´ que estando solo y afligido, como persona necesitada, me habı´a de admitir a mı´” (“I cultivated a form of praying in which, as I could not use my understanding, I tried to imagine Christ within myself; and it appeared to me that the more I saw Him alone the better I was feeling. It seemed to me that, if He were alone and afflicted like a person in need, he would be more likely to let me be with Him”; Teresa de Jesu´s 1970, 84). Of the many ways in which it intensely psychologized religion, what contributed
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most to making mysticism suspect of heresy was the almost complete substitution of vocal prayer by silent prayer, which was part of the tendency to eliminate the human body, as an unreliable element, from acts of experience and signification. For the same reason, Santa Teresa continuously insisted that her visionary encounters with Christ were perceptions “by the eyes of her soul”, with, “however little, the body participating”. The dominant feature of mystical experience was, however, its desire for immediacy. Not only did it exclude ‘understanding’ and ‘memory’; appealing exclusively to the devotee’s ‘will’, the evidence of God’s presence was so overwhelming that it literally did not leave any space for representation. “Bien entiende [el alma] que no quiere sino a su Dios; mas no ama cosa particular de El, sino todo junto le quiere, y no sabe lo que quiere. Digo no sabe, porque no representa nada la imaginacio´n; ni, a mi parecer, mucho tiempo de lo que esta´ asi, no obran las potencias” (“[The soul] understands very well that it does not long but for its God; it is, however, not any particular aspect of Him that it loves, but it wants Him entirely and it does not know what it wants. I say that it does not know what it wants because the imagination does not represent anything in particular; nor, I believe, are the human faculties at work while this is the case”; Teresa de Jesu´s 1970, 129). Quite naturally, however, the shelter which this self-reflective turn offered to various forms of excentric experience and thinking caused an augmentation in the institutional pressures towards confession. What we read as Santa Teresa’s autobiography is indeed a text explicitly addressed to her confessor (and presented as having been requested by him). But it may also be true that, in turn, she quite astutely profited from the legitimacy of this textual form in order to transform the publication and propagation of her new way of religious experience into a calculable risk. As a strategy to assure cognitive certainty, mysticism’s emphasis on the spirituality of experience and signification dominated in the rule for the order founded by Santa Teresa. Any bodily contact (including embraces) among the nuns was strictly prohibited ⫺ not to mention contact with the outside world. Furthermore, conversations in the convent were only considered legitimate under very specific conditions; the faces of the nuns had to be veiled; and their clothes and bed cloths were not allowed to show any color (Santa
Teresa de Jesu´s 1970, 673 ff). To be sure, it was not an attitude of penitence that stood behind such instructions, but rather the decision to radically withdraw from a world of treacherous appearances; for similar tendencies in Protestantism cf. Art. 72 § 1.5.
4.
Theatricality of the outside world
At first glance, the function of fashion at the Spanish court during the second half of the sixteenth century ⫺ which soon became a model for the nobility throughout Europe ⫺ seems to have been similar to the status of clothing in contemporary monastic life. The dominant (non-)color was black, the geometrical style of dresses and outfits (which first popularized the wasp-waist and the corselette) made the contours of the human body disappear, and the increasingly exuberant collars (whose wasteful use of material caused serious economic strain in the early seventeenth century) were meant to emphasize the spirituality of the face (Thiel 1985, 189 ff). But while the veil that covered the nuns’ faces in Santa Teresa’s monastery sealed the reflexive reclusiveness of their spirituality, the general repression of the body in courtly fashion highlighted ⫺ ‘staged’, so to speak ⫺ whichever parts of the body remained visible in the social sphere (cf. Fig. 73.3). By regularly wearing a patch over one of her eyes, the Princess of Eboli, favorite to King Philip II, invented a particularly efficient way of energizing this allusion to the physical aspect of her existence ⫺ against a background of scarcity in the devices of selfpresentation. Similarly, the ceremonial of the Spanish court prescribed that, whenever members of the royal family were walking through a palace, each door had to be immediately locked behind them ⫺ an act that, paradoxically, both assured and publicized their solitude on the social stage. What these examples make us understand is the historical fact that, parallel to the search for ultimate evidence and certainty in the inner sphere of the human psyche, subject-centered signifying generated the complementary realization of the social sphere as a realm necessarily constituted in human interaction (and of interaction producing structures of visible reality even where the main concern was to escape it). But while the twentieth century seems to be particularly impressed by the unavoidability of signifying ef-
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73. Sign conceptions in everyday life
Fig. 73.3: Courtly clothing fashion in the late 16th century. Only the face and the hands were left visible. The face was framed by a huge frill (cf. Racinet 1989, 163).
fects in any kind of interaction (hence the success of the truism that ‘one cannot not communicate’), the Baroque age tended to articulate the equivalent experience in abundant metaphors of theatricality and indulged in a boundless sophistication of self-staging. Under the concept of sprezzatura, its most admirable side had already been exhaustively discussed in Baldassarre Castiglione’s Cortegiano (1528 ⫽ 1968). The ultimate perfection of social behavior, according to him, lay in an elegance that staged itself as if it were natural ⫺ and that he contrasted with affettazione as a style that could not help letting its self-awareness become visible. “Qual occhio e`
cosı´ cieco, che non vegga […] la disgrazia della affettazione? e la grazia in molti omini e donne che sono qui presenti, di quella sprezzata desinvoltura (che´ nei movimenti del corpo molti cosı´ la chiamano), con un parlar o ridere o addattarsi mostrando non estimar e pensar piu´ ad ogni altra cosa che a quello, per far credere a chi vede di non saper ne´ poter errare” (“Which eye is so blind that it does not see […] the awkwardness of affection? And, on the other side, the grace that many men and women among us achieve through that almost contemptuous lightness [thus it is called by many referring to the movements of the body] by which they show in their speech and
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smile and behavior that they are not concerned with anything else and by which they show to those who see them that they are not self-conscious nor can ever be confused”; Castiglione 1528 ⫽ 1968, 76). Theatricality, however, was not an exclusive preoccupation with the repression of symptoms for that selfawareness which now accompanied the acts of signifying. On the contrary, the seventeenth century abounded in elaborate ritualizations of patterns of everyday behavior ⫺ often as seemingly unimportant as the modes of address (Burke 1987, 90). Only slowly are we becoming aware that such marked forms of everyday theatricality, far from following the model of pre-existing forms of theater, were probably the social environment which facilitated the emergence of “theater” in the modern sense. For it is literally impossible to identify an equivalent to modern “theater” among the multiple medieval and early modern forms of performance displaying the human body. The theater-curtain, the invention of independent theaterplots, the professionalization of theater-writers, theater-actors and theater-directors are cultural phenomena which only gained a clear institutional profile during the decades following 1550. Stephen Greenblatt has shown how eagerly Shakespeare, in turn, embraced what he had perceived as the theatricality of contemporary politics ⫺ in order to “energize” such everyday rituals through their re-presentation on his stage (Greenblatt 1988, 21 ff); Caldero´n’s virtuoso play with the dialectics of the stage-metaphor has become proverbial, and the character of the “pı´caro” was built on his (and the other protagonists’) capacity to perform the reality of a social role which the hero knows can never be his. But while such protagonists as Lazarillo de Tormes or Guzma´n de Alfarache are shown as being mainly concerned with representing a social status to which they had no legal access, the contemporary Castilian society was obsessed with the suspicion that beggars, by successfully adopting an appearance of poverty and even of physical mutilation, were accumulating unheard-of riches. In reaction, the bureaucracy of the Spanish State ended up expediting documents that confirmed the status of “sincere and legitimate poverty” (Real Ramos 1988). The threshold between a ‘theatrical’ sign conception (which would finally give up the presupposition of a ‘reality’ as its counterpart) and a practice of signifying dependent
on the firm belief in a sphere of reality lying outside the subject’s manipulative power, may mark an interesting possibility for historical differentiation. From this perspective, it appears as a quite convincing hypothesis that the decay of the Spanish Empire during the seventeenth century was caused, at least in part, by the overwhelmingly successful denial of military defeats and subsequent economic crises. For too long the State and its politicians were acting as if such disasters had never occurred. In this context it may be symptomatic that, for many of Caldero´n’s heroes, the concern with maintaining their honor in the social sphere regularly prevails over potentially divergent personal certainties: In El me´dico de su honra a husband kills his wife after she has fallen under public suspicion of adultery ⫺ although he knows for sure that such blame is unjustified. Similarly, in Quevedo’s picaresque novel El Busco´n there is no reality to be found ‘beyond’ the protagonists’ masks and disguises and, in the last instance, Gracia´n’s rhetoric does not seem to reckon with an ultimate horizon of truth (Gumbrecht 1990, 426 ff). Only a few decades later (and perhaps in a not altogether different political environment), Leibniz brought the repertoire of mathematical symbols almost to its present-day level of complexity (Struik 1987, 88 ff) and based his “lingua universalis”, in opposition to Descartes’ concern with empirical evidence, exclusively on its inherent logical consistency (Dhombres 1978, 167 f). After the integration of everyday practices of calculation with mathematical notation reached around 1500, this was a decisive step in the opposite direction, because it laid the groundwork in mathematics for the emancipation of a pure sign-code from the aspects of its practical application. The signs had learned to exist without a reference to ‘reality’ long before the reality of this reference began to be questioned (cf. Art. 62 § 7.). Perhaps the France of Louis XIV was the one European culture during that historical period never to cross the threshold towards a total loss of the empirical concept of reality. Foucault’s insistence on the referential functions of languages in the “episte´me´ classique” could serve as a confirmation for this view (1966, 86 ff); the practice of anchoring political representation in the quasi-divine presence of the absolute monarch’s person furnishes us with further proof (Apostolide`s 1981, Goubert and Roche 1984, I. 207 ff).
73. Sign conceptions in everyday life
French mathematicians seem to have been more concerned with the applicability of their theories than, for example, Leibniz was. The practical aspect of their thinking could refer to the mechanization of production, as in Descartes’ case, to the nobility’s passion for gambling in dice and cards, which indirectly motivated Pascal’s interest in a theory of probabilities, or, as early as the eighteenth century, to the need of the emerging life-insurance industry for reliable techniques of prognostication (Struik 1987, 103). In contrast to Spain, where the proportion of precious metal contained in the currency was constantly reduced to an amount far below its nominal value (which was not yet mentioned on the coins’ surface) and without such progression ever leading to an understanding of the logic of inflation, the French crown interrupted this practice from 1726 onward, and thus achieved long-term monetary stability. Accordingly, the institutional separation between the economic signifier and its signified through the introduction of papermoney did not become generally accepted in France before the age of the Revolution (Goubert and Roche 1984, I. 58 ff). But if the ancien re´gime showed itself comparatively reluctant in letting the horizons of reference for its signs vanish, it was certainly no less prolific than other kingdoms in its sphere of representation and theatrically (cf. Fig. 73.4 on plate I). What characterizes the court of Versailles in our retrospective is both the constant reference to the State as its signified and the playfulness of its signifiers. Under the reign of Louis XIV, the individual variety of the mercenaries’ clothes was for the first time transformed into a system of uniforms representing, as a complex code, the homogeneity and the hierarchical structure of the French army. The bows and clasps, literally counting by the hundreds, the lace and the silk in which the King’s body was wrapped during the early years of his rule suggested an association with his youthfulness, while his huge wig was meant to connote the lion as king of the literary animal realm (Thiel 1985, 227 ff). What set this style of representation apart from the tradition in courtly self-staging was the dividing line and the distance which it established between Louis and his innermost environment on the one side and the crowds of admiring spectators on the other. For centuries the “entre´e royale”, the ritual of the King’s entering and taking possession of the cities belonging to
1417 his realm, had included the active participation of the townspeople and its officers; from 1662 on, it was substituted by a complex and thoroughly organized spectacle on the “place du Carroussel”, whose actors represented the allegory of a cosmology centered around the French monarch (Apostolide`s 1981, 149). While the distance between Versailles and the capital transformed even the court’s everyday life into an ongoing theatrical event, the feasts held in the royal castle and its garden, which included forms of performance ranging between knightly tournaments and the new genre of come´die ballet, were organized rather to impress the King’s guests than to make them part of his world. During the reign of Louis XIV ⫺ and through most of the eighteenth century ⫺ the custom remained alive to adorn dresses and outfits (sometimes even wigs) with emblems to be deciphered (Thiel 1985, 154, 178). This leads us to a final aspect of theatricality as a historically specific style of signifying. For only by keeping in mind the fact that books were not the normal ⫺ or at least not the original ⫺ place for the presentation and reading of emblems, may we understand the Praefatio to Alciatus’ Liber emblematum, which, after its first publication in 1531, had an almost overwhelming impact on far more than a century of European culture: “Dum pueros iuglans, iuvenes dum tessera fallit / Detinet et segnes chartula picta viros. / Haec nos festivis Emblemata cudimos horis / Artificium illustri signaque facta manu, / Vestibus ut torulos, petasis ut figere parmas, / Et valeat tacitis scribere quisque notis” (“While the ball keeps small boys busy and the dice adolescents, pictures drawn on paper fascinate even grave men. We cast these Emblems, which are artworks and signs from illustrious hand, in the hours of idleness so that all of them may be used either by being attached in the form of laces to clothes and in the form of little shields to hats, or by provoking the writing of silent notes”; Alciatus 1531 ⫽ 1985, 26). What distinguished emblems from the ‘hieroglyphs’ that had been used analogously as elements of apparel during the Renaissance (cf. Art. 63 § 3.1.3.), was the relatedness of their pictorial contents to segments of generally accepted reality-layers. In contrast, the hieroglyphs, similar in this regard to the “rebus” of our times, had tended to inscribe riddles into their clearly unrealistic sign-configurations, intentionally complicating their reading
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
through strategies of concealment. The emblematic picture was usually framed by a single concept (“superscriptio”, “motto”) and a longer interpretation (“subscriptio”) that converged in the function of stabilizing an intended meaning and assuring its understanding. We know neither exactly why the emblems came to progressively occupy the cultural place of the hieroglyphs from the early sixteenth century on, nor why it turned out to be so fascinating to produce, read and wear them. One might speculate that, if in the hide-and-seek play of the hieroglyphs, Renaissance culture was exalting the newly discovered mastery of the subject as agent of interpretation, the emblems, through their double framing, may have functioned as a symptom of the subsequent concern that both spheres would end up drifting apart, once the assumption of a homogeneity between the phenomena and their meanings was definitively given up. Analogous to the visualization of the State through the dazzling shine of royal courts, the wearing of emblems might have been a half-conscious act of conjuring up the unity between a world of objects and the languages of their representation.
5.
Sincerity, expression and the risks of representation
There were few Frenchmen in the times of Louis XIV who knew the court so intimately as Jean de la Bruye`re ⫺ and there were even fewer among them who maintained so much intellectual and emotional distance. Like Castiglione, he found inacceptable any form of affectation, but unlike him, La Bruye`re would never have approved of sprezzatura, the successful feigning of naturalness. His observation of the court and his reactions to it seem to be based on an unarticulated ideal of ‘well measured’ behavior that could not be produced by artifice. Therefore La Bruye`re’s description of the awareness and control in the courtiers’ actions turned out deeply critical: “Un homme qui sait la cour est maıˆtre de son geste, de ses yeux et de son visage; il est profond, impe´ne´trable; il dissimule les mauvais offices, sourit a` ses ennemis, contraint son humeur, de´guise ses passions, de´ment son coeur, parle, agit contre ses sentiments. Tout ce grand raffinement n’est qu’un vice, que l’on appelle faussete´, quelquefois aussi inutile au courtisan pour sa fortune, que la franchise, la since´rite´
et la vertu” (“A man who knows the court is capable of controlling his gestures, his eyes and his face; he is profound and impenetrable; he conceals his bad intentions, smiles to his enemies, masters his temper, disguises his passions, denies his heart, speaks and acts against his feelings. All this great sophistication is but the vice we call dissimulation ⫺ and sometimes it is as unefficient for the courtiers’ fortune as frankness, sincerity and virtue”; La Bruye`re 1688 ⫽ 1957, 214). Whereas La Bruye`re deplored the inefficiency of sincerity and virtue at court, he did receive some comfort from his impression that the vice of dissimulation was not necessarily more successful. But it saddened him to see that courtly behavior, like a game of chess, was regularly ‘won’ by those who were merely clever ⫺ or simply lucky. At any rate, the implications of the concept ‘sincerity’ became much more complex in the Maximes of his contemporary La Rochefoucauld. For him the very intention to be sincere inevitably transformed sincerity into a strategy that was as ethically contemptible as any other act of an all too carefully prepared self-presentation: “La since´rite´ est une ouverture de coeur. On la trouve en fort peu de gens, et celle que l’on voit d’ordinaire n’est qu’une fine dissimulation, pour attirer la confiance des autres” (“Sincerity is an opening of the heart. It can only be found with very few people and in its usual form it is but a highly developed dissimulation which is meant to produce trust in other persons”; La Rouchefoucauld 1678 ⫽ 1964, 411). If true sincerity, however, could not be achieved through conscious self-presentation, La Rouchefoucauld proposed as its only valuable substitution the eagerness to vacate the subject-position as an active position; he thereby expected the subject to transform him or herself into the object of a moral gaze: “C’est eˆtre ve´ritablement honne`te homme que de vouloir eˆtre toujours expose´ a` la vue des honneˆtes gens” (“The truly honest man is he who wants to be continuously exposed to the gaze of honest people”; 430). This was a much subtler perspective than the one implicit in La Bruye`re’s complaints about the sociability of the court or than, as late as 1745, the position of a Spanish treatise concerning the Molestias de trato humano, where the simple absence of bad intentions came close to a definition of moral quality: “Solo en el hombre bueno no cabe el dolo, la simulacio´n, ni el engan˜o” (“Only the good man is
73. Sign conceptions in everyday life
free from ruse, dissimulation and deceit”; Juan Crysostomo 1745, 255). Through the distance which they kept from the spheres of everyday interaction and through their stoicism, the Moralistes became forerunners of the eighteenth century Enlightenment, prefiguring the philosophe as its central role (Gumbrecht and Reichardt 1985). As the philosophe, according to Diderot and d’Alembert’s Encyclope´die, combined the solitude of systematic reflection with the strong moral commitment to play a role in the social world, it became his task ⫺ and his problem ⫺ to reintegrate aspects of reflexiveness and theatricality, the two forms of signifying which had been diverging during the age of Baroque. Under this constellation the Moralistes’ debate about the ambiguities of sincerity found a lively continuation. Human actions and the human body were to be interpreted as ‘expressions of the soul’ (today we would rather say ‘as expressions of personal identity’), but this was only believed possible in those cases where the particular expressions were unaware of themselves. Paradoxically therefore, the philosophes relied on the others’ expressivity as a precondition for their everyday interpretations and, at the same time, found the desire to declare one’s soul illegitimate as soon as it turned into selfpresentation (Assmann 1986). Of course they were constantly accused by their enemies ⫺ and not always without reason ⫺ of exempting themselves from the very norm which they so insistently propagated. In the same historical situation, the reading of the human body as an expression of the soul was cast into a method ⫺ and almost into a discipline ⫺ by Johann Caspar Lavater’s Physiognomische Fragmente zur Befoerderung der Menschenkenntnis und Menschenwuerde (1775⫺1778): “Da dieses Wort [i. e., ‘Physiognomik’] so oft in dieser Schrift vorkoemmt, so muß ich vor allen Dingen sagen, was ich darunter verstehe, naemlich: die Fertigkeit, durch das Aeusserliche eines Menschen sein Innres zu erkennen, das, was nicht unmittelbar in die Sinne faellt, vermittelst irgend eines natuerlichen Ausdrucks wahrzunehmen. In so fern ich von der Physiognomik als einer Wissenschaft rede, begreif’ ich unter Physiognomie alle unmittelbaren Aeusserungen des Menschen. Alle Zuege, Umrisse, alle passive und aktive [sic] Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Koerpers, alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er
1419 seine Person zeigt, ist der Gegenstand der Physiognomik” (“As this word [‘Physiognomik’] so frequently appears in this treatise, I should define it; I intend it to mean the capacity of recognizing a man’s interior life through his exterior appearance, of perceiving that which does not materialize in any element of his natural expression. Inasmuch as I call this a science, I subsume under physiognomy any immediate expression of a human being. The object of this science comprehends all the features and contours, all the passive and active movements, all the positions and situations of the human body, in short, everything whereby human beings can be immediately noticed as either passive or active and whereby they become visible as persons; Lavater 1775⫺78 ⫽ 1943, 124; cf. Art. 69 § 3.2.). Lavater’s insistence on the immediacy of the expressions to be interpreted refers, of course, to the presupposition of their sincerity ⫺ and precisely this implication made his enterprise so problematic (Blumenberg 1981, 199 ff). Not by coincidence, it became the main object of criticism in an audience granted to Lavater by the Austrian Emperor Joseph II, one of the rois philosophes of the European Enlightenment: “Ich gebe Ihnen gerne zu, dass man vieles von den Geisteskraeften des Menschen, seinem Humor, seinem Temperamente, seinen Leidenschaften aus seinem Gesichte erkennen koenne, aber die Ehrlichkeit, o die Ehrlichkeit ist sehr schwer aus dem Gesichte zu erkennen. Wahrlich, da muessen Sie sich wohl in acht nehmen! Der Verstellungskuenste giebt es gar zu viel” (“I gladly concede that many of the intellectual capacities of human beings, their humors, their temperaments, their passions can be recognized through their face; but their sincerity ⫺ oh how difficult it is to see their sincerity in their face. Here you must be truly cautious! There are so many forms of deceit”). It was probably not only out of politeness to the emperor that Lavater in turn basically conceded him this objection. He maintained, however, the expectation that it was possible to indirectly identify sincerity through a configuration of the expressions of other intellectual and emotional faculties: “Es giebt ein gewisses Maass von Kraft, von Weisheit, Guete, das so gleichmaessig gemischt sein kann, dass sich Ehrlichkeit beynahe daraus ergeben muss […]. Ein grosses Maass von Guete und Wohlwollen und Festigkeit ist in einem Gesichte schwerlich zu verkennen. Wo das ist, kann keine Falschheit und Bosheit zugleich sein.
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Fig. 73.5: “The Five Orders of Perriwigs”. Copperplate engraving by William Hogarth, London 1761. This is a caricature of the Orders of Perriwigs issued during the reign of King George II (1760). Hogarth presents them as “five orders” with reference to the Orders of columns (cf. Fig. 69.4). In the first line one sees the wigs of bishops and priests, in the second those of the older peers and municipal councillors, followed by those of lawyers, excentrics and, finally, court ladies (cf. Jedding-Gesterling and Brutscher 1988, 130).
Und weh dem Menschen, der diese Zuege von Ehrlichkeit und heiterer Menschenliebe in einem offnen freien Gesichte nicht zu erkennen und lieb zu gewinnen faehig ist” (“There is a
certain amount of strength, wisdom and goodness which can be so harmoniously combined that it almost necessarily yields sincerity […]. It is hard to misinterpret a
73. Sign conceptions in everyday life
great amount of goodness and benevolence and firmness in a face. It cannot dwell together with hypocrisy and maliciousness. And alas for him who is not capable of recognizing and cherishing these traces of sincerity and serene philanthropy in an open and frank face!”; 244 f). This cult of sincerity and the complementary obsession to discover and decipher ‘expressions of the heart’ everywhere certainly contributed to the steep career by which written correspondence became the favorite medium of communication during the eighteenth century ⫺ and, as a textual form, a favorite device of the most successful novelists. The connotations of immediacy and secrecy which it implied made it an almost natural space for articulating the most intimate thoughts and feelings. On an institutional level, its dominance had been preceded, after 1500, by a movement of centralization and systematization of the then profitable postal services through the State. Two hundred years later, the aspect of transmission which had been prevailing in the practice of correspondence since Roman Antiquity, leading to a definition of letters as “silent messengers”, was substituted by the all-dominating expression-paradigm that made correspondence appear to be “the written articulation of thoughts” (Fontius 1988, 274). In the same context, fashion developped a tendency to use its elements and colors as signifiers in a complex code for the expression of tender feelings (Thiel 1985, 252). Soon, however, the example of Werther, perhaps the most worshipped literary letter-writer in the age of Enlightenment, transformed this gallant language of fashion by imposing upon it the moral norm of sincerity. The simplicity and sobriety of Wertherkleidung set a new trend of clothing for the sentimental youth ⫺ which could not have been at a greater distance from both the display of emblems as part of the costume and the exuberance of seventeenth century fashion. What we perceive as the paradoxical unity of a desire to read expressions and a prohibition of the will to express oneself was a leitmotiv in the work of Jean-Jacques Rousseau (Starobinski 1971). The vehement attack against the institution of theater in his Lettre a` d’Alembert (1758 ⫽ 1967) is grounded in the moral condemnation of the very professional skill which, only twenty years later, was enthusiastically celebrated in Diderot’s Paradoxe sur le come´dien (it is perhaps symp-
1421 tomatic that this latter treatise was not published before 1830). Rousseau’s phobia of theatricality as deceit was activated by the comedians’ capacity to present emotions whose referent were not their own feelings: “Qu’est-ce que le talent du come´dien? L’art de se contrefaire, de reveˆtir un autre caracte`re que le sien, de paraıˆtre diffe´rent de ce qu’on est, de se passionner de sang-froid, de dire autre chose que ce qu’on pense aussi naturellement que si l’on le pensait re´ellement, et d’oublier enfin sa propre place a` force de prendre celle d’autrui. Qu’est-ce que la profession du come´dien? Un me´tier par lequel il se donne en repre´sentation pour de l’argent, se soumet a` l’ignominie et aux affronts qu’on ache`te le droit de lui faire, et met publiquement sa personne en vente. J’adjure tout homme since`re de dire s’il ne sent pas au fond de son aˆme qu’il y a dans ce trafic de soi-meˆme quelque chose de servile et bas” (“What is the specific talent of the actor? The art of deceit, of adopting a character which is not his own, of appearing different from what he really is, of becoming passionate with cool blood, of saying something different from what he thinks as naturally as if he really were thinking it and, finally, of forgetting one’s own place in order to occupy somebody else’s. What is the profession of the actor? A craft by which he presents himself in a representation for money, by which he yields to the ignominy and the insults inflicted on him by those who buy the right to do so and by which he publicly puts his person on sale. I implore all honest men to say whether they do not feel, deep down in their soul, that there is something vile and servile in such self-marketing”; Rousseau 1758 ⫽ 1967, 163). To this horror-vision of public representation, Rousseau opposed the tender memory of an evening dance in his native Geneva where the individual citizens had spontaneously joined up to constitute a public sphere that blurred the distinction between actors and spectators and, as we may also conclude, between the signifiers and the signified: “Une danse de gens e´gaye´s par un long repas semblerait n’offrir rien de fort inte´ressant a` voir; cependant, l’accord de cinq ou six cents hommes en uniforme, se tenant tous par la main […] formait une sensation tre`s vive qu’on ne pouvait supporter de sang-froid. Il e´tait tard, les femmes e´taient couche´es, toutes se releve`rent. Bientoˆt les feneˆtres furent pleines de spectatrices qui donnaient du nouveau ze`le aux acteurs; elles ne purent tenir longtemps a` leurs feneˆtres, elles descendirent; les maıˆtresses
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venaient voir leurs maris, les servantes apportaient du vin, les enfants meˆmes e´veille´s par le bruit accoururent demi-veˆtus entre les pe`res et les me`res. La danse fut suspendue; ce ne furent qu’embrassements, ris, sante´s, caresses. Il re´sulta de tout cela un attendrissement ge´ne´ral que je ne saurais peindre, mais que, dans l’alle´gresse universelle, on e´prouve assez naturellement au milieu de tout ce qui nous est cher” (“A dance of some people who are in good humor after a long meal would not seem to have anything interesting to offer to the eye; but the harmony among five or six hundred men in uniform holding each other by their hands […] caused a very lively impression which I was incapable of experiencing with cold blood. It was late and the women had already gone to bed ⫺ but they all got up again. Soon the windows were crowded with female spectators who inspired the actors with new energy, and it was not long before they came down; the wives joined their husbands, the maids brought wine and, woken up by that happy noise, even the half-clothed children came running to their fathers’ and mothers’ company. The dance was interrupted; they were all embraces, smiles, toasts, hugs. There was a universal endearment which I could never describe but which, in moments of joyfulness, we often experience while among those we cherish”; 248). Rousseau’s influence on the invention of a new political culture during the French Revolution, particularly during its two most radical years between 1792 and 1794, is notorious ⫺ but, at the same time, this political culture (which our retrospective classifies as the culture of political representation) was in sharp contrast to Rousseau’s constant moral concern as articulated in the Lettre a` d’Alembert. After all, it had been Rousseau’s central argument in Du contrat social that only small republics, through the institution of popular assemblies, could avoid the evil of political representation by the physical co-presence of their citizens. We know (mostly from eighteenth century criminal reports) in which kind of concrete social experience Rousseau’s dream of such ecstatic immediacy must have been grounded: Face-to-face interaction was so predominant in the life of his contemporaries that they very often did not know ⫺ and did not have to know ⫺ the names of those persons with whom they interacted on a daily basis (Farge 1979, 105). The expectation that similar conditions for consensus, by virtue of a shared ‘human’ nature and a soli-
darity articulated in the ideal of fraternite´, could be repeated on a national level was the assumption that ultimately made the French Revolution’s ⫺ and other European revolutions’ ⫺ experiments in radical democracy fail. Its cultural politics were therefore characterized by the ambiguity between an impatience caused by the lack of spontaneous collective consensus and a reluctance to use techniques of opinion-building, an ambiguity which mimicked the ambivalence of expression as (morally good) readability and as (morally bad) self-staging. Manipulation through the genre of caricature, for example, was quite regularly accompanied by lengthy ethical legitimations. If this genre had been used in the past to fulfill the aristocracy’s goals of repression, remarked the deputy Lequinio in a parliamentary speech of 1792, it was only fair to now profit from it for the sake of enlightenment and education (Herding and Reichardt 1989, 17). The main historical stage, however, on which a longstanding anti-ritualistic undercurrent (Burke 1987, 223 ff) and the eighteenth century ideal of expression lost their battle against the need for public visualization and political representation were the civic feasts of the French Revolution. Their meticulous programs, mostly invented by the painter Jacques-Louis David, showed that, with the failure of a spontaneous large-scale consensus and with signifiers and signified not converging, an almost repressive style of staging was required. Detailed subscriptiones had to explain the intended meanings of the symbols displayed, and complex allegorical scenes were meant to replace a harmony of collective expression which the citizens, at least after 1790, no longer felt an urge to produce. More and more, they found themselves in a situation of mere spectators ⫺ which was ironically similar to the role they had been assigned under Louis XIV. At the same time, the Parliament found itself entangled in heated debates over the question of how it might be possible to create a civic religion for the propagation of morality and to simultaneously avoid the representational masquerade of rituals (Furet and Ozouf 1988, 609). This discussion probably reached its apex on the occasion of the Feˆte de la Raison in November 1793, where a lightly-dressed actress, as an allegory of Reason, had been given preference over a wooden sculpture (because this latter solution was found remindful of
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Fig. 73.6: “Heinrike Dannecker”. Painting by G. Schick, Berlin 1802. Woman in a liberated posture, clothed with a dress in the style (and the colors) of the French Revolution (cf. Jacobeit and Jacobeit 1986, 136).
the Christian cult of the Saints). But would her body, especially her breasts, which were visible through the ‘Roman’ dress, not awaken the spectators’ uncivic imaginations and, through such imagination, their sexual desire? Whenever symbols of femininity made concretely evident both what the eighteenth century experienced as the dangers of representation and the impossibility of renouncing it, the revolutionary discourse provided a standard argument (whose persuasiveness we may rightfully doubt): denying its sexual appeal, it explained the beauty of the female body as grounded in its visible appropriateness for the ‘civic’ functions of procreation and nursing (Baxmann 1989, 64 ff). In the end, the anti-representational attitude of the radical revolutionaries, which
was, as we have seen, based on the desire to bring the human psyche back into the public sphere by imposing ‘sincerity of expression’ as a norm, produced more of the symbols and rituals of modern politics than any posterior strategy of manipulation. The political system’s binary code of the ‘Right’ and the ‘Left’ emerged out of a tendency to avoid the space which had been occupied by the representatives of the Nobility and the Clergy in the initial assembly of the E´tats Ge´ne´raux (Furet and Ozouf 1988, 404 ff). As a combination between the colors red and blue, worn by the insurgents of July 1789, and the white ground in the arms of the Bourbon monarchy, the Tricolore, which, during the nineteenth century, became the most successful model for national flags, had originally
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served to suppress emblems of royal power. For a short while, even fashion had fallen prey to the value of e´galite´ and the inversion of its sign-phobia into an obsession with collective representation. Not only was the clothing of the poor exalted as an expression of morality in the image and the concept of the sans-culotte, in 1793 Jacques-Louis David even received the State commission to design a “national costume” (Thiel 1985, 282).
6.
State-representation and the resistance of opacity
It has been said that the works of the Ide´ologues ⫺ who, with strong support from the State, emerged as the dominant group of intellectuals in late and post-revolutionary France ⫺ were primarily concerned with the confirmation and stabilization of a relation of correspondence between language and the world, whereas Kant’s critical writings were testing the limits of the paradigm of representation (Foucault 1966, 255). If this is true, then we have to locate the politics of communication in Napole´on Bonaparte’s Empire clearly on the latter side. They inaugurated a double-levelled practice of filling the public sphere with manifold representations of the State ⫺ and of efficiently undermining the functioning of the public space. This structure may be regarded as characteristic for gestures of State-interventions in the sphere of communication up to the present day. As far as the undermining is concerned, the Empire narrowed down the sheer extension of the public sphere by setting a limit to the number of communicative institutions, such as newspapers, journals and theaters, that had been proliferating during the early years of the Revolution. For the first time, an intelligence service was institutionalized that systematically controlled the information and opinions circulating in the shrinking public space. Imperial politics reduced the functions of parliaments and elections to a mere post factum approval of Napoleon’s decisions. The stability of his State grounded itself on an innovative style of supervision which was invisible and anonymous, only articulating itself in situations that seriously threatened the survival of the entire political system (Markov 1985, 204 ff). What remained was but a modest glimmer of the Revolution’s utopian intentions. One should not forget, however, that a serious critique of the Revolution’s failure to make such hopes come true would have to demonstrate that they were at all re-
alistic in the first place. Perhaps, instead of actively destroying an achievement of democracy, Napoleon was rather the executioner of a collapse that would have occurred with or without him. On the side of its visibility, the Empire was eager to remove certain architectural memories of the Revolution (Markov 1985, 202 f) and to invent and institutionalize a new signcode for the exclusive representation of the State which, heteroclite as it was in its origins, strongly emphasized connotations of homogeneity and continuity. Some days before the sumptuous Imperial coronation of October 1804, the hope was even expressed that the constant change of fashions, whose dramatic acceleration during the revolutionary years had been much commented, might now come to a standstill: “Les modes qui, depuis plusieurs anne´es, avaient l’inconve´nient de se croiser sans cesse, d’eˆtre aussitoˆt remplace´es que connues, et souvent de rester imparfaites, vont tre`s probablement prendre une marche re´gulie`re et redevenir belles et majestueuses” (“The trends of fashion which, in the past few years, were constantly changing and were regularly substituted as soon as they became known, are now likely to return to a more regular rhythm, to their former beauty and dignity”; Aulard 1923, 326). Most of the standard elements in the representation of the French State until the present day were institutionalized during the Empire: the formulaic use of the motto “Liberte´, Egalite´, Fraternite´”, to highlight its revolutionary origins, as well as the Code civil, the system of education, a bureaucracy of civil servants and the Legion d’Honneur. But the fact that, in France, institutions representative of the new national State emerged during the first decades after 1800 was not at all an isolated case. Although its elements go back to the days of the War of Independence, the usage of the ‘Star Spangled Banner’ as their national flag did not become regularized in the United States of America before the 1810’s, from which same decade the national anthem also dates (Guenter 1990, 38 ff). In England, as well as in Germany and France, these years saw the rise of a new prison architecture, whose fac¸ades displayed the severe emblems of State power and whose interior structures were designed to transform the prisoner’s body into the object of an anonymous and penetrating gaze of the State and of public morality (Bender 1987, 201 ff). This awesome mind-controlling efficiency of the ‘public eye’ no longer had to rely on the sub-
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ject’s willingness to make his or her soul readable through acts of expressive sincerity. Around the turn of the eighteenth century, however, and at first hidden under an appearance of continuity through the reference to cultural codes from classical antiquity, a new style of furniture, fashion and body-presentation emerged, one that opposed the material opacity of bodies and other objects to the general expectation of their expressiveness (and perhaps also to the State’s surveying systems). Visiting Paris between November 1802 and March 1803, the Prussian conductor Johann Friedrich Reichardt was at first scandalized to notice that the attention of theater-audiences focussed primarily on the actresses’ de´collete´; later, he seemed surprised (if not excited) by the experience that a distinguished lady received him for a pianolesson in her ne´glige´; and he ended up being simply pleased by the perfection of Madame de Recamier’s body as displayed under a transparent tunic, and by the sophisticated interiors of her chambre a` coucher: “Das erste, was Madame Recamier mit jeder neu anlangenden Dame vornahm, war, dass sie sagte: ‘Voulez vous voir ma chambre a` coucher?’, sie dann unter den Arm fasste und nach dem Schlafzimmer fuehrte. Dass ein Schwarm von Herren, jung und alt, diesem Zuge jedesmal folgte, darf ich Dir nicht erst sagen. Dieses Schlafzimmer mit seinem daranhaengenden Bade ist aber auch das eleganteste, das man sehen kann […]” (“The first thing that Madame de Recamier did with each newly arrived female guest was to ask her: ‘Would you like to see my bedroom?’, to grasp her by the arm and to take her to the bedroom. Unnecessary to say that each time they were followed by a whole cohort of younger and older men. But it is true that this bedroom with its contiguous bathroom is the most elegant thing that one can possibly see […]”; Reichardt 1802⫺1803 ⫽ 1981, 71). What follows is a description of Madame Recamier’s bed and bathing-tub, of closets and wallpapers, of mirrors and curtains, so detailed that it could have served for a readership of professional architects. As Reichardt’s discourse seems to imply, such publicizing of the intimate private sphere was now becoming an upper-class ritual. It probably counted on the still existing erotic connotations of the space and the objects disclosed, but, by bringing to the surface what had been institutionally concealed for centuries, the new lifestyle implied a provocative act of desemiotization. A sim-
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Fig. 73.7: Figures to be produced by ice-skaters. Drawings from the Versuch einer Enzyklopaedie der Leibesuebungen (“Attempt at an encyclopedia of physical exercise”) by Gerhard U. A. Vieth, 1795 (cf. Eichel 1984, 134).
ilar reception was facilitated by the paintings and etchings that Francisco Goya created after the year 1793 ⫺ when a mysterious illness had left him deaf. The secret appeal of the body shown in La maja desnuda (regardless of whether its model was or was not the Duquesa de Alba) may well lead to the final conclusion that it does not bear any secret, nor articulate any expression, nor open any interpretative depth. It is even more obvious that Goya’s own subscriptiones to the eighty etchings entitled “Los caprichos” (1799) were carefully (and sometimes contemptuously) devised to make any effort of deciphering fail. This is true for its most famous piece (number 43) whose comment “El suen˜o de la razo´n produce monstruos” is irreducibly ambiguous, containing two opposite meanings:
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IX. Von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert
‘When Reason sleeps, the monsters awake’ and ‘Dreams of Reason generate monsters’. For an even more aggressive degree of desemiotization, which left absolutely nothing to be interpreted, we may invoke number 69 of the Caprichos, where a half naked, scrawny old man holds the body of a child by the legs, appearing to light a fire with a fart that comes out of its anus; the comment is “sopla” (‘he/she/it blows’ or ‘blow!’). Finally, in this context, it is certainly legitimate to ask whether the concept of the sublime as defined in Kant’s Third Critique, by the emphasis it lays on the disproportion between certain objects of experience and the faculties of the human mind, was not an early reaction to the emerging impression of the world’s opacity and thus an homage paid to the limits of expression and interpretation: “[…] das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung moeglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen laesst, rege gemacht und ins Gemuet gerufen werden kann” (“the sublime, in the strict sense of the word, cannot be contained in any sensuous form, but rather concerns ideas of reason, which, although no adequate presentation of them is possible, may be excited and called into the mind by that very inadequacy itself which does admit of sensuous presentation”; Kant 1790 ⫽ 1968, 330). It is worth recalling, however ⫺ and there can hardly be more convincing evidence than the existence of semiotics as an academic discipline ⫺ that the threshold in the European history of sign conceptions which was crossed after 1800 did not lead to an apocalyptic breakdown of signification. Rather, the culture of Modernity has established itself as an interplay between the three spheres of a withdrawal, an active production and a desemiotization of representations. Unless one believes in the possibility of intentionally changing such a scenario (but, if it were feasible, in whose name and for which needs?), all that remains to be said about this situation is that its complexity may well have been the inspirational force behind the emergence of semiotic science (cf. Art. 88).
7.
Selected references
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X. Geschichte der Semiotik im Abendland V: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart History of Western Semiotics V: From the 19th Century to the Present 74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Einleitung: die Universalität des Zeichens und die Idee der Semiotik 2. Kants Lehre vom Zeichen 3. Fichte 4. Schelling 5. Hegel 6. Hegel vs. Frege 7. Erkenntnistheorie und Zeichenarchitektonik: Peirce 8. Die Semiotik im Rahmen der Hermeneutik: Schleiermacher und Dilthey 9. Dilthey und der Modellbegriff der Naturwissenschaften 10. Cassirers Synthese 11. Semiotik im Rahmen der naturalisierten Erkenntnistheorie (Helmholtz, Lotze) und die Problematik des naturalisierten Zeichenbegriffs 12. Husserls intentionale Semiotik 13. Meinongs Gegenstandstheorie 14. Husserls intentionale Einheit von Sprache und Akt 15. Searles Intentionalität als Repräsentation 16. Repräsentation als Information: Dretskes Theorie 17. Die Relevanz des Informationsbegriffs und die Idee der Cognitive Science 18. Der Strukturalismus 19. Die Semiotik der Warenwelt bei Marx 20. Die Dekonstruktion der Subjektivitätsphilosophie und ihre semiotischen Konsequenzen: Heidegger und Nietzsche 21. Schelers anthropologische Semiotik 22. Mead: Symbol und soziale Interaktion 23. Peirce und die soziale Dimension der Zeichen 24. Abschluß 25. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung: die Universalität des Zeichens und die Idee der Semiotik
Umberto Eco schreibt in seinem Buch Zeichen: „Seit Kant scheint, um die Wahrheit zu sagen, die moderne Philosophie dem Problem
des Zeichens auszuweichen“ (Eco 1981, 132). Eine Darstellung, deren Gegenstand die Entwicklung der Semiotik in der Allgemeinen Philosophie vom 19. Jahrhundert bis heute ist, wird sich natürlich, soll der Sinn eines solchen Unterfangens nicht schon im Ansatz verloren gehen, mit diesem vernichtenden Urteil auseinandersetzen müssen. Eco kann indes nicht die ganze moderne nachkantische Philosophie meinen, denn Namen wie Peirce (1839⫺1914), Morris (1901⫺1979), Cassirer (1874⫺1945), die Leitfiguren in der Entwicklung der Semiotik der Neuzeit, tauchen doch auch in jeder Philosophiegeschichte auf. Andererseits weist Eco im selben Band darauf hin, daß man die Meinung vertreten kann, daß diesem Ausweichen der modernen Philosophie vor dem Problem des Zeichens schon in der Philosophie des deutschen Idealismus eine „Theorie der geistigen Aktivität“ gegenüberstehe, die „gänzlich semiotisch geprägt ist” (ebd.). Wie ist nun dieser Widerspruch zu erklären? Handelt es sich überhaupt um einen solchen? Dieser Widerspruch kann sich doch auch dadurch auflösen, daß das Zeichen als Zeichen in zahlreichen Strömungen der Philosophie nur deswegen keine besondere Rolle gespielt hat, weil alles ein Zeichen ist. In der Tat schreibt z. B. der philosophierende Dichter Novalis (1772⫺1801) im „Allgemeinen Brouillon“: „Der Mensch spricht nicht allein, auch das Universum spricht, alles spricht, unendliche Sprachen“ (Novalis 1789⫺90, 267). Das Weltganze wird dem so Gestimmten entsprechend auch „eine große Schrift“ (Novalis 1800, 79). Novalis fügt als Verweis auf die Herkunft dieser Idee die „Lehre von den Signaturen“ (Novalis 1789⫺ 90, 267) an. Die Tradition des Großen Buchs
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
der Natur ist hier noch ganz lebendig (vgl. Art. 62 §§ 6.⫺8.). Aber nicht nur die Natur ist in dieser romantischen Betrachtungsweise zeichenerfüllt, auch die Geschichte. So hat schon der die Romantik stark beeinflussende Hamann (1730⫺1788) geschrieben: „Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyffern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nötig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist“ (Hamann 1758, 308). Natur und Geschichte besitzen also in dieser Sicht als „große Schrift“, als kodiert in Chiffren, den Charakter der Lesbarkeit: sie sind durch und durch semiotisch. Ihre Erkenntnis ist demgemäß auch vergleichbar der Entschlüsselung eines Kodes. Wir werden gegen Ende unserer Darstellung eine moderne Version dieser Auffassung in der Semiologie des Strukturalismus wiederfinden. Das von Eco konstatierte Ausweichen der Philosophie vor dem Problem des Zeichens, seine Behandlung als quantite´ ne´gligeable, ist also bereits in der so philosophisch inspirierten Romantik zur Universalsetzung des Zeichencharakters umgestaltet. Zeichen zu sein (Schrift oder Chiffre) wird in dieser Sichtweise zur ontologischen Grundbestimmung des „Seins des Seienden“ (vgl. Art. 67 § 4.3). Wir müssen erneut fragen: handelt es sich bei den beiden zitierten Aussagen Ecos wirklich um einen Widerspruch? Und wir werden sagen müssen: Es ist doch klar, da wo die Differenz von Zeichen und Bedeutung gänzlich aufgehoben ist zugunsten einer Art universeller Plastizität, in der alles Zeichen (für alles) sein kann, wo die Zeichensprache wiederum nur die allgemeine Idee einer Zeichensprache ist, der die Artikulation, die effektive Kodifikation ihrer Grammatik und Semantik fehlt, und sei diese in einem noch so weiten Sinn genommen, da wird das Dechiffrieren zu einem bloßen Programm, dessen Abschluß nicht abzusehen ist: eine jener die Romantik so sehr charakterisierenden unendlichen Aufgaben (vgl. Art. 63 § 5). In der Tat, da wo alles Zeichen ist, da gibt es keine Semiotik mehr. Und so löst sich dieser Widerspruch: „Semiotik gibt es nur da, wo man zu erklären versucht, wo und was man kommuniziert und designiert“ (Eco 1981, 132). Allerdings ist es eine gute Heuristik für unsere Darstellung, die von uns behandelte Epoche der Philosophiegeschichte als eine Gratwanderung zwischen diesen ineinander umschlagenden Extremen zu betrachten: dem
1429 Ausweichen vor dem Problem des Zeichens, d. h. seiner Abwertung und Ignorierung, und seiner Universalsetzung (vgl. Art. 33 § 4.). Die wahre Natur und Relevanz des Zeichens enthüllt sich gerade in diesem Spiel zwischen den Extremen, die in Wahrheit beide Vermeidungsstrategien des Zeichenproblems sind (siehe auch Art. 34). Wir finden in unserem Jahrhundert einen ähnlichen Extremismus in Ansehung des Zeichens als „Chiffre“ in der Philosophie von Jaspers ⫺ mit dem angesprochenen Problem des Zusammenfalls von Zeichen und Bezeichnetem, somit der Aufhebung der Semiotik. Jaspers (1883⫺1969) schreibt nämlich: „Vom Sein ist zu erfahren in den Chiffren des Daseins“ (Jaspers 1932, 130). Damit koinzidiert das Chiffre-Sein des Daseins mit seiner Faktizität und seiner Wohlordnung: „Daß das Dasein so ist, daß in ihm Ordnung und diese Ordnung ist, ist Chiffre seiner Transzendenz“ (ebd., 184). Jaspers betrachtet Existenz selbst als „Ort des Lesens der Chiffrenschrift“ (ebd., 150). Die Chiffre ist „Mittler […] zwischen Existenz und Transzendenz“ (ebd., 137). Aber es gilt eben auch: „Es gibt nichts, was nicht Chiffre sein könnte“ (ebd., 168). So sind die Natur und die Geschichte Chiffre der Transzendenz, aber auch die Freiheit und vieles andere mehr, was existentiell bedeutsam ist. Aber Jaspers versucht, gerade die Auszeichnung solcher besonderen semiotischen Gegenstände, nämlich der existentiell bedeutsamen, dadurch zu gewinnen, daß er sie vom „deutbaren“ Symbol abhebt. Die Chiffre „bringt Transzendenz zur Gegenwart, aber sie ist nicht deutbar“ (ebd., 141); dies gilt dagegen für alles, dem man normalerweise Zeichencharakter zuschreibt: deutbar sind Zeichen, Metaphern, Vergleiche, Modelle, Repräsentationen. „Während diese bewußte Symbolik ihre Helligkeit gerade erst im Deuten bekommt, wird die unbewußte Symbolik der Chiffrenschrift durch Deutung gar nicht berührt“ (ebd.). Chiffrenschrift nämlich ist „schaubare Symbolik ohne eigentliche Deutungsmöglichkeit“ (ebd., 147). Insofern die Jasperssche Semiotik die Koinzidenz von Zeichen und Bezeichnetem ausdrücklich postuliert ⫺ „in der Chiffrenschrift ist Trennung von Symbol und dem was symbolisiert wird, unmöglich“ (ebd., 141) ⫺ hebt sie sich als Semiotik, als Lehre von den Zeichen selbst, auf, da der distinktive Charakter der Zeichen, anderes bezeichnend zu sein, gar nicht mehr zum Zuge kommt. Es ist ⫺ mutatis mutandis ⫺ der
1430
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
eben geschilderte Sachverhalt: Die Überladung des Zeichencharakters mit ontologischer Bürde hebt diesen selbst auf.
2.
Kants Lehre vom Zeichen
Apel (*1922) folgend können wir den Paradigmenwechsel in der Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert als eine semiotische „Transformation der Philosophie“ (vgl. Apel 1973 und vor allem Apel 1967⫺1970) bezeichnen, für welche vor allem die Initiative von Peirce steht. Apel spricht zwar von der Philosophie allgemein, aber gemeint ist in erster Linie die Philosophie, welche gewissermaßen das Ferment für die intellektuellen Bemühungen der letzten beiden Jahrhunderte ⫺ sei es in Zustimmung, sei es in kritischer Ablehnung ⫺ darstellt: die Kantische. Sie vor allem ist einer Transformation unterzogen worden. Nun ist es ja in der Tat nicht so, als gäbe es bei Kant (1724⫺1804) keine Reflexion über Zeichen. Im Gegenteil hat er eine zweifache Strategie der „Versinnlichung“ herausgestellt: „entweder schematisch, da einem Begriff, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriff, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch ist, d. h. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalt nach übereinkommt“ (Kant 1790, 351). Symbol und Schema sind also nach Kant die wesentlichen Elemente der Versinnlichung. Dabei ist es so, daß Kant mit dem Symbol vor allem den Fall des analogen Transfers erfassen will, also eine „indirekte“ Darstellung von etwas durch etwas anderes. Dieser analoge Transfer ist wesentliche Leistung der Urteilskraft, der es obliegt, „erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“ (ebd., 352). Kant wählt als Beispiel die Handmühle als Symbol für den despotischen Staat, oder die Modellierung des Organischen durch mechanische Systeme wie Uhren. Es sei nun daran erinnert, daß Kant in seiner Erkenntnistheorie im Rahmen der „De-
duktion der reinen Verstandesbegriffe“ (Schematismuskapitel) zwei Arten von Synthesen unterscheidet: die „synthesis intellectualis“ (eine Verknüpfung der Erfahrungsdaten nach Kategorien) und die „synthesis speciosa“, auch die „figürliche Synthesis“ (vgl. Kant 1787, 119) genannt. Diese etwa beim Zeichnen eines Dreiecks oder bei der Aufdeckung von Raumsymmetrien erforderliche figurative Synthesis nennt Kant an einer Stelle in der „Anthropologie“, die vom „Bezeichnungsvermögen“ überhaupt handelt, auch insgesamt „symbolische Erkenntnis“ (Kant 1798, 191), sofern es sich hier um Gestaltqualitäten in der Wahrnehmungsorganisation handelt. Die symbolische Erkenntnis ist aber schwerpunktmäßig bei Kant dem analogen Sprachgebrauch vorbehalten: „unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen“ (Kant 1790, 352). Es muß nun noch der Vollständigkeit halber erwähnt werden, daß Kant einen dritten Versinnlichungsfall vor Augen hat, nämlich die „Charakterismen“ (ebd.), mit welchen er die rein arbiträren, in subjektiv mnemonischer Absicht eingeführten Zeichen etwa einer Algebra als „Zeichenfiguren“ meint. Wir stellen also zu unserem Erstaunen fest, daß Kant bereits eine zwar nicht sehr reiche, aber doch gegliederte Semiotik hat, die unter dem Grundproblem der „Versinnlichung“ sich in die drei durch Urteilskraft gesteuerten Verfahren oder Strategien ausdifferenziert: Charakterismen, Symbole, Schemata. Wie man sieht, geht es bei Schemata wie Symbolen um die Versinnlichung von Begriffen (die „Vorstellung […] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe“; Kant 1787, 135). Die spezifische Differenz ist dabei, daß das Symbol eine indirekte, das Schema aber eine direkte Darstellung eines Begriffs ist. Der Charakter dagegen ist das Zeichen als solches, dessen Gestalt willkürlich gewählt ist. Betrachten wir nun das folgende Zitat, so sehen wir, daß trotz artikulierter Semiotik Kants Philosophie nicht eo ipso semiotisch durchdrungen ist. Kant schreibt zu Beginn der Elementarlehre: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung“ (Kant 1787, § 1). Dies ist für die Einord-
1431
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
nung Kants in einen semiotischen Kontext eine ganz wichtige Bestimmung. Anschauung ist der ausgezeichnete, weil unmittelbare Gegenstandsbezug. Der Charakter der Unmittelbarkeit kann nicht genug betont werden, meint er doch: durch nichts vermittelte, unverdeckte Präsenz des Gegenstands (dies ist ja nur eine Umschreibung dessen, was bei Kant „Erscheinung“ (Phänomen) heißt). Bekanntlich sind nach Kant Gegenstände insgesamt nur Erscheinungen und seine erkenntnistheoretische Revolution besteht darin, die Bedingungen solcher Gegenstandspräsenz im Erkenntnissubjekt aufzusuchen. Anschauung ⫽ unmittelbarer Gegenstandsbezug ist nach Kant Vorstellung, genauer, sie ist „die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann“ (ebd., 58); und hier noch relevanter: sie ist „repraesentatio singularis“ (Kant 1800, 91), also vor allem Repräsentation. Und hier liegt nun das entscheidende Problem beschlossen: dadurch, daß Kant die unmittelbare Gegenstandspräsenz in der Vorstellung sieht, diese aber schon „Repräsentation“ ist, bleibt für die Vertretung der Gegenstände durch Zeichen epistemologisch kein grundlegendes Interesse mehr übrig. Ist die Anschauung selbst Repräsentation, so ist die Reflexion auf diese Form der Darstellung schon Erkenntnistheorie. In dieser Sicht erscheint die explizite semiotische Betrachtungsweise als ein im Prinzip vernachlässigbarer Umweg. Für sehr viele der im folgenden zu betrachtenden Gestalten der Philosophie bestimmt sich ihre Beziehung zu semiotischen Fragen aus einer vergleichbaren Grundeinstellung. Es kann hier nicht der Ort sein, die Erkenntnistheorie Kants selbst zu entwickeln. Wir können aber als vorläufiges, hier interessierendes Resultat festhalten: Kant hat unter dem Titel „Versinnlichung“ semiotisch durchaus relevante Distinktionen eingeführt: Charaktere, Symbole, Schemata. Die Identifizierung von Anschauung als unmittelbarem Gegenstandsbezug gibt dem Zeichen ⫺ anders natürlich als der Sinnlichkeit selbst ⫺ keinen wesentlichen Ort in der Erkenntnistheorie. Die Form der Repräsentation des Gegenstandes ist sinnlich-anschaulich, aber nicht per se zeichenhaft. Erkenntnistheorie bedarf des Umwegs über das Zeichen nicht. Der Kantische epistemologische Grundterm „Vorstellung“ definiert die „Formen“ (der Anschauung, der Sinnlichkeit) als selbst repräsentierend. Ihr epistemologischer Ort,
ihre integrierende Einheit ist das Bewußtsein. Die Versinnlichungsstrategien werden in Form von Mentalität expliziert. In diesem Sinn können wir sagen: die Transformation, welche Kants Philosophie wird erfahren müssen, ist die von der bewußtseinsphilosophischen zur zeichenvermittelten Erkenntnistheorie; aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und unsere Darstellung will einige wichtige Stationen präsentieren. Jedenfalls ist hier schon deutlich: das Ausweichen der Philosophie vor dem Problem des Zeichens ist, so wahr es sein mag, doch ein vielfältig motiviertes und vermitteltes Verhalten, das in sich selbst systematisches Interesse beanspruchen kann.
3.
Fichte
Betrachten wir im Anschluß an Kant ⫺ und durchaus nicht vorrangig aus chronologischen Gründen ⫺ das semiotische Problem, wie es sich für Fichte (1762⫺1814) stellt. Hier haben wir die Einsicht ins Zentrum der Philosophie zu stellen, daß das Gewebe der Verstandeshandlungen, welches Kant für die Einheit der Erfahrung als konstitutiv erkennt, sich zwar als entscheidende Grundlage aller Erkenntnis herausstellt, es muß jedoch auf ein einheitliches Prinzip zurückgeführt werden: das Ich-denke, aber als „Tathandlung“ interpretiert, d. h. als Einheit von Setzen und Sein, virtuell als gründende Einheit von Satz und Tatsache. Wir haben hier die von Eco zitierte „Theorie der geistigen Aktivität“ in Reinform. Ist sie „gänzlich semiotisch“? Fichte hat immer wieder das Problem einer für seine Wissenschaftslehre eigentümlichen Zeichensprache ventiliert und in Aussicht gestellt, daß die Wissenschaftslehre noch zu einem „ihr durchaus eigenthümlichen Zeichensystem“ (s. u.) gelangen werde und daß sie sich nur vorläufig und provisorisch der Wortsprache bedienen muß. Er schreibt: „Hätte sie [die Wissenschaftslehre] sogleich anfangen können, wie sie freilich endigen wird, dadurch, daß sie sich ein ihr durchaus eigenthümliches Zeichensystem geschaffen hätte, dessen Zeichen nur ihre Anschauungen und die Verhältnisse derselben zueinander und schlechthin nichts außer diesem bedeuten, so hätte sie freilich nicht mißverstanden werden können, aber sie würde auch nie verstanden worden sein […]. Jetzt aber hat sie das schwierige Unternehmen zu bestehen von der
1432 Verworrenheit der Wörter aus, welche Gedanken im Bauche man neuerlich sogar zu Richtern über die Vernunft hat erheben wollen, Andere zur Anschauung zu leiten“ (Fichte 1801, 384). Das semiotisch Interessante an Fichte ist in folgendem zu sehen: Idealziel der Darstellung der Wissenschaftslehre ist eine ihre eigentümliche Zeichensprache. Gleichzeitig aber wird die Möglichkeit der entlastenden Stellvertretung durch Zeichen von Fichte entschieden abgelehnt. Der reine Unmittelbarkeit suggerierende Terminus ist auch hier wieder „Anschauung“ bzw. „reine Anschauung“. Sie ist der Garant von unverstellter Authentizität und daher von „Wissenschaftlichkeit“ im Sinn der Fichteschen Wissenschaftslehre: „Ohne wirkliche Erhebung zur Anschauung und mit ihr zur Wissenschaftlichkeit kann man sie [die Wissenschaftslehre] […] gar nicht fassen […]. Überdies erhebt sie aus dem […] Grund, daß sie durchaus kein Hülfsmittel, keinen Träger ihrer Anschauungen hat, außer die Anschauung selbst, den menschlichen Geist höher, als es keine Geometrie vermag“ (ebd., 404). Die Wissenschaftslehre hat also, anders als die Geometrie, durchaus kein Hilfsmittel, keinen Träger ihrer Anschauung, als die Anschauung selbst. Daher liegt die Devise nahe: „Also weg mit Zeichen und Wort. Es bleibt nichts übrig als unser lebendiges Denken und Einsehen selbst, das sich nicht an die Tafel zeichnen, noch auf irgend eine Art stellvertreten läßt, sondern das eben in natura geliefert werden muß“ (Fichte 1804 a, 138). Hier haben wir es wieder: Grundlegend ist das, für das es keinen „Stellvertreter“ gibt; das Ich als Grundbegriff der Fichteschen Philosophie ist ja nur das ausgezeichnete Etwas, das in gar keinem Fall und durch nichts vertreten werden kann. Es ist eben ein „Selbst“. Zeichen indes sind Stellvertreter. Also … Aber Fichte radikalisiert, wenn er in Sprache nur „Worte, welche an sich nichts sind und zu leerem Hauche schwinden werden, sobald die Einsicht erreicht“ (Fichte 1804, 44) ist, erkennt. Dies ist bestens auf den Punkt gebracht das Pathos dieser Art idealistischer Philosophie, daß sie glaubt, Zeichen nur als Notbehelf einsetzen zu können, wo doch das Gemeinte die durch nichts zu substituierende Anschauung ist, die keinen anderen Träger kennt als sie selbst (s. o.). Das bedeutet in der Konsequenz: die Stellvertretung der Sache durch Zeichen ist in dieser Sicht ein Verstellen der Sache durch Zeichen. Das, was an der Sache ist, zeigt, bezeichnet sich selbst. Daher
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Fichtes Motto: „Ich sage und muthe an, unmittelbar einzusehen“ (ebd.). Klaus Oehler hat mit einigem Recht in der Fichteschen Theorie des Bildes einen vergessenen, auf die Etablierung einer universalen Semiotik hindeutenden Zug gesehen. Er belegt dies auch plausibel, und doch will der Buchstabe mit den erklärten Intentionen Fichtes nicht übereinstimmen. Oehler weist sehr gut darauf hin, daß sowohl nach Kant wie nach Fichte „der endliche menschliche Verstand auf Bild und Zeichen angewiesen ist“ (Oehler 1981, 79). Fichtes Lehre vom Bild ist der Versuch, die Kantsche Doktrin vom Schematismus der Einbildungskraft, vom Ins-Bild-Setzen eines Begriffs fortzuführen. Während aber Kant die Kategorie als Konstruktionsregel solcher Bilder hervorgehoben hat und diese wiederum letztlich, wie ein bekanntes Zitat aus den Prolegomena belegt, an die Sprache zurückbindet, indem er die transzendentale Untersuchung mit der grammatischen Analyse vergleicht (vgl. Kant 1783, 322 f), ist für Fichte Sprache insgesamt „der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen” (Fichte 1795, 302). (Zu Fichtes Sprachphilosophie vgl. vor allem Jergius 1975). Daher steht im Zentrum seines Interesses nicht der „Gegenstand der Aussage“ und seine kategorial-schematische Konstruktion (dies würde ja auch eine explizite Logik erfordern) sondern das „Objekt des Bewußtseins“. Es ist daher auch gewissermaßen zwangsläufig und innerlich konsequent, daß sich seine Epistemologie der Unmittelbarkeit verbürgenden „paraoptischen“ (Ryle 1949 ⫽ 1973, 214) Metaphern bedient (vgl. besonders die „Sehe“, 33 u. ö.). Daher kann die sonst sehr richtige Bemerkung Oehlers: „Der Mensch lebt nicht in einer Welt der reinen Unmittelbarkeit, er lebt vielmehr in Bilderwelten“ (Oehler 1981, 80) nur äußerst bedingt als Argument für einen explizit semiotischen Charakter der Fichteschen Philosophie in Anspruch genommen werden.
4.
Schelling
Was nun dieses quer zur semiotischen Intention liegende Pathos der Unmittelbarkeit betrifft, so können wir durchaus Schellings (1775⫺1854) Philosophie an Fichtes Seite rücken. Schelling spricht im System des transzendentalen Idealismus von der Aufgabe, „einen Punkt [zu] finden, in welchem das Object und sein Begriff, der Gegenstand und seine
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74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Vorstellung ursprünglich, schlechthin und ohne alle Vermittlung Eins sind. Daß diese Aufgabe mit der, ein Princip alles Wissens zu finden, identisch ist, läßt sich noch kürzer so darthun. ⫺ Wie Vorstellung und Gegenstand [das sind für Schelling epistemologisch die einzig relevanten Termini] übereinstimmen können, ist schlechthin unerklärbar, wenn nicht im Wissen selbst ein Punkt ist, wo beide ursprünglich Eins ⫺ oder wo die vollkommenste Identität des Seyns und des Vorstellens ist. Da nun die Vorstellung das Subjective, das Seyn aber das Objective ist, so heißt die Aufgabe aufs genaueste ausgedrückt so viel: den Punkt zu finden, wo Subject und Object unvermittelt Eins sind“ (Schelling 1800, 364). Sowohl in den philosophischen Systemen Fichtes als auch Schellings wird das, was Gegenstand heißen soll, erst schrittweise entwikkelt, wobei hier eigentlich nur noch in Anführungszeichen von „Gegenstand“ gesprochen werden kann, da es sich um die Genese von Gegenständlichkeit aus Bewußtseinsakten handelt. Die Artikuliertheit des Systems ergibt sich aus der Stufung der produktiven Handlung und der Reflexion auf diese. Ein Zitat Fichtes möge dies verdeutlichen. Fichte schreibt: „Ich bin in der ersten Anschauung, der producirenden, verloren in ein Object. Ich reflectire zuvörderst auf mich selbst, finde mich und unterscheide von mir das Object“ (Fichte 1795 a, 374). Wenn aber Objektivität nach der Lehre der Identitätsphilosophie ohnehin nur als selbstvergessene Handlung (Produktion) eines Subjekts zu verstehen ist, so können in spekulativer Sicht, d. h. in einer Sicht, die sich gewissermaßen auf der ontologisch indifferenten „Schnittstelle“ zwischen Subjekt und Objekt bewegt, auch die Stufen der Reflexion als Genese des Bewußtseins ebenso wie seines Inhalts, nämlich bei Schelling der Natur bzw. bei Hegel (vgl. § 5.) der Geschichte, verstanden werden. Die Genese der Natur aus solchen Oszillationen zwischen produzierendem Akt und dem Bewußtwerden desselben (seiner Artikulation) ist das, was die Schellingsche Naturphilosophie der Fichteschen Philosophie hinzugefügt hat. Für uns indes ist vor allem relevant, daß Schelling den Versuch gemacht hat, diese so beschriebene Genese der Natur ⫺ sagen wir einmal ⫺ zu kalkülisieren. Dieser Versuch stellt sich in Schellingschen Formeln so dar: Ausgangspunkt ist mit A ⫽ A das „in sich verschlungene Seyn“ (Schelling 1810, 425); das heißt im Sinn der Identitätsphilosophie
dreierlei: A als Objekt, A als Subjekt, die Identität beider. Motor des Progresses ist die Differenzierung, nach Schelling „Einheit des Gegensatzes und der Entzweiung“ (ebd.). Weil aber die ursprüngliche Identität gewahrt ist, gilt: A ⫺⫺⫺⫺ A⫽B Diese Einheit des Gegensatzes und der Entzweiung tritt nun auf beiden Seiten, Subjekt und Objekt, wiederum in gleicher Artikulation auf: A (
A⫽B
A )
A (
A⫽B
B )
So ergibt sich ein gewisser Schematismus der iterierten Differenzierung und Vereinigung, den wir hier aber nicht weiter verfolgen können (vgl. ebd., 425 ff). Es ist aber jedem sofort klar, daß es sich hier nicht eigentlich um einen Kalkül handeln kann ⫺ es fehlen ja alle Grundbedingungen: Anfangsfiguren, formale Ableitungsregeln usw. Diese Formeln müssen vielmehr als Stenogramm einer epistemologisch-kosmologischen Spekulation gelten. Das ist aber entscheidend, weil hier das Wesentliche verfehlt wird: die spekulative Natur der idealistischen Philosophie, die Äquilibristik auf der indifferenten Schnittstelle von Subjekt und Objekt, hätte es in semiotischer Sicht gerade erforderlich gemacht, daß die Bezeichnungen der essentiellen Strukturen des Seins als seiende essentielle Strukturen des Zeichens hätten aufgewiesen werden müssen. Anders ausgedrückt: der Kalkül der Genese müßte untrennbar mit der Genese des Kalküls verbunden sein. Die Schellingsche Formalisierung dagegen ist meilenweit davon entfernt: der Zeichengebrauch der Anschauungsideologen bleibt durchaus im Rahmen eines Stenogramms (vgl. Art. 82 § 2.1.). Beginnen wir eine vorläufige Zusammenfassung mit einem Einwand: Natürlich sind die philosophischen Systeme Fichtes und Schellings insgesamt zeichenhaft manifestiert: sie schreiben doch über Erkenntnis und haben ihre Doktrinen in Vorlesungen vorgetragen. Was immer Inhalt ihrer Theorie ist, ist also trivialerweise z. B. sprachlich-zeichenhaft vermittelt. Aber das Problem, welches sich mit und bei ihnen in semiotischer Sicht stellt, ist, daß ihr Gegenstand, nämlich Vorstellungen, selbst Repräsentationen sind. Mit ihnen stellt sich die wirklich schwere Aufgabe, die Form
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
der Repräsentation von Gegenständlichem selbst gegenständlich darstellen zu müssen: die Repräsentation der Repräsentation. Das Bewußtsein hierüber ist zwar sowohl bei Schelling als auch bei Fichte vorhanden, die semiotischen Konsequenzen aber sind unzulänglich. Das zweite Problem, das sich ihnen stellt ⫺ und dessen sind sie sich sogar sehr bewußt ⫺ ist, daß ihr zentraler Gegenstand Handlungen sind. Handlungen sind aber wirklich nur als durchgeführte, als aktuelle, und nicht durch etwas, etwa durch den Report über eine Handlung, zu substituieren. Ein solcher Report über eine Handlung behandelt diese wie ein Objekt. Wie aber das Nichtvertretbare, das Ich-denke als Ich-tue, in und durch Zeichenoperationen zum Ausdruck kommen kann, von diesem Problem ist zwar das Bewußtsein, aber nicht die Lösung vorhanden.
5.
Hegel
Bisher blieb mit Absicht die Diskussion Hegels (1770⫺1831) ausgespart (vgl. Art. 75 § 2.4. und Art. 82 § 1.5.). Für Fichte ist Sprache im weitesten Sinne der „Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen“ (Fichte 1795, 302). Die Sprachgenese erblickt er im Kommunikationsbedürfnis; seine sprachgenetischen Überlegungen treten daher auch vornehmlich im Kontext der Rechtsphilosophie auf als Bedingung der Möglichkeit der Vertragsfähigkeit freier Wesen. Er spricht von der Notwendigkeit, daß sich der „Trieb, eine Sprache zu realisiren, und die Nothwendigkeit, ihn zu befriedigen“, einstellt, „wenn vernünftige Wesen miteinander in Wechselwirkung treten“ (ebd., 309). Hegel dagegen begreift, daß in restlos alles ⫺ wie er in der Logik schreibt ⫺, was dem Menschen innerlich ist, die Sprache eingedrungen ist, und was er so in der Sprache äußert, enthält implizit oder explizit eine Kategorie (vgl. Hegel 1812, 21). Der Ort des Logischen, der Vernunft also, ist nach Hegel die Sprache. Ihm ist daher klar, daß diese auch schon in die „Einsicht ins Ich“ kategorial eingedrungen ist, und er hat das „Meinen“, das subjektive „Für-wahr-Halten“, aber auch das „eine Bedeutung mit etwas verbinden“ selbst zu einer Art strategisch legitimem, aber auch in keiner Weise bevorzugten Zug in dem evolvierenden, gleichsam autopoietischen Entwicklungsgang des Geistes gemacht, in welchem der volle Bewußtseinsgehalt einer Weltsicht rekonstruiert wird (vgl. Hegel 1806). Ausgezeichnete, immer wieder eingenommene und verlassene Argumentationspositionen
sind hier das An-sich-sein, das Sein-für-Anderes und das Für-mich-sein, alles perspektivische Verschiebungen und Situationen, die einen wirklichen Diskurs charakterisieren. Hegel betont also ⫺ und hierin unterscheidet er sich von Fichte und Schelling ⫺ den diskursiven Charakter des Denkens. Andererseits können wir sein Hauptwerk, die Phänomenologie des Geistes, durchaus als eine expandierte Version des Kantischen Schematismuskapitels begreifen: dessen Aufgabe war, einem reinen Verstandesbegriff sein Bild zu verschaffen. Die im Entwicklungsgang der Phänomenologie des Geistes evolvierten Bilder allerdings sind Weltbilder, Lebensformen, Sprachspiele, welche die Potenz eines jeweils restringierten und erweiterungsfähigen Vokabulars (eines Kodes, können wir sagen) gewissermaßen durchprobieren. Was über die jeweils eingeschränkten Sichtweisen hinausführt, ist die Direktive durch den elaboriertesten Kode, den Hegel „absolutes Wissen“ nennt. Er ist nach Hegel das Verfügen über alle Weisen, in denen sich das Wahre darstellt, zur Erscheinung, zum Phänomen wird. Die Charakterisierung, welche Hegel von der „Erscheinung“ gibt, könnte nun dazu verführen, seine ganze Philosophie als eine Art „semiotica magna“ aufzufassen. Er schreibt: „Eine Erscheinung, die etwas bedeutet, stellt nicht sich selber und das, was sie als äußere ist, vor, sondern ein Anderes, wie das Symbol“ (Hegel 1835, 43). Hegel hat damit einen seiner Grundterme und damit die Grundstruktur seiner philosophischen Spekulation schon sehr deutlich dem Zeichenbegriff angenähert, diesen also gleichsam universal gesetzt; außerdem hat er in der Analyse des Meinens und der „Sinnlichen Gewißheit“ (der referentiellen Deixis) zweifellos ein wichtiges Ingrediens aller Semiotik untersucht (vgl. Hegel 1806, insbesondere das Kapitel „Die Sinnliche Gewißheit“). Aber wir müssen hier doch der semiotischen Euphorie einen Dämpfer verpassen: Denken ist nach Hegel diskursiv und rückgebunden an Anschauungen (sein Vexierspiel von Unmittelbarkeit und Vermittlung). Der Ort der Logik ist die Sprache. Aber einschränkend müssen wir sagen: Es ist die Sprache als allgemeines Kulturphänomen, als Hort der Lebensformen. Der Zeichensprache, insbesondere der logischen Zeichensprache dagegen hat Hegel in einer sehr aufschlußreichen Bemerkung in seiner Logik eine Abfuhr erteilt: Er schreibt da anläßlich der Betrachtung der Kalkülisierungsversuche der Logik, wie sie von Leibniz mit seiner Idee
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
der allgemeinen Charakteristik und des calculus ratiocinator vorgenommen wurden: „Das Ableiten der sogenannten Regeln und Gesetze des Schließens vornehmlich ist nicht viel besser als ein Befingern von Stäbchen von ungleicher Länge, um sie nach ihrer Größe zu sortieren und zu verbinden“ (Hegel 1812, 49). Und weiter: „Man hat daher nicht mit Unrecht dieses Denken dem Rechnen und das Rechnen wieder diesem Denken gleichgesetzt“ (ebd.). Dieses Tun ist für Hegel „begriffloses Kalkulieren“ (ebd.), an sich „geistlos“ (ebd.). Was macht nach Hegel die entscheidende Differenz von seiner Logik zu solchen formalen Kalkülen als Zeichensystemen aus? Es ist der Begriff, noch deutlicher, der „Geist“. Das Befingern von Stäbchen wie auch das Kalkulieren mit Steinchen ist dagegen geistloses Tun. Das Operieren mit begrifflosen Zeichen ist nach Hegel Kinderei; erst der Begriff, der Geist, läßt so etwas wie Logik entstehen. Da aber die Sprache, und zwar, das ist ganz wesentlich, die volle Sprache in ihrer ganzen Potenz, der Ort des Geistes ist, so handelt es sich bei solchen formalen Kalkülen eben nicht um „Sprachen“, wohlgemerkt im Hegelschen Sinn (vgl. aber Art. 78 § 5.). Der Dialektiker Hegel erkennt hier gerade nicht die Dialektik zwischen der Sprache als Gesamtkulturphänomen, die allerdings phänomenologisch ist, d. h. an Lebensformen gebunden, und der Formalität von Sprachen, welche im Medium einer spezifischen Anschauung, nämlich der synthesis speciosa, der Zeichensynthese, sich entwickeln (die zugegebenermaßen nicht unmittelbar Lebensform ist, genau so wenig, wie etwa die Mathematik dies schlechthin ist).
6.
Hegel vs. Frege
Wenn Hegel gegen die Formelsprache die „Geistesgegenwart“ postuliert, so ist es tatsächlich wie ein Musterstück seiner Dialektik anzusehen, wenn gerade der Nichtdialektiker Frege (1848⫺1925), dem die Theorie der formalen Sprachen so viel verdankt (vgl. Art. 76 § 3.1.), die Dialektik, die in der „Versinnlichung“ des Zeichens liegt, bestens erkannt hat. Er schreibt: „Wir würden uns ohne Zeichen schwerlich zum begrifflichen Denken erheben. Indem wir nämlich verschiedenen aber ähnlichen Dingen dasselbe Zeichen geben, bezeichnen wir eigentlich nicht mehr das einzelne Ding, sondern das ihnen Gemeinsame,
1435 den Begriff. Und diesen gewinnen wir erst dadurch, daß wir ihn bezeichnen; denn da er an sich unanschaulich ist, bedarf er eines anschaulichen Vertreters, um uns erscheinen zu können“ (Frege 1882, 90). Frege sagt aber auch im Anschluß hieran den entscheidenden und sehr dialektisch klingenden Satz: „So erschließt uns das Sinnliche die Welt des Unsinnlichen“ (ebd.). Die janusköpfige, wahrhaft dialektische Natur des Zeichens beschreibt Frege so: „Zeichen sind für das Denken von derselben Bedeutung, wie für die Schiffahrt die Erfindung, den Wind zu gebrauchen, um gegen den Wind zu segeln“ (ebd.). Und schließlich: „So dringen wir Schritt für Schritt in die innere Welt unserer Vorstellungen ein und bewegen uns darin nach Belieben, indem wir das Sinnliche selbst benutzen, um uns von seinem Zwang zu befreien“ (ebd., 89 f). Das Sinnliche selbst benutzen, um uns von seinem Zwang zu befreien, man muß zugeben, daß dies auch eine Übersetzung der Aufgabenstellung der Phänomenologie des Geistes sein könnte, mit dem Ausgangspunkt der „sinnlichen Gewißheit“ und dem Endpunkt des zu sich selbst Kommens des Geistes, ein Schritt-für-SchrittEindringen in die Welt unserer Vorstellungen und eine Befreiung vom Zwang des Sinnlichen. Aber hier hören dann auch die Gemeinsamkeiten auf: Das Unsinnliche am Sinnlichen ist für Hegel der Geist, für Frege der Sinn (vgl. Frege 1892). Dieser macht das Zeichen erst tauglich dazu, bezeichnend zu sein (vgl. Art. 102). Aber vor allem: was Hegel als Stein des Anstoßes empfand, nämlich daß man das Rechnen mit dem Denken gleichsetzt, das sieht Frege als seine Prämisse an: „Sollten […] nicht die Gesetze der Zahlen mit denen des Denkens in der innigsten Verbindung stehen?“ (Frege 1884, 21). Die Durchführung des logizistischen Programms Freges ist der Nachweis, daß es sich in der Tat so verhält. Für die Zeichensprache des reinen Denkens, wie sie Frege in der Begriffsschrift entwirft, ist dann aber die verschärfende Einsicht leitend, daß nicht jedes Zeichensystem gleiches Interesse beanspruchen kann, denn „von den Zeichen will niemand etwas wissen, wenn nicht deren Eigenschaft zugleich eine des Bezeichneten ausdrückt“ (ebd., 32). Auf die Entwicklung eines in dieser Hinsicht adäquaten Zeichensystems hat, wie man weiß, Frege die größte Sorgfalt verwendet. Die Auswirkungen seines Ansatzes sind für die Analyse der Logik und der natürlichen Sprachen von großer Bedeutung gewesen. Beson-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
ders Wittgenstein (1889⫺1951) hat in seinem „Tractatus“ und in den „Tagebüchern“ immer wieder über die notwendige „Multiplizität“, d. h. sachgerechte expressive Kraft eines Zeichensystems nachgedacht (vgl. Wittgenstein 1914⫺16 und 1921; siehe auch Art. 109).
7.
Erkenntnistheorie und Zeichenarchitektonik: Peirce
In Peirce (1839⫺1914) haben wir einen Theoretiker vor uns, der den kantischen erkenntnistheoretischen Ansatz auf der einen Seite und den bei Frege angetroffenen logisch motivierten Ansatz einer Zeichenarchitektonik in einen fruchtbaren Ausgleich zu bringen versucht hat, freilich ohne daß Peirce sich auf Frege bezogen hätte. Seine immer wieder neu formulierten logisch-semiotischen Überlegungen sind vielmehr durch Leibniz (1646⫺ 1716), de Morgan (1806⫺1871), Boole (1815⫺1864) und Schröder (1841⫺1902) beeinflußt. Peirce hat dem Begriff der Repräsentation wieder eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. Sie ist das, was etwas Gegenstand des Bewußtseins sein läßt. In diesem Begriff werden das Kognitive, das Ontische und das Signitive indifferent: „Whatever is capable of being represented is itself of a representative nature“ (Peirce 1958, Bd. VIII, 8.268; geschrieben 1903). Peirce kann deswegen sagen, daß der Begriff des Seins selbst nur über das Repräsentiertsein, und zwar im Zeichen, zugänglich wird. Mit Recht darf daher Peirce als der eigentliche Begründer einer Semiotik als eigenständiger Disziplin betrachtet werden. Aber es ist an dieser Stelle wichtig, daß Peirce sich nicht mit solchen allgemeinen Postulaten begnügt, sondern in der Tat daran gegangen ist ⫺ durchaus entsprechend der aristotelischen Einsicht, daß das Sein in vielfacher Weise ausgesagt wird ⫺ die vielfachen Bezeichnungsmöglichkeiten von Seiendem zu analysieren. Unmöglich können wir hier in die Details einsteigen ⫺ das muß dem gesonderten Artikel 100 über Peirce in diesem Handbuch vorbehalten sein (vgl. aber vor allem Oehler 1979 und Pape 1989) ⫺, aber es ist doch wichtig, daß Peirce seinen Zeichenkatalog aus einer Grundtrichotomie entwikkelt hat, die er aufgrund einer Auseinandersetzung mit den Kategorien von Aristoteles, aber vor allem von Kant erarbeitete: „There are three modes of being. I hold that we can
observe them in elements of whatever is at any time before the mind in any way. They are the being of positive qualitative possibility, the being of actual fact, and the being of law that will govern facts in the future“ (Peirce 1931⫺35, Bd. I, 1.23; (geschrieben 1903). Gemäß der Koinzidenz des Kognitiv-Ontischen mit dem Signitiven entsprechen den drei Kategorien der Erstheit, Zweitheit und Drittheit auch drei Zeichengrundklassen, die aber wiederum in drei Aspekte unterteilt werden, und zwar 1. mit Blick auf das Zeichen als solches; 2. mit Blick auf das bezeichnete Objekt; 3. mit Blick auf den „Interpretanten“. Die Subkategorisierung am Leitfaden der drei Kategorien ergibt bezüglich 1. die Einteilung in a) Qualisign (die Zeichengestalt oder Zeichenqualität), b) Sinsign („Token“), c) Legisign („Type“); im Hinblick auf 2. die Einteilung in a) Ikon, b) Index, c) Symbol; im Hinblick auf 3. die Einteilung in a) Rhema (Bezeichner eines Themas einer Rede überhaupt), b) Dicent (wahrheitsfähiges Zeichen), c) Argument (logisches Argument). Da nun diese verschiedenen Klassifikationen noch untereinander kombinatorisch verknüpft werden können, ergibt sich eine eindrucksvolle Zeichenarchitektonik, die insgesamt dem Bedürfnis entsprungen ist, jener von Frege angesprochenen Übereinstimmung der Eigenschaften des Zeichens mit dem des Bezeichneten nachzuspüren. Mit dieser kurzen Erläuterung müssen wir es hier bewenden lassen (vgl. aber Art. 100). Wir werden auf Peirce noch einmal zum Schluß zurückkommen.
8.
Die Semiotik im Rahmen der Hermeneutik: Schleiermacher und Dilthey
Kant hatte die kategorial strukturierte systematische Einheit des Bewußtseins daraufhin untersucht, welche Verstandesleistungen der Erfahrung Kohärenz verleihen, eine Kohä-
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
renz, die er oft mit dem Terminus „Kontext der Erfahrung“ (Kant 1787, 195) bezeichnete. Hegel hat diesen Kontext schon als im wesentlichen sprachlich erkannt. Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können, war das Projekt der Erkenntnistheorie Kants. Schleiermacher (1768⫺ 1834) nun erkannte, daß umgekehrt Texte selbst Erscheinungen, ein Erfahrungsbestand sind, der buchstabiert werden muß, um als kohärenter Sinnzusammenhang, als sinnvoll zusammenhängendes Zeichensystem erfahren werden zu können (vgl. Art. 72 § 2.5.). Ebenso wie die Erkenntnistheorie durch die Gefahr des Irrtums auf den Plan gerufen wird, wird es die Erkenntnistheorie des Textverstehens, die Hermeneutik, durch die Gefahr des Mißverstehens. Daß es einer solchen Wissenschaft bedarf, ergibt sich ebenfalls aus dem naheliegenden Parallelismus: Sagte Kant, Erscheinungen sind nicht Dinge an sich, so geht Schleiermacher von der grundlegenden Einsicht aus, daß Zeichen nichts an sich sind; kein Zeichen ist autonomer Bürge seiner Bedeutung. Jedes „Wort, das in der Sprache gewachsen ist, […] ist gleich eine Combination einer Mannigfaltigkeit von Beziehungen und Übergängen“ (Schleiermacher 1838, 51). Die Rekonstruktion dieser Beziehungen und Übergänge vermag sich aber auf nichts anderes zu stützen als die Sprache selbst. „Alles vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache, und alles zu findende […] muß aus der Sprache gefunden werden“ (Schleiermacher 1820⫺29, 38). Jede Rede ist also eingebettet in die gesamte Sprache, aber sie konkretisiert sich nur individuell. In diesem Spannungsfeld von individueller Instantiierung und dem Sprachganzen ist die Hermeneutik als Wissenschaft angesiedelt. „Von Seiten der Sprache angesehen entsteht […] die technische Disziplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Aktion eines Einzelnen […]. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst“ (Schleiermacher 1812⫺13, 116). Die Sprache selbst ist nach Schleiermacher das „individuelle Allgemeine“ (vgl. vor allem die Ausführungen in Schleiermacher 1822, § 272⫺275). „Der Einzelne ist […] in seinem Denken durch die gemeinsame Sprache bedingt und kann nur die Gedanken denken, welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung ha-
1437 ben“ (Schleiermacher 1838, 12). Das aber heißt: die patente, die offenbare Textstruktur, ist eingebettet in eine latente Wissensstruktur, welche das Verstehen des Einzelnen zurückvermittelt in eine holistische Perspektive. Schleiermacher schreibt: „Man muß die Totalität ‘fassen’, was ihm [dem Autor] zu Gebote stand, kennen“ (Schleiermacher 1820⫺29, 70), um die Bedeutung des Textes wirklich zu erfassen. Für die Sprache als „allgemeines Bezeichnungssystem“ (Schleiermacher 1822, 372) gilt nun, daß sie in einem Schematisierungsprozeß gründet. Schleiermacher verwendet also zur Erhellung der Synthese von Individuellem und Allgemeinem einen Kantischen Begriff. „Denn wir können das allgemeine Bild in seiner Differenz vom einzelnen nur durch ein Zeichen fixieren, sei nun das Zeichen ein Wort oder wieder ein Bild“ (ebd.). „Das Entstehen der Sprache hängt an diesem Schematisierungsprozeß und ist in ihm hinlänglich begründet“ (ebd.). Mit Schleiermacher stellt sich also in umfassender Weise das Verstehensproblem angesichts von solchen komplexen Zeichensystemen wie sprachlichen Texten. Aber die Hermeneutik als wissenschaftliche Disziplin ⫺ und hier zeigt sich die Weite des Schleiermacherschen Ansatzes ⫺ ist nicht auf schriftliche Texte beschränkt. Denn das Problem des Mißverstehens stellt sich „überall wo es im Ausdruck der Gedanken durch die Rede für einen Vernehmenden etwas fremdes gibt“ (Schleiermacher 1920⫺29, 128). Die Hermeneutik als Auslegungslehre bzw. Verstehenspraxis kann nicht länger als reine Textwissenschaft in einem restringierten Sinn von Zeichenrealisierung verstanden werden, sondern sie findet nach Schleiermacher „im Gebiet der Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit Menschen“ (ebd., 130) statt. Die fachwissenschaftliche Sphäre des Philologen und Übersetzers überschreitend, wird der Alltag selbst zum problematischen (Gesamtkon-)Text. Damit erhält das Verstehensproblem eine wissenschaftlich zentrale und umfassende Bedeutung. Es ist Dilthey (1833⫺1911), welcher hieraus die Konsequenz gezogen hat (vgl. Art. 77 § 6.). In der Tat, „Verstehen“ ist der Diltheysche Zentralbegriff, welcher eine eigenständige Spezies Wissenschaft konstituiert: die Geisteswissenschaften. „Ihr Umfang reicht so weit wie das Verstehen“ (Dilthey 1910, 148). Dilthey bindet seine Theorieentwicklung grundsätzlich an die semiotische Beziehung von Zeichen und Zeichenverstehen. „Den
1438 Vorgang, in dem wir aus Zeichen, die von außen gegeben sind, Inneres erkennen, nennen wir Verstehen“ (ebd., 309). Was aber ist dieses Innere, das doch offenbar der Hauptgegenstand der Geisteswissenschaften ist? Dilthey antwortet: „Das Verstehen hat […] seinen einheitlichen Gegenstand in den Objektivationen des Lebens“ (ebd., 148). Das Leben also ist es, das sich veräußert, objektiviert, und darin verstanden werden kann. Ja, Dilthey schreibt: „Es ist der Vorgang des Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird“ (ebd., 87). Gegenstand des Verstehens überhaupt sind also allgemein „Lebensäußerungen“ als Ausdruck des Geistigen. „Jede Lebensäußerung hat eine Bedeutung, sofern sie als ein Zeichen etwas ausdrückt, als ein Ausdruck auf etwas hinweist, das dem Leben angehört“ (ebd., 234). Dilthey formuliert damit natürlich einen äußerst umfassenden (Lebens-)Ausdrucksbegriff, denn „ich verstehe hier unter Lebensäußerungen nicht nur die Ausdrücke, die etwas meinen oder bedeuten (wollen), […] sondern ebenso diejenigen, die ohne solche Absicht als Ausdruck eines Geistigen ein solches für uns verständlich machen“ (ebd., 205). Dazu zählen Gebärden, Mienen, Worte oder die „dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem Auffassenden öffnet, oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden, durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wissens hindurchscheint“ (ebd., 86). Also gehören auch die Formen des Rechts, der Moral, der Sitte, kurz der Bereich dazu, den schon Hegel als das Reich des „objektiven Geistes“ bezeichnet hatte. Das von Dilthey für die Geisteswissenschaften reklamierte Verstehen des Inneren ist nicht Individualpsychologie, denn es gilt: „Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektiven Geistes ein Gemeinsames. Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet“ (ebd., 146 f). Gegenstand der Geisteswissenschaften ist also in dem fundierenden Zusammenhang von „Leben, Ausdruck und Verstehen“ (ebd., 86) der objektive Gehalt geltender Symbole. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeit dringt das Verstehen „in die fremden Lebensäußerungen durch die Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse ein“
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
(ebd., 118). „Das Verstehen und Deuten ist die Methode, welche die Geisteswissenschaften erfüllt“ (ebd., 205). Worin besteht nun eigentlich diese Methode? „Auf der Grundlage dieses Hineinversetzens, dieser Transposition entsteht nun aber die höchste Art, in welcher die Totalität des Seelenlebens im Verstehen wirksam ist, das Nachbilden oder Nacherleben“ (ebd., 214). Nachbilden oder Nacherleben, Hineinversetzen in den Ausdruckssinn objektivierter Symbole, ist die den Geisteswissenschaften eigentümliche Methode. Da es sich in der Tat um Lebensäußerungen handelt, so muß diese Methode gewissermaßen Wiederbelebung sein; und in der Tat bezeichnet Dilthey die Transposition als ein „Zurückübersetzen in die volle ganze Lebendigkeit“ (Dilthey 1895⫺96, 265). Im Lichte dieser Konzeption ist alles, was Gegenstand der Geisteswissenschaften sein kann, in irgendeinem Sinn „res gesta“. „Alles ist hier durch geistiges Tun entstanden und trägt daher den Charakter der Historizität. In die Sinnenwelt selbst ist es verwoben als Produkt der Geschichte. Von der Verteilung der Bäume in einem Park, der Anordnung der Häuser in einer Straße, dem zweckmäßigen Werkzeug des Handwerkers bis zu dem Strafurteil im Gerichtsgebäude ist um uns stündlich geschichtlich Gewordenes. Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte“ (Dilthey 1910, 147). Objektivation des Lebens ist ⫺ das wird hier besonders deutlich und rechtfertigt die ausführlichen Zitate ⫺ alles, was zum Bereich der menschlichen Kultur gehört, was durch den Menschen als Artifex im umfassenden Sinn autorisiert ist. Geisteswissenschaft in ihrem vollen Sinn ist das Wiederbeleben der Sinnintentionen dieses Autors Menschheit, der sich in der Geschichte zum Ausdruck bringt. (Vgl.: „so ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist“, ebd., 87.) Aber, so müssen wir nunmehr fragen, ist denn wirklich alles Produkt menschlicher Kultur?
9.
Dilthey und der Modellbegriff der Naturwissenschaft
Wir werden hier dazu geführt zu bemerken, daß Dilthey seine semiotisch fundierte Geisteswissenschaft nur durch Abgrenzung ge-
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
gen die Naturwissenschaften gewinnt. Die geistlose, nicht humane, nicht geschichtliche Natur kann nicht eigentlich verstanden werden. Sie ist der Bereich, der sich gerade so konstituiert, daß „der Mensch sich selbst ausschaltet“ (Dilthey, 83), denn die direkte Lebensbedeutsamkeit, welche das Verstehen aufschließt, verschwindet. Es „unterscheiden sich […] von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstand Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen als Realität und als lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten“ (Dilthey 1894, 143). D. h., die direkte Lebensbedeutsamkeit, welche das Verstehen aufschließt, verschwindet, und anstatt, daß ein lebendiger Zusammenhang wie die Objektivationen des Lebens originaliter auftritt, wird der große Gegenstand, die Natur, „als eine Ordnung nach Gesetzen konstruiert“ (Dilthey 1910, 83), aber um den Preis, daß der „Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur […] immer mehr zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den Relationen von Raum, Zeit, Masse und Bewegung“ (ebd., 82 f). Dilthey resümiert: „So ist die Natur uns fremd, dem auffassenden Subjekt transzendent, in Hilfskonstruktionen vermittels des phänomenal Gegebenen zu diesem hinzugedacht“ (ebd., 90), und er formuliert lapidar: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ (Dilthey 1894, 144). Natur ist ausgeschalteter Mensch, mit der Konsequenz, daß der Zugang zur Natur nicht über originaliter Gegebenes erfolgt, sondern über Substruktionen. Zur Erklärung von Naturvorgängen sind Hilfskonstruktionen nötig, die nicht „gedeckt“ sind durch „Erlebnischaraktere“; die Natur ist dem Verstehen transzendent und muß, gewissermaßen faute de mieux, durch Substruktionen erklärt werden (vgl. Art. 31 § 1.). Was aber ist die semiotische Bedeutsamkeit von all diesem? Sie ist durchaus nicht unerheblich. Haben wir bei Dilthey schon eine Ausdehnung des Symbolbegriffs auf schlechthin alle Ausdrücke menschlicher Kultur („Lebensäußerungen“) gesehen, so wird sich nunmehr zeigen, daß das, was er der naturwissenschaftlichen Erkenntnis als Manko ankreidet, nämlich das Operieren mit „Hilfskonstruktionen“ (also hypothetischen Gebilden, schematischen Modellen), sich als entscheidende Stärke erweist. Nach Kants Diktum können wir nur das verstehen, was wir
1439 machen. Was die Natur betrifft, so mögen wir sie, muß man mit Dilthey wohl sagen, zwar erkennen und erklären können, aber verstehen können wir sie gerade nicht, weil wir sie nicht „machen“. Das Erklären erscheint in dieser Sicht geradezu als abkünftiger, defizienter Modus des Verstehens. Die methodologischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts werden aber gerade das Motiv wieder verstärken, das schon Descartes antrieb, daß nämlich nur das wirklich durchsichtig erkannt ist, was im funktionalen Modell simuliert werden kann. Der Verzicht auf die Erlebnischaraktere und die Idee, daß man mit Bedeutungen, statt sich in sie einzufühlen, rechnen kann, gibt auch dem epistemologischen Status formaler und modellhafter Zeichensysteme eine von Dilthey ungeahnte Aufwertung. „Das Seelenleben verstehen wir, die Natur erklären wir“, schrieb Dilthey. Hören wir nun, was einer seiner Zeitgenossen, der Physiker und Wissenschaftstheoretiker P. Duhem (1861⫺1916) hierzu zu sagen hat. Duhem schreibt nämlich bezüglich der Charakteristik einer physikalischen Theorie abgrenzend: „Eine physikalische Theorie ist keine Erklärung“ (Duhem 1906, 20). Damit scheint sogar das, was Dilthey den Naturwissenschaften als ihre genuine Fähigkeit einräumte, nicht zu gelten. Aber was ist dann eine physikalische Theorie, bzw. ein physikalisches Gesetz? „Ein physikalisches Gesetz ist eine symbolische Beziehung“ (ebd., 227). Aber, wird man fragen: eine symbolische Beziehung und sonst nichts? Wozu würde dann aber die ganze Begriffsarbeit der Physiker gut sein; würde sich denn überhaupt der ganze Aufwand der empirischen Forschung lohnen, wenn am Ende nur die Verwandlung von Naturtatsachen in symbolische Beziehungen stünde? Eine physikalische Theorie bzw. ein physikalisches Gesetz ist nach Duhem „eine symbolische Beziehung mit einer Anwendung auf die konkrete Wirklichkeit“ (ebd.). Jedoch weiß Duhem genau, daß diese Beziehung einer bezeichneten Sache zu dem Zeichen, das für sie steht, einer Realität zu dem Symbol, das sie darstellt, keineswegs unmittelbar ist. „Ein physikalisches Gesetz ist eine symbolische Beziehung, deren Anwendung auf die konkrete Wirklichkeit erfordert, daß man eine ganze Gruppe von Theorien kenne und akzeptiere“ (ebd.). Nehmen wir etwa ein konkretes Gas mit einer bestimmten Temperatur. „Um diesem mehr oder minder warmen Gas eine Temperatur zuzuschreiben, muß man zum Thermometer
1440 greifen […]. Der Gebrauch des Thermometers wie der des Manometers setzen aber […] den Gebrauch physikalischer Theorien voraus“ (ebd., 220). Also: der Wert eines Volumens, das ein Gas einnimmt, der Wert des Drucks, unter dem es steht, der Grad der Temperatur, den es besitzt, sind allerdings sämtlich keine konkreten Objekte und Eigenschaften, die wir z. B. den unmittelbaren phänomenalen Eigenschaften wie Farben und Tönen an die Seite stellen dürfen; hierin hat Dilthey sicher recht, es sind „abstrakte Symbole“. Abstrakt in dem Sinn, daß der einzelne Begriff niemals für sich allein an der Erfahrung gemessen und beglaubigt werden kann, sondern er erhält diese Bestätigung stets nur als Glied eines theoretischen Gesamtkomplexes. Das, was Dilthey wegen der fehlenden Einfühlbarkeit, Unmittelbarkeit oder Phänomenalität das Substruktive, nicht im direkten Erleben Ausgewiesene der Naturwissenschaften nennt, und was er deswegen als defizitär einschätzt, erweist sich vielmehr als deren eigentliche Potenz. Es ist in der Tat zwischen den Fakten und dem Naturgesetz in den Naturwissenschaften eine klarere Dissoziation möglich als in den Geisteswissenschaften, wo das Verstehen der „Lebensbedeutsamkeit“ von individuellen Situationen zwar mit Rückbezug auf ein Sinnganzes erfolgt, aber nicht in der Form der deduktiven Ableitung, welche Duhem (und natürlich andere) für die Form der naturwissenschaftlichen Theorie wiederum als konstitutiv annimmt. Nach Duhem ist eine physikalische Theorie zwar keine Erklärung, aber sie ist ein „System mathematischer Lehrsätze, die aus einer kleinen Anzahl von Prinzipien abgeleitet werden und den Zweck haben, eine zusammengehörige Gruppe experimenteller Gesetze ebenso einfach wie vollständig und genau darzustellen“ (ebd., 21). Was also an unmittelbarer, erlebnishafter Anschaulichkeit verloren geht, wird andererseits durch vereinheitlichende, eben systematische und prinzipielle Durchsichtigkeit bei weitem wieder wettgemacht. Die Umbildung des bloßen Eindrucks in das mathematische Symbol ist die Bedingung für die Gewinnung eines mathematischen Zusammenhangs. Das Symbol besitzt sein Korrelat nicht in den phänomenalen Bestandteilen der Wahrnehmung, sondern in dem gesetzlichen Zusammenhang, der zwischen ihren einzelnen Gliedern besteht (zur Vorgeschichte des Symbolbegriffs vgl. Art. 63 § 5.1.). Die Bedeutungszuweisung der Zeichen für empirische Größen erfolgt durchaus mit Rekurs auf
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
die Gesamttheorie ⫺ etwas, was auch der Naturwissenschaft eine holistische Struktur verschafft (vgl. die sogenannte DuhemQuine-These). Also: die wissenschaftstheoretische Forderung, die an physikalische Symbole gestellt wird, ist nicht, daß sie ein einzelnes sinnlich aufzeigbares Dasein abbilden, sondern daß sie untereinander in einer derartigen Verknüpfung stehen, daß kraft dieser Verknüpfungen, kraft der „denknotwendigen“ Zusammenhänge die Erfahrung ihre Kohärenz erhält. Genau in diesem Sinn schreibt Heinrich Hertz (1857⫺1894) über die Theoriebildung der Physik: „Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt, daß […] solche Übereinstimmungen in der Tat bestehen. Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen unseres eigenen Eingreifens auftreten werden“ (Hertz 1894, 1 f). Hatte Dilthey die substruktive Natur der Hilfskonstruktionen angeprangert, so wird hier deutlich, daß Hertz gerade in der Operation mit symbolischen Modellen die prospektive Kraft der Naturwissenschaft verankert. Der Modellbegriff ist überhaupt für die methodische Diskussion der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung gewesen (zur Vorgeschichte des Modellbegriffs im 18. Jahrhundert vgl. Art. 62 §§ 7.2. und 8.2.4.). Duhem selbst hat seine Wichtigkeit anerkannt, aber er hat sich heftig dagegen gewehrt, daß das Verstehen eines physikalischen Prozesses damit identisch sei, ihn in einem der seinerzeit fast ausschließlich gängigen mechanischen Modelle zu visualisieren. Hertz’ Modelle sind durchaus auch nicht als solche Visualisierungen gemeint, sondern sie betreffen die innere, die symbolisch-mathematische Struktur der physikalischen Theoriebildung. Es ergibt sich daraus aber, daß verschiedene Begriffe von Modell zu differenzieren sind. Modelle sind, allgemein gesprochen, Repräsentationssy-
1441
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
steme. Ihnen liegt eine Abbildungsbeziehung (Regeln der Zuordnung) zugrunde, welche den reale Gegenstände bzw. Prozesse vertretenden Zeichen ihre spezifische Bedeutung zuweist. Die Erörterung von Modellen enthält daher zwangsläufig Elemente, welche auch die Darstellungsfähigkeit von Zeichen überhaupt betreffen. Wir können mit Achinstein theoretische, analoge und imaginäre Modelle unterscheiden (vgl. zu dem folgenden Achinstein 1968, 203 ff). Ein theoretisches Modell ist und ein imaginäres Modell kann sein eine Menge von Hypothesen. Aber in dem theoretischen Modell ist der Anspruch der, daß die Aussagen, die gemacht werden, auch wenn dies approximativ gemeint ist, wirklich gelten. Dies muß bei dem imaginären Modell nicht der Fall sein. Ein analoges Modell dagegen ist keine Annahmenmenge, sondern ein konkretes Ding. In den Fällen des imaginären und des analogen Modells wird keine Identitätsbehauptung gemacht bezüglich des modellierten Objekts. Wenn also ein Wissenschaftler ein theoretisches Modell vorgibt, so will er das, was eine physikalische Größe ist (beispielsweise ein Elektron), approximieren, indem er darüber Annahmen vorträgt. In einem analogen Modell von X will er eine bestimmte Entität Y konstruieren, welche eine positive Analogie mit X und keine negative Analogie aufweist in den bislang getesteten Rücksichten. Und im imaginären Modell von X will er betrachten, was X sein könnte, wenn es gewissen Bedingungen, die im vorhinein spezifiziert werden, unterworfen ist. Die exemplarischen Modelle der Physik und Biologie des 19. Jahrhunderts bieten Beispiele für alle drei Möglichkeiten. Maxwells (1831⫺1879) Strömungsmodell des elektromagnetischen Feldes ist ein analoges Modell; Maxwells mechanisches Modell des elektromagnetischen Feldes ist ein imaginäres Modell. Das Standardbeispiel eines theoretischen Modells ist das Äthermodell, das Fitz Gerald (1851⫺1901) 1899 vorlegte. In Wahrheit ist es eine in sich geschlossene mathematische Theorie (vgl. Art. 84). Fassen wir zusammen: Dilthey unterschätzt bei weitem die Komplexität der Zuordnungen von modellhafter Repräsentation und Wirklichkeit. Er unterschätzt vor allem die Wirkkraft eines Prozesses, den besonders Blumenberg hervorragend geschildert hat (vgl. Blumenberg 1981, besonders 100 ff), nämlich daß die ursprünglich an Nachahmung (mı´me¯sis) der Natur orientierte antike und mittelalterliche Physik mit der
Entwicklung des Modellbegriffs bei Descartes (1596⫺1650) und im 19. Jahrhundert den Status der Nachahmung der Natur verliert und vielmehr der „Vorahmer“ der Natur wird. Über die Zuordnung von Modellen zur Realität wird Realität zur Projektion des Modells. Wir verstehen die Natur aus dem heraus, was wir im Modell simulieren können (die Biologie ist ein besonders eklatantes Beispiel). Die Substruktionen und Hilfskonstruktionen, die Symbole und Bilder modellhafter Repräsentationssysteme substituieren ganz dezidiert die unmittelbare Erfahrung der Welt (vgl. Posner 1995): ein glänzender Triumph, so können wir sagen, der Zeichen über die Wirklichkeit.
10. Cassirers Synthese Ernst Cassirer (1901⫺1979) nun hat versucht, den von Dilthey aufgerissenen Graben zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Seine programmatische Intention ist es nämlich, eine adäquate Explikation naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Phänomene gleichzeitig zu geben. Er sieht diese einheitliche Grundlegung in der „Logik der Kulturwissenschaften“ (vgl. Art. 77 § 9.1. und Art. 111). Die Philosophie der Symbolischen Formen stellt „Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie“ (Cassirer 1938, 229) dar (zu der Verbindung von Semiotik und Kulturphilosophie überhaupt vgl. Posner 1989). Es sind also kulturphilosophische Kategorien, welche Modellfunktion für diese Synthese besitzen. Sie sind es, die den Gegensatz des Nomothetischen gegen das Ideographische überbrükken, die Polarisierung von Ding- und Gesetzesbegriff auf der einen und Form- und Stilbegriff auf der anderen Seite in eine höhere Einheit aufheben. Cassirer versteht dieses Unterfangen als eine „allgemeine Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ (Cassirer 1923⫺ 29, Bd. I, V). Er schreibt: „Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so bei all ihrer inneren Verschiedenheit zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs“ (ebd., 12). Sie sind die Bausteine, aus denen sich die Welt des Wirklichen wie die des Geistigen aufbaut. Hierbei handelt es sich insgesamt um Ansätze, die „alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst
1442 befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden“ (ebd.). Cassirers Interesse gehört also ebenso wie Diltheys dem „Ausdruck“ als Objektivierung des Geistes, aber anders als Dilthey schreitet er von der Beschränkung auf die Geisteswissenschaften als verstehende Wissenschaften fort zur Rekognition der Naturwissenschaft als ebenfalls einer Art Geisteswissenschaft. Was erlaubt ihm denn diese einheitliche Betrachtung? Er findet sie in der „Grundfunktion der Zeichengebung überhaupt“ (ebd., 43). Das Projekt Cassirers nämlich, die umfassende Kulturanalyse, erweist: „Die Analysis des Wirklichen führt auf die Analysis der Ideen, die Analysis der Ideen auf die der Zeichen zurück“ (Cassirer 1923⫺29, Bd. III, 54). Zeichen stehen also im Brennpunkt der Kulturbetrachtung. Die Wirklichkeit wie die Ideen sind für den analytischen Blick nur Durchgangsstadien. „Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet, und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand“ (Cassirer 1923⫺29, Bd. I, 18). Die Ideenanalyse findet also ihre Erfüllung in der „Philosophie der symbolischen Formen“ (vgl. Krois 1984 und vor allem Neumann 1973). Der Symbolbegriff wird zum Grundbegriff der Cassirerschen Philosophie überhaupt. Er versucht mit ihm „das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ‘Sinnerfüllung’ des Sinnlichen sich darstellt; ⫺ in denen ein Sinnliches, in der Art des Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung […] eines Sinnes darstellt“ (Cassirer 1923⫺ 29, Bd. III, 109). Cassirer stellt drei Weisen der Manifestation und Inkarnation des Sinnes heraus: Die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion des Zeichens bzw. des Symbols (vgl. ebd., 524 ff). Cassirer registriert nämlich in der Symbolisierung eine Tendenz, der gemäß der „Halt am Gegebenen und die ‘Ähnlichkeit’ mit ihm […] mehr und mehr verloren [geht]: aus der Phase des ‘mimischen’ und des ‘analogischen’ Ausdrucks schreitet die Sprache zur rein symbolischen Formung fort“
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
(ebd., 483). Das Ausdrucksphänomen ist durch die Ungeschiedenheit von Sinnträger und Sinn gekennzeichnet (z. B. der Fetisch oder mythische Gestalten). Basis der Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem ist hier das emotional-affektive Leben. Die Darstellung entspricht dem alltäglichen Weltverhalten. Die Sprache hat hier schon wesentlich kommunikative Funktion. Die Welt der Wissenschaft dagegen nutzt das Operieren mit reinen Bedeutungen. Ihr Medium ist der Begriff. Das Zeichen realisiert seine objektivierende Funktion und bringt den invarianten ideellen Gehalt zur Darstellung. Obgleich die Symbole hier am artifiziellsten sind, drücken sie doch den umfassendsten objektiven Gehalt aus (z. B. physikalische Gesetze). Halten wir uns das Gesagte vor Augen, so wird man fragen: kann es ⫺ aus semiotischer Sicht ⫺ noch ein plus ultra darüber hinaus, was Cassirer programmatisch und darstellerisch entfaltet hat, geben? Muß nicht eigentlich die „Philosophie der symbolischen Formen“ als Synthese des Ideographischen und des Nomothetischen der logische Endpunkt einer Semiotik in der allgemeinen Philosophie der beiden letzten Jahrhunderte sein? Als Abschluß eines Weges von der Eliminierung des Zeichens als irrelevant zu seinem Triumph als Fokus einer allumfassenden Kulturphilosophie? Der Gedanke ist naheliegend, aber schauen wir hier näher zu, so bemerken wir, daß auch Cassirer noch durchaus festhält an einer gewissen Asymmetrie. Was ist nämlich Kulturphilosophie? Sie ist „allgemeine Theorie der geistigen Ausdrucksformen“ (siehe oben). Das Zeichen erscheint als Ausdrucksmittel des Geistes oder ist überhaupt die Weise seiner Erscheinung. In der Tat. Aber durch alle diese Erscheinungsweisen scheint hindurch der invariante Kern, die semiotische Erfüllung der Geistmetaphysik: „die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns“ (Cassirer 1923⫺29, Bd. I, 48). Nicht also um eine semiotische Transformation der Kantischen Philosophie handelt es sich hier, sondern um die Anreicherung des Kantischen Kerns, des transzendentalphilosophischen Modells, durch semiotische Überlegungen. Wir müssen aber nunmehr fragen: In welchem Licht erscheint der Philosophie das Zeichen, wenn sie an dem Primat des Geistes nicht in gleicher Weise festhält, wenn sich die Stellung von Erkenntnis und Natur zueinander in der
74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
Weise verändert haben, daß Erkenntnis selbst sub specie naturae gesehen wird? Dem wollen wir uns nun zuwenden.
11. Semiotik im Rahmen der naturalisierten Erkenntnistheorie (Helmholtz, Lotze) und die Problematik des naturalistischen Zeichenbegriffs Die nachidealistische Philosophie kann insgesamt durch einen Trend charakterisiert werden, den Rorty in seinem „Spiegel der Natur“ als „Detranszendentalisierung“ der Erkenntnistheorie bezeichnet hat (Rorty 1979 ⫽ 1981, 327). Unter diesem Titel schließt sich ein ganzes Syndrom von Entwicklungstendenzen zusammen: die Philosophie verliert den Rang, Verwalterin des absoluten Wissens zu sein. Sie tritt in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften. Der Rang, Fundamentalwissenschaft zu sein, wird ihr von allen Seiten streitig gemacht. Wenn Fichte noch seine spekulative Philosophie als Wissenschaftslehre schlechthin ausgab, ohne sich ⫺ anders als übrigens Hegel ⫺ mit den Wissenschaften seiner Zeit auseinanderzusetzen, so werden deren Resultate nunmehr zur Rechtfertigungsbasis von Philosophemen herangezogen: Schopenhauer (1788⫺1860) betrachtet als einen seiner Lehrmeister neben Kant einen Physiologen (Pierre-Jean-Georges Cabanis, 1757⫺1808); Nietzsche (1844⫺1900) stützt seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit dem neuentdeckten Energieerhaltungssatz (Nietzsche 1887 a, 693: „Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr“); die Mainstream-Philosophie arbeitet als Zentralideologie das aus, was jedem professionellen Naturwissenschaftler selbstverständliche Prämisse ist: den Materialismus. Ein heute nahezu unbekanntes Philosophiegeschichtsbuch hat den nach Hegel folgenden Zeitabschnitt den der „Philosophie im Zeitalter des Spezialismus“ (Cohn 1925) genannt, und Cassirer selbst hat den roten Faden seiner grandiosen Schilderung des Erkenntnisproblems nach Hegel unterbrochen mit der Begründung, daß sich eine solche homogene, an den sich ablösenden philosophischen Systemen entlangfahrende Entwicklungslinie nicht mehr aufrechterhalten läßt (vgl. Cassirer 1906⫺20, Bd. IV: Einleitung). Die von R. Safranski (1987) liebevoll so genannten „wilden Jahre der Philosophie“,
1443 d. h. die Jahre der abundierenden philosophischen Spekulation, sind domestiziert worden (vielleicht mit Ausnahme des wildgebliebenen Nietzsche), teils durch Übernahme des herrschenden Wissenschaftsparadigmas, teils auch durch das große Projekt der Historisierung der Philosophie selbst. Es ist insbesondere der Sinn und die Möglichkeit von Erkenntnis a priori, welche angesichts der erfolgreichen empirischen und mathematischen Wissenschaften erneut zur Debatte steht. Dabei hatten wir gesehen, daß die Kantische, aber auch die nachfolgende Erkenntnistheorie sich durchgehend im Rahmen von „Bewußtsein“, von Mentalität expliziert. Quine (*1908) hat nun in unserer Zeit diese gesamte Tendenz, das mentale Vokabular überhaupt, als „pernicious“ (Quine 1964, 27), als gefährlichen Irrweg bezeichnet, und er postuliert, es aus der Erkenntnistheorie zu eliminieren. Die notwendige Korrektur besteht in dem, was er die „Naturalisierung der Erkenntnistheorie“ nennt. In seinem Aufsatz gleichen Namens gibt er eine Zustandsbeschreibung des inkriminierten Ausgangspunkts und die fällige Rettung aus der drohenden Gefahr. Er schreibt: „In the old epistemological context the conscious form had priority, for we were out to justify our knowledge of the external world by rational reconstruction“ (ebd., 84). Soweit die Diagnose. Und nun die Therapie: „What to count as observation now can be settled in terms of the stimulation of sensory receptors, let consciousness fall where it may“ (ebd.). Man kann nun diese Tendenz zur Naturalisierung der Erkenntnistheorie schon unmittelbar nach dem Höhepunkt der idealistischen Systeme verfolgen. Symptom dafür ist die Aufwertung der Physiologie, Schopenhauers Interesse am „Trieb“, Nietzsches Interesse am „Leib“. Man muß dabei nicht so weit gehen, wie der damalige Vulgärmaterialismus, etwa Moleschotts (1822⫺1893) „Kreislauf des Lebens“ (1852) oder Ludwig Büchners (1824⫺ 1899) „Kraft und Stoff“ (1855). Hier wird freilich schon im Ansatz über das legitime Ziel hinausgeschossen, insofern die Empirie in ihrer handgreiflichsten Form gegen spekulative Metaphysik ins Feld geführt wird (was natürlich auch nur eine schlechte Form der Metaphysik ist). Das erneute Nachdenken über den Geist und seine Stellung in der Natur führt aber nach Veränderung der Prämissen immer mehr dazu, von den vormaligen idealistischen Systemen Fichtes, Schellings und Hegels abzurücken, welche ⫺ zugegebe-
1444 nermaßen nicht unmittelbar im Quineschen Sinn ⫺ doch versuchen, „durch rationale Rekonstruktion die Außenwelt zu rechtfertigen“, eine Genese der Welt im Bewußtsein aufzuweisen. Der Trend der Naturalisierung geht dahin, die Fundamente der empirischen Erkenntnis in dieser selbst zu finden. Es ist die empirische Erkenntnis der empirischen Erkenntnis. Für die Stellung von Geist und Natur ist dann ⫺ wenn einmal der Primat von „Bewußtsein“ zur Disposition gestellt ist ⫺ jede Kombination möglich, und so bieten das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert jede erdenkliche Spielart dieses Verhältnisses: vom ungebrochenen Idealismus Fichtes zum Dualismus, zum Materialismus, zum Epiphänomenalismus, zum Spiritualismus und zurück. Das 20. Jahrhundert freilich wird diese Debatte, das Leib-Seele-Problem, erneut angehen, allerdings mit dem geschärften Werkzeug der logischen und grammatischen Analyse (vgl. Art. 106). Aber dazu bedurfte es erst einmal der Entdeckung der Wichtigkeit und Mächtigkeit dieses Instrumentariums (vgl. den guten Überblick in Hastedt 1988). Und dies wiederum entwickelte sich aus einer nunmehr erneut einsetzenden Debatte über das Verhältnis von Mentalität, Zeichen und Bedeutung. Wenn nämlich der Mentalismus in der Erkenntnistheorie so schädlich ist, ja vielleicht am Ausweichen der Philosophie vor dem Problem des Zeichens schuld oder mindestens mitschuldig ist, so ist die nunmehr entstehende Frage die: was trägt die Naturalisierung der Erkenntnistheorie für die Rolle der Zeichen in der Weltorientierung bei? Hermann von Helmholtz (1821⫺1894), dem wir uns nun zuwenden wollen, hat, statt dem Problem des Zeichens auszuweichen, gleich alle unmittelbaren Bewußtseinsinhalte zu Zeichen werden lassen (vgl. Art. 84 § 2.2.). Er schreibt nämlich: „Unsere Vorstellungen von den Dingen können gar nichts anderes sein, als Symbole, natürlich gegebene Zeichen für die Dinge; welche wir zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen“ (Helmholtz 1867, 443). Insbesondere die „Sinnesempfindungen sind für unser Bewußtsein Zeichen, deren Bedeutung verstehen zu lernen unserem Verstande überlassen ist“ (ebd., 797). Dies darf als der oberste Satz der Helmholtzschen Semiotik gelten. Natürlich ist er kommentierungsbedürftig. Es ist vor allem die Wahrnehmungsanalyse von Helmholtz, welche den Zeichenbegriff be-
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nutzt. „Unsere Empfindungen“, schreibt er, „sind […] Wirkungen, welche durch äußere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparats ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindungen uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt wird, eine Nachricht gibt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten“ (Helmholtz 1878, 115). Also: alles, was wir über die Außenwelt durch Wahrnehmung wissen, ist bewußt geworden als Resultat gewisser Veränderungen durch externe Ursachen, die in unseren Sinnesorganen stattfinden. Diese Veränderungen werden durch die Nerven dem Gehirn mitgeteilt, wo sie bewußte Sensationen werden. Helmholtz betont nun ausdrücklich, daß unsere Empfindungen und Vorstellungen Zeichen sind, nicht „Abbilder“ der Gegenstände, denn „vom Bilde verlangt man irgendeine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstande […]. Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist“ (ebd.). Helmholtz fordert hier lediglich eine Art „funktionaler Entsprechung der beidseitigen Struktur“, so daß die Nachricht eindeutig entschlüsselt werden kann. Konkret ist unter funktionaler Struktur die Invarianzannahme zu verstehen, daß ein Reizort stets demselben Reiz, eine Reizart stets derselben Qualität und Intensität der Empfindung entspricht. Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem liegt also nicht in der Abbildungsstruktur, sondern beschränkt sich nach Helmholtz darauf, daß „das gleiche Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen“ (ebd.). Betrachten wir nun einen Fall, an dem sich diese Zeichenkonzeption in bestimmter Weise konkretisiert und an dem auch die innewohnende Problematik aufgewiesen werden kann. Locke (1632⫺1704) hatte bei der Unterscheidung der primären und der sekundären Qualitäten die letzteren der spezifischen Ausstattung des menschlichen Erkenntnisapparats zugewiesen (Locke 1690). Kant hatte auch die primären Qualitäten (insbesondere die Ausdehnung) als Form der Anschauung ins Erkenntnissubjekt verlegt. Was allerdings dabei offengeblieben war, war die Frage: wie kommen wir zu der spezifischen Raumanschauung, die uns Menschen
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zu eigen ist? Wie kommt es, daß wir lokalisierend unsere Sinnesempfindungen bestimmten Raumstellen zuordnen, also den Roteindruck als irgendwie zugehörig zu der dort, d. h. an einer objektiven Raumstelle befindlichen Ampel empfinden? Es ist vornehmlich Hermann Lotzes (1817⫺1881) Verdienst, hierin überhaupt ein Problem erkannt zu haben: daß und wie unser Gesichts- und Tastsinn die einfachen und an sich unstrukturierten Sensationen in ein wohlgeformtes Raumganzes organisiert. Denn wie Lotze bemerkt, gilt doch, daß die Eindrücke, welche wir von den Dingen empfangen, ihre Vorstellungen, „in unserem Geiste […] raumlos neben einander“ (Lotze 1854⫺64, Bd. I, 258) sind. Räumliche und zeitliche Vorstellungen müssen demnach, da sie nicht fertig vorgefunden werden, von der Seele erzeugt werden, und zwar unbewußt (vgl. ebd., 259). Der Raum, bzw. die unbewußte Genese des Raums wird dadurch zu einem nicht mehr transzendentalphilosophischen, d. h. die Raumform als solche betreffenden Problem, sondern zu einem Problem der Psychophysik. Unter den Prämissen Lotzes muß also die Frage beantwortet werden, wie sich eine Raumvorstellung aus selbst unräumlichen Empfindungen aufbauen kann. Für die Aktualisierung der Raumvorstellung muß nach Lotze ein externer Anstoß (Stimulus) angenommen werden. Dieser Anstoß wird in seiner qualitativen Eigenart mitbestimmt durch den Ort der Körperreizung. Lotze sagt, daß „gleiche Reize in jeder Nervenfaser einen besonderen Nebeneindruck verursachen, der für jede verschieden ist“ (Lotze 1879, 549). So können zwei benachbarte Netzhautpunkte im allgemeinen deutlich getrennte Ortswahrnehmungen vermitteln. Von diesen qualitativen Eindrücken ist die Lokalisierbarkeit der Empfindungen abhängig. Der Erregung dieser Netzhautpunkte muß also etwas anhaften, was die Verschiedenheit der Ortswahrnehmung bedingt. Das unterscheidende Merkmal der Erregung einer bestimmten Netzhautstelle nennt Lotze „Lokalzeichen“. Lokalzeichen sind „ein System abgestufter qualitativer Kennzeichen“ (ebd., 557). Die Idee ist also, daß durch die Ausstattung der Sehqualitäten mit solchen Lokalzeichen ein solcher Raumaufbau vollzogen werden kann. Vermittels ihrer sollen die räumlichen Bestimmungen der Reize des physiologischen Systems durch ein System abgestufter qualitativer Kennzeichen unräumlicher Natur ersetzt werden.
1445 Wir haben hier also ein Zusammenspiel verschiedener Komponenten: Die Räumlichkeit des Erregungsorgans (Netzhaut), die Unräumlichkeit der ausgelösten Erregung (Empfindung als Bewußtseinsphänomen) und die über das System der Lokalzeichen vermittelte, daraus resultierende Auswertung der Reize als räumliche Struktur durch das Bewußtsein. Man wird nun nicht sagen können, daß Lotze dieses Problem zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst hat; wichtig für unseren Zusammenhang ist hier aber, daß wiederum an der Schnittstelle von Psyche und Physis das Zeichen einen besonderen Stellenwert erhält, sicher nicht zuletzt deswegen, weil es selbst seiner Natur nach beiden Welten angehört. Helmholtz und Lotze haben in unserem Konspekt eine notwendige Stelle, weil sie uns konfrontieren mit einem Zeichenbegriff, der naturalistisch gefaßt ist und die Frage erzwingt, wie so etwas überhaupt möglich ist (als neueren Ansatz dieser Art vgl. Sendlmeier 1996). Sehen wir also etwas näher zu. Wenn Helmholtz schreibt, daß alle unsere Empfindungen und Vorstellungen Zeichen sind und die Empfindungen als Wirkungen Nachrichten vermitteln von der Qualität dieser Einwirkung, so ist das Zeichensein solcher Art Zeichen an die reale Existenz, an die Wirklichkeit einer solchen Einwirkung gebunden. Das liegt in ihrer Natur, Wirkung solcher Reizursachen zu sein. Nun ist jedes Zeichen Zeichen für etwas, sonst hätte es ja mit seiner dinglichen Struktur sein Bewenden, also im Helmholtzschen Fall mit der physiologischen Seite der Nervenreizung. Was macht, so können wir fragen, die Empfindungen und Vorstellungen überhaupt zu Zeichen, d. h. was verschafft ihnen diesen Mehrwert über die materielle Natur hinaus? Was macht die Differenz aus zwischen einem Nervenreiz, der ja selbst z. B. in einer neurophysiologischen Diagnose nur als Bezeichnetes auftreten würde, und demselben Nervenreiz als Zeichen für eine Qualität? Es kann doch das Bezeichnete der physiologischen Beschreibung nicht eo ipso wieder nur Zeichen sein; wir hätten es dann nur noch mit Zeichen zu tun; etwas, was die Verankerung der Erkenntnis unmittelbar in der Natur nun gerade nicht wollen kann. Nun geht es hier typischerweise nur um eine sehr spezielle Art von Zeichen, eben diejenigen, deren Zeichensein direkt abhängt von der realen Existenz des Bezeichneten. Diesbezüglich stellt sich aber auch sofort die
1446 Frage: Ist ein Nervenreiz, der die Vorstellung etwa eines dreieckigen Körpers vermittelt (der einen solchen bezeichnet) gleichzeitig auch ein Zeichen für einen Körper mit einer Winkelsumme von 180 Grad? Ferner: legt man die Ursache-Wirkungs-Relation, wie man hier muß, der Zeichenbeziehung zugrunde als alleinige Bedingung ihrer Möglichkeit, so stellt sich wiederum die Frage nach der Eindeutigkeit der Bezeichnung; es besteht ja zwischen Ursache und Wirkung nur eine allenfalls naturgesetzliche, nicht aber logische Verknüpfung. Und zu einem vorgegebenen Ereignis (d. h. ja hier: einer effizierten Vorstellung) kann es mehrere Ursachen geben: Blitze im Sehfeld können reale Blitze denotieren, aber sie können auch Zeichen einer Netzhautablösung sein. So zeigt sich hier jedenfalls sehr deutlich, daß in dieser Hinsicht die Semiotik der naturalisierten Erkenntnistheorie, der empirischen Erkenntnis von der empirischen Erkenntnis, in gewisse Aporien gerät; daß sie, die gerade nicht mentalistisch sein will, als Konsequenz die Sicherheit der unmittelbaren Erkenntnis, welche traditionell das Reich der mentalen Gegebenheiten charakterisiert, der vermittelten, indirekten Form des Schließens (von der Wirkung auf die Ursache) überantworten muß. Helmholtz hat diese verborgene Tätigkeit des Geistes „unbewußte Schlüsse“ genannt. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Die psychischen Thätigkeiten, durch welche wir zu dem Urteil kommen, daß ein bestimmtes Object von bestimmter Beschaffenheit an einem bestimmten Ort außer uns vorhanden sei, sind im Allgemeinen nicht bewußte Thätigkeiten, sondern unbewußte. Sie sind in ihrem Resultate einem Schlusse gleich, insofern wir aus der beobachteten Wirkung auf unsere Sinne die Vorstellung von einer Ursache dieser Wirkung gewinnen, während wir in der That direkt doch immer nur die Nervenerregungen, also die Wirkungen wahrnehmen können, niemals die äußeren Objecte“ (Helmholtz 1867 : 430). Es ist übrigens auch Helmholtz klar, daß der unbewußte Schluß eine Art hölzernes Eisen ist und nur den Titel abgeben kann für ein ungelöstes Problem. Im Kern ist es das der Zeichenhaftigkeit und Logizität der Wahrnehmung.
12. Husserls intentionale Semiotik Da Zeichen, die ihre Zeichenfunktion nur unter der Bedingung der realen Existenz des Bezeichneten erfüllen können, tatsächlich nur
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einen speziellen Zeichentypus darstellen, wird klar, daß überhaupt nicht länger nur über das Zeichen gesprochen werden kann, sondern daß hier Differenzierungen vorgenommen werden müssen. Um beides, um die Frage nach dem Ursprung und der Art der Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem, welche bei Helmholtz letztlich im Unbewußten verankert wurde, wie auch um die Differenzierung der Bezeichnungsweisen hat sich Edmund Husserl (1859⫺1938) bemüht (vgl. Art. 77 § 7.1. und Art. 103). Husserl spricht in den Logischen Untersuchungen ganz im Stil von Helmholtz einmal von den Sinnesdaten als von „Zeichen für die Eigenschaften eines Gegenstands“ (Husserl 1901, 75). Aber er unterscheidet in den Ideen im Akt der Wahrnehmung zwei verschiedene Ebenen: die „hyletische“ der Sinnesempfindung und des Sinnesdatums und die „noetische“ Ebene der Apprehension. Er begründet diesen Unterschied so: „Wir finden konkrete Erlebnisdaten als Komponenten in umfassenderen konkreten Erlebnissen […] und zwar so, daß über jenen sensuellen Momenten eine gleichsam ‘beseelende’, sinngebende bzw. Sinngebung wesentlich implizierende Schicht liegt“ (Husserl 1913, 208). Die Notwendigkeit, diese höhere Schicht anzunehmen, ergibt sich genau aus der Indeterminiertheit der Sinnesreize, welche uns schon bei Helmholtz als Problem aufstieß. Nichts an den hyletischen Daten determiniert unzweideutig ihren objektiven Bezug. Das gleiche sensuelle Material kann einmal als Mensch, einmal als Schaufensterpuppe interpretiert werden (dieses Beispiel stammt von Husserl selbst; vgl. Husserl 1939, 99 f) oder auch ⫺ um einen noch bekannteren Fall zu nehmen ⫺ die gleiche Figur als Hase oder Ente. Die hyletischen Daten sind nach Husserl amorph, sie entbehren der Organisation. Die objektive Determination eines solchen Sinneseindrucks kommt erst durch die Faktoren zustande, die Husserl „Noesen“ oder „intentionale Formen“ nennt. „In der perzeptiven Apperzeption erhalten die Sinnesdaten eine noetische Form; durch den so konstituierten intentionalen Akt erscheint ein Ding, ein Baum, ein Haus usw.“ (Gurwitsch 1975, 217). Zum Beispiel wird eine Folge von akustischen Reizen erst im Licht des Noema, des gemeinten Sinns, d. h. der intentionalen Form, als Melodie perzipierbar. Da nun auch in Husserls Ausdrucksweise die Sinnesdaten Zeichen sind, so gilt der Rückbezug auch und gerade für die Zeichen
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als sinnlich konkretisierte. Die Erkenntnistheorie der Wahrnehmung geht über in eine Semiotik der wahrnehmbaren Zeichen. Es ist auch beim Zeichen die „gleichsam beseelende, sinngebende bzw. Sinngebung wesentlich implizierende Schicht“, welche nach Husserl das Zeichen zum Zeichen von etwas macht. Durch Einführung bzw. Wiedereinführung des Begriffs „Intentionalität“ als Zentralterm seiner Semiotik ⫺ Intentionalität ist bei Husserl das „Wesen des egologischen Lebens“ (Husserl 1936, 84) ⫺ unternimmt Husserl noch einmal den Versuch, in Termen der Mentalität das auch von der naturalisierten Erkenntnistheorie nicht gelüftete Geheimnis des Zeichenseins aufzuklären. Er kann daher mit einigem Recht als der große Widerpart jedes Versuchs einer Naturalisierung der Erkenntnistheorie angesehen werden (vgl. zu Husserls Zeichentheorie Scheffczyk 1988). Husserl weiß, daß Zeichen an sich nichts sind, daß sie erst „sinnbelebt“ durch die Noesen, die intentionalen Akte des Bewußtseins, Sinn und Referenz erhalten. Was Husserl nämlich für die Sinnesdaten behauptet hat, läßt sich in expliziter Form für das Zeichen übernehmen: Zeichen sind, über ihre physische Natur hinaus, „Komponenten in umfassenderen konkreten Erlebnissen, die als ganze intentional sind und zwar so, daß über jenen sensuellen Momenten eine gleichsam beseelende sinngebende Schicht liegt, durch die aus dem sensuellen, das in sich nichts von Intentionalität hat, eben das konkrete intentionale Erlebnis zustande kommt“ (Husserl 1913, 208). Soviel zum Fundamentalen. Nun zur Zeichendifferenzierung. Husserl schreibt: „Jedes Zeichen ist Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine ‘Bedeutung’, einen ‘Sinn’, der mit dem Zeichen ‘ausgedrückt’ ist“ (Husserl 1901, 23). Husserls Semiotik ist also geprägt von einer großen Dichotomie: der zwischen den bedeutenden (sinnhabenden) Zeichen und jenen anderen, die zwar bezeichnen, aber nicht bedeuten. Die letzteren nennt er „Anzeichen“. Von diesen unterscheidet er die Ausdrücke. Zeichen in der Art von Anzeichen haben keine Bedeutung und keinen Sinn (in Husserlscher Terminologie, wohlgemerkt). Folgendes sind Beispiele für Zeichen als Anzeichen: der Rauch als Zeichen für das Feuer, Marskanäle als Indizien für intelligente Wesen auf dem Mars usw. Diese Zeichen sind bedeutungslos, aber doch nicht stumm. Sie sind deutbar, tragen einen Verweis auf einen Sachverhalt in sich. Es gibt hier drei Charakteristika, die zu beachten sind:
1447 a) Wenn a b anzeigt, besteht keine objektiv notwendige Beziehung zwischen ihnen. Husserl verweist den Ursprung der Anzeige an die Assoziation, in dem Sinn nämlich, daß ein „nichteinsichtiges Motiv“ (Husserl 1901, 25) die Überzeugung von dem Sein der einen Sache mit dem Sein der anderen Sache koppelt. Konvention, empirische Beziehung oder das „weil“ der Motivation bis hin zur Konditionierung machen das eine zum (An-)Zeichen für etwas anderes. b) Die Anzeige ist eine Relation existierender Dinge oder Ereignisse. Sie ist also keine interne Eigenschaft des Zeichens. c) Das Anzeichen gehört der vorsprachlichen, der vorausdrücklichen Schicht an. Es ist genau diese letzte Charakteristik, welche uns Aufschluß darüber verschafft, was es heißen soll, daß diese Zeichen Zeichen für etwas sind, aber keinen Sinn und keine Bedeutung haben. Welchen Zeichen gegenüber ist dies die Diskriminante? Nun, das ergibt sich gewissermaßen von selbst: der Ausdruck ist das bedeutsame, sinnvoll fungierende Zeichen. Der Ausdruck ist das sprachliche Zeichen im prägnanten Sinn. Er allein ist wahrheitsfähig und besitzt als solcher Bedeutung. Wie wir gesehen haben, stellt Husserl seine Semiotik in den phänomenologischen Rahmen. Ihr obliegt es, die „Wurzeln der Referenz“ in den ursprünglich gegenstandskonstituierenden Akten aufzudecken. Dies geschieht methodisch so, daß die Natur solcher „vermeinenden“ Akte in ihrer ausdrücklichen Form, d. h. eben am Ausdruck selbst, studiert wird. Und da gilt nach Husserl: „Jeder Ausdruck sagt nicht nur Etwas, sondern er sagt auch über Etwas; er hat nicht nur seine Bedeutung, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstände“ (Husserl 1901, 46). Ja, es gilt sogar: „einen Ausdruck mit Sinn zu gebrauchen und sich ausdrückend auf den Gegenstand beziehen […] ist einerlei“ (ebd., 54). Dabei kommt es nicht darauf an, daß der gemeinte Gegenstand wirklich existiert. Der Ausdruck als Ausdruck ist unrealisierte Gegenstandsbeziehung. Dieser so unschuldig klingende Satz formuliert aber in dem Augenblick ein schweres epistemologisches Problem ⫺ man könnte auch sagen, er stellt eine erkenntnistheoretische Falle ⫺, wenn der Ausdruck „Gegenstand“ gewissermaßen at face value genommen wird; wenn Zeichen und Bedeutung grundsätzlich nach dem Modell von Namen und Gegenstand aufeinander bezogen werden. Husserl hat die-
1448 ser Auffassung trotz mancher Differenzierung selbst Vorschub geleistet, indem er nämlich schreibt: „Die verstehende Auffassung, in der sich das Bedeuten eines Zeichens vollzieht, ist […] mit den […] objektivierenden Auffassungen verwandt, in welchen uns, mittels einer erlebten Empfindungskomplexion die anschauliche Vorstellung […] eines Gegenstands erwächst“ (ebd., 74). Das Bedeutunghaben des Zeichens verbürgt damit schon einen wie immer gearteten Gegenstandsbezug. Was als Semiotik intendiert war, wird auf diese Weise zur sublimierten Gegenstandstheorie. Es ist genau dieser Ansatz, den Alexius Meinong (1853⫺1920) realisiert hat.
13. Meinongs Gegenstandstheorie Meinong ist in unserem Zusammenhang in der Tat deswegen von Belang, weil er sein Hauptwerk Über Annahmen (Meinong 1910) einleitet mit semiotischen Überlegungen (vgl. Art. 77 § 7.2.). Er beschäftigt sich in diesen Voruntersuchungen mit der Relation von Zeichen und Bezeichnetem. Er setzt das Bezeichnete mit der Bedeutung des Zeichens gleich. Die „Bedeutungen selbst sind stets Gegenstände (bei Wörtern meist Objekte)“ (Meinong 1923, 130). Ein Wort z. B. bedeutet aber nur in dem Fall etwas, „sofern es ein präsentierendes Erlebnis ausdrückt, und der durch dieses Erlebnis präsentierte Gegenstand ist dann eben die Bedeutung des Wortes“ (Meinong 1910, 28). In der Tat sind also die Bedeutungen von Zeichen Gegenstände. Die semiotische Einleitung bereitet den Weg für die Gegenstandstheorie. Die in Frage kommenden Gegenstände können sowohl raumzeitlich existierende (konkrete) Gegenstände sein wie auch abstrakte Objekte, etwa Eigenschaften, Relationen, mathematische Gegenstände. Hierzu gehören auch die sogenannten Objektive (Sachverhalte, Propositionen). Aber Meinong spricht auch von nichtseienden (weder existierenden noch bestehenden) Gegenständen. Fiktive, aber logisch mögliche Gegenstände wie der „goldene Berg“, aber auch widersprüchliche wie der „viereckige Kreis“ gehören gleichberechtigt in diese Kategorie. Für seine Ontologie legt Meinong zwei Prinzipien zugrunde: 1. das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein (eine prädikative Aussage „A
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ist B“ ist unabhängig davon, daß A existiert („ist“); vgl. Meinong 1910, 78) und 2. die These vom Außersein des reinen Gegenstandes (vgl. ebd., 234). Das besagt, daß auch ein Urteil über das Nichtsein eines Gegenstandes nur unter der Voraussetzung seines vorherigen Gegebenseins jenseits von Sein und Nichtsein gefällt werden kann. So muß es z. B. die Tatsache, daß heute Freitag ist, und die Nichttatsache, daß heute Samstag ist, geben, damit ihnen die Tatsächlichkeit bzw. die Nichttatsächlichkeit zugesprochen werden kann, und der goldene Berg muß da sein, damit er golden und nichtexistent sein kann (vgl. Günther 1987). Nach Bertrand Russells (1872⫺1970) Meinung nun sind solche Philosophen wie Meinong dazu durch die oberflächengrammatische Form verführt worden, daß jeder Satz, auch etwa dieser: „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ von der SubjektPrädikat-Form ist, d. h. eine Satzaussage von einem Satzgegenstand macht mit der entsprechenden Rollenverteilung von Prädikat und gegenständlichem Träger von Eigenschaften. In Wahrheit aber handelt es sich um eine komplexe Aussage. In der Tat zeigt die berühmte Analyse Russells in On Denoting (1905), daß die definite Beschreibung „der gegenwärtige König von Frankreich“ nicht eine unabhängige Einheit in dem Satz ist. Sie ergibt sich vielmehr aus der Konjunktion folgender Aussagen: 1. Es gibt einen gegenwärtigen König von Frankreich. 2. Es gibt höchstens einen König von Frankreich. 3. Wenn jemand König von Frankreich ist, so ist er kahl. Damit hat Russell in der Auseinandersetzung mit einer eigentümlichen Theorie der Zeichenbedeutung, der Gegenstandstheorie, ein entscheidendes Prinzip formuliert, daß nämlich die Oberflächengestalt eines Satzes nicht mit seiner wahren logischen Struktur übereinstimmen muß (zu der Russell-MeinongDebatte vgl. vor allem Simons 1988; siehe auch Art. 76 § 3.2.2.). Diese Differenz zwischen der Oberflächengrammatik und einer Tiefengrammatik ist dann insbesondere im Denken Wittgensteins (1889⫺1951) und von da aus in der gesamten sprachanalytischen Philosophie operativer Leitfaden geworden gerade im Kampf gegen die Gegenstandstheorie der Bedeutung. Eingebettet in eine
1449
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umfassende Philosophie der Sprache ist die Zeichenbedeutung hinfort befreit von der Präponderanz des Benennens; sie ist vielmehr Projektion zugrunde liegender Tiefenstrukturen und damit abhängig von diesen Projektionsregeln. Wir können dies als eine Substitution der gegenstandsbasierten Bedeutungstheorie durch eine regelbasierte Theorie der Zeichenbedeutung auffassen (zu der entsprechenden Auseinandersetzung in der Renaissance vgl. Art. 67 Abb. 1).
14. Husserls intentionale Einheit von Sprache und Akt Indes, wenn Husserls Philosophie und namentlich seine Semiotik mit dem Problem der Vergegenständlichung der Bedeutung belastet ist und er hierin ein Weggenosse Meinongs genannt werden darf, so wäre es doch falsch, die Verwandtschaft zu übertreiben. Dies würde verkennen, daß Husserls Semiotik in Phänomenologie eingebettet ist und daß es deren Zielsetzung ist, Referentialität als begründet in nichts anderem als einem „Gewebe intentionaler Akte“ zu erblicken. Da andererseits der Ausdruck der Zentralbegriff seiner Semiotik ist, so ist klar, was durch den Intentionalitätsbegriff eigentlich erfaßt und benannt werden soll: nämlich die untrennbare Einheit von „Aboutness“ auf der einen Seite (daß nämlich Bewußtsein stets Bewußtsein von etwas ist, daß jeder Ausdruck Ausdruck von etwas ist, jeder Satz etwas über etwas aussagt, jeder Name etwas benennt und jedes bedeutende Zeichen etwas bedeutet) mit dem Akthaften, Aktualen auf der anderen Seite, welches im Kern das „Wesen des egologischen Lebens“ ⫺ Husserls Formel für Intentionalität ⫺ ausmacht. Was Husserl von Meinong also wesentlich unterscheidet und ihn in gewisser Hinsicht einerseits wieder in die Nähe der idealistischen Philosophie rückt, ihn andererseits aber ⫺ wie wir gleich sehen werden ⫺ modernen Strömungen der Sprachphilosophie und der Cognitive Science assimiliert, ist die Konzentration auf diese eigentümliche Einheit von Sprache und Handlung, von Ausdruck und Akt im Begriff der Intentionalität. Was ist näherhin damit gemeint? Der Begriff der Intentionalität ist in neuerer Zeit bekanntlich wieder von Franz Brentano (1838⫺1917) ins Spiel gebracht worden. Für ihn ist Intentionalität das Kennzeichen des Mentalen. „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Schola-
stiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstands genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden […]. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteil ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt etc. […]. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas ähnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten“ (Brentano 1874, Bd. I, § 5). Brentano formuliert an dieser Stelle aber nur die Aboutness der Intentionalität. Der Akt als eigenständige Größe konstituiert sich dadurch, daß beim Durchtesten zulässiger Prädikate dem Akt und dem Objekt der Intention nicht die gleichen Attribute zugesprochen werden können: Ich erinnere mich beispielsweise an etwas Gestriges. Aber meine Erinnerung daran ist doch gegenwärtig. Auch das, was ich für morgen hoffe, muß nicht eintreten, aber deswegen ist doch meine Hoffnung nicht auf morgen zu verschieben. Was einer glaubt, kann durchaus identisch sein mit dem, was ein anderer bezweifelt, aber deswegen ist doch diese Hoffnung nicht mit diesem Zweifel identisch. Und ⫺ um noch zwei wichtige Fälle zu nennen ⫺ wenn gestern ein Vulkan ausbrach, so ist es doch jetzt wahr, daß gestern ein Vulkan ausbrach; und wenn ich denke, daß ich ein zusammenhangloser Traum bin, so hat doch dieser Gedanke seine eigene Kohärenz. Es korreliert hier also allen Inhalten ein selbst gewissermaßen nur formales Element, nämlich das Aktualsein des Inhalts in der Form der (bei Husserl Bewußtseins-)Präsenz. Diese Präsenz, das Ver-Gegenwärtigen, ist ja, wie Husserl richtig sah, Wesen des egologischen Lebens. Husserl hat zeitlebens um die adäquate Fassung dieser Einheit von Sprache (Ausdruck) und Akt (d. h. Aktualität, Präsenz) gerungen.
15. Searles Intentionalität als Repräsentation Unter diesen Bedingungen verwundert es nicht, daß Husserl gerade in einem Sprachphilosophen unserer Zeit einen Fortsetzer sei-
1450 ner Intentionen gefunden hat. Searle nämlich hat in diesem Charakter des Präsentierens, dem Aktual-, oder, wie er sagt, Im-Gebrauchsein der Intentionalität zugleich mit ihrer Darstellungs-, d. h. Repräsentationsfunktion (Searle benutzt den Terminus „representation“) ihr wesentliches Charakteristikum erkannt. Searle schreibt: „The key to understanding intentionality is representation“ (Searle 1981, 726). Searle unterstreicht dies in der Absicht, den Unterschied zwischen Intentionalität und Intensionalität hervorzuheben. Daß beide Begriffe nicht immer klar geschieden werden, liegt nach Searle daran, daß „die Beschäftigung mit der Intentionalität an einer Verwechslung von Ebenen leidet, die ein wenig der Verwechslung von Gebrauch und Erwähnung ähnelt. Die (häufig vorliegende) Intensionalität-mit-einem-s von Sätzen über intentionale Zustände verlockt zu dem Schluß, intentionale Zustände selbst seien irgendwie intensional-mit-einem-s, irgendwie seien sie nicht wirklich auf ihre Objekte gerichtet, sondern auf ihren eigenen Repräsentationsgehalt. Dies ist jedoch eine Verwechslung von Eigenschaften der Beschreibung intentionaler Zustände mit Eigenschaften der beschriebenen Zustände, eine Verwechslung der ‘Erwähnung’ geistiger Zustände mit ihrem ‘Gebrauch’. Angaben intentionaler geistiger Zustände sind in der Tat (im allgemeinen) intensional-mit-einem-s, weil sie von Repräsentationen handeln. Aber intentionale geistige Zustände handeln nicht von Repräsentationen, sie sind Repräsentationen“ (Searle 1979, 157). Intentionalität wird also nur dann adäquat erfaßt, wenn sie als aktuale und im Gebrauch erfaßt wird, und nicht durch eine sie objektivierende Repräsentation „vergegenständlicht“ wird. Ganz im Sinn von Husserls Akzentuierung des Egologischen unterstreicht Searle die Nicht-Eliminierbarkeit der „Innenperspektive“: wenn also z. B. einer eine Meinung bezüglich einer Sache äußert, so muß man, um den „intentional content“ zu verstehen, „do more than just look at the sentence used to express the belief. One must look at the intentional content in the man’s head“ (Searle 1981, 726). Wer fühlt sich hier nicht an Fichte erinnert, aber es ist einer der prominentesten Vertreter der modernen Sprachphilosophie, der dies äußert. Und ihre semiotische Konsequenz? Sie ist in der Tat umfassend, vertritt doch Searle die These, daß „language is derived from intentionality“ (Searle 1979 a, 92). Intentionalität ist so gewissermaßen der Motor,
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der die Sprache lebendig erhält. Aber die semiotische Konsequenz liegt vor allem in der schon erwähnten These: „The key to understanding intentionality is representation“. Ein intentionaler Zustand ist nämlich nach Searle die „Repräsentation der Bedingungen seiner Erfüllung“ (Searle 1979, 165). Aber wohlgemerkt: intentionale geistige Zustände handeln nicht von Repräsentationen, sie sind Repräsentationen. Der Report über eine Intention hat somit ganz andere Erfüllungsbedingungen als die Intention ⫺ ja man muß wohl so tautologisch sprechen ⫺ als wirklich intendierte. Wir können diese Husserl und Searle zusammenschließende diffizile Problematik vielleicht so formulieren: Jeder intentionale Ausdruck als Ausdruck einer Intention weist an oder repräsentiert den logischen Ort der Erfüllung der Intention in einem Koordinatensystem, dessen Ursprung immer im Aktualen liegt (Intentionen sind Repräsentationen, sie handeln nicht davon). Wir können dann, was das von Searle angesprochene Verhältnis von Intension und Intention betrifft, pointiert so formulieren: Intensionen definieren mögliche Welten, aber man hat in keiner möglichen Welt eine Intention, außer man hat sie, d. h. außer in der aktualen. Eben diese Einheit von Akt(ualität) und Form der Repräsentation kann als Leitfaden der philosophischen Bemühungen seit Kant angesehen werden. Aber wenn hier von Repräsentation die Rede ist: kann es sich wirklich noch ungebrochen um den vertrauten Begriff aus der erkenntnistheoretischen Tradition mit dem Bewußtseinsprimat handeln? Ist die Tradition der mentalistischen Semantik denn wirklich noch so ungebrochen?
16. Repräsentation als Information: Dretskes Theorie Wir wollen uns zum Zweck der Beantwortung dieser Frage noch einmal darauf besinnen, ob wir der Helmholtzschen Semiotik unter den Bedingungen einer naturalisierten Erkenntnistheorie tatsächlich gerecht geworden sind. Schauen wir dazu noch einmal etwas näher an, was Helmholtz eigentlich geschrieben hatte: „Insofern die Qualität unserer Empfindungen uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt wird, eine Nachricht gibt, kann sie als Zeichen derselben gelten“ (Helmholtz 1878, 115). Bei genauerem Hinsehen erweist sich
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demnach ⫺ und darauf weist auch schon die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassende Ablehnung der Abbildtheorie hin ⫺ als der Kern der Helmholtzschen Semiotik eine Form der Informationsübermittlung. Sinnesempfindungen und Vorstellungen, also in der Terminologie der klassischen Epistemologie: Repräsentationen, sind hier genau insofern in Frage und intern auf eine Zeichensprache, welche sich nunmehr als ein Nachrichtenkode erweist, bezogen, als sie Informationsträger sind. Die Helmholtzsche naturalisierte Erkenntnistheorie erkennt den wesentlichen Charakter der Repräsentation in der Information. Damit wird aber die ganze Diskussion des Verhältnisses von Zeichen und Bedeutung herausgerückt aus der klassisch-erkenntnistheoretischen Perspektive in eine moderne informationstheoretische. Nun ist freilich in diesem Kontext das von Husserl Erarbeitete keineswegs unwichtig, denn seine Unterscheidung zwischen den hyletischen Daten und der noetischen Form macht auch hier Sinn, da z. B. die Wahrnehmung einer Ente schon auf unterster Stufe eine Form der Informationsverarbeitung ist, aber es muß durchaus nicht schon die Information darin enthalten sein, daß es sich um eine Ente handelt. Hierzu bedarf es ⫺ wie sich Dretske, auf den wir uns im folgenden vor allem stützen wollen ⫺ ausdrückt, erst einer eigenen kognitiven Transformation (vgl. Dretske 1983, 60). Mit Dretske können wir drei Formen solcher Informationsverarbeitung unterscheiden (vgl. Bieri 1986, 20 ff): 1. die nomisch vermittelte (Z. B. immer dann, wenn das Telephon klingelt, weiß ich, daß mich jemand anruft. Das Klingeln zweier Telephone bloß relativ zueinander dagegen ist ohne Informationsgehalt. Das Telephonklingeln bedeutet ⫺ d. h. nunmehr: enthält die Information ⫺, daß mich jemand anruft. Ähnlich informiert der Fingerabdruck über den Täter, das Licht vom fernen Stern über die chemische Zusammensetzung seiner Materie usw.); 2. die Repräsentationsform, in der es eine Rolle spielt, wie etwas für ein Bewußtsein ist (die phänomenologische Ebene); 3. die Repräsentationsform, welche wahrheitsfähig, d. h. auf Wahrheitsbedingungen bezogen ist (die propositionale Ebene). Dretske versucht in seinem Buch Knowledge and the Flow of Information (1981) eine Theorie des Wissens zu geben, welche auf dem Informationsbegriff aufbaut. Kernstück ist die
1451 Explikation eines semantischen Informationsbegriffs als Theorie des Inhalts („content“) einer Information. Es geht ihm aber gerade um die Erfassung der Spezifizität der Information in einem Zeichen. Es ist bei Signalen, Strukturen, Zeichen nur das besondere Signal, welches einen Informationsgehalt besitzt. Er hebt sich hier ausdrücklich ab von der quantisierenden mathematischen Informationstheorie Shannons. Dretske faßt Information gleichsam als den Urstoff der Welt auf. Sie ist etwas objektiv Vorgegebenes, das wir kaufen und verkaufen können, ohne daß sie darum ein Ding wäre. Wir würden dagegen nie eine Vorstellung oder einen Sinneseindruck (die klassischen Repräsentationen) kaufen. Auch unterhalb der Wissensebene ⫺ wie oben schon angedeutet ⫺ hat es Sinn, von Informationsverarbeitung zu sprechen. In gar keiner Weise handelt es sich hier um etwas rein Subjektives. Eine Information kann kausal einwirken: die Information, daß er gekommen ist, erzeugt kausal den Glauben, daß er gekommen ist und die entsprechenden Verhaltensweisen. Aber andererseits gilt doch auch, daß der Informationsgehalt eines Zeichens nicht an sich einzigartig ist: Es gibt daher genau genommen kein isoliertes Stück Information in einer Struktur. Und hier liegt auch der Unterschied zur sprachlichen Bedeutung: daß Peter nicht kommt, bedeutet nicht linguistisch oder logisch, daß er mir böse ist, wohl aber hat dieser Tatbestand unter Umständen diesen Informationswert. Aber er kann mich auch darüber informieren, daß Nebel auf der Autobahn ist, denn dann wollte er nicht kommen. Aber ferner: daß Leonardo der Maler der Mona Lisa ist, und daß er der Erfinder schrecklicher Kriegsgeräte ist, sind zwei verschiedene Informationen, auch wenn sie von demselben Gegenstand handeln. Der Informationsgehalt einer Struktur hängt also nicht nur von der Referenz des denotierenden Ausdrucks ab, sondern ebenso von seiner Intension. Unter Vernachlässigung der von Husserl und der Sache nach von Searle explizit gemachten Unterscheidung zwischen Intension und Intention zieht Dretske die Konsequenz: der Informationsgehalt einer Struktur weist intentionale Eigenschaften auf. Objektiv, wie der Informationsbegriff nachweislich ist, ist er doch gleichwohl „subjektiv“, da intentional, was hier eigentlich so viel heißt wie „wissensabhängig“ oder „wissensbasiert“. Und Dretske schreibt den interessanten Satz: „If intentionality is the mark of the mental, then we al-
1452 ready have in the physically objective notion of information, defined above, the traces of mentality“ (Dretske 1983, 58). Reflektieren wir auf die bisherigen Erörterungen, so stellen wir fest, daß im Informationsbegriff die objektive Seite der Unabhängigkeit vom Bewußtsein (was ein Anliegen der naturalisierten Erkenntnistheorie ist) und die Seite des Intentionalen (der Platzhalter von Mentalität in der Erkenntnistheorie) gewissermaßen aufgehoben, indifferent geworden ist; beide Seiten sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Der Informationsbegriff, wie ihn Dretske ins Spiel bringt, erweist sich als ontologisch neutraler Begriff, der eine sowohl mentalistische wie physikalistische Interpretation zuläßt. Die alte Dichotomie Materie und Geist hat daher hier die Chance, in einer Indifferenz, wie sie sich Schelling nicht hätte intensiver träumen lassen können, neutralisiert zu werden; und wiederum steht das Zeichen, das Signal, die Struktur als Informationsträger im Mittelpunkt, denn was wäre die Information ohne die Realisierung oder Manifestierung in einem wie immer gearteten Kode. Ist aber das Zeichen nunmehr als informationstragender Kode in Frage, so erfährt auch die semiotische Aufgabe eine unerhörte Erweiterung, und die Husserlsche Einteilung in anzeigende und bedeutende Zeichen, verdienstvoll immerhin als erster expliziter Differenzierungsversuch, erscheint nunmehr höchstens als ein vielleicht exponierter Fall unter tausend anderen Möglichkeiten der Zeichen, Information zu tragen, Kodierung zu sein (vgl. Art. 125).
17. Die Relevanz des Informationsbegriffs und die Idee der Cognitive Science Schon Bertrand Russell (1872⫺1970) hatte von einer Art „Entmaterialisierung der Materie“ (Russell 1956, 145 ff) im Fortschritt der modernen Naturwissenschaften gesprochen. In diesem Sinn hat besonders C. F. von Weizsäcker (*1912) den Informationsbegriff als grundlegend für das Verständnis physikalischer Begriffe fruchtbar zu machen versucht. Er vertritt z. B. die These, „Substanzmenge sei Information“ (Weizsäcker 1982, 361). Was bedeutet das etwa bezüglich der Masse? Die Information einer Situation ist nach v. Weizsäcker einfach die Anzahl der in sie eingehenden Uralternativen. Nach dem einfachsten Modell eines Masseteilchens ist dessen Ruhe-
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masse die Anzahl der zum Aufbau des ruhenden Teilchens notwendigen Uralternativen, also exakt die im Teilchen investierte Information. Das bewegte Teilchen hat eine höhere Masse, es enthält mehr Uralternativen. „Die Welt selbst“, schreibt v. Weizsäcker, „erscheint in dieser Theorie als der Inbegriff der Formen“ (ebd., 364), wobei er Form hier mit Information gleichsetzt. Und er fährt interessanterweise fort: „Die Theorie vollzieht demnach dem Ansatz nach die radikale Objektivierung der Semantik“ (ebd.). Im Sinn der von uns herausgestellten Indifferenz bzw. ontologischen Neutralität des Informationsbegriffs stellt v. Weizsäcker, einen Schritt noch weitergehend, sich selbst die Frage, ob nicht diese Objektivierung der Semantik auch das Wissen und Verstehen selbst als „Teil eines großen Prozesses der Selbstbewegung“ (ebd.) zu verstehen lehrt, wobei unter Selbstbewegung das Prinzip zu verstehen ist, daß Information Information erzeugt. Das aber würde bedeuten, daß Geist und Natur, Subjekt und Objekt nur als partes integrantes eines großen Weltprozesses der Informationsgenerierung und Informationsverarbeitung verstanden werden können. Auf der Basis dieser ontologischen Neutralität im Informationskonzept kann sich dann aber auch die Idee einer Wissenschaft herausbilden, deren Gegenstand das Studium der homologen Eigenschaften aller „informavores“, d. h. aller informationsverarbeitenden Systeme ist; die menschliche Erkenntnis hätte hier keine Ausnahmeposition. Eine solche Wissenschaft hat sich in der Tat in jüngster Zeit unter dem Namen der „cognitive science“ etabliert. Näherhin ist sie die Zusammenfassung verschiedenster Wissenschaften wie Informatik, Philosophie, Psychologie, Linguistik und Systemtheorie in einer gemeinsamen disziplinären Matrix. Insofern das Verarbeiten von Information als Operieren in Form von regelgesteuerter Symbolmanipulation betrachtet wird, lassen sich res cogitantes (vulgo Menschen) und andere informations- und symbolverarbeitende Systeme (man denke vornehmlich an Computer) als „semantic engines“ (vgl. Haugeland 1981, Einleitung) unter ein gemeinsames Genus fassen (vgl. Art. 78 § 5.3.). Hier rückt natürlich vor allem die Beziehung von Kognition und Computation, von natürlicher und künstlicher Intelligenz in den Vordergrund (zu der Beziehung von Semiotik und künstlicher Intelligenz vgl. vor allem Jorna 1990).
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Sieht man einmal von den historischen Vorläufern einer solchen Entwicklung wie Hobbes (1588⫺1679) und Leibniz (1646⫺ 1716) ab, so ist die Homologisierung von Computation und Cognition ideologisch vor allem vermittelt einerseits durch Überlegungen, wie sie A. Turing (1912⫺1954) in seinem „Imitationstest“ vorgetragen hat (Turing 1950), der ein Zuschreibungskriterium für Intelligenz von Maschinen enthält, andererseits aber im wissenschaftstheoretisch-philosophischen Sinn durch Überlegungen H. Putnams (Putnam 1975). Der von Putnam vertretene turing-funktionale Materialismus besagt, daß es zu jedem mentalen Zustand (die traditionelle Bewußtseinsphilosophie ist also gewandelt zu einer Theorie mentaler Zustände) einen physikalisch neutralen Zustand gibt, der eine abstrakte Funktion realisiert. Computer, Menschen, aber auch Naturvorgänge sind solche Realisierungen abstrakter funktionaler, ontologisch neutraler Zustände. Mentalität kann dann ingesamt als kausal realisiertes System von formalen, funktionalen Zuständen angesehen werden. Haugeland umschreibt die hier zugrunde liegende „Metaphysik“ wie folgt: „The basic idea of cognitive science is that intelligent beings are semantic engines ⫺ in other words, automatic formal systems, with interpretations under which they consistently make sense. People and intelligent computers turn out to be merely different manifestations of the same underlying phenomenon“ (Haugeland 1981, 31). Für unseren Zusammenhang ist nun in der Tat wichtig, daß mit dem Begriff des kognitiven Systems der der (inneren) „Repräsentation“ eng verbunden ist. Gemeint ist damit so etwas wie eine intrinsische Modellierung des Repräsentationsgehalts von Symbolsystemen (vgl. hierzu vor allem Fodors Buch Representations, Fodor 1981). Searle, der, wie wir gesehen hatten, dem Repräsentationsbegriff durchaus große Bedeutung beimißt, vertritt die These, daß solche funktionalen Modelle nicht in Wahrheit Repräsentationen sind, sondern daß wir, die selbstbewußten Theoretiker, es sind, die „by convenience“ glauben, daß die funktionalen Zustände eines Computers, aber dementsprechend auch unseres Gehirns als eines informationsverarbeitenden Systems, einen Repräsentationsgehalt, d. h. eine semantische Dimension haben. Searle hat dieses Problem, welches ja, wie man leicht sieht, von unmittelbarer semiotischer Relevanz ist, an dem berühmten „Chi-
1453 nese-Room“-Experiment klarzumachen versucht (vgl. Searle 1980 und Searle 1986). Wir sollen uns hier etwa einen Roboter vorstellen, der formale Symbole auf ein in einem Raum befindliches Display produziert. Diese werden von einem Homunkulus betrachtet. Als Antwort auf diese Eingaben tippt der Homunkulus andere Symbole ein und zwar gemäß einem komplexen Satz von Instruktionen, welche vollständig durch formale oder syntaktische Relationen zwischen den Symbolen spezifiziert sind. Die von ihm eingetippten Symbole produzieren wiederum Antworten bei dem Roboter, so daß man, vorausgesetzt, es handele sich um chinesische Symbole, von außen betrachtet meinen könnte, es finde eine chinesische Unterhaltung statt. Searles Behauptung ist nun die, daß eben kein „Verstehen“ der semantischen Eigenschaften (der Bedeutungen) der Symbole vorliegt; daß eine solche rein syntaktische Symbolmanipulation nicht mit dem Verstehen von Sprache gleichzusetzen ist, denn es handele sich hier nur um uninterpretierte Zeichen, so daß in diesem Sinn auch Symbolmanipulation noch nicht eo ipso mit Kognition gleichgesetzt werden kann. Searle wendet sich hiermit gegen die Ansprüche der von ihm so genannten „starken KI“ (stark, wegen der starken Ansprüche), welche eben diese Identifizierung vornimmt. Es ist nunmehr höchste Zeit für eine kurze Bilanz dieses komplexen Kapitels. Zu unserer Überraschung stellt sich, nach zahlreichen Überwindungs-, Eliminierungs- und Ausweichversuchen, gerade im Schoß der modernen Cognitive Science das Problem des Zeichens, das Problem des Symbolverstehens in erneuter Weise. Es erweist sich sogar, daß sich im Zug der Erörterung seiner Möglichkeit das Privileg des Menschen, Verstehender, Bedeutungsgebender zu sein, gleichsam relativiert, daß er ⫺ jedenfalls in den Augen mancher Theoretiker ⫺ nur ein symbolverstehendes System unter anderen semantic engines ist, so daß eine ursprünglich speziell auf ihn zugeschnittene Disziplin, die Epistemologie, ihren Aufgabenbereich gewaltig erweitert sieht und sich zu dem ausweitet, was der Wissenschaftstheoretiker Clark Glymour eine „android epistemology“ nennt (Glymour 1987). Möglich wurde diese Erweiterung aber nur, weil das Operieren mit Symbolen und das Verarbeiten von Information sich gleichsam zur kosmischen Invariante herausgebildet hat. Betrachten wir aber den Gang unserer Darstellung, so wird man nicht ganz ein-
1454 deutig die Frage beantworten können, ob diese Entwicklung möglich geworden ist, obwohl die philosophische Tradition seit Kant vor dem Problem des Zeichens ausgewichen ist, oder aber, ob sie gerade dadurch ermöglicht wurde, daß dieses Ausweichen und die stete Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des semiotischen Problems permanent katalytisch gewirkt hat, gewissermaßen als List einer mit Zeichen spielenden und Zeichen setzenden Vernunft.
18. Der Strukturalismus Nach Dretske ist Information das epistemisch und ontisch Erste. Also nicht der Geist und nicht das Wort, auch nicht die Tat; Information ist nach ihm „the raw material out of which minds were manufactured“ (Dretske 1983, 57). Dretskes These, aus einem ganz anderen geistigen Milieu entsprungen, trifft sich gleichwohl mit einer Denkweise, welche sich ihrerseits des Vokabulars der Informationstheorie bedient hat, um eine metaphysische These, die in unserer ganzen bisherigen Diskussion eine große Rolle gespielt hat, zu destruieren, nämlich die von der sinnkonstituierenden Subjektivität: gemeint ist der Strukturalismus (vgl. Art. 77 §§ 8. und 13.). Der Strukturalismus hat für seine Gedanken eine enorme Anregung erhalten durch die Vorarbeit F. de Saussures (1857⫺1913) und R. Jakobsons (1896⫺1982) auf linguistischer Seite. Es kann hier nicht der Ort sein, die Theorien Saussures, deren Interpretation ohnehin mit notorischen Schwierigkeiten behaftet ist, darzustellen (vgl. dazu Artikel 101 in diesem Handbuch), aber es sind zwei wesentliche Aspekte, die für unsere Thematik eine wichtige Rolle spielen: Saussure hatte die Sprachwissenschaft zum Teilgebiet dessen gemacht, was er „Se´miologie“ nannte. Die Semiologie ist „une science qui e´tudie la vie des signes au sein de la vie sociale“ („eine Wissenschaft, die das Leben der Zeichen im Schoße des sozialen Lebens untersucht“; Saussure 1916, 33). Und: „Elle nous apprendrait en quoi consistent les signes, quelles lois les re´gissent“ („Sie würde uns lehren, woraus die Zeichen bestehen, welche Gesetze sie regieren“; ebd.). Die signitive Funktion des Zeichens beruht nun nach Saussure nicht auf einer natürlichen Verbindung („lien naturel“; ebd., 101) ⫺ das sprachliche Zeichen ist „arbitraire“ (ebd.) ⫺, sondern die Bedeutung ei-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
nes Zeichens ist der Effekt rein differentieller Beziehungen zu anderen Zeichen (zu Saussures Zeichenlehre vgl. Krampen 1979). Zwar war Saussure wohl der erste, der die Sprache mit einem Spiel nach Regeln, analog dem Schachspiel verglich, wesentlich ist aber vielmehr die Einsicht, daß es sich bei ihr um ein „jeu des oppositions“ („Spiel der Oppositionen“; ebd., 168) handelt: „dans la langue il n’y a que des diffe´rences sans termes positifs“ („in der Sprache gibt es nichts als Unterschiede ohne positive Begriffe“; ebd., 166). Der andere, ebenfalls auf Saussure fußende große Anreger der Strukturalisten, R. Jakobson, hat diese differentielle Funktion, wie sie z. B. im System der phonetischen „distinctive features“ besonders klar realisiert ist, so ausgedrückt: „The exceptionally rich repertory of definitely coded meaningful units (morphemes and words) is made possible through the diaphanous system of their merely differential components devoid of proper meaning (distinctive features, phonemes and the rules of their combinability). These components are semiotic entities sui generis. The signatum of these entities is bare otherness, namely a presumably semantic difference between the meaningful units to which it pertains and those which ceteris paribus do not contain the same entity“ (Jakobson 1971, 707; zu Jakobson vgl. vor allem Holenstein 1975 sowie Art. 116). Die zweite wichtige Einsicht Saussures, die hier zum Tragen kommt, ist seine Unterscheidung von langue und parole. Für uns ist vor allem wichtig, daß Saussure die langue als „code“ (Saussure 1916, 31) bezeichnet. Sie wird damit als System von Regeln betrachtet, welche die Generierung von „messages“ erlaubt. Damit aber haben wir den Anschluß an die vorangehenden Überlegungen erreicht. Nun hatte Saussure ja, wie sich aus obigem Zitat ergibt, die Semiologie als Wissenschaft, die die Zeichen in ihrem sozialen Kontext studiert, eingeführt. Der Strukturalismus in dem uns heute geläufigen erweiterten Sinn ergibt sich genau aus der Auffassung, daß die Bedeutungskonstitution des Zeichens als Effekt rein differentieller Beziehungen nicht nur für die im engeren Sinn sprachlichen Systeme gilt; es gilt vielmehr: alle soziokulturellen Systeme haben eine Kodestruktur, d. h. sind Sprachen im Sinne von „langue“, also im Sinn von einer Gesamtheit von Botschaften, deren Formation von Regeln geleitet ist. Unter dieser Prämisse gilt z. B. für Le´vi-Strauss (*1908) hinsichtlich seiner Untersuchungen der Ver-
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wandtschaftsbeziehungen „primitiver“ Kulturen, „daß man die Heiratsregeln und die Verwandtschaftsgefüge als eine Art Sprache ansah, das heißt als ein Operationsgefüge, das dazu bestimmt ist, zwischen den Individuen und den Gruppen einen bestimmten Kommunikationstyp zu sichern“ (Le´viStrauss 1958, 74). Und ferner und direkter: „die Verwandtschaftsbeziehungen sind in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänomene des gleichen Typus wie die sprachlichen“ (ebd., 46). So ist etwa auch der Mythos, ein Hauptforschungsgebiet von Le´viStrauss, eine Rede, auf die sich Transformationen anwenden lassen, ähnlich wie die Permutations- und Oppositionstests, durch die der Begriff „Phonem“ in der Linguistik operationalisiert wird. Le´vi-Strauss spricht demgemäß auch von „Mythemen“. Die Grundthese ist, daß die Gesamtheit der Mythen sich als invariante Struktur durch das Spiel solcher Permutations- und Oppositionstransformationen herausstellt. Das Gesetz der differentiellen Beziehung zur Herausarbeitung des Verhältnisses von Kode und Message macht sich auch hier geltend und realisiert eigentlich jene berühmte Bestimmung, die Bateson von der Information gegeben hat: „Informationen bestehen aus Unterschieden, die einen Unterschied machen“ (Bateson 1979 ⫽ 1982, 123). Hören wir, was Le´vi-Strauss, der sich hier explizit auf Saussure stützt, für die Struktur für charakteristisch hält: Eine Struktur zeigt nach ihm „Systemcharakter“. „Sie besteht aus Elementen, die so angeordnet sind, daß die Veränderungen eines von ihnen eine Veränderung aller übrigen nach sich zieht“ (Le´vi-Strauss 1958, 302). Der Inhalt einer solchen Struktur zerfällt in Komponenten, die zu bestimmten Klassen gehören, deren Elemente durcheinander ersetzbar sind, wodurch das gemeinsame Schema zutage tritt. Systeme mit verschiedenen Elementen, aber mit derselben schematischen Struktur, sind analog, wodurch sich im Werk von Le´viStrauss jene geistreiche Analogisierung verschiedenster Bereiche ergibt. Die begrifflichen Schemata wiederum sind innerhalb einer Transformationsgruppe untereinander ersetzbar. „Die diesen verschiedenen Systemtypen eigentümlichen Transformationsgruppen wiederum werden von einer einzigen Kombinatorik beherrscht. Die Regeln dieser Kombinatorik sind die des menschlichen Geistes, auf die sich alle möglichen Strukturen zurückführen lassen“ (Sperber 1973, 251 f). Invarianten einer Gruppe von Transformatio-
1455 nen bilden ein Modell. Man kann verallgemeinernd vielleicht sogar sagen, daß eine Analyse eines Inhalts, gleichgültig welches dieser sein mag, struktural ist, wenn sie diesen Inhalt als ein Modell erscheinen läßt. Und so schreibt auch Le´vi-Strauss: Jedes Modell gehört „zu einer Gruppe von Umwandlungen, deren jede einem Modell derselben Familie entspricht, so daß das ganze dieser Umwandlungen eine Gruppe von Modellen bildet“ (Le´vi-Strauss 1958, 302). Man sieht, daß der Strukturalismus sehr konsequent die Grundthese, daß es sich bei Mythen, Verwandtschaftsverhältnissen usw. um Sprachen im Sinne von langue, d. h. um Kodes handelt, mit den Mitteln der strukturalistischen Linguistik durchführt und die Grammatik dieses Zeichenspiels ausarbeitet. Nun hatte schon Le´vi-Strauss den Begriff des Mythos aus der Beschränkung auf die „Primitiven“ herausgenommen und in den Reden unserer Politiker und im schamanenhaften Tun des Psychiaters vergleichbar lohnende Gegenstände einer strukturalistischen Mythenkunde gesehen (vgl. Le´vi-Strauss 1958, 230: „Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie“). Diesen Ansatz haben Barthes auf soziologischer und Lacan auf psychologischer Seite ausgeweitet. Wir wollen hier nur kurz den ersteren kommentieren: Barthes hat zum Gegenstand der Mythenanalyse die „Mythen des Alltags“ (1957) genommen. So ist die Studie der Mode eine ganz dem Tun der strukturalistischen Linguistik vergleichbare Transformations- und Permutationsanalyse der „Wertigkeiten“ („valeurs“, dies ein zentraler Saussurescher Begriff) von Kleidungsstücken. Barthes macht insbesondere gegenüber dem sonst im Vordergrund stehenden Konzept der Denotation des Zeichens seine Konnotation stark: „Die Konnotationsphänomene sind noch nicht systematisch untersucht worden […], jedoch gehört die Zukunft zweifellos einer Linguistik der Konnotation“ (Barthes 1965, 76). Die Konnotation ist der eigentliche Ort der Mythen des Alltags, „denn die Gesellschaft entwickelt unaufhörlich, ausgehend vom ersten System, das ihr die menschliche Rede liefert, zweite Sinnsysteme“ (ebd.). Und genau diese Zwischen- oder Zweitsinnsysteme sind die Mythen, die ideologischen Diskurse, in denen sich eine Gesellschaft selbst repräsentiert. Sie manifestieren sich in den verschiedensten Kulturbereichen: der Mode, der Macht, den Tischsitten usw. Bemerkenswert ist noch, daß
1456 Barthes das von Saussure vorgegebene Verhältnis von Semiologie und Linguistik umkehrt: Sprache ist für ihn nicht ein abgeleitetes Zeichensystem und die Linguistik nicht ein Derivat der Semiotik, sondern jeder Zeichengebrauch ist allemal auf Versprachlichung angewiesen (vgl. Barthes 1965).
19. Die Semiotik der Warenwelt bei Marx Ist der Alltag analysierbarer Text, so sind umgekehrt Texte ebenso Gegenstände strukturalistischer Re- und Dekonstruktion. Althusser (1918⫺1990) hat diesbezüglich auf Marx (1818⫺1883) aus strukturalistischer Sicht neues Licht geworfen (Althusser 1965). Aber ein näherer Blick auf Marx hätte diesen schon längst als Semiologen erster Güte eines Bereichs ausgewiesen, der ein vorzüglicher Gegenstand für eine Strukturanalyse ist. Bereits Marx hatte nämlich den Sprachcharakter der Warenwelt erkannt! Marx schreibt: Indem die Menschen „ihre verschiedenartigen Produkte im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Wert nicht auf die Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt vielmehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände als Werte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache“ (Marx 1867, 88). Die Protoökonomie muß sich daher als eine Art Archäologie, ein Dekodieren eines geheimnisvollen Kodes verstehen. Die Waren sprechen nach Marx ihre eigene Sprache, die „Warensprache“. Eine Ware „verrät […] ihre Gedanken in der ihr allein geläufigen Sprache, der Warensprache“ (ebd., 66). Was ist es denn, was die Waren uns in dieser Sprache sagen wollen? „Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt ist unser Wert. Unser eigener Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehen uns nur als Tauschwerte aufeinander“ (ebd., 97). Schon im rohsten Tauschhandel, wenn zwei Waren gegeneinander ausgetauscht werden, „wird jede erst gleichgesetzt einem Zeichen,
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das ihren Tauschwert ausdrückt“ (Marx 1857⫺58, 104). Die Bildung eines „abstrakten Äquivalents“ ist in der hier uns interessierenden Perspektive vor allem Schaffung eines Zeichens, eines „Geldnamens“. „Die Waren sagen sich so in ihrem Geldnamen, was sie wert sind“ (Marx 1867, 115). Der Preis ist der „allgemeinverständliche Ausdruck“, den der Tauschwert „in der Sprache der Zirkulation erhält“ (Marx 1857⫺58, 927). Marx resumiert: „Ihre [der Ware] allgemeine Sprache ist der Preis und ihr Gemeinwesen das Geld“ (Marx 1859⫺60 : 128). „Geld ist das soziale Symbol“ (Marx 1857⫺58, 63) schlechthin. Es ist also deutlich: Marx sieht in der Warenwelt eine relevante semiotische Dimension. Aufgabe der von ihm betriebenen semiologischen Analyse ist die Dechiffrierung der gesellschaftlichen Hieroglyphe und ihre Rückübersetzung in den einzigen Klartext, den Marx akzeptiert: die Sprache der Arbeitsproduktivität. Diese allein ist es, was dem (Geld)Namen Bedeutung(Wert) (ver)schafft. Man muß aber einschränkend sagen, daß die Analogie zwischen Geld und Sprache nicht überdehnt werden darf. Marx hat hier selbst Restriktionen vorgegeben, indem er sagt: „Das Geld mit der Sprache zu vergleichen, ist […] falsch. Die Ideen werden nicht in der Sprache verwandelt, so daß ihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter neben ihnen in der Sprache existierte, wie die Preise neben den Waren. Die Ideen existieren nicht getrennt von der Sprache. Ideen, die aus ihrer Muttersprache erst in eine fremde Sprache übersetzt werden müssen, um zu kursieren, um austauschbar zu werden, bieten schon mehr Analogie; die Analogie liegt dann aber nicht in der Sprache, sondern in ihrer Fremdheit“ (Marx 1857⫺58, 80; zu Marxens Sprachtheorie vgl. vor allem Erckenbrecht 1973). Diese eigentlich offensichtliche Einschränkung einmal akzeptiert, bleibt doch die Tatsache, daß Marx die Warenwelt selbst, ja mit der Thematisierung des Geldes den ganzen Bereich der ökonomischen Interaktion, zum Gegenstand interessanter zeichentheoretischer Überlegungen gemacht hat (vgl. Art. 86).
20. Die Dekonstruktion der Subjektivitätsphilosophie und ihre semiotischen Konsequenzen: Heidegger und Nietzsche Für unseren Kontext ist aber nun folgende Quintessenz der vergangenen Erörterungen wichtig: Die strukturalistische Semiologie der
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Kodes bedarf des sinnstiftenden Subjekts nicht, der Signifikant steht nicht im Dienst eines Subjekts, welches ihm seine Bedeutungsintention anvertrauen würde. Die Philosophie Derridas, aber auch schon die Anthropologie von Le´vi-Strauss bekräftigen diesen Ansatz der Eliminierung des Subjekts als des vorgeblichen Sinnstifters. Das Zeichen, der Kode im Sinn der strukturalistischen Semiologie, bedarf keines Aktanten. Nicht das Bewußtsein fundiert den Sprachsinn, sondern Bewußtsein ebenso wie Unbewußtes haben den Charakter der Sprache (vgl. die These J. Lacans, das Unbewußte sei strukturiert wie die Sprache; Lacan 1966). Nun ist natürlich auch der Strukturalismus bezüglich der Geschichte der Philosophie ebensowenig voraussetzungslos wie bezüglich der Geschichte der Semiotik; seine philosophischen Wurzeln (die linguistischen haben wir kurz angedeutet) liegen bei Nietzsche, Husserl und Heidegger. Heidegger (1889⫺ 1976) insbesondere hat mit der Ersetzung von „Subjektivität“, von „Ich“ durch den verfremdenden Terminus „Dasein“ die Tradition der Subjektivitätsphilosophie unterbrochen (vgl. Art. 103 § 3.1.). Absicht ist, die Fiktion eines isolierbaren, weltlosen Subjekts zurückzuweisen, es dagegen in der Fülle der strukturellen Verweise und Bezüge aufzulösen. Die holistische Struktur dieses Verweisungsganzen bestimmt Heidegger als „Welt“ und das Aufgehen des Daseins darin ist seine Weltlichkeit. Hätte Heidegger den Reichtum dieser Verweisungen entfaltet, so hätte er vielleicht eine zweite Philosophie der symbolischen Formen schreiben müssen. Sein Interesse gehört aber gerade der Ebene des VorAusdrücklichen, des Impliziten, welches Husserl seinerseits zugunsten des Ausdrucks vernachlässigte. Heideggers analytisches Interesse gehört den im praktischen „Besorgen“ transparent werdenden Sinn- und Verweisungsstrukturen, und hier spricht er von der „vorzüglichen Rolle der Zeichen im alltäglichen Besorgen für das Weltverständnis“ (Heidegger 1927, 81). Seine sehr globale Semiotik bringt es freilich nur zu der Unterscheidung von „Indikationen, Darstellungen, Symptomen und Symbolen“ (ebd., 29), die er allerdings nicht näher analysiert, sondern vielmehr wiederum auf eine gemeinsame Grundstruktur, die des Erscheinens als eines internen Verweises auf etwas, was darin erscheint, zurückführt. Heidegger charakterisiert die „Verlorenheit“ des Daseins an die Welt als das „unthematische umsichtige Auf-
1457 gehen in den für die Zuhandenheit des Zeugganzen konstitutiven Verweisungen“ (ebd., 76). Die Chance, dies zu einer artikulierten Semiotik auszuarbeiten, hat Heidegger, wie gesagt, nicht genutzt. Man kann jedoch mit einigem Recht die fundamentalontologischen Analysen Heideggers als eine Radikalisierung der These Husserls betrachten, daß in phänomenologischer Sicht Objektivität nichts ist als ein „Gewebe intentionaler Akte“, umgedeutet nur in die „praktische“ Sorgestruktur (vgl. Art. 75 § 7.3.). Ein wahrhafter Unterschied besteht allerdings in der Einschätzung des Theoretischen, der Theorie als solcher. Hatte Husserl den Ausdruck, die Proposition, als das wahrheitsfähige Zeichen, ganz in den Vordergrund gerückt, so sieht Heidegger im Propositionalen eine „abkünftige“, gewissermaßen parasitäre Gestalt, deren Basis im Vorprädikativen liegt. Man kann die Ausführungen von Sein und Zeit, auf eine natürlich unzulässig verkürzte Formel gebracht, als die Ausarbeitung der These betrachten, daß die Wurzel der Theorie nicht im Theoretischen selbst liegt, sondern im praktischen Besorgen (daher der Zentralterm „Sorge“). Heideggers hier nur angedeutete Dekonstruktion des selbstbewußten Rationalitätsideals abendländischer Wissenschaft aus „reiner“ Vernunft hat in Derrida einen Nachfolger gefunden (der Ausdruck „Dekonstruktion“ stammt von Derrida 1967), ist aber ihrerseits der Philosophie Nietzsches verpflichtet. Und dies ist nun unmittelbar wieder von semiotischem Interesse (vgl. Art. 122). Schopenhauers Ablehnung der Konstruktion der Welt aus reiner Vernunft, so wie sie die idealistischen Systeme anstrebten, und die Auffassung, daß vielmehr der Wille der Herrscher ist, die Vernunft aber der Untergebene, der von ihm kommandiert wird (Schopenhauer 1844), ist von Nietzsche (1844⫺1900) übernommen worden, mit bedeutenden semiotischen Konsequenzen: Benennen und Begreifenwollen insgesamt sind nämlich nach Nietzsche nicht primär theoretische Akte, sondern Wissenschaft, Kunst, die ganze Kulturentwicklung, ist Index einer Bedürfnislage. Kunst und Wissenschaft sind „Symptome“, nicht Ausdrücke des Lebens. Denn „in der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfniß maaßgebend gewesen; das Bedürfniß, nicht zu ,erkennen‘, sondern zu subsumiren, zu schematisiren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung […]. Die Kategorien sind ,Wahrheiten‘ nur in dem
1458 Sinne, als sie lebensbedingend für uns sind […]. Die subjektive Nöthigung hier nicht widersprechen zu können ist eine biologische Nöthigung“ (Nietzsche 1887⫺89, 334). Daraus zieht Nietzsche die semiotisch relevante Konsequenz: Es steht „nicht in unserem Belieben, unser Ausdrucksmittel zu verändern“, aber „es ist möglich zu begreifen, in wiefern es bloße Semiotik ist“ (ebd., 302). So ergibt sich z. B. der Begriff der Bewegung nach Nietzsche aus der „Übersetzung des OriginalVorgangs in die Zeichensprache von Auge und Getast“ (ebd.). Nach Nietzsche gilt insgesamt: alle Kategorien, die von Subjekt und Objekt eingeschlossen, sind nur „eine bloße Semiotik“, eine Zeichensprache, die aus vereinfachenden Schemata besteht, die das Resultat von psychologischen und physiologischen Notwendigkeiten sind und das Resultat eines langen historischen Prozesses. Die Menschen sind ⫺ dies nimmt eine Vorstellung Wittgensteins vorweg ⫺ in den Netzen dieser Zeichenwelt gefangen, denn sie interpretieren die Zeichen als Garanten für ihnen entsprechende Konstellationen und Dinge, während sie in Wahrheit nur Funktionen lebensdienlicher Anpassungsprozesse sind und Objektivität und Wahrheit gewissermaßen als lebensdienliche Projektionen hervorbringen. Die Logik insbesondere entspringt den „physiologischen Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben“ (Nietzsche 1885⫺87, 17). Dieser Entwurfcharakter gleicht das Projekt theoretischer Wissenschaft dem Design eines Kunstwerks an. Alle Erkenntnis ist in erster Linie „poietisch“. Nach Nietzsches bekanntem Ausspruch kommt es daher darauf an, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens“ (Nietzsche 1872, 14). Radikal dekretiert Nietzsche: Es gibt keine wahre Welt. An die Stelle der Erkenntnistheorie tritt die Affektenlehre, denn Erkenntnis qua Auslegung der Welt ist „ein Symptom bestimmten physiologischen Zustands, ebenso eines bestimmten Niveaus von herrschenden Urteilen. Wer legt aus: Unsere Affekte“ (Nietzsche 1885⫺87, 161).
21. Schelers anthropologische Semiotik Es ist ein bißchen wie Ironie, daß erst nach dem Ende des Menschen im „Dasein“, im „Übermenschen“, im subjektlosen Kode, dieser als solcher in den Blick kommt in Form einer, freilich auch schon durch Nietzsche in
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Gang gebrachten Anthropologie. Dabei fallen einige interessante Bemerkungen zu semiotischen Problemen an. Nietzsche hat, wie wir sahen, an die Stelle der Erkenntnistheorie eine Physiologie der Affekte gesetzt. Die Kultur, die Wissenschaft und ihre Wahrheit haben ihren Ursprung in einer Bedürfnislage. Das klingt so ganz akzeptabel, macht aber gewiß Schwierigkeiten, wenn das, was die Menschen eigentlich interessiert, nämlich das System ihrer Moral, in gleicher Weise „erniedrigt“ wird. Wir müssen uns zu diesem Zweck ein wenig mit Max Scheler (1874⫺1928) beschäftigen. Wir werden lernen, daß er zwar einerseits einen krassen Rückfall gegen die semiotischen Erfahrungen der Neuzeit darstellt, auf der anderen Seite aber durchaus anreichernd für die Aufgabenstellung der Semiotik gewirkt hat. Scheler entwickelt seine uns hier interessierenden Doktrinen gerade in der strikten Ablehnung der Interessendeterminiertheit der Moral, weil sonst „die sittlichen Wertaussagen nur das Spiel der Interessen symbolisch abbilden würden […]; sie wären nur eine Art Zeichensprache für diese und es wäre eine Art Mythologie, den Zeichen dieser Sprache noch etwas anderes entsprechen lassen zu wollen als eben diese Interessenregungen in ihrer Gesamtheit“ (Scheler 1913, 191). Es wären alle geltenden Werte nur symbolischer Ausdruck für den Sieg eines Willens über den anderen; etwas, was durchaus auch Nietzsches Behauptung ist. Scheler nennt den von ihm ausgemachten und sich gewissermaßen ungedeckter „Wert“schecks bedienenden ideologischen Hauptgegner den „ethischen Nominalismus“. Es ist dagegen nicht die Gleichförmigkeit der Interessen, die für eine Ethik konstitutiv sein darf, sondern der ethische (Bar-)Wert steht uns gegenüber als ein Gegenstand, als etwas, was dem Spiel der Interessen entzogen, objektiv verbürgt ist. Unmittelbaren Zugang zu diesen Wertgegenständen bietet die „Wertintuition“. Scheler stellt noch einmal die Bedeutung des Intuitiven aufs schärfste heraus; niemand sonst hat mehr in dieser Entschiedenheit das Zeichenhafte im Namen der Intuition abgewertet: „Jeden apriorischen Begriff oder Satz, der sich nicht durch eine Tatsache der Intuition zur restlosen Erfüllung bringen läßt, weisen wir ausdrücklich zurück. Denn entweder wäre das damit gemeinte der Nonsens eines seinem Wesen nach absolut unerkennbaren Gegenstandes, oder ein bloßes Zeichen, bzw. eine bloße Konvention, in der Zeichen willkürlich
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verknüpft sind“ (ebd., 73). Dies erscheint freilich wie ein Rückfall in finsterste präsemiotische Zeiten. Wo liegt die Rettung nach Scheler? Sie liegt in einem „Wertrealismus“. Diesen wollen wir indes nicht weiter entwikkeln, weil er uns zu sehr vom eigentlichen Gegenstand abführt. Interessant wirkt Schelers natürlich sehr problematischer Versuch deswegen, weil er es unternommen hat, das Junktim zwischen Apriorismus und Rationalität zu lösen und den von den aprioristischen Philosophien stets eher stiefmütterlich behandelten Bereich des Emotionalen selbst mit dem epistemologischen Begriff des Apriori zu konjugieren. Das Sein der Gefühle ist nämlich für ihn, abgesehen von ihrer Eigenqualität, gleichzeitig „Zeichen für das Sein und Nichtsein von Werten und Unwerten“ (ebd., 367). Scheler legt also einen waschechten Versuch vor, das Sollen aus dem Sein (der Wertgegenstände vermittelt über das Wertfühlen) ableiten zu wollen. Gefühle haben dabei die Funktion von Zeichen für diese Werte. „Die Gewißheit der richtigen Ortung dieser Gegenstände ist […] gegründet in der Disposition des Wertfühlens, der Gefühle als Zeichen für das Sein und Nichtsein von Werten oder Unwerten“ (ebd.). Dies wird man sicher nicht so unbestritten akzeptieren können. Aber das ist auch nicht die einzige Zeichenfunktion der Gefühle: ihre andere, interessantere, manifestiert sich ⫺ und Schelers semiotische Überlegungen enthalten hier den Kern einer anthropologischen Erkenntnistheorie ⫺ in folgendem: „Jedes empfindende Wesen verfügt nur über diejenigen Qualitäten und Inhalte möglicher Empfindungen, die Zeichenfunktion besitzen können für Umweltdinge, die ihm und seinem triebhaft-motorischen Verhalten förderlich oder schädlich sind. Alle Qualitäten sind primär als Wertqualitäten, und das heißt, als Lock- und Schreckmittel gegeben und werden erst in der Folge feste Zeichen für das Sosein bestimmter Objekte, die in der Wertrichtung des Triebes und seines Antagonisten liegen“ (Scheler 1926, 341). Es gilt also nach Scheler das „Gesetz: ein Organismus hat nur diejenigen Sinnesqualitäten als Alphabet eines möglichen Weltbildes, die Lock- und Merkzeichen für mögliche Objekte sein können, die für sein triebhaft-motorisches Verhalten bedeutsam sind. Ja die Empfindung erscheint so in letzter Linie nur als Mittel, die Indizes anzugeben für vorhandene oder in Aussicht gestellte Widerstände, die sich den aktiven Bewegungen des Organismus entge-
genstellen, um mit Hilfe dieser Indizes die Bewegungsakte zu kontrollieren, zu bewachen, die Innervation der Bewegung schon vor ihrem Erfolg oder Mißerfolg zielhaft zu dosieren“ (ebd., 343). Es wäre sicher verfehlt, Scheler hier eine primitive Form des Biologismus vorzuwerfen. Im Gegenteil hat er in höchst interessanter Weise die leibzentrische Weltperspektive, welche von Schopenhauer und Nietzsche vorbereitet wurde, um das Problem der Sinnesqualitäten als eines Alphabets bereichert. Dies ist ein großer Schritt über Lotze hinaus. Freilich muß zugegeben werden, daß Scheler zur Entfaltung der „Syntaktik“ dieser Sprache der Sinnesempfindungen nicht viel beigetragen hat. Seine extensiven anthropologischen Beschreibungen, so lehrreich sie im Detail sind, sind für eine „grammatische“ Analyse der Zeichenfunktion der Sinne zu unsystematisch.
22. Mead: Symbol und soziale Interaktion Werfen wir einen Blick zurück! Wir haben in den vergangenen Ausführungen die Metamorphosen des Zeichens in philosophischen Systemen geschildert: von der Welt des reinen, transzendentalen Ich über die subjektlosen Kodes bis zur animalischen Natur des Menschen. Es ist nun noch eine Denkweise zu betrachten, die die Rolle der Zeichen jenseits des transzendental überhöhten oder strukturalistisch aufgegebenen oder anthropologisch unterentwickelten Selbstbewußtseins nur einfach als dessen Geburtshelfer zu einem sozialen Leben inmitten einer Gesellschaft gleichberechtigter Individuen begreift, ihm aber hierin eine entscheidende Rolle zuschreibt; gemeint ist die Auffassung George Herbert Meads (1863⫺1931). Meads zentrales Interesse ist das Studium der Prozesse, die zur Entwicklung des Selbst führen (vgl. Art. 113). Geist und Selbstbewußtsein gehören nicht zu den selbstverständlichen Grundausstattungen des Menschen, sondern entfalten sich im sozialen, d. h. in einem interaktiven Prozeß zwischen Individuen als Form der Kommunikation. Mead schreibt: „The behavior of an individual can be understood only in terms of the behavior of the whole social group of which he is a member“ (Mead 1934, 6). Für die Ausbildung dieses Verhaltens ist das Symbol wesentlich. Mead schreibt ihm vor allem in Gestalt der Geste eine wichtige Rolle zu. Gesten
1460 affizieren und koordinieren das Verhalten zwischen zwei oder mehreren Individuen. Mead erläutert das an der Verhaltensrückkoppelung, wie sie z. B. beim Drohritual zweier Hunde gegeneinander, oder etwas komplexer, bei einem Boxkampf stattfindet. Entscheidend ist hier der Grundzug, daß das Verhalten bzw. die Handlung des einen in der des anderen ein notwendiges Komplement hat. Leitend in solchen an Rollen geknüpften Verhaltenserwartungen ist zunächst das, was Mead „significant gesture“ nennt, d. h. eine Verhaltenskundgabe, welche das Rollenverhalten des anderen vorgreifend mit einbezieht, also gewissermaßen dessen Perspektive vorgreifend einnimmt (vgl. Art. 113 § 4.). Die darin enthaltene Reziprozität ist nach Mead für die Genese des Selbst ganz entscheidend. „The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular standpoint of other individual members of the same social group. […] He becomes an object to himself only by taking the attitudes of other individuals towards himself“ (ebd., 138). Die Signifikanz der Geste liegt also darin, daß der Initialakt schon im Hinblick auf einen möglichen und intendierten Respons ausgeführt ist. Meads illustrative Beispiele stammen hier aus dem Bereich der Mannschaftsspiele. Gerade diese enthalten eine komplizierte Serie von koordinativen Akten und Responses zwischen Spielern. In dieser durch die Reziprozität der Perspektiven generierten Fähigkeit, der „andere zu sein und zur selben Zeit man selbst“ (vgl. Mead 1964, 244) tritt vermittelnd etwas ins Spiel, was Mead „significant symbol“ nennt: eine dem Akteur selbst transparente Verhaltenstypik, ein Rollenschema, welches Michselbst in eine Kooperation integriert, mich selbst darin gleichsam justiert. „Significant symbols“ implizieren, daß ich, wenn ich etwas tue, z. B. einen Entsetzensschrei ausstoße, weiß, was dies bei anderen bedeutet, wenn sie es tun. Solche „significant symbols“ sind gewissermaßen Siglen eingespielter Koordination. Es ist wesentlich unter dem Aspekt der „significant symbols“, daß Mead die Sprache betrachtet: „We want to approach language not from the standpoint of inner meaning to be experienced but in its larger context of cooperation in group taking place by means of signals and gestures“ (Mead 1934, 6; für die Beziehung von Mead zu Morris vgl. Posner 1981). Es sei hier nur am Rande erwähnt, daß eine gewisse Ähnlichkeit der Zeichenfunktion
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
auch in dem Buch vorzufinden ist, das sich explizit mit solchen kooperativen Handlungen beschäftigt. Ich meine D. Lewis’ Convention. Die dort in Frage kommenden Zeichen heißen bei ihm „Signalkonventionen“ (Lewis 1969).
23. Peirce und die soziale Dimension der Zeichen Es bleibt uns nun noch an letzter Stelle eine semiotische Spielart zu besprechen, welche zwei Hauptpositionen: das Zeichen sozusagen in der erkenntnistheoretischen Grundkonstellation von Subjekt und Objekt und das Zeichen als Markierung im kooperativen Handeln, d. h. die epistemologische und die soziologische Seite, vereint und der Idee nach schon eine große Synthese einiger Grundeinsichten, die früher Kant und später Mead vertreten haben, versucht, nämlich Charles Sanders Peirce (1839⫺1914). Peirce gibt (in Peirce 1931⫺35, Bd. II, 2.228; geschrieben ca. 1897) eine berühmte Definition dessen, was ein Zeichen ist. „A sign, or representamen, is something which stands to somebody for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps, a more developed sign. That sign, which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object.“ Bei dieser triadischen Struktur des Zeichens ist vor allem bedeutsam die Position des Interpretanten. Daß es nach Peirce kein Sein als Unbezeichnet-Sein geben kann, impliziert zunächst, daß reine Intuition, Introspektion als „subsemiotische Sicht in das Innere“ und die Idee des absolut Unerkennbaren in Peirces Philosophie kraft seiner Zeichenkonzeption keinen Ort haben können. Aber diese Zeichenstruktur hat die zunächst verwirrende Konsequenz, daß auch die Bedeutung eines Zeichens, obgleich sie vom Zeichen unterschieden sein muß, wieder nur als Signatum eines Signans präsentiert werden kann. Daraus zieht Peirce die Konsequenz: es besteht das Denken „in the living inferential metaboly of symbols“ (Peirce 1931⫺35, Bd. V, 5.402 Anm.; geschrieben 1906). Denken ist ein unendlicher Translationsprozeß von Zeichen. Dies gilt natürlich auch für den Satz (das „Satzzeichen“). Nach Peirce gilt: „The meaning of a proposition is itself a proposition“ (Peirce 1931⫺35, Bd. V, 5.427; geschrieben 1905). Und er fährt fort: „Indeed,
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74. Zeichenkonzeptionen in der Allgemeinen Philosophie
it is no other than the very proposition of which it is the meaning“ (ebd.). Aber Peirce erkennt sofort die drohende Unterbestimmtheit. Er fragt selbst: „But of the myriads of forms into which a proposition may be translated, what is that one which is to be called its very meaning?“ (ebd.). Der Pragmatismus konstituiert sich nun genau dadurch, daß die Form der Praxis selbst als bedeutungsdifferenzierend begriffen wird. Die Form des Satzes, die als seine Bedeutung verstanden werden soll, schreibt Peirce, ist einfach „the general description of all the experimental phenomena which the assertion of the proposition virtually predicts“ (ebd.). Das Wesen des Interpretanten liegt also in der Transformation und Integration des Deskriptiv-Prognostischen in das Operative. Hierfür gibt Peirce einen Grundsatz an, nämlich „that every theoretical judgement expressible in a sentence in the indicative mood is […] expressible as a conditional sentence having its apodosis in the imperative mood“ (Peirce 1931⫺ 35, Bd. V, 5.18; geschrieben 1903). Das Feld empirischen Wissens erweist sich nach Peirce so insgesamt als Einsatzpunkt von Effekte erzeugenden Operationen. Über den Begriff des Interpretanten wandeln sich die semiotischen Überlegungen in forschungslogische. Jede theoretische Aussage von empirischer Gültigkeit hat also eine doppelte Lesart: als Aussage und als Regel für Handlungen. Der Seite der objektiven Gesetze entspricht ein Operationsverbund, oder wie sich Peirce ausdrückt, eine Verhaltensgewohnheit („habit“). Da der kumulative Erkenntnisgewinn nach Peirce ⫺ und zwar ganz wesentlich schon aus semiotischen Gründen ⫺ nicht gleichsam privatistisch sein kann, so ist der Aktant dieser „Inquiry“ nicht irgendein unterdefiniertes Individuum, ein Ich, sondern es ist eine die Erfahrungserkenntnis kooperativ verwirklichende „community“. Nach diesem Ansatz kommutieren stabile, nach akzeptierten Zeichenregeln organisierte Verhaltens-, d. h. Kooperationsmuster und das, was unter „Realität“ verstanden werden muß (vgl. Apel 1967⫺ 1970 und Pape 1989). In Peirce haben wir also einen semiotischen Denker vor uns, der überzeugt ist von der Allgegenwart der Zeichen. Auch er verzichtet auf ein isoliertes Subjekt als „Sinnstifter“. Aber an seine Stelle tritt die kollektive Anstrengung, die kooperative Leistung einer „Aktionsgemeinschaft“, einer forschenden und agierenden „community“. Trotz seiner tiefen Einsicht in die Omnipräsenz der Zei-
chen können wir Peirce gewissermaßen als einen Aufständischen begreifen, der sich im Namen der Erkenntnis- und Schicksalsgemeinschaft „Menschheit“ nicht von der Macht der Zeichen gleichsam passiv überwältigen lassen will (eine Einstellung, mit der der Strukturalismus deutlich kokettiert), der sie vielmehr als eine Chance, nicht aber als Fatum begreift (vgl. Art. 100).
24. Abschluß Unser „Roman“ des Zeichens und seiner Schicksale in den vergangenen zwei Jahrhunderten ist zuende. Es ist deutlich geworden, daß das, was Zeichen sind, was sie bedeuten, engstens mit der allgemeinen Philosophiegeschichte verknüpft ist: als Ausweichen vor ihnen, wie auch als Sich-Ausliefern an sie. Gewiß wird man z. B. die verkürzte Darstellung des Gründervaters Peirce bedauern und das völlige Fehlen von Bernhard Bolzano (1781⫺ 1848) und Charles Morris (1901⫺1979) beklagen (zu Bolzano siehe Scheffczyk und Rehder 1986 sowie Art. 75 § 4.; zu Morris Posner 1979 sowie Art. 113), aber es ging uns hier um den Zusammenhang von Philosophie im weiteren Sinn und Zeichentheorie. Eine Darstellung unter den Bedingungen geklärter Verhältnisse, d. h. unter den Bedingungen einer emanzipierten Semiotik würde den einzelnen ⫺ dann freilich in semiotische Fachautoren verwandelten ⫺ Denkern gewiß anders Rechnung tragen müssen.
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Adelhard Scheffczyk, Osnabrück (Deutschland)
1466
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Einleitung 2. Zeichenkonzeptionen in der Tradition des Idealismus 2.1. Das Schöne als Symbol des Sittlichen: I. Kant, Fr. Schiller, Jean Paul 2.2. Symbolik als negative Repräsentation der allgemeinen Natur: Spinozismus, J. W. v. Goethe 2.3. Das Symbol bedarf der Allegorie: K. W. F. Solger 2.4. Symbolik als erste Stufe des sinnlichen Scheinens der Idee: G. W. F. Hegel 3. Die Abkehr von der idealistischen Tradition: Realidealismus 3.1. Vom „sinnlichen Scheinen“ zum „bloßen Schein“: F. Th. Vischer 3.2. Der Widerspruch zwischen individueller Sinnlichkeit und Idee: S. Kierkegaard 4. Die Sprache der Ästhetik und die Kraft des Schönen bei B. Bolzano 5. Die Überwindung des Form/Inhalt-Dualismus im Neukantianismus 5.1. Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit: K. Fiedler 5.2. Ikonologie: E. Cassirer, E. Panofsky 6. Ästhetik zwischen Psychologie und Allgemeiner Kunstwissenschaft 6.1. Psychophysik: G. Th. Fechner, O. Külpe, W. Ostwald, Th. Lipps 6.2. Allgemeine Kunstwissenschaft: M. Dessoir, J. Volkelt, B. Croce 7. Das Schöne als Phänomen 7.1. Spontane Erfüllung der Reduktionen: E. Husserl, O. Becker 7.2. Die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes und die Aura: R. Ingarden und die Rezeptionsästhetik 7.3. Der Ursprung des Kunstwerks: M. Heidegger 8. Die kritische Funktion der Kunst: Th. W. Adorno 9. Pragmatisch-semiotische Ästhetik: Ch. S. Peirce, J. Dewey, Ch. W. Morris, Ch. L. Stevenson 10. Die Sprachen der Kunst: N. Goodman 11. Informationstheoretische Ästhetik: H. W. Franke, G. Pfeiffer, M. Bense 12. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
Die Zeichenkonzeptionen in den Kunstphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts versperren sich einer homogenen, epochebezogenen Charakterisierung. Dies hat seinen Grund in dem sowohl bei Kant (1724⫺1804) als auch ⫺ parallel ⫺ im Spinozismus vollzo-
genen Abschied von einer gegenstandsorientierten Ästhetik. Rechtfertigte bereits Lessing (1729⫺1781) die künstlerischen Zeichensysteme im Blick auf die intendierte Wirkung im Subjekt und stützte Herder (1744⫺ 1803) seine Ästhetik auf die Grundbegriffe der Kraft und Energie, so vollzieht Kant den letzten Schritt, indem er ästhetische Erfahrung auf der Basis einer Selbstvergewisserung über diese Wirkung modelliert. Und hatten bereits A. W. Schlegel (1767⫺1845) und Wackenroder (1773⫺1798) die endlichen Bilder und Zeichen (mit Spinoza, 1632⫺1677) als symbolische Repräsentationen des Unendlichen gefaßt, sowohl der Unendlichkeit der Natur als auch des menschlichen Inneren, so erscheinen Kunstwerke nun als niemals abgeschlossen und als reflexiv in dem Sinne, daß ihr Wesen ihre eigene Wirkung ist, die in den Subjekten unterschiedlich aktualisiert wird. Die verschiedenen Kunstphilosophien betrachten Aspekte dieser Realisierung des Schönen im Spannungsfeld zwischen der Kraft der Werke und dem rezipierenden Subjekt. Die Vielfältigkeit der Umgangsweisen mit ästhetischer Erfahrung spiegelt sich in den verschiedenen Auffassungen des Schönen.
2.
Zeichenkonzeptionen in der Tradition des Idealismus
2.1. Das Schöne als Symbol des Sittlichen: I. Kant, Fr. Schiller, Jean Paul Indem Ästhetik als Disziplin der Reflexion auf die Erkenntnis- und Handlungsvermögen des Subjekts begriffen wird, gewinnen das Schöne und das Erhabene Zeichenfunktion für die Prinzipien jener Vermögen überhaupt. Die Vorstellungen des Schönen und Erhabenen, deren Träger die ästhetische Urteilskraft ist, „überbrücken die Kluft“ zwischen den Begriffen der Natur und dem „Gebiete des Freiheitsbegriffs“ (I. Kant 1790 ⫽ 1968 LIII, xvi). Die Vorstellung des Schönen ist die einer „Zweckmäßigkeit ohne [konkreten] Zweck von Dingen“, als ob ein Grund der Einheit ihrer Mannigfaltigkeit gegeben wäre. Jene Einheit drückt sich als Harmonie des Verhältnisses zwischen Verstand und Einbildungskraft aus, was Wohlgefallen zur Folge hat. Das Erhabene als „negative Lust“ an der
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
Überforderung der Einbildungskraft hingegen verweist auf das Unendliche, Übersinnliche, die Freiheit als Idee. In dieser Verweisungsfunktion bestimmt Kant das Schöne als Symbol (1790, 258; vgl. Art. 63 § 5.). Im Gegensatz zu „Schematen“ als direkten demonstrativen Darstellungen von Verstandesbegriffen und „Charakterismen“ als willkürlichen Bezeichnungen zum Zwecke der Reproduktion im Gedächtnis sind Symbole indirekte Darstellungen von Vernunftideen vermittels der Analogie (vgl. Art. 74 § 2.). Sie dienen der Darstellung von Begriffen der (praktischen) Vernunft durch den Doppelschritt, erstens den Begriff auf eine Anschauung zu beziehen, zweitens aber die „Regel der Reflexion auf diese Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden“ (1790 ⫽ 1968, 256). So kann ein despotischer Staat durch eine Handmühle symbolisiert werden im Blick auf die Veranschaulichung eines absoluten Willens (vgl. Abb. 75.1). Und so wird durch das Schöne Sittlichkeit (als Garant der Freiheit) symbolisiert im Blick auf ihre unmittelbare Natürlichkeit, allgemeine Beistimmung und Zumutbarkeit als eine Pflicht zur Erhebung über die bloße Empfänglichkeit der Lust, somit Erkenntnis unserer Autonomie im Gegensatz zum Unterworfensein unter Erfahrungsgesetze realisiert. Die Analogie, die das Schöne so zum Symbol des Sittlichen werden läßt, besteht darin, daß jene Züge des Schönen übertragen werden können auf die Prinzipien unseres Umgangs mit dem Begehrungsvermögen. Die dabei vorgestellte „Interesselosigkeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Absenz vorgängiger (partikularer) Interessen; ein allgemeines Interesse (an Freiheit) werde durch jenes Wohlgefallen „bewirkt“ (ebd., 259). Diese Analogie gilt sowohl für das Natur- wie für das Kunstschöne, deren Begriffe wie „prächtig“, „majestätisch“, „fröhlich“, „unschuldig“, „bescheiden“, „zärtlich“ hierfür Indizien sind (vgl. Art. 82 § 1.4.). Fr. Schiller (1759⫺1805) sieht das im Kulturzustand „harmonische Zusammenwirken (der) ganzen Natur des Menschen“ als bloße Idee an und charakterisiert den Menschen nicht durch gegebene Vermögen, sondern durch zwei Triebe, den „Stofftrieb“ als sinnliche und den „Formtrieb“ als geistige Natur des Menschen, weshalb Kants semiotische Auffassung des Schönen in zweierlei Weise zu modifizieren ist: (1) Die Einheit der Natur ist als Ideal allererst wieder zu realisieren und der Weg dieser Realisierung aufzuzeigen.
1467
Abb. 75.1: Handmühle. Kapitell an der Kathedrale von Ve´ze´lay (Burgund).
(2) Es entfällt die Darstellung einer Vermittlung zwischen den (theoretischen) Erkenntnis- und den (praktischen) Begehrungsvermögen und somit auch die Beziehung der Analogie. Stattdessen besteht die Aufgabe einer Realisierung der Vermittlung der beiden Triebe. Sie findet sich im „Spieltrieb“, der die Spontaneität des Handelns mit anerkannten Regeln vermittelt und somit auch Autonomie als Vermittlung von Sinnlichkeit und Pflicht realisiert. Schönheit ist daher „Freiheit in der Erscheinung“ ⫺ ein Ereignis, nicht mehr die Analogie einer Erscheinung zur Idee der Freiheit. Wenn im Spiel diese Freiheit real erscheint, ist das Spiel vorweisender Ausdruck auf und Zeichen für die ideale Harmonie und somit ein Mittel zur Erziehung zu diesem Ziel (Schiller 1795 ⫽ 1962, 359 ff). Im Sprachge-
1468 brauch der pragmatistischen Semiotik (vgl. Art. 100) wäre sie ein Index der versöhnten menschlichen Natur, nämlich eine partielle Übereinstimmung/Identität qua Zugehörigkeit zu ihren Handlungskonstituenten bzw. Handlungsprinzipien. Bei Jean Paul (1763⫺1825) hingegen werden Schönheit und Erhabenes im Blick auf die „poetische Kraft“ des einzelnen Individuums diskutiert, als Herstellung einer Beziehung zwischen „innerer“ und „äußerer“ Natur, wobei die äußere Natur die innere begrenzt, von dieser aber poetisierend entgrenzt werden kann. Insofern begreift Jean Paul die Phantasie als „innere Natur des Genies“, die sich als ein „Hieroglyphen-Alphabet“ (vgl. Art. 63 § 3.1.3.) der äußeren Natur manifestiert: Entsprechend den Graden der Phantasie „erzeuge“ dieses entweder bloß das Allgemeine durch die einzelnen Bilder, oder es erzeuge das „Ganze“. Die Hieroglyphen denotieren nicht, sondern sie exemplifizieren das Verhältnis des Individuums zur Natur, das nur beim Genie ein harmonisches sei, bei allen anderen Individuen hingegen bloß „einkräftig“ (Jean Paul 1804 ⫽ 1980, I/5, 47 ff). 2.2. Symbolik als negative Repräsentation der allgemeinen Natur: Spinozismus, J. W. v. Goethe In Absetzung von der Kantisch-Schillerschen Tradition begründet J. W. v. Goethe (1749⫺ 1832) einen Symbolbegriff, der das Moment der „Begrenztheit“ jener „allegorischen“ Zeichenkonzeption überwinden soll. Diese verwandle eine Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, „doch so, daß der Begriff [sittlicher Freiheit] immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei“ (d. h. per Analogie bzw. partielle Identität) (1822 ⫽ 1981, Bd. 12, 471). Schiller suche zum Allgemeinen das Besondere, das dann nur „Beispiel“, „Exempel“ sei, eben eine Allegorie. Demgegenüber fordert Goethe, daß die Erscheinung in eine Idee und diese in ein Bild zu verwandeln sei, „und so, daß die Idee im Bilde immer unaussprechlich wirksam und unerreichbar bleibt und […] unaussprechlich bliebe“ (ebd., 470). Wer „im Besonderen das Allgemeine schaut […], wer nur dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit“ (471). Wahre Symbolik repräsentiere das Allgemeine als „lebendig-augenblickliche Erfahrung des Unerforschlichen“ (ebd.). Sie vermag dies, indem dem Stoff eine „ideale Gestalt“ gegeben wird, die nicht mehr erlaubt,
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
daß darin ein Besonderes als Besonderes identifiziert wird (vgl. Abb. 75.2). Spinozas Weltbild entsprechend, demzufolge alle Körper und Gedanken „Modi“ einer unendlichen Substanz sind, kann diese nur ex negativo erkannt werden durch die scientia intuitiva, die die Begrenztheit und Wechselhaftigkeit der Dinge als Modifikation der Substanz und diese als das sich im Begrenzten Manifestierende begreift. Insofern ist jede Form-StoffVerbindung unvollkommen. Das Symbol müsse daher das „Verborgene“ enthalten, insbesondere die Verknüpfungen, die den Blick auf das Ganze lenken. Goethe favorisiert daher „das stille Gefühl des Erhabenen“ als höchste Charakteristik des Schönen. Ein wahres Symbol als Zeichen verweist also über die Begrenztheit des Stoffes auf die Idee, die es unvollkommen repräsentiert. Diese Unbestimmtheit lobt W. v. Humboldt (1767⫺1835) (gegen Schiller) an Goethes Wilhelm Meister (1906, 23 f). Die unbeschränkte Kraft der Natur trete zwar in der Erfahrung immer gespalten auf als Favorisierung des Stoffes (weibliches Prinzip) oder der Form (männliches Prinzip). In der Schönheit sei jedoch das Ideal der Vereinigung beider symbolisiert, da hier das Allgemeine unter bestimmten Bedingungen erscheine (1906, Bd. 2, 262): Die Macht der Einbildungskraft könne so in jedem Zufälligen die Totalität sehen, getrieben durch die jedem Individuum innewohnende Sehnsucht nach Allseitigkeit. 2.3. Das Symbol bedarf der Allegorie: K. W. F. Solger Die durch den Spinozismus inspirierte romantische Auffassung des Symbols, „Darstellung des Absoluten mit absoluter Indifferenz des Allgemeinen und Besonderen“ zu sein (Schelling 1802 ⫽ 1966, 50), was in den Götterbildern des Mythos geleistet werde, und (mit Kant) gegen den Schematismus und die Allegorie abgesetzt wird (ebd.), wird von Solger (1780⫺1819) einer Relativierung unterzogen, aus der auch W. Benjamin seine Rehabilitierung der Allegorie gewonnen hat. In der symbolischen Kunst der Alten bleibe das eigentliche Wesen ein Unsichtbares wegen der immer einseitigen Auffassung des Lebens (1815 ⫽ 1907, 301). Andererseits seien Allegorie und Symbol nicht Zeichen oder Bild, die auf etwas Wesentliches außerhalb ihrer verwiesen (1815 ⫽ 1907, 226; 302). Vielmehr falle in ihnen die Kunst in einen Widerspruch, der nur aufzuheben sei, wenn das „innere Leben und die Tätigkeit“ berücksichtigt
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
1469
Abb. 75.2: Malerische Reflexion über das Erhabene in der Natur: Alexander von Humboldt und Aime´ Bonpland auf der Hochebene von Tapi in Ecuador vor der Besteigung des Chimborasso im Jahre 1802. Gemälde von Georg Weitsch, kurz vor 1810. Berlin, Staatliche Schlösser und Gärten, Dauerleihgabe an das HumboldtMuseum im Schloß Tegel (nach Propyläen-Geschichte der Literatur, 1981�82, IV, 200).
würden, so wie das Licht die Gegenstände sichtbar macht und allererst an ihnen sichtbar werde. Im Symbol sei die Tätigkeit ganz in den Stoff, in der Allegorie jedoch der Stoff ganz in die Tätigkeit „übergegangen“: So weise noch die Antike die Götter als symbolische Zeichen vor, die Mittler- bzw. Erlöserreligionen (z. B. das Christentum) verwiesen aber allegorisch durch den Tod des jeweiligen Erlösers auf die Überwindung der Endlichkeit, die als göttliches Tun vorgestellt wird. Der Goethe/Schellingsche Symbolbegriff muß dahingehend revidiert werden, daß die von ihm ausgedrückte Tätigkeit des Schöpferischen sehr wohl der Betrachtung durch den Verstand bedarf, der ihr Resultat von ihr als Tätigkeit scheidet und somit erst ihr einheitliches Aufscheinen im Kunstwerk als eines von Zweien, von Besonderem (Stoff) und Allgemeinem (Tätigkeit) erhelle. Unter einer solchen allegorischen Betrachtung erscheine das Kunstwerk als „zufällig“, seine Erscheinung als reine Zufälligkeit hebe sich aber dadurch
selbst auf zugunsten der Idee des Göttlichen/ Schöpferischen, wodurch das Ding als Zeichen zum Wesentlichen erhoben werde. Zufälligkeit der Darstellung im Dienste des Allgemeinen qua ihrer Aufhebung ist aber das Prinzip der Allegorie, radikalisiert im Christentum in der Erlöserfigur, die ihre menschliche Zufälligkeit überwinde. Allegorie ist also allererst die Wurzel des Symbolischen, das ihrer bedarf, um seiner Intention nachzukommen. Erst dadurch werde Kunst, die immer symbolisch sei (ebd., 219), Offenbarung der Idee. 2.4. Symbolik als erste Stufe des sinnlichen Scheinens der Idee: G. W. F. Hegel Im Rahmen seiner Ästhetik als „Wissenschaft vom Schönen“, das als „sinnliches Scheinen der Idee“ (o. J. � 1823, 104) als Freiheit begriffen wird, systematisiert Hegel (1770� 1831) die Kunstformen der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst im Blick auf die Selbstvergewisserung des Geistes. Der symbolischen Kunstform kommt der Cha-
1470
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 75.3: Reflexion des Architekten über die symbolische, klassische und romantische Darstellungsform. Gemälde von Thomas Cole, 1840. Toledo OH, Museum of Art. Geschenk von Florence Scott Libbey (nach Propyläen-Geschichte der Literatur, 1981�82, V, 500).
rakter einer „Vorkunst“ (309) zu, da sich der Geist dort nur „anzeichenhaft“ erscheint, während er sich im klassischen Kunstwerk zwar vollkommen, aber gebunden an das individuelle Werk, realisiert und somit selbst begrenzt, was in der romantischen Kunstform überwunden wird. Eine semiotische Fragestellung (Wie bezeichnet sich der Geist?) entsteht somit nur für die symbolische Kunstform, da der Geist im klassischen Werk dessen Realität selbst ist und im romantischen Werk diese Identifikation reflektierend überwindet, wobei diese Überwindung nicht angezeigt oder repräsentiert, sondern vorgeführt (exemplifiziert) wird als Freiheit der Idee, „freie Geistigkeit“ (297). Am Symbol sei seine Bedeutung als Vorstellung und sein Ausdruck als sinnliche Existenz zu unterscheiden (299). In Abgrenzung von Symbolen als „willkürlichen Zeichen“, denen ihre Bedeutung „fremd“ sei, bestehe in der Kunst eine „Verwandtschaft“ zwischen Bedeutung und Gestalt, da die Äußerlichkeit der Zeichen ihren Inhalt selbst befaßt. Der Inhalt (die Freiheit des Geistes) bleibt jedoch in der symbolischen Kunstform abstrakt, jenseits der Gestalt, da die Gewalt des Stoffes
die freie Individualität noch nicht zum Vorschein kommen lasse (308), sondern bloß Verwunderung gegenüber den Naturmächten, den Versuch, das Natürliche zu vergeistigen (314): erstens als unbewußte Übereinstimmung mit dem Stoff und seinen Gesetzen (insbesondere in der Architektur), zweitens als Auffassung des Werkes als Attribut des Stoffes (Allegorie, Metapher, Gleichnis), drittens als bewußte Trennung von Form und Stoff (z. B. im Lehrgedicht) � was dann die Voraussetzung ihrer neuen Verbindung im klassischen Kunstwerk werde (vgl. Abb. 75.3). In der „suchenden Kunst“ aber, etwa der Säulenarchitektur, den Knetwerken der Skulptur und den Epen, zeige sich noch die Natur des Stoffes (seine Gesetze, Zwecke) als Instanz der Werke, an denen der Geist nur anzeichenhaft, eben symbolisch zu erkennen sei (vgl. Art. 82 § 1.5.). Malerei und Musik rechnet Hegel per se zu den romantischen Künsten � unter Berücksichtigung der mythischen Höhlenmalereien oder der alten Arbeitsgesänge hätte er hier auch symbolische Kunstformen diskutieren können. (Mit Peirce könnte man klassische Werke im Sinne Hegels als Indizes des Geistes, romantische Werke
A
B
romantische C
klassische
C'
Auflösung Distanzierung vom Gegenstand Zufälligkeit des Gegenstandes
prosaische Kunst
A ... B ... C ...
C
Poesie
(Architektur: goth. Dom)
(Architektur: griech. Tempel)
Humor
A ... B ... C ...
B
A ... B ... C ...
Malerei A Musik
A ... B ... C ...
(Lehrgedicht)
C
Trennung Form – Stoff
Skulptur
(Allegorie, Metapher, Gleichnis)
B
(Säulenarchitektur, Knetskulptur, Epos)
Werk als Attribut des Stoffes
Abb. 75.4: Die Systematisierung der Kunst(formen), der Religion und der Philosophie bei G. W. F. Hegel.
C : Geist führt die Freiheit als Idee vor, aufhebend, „an und für sich“.
B : Geist ist begrenzt realisiert, als Wirklichkeit, individuell bestimmt, „für sich“.
A : Geist erscheint anzeichenhaft, als „reale Möglichkeit“, „an sich“.
Philosophie C
Religion B
Kunst (-form)
symbolische A
als Unterwerfung unter/ Übereinstimmung mit dem Stoff A
Beispiele: 75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
1471
1472
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
als Ikone der Reflexion sehen.) In den Auflösungsformen romantischer Kunst führt der Geist die Distanzierung seiner selbst von den Werken vor, entweder im Modus des Humors oder durch die prosaisch-meisterhafte Realisierung beliebiger Stoffe; vgl. das „Zufällige“ bei Solger. Diese Werke sind sozusagen Zeichen ex negativo ⫺ Spuren eines Geistes, der bereits weiter fortgeschritten ist (vgl. Abb. 75.4).
3.
Die Abkehr von der idealistischen Tradition: Realidealismus
3.1. Vom „sinnlichen Scheinen“ zum „bloßen Schein“: F. Th. Vischer Die Rehabilitierung des Komischen als „Rache“ an der „idealen Seite“ des Erhabenen (F. Th. Vischer, 1807⫺1887; vgl. 1837, 160) und die Betrachtung beider als Momente des Schönen markiert die Wende im ästhetischen Denken. Der Widerspruch zwischen den „Ideen der Freiheit“ und den „wirklichen Individuen“ sei durch keine Vermittlung zu überwinden, da durch Armut, Mechanisierung, Arbeitsteilung und Entfremdung den Individuen die Möglichkeit, zu dem „Ganzen des Lebens“ zu gelangen, genommen worden sei (1846⫺57 ⫽ 1923, Bd. 2, 347). Die Versöhnung von Realem und Idealem in der Kunst sei eine „Vorausnahme des vollkommenen Lebens […] durch den Schein […], durch welchen je auf einen bestimmten Punkt als vollendet scheint, was nie und nimmer, nirgends und überall sich vollendet“ (1846⫺ 57 ⫽ 1923, Bd. 1, 150). Dieser dualistische Charakter zeigte sich zunächst im „symbolischen Verfahren der Phantasie“ (Bd. 2, 495) darin, daß das Symbol als „Bild […] durch das äußerliche Band eines bloßen Vergleichspunktes eine andere als die ihm wirklich inne-
wohnende Idee ausdrückt“ (ebd.), weil, vorzüglich im alten Orient, die Phantasie kein anderes Bild hatte, um die menschliche Lebensidee als ganze zu repräsentieren. Das Bild, das sie entwarf, ist eines, das der objektiven Naturform folgt ⫺ daher der Rekurs auf Tiere, Pflanzen oder einzelne menschliche Organe. Insofern sei sie „unreif“, weil der Dualismus nicht ausgedrückt, sondern zugunsten einer einseitigen Favorisierung des Ideals der Natur umgangen wird. Das Erhabene werde quantitativ, durch messenden Vergleich, dargestellt. Abgelöst wird dieses einseitige Verhältnis durch die Allegorie, in der nicht mehr die Idee dem Bild, sondern dieses der Idee unterworfen werde. Der Dualismus erscheint nun erstmals als „frostige Verbindung“ (zu ungunsten der Sinnlichkeit), als durch den Verstand aufgelöstes und neu zusammengesetztes Symbol (Bd. 2, 556). Mit Hegel wird als Beispiel für die symbolische Form die Baukunst genannt, die sich wie ein Kleid zum Leibe verhalte. Und die Musik sei, als reife und späte Kunst (Bd. 3, 73) zwar der Baukunst formal verwandt, weil sie sich auch auf Proportionen und Rhythmen gründe, bei analoger symbolischer Funktion sei sie aber von gegensätzlichem semantischen Gehalt: Bei beiden wird der Dualismus nicht als Konflikt ausgedrückt, sondern nur ein Pol jeweils indiziert, nämlich in der Baukunst das Ideal der Natur, in der Musik aber nun bloß das Ideal der freien Subjektivität. Die Gegensätze des Lebens erscheinen aber erst dort, wo der Bezug dieser Ideale als allgemeiner auf die Gestalten des individuellen Lebens selbst ausgedrückt wird, beginnend mit der Allegorie in Malerei und Poesie. Erst dort liegt also eine dreistellige Zeichenfunktion vor, während Baukunst und Musik bloße Indizes (zweistellige Zeichenrelationen) der allgemeinen Natur oder der allgemeinen Subjektivität sind (vgl. Abb. 75.5).
Baukunst: Index für Natur symbolisches Verfahren der Phantasie Kunst qua Allegorie
Musik
: Index für Subjektivität
„frostige“ Verbindung von Form und Stoff
Malerei Abb. 75.5: Die Systematisierung der Kunstformen bei F. Th. Vischer.
Literatur
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
Abb. 75.6: Der Künstler vor Fuß und Hand einer Konstantin-Statue im Kapitolinischen Museum in Rom. Lasierte Rötelzeichnung von Johann Heinrich Füssli, 1778/79. Zürich, Kunsthaus, Kupferstichkabinett (nach Propyläen-Geschichte der Literatur, 1981�82, VI, 563).
3.2. Der Widerspruch zwischen individueller Sinnlichkeit und Idee: S. Kierkegaard Die Lebensart des Ästhetikers, für S. Kierkegaard (1813�1855) Paradigma idealistischer Haltung, folgt dem Anspruch, in der Bearbeitung und Aneignung der Stoffe die eigene Freiheit zu realisieren und die eigene Unend-
1473 lichkeit zu erhalten. In der künstlerischen Tätigkeit erscheint jedoch die Unlösbarkeit des Widerspruchs zwischen der individuellen Sinnlichkeit und der Idee (vgl. Abb. 75.6), sowohl unter historischen wie systematisch-semiotischen Gesichtspunkten: War bei den Griechen die sinnliche Genialität/Kraft individuell symbolisiert, dadurch aber die „Totalität der Idee“ unbestimmt (vgl. Abb. 75.7), so werde sie in der wortgebundenen christlichen Religion zum Gegenstand von Sprache als Repräsentation. Bei den Griechen sei die Partizipation der Individuen an der Kraft die Umkehrung eines repräsentativen Verhältnisses, wie sie das Christentum kennzeichne, die „Umkehrung der Inkarnation“, die die Individuen im Christentum bloß anschauen und nachahmen. (Eros war nicht verliebt, war nicht Inkarnation der Liebe, sondern bloß deren Symbol.) Das Christentum, das die Liebe als repräsentierbare (qua Inkarnation) vorstellte, somit die Repräsentation in die Welt gebracht habe, habe dabei die Sinnlichkeit zugleich aus den Individuen verdrängt und verlange nun ein Medium, das diese abstrakte Sinnlichkeit neuerlich ausdrücke (1843 � 1975, 77 ff): Sprache und Musik (als abstrakte Sprache). Diese drückten damit zugleich aber die Trennung der Idee von ihrer sinnlichen Erscheinung aus, das Wort trennt die solchermaßen bezeichnete Idee von uns. Das Individuell-Sinnliche wird zum bloßen Medium (dem Mittler, Jesus) der Repräsentation der Idee (der Liebe, des Gottes). In der Skulptur, Architektur, Malerei sei diese Idee noch ans beharrende Medium gebunden; Musik und Sprache als Medien der Zeit hin-
Abb. 75.7: Die Welt der Griechen als Welt der Symbole: Karl Friedrich Schinkel, „Blick in Griechenlands Blüte“, 1825 Berlin, Galerie der Romantik, Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Katalog 1986).
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
gegen seien Werkzeuge, für die das Sinnliche nur noch flüchtiges Mittel sei (vgl. Art. 14 und Art. 15). Diese Idee werde von der Musik unmittelbar, von der Sprache im engeren Sinne mittelbar ausgedrückt. Strenge Religiosität verzichte daher auch noch auf Musik. In ihrer Unmittelbarkeit drücke die Musik jedoch bereits die Unmöglichkeit der Versöhnung zwischen Idee und individueller Sinnlichkeit aus: Entweder werde sie zum Ausdruck des bloßen Sehnens (Mozarts Page in Le nozze di Figaro) oder der Abtrennung der Begierde im Besitz (Papageno in der Zauberflöte) oder des bloßen Wechsels von flüchtigen Momenten dieser Versöhnung ohne Bestand (Don Juan). Diese drei „Stadien“ ohne Lösung sind Gegenmodell zur Hegelschen Dialektik. Auf semiotischer Grundlage begründet Kierkegaard somit seine Klassifikation der Künste gegen Hegel ⫺ der Künste, die ihm als Paradigma frei-genialen Handelns erscheinen, das im Endlichen nicht zu realisieren ist.
4.
Die Sprache der Ästhetik und die Kraft des Schönen bei B. Bolzano
Bolzano (1781⫺1848) ist der klassisch-idealistischen Tradition noch insofern verhaftet, als er Ästhetik als die Wissenschaft vom Schönen begreift. Jedoch wendet er sich kritisch gegen die Tendenz, das Schöne in einem System, zentriert auf die oberste Idee, spekulativ zu verorten. Vielmehr fordert er, den Sprachgebrauch zum Thema Schönheit rational zu rekonstruieren und dadurch die Bedeutung des „lange schon vorhandenen Begriffs“ deutlich zu machen (1845 ⫽ 1972, 5 f). Somit wird nicht mehr aus der Struktur unserer Erkenntnis- und Handlungsvermögen eine semiotische Charakterisierung der schönen Gegenstände bezogen und auch nicht aus einer ideengeschichtlich-anthropologischen Semiotik eine Klassifikation der Künste vorgenommen (Kierkegaard), sondern unter Zugrundelegung eines Primats praktizierter Begrifflichkeit ⫺ gegen Kant ⫺ die Spezifik des Umgangs mit dem Schönen herausgearbeitet. Ästhetische Urteile seien immer an Begriffe gebunden (68 f), welche, wenn auch „dunkel“, da nicht selbst Gegenstand der Vorstellung, doch nicht etwa „unbestimmt“ seien, was überhaupt erst ihre Mitteilung erlaube (ebd.). Die Rezeption des Schönen ist dann erst gelungen, wenn ein darstellender Begriff (ebd., 50) jener sinnlichen Aneignung gefun-
den ist. Entsprechend dem jeweiligen Stand der Entwicklung der auf das Erkennen gerichteten Kräfte beim Individuum (ebd., 25) soll die ästhetische Betrachtung die Frage beantworten, „was für ein Ding das Vorhandene sei“, aber nicht im Blick auf vorgegebene Zwecke des Angenehmen, Nützlichen oder Guten (1845 ⫽ 1972, 108), sondern in der Suche nach „möglichen Regeln, Begriffen“ (ebd., 72). Dieses „begrifflich unbegrenzte“, weil frei von vorgegebenen Zwecken praktizierte Identifizieren eines Dinges, im Gegensatz zum wirklichen Messen und Rechnen (ebd., 311), führe zur Erzeugung von „vermuteten Regeln“ „durch bloßen Augenschein“. Dieser hat eine Betrachtung des Gegenstandes als „schön“ dann zum Resultat, wenn ein „Vergnügen“ dadurch gewährt wird, daß unsere auf das Erkennen gerichteten Kräfte mit „Leichtigkeit und Schnelle“ (ebd., 34) in ihrem Verfahren als „richtigem“ bestärkt werden, und zwar nicht im Sinne der Assoziation sinnlich angenehmer Vorstellungen, deren man leicht überdrüssig werden könne, und auch nicht in Konfrontation mit Fremdem und Zufälligem, Widerstreitendem, was zur Vorstellung des Häßlichen führe. (Man erkennt die Kantschen Charakterisierungen.) Der Schönheitseindruck wird vielmehr als Resultat einer Verstandesoperation interpretiert, die die sinnlich wahrgenommenen Beschaffenheiten der Gegenstände so mit anderen verknüpft, welche die Einbildungskraft assoziiert und die Urteilskraft unterscheidet, daß fernere Beobachtungen dann als „daraus folgend“, „vorhergesehen“, „erraten“ erscheinen, was uns die Leistungsfähigkeit unserer Erkenntniskräfte vorführt. Diese „dunkle Anschauung“ von der Fertigkeit unserer Erkenntniskräfte ergibt sich nur, wenn die Betrachtung nicht vorschnell gesättigt wird und wenn der betrachtete Gegenstand immer noch Seiten aufweist, die wir vorher übersehen haben. Schönheit ist somit nicht bloße vorgefundene Regelmäßigkeit, sondern erwartete, konstituierte Regelmäßigkeit oder erwartete Abweichung von dieser. Nur wenn das Kunstwerk als Erzeugnis einer frei wirkenden Kraft erscheint, kann es jene Wirkung haben. Wenn die ästhetische Erfahrung somit zur Auffindung von Regeln (Begriffen) führt, im Gegensatz zur messenden, auf Deutlichkeit zielenden Identifikation, die Kodes voraussetzt, ermöglicht sie als Rezeptionshandlung die spezifische Kode-Konstitution beim Betrachter, dessen ästhetische Erfahrung für ihn somit
1475
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
ein Stück Welterschließung als Erschließung der Möglichkeiten der Anwendung konkreter Regeln ist (vgl. Art. 67 § 4.3.).
5.
Die Überwindung des Form/InhaltDualismus im Neukantianismus
5.1. Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit: K. Fiedler Während Bolzano den Schönheitseindruck von der Seite des Rezipienten als Vergewisserung über die Regeln der ästhetischen Erfahrung begreift, untersuchen die Neukantianer die Kunstproduktion unter dem Gesichtspunkt der Darstellung von Erkenntnisoperationen. Dabei wird die „künstlerische Tätigkeit“ als Paradigma der Überwindung des Form/Stoff(Ding-an-sich)-Dualismus bzw. der Kluft zwischen Erkenntnis und Sein hin zu einem „konsequenten Monismus“ begriffen (Fiedler, 1841⫺1895; vgl. 1887 ⫽ 1971, II, 69). Sinnlichkeit als Ursprung von Form und Inhalt ist der Produzent jeglicher Erkenntnis, hinter der es kein eigenes unabhängiges Sein mehr gibt, keinen „festen Halt“. Wirklichkeit ist somit beständiges Werden des „Empfindens, Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens“ (ebd., I, 226). Jedes Vorkommnis der Sprache „bedeutet nur sich selbst, und der Schein, daß es eine Bedeutung besitzt, die von ihm verschieden sei […], beruht darauf, daß sich auf dem Wege der Assoziation andere Vorkommnisse mit ihm verbinden“ (I, 227). Im Anschluß an H. v. Helmholtz und J. Müller rekonstruiert Fiedler die psychophysischen Voraussetzungen jener „Vorkommnisse“ als „Berichtigung des Kantianismus“. Der Sinn der Ausdrucksbewegung ist nun nicht, „daß sich ein Inhalt geistiger Herkunft in einer Bewegung körperlicher Organe ein Zeichen seines Daseins […] verschaffte“, vielmehr sei die Ausdrucksbewegung Entwicklungsstufe eines psychophysischen Prozesses, in dem der „seelische Vorgang, dessen wir uns als der gleichsam inneren Seite jenes Lebensvorganges unmittelbar bewußt werden, in der Ausdrucksbewegung eine Entwicklung […] erfahren kann“ (I, 193 f), als Blick auf die „innere Werkstatt, in der die Bestandteile des Weltbildes erst entstehen müssen, wenn sie ein Sein für uns gewinnen sollen“ (ebd., 198). Die Gesichtsbilder erlangen so „höhere Grade ihres Vorhandenseins“ (248), sie führen, wo das Auge selbst am Ende seines Tuns angelangt ist, zu einem „Erwachen zur Reinheit“. Künstlerischer Ausdruck ist also Steigerung und Klärung sich selbst bedeutender Zei-
chen, die Resultat innerer Erkenntnisoperationen sind. Inhalt der Kunst ist „Gestaltung selbst“ (I, 60). 5.2. Ikonologie: E. Cassirer, E. Panofsky Der Geist, so E. Cassirer (1874⫺1945), bringt Symbole und Formen aus sich heraus und gelangt durch diese Äußerung erst zu vollkommener Innerlichkeit, bestimmt dadurch sein Wesen und seinen Gehalt. Er kann sich nicht länger auf Gestalten der Anschauung berufen, die ihm gewissermaßen „fertig entgegengebracht“ werden, sondern muß ein „Reich der Symbole in voller Freiheit, in reiner Selbsttätigkeit“ aufbauen (1923⫺29 ⫽ 1972, III, 333). Im Anschluß daran will E. Panofsky (1892⫺1968) die Grundbegriffe der Kunstwissenschaft (1964, 50) auf apriorische Prinzipien der Relation zwischen „Fülle“ und „Form“ (analog zu Zeit und Raum) zurückführen, die die Erscheinungen „zum Sprechen“ bringen, zur Auskunft über unsere (historisch wandelbare) innere Organisation. Dadurch erscheinen die konkreten Werke als individuelle Antworten auf jene prinzipiellen Fragen, die aus der Polarität jener beiden „Wertregionen“ entstehen (vgl. § 6.2.).
6.
Ästhetik zwischen Psychologie und Allgemeiner Kunstwissenschaft
6.1. Psychophysik: G. Th. Fechner, O. Külpe, W. Ostwald, Th. Lipps In Abkehr von der spekulativen Ästhetik forderte G. Th. Fechner (1801⫺1887; vgl. 1876) eine empirisch-psychologische Begründung der Ästhetik als exakter Wissenschaft. Im Blick auf das Phänomen des goldenen Schnittes erstellte er zunächst eine Statistik von Schönheitsurteilen über Proportionen. Ästhetische Schwellenreize, quantitative Bedingungen der Steigerung von Lustresultaten, Herstellung einer Einheit des Mannigfaltigen, Klarheit und Widerspruchsfreiheit der Werke sind die direkten Faktoren, während die Prinzipien der Assoziation die reproduzierten Faktoren ausmachen, die zusammen die Bedeutung der Werke konstituieren. Es fehlt jedoch eine Analyse der Gesichtspunkte der Assoziation und somit der Markierung ästhetischer Spezifik bei der Assoziation. O. Külpe (1862⫺1915) sieht diese in der „Unterordnung“ der reproduzierten unter die direkten Faktoren, zweitens in ihrem „Kontemplationswert“, der den Betrachter in den Zustand des Auf-sich-wirken-Lassens versetzt,
1476 sowie drittens in ihrem eindeutigen und direkten funktionalen Bezug zu den gegebenen direkten Faktoren (1899, 156 f). Darüber hinaus deutet Th. Lipps (1889⫺ 1941) als Vertreter der Einfühlungsästhetik das ästhetisch Wertvolle als Lustvolles, welches der „Natürlichkeit“ der Seele entspreche und ihr somit „bequem“ sei. Inhaltlich liege der ästhetische Wert in der dadurch aktivierten Fülle und Freiheit von Lebensmöglichkeiten, das Häßliche führe zu deren Verkümmerung und Armut. Einfühlung ist möglich durch Beistimmung und Billigung solcher Wirkungen bei anderen Subjekten. Durch positive oder negative Einfühlung werde das innere Tun, die psychische Kraft bzw. im negativen Fall der Widerspruch mit unserem „Wesen“ erfaßt. Jenseits der sinnlichen Form liege das gesunde/kranke Leben, das sich in ihr ausdrückt und von ihr affiziert wird. Die Konsequenzen dieses Ansatzes finden sich radikalisiert bei W. Ostwald (1853⫺ 1932; vgl. 1913, 274): Ästhetische Produkte werden nach ihrem „energetischen Nutzungskoeffizienten“ für das menschliche Leben behandelt, und neben der dabei favorisierten technischen Kultur wird die Wirkung des Kunstwerks danach beurteilt, wie hoch bei der „Rohenergie“ des ästhetischen Reizes die Auslösung ästhetischer Empfindung bei den Rezipienten sei, die willensmäßig frei geworden sind durch die Abwälzung der Arbeit auf Maschinen. Der Stand jeder Kultur messe sich an diesem Verhältnis. 6.2. Allgemeine Kunstwissenschaft: M. Dessoir, J. Volkelt, B. Croce Jene Indienstnahme der Kunst für die Realisierung anthropologisch gewonnener Prinzipien stößt auf den Widerspruch der Allgemeinen Kunstwissenschaft, die aber psychologischer Methoden nicht entraten will. So verbindet M. Dessoir (1867⫺1947; vgl. 1906) den „Objektivismus“, der die psychologisch gewonnenen Resultate einbringt (Einheit des Werkes, Unmöglichkeit der Ausklammerung von Teilen), mit dem „Subjektivismus“ ästhetischen Verhaltens als Resonanz und gewinnt in dieser Doppelung die ästhetischen Kategorien, z. B. „das Komische (Kategorie) ist das unschädliche (Subjektivismus) Häßliche (Objektivismus)“. In seinem System der Künste versteht er diese als „Sprachen“, unterschieden nach den objektiven medialen Kriterien (Raum/Zeit) und den subjektiven Assoziationsprinzipien (bestimmte Assoziation bei den nachahmenden Künsten: Plastik, Malerei/Mimik, Poesie ⫺ freie unbestimmte Asso-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
ziation bei den nichtnachahmenden Künsten: Architektur, Musik). Die Differenzierung der Assoziationsprinzipien relativiert den Psychologismus „skeptizistisch“. J. Volkelt (1848⫺1930) betrachtet die psychologisch zu gewinnenden Kriterien als bestimmt durch „niedere Empfindungen“, die mit den Idealen der Kunst auf der Basis einer normativen Ästhetik zu konfrontieren seien. Diese gelten bei „Können“ und „beabsichtigtem ästhetischem Verhalten“ und müssen bestimmten Bedingungen genügen: Die assoziativen Vorstellungen der Anschauung seien bloß vorbedingend, hinzu kämen die ergänzenden Vorstellungen des Gefühls (z. B. beim Tragischen) und die umspielenden Vorstellungen der Phantasie. „Gefühlserfülltes Anschauen menschlich bedeutungsvoller Gehalte“ in Verbindung mit einer „Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühls“ und einer „Steigerung der beziehenden Tätigkeit“ (Assoziation) mache erst die Spezifik ästhetischen Verhaltens aus (1905, I, 488⫺490). Das Kunstwerk sei insofern Symbol, als sein Bild als „bedeutungsvolle Form“ die Ideen als Unbewußt-Logisches ausdrücke in Erweiterung der psychologisch gefaßten Assoziationen und somit die Phantasie als Teil des Gesamtuniversums auf dieses gerichtet erscheinen lasse: Spinozistischer Pantheismus (1876). B. Croce (1866⫺1952) versteht Ästhetik als Wissenschaft der expressiven (repräsentativen, phantastischen) Aktivität (1901, 31), für die die Künste Indexfunktion gewinnen. Analog zu Hegel sieht er in der Kunst den Geist sich qua Ausdruck seiner Impressionen intuitiv erkennen. Dadurch werde die Expression „objektiviert“ und die Intuition selbst zum Ausdruck von Expression. Das ästhetische Faktum sei der Vorgang expressiver Verarbeitung von Impressionen, das äußere Werk bloß sein praktischer Anlaß. Schönheit sei gelungene Expression aus freier Entfaltung, Häßliches sei Expression in ihrem Unwert, nicht gelungene Realisierung von Freiheit. Das Tragische und Komische gehören somit nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie. Es gibt nur das Kunstschöne; die Annahme eines Physisch-Schönen beruht auf einer Projektion.
7.
Das Schöne als Phänomen
7.1. Spontane Erfüllung der Reduktionen: E. Husserl, O. Becker Im Gegensatz zum Psychologismus ist für E. Husserl (1859⫺1938) jedes Phänomen bloßer „Seinsanspruch“ (1932 ⫽ 1973, 60). Um zu
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
ihrer Seinsgeltung zu gelangen, müssen die Phänomene phänomenologisch „reduziert“ werden (phänomenologische Epoche´/Einklammerung): Die „eidetische Reduktion“ erbringt durch Ausklammerung der Vor- und Mitmeinungen den Übergang von der Tatsache (Faktum) zum Wesen (Eidos). Die „transzendentale Reduktion“ klassifiziert die Gegebenheiten des psychologisch-naiven Bewußtseins im transzendentalen (reinen) Bewußtsein nach ihrem Realitätsgrad (ihrer Geltung). Für das Ästhetische nun seien diese Reduktionen „spontan erfüllt“, der ästhetische Gegenstand sei bereits automatisch „reduziert“ (berichtet durch O. Becker 1929 ⫽ 1974, 36). Im Blick auf Husserls frühe Semiotik (1901) wäre also der ästhetische Gegenstand kein Zeichen, das dadurch etwas „bedeutet“, daß es etwas „ausdrückt“ mittels einer Intention (bedeutungsverleihender Akt), deren Bedeutungserfüllung allererst zu eruieren wäre, sondern ein Zeichen als „Anzeichen“, dessen „lebendige Funktion“, die Einheit beider Urteilsakte (des bedeutungsverleihenden und des bedeutungserfüllenden), im Hinweisen „gefühlt“ werde (vgl. Art. 74 §§ 12.⫺14. und Art. 103). Unter Rückgriff auf Solger hat Becker (1889⫺1964) diese These inhaltlich dahingehend ausgearbeitet, daß jenes Erlebnis die „Fragilität“ des Schönen ausmache: Zunächst sind ästhetische Gegenstände potentielle Gegenstände mit normativem Anspruch auf Verwirklichung im ästhetischen Erleben, das somit „normatives Erleben“ (G. Luka´cs, zit. in Becker 1929 ⫽ 1974, 88) sei. Seine Fragilität und Hinfälligkeit liege nun darin, daß es niemals wiederholbar sei, sondern eine immer nur neue punktuelle (Solger: zufällige) Verbindung der Möglichkeit von Freiheit mit der Natur des raum-zeitlichen Erlebens möglich ist. Von jenem Anspruch gehe eine Provokation („thrill“) aus, die einerseits Interesse überhaupt erregt und andererseits dieses zugleich bricht, weil sie es als freies nicht zuläßt, sondern durch die innere Form, die keine Modifikation erlaube, in die Realität zwingt (1929 ⫽1974, 33). Das Ästhetische führt sich somit als Phänomen in seiner Geltung selbst vor, als Entdecktheit einer „Brücke“, die den Blick freigibt in den „Abgrund“ zwischen den Seinsprinzipien von Freiheit (als bewußtseinsloser) und begrenztem Bewußtsein (vgl. Schelling, zit. ebd. 37). Diese Brücke müßte sonst durch die Reduktionen erst gebaut werden. Der Blick auf diese Kluft zwischen der (schöpferischen) Freiheit und der Begrenzt-
1477 heit des historischen Daseins (als Unwiederholbarkeit des schöpferischen Aktes), in dem der Mensch beständig stirbt (ebd., 42), erbringt ein direktes Wissen (Verstehen) über die Bedingungen unseres Sein-Könnens. Dessen Darstellung gelinge dem Künstler auch nur im Moment des Schaffens selbst; der Blick auf die Werke (ihre Interpretation als Zeichen) verfehlt dies. Der Künstler und der nachschaffende Rezipient überwinden in der durch sie vorgenommenen Konstitution des ästhetischen Gegenstandes die „Geworfenheit ins Dasein“ zugunsten einer „Getragenheit“ als Unbedrohtsein vom Zeitlichen, als wesenloser Subjektivität (ebd., 47). Dies versteht Becker als Rekonstruktion des „über allem schwebenden Blicks […] der Ironie“ Solgers (ebd., 30), der „die Begrenzung vernichtenden Reflexion“. 7.2. Die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes und die Aura: R. Ingarden und die Rezeptionsästhetik Kunstwerk und erlebendes Subjekt sind nach R. Ingarden (1893⫺1970) „Werkzeuge“ der Konstitution des ästhetischen Gegenstandes (vgl. Ingarden 1927 ⫽ 1969, 19 ff), der dann realisiert ist, wenn die Leerstellen, die Möglichkeiten des Werkes „stilgemäß“ zu einer Realisierung gebracht wurden. Reguliert wird diese Realisierung durch die ästhetischen Werte als „Verkörperungen der ästhetischen Qualitäten“ der Darstellung (ebd.). Dabei können jedoch „ungetreue ästhetische Konkretisationen“ durchaus „einen höheren Wert aufweisen, als wenn sie dem Werk getreu geblieben wären“ (25). Damit dann eine metaphysische Qualität der „gegenständlichen Schicht“ erscheint, müssen alle Schichten der Darstellung im Kunstwerk eine organische Einheit der „Wertpolyphonie“ bilden, nicht im Sinne einer simplen Harmonie, sondern einer, die jene Qualität (der Einheit) als komplementäres Element fordert: Sie wird nur „parat gehalten“ und erscheint im ästhetischen Erleben erst wirklich. Im Falle der „Dissonanz“ können nur partielle Qualitäten realisiert werden. Die Funktion der „gegenständlichen Schicht“ als „Selbstenthüllung von Qualitäten“ ist gerade keine Symbolisierungsfunktion, allenfalls können ihre intentionalen Gegenstände auf Anderes verweisen, wie es in der religiösen Sprache mit ihrem Verweis auf Geheimnisvolles realisiert wird. Das Symbolische ist das, worauf mittelbar verwiesen wird, was sich gerade selbst nicht zeigt (1972, 319).
1478 Im Prager Kreis (vgl. Art. 115) wurde dieser Dialog-Topos als Gegenbild zu einer denotativen Funktion der Werke als „potentielle semantische Energie“ (J. Mukarˇovsky´ 1974, 84) gefaßt, die, „indem sie aus dem Werk als einem Ganzen ausstrahlt, eine bestimmte Einstellung zur Welt der Wirklichkeit anzeigt“. E. Utitz faßt ästhetisches Erleben als „gefühlsmäßiges Erfassen wertvoller Erscheinungen“, wobei diese durch die Darstellungsart des Kunstwerks und die Ich-Einstellung des Rezipienten, die sich wechselseitig „kontrollieren“, bedingt seien (1972, 99 f). Das Wesen des Ästhetischen wird dadurch dynamisiert. Jene Dialektik erlaubt den Einbezug gesellschaftlicher Einstellungen und erklärt die Hinwendung beider zum Marxismus. Im ästhetischen Gegenstand manifestiert sich somit ein „Wechselverhältnis von Ferne und Nähe“, das W. Benjamin (1892� 1940) „Aura“ nannte (die durch die technische Reproduktion verloren geht) (1969, 18). G. Luka´cs (1885�1971) hat im Anschluß an K. Popper dieses „Beieinander von Nähe und Getrenntsein“ darauf zurückgeführt, daß in der Kunst die „Beschaffenheit des Ausdrucks-Schemas […] alleinige Substanz sei, die der Mensch der Erlebniswirklichkeit“ nie real erblicke (1973, 31). Auch der Schaffensprozeß ist daher ein merkwürdiges Ineinander von „Aktivität und Kontemplation“ (Luka´cs, zit. in Becker 1929 � 1974, 40), wobei kein Akt wiederholbar sei, denn der „normative Erlebnischarakter“ des Schaffens ist immer ein „Mehr“ gegenüber seiner Realisierung � die „heraklitäische Struktur“ des Ästhetischen (ebd., 42). Ein Kunstwerk, so G. Boehm, ist als „Potential“ insofern „überdeterminiert“, ein „Angebot an Sinnhorizonten“, die in ihrer Komplexität durch die Rezeption erst abgebaut werden, wobei durch die Perpetuierung von Rezeptionsakten das Potential dann nach und nach erst erscheint (1981, 13, 22, 28). Die spezifische Ikonizität des Kunstwerks ist daher das „gegenüber jedem Selbstbesitz Andere von Sinn“. Nicht nur das Kunstwerk, auch der Rezipient wird aber durch die wechselnden (Solger: zufälligen) Konstitutionen des ästhetischen Gegenstandes repotentialisiert, seiner Wirklichkeit enthoben (Jauß 1982, 739 ff; Hubig 1990 und 1990 a). 7.3. Der Ursprung des Kunstwerks: M. Heidegger Das spezifisch Phänomenale des Kunstwerks liegt in seiner Selbstoffenbarung (vgl. Husserl
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 75.8: Vincent van Gogh, „Ein Paar Schuhe“, 1855. Öl auf Leinwand, 37,5 � 45 cm. Amsterdam, Rijksmuseum Vincent van Gogh (Vincent-vanGogh-Stiftung).
und Becker; s. o. § 7.1.), das Kunstwerk „gibt es zu wissen“ (Heidegger, 1889�1976; vgl. 1960, 32). Es verweist jedoch nicht auf das dargestellte „Zeug“, sondern das Zeughafte des Zeugs kommt zum „Vorschein“, weil es in der Leere des Raums (ebd.), nicht in seinem Dasein vorgestellt wird. Es geht um „Dienlichkeit, Verläßlichkeit, Insichruhen“, um Seinsmöglichkeit im Gegensatz zur Wirklichkeit des Daseins. Zum Vorschein kommt sie nicht durch „Beschreibung und Erklärung“, sondern dadurch, daß „wir anderswo gewesen (sind), als wir gewöhnlich zu sein pflegen“ (ebd.). Entdeckt wird nicht etwas Seiendes, sondern die Unverborgenheit des Seins, das, was etwas, z. B. das Zeug, in Wahrheit ist („Aletheia“; vgl. Becker 1929 � 1974, 36). In der Verweigerung von direkter Bezeichnung liegt das Werkhafte des Kunstwerks als „schweigender Zuruf der Erde“ (vgl. van Gogh’s Bauernschuhe; Abb. 75.8). „Ein Bauwerk […] bildet nicht ab“ (ebd., 41). So stelle ein griechischer Tempel die Ausgrenzung aus der Lebenswelt, die Naturmächte im Verhältnis zum Tragen, Standhalten usw. selbst vor. Die Verweigerung einer direkten Zeichenfunktion kommt für Heidegger (im Gegensatz zur Rezeptionsästhetik) nicht durch Überdetermination, sondern eher also durch Unterdetermination, fehlende Komplexion von Um-zu-Bezügen zustande. Zum Vorschein komme das, was die Dinge sind, nicht ihr Verwendungszusammenhang. Insofern ist es das Kunstwerkzeug, das sein Zeughaftes selbst vorstellt (vgl. Art. 74 § 20.).
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
8.
Die kritische Funktion der Kunst: Th. W. Adorno
In der Negation direkter Bezeichnungsfunktion sieht auch Adorno (1903⫺1969) für die nachklassischen Kunstwerke ihre Bedeutung als „Seismogramme“ des gesellschaftlichen Zustands. Ihr „Verstummen“, ihre immanente Revolute gegen die Gesellschaft, sei der Gehalt ihrer Vergänglichkeit (1971, 13). Das Ende der Kunst (Hegel) und die Verweigerung ihrer Abbildfunktion (Heidegger) wird hier kritisch gewendet: Das Neue erscheint im Bild des Untergangs als „Kryptogramm“, worin versteckt Utopien ausgesprochen werden als „Unaussprechliches“ und Absage an den Schein der Versöhnung, wie er unsere Realität kennzeichnet (56). Damit wird (gegen die Romantik) Kunst zum „Schein des Scheinlosen“ (199). Ihre Bilder seien keine Abbilder, sondern „Chiffren“ des Potentials von Entfremdung durch technische Verfahren, aber auch ihrer Revision. In der Fragmentarizität der Werke wird Klage chiffriert, in ihrer Unverständlichkeit diese selbst vorgeführt, aber auch, daß man sie (noch) darstellen kann, also potentiell von ihr sich entbinden kann.
9.
Pragmatisch-semiotische Ästhetik: Ch. S. Peirce, J. Dewey, Ch. W. Morris, Ch. L. Stevenson
Bei Ch. S. Peirce (1839⫺1914) gewinnt die ästhetische Erfahrung zentrale Bedeutung für die Ethik und Logik (vgl. Art. 100). Die unmittelbare Erfahrung des „Bewundernswürdigen Ideals“ als „ästhetischer Güte“, des Schönen als Manifestation eines „Summum bonum“ vernünftiger Ordnung des Universums (5.130, 5.402, unter Bezug auf Fr. Schiller), als einer „Vielheit von Teilen […], die so aufeinander bezogen sind, daß sie ihrer Ganzheit eine einfache, positive, unmittelbare Qualität verleihen“ (5.132), ist diejenige Intuition von Vollkommenheit, als deren besondere Art das moralisch Gute erscheint (als Konsistenz des Handelns überhaupt), von dem wiederum die selbstkontrollierte Widerspruchsfreiheit der Logik einen Sonderfall darstellt. Diese intuitive sinnliche Erfahrung ist zu trennen von einer sinnlichen Erfahrung des Einzelnen, der er bereits einen verdeckten abduktiven Schluß, die Unterstellung einer Gesetzmäßigkeit zuschreibt (Peirce 1931⫺58, 5.283 ff), also eine „Drittheit“ (Symbolge-
1479 brauch), die die „Erstheit“ (Unmittelbarkeit) der Erfahrung garantiert. Ästhetische Erfahrung hingegen ist eine Erstheit, in der ikonisch letztvollkommene Konsistenz vorgestellt wird, die daher dem kategorischen Imperativ noch vorausliege (5.133). Ästhetische Güte ist vorfindlich als Expressivität (5.137), eine Wirkung. Wirkungen von Zeichen werden von Peirce als Bedeutungsprodukte, Interpretanten rekonstruiert, als Gefühl oder Erkenntnis der vermittelnden Instanz. Im Sonderfall der Musik ist dies ein emotionaler Interpretant, ein (normiertes) Gefühl, in der ästhetischen Erfahrung allgemein ein logischer Interpretant als (Änderung) eine(r) Gewohnheit, eine Tendenz, in einer bestimmten Weise zu handeln. Ästhetische Erfahrung ist also eine Erfahrung von Drittheit als Erstheit, eine unmittelbare Erfahrung der Idee von Konsistenz. J. Dewey (1859⫺1952) schließt sich dieser Position insofern an, als für ihn ebenfalls die ästhetische Erfahrung, nicht ontologische Eigenschaften des Kunstprodukts Thema der Ästhetik sind. Das Kunstwerk konstituiert sich durch eine Kooperation mit dem Rezipienten, der angesichts des Kunstprodukts seine Alltagserfahrung verdichtet und klärt, weil das Werk diese Erfahrungen „steigert“ und ihre Rhythmen präzisiert, indem es selbst zum Gegenstand einer Semiose wird, die es allererst erzeugt (1934 ⫽ 1980, 123 ff). Die von Dewey vernachlässigte Frage nach spezifisch ästhetischen Werten wird für Ch. W. Morris (1901⫺1979) zentral: Das Kunstwerk hat wie alle Zeichen eine designative, appraisive (bezüglich konsumptorischer Eigenschaften) und präskriptive Dimension sowie operativen Wert (als Norm), vorgestellten Wert sowie Objekt-Wert (1939 ⫽ 1975, 283). Seine Spezifik liegt darin, daß es wesentlich ikonisches Zeichen ist (1939 ⫽ 1975, 286), das sich vorwiegend selbst denotiert. Es bezeichnet in dieser Funktion Objektwerte (extrem etwa in der Werbung), operative Werte (im Sinne einer Auswirkung auf den Rezipienten) sowie vorgestellte Werte (so in Utopien). Werte sind Eigenschaften von Objekten relativ zum Präferenzverhalten der Subjekte. Sie sind in Werken verkörpert, soweit diese Relation wahrnehmbar ist und der Einsicht „offensteht“ (1939 ⫽ 1975, 210 f). Sie sind in der ästhetischen Situation „enthalten“, unmittelbar als repräsentierte durch das Kunstwerk als Zeichenträger, mittelbar durch seine eigene Funktion als Zeichen für den Rezipienten, dessen Wertekanon, in dem er eine
1480 (neue) Konsumerfahrung macht (302), „vor der eigentlichen Handlungsebene“ dynamisiert wird (zur abstrakten Kunst als einem formativen Diskurs im Sinne von Morris vgl. Art. 113 § 5.). Im Anschluß daran führt C. L. Stevenson (*1908; vgl. 1958) die mittelbare Bezeichnungsfunktion des Kunstwerks darauf zurück, daß sein Interpretant eine bloße Reaktionsdisposition sei, die ihrerseits jedoch mittelbar vorgestellt wird. Damit kritisiert er S. K. Langer (vgl. Art. 77 § 9.2.), die einen direkten symbolischen Bezug von Kunstwerken auf Emotionen gegeben sieht (272 ff; vgl. Ingarden vs. Langer in Ingarden 1972, 319).
10. Die Sprachen der Kunst: N. Goodman N. Goodman (*1906; vgl. 1968) legt ein Modell ästhetischer Repräsentation vor, mittels dessen die meisten bisher diskutierten Ansätze rekonstruierbar sind. In Abgrenzung von Repräsentationsmodellen, die mittels der Konzepte der Ähnlichkeitsbeziehung, der Denotation, der Klassifikation oder des Ausdrucks operieren (u. a. von Problemen der Null-Denotation/Fiktion tangiert), sieht er als notwendige Bedingung ästhetischer Repräsentation das Vorliegen einer Exemplifikationsbeziehung an: Diese ist eine Subrelation einer Umkehrung einer Denotationsfunktion, d. h. sie setzt das Vorliegen einer Denotationsbeziehung voraus, wobei das Denotat auf ein „label“ verweist. Denotationsfunktionen sind Bedeutungen in Form von Bezeichnungsregeln. Ein Werk exemplifiziert alle Bezeichnungsregeln, die auf es zutreffen (z. B. der Marsch aus der Eroica „Trauer“, eine Stoffprobe „rot“). Ästhetische Valenz bekommt nun ein „label“ dadurch, daß es durch die Exemplifikation indirekt auch auf andere Gegenstandsbereiche verweist, die von derselben Denotationsfunktion erfaßt werden, also der Marsch über „Trauer“ auch auf Gefühle, die rote Stoffprobe über „rot“ auch auf aggressive Gesichtsfarbe, eine Maus über „furchtsam“ auch auf furchtsame Menschen usw. Solche „metaphorische“ ⫺ weil auf andere Gegenstandsbereiche zielende ⫺ Referenz ist komplexe Referenz, die bevorzugt Kunstwerken eignet. Diese können auch sich selbst exemplifizieren (wie z. B. das Wort „kurz“ es tut) oder ⫺ dies wohl am wichtigsten ⫺ auch die Handlung(sbezeichnung), die zu ihrer Herstellung führte. Diese Exemplifi-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
kation kommt zustande dadurch, daß die „labels“ jene Kennzeichen „besitzen“, insofern sie unter „gültigen Klassifikationsweisen“ stehen, deren Herausbildung und Gewohnheit („habit“) zu analysieren nicht Thema der analytischen Ästhetik ist. (Goodman verweist auf Cassirer.) Ähnlich sieht sich P. Ziff (1966) genötigt, das „concept of familiarity“ einzuführen (79), unter welchem jeweils Aspekte des Repräsentierten diesem selbst zugeschrieben werden. Es wird ebenfalls als konstitutiv angesehen für die Realisierung der Repräsentationsbeziehungen, in denen diese Aspekte erscheinen, denn die Repräsentation kommt zustande unter den durch „familiarity“ unterstellten Vereinbarkeits- und Nichtvereinbarkeitsbeziehungen von Gegenstandsaspekten zu Aspektmengen und von diesen zueinander (83). Die Gültigkeit der Klassifikation ist auch für Goodman variabel, je nachdem, welche Gegenstandsbereiche als einander ähnlich (im Sinne von M. Black) angesehen werden. (Bereits Pindar ⫺ 8. pyth. Ode ⫺ hatte darauf verwiesen, daß Athene in ihrem Klagelied den Schmerz der Euriale „erträglich“ machte dadurch, daß im Lied nicht nur der Schmerz, sondern auch der kunstvolle Umgang ⫺ „geflochtene Klage“ ⫺ mit ihm ausgedrückt würde. Für Goodman wären hier „Schmerz“ und „Flechten“ exemplifiziert.) Darüber hinaus rekonstruiert Goodman als notwendige Bedingungen des Ästhetischen „semantische und syntaktische Dichte“: „semantische Dichte“ als Minimalisierung von Unterschieden auf der exemplifizierenden Symbolebene entsprechend den Gegenstandsdifferenzen und Gegenstandsaspekten, „syntaktische Dichte“ als Maximierung der Bedeutsamkeit von Symbolaspekten (vgl. Art. 121).
11. Informationstheoretische Ästhetik: H. W. Franke, G. Pfeiffer, M. Bense Informationstheoretische Ästhetik als „präzise Ästhetik“ begreift Kunstwerke als „Nachrichten“, „Wahrnehmungsangebote besonderer Art“ (Franke 1967, 24), welche im Verhältnis zum „Aufnahmevermögen der Sinnesorgane“ eine Analyse der „Nachrichtenverarbeitung“ ermöglichen. Lebenssicherndes „Orientierungs-Durchmusterungsund Aufnahmeverhalten“ (ODA) steht unter einem „Optimierungsprinzip“, das Signal-
1481
75. Zeichenkonzeptionen in der Ästhetik
strukturen in ihrem Verhältnis zum Rezipienten beschreibt. Ein optimales Angebot (vgl. die „Resonanz“ der Psychophysiker und Einfühlungsästhetiker) erzeugt das Angenehme, Mißlingen das Unangenehme (126). „Signalstrukturen, die die Optimalbedingungen erfüllen, werden als ‘schön’ bezeichnet“ (Pfeiffer 1972, 13⫺52), „gefertigte schöne Signalstrukturen als Kunstwerke“. Ästhetische Tätigkeit liegt dann vor, wenn (a) das ODAVerhalten nicht primär der Lebenssicherung dient und (b) solche Situationen willkürlich erzeugt werden können (Pfeiffer, ebd.). M. Bense (1910⫺1990) will den kreativen Prozeß ästhetischer Zustände mit einer Verbindung von numerischer Analyse einerseits und semiotischer Analyse andererseits erfassen. Im Gegensatz zu den stark determinierten physikalischen und konventionell determinierten sprachlichen Zuständen sind ästhetische Zustände schwach determiniert (vgl. Abb. 75.9 auf Tafel II). Durch Selektion und über einen „kommunikationsfähigen“ Kode wird ein Repertoire zu einem Träger ästhetischer Zustände kreativ umrealisiert (1969, 33). Der kreative Prozeß ist ein Sonderfall der Kommunikation. Die hergestellten Ordnungen (relativ zu den Ordnungen der Repertoires) können (i) als reguläre Ordnungen durch Übereinstimmungsmerkmale beschrieben und identifiziert werden und bekommen dadurch ikonischen Charakter für jene Ordnungen; (ii) als irreguläre Gestalten, konfigurative Anordnungen, gestaltete Irregularität können sie als Indizes dieser Gestalten identifiziert werden; (iii) als chaogene Ordnungen bedürfen sie einer kennzeichnenden Individuation ihrer Elemente, die somit Symbole werden. Ästhetisch relevant ist darüber hinaus die „Superisation“, der Zusammenschluß von Einzelzeichen zu Gesamtzeichen, sowie die Gradation oder Degradation von Zeichen, die durch die abstrahierende Wirkung der Selektion in der Darstellung des Objekts entsteht und einen Übergang zu vollständiger oder unvollständiger Semiotisierung bewirkt. So ist eine Schwarz-weiß-Photographie ein degradiertes Ikon, ein Wegweiser ein degradierter Index und „Mensch“ ein degradiertes Symbol. Symbole haben den höchsten, Indizes einen mittleren und Ikone den niedrigsten Grad an Semiotizität als „Innovations- und Informationsfähigkeit“. Die innovationserzeugende Selektion, die beim Ikon am schwächsten ist, ist als Distribution der Elemente innovationserzeugend; die Semiose, welche die so
gegebenen Signale „manipuliert“, ist zeichenerzeugend. Daher bedarf es eines doppelten, einerseits selektiven und andererseits semiotischen Begriffs der Information (42 f). Mit D. M. McKay (1951) ist jede „selektive Information“ die Differenz der statistischen Beträge zweier semiotisch fixierter Darstellungen (Repertoire und Produkt); Information ist etwas, was die Darstellung „verändert“. Die Annahme von Darstellungsordnungen geht somit der Informationsberechnung voraus, das Vorliegen von Information ist Voraussetzung der Bezeichnung (vgl. Art. 125).
12. Literatur (in Auswahl) Adorno, Theodor W. (1971), Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. Becker, Oskar (1929), „Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abentheuerlichkeit des Künstlers. Eine ontologische Untersuchung im ästhetischen Phänomenbereich“. In: Festschrift Edmund Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet. Halle. Wieder: Tübingen 1974: 27⫺52. Benjamin, Walter (1969), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. Bense, Max (1969), Einführung in die kommunikationstheoretische Ästhetik. Reinbek. Boehm, Gottfried (1981), „Kunsterfahrung als Herausforderung der Ästhetik“. In: Werner Oelmüller (ed.), Kolloquium Kunst und Philosophie 1: Ästhetische Erfahrung. Paderborn: 13⫺28. Bolzano, Bernard (1845), Untersuchungen zur Grundlegung der Ästhetik, ed. D. Gerhardus Frankfurt a. M. 1972. Cassirer, Ernst (1923⫺29), Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Darmstadt 1972. Croce, Benedetto (1901), Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck. Tübingen 1930. Dessoir, Max (1906), Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart. Dewey, John (1934), Art as Experience. New York. Dt. von Christa Velten, Gerhard vom Hofe und Dieter Sulzer: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1980. Fechner, Gustav Theodor (1876), Vorschule der Ästhetik. Leipzig. Fiedler, Konrad (1887), Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit. Schriften zur Kunst Bd. 1, München 1971. Franke, Hans Werner (1967), Phänomen Kunst. München. Goethe, Johann Wolfgang von, Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, ed. H. Bondi. Berlin. 1909.
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Christoph Hubig, Leipzig (Deutschland)
1483
76. Sign conceptions in logic
76. Sign conceptions in logic from the 19th century to the present 1. Semiotic views of traditional logic 1.1. The Leibnizian dream 1.2. “A blank in the history of the subject” 2. Semiotic problems in algebraic logic 2.1. The algebra of logic 2.2. Diagrammatic representations and existential import 2.3. The algebra of relatives 2.4. The logical foundations of semiotics 3. Semiotic aspects of formal logic 3.1. The rise of modern logic 3.2. The logic of Principia Mathematica 4. The semiotic relevance of contemporary logic 4.1. Logic as a formal system 4.2. The plurality of logics 5. Conclusion: towards an interdisciplinary study of signification 6. Selected references
Although long established as a concept ⫺ ever since the Stoics in fact ⫺ it is often pointed out that the word shmeivtikh¬ was first applied to “the doctrine of signs” by Locke (1690 ⫽ 1972, 309). But it has much less frequently been noted that Locke immediately added: “It is aptly enough termed also logikh¬, logic: the business whereof is to consider the nature of signs the mind makes use of for the understanding of things, or conveying its knowledge to others.” It should not be thought that to bring those terms together was a result only of Locke’s strictly epistemological approach (cf. Art. 62 § 8.2.3.). By turning the process of semiosis into a new object of research, Peirce also likened this new discipline to logic (cf. § 2.4.; see also Art. 100) ⫺ an attitude which Morris (1938, 126) in his turn echoed when he wrote: “Logical analysis is, in the widest sense of the term logic, identical with sign analysis; in narrower usages, logical analysis is some part of sign analysis.” If logic taken in the wide sense was identical to semiotics, then logic taken in the narrow sense was part of this new discipline (cf. Art. 113). Such was the pattern of a highly original and apparently paradoxical relationship between these two fields of knowledge. The following analysis intends to survey the development of symbolic logic in order to characterize this relationship further (for other uses of the term “semiotic” since the era of Enlightenment see Art. 83 § 2.).
1.
Semiotic views of traditional logic
1.1. The Leibnizian dream The history of modern logic does not start with the dawning of the 20th century. Mod-
ern research in logic ⫺ indeed even the most contemporary ⫺ originates in the work of Leibniz (1646⫺1716). He was the first to conceive of a logic defined in terms of symbolic language and algorithmic calculus (cf. Art. 64). 1.1.1. “Characteristica universalis” as a semiotic turn in logic Apart from a limited use of variables which started with Aristotle and the Stoics, logical arguments were still based upon natural languages up to the middle of the seventeenth century. But as the latter were equivocal and ambiguous, they could not prevent paralogisms. That is why Leibniz formed the idea of an artificial and fully symbolical logical language (cf. Art. 62 § 7.). This language was to be composed of characters which, just like Chinese ideograms or Egyptian hieroglyphics, were meant to express ideas graphically (cf. Art. 63 § 3.1.3.). Each simple idea was to be represented by one simple character only. The total set of ideas would form a universally known “alphabetum cogitationum humanarum” guaranteed by intuition (cf. Couturat 1901 ⫽ 1985, 35). These characters could then be combined in order to express a composition of complex ideas. Consequently, the “lingua characteristica” would develop into a real “encyclopaedia universalis” capable of itemizing the canon of contemporary knowledge. Such a design constituted a true semiotic turn by breaking with the classical conception of signs. According to Descartes (1596⫺ 1650), signs were the mere garments of thought, and thought alone had the full power of knowledge. With Leibniz, if simple ideas were still known through intuition, complex ideas escaped the “intuitus mentis”. Only through signs could complexity be mastered. Hence the crucial theme of “blind thinking” developing through the interplay of signs alone (Leibniz 1875⫺1890, IV, 423). For the first time, a cognitive and creative function was thus assigned to sign combining (Dascal 1978; see also Art. 62 § 8.2.4). Logical language became a real tool of knowledge: a “filum Ariadnes” enabling chains of arguments to be woven, a “menti telescopium” extending our natural faculties. Rational knowledge was to be achieved within and through signs: “Omnis ratiocinatio nostra nihil aliud est quam characterum connexio et substitutio” (Leibniz 1875⫺1890, IV, 31).
1484
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
1.1.2. “Calculus ratiocinator” The Leibnizian characteristic was to supply reliable means of combining ideas according to a “calculus ratiocinator seu artificilium facile et infallibiter ratiocinandi” (cf. Couturat 1903 ⫽ 1966, 239). Recognizable here is the
grammatic methods to solve syllogisms, using segments or circles. As such methods were rediscovered by Euler and Venn (cf. §§ 1.2.1. and 2.2.), only one example of a rectilinear representation of a BARBARA syllogism will be given here: Premises
Major Premise:
All men are mortal
mortal
Minor Premise:
All Greeks are men
man
Conclusion:
All Greeks are mortal
Greek
Cartesian ideal of “mathesis universalis” which, unlike mathematics, can apply not only to numbers and diagrams but to ideas as well, regardless of the field of knowledge being considered. But if Leibniz carried on such a quest of a scientia generalis de qualitate, he nonetheless challenged the Cartesian search for Method. The Cartesian precepts were of a psychological nature. Even if they could be of any heuristic interest, they did not supply the purely mechanical means to put an indisputable end to the controversies: “Sufficiet enim calamos in manus sumere sedereque ad abacos, et sibi mutuo […] dicere ‘calculemus’ ” (“For, we will only have to hold our pens in our hands, sit in front of abaci and […] say to each other ‘let us calculate’ ”; Leibniz 1875⫺1890, VII, 200). According to the famous phrase “Computatio sive logica” (Hobbes 1655 ⫽ 1839) the calculation was to be of a logical kind. Using a univocal, symbolic language, logic was to develop into an entirely deductive calculus. Undoubtedly, he had thus sketched the modern conception of logic as later achieved by Frege (cf. § 3.1.1.). Unfortunately, Leibniz was, at the time, too early to be able to make use of logical tools which matched his great ambition. 1.1.3. The Aristotelian heritage Leibniz saw in the Aristotelian syllogistic (cf. Art. 41 § 4.2.) a foreshadowing of his project. As handed down by scholastic tradition, syllogistic seemed to be the only genuine logical calculus, as it was concerned with predicates, i. e., ideas. It could be applied to many different kinds of reasonings. Thus Leibniz (1666) tried to systematize syllogistic by completing all of its four figures so that each had six moods. Still sensitive to the iconic representation of ideas, he designed the first dia-
major Conclusion minor
Each segment represents the extension of a predicate, the projection of one segment onto another expresses a premise. When the two premises are symbolized, the conclusion is self-evident. The segment “Greek” is projected onto the segment “man” and so onto the segment “mortal” (cf. Couturat 1901 ⫽ 1985, 25⫺32). 1.1.4. The presuppositions of traditional logic Leibniz made numerous attempts, disseminated in various opuscules which remained unpublished for a long time, to construct a logical calculus fulfilling his own requirements, but all to no avail (cf. Couturat 1901 ⫽ 1985; Rescher 1954). One might argue ⫺ as Leibniz himself did ⫺ that the project was far beyond the abilities of one man alone. Actually, the reason for his failure is deeper and irreducible. It lies in the intrinsic limits of the Aristotelian heritage. In adopting the syllogistic procedures, Leibniz could not discard its metaphysical conceptions. The fundamental presupposition is the one according to which any proposition whatsoever can be analysed in terms of subject and predicate. A proposition is true if “predicatum inest subjecto”. Thus, in the major premise “All men are mortal”, the phrase “All men”, having the function of grammatical subject, becomes a logical subject describing a set of existing individuals. Then, the copula is seen as having an existential import and subalternation is allowed: from a universal proposition (A), a particular proposition (I) can be inferred. (It will be seen in § 2.2. that modern logic, by contrast, interprets universal propositions in purely hypothetical terms, denying them any existential import.) The impossibility of taking into account the specificity of relational propositions is the result. According to what
1485
76. Sign conceptions in logic
Russell later called “the dogma of internal relations”, the only relation traditionally admitted was that of the inherence of the predicate in the subject, all others supposedly being reducible to this schema. However, if such a reduction can be made concerning symmetrical relations, it is bound to fail with asymmetrical ones (cf. Russell 1903 ⫽ 1937, 222). Hence the impossibility of accounting for many relational inferences considered to be “asyllogistical”, such as the equipollentia per inversionem relationis, e. g.: “David est pater Salomonis, ergo Salomon est filius Davidis”. Leibniz, conscious of this difficulty, could do nothing else but discredit it, alleging that such arguments came under rhetoric rather than logic (cf. Couturat 1903 ⫽ 1966, 405). The adoption of a strictly predicative logic and its submission to substantialist metaphysics marked the irreducible limits of the whole syllogistic tradition. So Leibniz’s promising dream could only be realized in the twentieth century by progressively contriving new tools and gradually giving up the ancient dogmas and presuppositions. 1.2. “A blank in the history of the subject” Most of his manuscripts being buried away in the Hanover library, Leibniz did not have any direct influence on later logical research. However, the outline of his project was gradually brought to light, notably by Christian Wolff (1679⫺1754; cf. Wolff 1728). Thus, the mathematician Johann Heinrich Lambert (1728⫺1777), in Neues Organon (1764), resumed, as “Semiotik”, the construction of a characteristica and developed the idea of a mathesis universalis. He acknowledged that the four arithmetical operations each had a logical analogue, including aggregation, separation, determination and abstraction, and he stated the chief logical properties of these, such as associativity, commutativity and distributivity. Then he tried to extend the outline of his calculus to relations. For example, the introduction of the power operation in relations goes back to him: if x has the relation R to y and y the same relation R to z, x has the relation R2 to z, e. g., if R ⫽ “is the father of”, then R2 ⫽ “is the grandfather of”. But beyond those limited technical innovations (cf. Venn 1881: xxxii⫺xxxvi), his attempt to develop the Leibnizian program, modeling it on arithmetic, was still far too dependent on scholastic presuppositions. The structure of arithmetical operations was artificially connected to the traditional way of
coining concepts. Concepts were classically defined per genus et differentiam. That alone was enough to prevent the creation of a real calculus. While Lambert developed a linear representation of syllogisms, he nonetheless stuck to the traditional primacy of intensional interpretation just as Leibniz had done. The great merit of later attempts at a diagrammatic representation of syllogisms was that they gave rise to the idea of a resolutely extensional interpretation, the sine qua non requirement for the constitution of a logical calculus. 1.2.1. Diagrams and extensionality The ambition of the mathematician Leonhard Euler (1707⫺1783; cf. Euler 1761) was not to work out a logic-calculus but more modestly to develop a graphic method to solve syllogisms (cf. Art. 64 § 2.3.3.). Rediscovering the Leibnizian intuition, he suggested that each set of individuals characterized by a predicate be represented by a circle, and that the four Aristotelian propositions be symbolized as follows:
A:
All F are G
E:
No F are G
I:
Some F are G
O:
Some F are not G
F G
G
F
F G F
G
Again, with this method the graphic symbolization of the premises was enough to read the conclusion, or its absence. For instance, a syllogism in FERIO was represented in the following way: E:
No F are G
I:
Some H are F
O:
Some H are not G
F H
G
The geometrical intuition governing this device had the advantage of imposing, nolens volens, the consideration of extension, but Euler did not question the syllogistic tradition for all that.
1486 1.2.2. Denotation and connotation Euler’s endeavor was not daring enough, but it nonetheless opened the way for a real classcalculus. However, if the Leibnizian idea of a computational treatment of signs was gaining ground, the specifically semiotic reflection was at a standstill, although the work of logicians belonging to the “formalist” trend, and also John Stuart Mill’s (1806⫺1873) analysis, proved an exception. In his famous System of Logic ratiocinative and inductive (1843), he put forward a resolutely anti-formalist and strictly empiricist interpretation of logic. But ⫺ and this is where his originality lies ⫺ he did so without turning to the nominalist arguments that had been so much in favor since Hobbes (cf. Art. 71 § 3.): “Nominalists, bestowed with little or no attention upon the connotation of words, sought for their meaning exclusively in what they denote as if all names had been (what none but proper names really are) marks put upon individuals; and as if there were no difference between a proper and a general name, except that the first denotes only an individual and the last a greater number” (Mill 1843, V, 2). He did admit, with the nominalists, that a proper name had no other function than to denote an individual. But he considered that if general names denote several individuals, their specificity lies in the fact that they denote these individuals by means of the attributes that they connote. Those connoted attributes constitute the specific meaning of general names. So proper names have no meaning, they merely denote. Of course, Mill did not for all that turn to the doctrine of the “realists”, who interpreted attributes in terms of universals described as real and timeless entities. Adopting a phenomenalistic position, he considered that every attribute was “grounded” in phenomena, the knowledge of which we gain through experience. The distinction he made between denotation and connotation was the starting point of a fruitful analysis of meaning which was given a final logical format with the Fregean distinction between “Sinn” and “Bedeutung” and the Russellian theory of descriptions (cf. §§ 3.1.3. and 3.2.2.). Compared to the fantastic impetus given by Leibniz, logic made little progress around the end of the 18th century and the beginning of the 19th century. Venn noted that “there was almost a blank in the history of the subject”, ascribing it to the influence of Kant (cf. Art. 84 § 2.), who “had a disastrous effect on
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
logical speculation” (1881, xxxvi⫺xxxvii). Whatever the reason may have been, the period was one of doubt concerning the very status of logic. A forerunner of Frege and Russell on that point, Bernard Bolzano (1781⫺1848) in his Wissenschaftslehre tried in 1837 to operate a clear-cut separation between psychology and logic, defining the latter as the science of objective truths independent of our knowing them. The objectivity, universality and necessity of the laws of logic were grounded on the existence of “Wahrheiten an sich” expressed by “Sätze an sich” which were composed of “Vorstellungen an sich”. But from 1843 on, Mill did not hesitate to define the principle of non-contradiction as a mere generalization stemming from experience. Later, Francis Bradley (1883) and Bernard Bosanquet (1888) ⫺ both British, but under the influence of German idealism ⫺ condemned formal logic and developed a philosophical logic inspired by neo-hegelianism, whereas in Germany, Christoph Sigwart (1873⫺78), Wilhelm Wundt (1880⫺83) and Benno Erdmann (1892), were reducing logic to a mere “ethics of thought”, to a simple methodology strongly tinged with psychology.
2.
Semiotic problems in algebraic logic
2.1. The algebra of logic The publication towards the middle of the nineteenth century of George Boole’s (1815⫺ 1864) work The Mathematical Analysis of Logic definitively put a stop to waverings concerning the status of logic. Being a mathematician, he discovered that algebra could supply a formal structure to all logical calculi: “They who are acquainted with the present state of the theory of Symbolic Algebra, are aware that the validity of the processes of analysis does not depend upon the interpretation of the symbols which are employed, but solely upon the laws of their combination” (1847 ⫽ 1965, 3). Boole conceived the project of a logical interpretation of algebra, but found himself faced with the problem that algebra was a science dealing with quantities and numbers. To free it from such a yoke and make sure it was granted a completely general nature such as was required in logic, he had the idea of devising a “dual algebra”, reduced to a calculus based on two numbers only: 0 and 1. This algebra had a structure of operation that could be logically interpreted on three levels: in terms of propositional cal-
1487
76. Sign conceptions in logic
culus, class-calculus and the theory of probabilities. Therefore, in propositional logic, 1 and 0 are interpreted as the Truth and the Falsehood of propositions X, Y, subtraction as the negation of one proposition, multiplication as conjunction, addition as exclusive disjunction and equality as the equivalence of two propositions. In the same way, starting from an extensional approach of classes x, y, … defined as “individual things linked by a common name”, Boole devised the first real class-calculus, according to which 1 was interpreted as the universe class, i. e., the class of all the classes of individuals considered, and 0 as the null class, i. e., the class which contains no element. Just as the invention of zero had enabled the building of arithmetical calculus, the invention of the null class and of the universe class was the condition for a genuine logical calculus. For the first time, the Aristotelian taboo of emptiness was being transgressed. From then on, subtraction was interpreted as forming the complement of a class, i. e., the class of non x’s (abbreviated to x¯ ) could be obtained by subtracting x from the universe class: 1 ⫺ x; the arithmetical product was considered to be the intersection of two classes: xy; the arithmetical sum of two classes was taken to be their union: x ⫹ y; and finally equality of two classes was regarded as identity of their members: x ⫽ y. The fundamental laws of logic could be expressed on this basis. Let us take the commutativity of intersection xy ⫽ yx as an example: the class of mammals which are quadrupeds is identical with the class of quadrupeds which are mammals. In the same way, it was easy to formulate the traditional logical “principles”, e. g., the principle of non-contradiction was written x(1 ⫺ x) ⫽ 0, which meant that the intersection of a class with its complement was empty. The four Aristotelian propositional forms were rendered by these equations (where n represents any class which is not empty): A: E: I: O:
All X are Y No X are Y Some X are Y Some X are not Y
x(1 ⫺ y) ⫽ 0 xy ⫽ 0 xy ⫽ n x(1 ⫺ y) ⫽ n
Accordingly, the evaluation of any syllogism came down to reducing the two equations that express the premises to one that expresses the conclusion (cf. Kneale and Kneale 1962, 415⫺420). Boole’s work was unquestionably a turning point in logical research, but his algebraic
calculus should not be thought to have really foreshadowed modern mathematical logic. In his algebra of logic, logic was still dependent on the structure of operations in algebra. This resulted in certain defects: (i) Boole did not think of interpreting his calculus in terms of relations, and it remained subject to the old predicative prejudice; (ii) class-calculus is not entirely isomorphic to dual algebra. It is obvious that it cannot be limited to the universe class and the null class only, the classes x, y, … having any number of elements whatsoever. The class n used to express propositions I and O showed that a third possibility between 1 and 0 had to be taken into account: the existence of a class that has at least one element. This made obvious the absence of a theory of quantification (cf. Venn 1881, 144); (iii) anxious to preserve the inverse nature of substraction in relation to addition, Boole was also led to introduce some ad hoc limitations in defining the union of two classes; e. g., he required these two classes to be mutually exclusive: i. e., x ⫹ y iff xy ⫽ 0 (2 poets and 3 singers make 5 persons only if none is both a poet and a singer). Stanley Jevons (1874, 70 f) later criticized this submission of logic to algebra and insisted on the necessity of an inclusive definition of disjunction. In the same way, he emphasized that the specificity of logical negation was lost the moment it was assimilated to arithmetical subtraction; (iv) last but not least, logical propositions were expressed by equations that needed to be solved algebraically. For instance, the statement “if X then Y” was expressed as: X(1 ⫺ Y) ⫽ 0. The specificity of logical deductive inference itself was missed. It should be observed that this algebraic approach was never abandoned and that, with the revival of mathematical research, one now has strong analytical tools (cf. Halmos 1963) at one’s disposal. 2.2. Diagrammatic representations and existential import John Venn (1843⫺1923; cf. Venn 1881, 100⫺125) suggested a method for the diagrammatic representation of syllogisms, improving on Euler’s method with the help of Boole’s calculus. Mentioning his famous method will enable us to specify some aspects of his work. The fact that the Boolean classcalculus can be represented graphically conclusively guarantees the extensional nature of this new logical approach. Venn took up the idea of representing classes by circles from
1488
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Leibniz via Euler, but he was the first to suggest the use of a framework to illustrate the possible distribution of the subdivisions of a determined combination of classes a priori. For example, in an argument with three attributes ⫺ such as a traditional syllogism ⫺ three classes are involved: x, y, z and so there are 23 ⫽ 8 possible combinations: xyz, xyz, xyz, xyz, xyz, xyz, xyz, xyz. In order that all these class subdivisions should be mutually exclusive and collectively exhaustive, Venn proposed a standardized framework in which two operations were allowed: (1) the shading of all empty subdivisions, (2) The starring of all subdivisions including at least one member. So “geometrical proof” could be obtained for any syllogism, e. g., FERIO: E:
No x are y
I:
Some z are x
O:
Some z are not y
(It should be noted that Venn did not enclose the diagram by a frame representing the universe class; xyz consequently remained implicit.) To extend this method of evaluation to arguments dealing with four classes, Venn suggested more complex constructions having recourse to ellipses. But when five classes were involved, 25 ⫽ 32 subdivisions were to be handled and Venn acknowledged that such a representation soon reached its limits. On this point, the representation by means of square diagrams chosen by Lewis Carroll (⫽ Charles L. Dodgson, 1832⫺1898) was more judicious, as it proved simpler and more practical when a relatively high number of classes were involved, and integrated the representation of the universe class (Carroll 1896 ⫽ 1958, 175; Marret 1990): Venn’s Diagram
Carroll’s matrix
There remained a major difference, however. If Carroll still relied on the traditional interpretation of syllogisms, Venn, following
Boole on that point, denied any existential import to universal propositions. Devoting a whole chapter to the subject, he made the new conception explicit for the first time. Common sense always postulates the existence of the object of discourse: “People do not in general talk about what they believe to be nonentities” (1881, 130) ⫺ a postulate confirmed by the Aristotelian tradition (cf. § 1.1.4.). Modern logic with Boole (and even Locke 1690 ⫽ 1972, 217) no longer relied on such a postulate, since universal propositions were expressed by x(1 ⫺ y) ⫽ 0 and thus did not require the existence of at least one x. So, in conformity with modern usage according to which ⬃ ∃x (Fx · ⬃ Gx) ⬅ (x) (Fx J Gx), Venn chose the following interpretation: “When therefore we meet with the proposition ‘all x is y’, I shall understand it to be interpreted as follows: (1) negatively and absolutely, ‘There are no such things as xy’ or (2) positively but conditionally, ‘If there are such things as x, then all the x’s are y’ ” (Venn 1881, 144; cf. May 1995). Thus the diagrammatic representation of a universal proposition did not include any asterisk and merely resorted to the system of exclusion represented by shaded subdivisions:
All x are y
This interpretation freed logical discourse from too constraining a bond with reality and allowed purely hypothetical arguments, reductio ad absurdum, or counterfactual premises. Following such a view, the Aristotelian syllogisms, the conclusions of which were based on subalternation, only remained valid if the tacit proviso according to which the individuals in question existed was added to them; e. g., the DARAPTI syllogism became: “All G are H, all F are G ⫹ the F exist, therefore some F are H”. This was the beginning of a logical analysis of the traditional copula. Its relational function was no longer connected with its possible existential value. 2.3. The algebra of relatives Published the same year as Boole’s work (1847), the Formal Logic of Augustus De Morgan (1806⫺1871) developed a class calculus which was written in the same spirit,
76. Sign conceptions in logic
but took more effectively into account the specificity of logic. For instance, De Morgan directly introduced the negation of concepts. Any concept has a logical negation, in relation, not to the set of possible individuals, but to the only individuals under discussion, which compose the universe of discourse. So “no quadruped” qualifies the set of individuals that are not quadrupeds, but not in the absolute ⫺ which would include trees, rakes, etc. ⫺, rather it is only in relation to the universe of animals. Just as Jevons (cf. § 2.1.), De Morgan used not exclusive but inclusive disjunction to take the union of two classes into account. Which, with the help of negation, enabled him to establish the principle of duality for conjunction and disjunction: X ⫹ Y ⬅ X ⫻ Y and X ⫻ Y ⬅ X ⫹ Y . Applied to the propositional calculus, these formulas are known as “De Morgan’s laws”. But De Morgan’s major contribution (1864) lies in his providing of the foundations of a true relational calculus. Putting an end to the antiquated predicative presupposition, he claimed relational inferences to be authentically logical. Fundamentally different from predicates, relatives relate something to something else. If X, Y, … symbolize the individuals and L, M, … the relatives, “X is a lover of Y” is formally expressed as follows: X L Y. Each relative which relates X and Y has a converse which stands between Y and X. So, the converse of the former relative is “Y is loved by X” and is written: Y L⫺1 X. The mere fact that X L Y ⫽ Y L⫺1 X is enough to explain the “asyllogistical” reasoning: “David est pater Salomonis, ergo Salomon est filius Davidis” (cf. § 1.1.4.). In addition to a converse, each relation has a contrary, expressed with a small letter. The contrary of the former examples is “X hates Y”: X l Y. And it can be established that the converse of the contrary is identical to the contrary of the converse. Moreover, each relative has formal properties. A relative is convertible (i. e., symmetrical) when it is the same as its own converse. Such is the case, for instance, for identity: X ⫽ Y iff Y ⫽ X. A relative is transitive iff the relation which stands between X and Y and Y and Z also stands between X and Z: (X ⫽ Y) · (Y ⫽ Z) ⬅ (X ⫽ Z). The foundations of syllogistic can thus be identified. Its reasonings put the properties of convertibility and transitivity of the copula “is” to use. But if it thus accounted for the classical predicative calculus, the algebra of relatives such as De Morgan
1489 sketched it essentially allowed for a real relational calculus based on the composition of relatives by means of specific operations. Let us just consider relative multiplication: If X L Y and Y M Z then X L M Z. This accounts for the simple inference: “X is a lover of Y and Y is the master of Z, therefore X is a lover of the master of Z”. Though simple, this argument, like all other relational statements, had escaped the province of traditional syllogistic. As De Morgan himself lucidly said, “Here the general notion of relation emerges, and for the first time in the history of knowledge the notions of relation and relation of relation are symbolized”. Taken up by the German logician Ernst Schröder (1841⫺1902; cf. Schröder 1895) but mainly developed further by Frege and then Russell (cf. §§ 3.1.1. and 3.2.3.), the calculus of relations was to become the most innovating and fruitful element of modern logic as a whole. 2.4. The logical foundations of semiotics If Leibniz, in the beginnings of modern logic, had effected a semiotic turn by assigning a proper cognitive function to the combination of characters, the foundations of modern semiotics were laid by Charles Sanders Peirce (1839⫺1914). And he did so as a logician. Just like Locke, he considered formal logic not as pure technicality but as a theory of signs: “Logic, in its general sense, is only another name for semiotic (shmeivtikh¬), the quasi-necessary, or formal, doctrine of signs” (1931⫺35 ⫽ 1960, 2.227). That is why his logical research began with a meticulous analysis of the different types of signs. Without going into further detail here (but cf. Art. 100), let us simply recall the most fundamental trichotomy: (i) An index “refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object”. This implies an “existential relation” between the sign and the object (1931⫺35 ⫽ 1960, 2.248, 2.283). (ii) An icon “refers to the Object that it denotes merely by virtue of characters of its own”. It represents “its Object mainly by its similarity” (2.248, 2.276). (iii) A symbol “refers to the Object that it denotes by virtue of a law, usually an association of general ideas”. It is “a conventional sign, or one depending upon habit (acquired or inborn)” (2.248, 2.297). In this perspective, “Logic proper is the formal science of the conditions of the truth of representations” (2.229). Rediscovering the Leibnizian intuition of “blind thinking”,
1490 Peirce emphasized the iconic character of algebra and imputed the fruitfulness of the latter to it: “This capacity of revealing unexpected truth is precisely that wherein the utility of algebraical formulae consists, so that the iconic character is the prevailing one” (2.279). Consequently, the task of logic was to formalize the iconic character implicitly involved in all propositions: “That icons of the algebraic kind, though usually very simple ones, exist in all ordinary grammatical propositions is one of the philosophic truths that the Boolean logic brings to light” (2.280). Thus, Peirce, drawing his inspiration from Boole, developed a “general algebra of logic”. But anxious to stress the specificity of logic, he adopted the inclusive interpretation of disjunction like De Morgan, and above all, he was the first to establish that the arithmetical relation of equality was derived from a more fundamental and genuine relation which he called “relation of illatio”. Represented by Ɱ, it could be interpreted in terms of implication (“if … then”) or inference (“therefore”) in propositional calculus, as well as in terms of inclusion in class-calculus in which it enabled one to define logically and quite simply the identity of two classes: (x Ɱ y) · (y Ɱ x) ⬅ (x ⫽ y). Thus rediscovering the Philonian relation of implication, Peirce indeed defined logic as the science of deductive inferences. Technically, the logical innovations introduced by Peirce were decisive: (i) Ignorant of Frege’s work at the time, (cf. § 3.1.1.), he turned propositional calculus into an axiomatic system based on his genuine connective “illatio”, a system from which the law now known as “Peirce’s law”: ((p Ɱ q) Ɱ p) Ɱ p can be derived. In 1880, showing by means of other systems that all truth-functions could be defined in terms of “Neithernor”, he anticipated the work of H. M. Sheffer (cf. § 4.1.). (ii) In the same way, his analysis of all predicative propositions in terms of indexical elements (subjects) and iconic ones (predicates) which he called “rhemes” anticipated the Fregean analysis of propositions in terms of “Begriff” (cf. § 3.1.1.). But his originality lay mainly in the discovery of quantification. Noting the individuals falling under the predicates, by subscripts: i, j, …, Peirce introduced quantifiers as selective indices or “selective pronouns because they inform the hearer how he is to pick out one of the objects intended” (2.289). The universal quanti-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
fier was defined as the product of all the propositions obtained by assigning to the predicate all individuals considered successively, which in his own symbolism was written: P ixi ⫽ x1 · x2 · x3 · , … etc. In the same way, the existential quantifier was defined by means of logical sum and written: S ixi ⫽ x1 ⫹ x2 ⫹ x3 ⫹ , … etc. (iii) Peirce mainly developed the logic of relatives. According to him, relatives, like predicates, were iconic. Dyadic relations worked as mental diagrams: “The Dyad is a mental Diagram consisting of two images of two objects, one existentially connected with one member of the pair, the other with the other; the one having attached to it, as representing it, a Symbol whose meaning is ‘First’, and the other a Symbol whose meaning is ‘Second’ ” (2.316). So, “i is a lover of j” was written “lij”; the operations of conversion, logical sum and product of relations were introduced and above all quantification was extended to relations. For instance, Pi Sj lij expressed “everything loves something” and was defined as follows: (l11 ⫹ l12 ⫹ l13 ⫹ etc.) · (l21 ⫹ l22 ⫹ l23 ⫹ etc.) · etc. And SjPilij expressed “something is loved by all things” and was defined in this way: (l11 · l21 · l31 · etc.) ⫹ (l12 · l22 · l32 · etc.) ⫹ (l13 · l23 · l33 · etc.) ⫹ etc. (3.498, 3.502). Thus marking the final break with the predicative tradition, Peirce devised a relational typology of all logical constructions according to which propositions were medadic relations (from mhde¬n ⫽ nothing), predicates were monadic relations, then came the dyadic, triadic, …, polyadic relations or rhemes with 0, 1, 2, 3, etc. blanks (2.272). It is noteworthy that Peirce singled out triadic relations. They were irreducible to dyadic relations and allowed the definition of all other polyadic relations by means of combinations. Moreover ⫺ and most importantly ⫺ these triadic relations were “representative relations” as they allowed one to define meaning. Indeed, contrary to tradition, which defined meaning either as a monadic predicate or as a dyadic relation between, say, a sign and its object of reference, Peirce defined it on the basis of a complex process of semiosis logically analysable with a triadic relation. Hence the canonical definition: “A sign, or representamen, is something which stands to somebody, for something in some respect or capacity. It addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign
1491
76. Sign conceptions in logic
which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object” (2.228). Such a triadic relation is fundamental: “A sign, or Representamen, is a First which stands in such a genuine triadic relation to a Second, called its Object, as to be capable of determining a Third, called its interpretant, to assume the same triadic relation to its Object in which it stands itself to the same Object. The triadic relation is genuine, that is its three members are bound together by it in a way that does not consist in any complexus of dyadic relations” (2.274). It is highly relevant, according to our purpose, to make clear that the first use of a complex relational analysis which was not properly logical, in a purely technical sense, served precisely to define the process of semiosis, and consequently to outline the features of semiotics proper. The characteristica universalis (cf. § 1.1.1.), which was most precious to Leibniz, had at last become the object of a new scientific discipline. Unquestionably, the new discipline had a logical basis. As will be seen in our survey of logical developments in the 20th century, it then became more established and autonomous while continuing to borrow concepts and tools from logical analysis. (iv) Last but not least, Peirce was constantly working on the development of diagrams to express the iconic character of logic. He was the first to use truth-tables to define connectives and evaluate propositions. He also proposed a diagrammatic representation of logical calculi which he called “existential graphs (EG)”. The “alpha part” of EG dealt with relationships between propositions. A proposition which is written in a sheet of assertion (a universe of discourse ⫺ concretely as wide as a blackboard or as a sheet of paper) is asserted. Its negation is represented by enclosing the proposition within a circle or a square. For instance the graph: It rains means: “It does not rain”. To assert a conjunction, you have only to juxtapose the two propositions in the following way: It rains The road is wet Negation and conjunction allow the expression of conditional propositions, the graph of which is:
It rains The road is wet
It can be read: “You cannot have both the propositions ‘it rains’ and ‘the road is not wet’ ” and it is equivalent to the conditional: “If it rains, then the road is wet”. Rules of propositional inferences are obtained by inserting and erasing graphs, e. g., to the law of double negation corresponds the rule which allows the insertion or removal of double enclosures (and more generally any even enclosure) at will.
It rains
is equivalent to It rains
The “beta part” of EG deals with functional calculus. The inscription of a heavy line in the sheet of assertion denotes the existence of an individual object. Associating a monadic rheme to it, we obtain an existential proposition: ⫺ is a man which is to be read: “There is some existing thing which is a man”. We can use “lines of identity” to represent at least two properties for the same individual. Thus: is a man is mortal
is a graph for “There is an individual who is a man and mortal”. This corresponds to the classical form in I (cf. § 1.2.1.). The other categorical forms can easily be obtained by using the negation: is a man
is a man
is a man
is mortal
is mortal
is mortal
A
E
O
It will be noted that the form in A is a conditional. It corresponds to: “If x is a man, then x is mortal” which requires no existential import at all. Once more, the rules for the trans-
1492
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
formation of lines of identity allow the expression of the main inferences of predicative and relational calculi. A “gamma part” of EG endeavored for the first time to give some graphical account of second order functional calculus and even modal inferences. It contained many original and fruitful ideas (notably the use of separate sheets to represent different possible worlds, which anticipated modern semantic procedures) but it rapidly became too complex to be useful (for details on EG cf. Roberts 1973).
3.
Semiotic aspects of formal logic
3.1. The rise of modern logic In 1879, Gottlob Frege (1848⫺1925) published an 88 page treatise entitled Begriffsschrift which was at the origin of the rise of modern logic. As he emphasized himself (1879 ⫽ 1967, 6⫺7), the Leibnizian ideal of a characteristica universalis was actually realized in the opuscule. Frege’s work followed three lines in its development: 1. the construction of the first formalized and axiomatized propositional and functional calculi, 2. the logicist attempt to reduce arithmetic to logic, 3. the sketching of logical semantics (cf. Art. 102). Considering our semiotic line of interest, we will focus principally on the latter point. 3.1.1. Mathematical logic The first logical calculus involved propositions. A proposition (“Behauptungssatz”) was a declarative utterance with a truth-value (“Wahrheitswert”): Truth or Falsehood. Right from the start, Frege established a distinction concerning propositions which appears to be relevant from our semiotic point of view. Considering a proposition represented by the letter A, this proposition has a content (“Inhalt”); its content is a thought (“Gedanke”), symbolized by a small horizontal stroke: ⫺A. Corresponding to the scholastic dictum, this content was not the proper object of logic. The latter was constituted of judgments (“Urteile”) concerning the truth of propositions. If “The death of Socrates” expresses a propositional content, only “Socrates is dead” constitutes a logical judgment, symbolized by: A, where the small vertical stroke at the beginning of the horizontal one represents an assertion, a commitment concerning truth. As the assert-
ive dimension proved to be fundamental, the falsehood of a thought was expressed by the assertion of its negation (Frege 1879 ⫽ 1967, 11). Symbolically, the negation of a proposition A was represented by a short vertical stroke below the horizontal content stroke, A, and the assertion of this negation was expressed by: A. Negation was the first primitive connective of the propositional calculus. Frege adjoined a conditional connective to it. Drawing his inspiration from Philo the Megarian, he expressed conditional propositions by means of a two-dimensional symbolism and introduced all the other operators by definition. For instance, conjunction was defined as the negation of a conditional proposition the consequent of which is negated. It follows that: “If B, then A”:
A “A and B”: B
A B
Exposed axiomatically right from the beginning, Frege’s propositional calculus included six axioms and two rules of inference: modus ponens (cf. § 4.1.1.) and an unstated rule of substitution. A second, functional calculus proceeded from the first one. Its object was no longer to examine the interpropositional relations only, but to achieve a logical analysis of propositions and to study intrapropositional relations. Frege devised the modern scheme of propositional analysis by generalizing the mathematical concept of “function”. It is known that a function of the y ⫽ f(x) kind admits different numerical values when x is replaced by different numerical arguments. Again, the question was the constitution of a scientia generalis de qualitate freed from any reference to numerical quantities, which Frege obtained by defining as “Begriff” (“concept”) any function having truth-values when the arguments are objects (cf. Frege 1891 ⫽ 1967). For instance, the proposition “Caesar conquered Gaul” can be analysed in terms of concept (“… conquered Gaul”) and argument (“Caesar”). For the argument “Caesar”, the proposition is true; it would be false for “Socrates”, “Plato”, “Droopy”, etc. So, a concept is an unsaturated and incomplete expression which needs to be supplemented by an object to produce a singular proposition susceptible to truth or falsehood. Being absolutely general, this concept of
76. Sign conceptions in logic
“concept” (“Begriff”) allowed one to give an account of “predicative” constructions as functions of one argument symbolized as Q(A), and also of relational constructions in terms of relational functions (“Beziehungsbegriffe”) of two arguments as C(A, B), of three arguments as F(A, B, C), and so on. The functional calculus thus integrated and modernized the former logic of terms, and formalized the modern class and relative calculi. Its specific operators, the quantifiers, allowed the construction of general propositions. Frege admitted as primitive the universal quantifier; “All the a are Q” was a symbolized by: ⫺ |[ ⫺ Q(a). The existential quantifier was defined by means of a negative clause. “There is at least an a such that Q(a)” was then expressed through: “It is false that all the a are not Q”, which was a noted ⫺ | ı⫺[ ⫺ı⫺ Q(a). Starting from this logical defition, Frege developed an analysis of the question of existence, which led it to be considered not as a predicate of objects but as a property of concepts: “Der Satz ‘es gibt Julius Cäsar’ ist weder wahr noch falsch, sondern sinnlos […]” (“The sentence ‘Julius Caesar exists’ is neither true nor false, but meaningless […]”; Frege 1892 a ⫽ 1952, 174). The assertion of existence was simply the guarantee that a function was satisfied for at least one argument. It ensued that the ontological proof of the existence of God was logically irrelevant (cf. Frege 1884, § 53 and Vernant 1986, 94⫺96). Like the propositional calculus, the functional calculus was exposed in axiomatic form with three specific axioms governing identity and the use of quantification. So modern logic clearly appeared as a deductive system which allowed the deduction of theorems, without any gaps (“lückenlos”) and any call to intuition (even if pure), from primitive operators (connectives and quantifiers), axioms and rules of inference. This afforded a new definition of analyticity radically breaking with the traditional definition still conveyed in Kant’s work (cf. Frege 1884, 4). 3.1.2. A logical definition of mathematics A real mathesis universalis, the Begriffsschrift resulted, as we have seen, from a generalization of the mathematical concept of function. But for all that, the functional calculus no longer had the form of an “algebra of logic”. Logical symbolism was no longer an imitation of algebraical symbolism. Logic had finally become autonomous. This was testified
1493 by the fact that, conscious of the force and fruitfulness of his new calculus from the very start, Frege reversed the initial relationship between logic and mathematics by suggesting the reduction of arithmetic to the new logic. The logicist design, already present in the third part of the Begriffsschrift and developed in an informal way in the Grundlagen (1884) was formally carried out in the two volumes of the Grundgesetze der Arithmetik (1893⫺1902). Frege’s ambition was to define all arithmetical concepts logically and to give logical proof for all arithmetical axioms and theorems. Let us simply characterize the first steps of this ambitious program and start by defining the Cantorian concept of “set” (“Menge”), on which modern mathematics is based. This concept can easily be reduced to the extension (“Umfang”) of the concept Q(j) noted “eœQ(e)” and is composed of all the arguments for which the concept Q is true (cf. Frege 1891 ⫽ 1967). In this way the functional calculus allowed one to account for set-theoretical concepts. Moreover, Frege enlarged it by the addition of a fundamental distinction. While the scholastic tradition had dealt with the propositions “All men are mortal” and “Socrates is mortal” in the same way, Frege made the distinction between the fact of an argument falling under a concept (subsumption) and the fact of a concept being subordinated to a higher level concept (cf. Frege 1892 a). Giuseppe Peano (1858⫺ 1932) gave that distinction a mathematical expression in terms of membership of an element in a class (for which Peano introduced the symbolism: x e a) and of inclusion of a class in another one (cf. Peano 1898, 28). This logical apparatus enabled Frege to define logically the arithmetical objects. With the relation of like-numberedness (“Gleichzahligkeit”), logically characterized as a oneto-one correlation between two extensions, he defined the concept of cardinal numbers. Two concepts F and G, the extensions of which are in one-to-one correspondence, have the same number. The number which belongs to the concept F is the extension of the concept: “like-numbered with the concept F” (Frege 1884, § 68). Rather than continuing with the logical reconstruction of arithmetic, let us focus on two major points. First, the logicist program proved the relevance of the new logical analysis and the fruitfulness of its symbolism, which together made possible the expression
1494 ⫺ if not the reduction ⫺ of mathematical theory. Second, its ambition was to provide mathematics with logical foundations. It claimed to succeed by adopting an absolutist conception of logic: mathematics was based on a logic which did not need to be founded in its turn because, as the science of “Wahrsein”, its axioms were self-evident principles and all its objects: Truth, Falsehood, thoughts, extensions, etc. were provided with indisputable objectivity as ultimate entities (Frege 1918 ⫽ 1966). Such an absolutist claim did not stand up to later progress (cf. §§ 4.1. and 4.2.), but it did allow a final break with the psychologism of the end of the 19th century (cf. § 1.2.2.; see Art. 78 §§ 5.1. and 5.2.). 3.1.3. The beginnings of logical semantics In accordance with Leibniz’s wish, Frege’s ideography was developed into a completely artificial and symbolic “ideal” language avoiding all the imprecisions and ambiguities of ordinary discourse. But for all that, Frege firmly denied the formalist conception of logic. For him, logical calculus was not reducible to a mere ordered game with empty inscriptions. As the science of truth it had to be meaningful and applicable. That is why Frege inaugurated, notably in his articles, a reflection of a semantic nature, upon which our formal and informal analysis of meaning still relies today (cf. Art. 3). His reflection opened with the famous distinction between “Sinn” (“sense”) and “Bedeutung” (“reference”) (Frege 1892 b ⫽ 1967). Originally the question, a purely logical one, was how to explain identity. The task was to characterize the difference between an identity of the a ⫽ b type and an identity of the a ⫽ a type, the former being the only informative one. Considering, for example, the astronomical discovery according to which “The morning star is identical with the evening star”, it is clear that the statement according to which the two expressions both refer to one and the same object ⫺ the planet Venus ⫺ is not enough to explain the cognitive value of this proposition. The shared reference (“Bedeutung”) to the same object is the basis of identity, but its informative value requires a difference which can only be explained if the sense (“Sinn”) of each expression is taken into account. The senses of the phrases “The morning star” and “The evening star” differ although they both designate one and the same planet. Sense then is a par-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
ticular way of referring to an object (“die Art des Gegebenseins des Bezeichneten”; Frege 1892 b ⫽ 1967, 144). Thus, unicity of reference is the basis of identity and the difference of sense between the two expressions explains their different informative value. “The morning star”
“The evening star”
Sinn 1
Sinn 2
Bedeutung (VENUS)
The result of this famous analysis was a dual definition of meaning: a sign expresses its sense and designates its reference. This canonical distinction was applied by Frege to all the different types of signs: (i) First, ⫺ against Stuart Mill (cf. § 1.2.2.) ⫺ it held for proper names (“Eigennamen”), i. e., ordinary proper names such as “Aristotle”, but also complex expressions (“Wortverbindungen”) such as “The teacher of Alexander”, the specificity of which was to refer to a single, independent and complete object (“ein selbständiger Gegenstand”). (ii) It was also valid for conceptual terms (“Begriffsworte”) such as “planet” which have a conceptual sense and refer to (predicative or relational) concepts constituting unsaturated (“ungesättigt”) incomplete (“unvollständig”) entities. (iii) In the same way, it was to govern the analysis of propositional meaning. Frege supported a principle of compositionality according to which the sense and reference of a proposition were functions of the senses and references of its elements, respectively. Thus, the sense of a proposition was a thought (“Gedanke”) and its reference its truth-value, i. e., Truth or Falsehood. So “The morning star is a planet” and “The evening star is a planet” were considered to be two different propositions with different senses but with the same reference: Truth. It will be noted that, contrary to subjective representations (“Vorstellungen”), thoughts were taken to be objective and to constitute logical objects. There is only one Pythagoras’ theorem, even if everyone can form his own representation of it (cf. Frege 1918 ⫽ 1966). By laying the stress on reference, this theory of meaning entirely met the requirements of the new ideography. As a logically perfect language, it only contained signs of a single
76. Sign conceptions in logic
sense each, to which a single reference corresponded. The result was that each proposition had both a single sense and a single reference, and that it really constituted a judgment, the ultimate aim of which was to be given a truth-value. One may wonder if such an analysis is valid for the ordinary use of language. The answer to this question, as outlined in what follows, is largely to Frege’s credit. Ordinary language is inescapably ambiguous: a single expression can have several senses. And, what is worse, an expression can have a sense without having a reference. This is quite systematically the case for mythological and fictional discourses. The proper names “Ulysses” or “Hamlet” have no reference, and yet they have a sense, and this sense aims at a reference. Frege solved this difficulty by specifying the difference between aiming at a reference and being given a reference, i. e., between the presupposition of reference and its effective position. In a poetic use of language, the presupposition of reference is enough to guarantee the sense of a given expression. In this case, signs have the value of images (“Bilder”). From then on, a sentence including such signs definitely has a sense, i. e., a thought, but it is devoid of reference. Consequently, it is neither true nor false and it fails to constitute a judgment. (This analysis was taken up by Strawson 1950 ⫽ 1971.) To this first distinction between poetic discourse, which eludes logic, and scientific discourse, which is its object, Frege added a second one between extensional and intensional contexts. In order that logic may develop into a calculus, it has to bear upon determined objects. The propositional calculus is a calculus precisely because it bears exclusively upon the truth-values of propositions, setting aside their particular conceptual content. This extensionality of the calculus is sanctioned by the fundamental rules of substitution of equivalents originating from Leibniz: Two equivalent propositions, i. e., propositions with the same truth-value, can be substituted salva veritate in any logical context. It is clear that this requisite of extensionality is hardly satisfied in the ordinary use of language. Frege emphasized this fact, and went through the different intensional contexts. Such was the case first for oratio recta. If Galileo really said “Eppuˆr si muove”, he did not use other words, not even any equivalent proposition (i. e., a true one). Frege explained this first “exception” by the
1495 fact that in direct quotation, a sign no longer has its usual reference, but refers to the sign itself: “Wir haben dann Zeichen von Zeichen” (Frege 1892 b ⫽ 1967, 145). One may understand why nothing other than itself can replace it. The case is similar for the oratio obliqua. In the statement: “Galileo said that the Earth moved”, the proposition “The earth moved” cannot be replaced by just any other true proposition, yet it can obviously be replaced by a synonymous proposition, i. e., a proposition which expresses the same sense, the same thought. According to Frege, this can be explained by the fact that, in indirect style, the reference of the proposition is not its truth-value, but its indirect reference, which is constituted by its usual sense. To these two intensional contexts, Frege added many others; they are generated by the use of verbs denoting “propositional attitudes”, as Russell later said, i. e., verbs involving an attitude of the subject towards what he says, such as: to believe, to know, to imagine, to think, etc. Considering the verb expressing beliefs for example, in the sentence: “Copernicus believed that the planetary orbits were circular”, we cannot substitute any other false proposition such as, e. g., “2 ⫹ 2 ⫽ 5” for the clause “The planetary orbits were circular”, but, here again, only a sentence expressing the same thought can be substituted in its place. So the belief no longer bears on the truth-value but on the conceptual content of the proposition (cf. Frege 1892 b ⫽ 1967, 153⫺158). In this way, Frege drew the narrow limits within which extensional logic could exercise its jurisdiction. The object of ulterior logical research has in fact been to make extensional calculus more sophisticated, in order to allow the various intensional contexts to be integrated to it (cf. § 4.3.). Moreover, Frege was the first to outline an analysis of the force (“Kraft”) of a statement. It was shown above (cf. § 3.1.1.) that he explicitly defined a judgment through its assertive value. But again he took great care to underline that other utterances in ordinary language have other forces irrelevant to logical analysis. Such is the case for example for interrogative utterances expressing inquiries or for utterances expressing orders and aiming at the realization of an action, etc. (Frege 1918 ⫽ 1966; cf. Art. 3 § 5.4.). 3.2. The logic of Principia Mathematica If Frege worked out his scheme of logical analysis by further developing the extension of the mathematical concept of “function”,
1496
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Bertrand Russell (1872⫺1970) achieved the same result by taking grammar as his guide: “On the whole, grammar seems to me to bring us much nearer to a correct logic than the current opinions of philosophers” (Russell 1903 ⫽ 1937, 42). Although his results cannot be studied in detail here (cf. Vernant 1993), the originality and the semiotic interest of Russell’s work will be emphasized. 3.2.1. The new paradigm Russell and Alfred North Whitehead (1861⫺1947) formalized and axiomatized propositional and functional calculi in the Principia Mathematica just as Frege had done in the Begriffsschrift. But their logic quickly became the new paradigm of rationality. Of course it was more complete and developed than Frege’s, but the prime reason for that lay in the symbolism they used. Drawing their inspiration from Guiseppe Peano’s “Logica matematica” (1894), the aim of which was to express mathematical arguments in a simple and flexible formal language, Russell and Whitehead developed a one-dimensional symbolism superior to Frege’s twodimensional notation. To be convinced of this, one need only take the example of the law of contraposition proposed in the Begriffsschrift: “If from the circumstance that M is alive his breathing can be inferred, then from the circumstances that he does not breathe his death can be inferred” (Frege 1879 ⫽ 1963, 44). If a/p ⫽ “The man M breathes” and b/q ⫽ “The man M is alive”, we have: Peano-Russell
Frege
U
: q p. . ~p U
a
U
b ~q
a b
The Russellian notation proved to be clearer and more concise. Its principle of linear symbolism has now generally been adopted, apart from the Peanian use of dots which is often abandoned in favor of ordinary parentheses, square and curly brackets (it will be noted that conjunction was also symbolized by a dot in the Principia). By delimiting the scope of connectives or quantifiers, these kinds of parentheses avoid syntac-
tic ambiguities. For instance, p 傻 q 傻 r can be read in two different ways, which parentheses allow us to distinguish: either (p 傻 q) 傻 r or p 傻 (q 傻 r). In the same way, the designations of the logical operators and formulas were on the whole taken up from the Principia. From then on, functional calculus admitted the ideas of propositional function and of variable as primitives. The symbol Q(x) represents a propositional function in which x is a variable of an individual. Such a function is neither true nor false in itself, but when we substitute a constant of an individual such as a for its variable, we get a singular proposition Q(a) ⫺ e. g., “Aristotle is a philosopher” ⫺ with a truthvalue. By means of universal quantification we obtain the universal proposition: (x).Qx which means that whatever x may be, x is a Q. By putting this universal proposition in the negative form, we get an existential proposition expressed by ⬃(x).⬃Qx and shortened as (∃x).Qx; it reads: “There is at least one x such that Qx.” These concepts are enough to account for all the logical laws and modes of inference treated in traditional syllogistic. As an example, considering a DARAPTI syllogism: A: All the G are H A: All the G are F I:
Some F are H
(x) . Gx 傻 Hx (x) . Gx 傻 Fx (∃x) : Fx · Hx
It can be noted that the argument is now completely formalized, thanks to the recourse to quantification enabling the expression of: “All the …”, “Some …”, “No …”. It becomes a valid argument if one adds the premise that there are F ’s (cf. § 2.2.). As in Boole’s and Venn’s works, universal propositions, symbolized by a “formal implication”, became hypothetical and purely conditional. (x).Gx 傻 Hx holds that, whatever x may be, if x is G then x is also H. “The statement ‘If x is Greek, x is mortal’ is just as true when x is not Greek as when x is Greek. Indeed, it is true if there are no Greeks at all” (Russell 1959, 52). While integrating the experience of traditional logic, the calculus developed in the Principia Mathematica turned out to be incomparably more fruitful and more powerful. 3.2.2. The theory of definite descriptions The power of a given notational system can be felt in what constitutes one of Russell’s major contributions: his theory of definite
1497
76. Sign conceptions in logic
is the property of a concept (cf. § 3.1.1.), the existence in question is expressed in the form of an existential quantification requiring that at least one individual should fall under the concept in question. For example, the definite description: “The author of Waverley” can be logically analysed into three elements: (1) There is at least (2) There is at most
¸ ˝ ˛
an individual that satisfies (3) “x wrote Waverley”
(1) is the assumption of existence, (2) the assumption of uniqueness and (3) the descriptive qualification. The Principia introduced the following formalization: the description was represented by ( x) (Qx), where Q symbolized the descriptive qualification. Its logical analysis singled out the two following assumptions: (∃b) : Qx . ⬅x . x ⫽ b (in which the authors used the Peanian abbreviation, consisting in indexing the quantifiers: *10.03 Qx ⬅x fx . ⫽ . (x) . Qx ⬅ fx Df, and where, contrary to current usage, b is a variable). Then it became clear that the apparent grammatical unity of the descriptive phrase had vanished and that only its disiecta membra, constituted by the quantification of a function, remained. The definite description now only consisted of a predicative function. The result was that the descriptions no longer had any meaning per se, in isolation: “a denoting phrase is essentially part of a sentence, and does not, like most single words, have any signification on its own account” (Russell 1905 ⫽ 1956, 51). A definite description was an incomplete symbol “only defined in certain contexts” (Russell 1910 ⫽ 1962, 66). From then on, the question was no longer that of the meaning of the definite descriptions, but that of the truth-value of the propositions including them. And this solved all the puzzles of denotation. For example, considering the judgment: “The present King of France is bald”, it was no longer necessary to assume the subsistence of an individual such as “The present King of France” to assign a meaning to the judgment. The latter was simply reduced to: “there is one and only one x which is a present King of France and is bald”. If Qx symbolizes the descriptive qualification and fx the contextual qualification “… is bald”, then the canonical definition (cf. Russell 1910 ⫽ 1962, 175) ensued: *14.01 f ( x) (Qx) . ⫽ : (∃b) : Qx . ⬅x . x ⫽ b : f x Df. Since no individual with the property of being the preı
ı
descriptions. From a purely technical point of view, this theory might be interpreted as an extension of functional calculus by the introduction of an operator of singularity: ( x) (Qx), meaning: “the one and only one x such that Qx”. But this would imply neglecting the grammatical origins as well as the semiotic and ontological consequences of such an approach. To understand what is at stake, let us quickly recall the theory of meaning initially proposed by Russell in 1903. At that time, he advocated a strictly referential conception according to which proper names meant terms, and general names, concepts. Denoting phrases such as “The revolution of the Earth round the Sun” denoted, i. e., referred mediately to a term through the intervention of a concept (cf. Russell 1903 ⫽ 1937, 42⫺65). The likening of denoting phrases to proper names imposed some ontological commitment on the denoted objects. All the ficta such as “The present King of France” and all the impossibilia such as “The round square” had to be acknowledged to subsist. Echoing the old realistic conception (“Unum nomen, unum nominatum”), this theory of denotation in 1903 amounted to ascribing the value of a real logical subject to any phrase able to play the part of a grammatical subject in a given statement. In contrast, the solution proposed in 1905 in the famous article On Denoting consisted in using the new tools ⫺ the new theory of quantification in the first place ⫺ to carry out a truly logical and no longer grammatical analysis of definite descriptions. That the grammatical guide had to be discredited was clear from the start. Describing a definite description merely as an expression of the type “The so-and-so”, composed of a singular definite article and at least one qualifier, can in no way be said to be sufficient. In the sentence “The whale is a mammal”, the phrase “The whale” is not in the least a definite description, for the proposition must logically be expressed by (x). Bx 傻 Mx and the grammatically singular definite article has a generic value. In fact, a definite description logically implies an assumption of uniqueness: “Now the, when it is strictly used, involves uniqueness; we do, it is true, speak of ‘the son of So-and-So’ even when So-and-So has several sons, but it would be more correct to say ‘a son of So-and-So’ ” (Russell 1905 ⫽ 1956, 44). It also implies an assumption of existence. Since logical existence ⫺ unlike a statement of reality ⫺ ı
1498 sent King of France could actually be found, the judgment turned out to be simply false. The ontological advantage of this analysis is obvious. Such a definition of definite descriptions provided a new technical instrument amounting to an application of Occam’s razor and exempting from the necessity of assuming the subsistence of all the objects apparently denoted: “The whole realm of nonentities, such as “the round square”, “the even prime other than 2”, “Apollo”, “Hamlet”, etc. can now be satisfactorily dealt with. All these are denoting phrases which do not denote anything” (Russell 1905 ⫽ 1956, 54). As the above enumeration testifies, the symbolical discrediting of denoting phrases extended to grammatical proper names, which were considered as “truncated or telescoped descriptions”: “A proposition about Apollo means what we get by substituting what the classical dictionary tells us is meant by Apollo, say ‘The sun-god’ ” (1905 ⫽ 1956, 54). Having reached the end of the process of reduction of incomplete symbols, Russell retained one logically proper name only: “This”, directly signifying a part of spacetime with which we are acquainted. Even the personal pronoun “I” was itself discredited and the subject reduced to a construction based on successive experiences (Russell 1918 ⫽ 1956, 276 f). 3.2.3. The logic of relations The second great novelty introduced by the authors of Principia Mathematica consisted in bringing the relational calculus to its highest level of development. With this calculus, the means ⫺ unknown to the syllogistic tradition ⫺ of accounting for the most sophisticated arguments used in science (mathematics and physics …) as well as in ordinary life had finally become available. In the Principia, a relation was defined as a function of two variables ⫺ symbolized as R(x, y) (or xRy which is more in accordance with ordinary usage), where x is the referent and y the relatum. As it has been known since De Morgan (cf. § 2.3.), every relation xRy has a ˘ x. If the relaconverse, represented by: yR tion is symmetrical then xRy ⫽ yRx and R is ˘ (R ⫽ R ˘ ). For inidentical to its converse R stance, the converse of “spouse” is “spouse”. But if the relation is asymmetrical, we get: ˘ x). For xRy ⫽ yRx (and of course xRy ⫽ yR instance, if a is greater than b then b is less than a, or if a is the husband of b then b is the wife of a. The result is that for all relations a
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
sense can be determined and generally R(x, y) ⫽ R(y, x). Taking the order of the variables into account, a relation can be defined extensionally: “It may be regarded as the class of pairs (x, y) for which some given function f (x, y) is true” (Russell and Whitehead 1910 ⫽ 1962, 200). This class of pairs is symbolized by xˆyˆ f(x, y). For instance, the relation “to be the husband of” is extensionally defined as the class of all the ordered couples composed of a man and a woman who are married. As relations thus became extensional objects, a logical calculus was finally possible. So the logical product of two relations R and S ⫺ noted R ∩˙ S ⫺ can be defined as xˆyˆ (xRy · xSy), i. e., the class of all pairs which entertain both the relations R and S. For instance, if R means “to be the friend of” and S “to be the cousin of”, R ∩˙ S means “to be the friend and cousin of”. In the same way, corresponding to definite description, a descriptive function was defined in the calculus of relations, allowing the conceptual grasping of the only individual having a specific relation to a relatum: “[…] ‘R' y’ is to mean ‘the term x which has the relation R to y’. If there are several terms or none having the relation R to y, all propositions about R' y, i. e., all propositions of the form ‘Q(R' y)’, will be false […]. Thus if R is the relation of son to father, ‘R' y’ means ‘The son of y’ ” (Russell and Whitehead 1910 ⫽ 1962, 232). Above all, however, the relational calculus also had original operators. This permitted the definition of a specific kind of product: “the relative product of two relations R and S is the relation which holds between x and z when there is an intermediate term y such that x has the relation R to y and y has the relation S to z. Thus, e. g., the relative product of brother and father is paternal uncle” (Russell and Whitehead 1910 ⫽ 1962, 256). So we get: R|S ⫽ xˆzˆ {(∃ y) . xRy · ySz} Df. Considering our first example, the relative product R|S is “friend of the cousin of”. The analytic power of such a calculus can easily be assessed. And indeed the logicist reduction of mathematics which Russell attempted relied upon it. 3.2.4. Logicist reduction, paradoxes and significance Contrary to Frege, Russell and Whitehead tried to define logically the whole of mathematics, including geometry, and they were the first to discover the difficulties and the limits of the enterprise. (The fourth volume
76. Sign conceptions in logic
of the Principia Mathematica, which was intended to treat geometry, never appeared.) Although such a logicist design falls within the philosophy of mathematics, some of its aspects involving the theory of meaning and the conception of symbolism will have to be examined here (cf. Art. 78 §§ 5.1. and 5.2.). Just like Frege, Russell met with no difficulty in reducing the Cantorian concept of “Menge” to the logical concept of “class”. All the objects satisfying a propositional function f constitute the class ⫺ noted xˆ(fx) ⫺ determined by this function. However, as he wanted to carry on with the logicist reduction of set theory, Russell discovered as early as 1901 that the apparently harmless concept of class led to a paradox which now bears his name. Indeed, for any class, the question is whether or not it is a member of itself. Most classes are not members of themselves, e. g., the class of men is not a man; but some are, e. g., the class of all classes is a class. Now, considering C, the class of all the classes which are not members of themselves, we can ask ourselves whether the class C is a member of itself or not. 1. Supposing that C is a member of itself, C possesses the property which allows one to determine its elements, so it is not a member of itself. Consequently, we obtain a self-contradiction. 2. But if, on the contrary, our class C is not a member of itself, then C does not have the property which allows us to determine its elements; so to say that it is not a member of itself is wrong, therefore C is a member of itself. This too is self-contradictory (cf. Russell 1903 ⫽ 1937, 102). It could be believed that paradoxes are confined to mathematical set theory or the logical class-calculus. But Russell discovered at the same time that a similar paradox could also arise at the fundamental, logical level of the use of predicates, i. e., the propositional function. One may wonder if any predicate is predicable of itself or not. For instance, “abstract” is abstract and thus predicable of itself but “concrete”, as a property, is not concrete and therefore not predicable of itself. Considering now the predicate “not predicable of itself”, the first contradiction is that if this predicate is predicable of itself, it has the property which it expresses, therefore it is not predicable of itself. The second contradiction is that if it is not predicable of itself, and so does not have the property which it expresses, it is predicable of itself (cf. Russell 1903 ⫽ 1937, 80, 102).
1499 The discovery of “Russell’s paradox” caused a crisis in mathematics which preoccupied mathematicians for the rest of the century, and the “paradox of impredicables” extended this crisis to the foundations of logic. Thanks to relentless efforts, Russell finally succeeded in finding a way of avoiding paradoxes in 1908 with his theory of types. The “vicious-circle principle” expresses the diagnosis according to which all paradoxes result from a phenomenon of self-reference or reflexivity. Therefore he formulated a basic prescription: “Whatever involves all of a collection must not be one of the collection” (Russell 1908 ⫽ 1966, 63). Accordingly, a function could no longer admit any value whatsoever, but only possible values, i. e., values which do not presuppose the function itself. For instance, the formula Q(Qx) could no longer be admitted, in so far as the function takes itself as a value. “In fact ‘Q(Qx)’ must be a symbol which does not express anything: we may therefore say that it is not significant” (Russell and Whitehead 1910 ⫽ 1962, 40). The class which consists of all the arguments for which the function is true or false is called “range of significance”. For the function Q(x), this range is composed exclusively of individuals: {a, b, c, …}. Consequently, constructing a hierarchy of such ranges of significance ⫺ named “types” ⫺ is enough to avoid paradoxes: type 0 is composed exclusively of individuals, type 1 is composed of all classes of individuals, i. e., of objects of type 0, type 2 includes all the classes of classes of individuals, i. e., objects of type 1, etc. The result is a hierarchy of mutually exclusive types avoiding selfreflexive constructions. Just as we know that if an individual can be a member of a club, a club cannot be a member of anything less than an association of clubs, a function cannot admit anything else as a value, other than objects of a type immediately below its own type. This is how paradoxes can be avoided. For instance, Russell’s paradox could no longer arise since the question of whether a class is a member of itself no longer came up. In accordance with the hierarchy of types, an element must necessarily be of a type lower than its own class. A parallel hierarchy of functions of individuals, functions of functions of individuals, etc., solved the paradox of impredicables. Without entering into a technical analysis of such a theory let us only point out the two most important aspects: (1) The theory first led to the explicit intro-
1500
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
duction of a new, essentially syntactic dimension of sense, besides the referential dimension of meaning. The main issue in logic is to know whether a formula is significant, i. e., if it conforms to the syntactic rules of construction. A formula which violates these rules is meaningless and only a significant formula can be true or false. Of course, it must not be forgotten that Frege had already described the attribution of existence of an object as “sinnlos” (cf. § 3.1.1.). But Russell was the first to point out the fundamental importance of the syntactic rules of construction of logical formulas (for a similar approach formulated by Husserl, cf. Art. 103 § 2.). In addition to the technical importance of the concept of meaninglessness, it is well known that Wittgenstein (1921 ⫽ 1922, 4.003) and Carnap (1932) used it in turn to bring discredit on all metaphysical statements. (2) This theory introduced the idea of an organization of logical objects and formulas into a hierarchy. The logicians unwilling to adopt this theory of types have to find other ways of introducing different levels of language. Rediscovering the intuition which had guided the scholastic distinction between suppositio formalis and materialis (cf. Art. 52 § 3.), modern logicians are now careful to separate object-language and metalanguage (cf. § 4.1.2.) precisely in order to avoid paradoxes.
4.
The semiotic relevance of contemporary logic
The technical improvements of Frege and Russell were crucial and now form the basis of standard logic. Since then, we have seen a remarkable efflorescence of logical research, including formalist analyses of logical systems, the discovery of deviant and extended systems of logic, which impose a new definition of logic while providing semioticians with tools that are both more powerful and more refined. 4.1. Logic as a formal system In the face of the failure of the logicist attempt to found mathematics, David Hilbert (1862⫺1943) suggested a formalist approach (cf. Art. 84 § 4.3.). He suggested considering transfinite cardinals as “ideal” elements logically constructible from natural numbers, and assumed numbers themselves to be reducible to sequences of uninterpreted signs,
“extralogic concrete objects that are intuitively present as immediate experience prior to all thought”. According to him, the number 2 was reducible to the two strokes: 兩兩. In this way, mathematics became a mere “inventory of formulas” in which “contentoriented inference is replaced by manipulation of signs” (Hilbert 1925, 1927). The formalized and axiomatized version of this “formula game” then became the object of “proof theory” or “metamathematics”, which seeks to prove, by finitary methods, the consistency (i. e., non-contradiction) of elementary number theory. Applied to logic, this new, formalistic outlook upset the absolutist conception proposed by Frege and Russell. Logic was no longer the language objectively describing the laws of “Wahrsein” but a mere calculus determined by an initial choice of axioms, the value of which lay only in its consistency (cf. Heijenoort 1967 b; 1985). Thus, around 1900, Hilbert wrote to Frege: “You write ‘From the truth of the axioms it follows that they do not contradict one another’. For my part, I have been accustomed to say just the reverse: if the arbitrarily posited axioms are not in mutual contradiction with the totality of their consequences, then they are true ⫺ the things defined by the axioms exist. That for me is the criterion of truth and existence” (cf. Bochenski 1956, 292 f). This is why the emphasis shifted from sense to form. And logic, in its axiomatic form, became subject to a three-fold analysis: syntactic, semantic and “metalogic” (as Łukasiewicz put it). 4.1.1. Logical syntax From the syntactic point of view, logic appears as a language, the lexis and grammar of which must be determined. For instance, a formal system might include: (1) The alphabet: ⫺ symbols of atomic propositions p, q, r, … ⫺ connectives: negation ÿ, conditional → ⫺ auxiliary symbols: assertion , brackets: (,), {,}, [,], … and symbols of formulas: A, B, C, … (2) Formation rules for well-formed formulas (wffs): 1 ⫺ Any atomic proposition is a wff. 2 ⫺ If A is a wff, then ÿA is a wff. 3 ⫺ If A and B are wffs, then (A → B) is a wff. 4 ⫺ Nothing else is a wff.
1501
76. Sign conceptions in logic
The formation rules enable us to make a distinction between meaningful (or well-formed) formulas and meaningless (ill-formed) statements. For instance “ÿ(p → ÿq)” is a wff in our language because: By virtue of the rule 1 “q” By virtue of the rule 2 “ÿq” By virtue of the rule 1 “p” By virtue of the rule 3 “(p → ÿq)” By virtue of the rule 2 “ÿ(p → ÿq)”
is is is is is
a a a a a
wff wff wff wff wff
In the same way, it would be easy to show that the statement “(pÿ → q) ÿ” is ill-formed and therefore not a proposition of our logical language. Describing the sentence structure of the infinite set of formulas in our language, these rules of formation are recursive: they can be applied to the products of their application. The mastery of infinity by means of a small stock of recursive rules was the motivation for the construction of formal grammars. It allowed Chomsky (1957) to realize a formalization of the creative use of natural language in his generative grammar. This shows that calling logic “a language” is far from metaphorical. However, logic should not be confused with a mere natural language. It is an artificial and “ideal” language which only involves the validity of its formulas. Logic is “lo´gos”: both discourse and reason, both language and calculus. The latter dimension of calculus implies the addition of axioms and rules of inference to our previous system. Supposing that A, B, C are wffs of our system, the following axiom schemata and rule can be added: Axiom schemata: a1 A → (B → A) a2 [A → (B → C)] → [(A → B) → (A → C)] a3 (ÿA → ÿB) → (B → A) Rule of inference (“detachment” or “modus ponens”): MP Iff we have A and (A → B), then we have B. In this axiomatic system, we can do without a rule of substitution because the axiomschemata (introduced by Neumann 1927 ⫽ 1961) ⫺ contain metavariables A, B, C, for which any proposition can be substituted. The axiom schemata and the rule of detachment constitute a deductive device able to generate wffs which form the theses of the calculus. So a formula is a thesis, noted A, if it is an axiom or if it is a theorem which
can be proved, through modus ponens, from axioms or other theorems. For instance the traditional “principle of identity”, ⫺ a shorter expression of which is: “p → p” ⫺, becomes a thesis of the system. It can be proved in this way: [1] p → [(q → p) → p] [2]
[3] [4] [5]
axiom by a1 where A/p and B/(q → p) {p → [(q → p) → p]} → {[p → (q → p)] → (p → p)} axiom by a2 where A/p, B/(q → p), C/p [p → (q → p)] → (p → p) MP on [1] and [2] p → (q → p) axiom by a1 where A/p and B/q p→p MP on [3] and [4]. QED.
At that stage, the system is reducible to a proof-theory which can be fully mastered by a suitably simple machine without understanding. All the syntactic proofs are purely algorithmic. Since the logical syntax of a language can be defined as “the systematic statement of the formal rules which govern it together with the development of the consequences which follow from these rules” (Carnap 1934 ⫽ 1937, 1), it can be understood that such a syntax should be expressed in a metalanguage mainly composed of a natural language and metasymbols such as the assertion sign, brackets and the metavariables A, B, C, …. This is also necessarily true for semantics (cf. Art. 3). 4.1.2. Formal semantics From the syntactic point of view, a logical theory looks like a pure system of formal inscriptions, material marks. But a calculus is only relevant if it can be applied. This implies that inscriptions should become signs and that the system should be given at least one interpretation. The study of the interpretations of a system falls within the province of semantics or model theory. At that second stage, the extensional relation of formulas to truth, as opposed to their conceptual content, must be considered. The first semantic devices ever used were truth-tables (cf. Wittgenstein 1921 and Post 1921 ⫽ 1967). They serve to characterize the primitive connectives by the distribution of the truth-values V (for “verum”) and F (for “falsum”) to the constituent parts of the formula in question. Thus negation and the conditional can be interpreted as follows:
1502
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
A
ÿA
A
B
A→B
V F
F V
V V F F
V F V F
V F V V
But truth-tables can also be used as evaluation procedures allowing for the determination of the truth-value of a complex proposition for each possible interpretation of the atomic propositions included in it. For instance, the evaluation of the consequentia mirabilis is: p V F
(ÿp → p) → F V V V F F
V V
p V F
This formula is valid or tautological, i. e., true for any interpretation of its atomic proposition p. Building on this first approach and drawing his inspiration from the Aristotelian dictum, Alfred Tarski (1902⫺1983; cf. Tarski 1933) determined the conditions of adequacy which must be satisfied by a definition of truth for the sentences of a formally specifiable language. These conditions are expressed by means of equivalences of the form (T): “X is true if and only if p”. “Every equivalence of the form (T) obtained by replacing ‘p’ by a particular sentence, and ‘X’ by a name of this sentence, may be considered a partial definition of truth, which explains wherein the truth of this one individual sentence consists” (Tarski 1944, 344). An instance of (T) would be: “The sentence ‘Snow is white’ is true iff snow is white”. The semiotic importance of this condition (T) is to point at the necessity of using a higher-level language to characterize the truth of a sentence: In characterizing the truth of p, one uses the name X of p. p belongs to the object-language and X belongs to the metalanguage. In Tarski’s formula (T), p is not only used but also mentioned through the use of “X”. Selfreference is thus excluded, which rules out semantic paradoxes such as the Liar antinomy (Tarski 1944, 347⫺9). The formal semantics of a logical system is developed in a metalanguage which provides the rules of interpretation of its symbols and formulas. For instance, the truth of the elements of our system may be defined by giving an interpretation I, i. e., by assigning a truthvalue to each propositional symbol and specifying the usual truth-functional meanings for the connectives:
⫺ If “A” is a propositional symbol, then “A” is true for I iff I assigns the value true to “A”. ⫺ “ÿA” is true for I iff “A” is not true for I, ⫺ “(A → B)” is true for I iff not both “A” is true for I and “B” is not true for I. This allows us to define as logically valid (noted as A) any wff which is true for every interpretation of our language. It thus becomes obvious that the definitions of theoretical semantics correspond directly to the rules of logical syntax; e. g., the rule of evaluation for a conjunctive proposition is based on the syntactic rule of construction of this proposition. Furthermore, as a consequence of Frege’s principle of compositionality (cf. § 3.1.2.), the semantic rules are, like the syntactic rules, recursive. Consequently they can be applied to an infinity of formulas as well. Although clearly distinguished from each other, the syntactic and semantic dimensions are linked, thus proving that logical theory is definitely more than an insignificant game with inscriptions and can be given an interpretation. While earlier it seemed to be sufficient to define logic merely as a language, the formalist ideal of rigor and precision is more demanding. It requires a formal proof to be given of the correspondence between syntax and semantics, and this constitutes the object of metalogical studies. 4.1.3. Metalogical requirements Metalogic studies the formal properties of logical theories, namely consistency, completeness and decidability. Let us briefly examine these three requirements in the simplest case of the propositional calculus. Since the correspondence between the two dimensions of the system must be ensured, it is not surprising that each requirement should be split in two. Thus, syntactic consistency amounts to the fundamental requirement of non-contradiction. A system is consistent iff for any wff A we cannot get A and ÿA. Semantic consistency stipulates that every theorem is logically valid, i. e., if A then A. This model-theoretic requirement is very important because it guarantees that every theorem is universally applicable. The converse is provided by completeness. Syntactic completeness of a formal system requires that no unprovable form may be added to it as a new axiom-schema without inconsistency. Semantic completeness requires that every logically valid formula should be a theorem: i. e., if A, then A.
1503
76. Sign conceptions in logic
This is the expected converse. Semantic consistency and completeness assure a total correspondence between provability and validity. Logical systems which are both consistent and complete are of major interest. Yet the fact that a system has these two properties must be decidable. A formal system is decidable iff there is an effective method to tell whether each formula belonging to it is a theorem or not. This implies that we should be able to devise an effective proof procedure for any formula in the system; this is the socalled “Entscheidungsproblem”. For propositional calculus, truth-tables or the method of normal forms provide such proof procedures. Another result of metatheoretic studies is the “deduction theorem” by which a formula P is proved from an hypothesis H in a theory containing the axioms A1 … An if and only if the formula H → P is provable in the theory in question:
{A1 … An}, H P iff {A1 … An} (H → P) This metatheorem showed the equivalence of the metalogical use of the rule of deduction to the use of a conditional proposition in the object-language: p, (p → q), q iff [p · (p → q)] → q The three metalogical requirements guarantee for any logical theory its value as a language and as a calculus. The formalists’ wish was that they should be able to establish that all the logical theories generally used, notably to formalize mathematics, had these three properties. But they were disappointed. While the propositional calculus turned out to be consistent, complete and decidable (cf. Post 1921), the functional calculus as a whole turned out to be undecidable (cf. Church 1936), and a calculus that was powerful enough to formalize recursive arithmetics could not be complete (cf. Gödel 1931 ⫽ 1967). 4.1.4. Axiomatics versus natural deduction As we have already seen, the original formalist approach was axiomatic. But the rejection of Frege’s and Hilbert’s absolutist conceptions of logic and the discovery of deviant logics (cf. § 4.2.2.) brought about an alternative point of view. Thus, in 1934, Gerhard Gentzen (1909⫺1945) devised a logic of “natural deduction” and a calculus of “sequents” (“Sequenz”) which defined the metalogical rules that determine the relations of deducibility in the object languages of the proposi-
tional and functional calculi. If Greek capitals G, D represent sets of formulas, and Roman ones, A, B, … represent individual formulas, then “G A” means that a formula A is deducible from the set of G formulas. “Structural” rules characterize the relation of deducibility. For instance, the rule that Gentzen called “cut” (“Schnitt”) is expressed by:
G A and A, D H G, D H In a similar way, operative rules can be used to determine the introduction or elimination of logical connectives. One of the rules introducing conjunction is:
G A, G B, G A & B Obviously, such a rule expresses one of the properties of conjunction. Likewise, one of the rules introducing the conditional is:
G, A B G A → B This corresponds to the deduction theorem. In his “Hauptsatz”, Gentzen showed that we can dispense with the cut rule. This result is related to a famous result by Herbrand (1908⫺1931; cf. Heijenoort 1967 a, 526). As this rule is the only one in which the conclusion is less complex than its premises, if it is then eliminated, every derivation becomes constructive. Thus derivation can give an account of the building of all complex formulas. This approach is considered more “natural” because it formalizes the way in which we actually use rules of deduction in logic and mathematics. But above all, it is of major interest in metatheoretic studies. As the sequent calculus is expressed metalogically (“” is a sign belonging to the metalanguage), its use in proof theory is easier than the axiomatic presentation. With the help of his “Hauptsatz”, Gentzen succeeded in proving the consistency of arithmetic. Unfortunately, however, his proof is not strictly finitary because it requires the principle of transfinite induction (Gentzen 1936). With the reflexive capacity of metalogical claims controlling the construction of axiomatic and deductive theories, logic as a science came to maturity in the 1930’s. This is why its influence on science kept growing, notably in mathematics, linguistics, computer science, and particularly in semiotics (cf. Art. 78 § 5., as well as Art. 2 and Art. 3).
1504 4.1.5. Syntactics, semantics and pragmatics In keeping with logical positivism, Charles Morris (1901⫺1979) saw logic as a “special science of signs” which had to be integrated into his “general theory of signs” which he called “semiotic” (1938: 79). Taking up Peirce’s analyses, he explicitly defined the process of semiosis as a four-term relation between the sign vehicle, the designatum, the interpretant and lastly the interpreter, which Peirce had been led to neglect because of his immoderate taste for triads (Morris 1938, 82). He then suggested analyzing this complex relation in three dyadic relations, (i) a syntactic and formal relation between signs, (ii) a semantic relation between signs and their objects of reference, and (iii) a pragmatic relation between signs and their interpreters. This fundamental tripartition had a programmatic value, and it is important to recognize the role of logic in its development (cf. Art. 113). It can be noted first that, as with Peirce, logic had an architectonic function: “Systematization can profitably make use of symbolic logic; for, as semiotic deals throughout with relations, it is peculiarly amenable to treatment in terms of the logic of relations” (1938, 132). Morris was so fascinated by formal systems that he conceived of “an axiomatic development of semiotic which would become pure semiotic”. On the other hand, “in narrower usages” logic played a part in the analysis of semiosis: The syntactic relation of signs to one another was explicitly defined as a relation of implication, and Morris relied on Carnap’s logical syntax to develop this first dimension of semiosis. The semantic relation between sign-vehicles and the objects which they might denote was called “designation”. Here the reference to logical semantics was less explicit ⫺ although Tarski and Carnap were mentioned ⫺ but nonetheless determining. As opposed to the Saussurian tradition, the Anglo-American school of semiotics had a resolutely referential conception, unquestionably drawing its direct inspiration from logical research on Frege’s “Bedeutung” and Russell’s “denotation”. Besides, Morris also made use of logical and mathematical tools in the details of his analyses. For instance, he was careful to remind us that any kind of semantics needs a metalanguage for its development (1938, 86, 98, 100). And, to solve the problem of null denotation, he had recourse to a definition of designata in terms of the class concept, en-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
suring that there is a designatum (the null class) even when there is no denotatum: “A designatum is not a thing, but a kind of object or class of objects ⫺ and a class may have many members, or one member, or no members” (1938, 83). The pragmatic dimension of semiosis involved the relation of signs to the interpreter. Here Morris was referring to “rhetoric as an early and restricted form of pragmatics” and naturally to the pragmatism of Peirce, James, Dewey and Mead. The absence of reference to logical works is understandable: being defined as a formal system, logical language inherited from mathematics the abstraction from the pragmatic dimension of usage. Consequently logic dealt exclusively with declarative “eternal” sentences from which were excluded a priori all indexicals and personal pronouns, etc. The temporality, contextuality and ambiguity of ordinary discourse were strictly kept out of the language, which could thus be claimed to be “ideal” and perfect. So there seemed to be a total ab initio opposition between logic and pragmatics. But as it will be seen, this restriction too was to be overcome (cf. § 4.3.). 4.2. The plurality of logics The third volume of the Principia Mathematica had not yet been published when new systems of logic appeared. Their first aim was to offer a simplified symbolism. 4.2.1. New systems of standard logic Thus, as early as 1912 (and already anticipated by Peirce), Henry Maurice Sheffer (1901⫺1964) discovered that all the classical connectives could be defined by ⫺ and reduced to ⫺ a single primitive operator noted by a stroke. If p | q means that we cannot have both p and q, negation can be easily defined as: ÿp ⫽Df (p|p) and conjunction, for instance, as: p · q ⫽Df (p|q) | (p|q) Using this new connective, Jean Nicod (1893⫺1923) later (1917) succeeded in reducing the entire axiomatic system of propositional logic to the single axiom: [p|(q|r)] | [{t | (t|t)} | {(s|q) | ((p|s) | (p|s))}] and the new rule of inference:
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76. Sign conceptions in logic
Given p and p | (q|r), we can infer r. In this way, the utmost theoretic simplification of the propositional calculus was reached, which was important even if it lacked practical applications. It should be observed that Sheffer’s stroke operator (here interpreted as incompatibility: ÿp ∨ ÿq) can also be read alternatively as rejection: ÿp · ÿq, thus testifying to the duality of conjunction and disjunction. In the second edition of the Principia (Russell and Whitehead 1925: xiii), the authors adopted the first interpretation while Wittgenstein in the Tractatus (1921, 5.1311), free from axiomatic preoccupations, preferred the second one. For the functional calculus, Moses Schönfinkel (1889⫺?1942; cf. 1924) devised a method for the elimination of all variables ⫺ except for metavariables of course. Developed by Haskell B. Curry (1900⫺1982; cf. Curry 1930) as combinatorial logic, this method facilitated a new symbolism based on an extension of the notion of “function”. Combinators determine operations (i. e., applications of a functor to an argument) on signs. For instance, we have: Ix → x Kxy → x Sxyz → xz(yz) It can be shown that all combinators are reducible to the two primitive operators K and S. Then, for the operator of identity, we have: I ⫽Df SKK because: Ia → a and: SKKa → Ka(Ka) → a Such an approach avoids difficulties resulting from the use of rules of substitution and aims at achieving a complete formalization of logical calculus. 4.2.2. Deviant logics In the beginning of the 1920’s, as the formal and systematic nature of logic was being discovered, the existence of deviant logics was pointed out, i. e., logics proposing a modification of the connectives while still dealing with the same set of wffs as standard logic, and therefore generating a different set of theorems and valid inferences (cf. Haack 1974, 4⫺5). The first of these deviant logics
was devised by the head of the Warsaw School, Jan fiukasiewicz (1878⫺1956; cf. fiukasiewicz 1920). It was written in Polish notation obviating the necessity of a complex system of brackets by placing the connectives (symbolized by letters) before the propositions instead of between, and thus changing them into preposed operators. Compare, for instance:
Negation Conjunction Disjunction Implication Law of noncontradiction Law of excluded middle
Peano-Russell notation ⬃p p·q p∨q p傻q ⬃:p·⬃p p
∨
⬃p
Polish notation Np Kpq Apq Cpq NKpNp ApNp
Beyond this change of notation, fiukasiewicz also defined the connectives again, no longer using two-valued truth tables but three-valued matrices. The third value, called “indeterminate” or “possible”, played the intermediate role between truth and falsehood. fiukasiewicz discovered the necessity of this approach when he tried to formalize Aristotle’s modal logic (cf. Art. 41 § 3.). To him Futura contingentia, such as “There will be a naval battle”, were neither true nor false. This lead to the invention of a 3-valued logic that gave a new definition of the connectives, one which preserved their “classical” way of working with the values True and False, but added a new function for the intermediate value. If 1 ⫽ True, 0 ⫽ False and 1/2 ⫽ the intermediate value, fiukasiewicz’s matrices for negative and conditional connectives are: p
Np
Kpq
1 1/2
0
1 1/2 0
0 1/2 1
1 1/2 0
1 1/2 0 1 1 1/2 1 1 1
These new definitions of the connectives induced the “deviance” of the system and generated additional valid propositions. For instance, the law of identity (Cpp) was still clearly valid, but the laws of non-contradiction and excluded middle no longer were. Consequently, this was another logical system incompatible with standard logic such as it had been developed in Principia Mathematica. The result was a plurality of logics: (1) It was not only possible to build fiukasie-
1506 wicz’s type of 3-valued logic in addition to standard bivalent logic but it was also possible to devise other types of 3-valued logics. The only difference was a different choice for the third value. Each modification could generate a new system with theorems and valid formulas different from all the others (cf. Blau 1978). The intuitionist calculus devised by Heyting (1898⫺1980; cf. Heyting 1930) to formalize the constructivist views of mathematics developed by Brouwer (1881⫺ 1966) can be considered, cum grano salis, as a 3-valued logic which admits the law of noncontradiction but not the law of the excluded middle. (2) In addition, many-valued logics could be constructed, i. e., logics with 4, 5, 6, etc. values. Emil Post (1897⫺1954) even went so far as to develop a semantics of mvalued logic (m ⬎ 2). Of course, effective construction of the matrices of connectives was now out of the question. On the other hand, the rules determining the working of each connective for any value m could be defined. For instance, “the generalization of p ∨ q has the higher of the two truth-values […], the generalization of p · q has the lower of the two truth-values of its arguments” (Post 1921, 279⫺80). Such rules allowed the generation of truth-tables for the conjunction and disjunction of standard logic as well as for the matrices of the corresponding connectives in Łukasiewicz’s 3-valued calculus. Such many-valued logics can be seen as having major importance on the practical level. Reality rarely presents us with clear-cut situations where everything is black or white, true or false. For instance, Reichenbach (1891⫺ 1953; cf. Reichenbach 1944) has shown that quantum mechanics can be axiomatized on the basis of Lukasiewicz’s 3-valued logic. And current applications in computer sciences often require 10-valued logics. But, apart from this practical aspect, deviant logics are of theoretical interest in making the concept of logic relative. For Frege, Russell, and even Wittgenstein at the time of the Tractatus, logic could claim to lay the foundations of mathematics because it was unique, absolute and universal. The appearance of many-valued logics gave a fatal blow to the dogma of bivalence and to the self-evidence of logical principles. Each logic is now but a “sisteme ipotetico-deduttivo” as Mario Pieri (1891⫺1970) put it, initially applying this to geometrical systems. According to the set of axioms chosen, the theorems will be different, and logical laws no longer are aeternae veri-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
tates. Carnap’s famous principle of tolerance shows the extent of the upheaval: “In logic, there are no morals. Everyone is at liberty to build up his own logic, i. e., his own form of language, as he wishes. All that is required of him is that, if he wishes to discuss it, he must state his methods clearly, and give syntactical rules instead of philosophical arguments” (Carnap 1934 ⫽ 1937, 51 f). Deviance and formalism are closely akin to each other. Logics are languages. Any kind of language can be built provided that the formal requirements of metalogic are respected. 4.2.3. Extended logics Having become formal languages, deviant logics are invaluable as analytical tools, but their limits have still to be examined. The appearance of many-valued logics did not modify the limitation stated by Morris, namely the inability of logic to do justice to the pragmatic dimension of semiosis. In fact, he touched on the necessity of guaranteeing the extensionality of propositions to allow the application of logical calculus. The Fregean “exceptions” (oratio recta, obliqua, propositional attitudes, etc.; cf. § 3.1.3.) opened up a new field of research outside of formal logic. In the 1930’s Wittgenstein (1889⫺1951) was the first to react by giving up the logical design of building an “ideal” language, which he had defended in the Tractatus, and to take an interest in the subtleties of “language games” (cf. Wittgenstein 1969). Condemning the “descriptive fallacy” of logicians, who reduced the study of language to the consideration of declarative sentences, Austin (1911⫺ 1960) inaugurated an informal analysis of performatives in the 1950’s (cf. Austin 1962). In the same tradition, Strawson (1950 ⫽ 1971), and then Searle (1969), laid the foundations of a general theory of speech acts (Vernant 1986, 141⫺166). One could be forgiven for thinking that a definite split had opened up between two schools, one of logical analysis and one of informal analysis of ordinary language (cf. Art. 109). However, logicians had not discarded the Fregean exceptions. Contemporary logical research gradually provided more and more technical means to extend the jurisdiction of logic to fields which had until then remained within the province of intensional contexts. Thus Jacques (1979) showed that these new logical tools allow us to overcome the limitations of speech act theory and to devise a dialogical analysis of meaning and reference.
76. Sign conceptions in logic
It is not at all surprising to see that the first of these extended logics was a modal logic. The aletheic modalities ⫺ logical necessity, possibility, impossibility, contingency ⫺ had already been the object of attempts by Aristotle and the Stoic Diodore Chronos to institute a logical analysis. Considering the philosophical importance of the concept of necessity, one may easily understand the appeal of such a study. However, the standard logic of Frege and even Russell specifically excluded the consideration of aletheic modalities, since, as Quine (*1908; cf. Quine 1953, 143 f) reminds us with a caution typical of the pioneers on that point, modal contexts are “referentially opaque”. Like quotation marks, modal operators question the substitutivity of identical terms. For example, given that “Necessarily (9 ⬎ 7)” and “9 ⫽ the number of planets”, we cannot infer that “Necessarily (the number of planets ⬎ 7)”. So a specific calculus had to be established. The first stage was the construction of a modal syntax. C. I. Lewis (1883⫺1964; cf. Lewis 1918 ⫽ 1960) had already suggested the axiomatization of several modal sentence logics. Each was an extension of standard logic: to the standard vocabulary was added the operator of possibility (represented by 앳), which allowed the definition of necessity (represented by 첸) in the following way: 첸 A ⫽Df ⬃ 앳 ⬃ A as well as a stronger form of implication (represented by Ɱ) expressing the necessity of standard implication: A Ɱ B ⫽D ⬃ 앳 (A · ⬃ B). Additional axioms governing the use of modal operators generated modal systems of increasing strength (Hughes and Cresswell 1968, 215⫺254). Then, Ruth Barcan-Marcus (1946) devised a quantified modal logic that gave the same kind of extension for the predicate calculus. Although they were more delicate to handle, these modal calculi presented no problems. They still had to be interpreted, however. This required the construction of a semantics far more elaborate than standard semantics. An interpretation in terms of reference to “reality” understood in the way of Frege and Russell was now out of the question. What was required was a model-theoretic interpretation spreading reference to several worlds. It was the intuition Leibniz had when he defined necessity as truth in all possible worlds, which had to be given a technical formulation. The result was the possible worlds semantics of Kripke (*1940; cf. Kripke 1963) and Hintikka (*1929; cf. Hin-
1507 tikka 1969). These sophisticated tools made it possible to account for the referential anomalies in opaque contexts: “Modal contexts thus do not exhibit any failure of referentiality, but only referential multiplicity’’ (Hintikka 1969, 153). However, these complex semantics raise difficulties such as the problem of the ontological status of possibilia ⫺ which brings up once more the Aristotelian question of essentialism ⫺ and the problem of identifying the same individual across the different worlds. Not everything has been solved, but the existence of modal logics proves that a formal analysis of intensional contexts is possible. Semantics of the same kind allowed the interpretation of temporal logics, able to integrate the temporality of ordinary utterances (cf. Prior 1957), and of deontic logics, dealing with the formalization of moral and juridical statements (cf. Wright 1963). In addition, logics were developed to account for propositional attitudes, such as epistemic logics, which formalize sentences such as “a knows that p” (noted Kap) and doxastic logics, which formalize statements such as “a believes that p” (noted Bap; cf. Hintikka 1969). To these extended logics must be added a great deal of research aiming, for instance, at the construction of general models of language interpretation, such as the intensional logic of Montague (1974), which integrates some deontic, temporal and indexical aspects of ordinary speech in an algebraical structure. Seen this way, formal logical analyses and the informal approach to natural language concur, and it is now appropriate to use the most sophisticated logical methods to account for the pragmatic use of language. This is borne out for instance by the program adopted by Searle and Vanderveken (1985) whose aim was to work out a fully symbolized and axiomatized illocutionary logic which permitted the analysis of all the various types of speech acts. The analysis of the force of a statement sketched by Frege was thus finally given a formal treatment. It can be noted that most extended logics introduce a new element to the calculus: the subject of the propositional attitude or the subject of enunciation, e. g., the speaker. While this constitutes remarkable progress, it is possible to go even further by giving a logical treatment to communication in its dialogical dimension. Technically, Paul Lorenzen (1915⫺1994; cf. Lorenzen 1962) was the first to suggest interpreting the establishment of a
1508
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
proof in intuitionist logic as a rule-governed debate between a “proponent” and an “opponent”. Every logical rule was given a game-theoretical dialogical interpretation; e. g., in the case when the proponent asserts that “All the x are c”: (x) cx, he is the winner if the opponent is unable to find a counter-example such as “there exists at least an x with the property non c”: (∃x) ÿ cx. Each proposition is thus d-defined (“dialog-definit”) if interpretable according to dialogical rules of justification. In a parallel way, Hintikka developed an interpretation in terms of games of investigation and discovery for the standard predicate calculus (Hintikka and Kulas 1983). These dialogue logics do not only extend the scope of logic, but also allow a deeper investigation into the general question of meaning. It is no longer a matter of considering logic as a pure system of signs, nor of enriching it to deal with all possible utterances of a speaker, but of raising the fundamental question of the conditions of signification. Francis Jacques (1985) defines the logical space of interlocution as the formal structure of the interlocutive relation which determines the conditions under which any communication is possible. Such dialogical approaches bear witness to the long way logic has come since Leibniz’s first attempt, though it still remains faithful to his initial design, which meant to account for controversies and even to solve them formally (cf. § 1.1.2.).
5.
Conclusion: towards an interdisciplinary study of signification
Having reached the end of our survey of the development of modern logic, it seems indisputable that semiotics was only able to come to life thanks to the use of the new and powerful tool of relational logic. Its relational nature itself was at the origin of the Peircean analysis of semiosis and then of Morris’s program. In this sense, the two authors were able to stress the identity of logic and semiotics. Of course the two fields have a different subject matter. However they remain closely linked to each other since they both deal with signs and language. This is why the semiotician is able to draw inspiration from the logical analysis of signs, such as the Fregean distinction of “Sinn” and “Bedeutung” and his theory of presupposition, the Russellian
analysis of definite descriptions, the Tarskian definition of truth and the logical treatment of intensional contexts, etc. However, semioticians who take this path will have to be very careful not to cut off the theories used from their logical context without due cause. Logical analysis is but a stage in the analysis of signs. As Frege (1884 ⫽ 1950, x) recalled, a sign has a meaning only in the context of a proposition, and, as the formalists put it, a proposition is an element of a formal system. Besides, to work as a language, this system must be enriched to account for the various modalities of enunciation. Finally, its dialogical reinterpretation allows one to reach the constituent rules of every form of communication. So, while diversifying and extending as far as to account for the uses of ordinary language, contemporary logics demand a more thorough analysis. In that sense, they raise the question of the conditions of signification and communication as opposed to Peirce’s and Morris’ investigations of the definition of signs ⫺ a fundamental issue, the examination of which requires renewed interdisciplinary cooperation.
6.
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Denis Vernant, Grenoble (France)
1512
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Die Konzeption der inneren Sprachform 2. Die Systeme der Völkerpsychologie 2.1. Lazarus und Steinthal 2.2. Wilhelm Wundt 3. Sprache als Organismus und als Institution: Schleicher und Whitney 4. Die junggrammatische Schule 4.1. Osthoff und Brugmann 4.2. Hermann Paul 4.3. Delbrück 5. Die Krise der Konzeption der inneren Sprachform 6. Die Hermeneutik Diltheys 7. Sprachphilosophie vor dem Hintergrund der Zeichentheorie 7.1. Husserl 7.2. Meinong 7.3. Marty 7.4. Gomperz 7.5. Külpe 7.6. Martinak, Gätschenberger, Erdmann 8. Der linguistische Strukturalismus 8.1. Saussure 8.2. Trubetzkoy und Jakobson 8.3. Hjelmslev 8.4. Bloomfield 9. Die Philosophie der symbolischen Formen 9.1. Cassirer 9.2. Langer 9.3. Weisgerber 10. Die Sprachphilosophie Bühlers 11. Beiträge der Nachbarwissenschaften zur Erforschung der Sprache 11.1. Boas, Sapir, Whorf 11.2. Freyer und Vierkandt 11.3. Gehlen 12. Moderne materialistische Sprachphilosophie 13. Der phänomenologische Strukturalismus 14. Zusammenfassung 15. Literatur (in Auswahl)
1.
Die Konzeption der inneren Sprachform
Wenn diese Darstellung mit der Sprachphilosophie W. v. Humboldts (1767⫺1835) einsetzt, so ist es nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß semiotische Fragestellungen schon weit früher aufgeworfen worden sind. Als Wissenszweig innerhalb der Philosophie ist die Semiotik ⫺ wenn auch nicht immer unter diesem Namen ⫺ z. B. im Altertum von Aristoteles und der Stoa, im Mittelalter von der Scholastik entwickelt und gepflegt worden (vgl. Art. 40 und 42 sowie 49, 52 und 53). Für die Neuzeit sind insbesondere die carte-
sianischen Grammatiker, Locke und als sein Widerpart Leibniz zu nennen (vgl. Art. 62, 65 und 67). Hervorzuheben ist ferner besonders die von der Schule von Port-Royal ausgehende Bemühung um eine allgemeine und rationale Grammatik; denn dieses Forschungsmotiv kommt in dem betrachteten Zeitraum ⫺ in Wechselwirkung mit gegenläufigen Bestrebungen ⫺ immer wieder zur Geltung (vgl. Art. 67 § 2.4. und Art. 79 § 2.2.2.). Die Sprachphilosophie Humboldts wendet sich demgegenüber der individuellen geschichtlichen Realität zu und tritt so, wenigstens dem Anschein nach, in einen gewissen Gegensatz zu jenen rationalistischen und universalistischen Tendenzen. ⫺ Eine adäquate Würdigung Humboldts kann nur dann geschehen, wenn man ihn vor den Hintergrund der britischen und französischen Sprachphilosophie der vorangehenden Zeit stellt. Bedeutsamer als J. Harris (1709⫺1780) und A. Smith (1723⫺1790) sind hierbei Condillac (1714⫺ 1780) und Rousseau (1712⫺1778). Mit diesen beiden Autoren hatte sich bereits Herder (1744⫺1803) auseinandergesetzt, dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) nur vordergründig in der Hauptsache der Zurückweisung der theologischen These eines übernatürlichen Sprachursprungs dienen will. Herders Theorie, daß der Mensch die Sprache als Ausgleich für einen ihm natürlichen Mangel an Instinktausstattung erhalten habe ⫺ im 20. Jahrhundert von den Anthropologen unter den Sprachtheoretikern (vgl. § 11.) neu aufgegriffen ⫺, hat ihre Wirkung auch auf Humboldt nicht verfehlt, doch verfährt dieser in seinen Reflexionen über den Sprachursprung weit weniger entschieden als sein Vorgänger (vgl. Art. 65 § 7.). Humboldts Intention richtet sich zugleich auf den Nationalcharakter der Stämme und Völker wie auch auf das Allgemeingültige an der Sprache; er untersuchte u. a. das Baskische und das Mexikanische und unterlag, wie etwa Friedrich Schlegel (1772⫺1829), einer tiefen Faszination durch das soeben im Westen bekannt werdende Sanskrit, in dem er den allgemeingültigen Sprachtypus zu gewahren glaubte. Nicht wenige Interpreten sehen die größte Leistung Humboldts indessen in seiner Deutung sprachlicher Einzelerscheinungen wie der Pronomina und des Dualis, doch
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1513
können diese Spezialthemen hier weder dokumentiert noch kommentiert werden. Die wichtigsten Aussagen Humboldts lassen sich aus seiner Einleitung zu dem sogenannten Kawi-Werk unter dem Titel „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1830⫺ 1835 ⫽ Wilhelm v. Humboldts Gesammelte Schriften, hrsg. v. A. Leitzmann, 7. Band, 1. Hälfte, Berlin 1907) ablesen: Die Entstehung und Entwicklung einer jeden Einzelsprache hängt mit derjenigen der menschlichen „Geisteskraft“ zusammen und verläuft wie diese sprunghaft und in Schüben. Humboldt steht daher der Möglichkeit einer Erklärung des Sprachursprungs viel zurückhaltender gegenüber als z. B. Herder, von dem seine Auffassung allerdings bis in Einzelheiten hinein abhängig ist (§§ 6 und 7). In der Sprachentwicklung gebührt weder dem Individuum noch der Nation der Vorrang: Zwar sind es ausschließlich die Individuen, welche die augenblickliche Sprechtätigkeit ausüben, andererseits aber sind für Humboldt in den Sprachen die Nationen „eigentlich und unmittelbar schöpferisch“ (§ 9). Die „Geisteseigenthümlichkeit“ und die „Sprachgestaltung“ eines Volkes hängen so eng miteinander zusammen, daß es unmöglich ist, die „Priorität“ der einen oder der anderen feststellen zu wollen; vielmehr entspringen beide derselben, für uns jedoch „unzugänglichen Quelle“ (§ 10). Die Verknüpfung zweier korrelierter Größen, die gemeinsam auf eine unbekannte dritte zurückgeführt werden, ist eine Argumentationsfigur, die später im Strukturalismus systematisch verfeinert worden ist; die Frage einer eventuell nachweisbaren Einflußlinie muß aber hier offenbleiben. Humboldt wendet übrigens diese Argumentationsfigur nicht nur auf die Sprache an, sondern betont ihre Allgemeingültigkeit; denn alle Kulturerscheinungen eines Volkes sind für ihn miteinander verwoben. Die Sprachen lassen sich nach Humboldt als eine „Arbeit des Geistes“ beschreiben, sie sind wie dieser wesentlich „etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes“. Eine Definition muß aus diesem Grunde genetisch ausfallen. Die Sprache ist nur als „Thätigkeit“ („Ene´rgeia“), nicht lediglich als „Werk“ („E´rgon“) zu kennzeichnen (§ 11). „Form“ und „Stoff“ der Sprache sind für Humboldt jeweils mehrdeutige und mehrschichtige Begriffe. Form im emphatischen Sinne stellt mehr dar als nur grammatische
Form. Man muß sich hüten, Form und Stoff der Sprache mit einer groben Gegenüberstellung von Sprachinhalt und Lautmaterie zu identifizieren. Die Form ist dynamisch zu denken, darin kommt ihr Zusammenhang mit dem energetischen Charakter der Sprache zur Geltung. Zum Sprachstoff im emphatischen Sinne gehört andererseits auch die „Gesammtheit der sinnlichen Eindrücke und selbstthätigen Geistesbewegungen“ (§ 12). Bei der Betrachtung der lautlichen Beschaffenheit der Sprachen versucht Humboldt den Primat der inneren Sprachform auch im Detail herauszuarbeiten (§§ 21⫺22). Wenngleich die innere Sprachform in einer entscheidenden Hinsicht individuelles Formprinzip der Einzelsprachen ist, so eignet ihnen doch auch etwas Gemeinsames, und dies resultiert einerseits aus der Gleichartigkeit der Stimmwerkzeuge, andererseits aus den Regeln, denen der Gebrauch der Laute zum Zweck der Bezeichnung der Gegenstände durch das Denken unterworfen wird. In diesen Formbestimmungen treffen demnach alle Einzelsprachen zusammen. Die Lautform andererseits ist, wenn auch nicht allein, das „constitutive und leitende Princip der Verschiedenheit der Sprachen“ (§ 13). Humboldt kommt an dieser Stelle der Idee einer allgemeinen und rationalen Grammatik sehr nahe. Da die beiden formgebenden Prinzipien einer jeden Sprache einander aber unauflöslich durchdringen, ist eine Zeichentheorie als selbständige Wissenschaftsdisziplin bei ihm nicht zu finden. Gewiß kann man sogar sagen, daß der Begriff der inneren Sprachform der Grund dafür ist, daß sich die Sprachphilosophie nach Humboldt nicht restlos in eine Zeichentheorie auflösen läßt (vgl. Art. 79 § 2.1.2.). Im banalen Sinne umfaßt die Sprache nur die Erzeugnisse des jeweiligen Sprechens. Aber Humboldt redet auch von einem „Verfahren“ der Sprache, auf dem nicht nur ihre grammatische und lexikalische Organisation beruht, sondern darüber hinaus ihr Verhältnis zu dem „Denk- und Empfindungsvermögen“. Ihm ist es zu verdanken, daß der Stoff der Sprache sich aus endlichen Elementen unendlich oft neu zu erzeugen vermag. Die geistige Einheit der Sprache gründet nicht in ihrem grammatischen und lexikalischen Bestand allein, sondern vor allem in ihren Erzeugungsakten (§ 14 sowie §§ 24⫺26). Humboldt analysiert den Zusammenhang der Sprache mit der Wahrnehmungs- und Erkenntnistätigkeit. In diesem Zusammenhang
1514 gibt er eine philosophische Kritik der menschlichen Sinnesphysiologie, wie sie sich z. B. bei Berkeley (1685⫺1753), Reid (1710⫺ 1796) und in gewissem Sinne auch bei Herder findet; auch Spätere haben sich erneut an diesem Thema versucht, wie etwa Alexander Bain (1818⫺1903). Ähnlich Herder erwägt Humboldt die besondere Eignung der Stimmwerkzeuge und des Gehörs für die Formung und Mitteilung von Gedanken. Er geht jedoch weiter als seine Vorgänger: Er erkennt die „unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache“; diese Art der Zusammensetzung gründet für ihn „in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur“ (§ 14). In prägnanter Auslegung besagt der Satz, daß die genannten sinnesphysiologischen Elemente die Sprache ausmachen, wenn sie durch ein Verfahren synthetisch verknüpft werden. Es ist dies der Punkt, an dem Humboldts Abhängigkeit von Kant ins Auge springt. Denn Problemstellung und Lösungsmethode erinnern nicht von ungefähr an den „Schematismus“ in der Kritik der reinen Vernunft (KrV); hier wie dort geht es um eine Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem (vgl. Art. 74 § 2.). Kant hatte sich diese Aufgabe erstmals in voller Schärfe gestellt, als er die transzendentale Ästhetik, d. h. die Regeln der Sinnlichkeit, mit der transzendentalen Logik, als Inbegriff der Verstandesregeln und der Gegenstandserkenntnis, in Einklang zu bringen versucht hatte. Bei Humboldt nimmt diese Problemstellung jedoch eine folgenreiche Wendung, denn er legt die Vermittlung anders als Kant der Sprache zur Last. Erst der Laut verleiht dem Bewußtseinsinhalt die Eigenschaft der Deutlichkeit, macht die Vorstellung zum Begriff. Über Kant hinaus gelangt Humboldt jedoch vor allem in einem weiteren Punkt. Hatte jener entdeckt, daß die von ihm in Angriff genommene neuartige Erkenntnistheorie nicht bloß eine Begriffsanalyse verlangt, wie sie der traditionelle Rationalismus LeibnizWolffscher Prägung von jeher geliefert hatte, sondern darüber hinaus „die noch wenig versuchte Zergliederung des Verstandesvermögens selbst“ (KrV B 90), so erweitert sich diese Entdeckung bei Humboldt zu der Einsicht in die Komplexität und Heterogeneität der Elemente seines Untersuchungsgegenstandes, nämlich der Sprache. Dieser Fund ist im 19. Jahrhundert überwiegend in Vergessenheit geraten, erst im 20. Jahrhundert
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
wurde er von Saussure als semiologischer Untersuchungsgrundsatz, als allgemeines anthropologisches Prinzip von Bergson (1859⫺ 1941) und vor allem von Gehlen (1904⫺ 1976) „wieder“entdeckt (vgl. § 8.1. und 11.3.). Vollends neu ist die von Humboldt entwikkelte zyklische Auffassung des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand: Während sich nämlich die Sinne bloß empfangend verhalten, verfährt der Geist synthetisch, und hierzu ist die Sprache unentbehrlich. Die Vorstellungen werden in Lauten objektiviert, um alsdann über das Gehör zum Bewußtsein zurückzukehren. In der Anthropologie Gehlens hat auch diese Konzeption eine neue Durcharbeitung erfahren (vgl. § 11.3.). Die Verbindung von Sprache und Denken ergibt sich nicht erst aus der geselligen Natur des Menschen, sondern ist ihr gegenüber vorgängig. Jede Sprache umschreibt einen „Standpunkt der Weltansicht“; wer von einer Sprache in eine andere hinüberwechselt, übernimmt damit eine neue Auffassungsrichtung ⫺ ein Vorgang, dessen Tragweite aus psychologischem Grund unbemerkt bleiben kann. Das Verstehen ist kein bloß passiver Vorgang, sondern stellt die Umkehrung des Sprechens dar und beruht daher wie dieses auf „innerer Selbstthätigkeit“ (§ 14). ⫺ Die geistige Mitte, auf die alle historischen Sprachen bezogen sind, ist dem Sprachforscher nur virtuell gegeben (§ 21). ⫺ Auch findet die Gesetzmäßigkeit der Sprache an der Freiheit des Individuums eine Grenze; die Sprache beherrscht ebenso den Menschen, wie dieser sie (§ 14). ⫺ Humboldt hat seinen Nachfolgern eine Vielzahl ungelöster Fragen hinterlassen, die den Sprachursprung, den Sprachwandel, den Sprachträger, das Verhältnis von innerer und äußerer Sprachform sowie die Beziehungen von Sprache und Denken betreffen. Als sich das 19. Jahrhundert dem psychologischen Naturalismus zuwandte, mußten Humboldts paradoxe Wendungen zunehmend als, fast möchte man sagen: wissenschaftlich skandalös empfunden werden. Von seinen Nachfolgern hat keiner sich imstande gesehen, den Gehalt seiner Sprachphilosophie von anderen als Humboldtschen Prämissen her zu rekonstruieren. Im besonderen Maße gilt diese Feststellung für Hajim (Heymann) Steinthal (1823⫺ 1899), dessen zwiespältige Einstellung zur inneren Sprachform symptomatisch ist. Zwar lehnt er den Begriff selbst nicht ab, im Gegenteil, dieser übernimmt in seinem Schrifttum sogar eine tragende Rolle. Aber er kritisiert
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1515
die angeblich unsichere und unschlüssige Konzipierung durch Humboldt (Steinthal 1855, xx⫺xxi). Steinthal läßt die Beziehungen von Sprache und Denken in die individuelle Bewußtseinseinheit fallen; daher findet er keinen Anhaltspunkt für Humboldts Identitätsthese. Aber er gibt eine Rekonstruktion der inneren Sprachform, die den Inhalt des Begriffs von genetisch-rekonstruktiven Gesichtspunkten aus zu erschöpfen versucht (Steinthal 1871 ⫽ 1972, 396⫺451). Ein anderer Kritiker ist Johan Nicolai Madvig (1804⫺ 1886; hier 1856⫺57 ⫽ 1971: 117⫺257), er sucht den Ursprung der Sprache erneut in ihrem Mitteilungszweck und besteht gegenüber Humboldt auf der Trennung der sprachlichen von der Vorstellungssphäre (vgl. Madvig 1856⫺57). In den Werken der Jahrhundertwende kommt es vorübergehend zu einer Auflösung der Konzeption der inneren Sprachform, vor allem unter dem Einfluß des junggrammatischen Skeptizismus (vgl. § 5.); im 20. Jahrhundert wird sie wiederbelebt, und zwar unter anderen von Porzig und Weisgerber (vgl. z. B. § 9.3.). Es ist aber vorwiegend die ethnolinguistische Forschung, in der Humboldts Gedankengut, teilweise in recht veränderter Gestalt, zu neuer Geltung kommt. Weil bei Boas, Sapir und ihren Nachfolgern der Kulturbegriff Träger der Konzeption wird, kann auch der Fehler vermieden werden, eine Bestätigung für den Einfluß der Sprache auf individualpsychologischer Ebene zu suchen (vgl. § 11.1.). Ohne eingehende Analyse sind noch einige Momente zu erwähnen, die für die Würdigung des zeichentheoretischen Gehalts des Humboldtschen Werkes von Belang sind. Für Humboldt, der hier unter dem Einfluß Hamanns (1730⫺1788) und Herders steht, ist dem Sprachphänomen nicht gerecht zu werden ohne Beachtung seiner thematischen Affinität zu Religionsphilosophie und Ästhetik (vgl. zu Herder Heintel 1958). Zuspitzend kann man vielleicht sagen: Die Sprache figuriert in dieser Epoche deswegen als ein so ergiebiger Untersuchungsgegenstand, weil sie nicht isoliert wird von Bezügen, welche die Wissenschaftsauffassung späterer Forschergenerationen ihr nicht mehr als wesenszugehörig zurechnen wollte. So zeigt insbesondere die ästhetische Betrachtungsweise manche Seiten der Sprache in einem helleren Licht; der Ästhetik entspringen Begriffsbildungen, auf welche die Sprachwissenschaft nicht ganz verzichten kann. Diese eigenartige Tatsache ist erst von G. Gerber (1820⫺1901) und von
B. Croce (1866⫺1952) und K. Vossler (1872⫺1949) wieder umfassend gewürdigt worden. Ob man deswegen so weit gehen darf, die Geschichte der Sprachwissenschaft ganz in die der Ästhetik einzuordnen, wie es Croce bereits im Titel seines einschlägigen Hauptwerkes tut, steht allerdings auf einem anderen Blatt (zu Croce vgl. § 5.). ⫺ Ebenfalls nur am Rande soll die Tatsache Erwähnung finden, daß die von Humboldt bereits frühzeitig (1820) entfaltete Programmatik der Sprachvergleichung nachhaltig inspiriert ist von den dann in seinem Spätwerk exponierten Ideen. Auch hier war es jedoch notwendig, die spekulativ geschöpften Ideen, nicht zuletzt die Anwendung des Formbegriffs auf die Sprache, zu verwissenschaftlichen, bevor die heute diskutierten sprachtypologischen Einteilungsgesichtspunkte resultieren konnten. ⫺ Gesamtdarstellungen der Sprachphilosophie Humboldts geben Liebrucks (1965) und Borsche (1981); ein eindrucksvolles Plädoyer für „Humboldts Alternative“ hält Simon (1971). Die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts wird nahezu ausnahmslos von philosophischen und psychologischen Voraussetzungen beherrscht. Beide Disziplinen gelten im 19. Jahrhundert zahlreichen Denkern als so etwas wie Universalwissenschaften, die als solche zugleich den terminologischen Hintergrund für andere Disziplinen abgeben. So werden z. B. Logik und Sprachwissenschaft bald der Philosophie, bald der Psychologie untergeordnet, eine methodische Option, welche nur im Falle der Logik durch die Anstrengungen Freges (1848⫺ 1925) und Husserls (1859⫺1938) definitiv zufolge der methodischen Selbständigkeit dieser Wissenschaft aufgelöst worden ist, während die ungleich verwickelteren Argumentationsverhältnisse der sprachwissenschaftlichen Methodenlehre trotz der vorläufigen Klärung durch den Strukturalismus noch weiterhin der Untersuchung bedürfen. ⫺ Unter den psychologischen Begriffen spielt insbesondere die bereits aus dem älteren Empirismus herrührende „Assoziation“ eine große Rolle; man versteht darunter die Verknüpfung der Bewußtseinsinhalte nach Gesichtspunkten der räumlichen und der zeitlichen Nähe, der Ähnlichkeit und der Ursächlichkeit. Für die Verbreitung der Assoziationspsychologie im 19. Jahrhundert ist ein Denker wie Herbart von maßgeblichem Einfluß gewesen; sie tritt bei ihm allerdings nicht einmal in klassischer Ausprägung in Erscheinung, sondern verbindet sich mit Formulierungen, die auf eine cartesianische Metaphysik des Bewußtseins hindeuten. Von den großen Theoretikern des 19. Jahrhunderts haben insbesondere Steinthal und Wundt von assoziationspsychologischen Erklärungskonzepten einen (nach heutigem Zeitgeschmack) zu ausgedehnten Gebrauch gemacht; jenem dienten sie dazu, das
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Rätsel der inneren Sprachform aufzulösen, dieser stützt seine völkerpsychologischen Begriffsbildungen teilweise auf sie. Einen der ersten Schläge gegen die Verwendung der Assoziationspsychologie in der Sprachwissenschaft hat bemerkenswerterweise Delbrück geführt (vgl. zu diesem Autor § 4.3.); er erweist sich mit dieser methodischen Einstellung ⫺ im Gegensatz zu anderen Junggrammatikern ⫺ bereits in gewisser Weise als ein Protagonist jener sprachwissenschaftlichen Autonomiebestrebungen, die sich im 20. Jahrhundert vor allem im Strukturalismus niederschlagen. An der Zurückdrängung der assoziationspsychologischen Terminologie haben sodann Phänomenologie und vor allem Gestaltpsychologie wesentlichen Anteil. Einer Erläuterung bedürftig sind auch die ⫺ im Zusammenhang mit Humboldts Einleitung zur Kawi-Schrift erwähnten ⫺ erkenntnistheoretischen Begriffsbildungen Kantischer Provenienz; mehr noch als zuvor ist hier eine Beschränkung auf wenige unzulängliche Andeutungen erforderlich. ⫺ Nach Kant geht die menschliche Erkenntnis auf „Sinnlichkeit“ und „Verstand“ zurück; sie enthält demnach stets sowohl „anschauliche“ als auch „begriffliche“ Elemente. In methodischer Wendung besagt dies, daß die Erkenntnistheorie zwei Teildisziplinen enthält, nämlich die „transzendentale Ästhetik“ als „Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori“ (KrV B 35) sowie die „transzendentale Logik“, eine „Wissenschaft des reinen Verstandes […], dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken“ (KrV B 81). In diesem Zusammenhang also ist der Begriff der (transzendentalen) Ästhetik ein erkenntnistheoretisch restringierter Begriff. Daneben findet sich bei Kant ein anderes Begriffsverständnis, das dem modernen Sprachgebrauch näher kommt; danach ist „Ästhetik“ ⫺ und zwar ohne qualifizierendes Beiwort! ⫺ soviel wie „Kritik des Geschmacks“ oder genauer der „Geschmacksurteile“. Wie beide Begriffe sich für Kant gleichwohl als zusammenhängend darstellen, kann hier nicht ausgeführt werden. Der moderne Begriff der Ästhetik als Lehre vom Schönen geht hauptsächlich auf Baumgarten (1714⫺1762) und Hegel (1770⫺1831) zurück; er wird im folgenden allein vorausgesetzt (vgl. Art. 63 und 75). ⫺ Da Sinnlichkeit und Verstand einander ursprünglich fremd sind, bedarf es eines Mittlers, der Anschauung und Begriff aufeinander beziehen läßt; es ist dies nach Kant das „Schema“ bzw. als Verfahren der „Schematismus“. So ist z. B. eine Reihe von Punkten das schematische Bild einer Zahl. Daß und wie eine solche mittelbare Veranschaulichung von Begriffsinhalten möglich ist, kann als eine genuin semiotische Entdeckung Kants gelten; zur weiteren Orientierung vgl. Walther (1974 ⫽ 1979, 32 f).
2.
Die Systeme der Völkerpsychologie
Neben der Sprachphilosophie Humboldts ist die Völkerpsychologie das zweite mittelbare Produkt des romantischen Forschungsgei-
stes; man kann in ihr einen Vorläufer der modernen Ethnologie erblicken (vgl. Vonk 1996). 2.1. Lazarus und Steinthal Steinthal gehört zu den repräsentativen Figuren des 19. Jahrhunderts, bei denen die graduelle Umschichtung der Grundauffassungen besonders reichen Aufschluß verspricht. Am Beginn seiner Veröffentlichungstätigkeit (1848 ⫽ 1985) steht der Bruch mit Hegel. Mit Hilfe der Humboldtschen Sprachphilosophie wird Hegels Theorie des objektiven Geistes kritisiert; die Themenstellung dieses Lehrstücks bleibt für ihn dennoch in gewisser Weise bindend. Steinthal nähert sich zuletzt dem Darwinismus, dessen populär verstandene These auf die Sprachwissenschaft damals eine gewisse Anziehungskraft auszuüben begann, da sie es zu erlauben schien, die Einzelsprachen als natürliche Organismen aufzufassen, wie dies besonders von Schleicher vorgeschlagen wurde (vgl. § 3.; siehe auch Art. 79 § 2.1.2.). Den größten Widerhall findet jedoch das zusammen mit Moritz Lazarus (1824⫺1903) initiierte Projekt einer neuen Wissenschaftsdisziplin, zu deren Organ die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft wird. Die Möglichkeit der Völkerpsychologie soll durch eine Reihe von Abgrenzungen, besonders gegenüber Psychologie, Anthropologie und Ethnologie wissenschaftstheoretisch nachgewiesen werden. Ziel ist es, „das Wesen des Volksgeistes und sein Thun psychologisch zu erkennen“. Die Völkerpsychologie richtet sich indes nicht auf Realgeschichte, sondern auf die „innere, geistige oder ideale Thätigkeit eines Volkes“ (Lazarus und Steinthal 1860 ⫽ 1970, 313). Die Volksgeister sind ihrem Wesen nach menschlichen Personen nicht unähnlich, darum kann versucht werden, die (Individual-)Psychologie Herbarts (1776⫺1841) auch auf Gebilde des objektiven Geistes zu übertragen, als da sind: Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Recht, Sitte usw. Der Gegensatz von subjektivem und objektivem Geist wird von den Begründern der Völkerpsychologie wohl geahnt, aber durch Einschiebung des Werkzeugbegriffs zu mildern versucht (Lazarus und Steinthal 1860 ⫽ 1970, 324). Den Institutionen des Volksgeistes wird die Leistung zugeschrieben, das Volk vom rohen zum verfeinerten Bewußtsein und endlich zum Selbstbewußtsein zu heben.
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1517
Folgenreich ist die Begründung, die für die Sonderstellung der Sprache gegeben wird. So wird zunächst ihre gemeinschaftsbildende Kraft mit der Feststellung unterstrichen, sie sei ein „Apperzeptionsorgan“, dadurch „sich eben die Personen gegenseitig so ineinander aufnehmen, daß sie sich zu einem Volke machen“ (Lazarus und Steinthal 1860 ⫽ 1970, 346). Ergänzt wird diese, auch erfahrungswissenschaftlich durchaus diskutable Behauptung sodann aber durch eine spekulative Argumentationsfigur: Die Sprache enthalte nicht nur die „Weltanschauung des Volkes“ in allgemeingültiger Gestalt, sondern stelle auch „das Abbild der anschauenden Thätigkeit selbst“ dar (Lazarus und Steinthal 1860 ⫽ 1970, 348). Auch in Wundts unter § 2.2. sogleich zu besprechender Version der Völkerpsychologie, ja sogar in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (vgl. § 9.1.) bleibt diese methodische Hervorhebung der Sprache erhalten, jedoch wird die Begründung für ihren Vorrang dem Sachstand der Forschung entsprechend abgewandelt. Es ist leicht, aus heutiger Sicht Ausstellungen an der Inkonsequenz zu üben, den Volksgeist zunächst mit individualpsychologischem Gehalt zu füllen, um ihn dann doch als Ursprung von Gebilden des objektiven Geistes zu beschreiben. Daß dieser Hegelsche Begriff offenbar nicht auf andere zurückgeführt werden kann, d. h. als eine unverzichtbare Konstante bei der Beschreibung kultureller Phänomene zu gelten hat, ist auch für die zeitgenössische Philosophie eine herausfordernde Tatsache geblieben. Die Vorgehensweise von Lazarus und Steinthal hat zur Folge, daß eine strukturell orientierte Zeichentheorie ihrem Werk heute nur mehr wenig abzugewinnen vermag; sein völkerkundlicher Wert bleibt davon jedoch unberührt. ⫺ Mit Lazarus und Steinthal stand der junge Dilthey (1833⫺ 1911) in Verbindung; er teilt mit ihnen die psychologische Orientierung. ⫺ Eine Darstellung der Intentionen der ersten Völkerpsychologen gibt Belke (1971).
tiger aber ist das Verhältnis zur physiologischen Psychologie, der er 1874 ein naturwissenschaftlich-experimentelles Gepräge zu geben versucht hatte. Ungeachtet dieser methodischen Disposition, deren Intention von offensichtlich wissenschaftstheoretischer Tragweite ist, enthält auch die Völkerpsychologie ⫺ gerade in ihren der Sprache vorbehaltenen ersten beiden Bänden ⫺ in erheblichem Umfang naturwissenschaftliches Gedankengut. Die Aufgabenstellung der Völkerpsychologie bleibt in ihrem Wortlaut nahezu unverändert, allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt der Untersuchung entsprechend seinem Voluntarismus vom Volksgeist zur Volksseele (Wundt 1900 ⫽ 31911/12, Bd. I, 7⫺11). (Zum Verständnis der Terminologie sei bemerkt: Der Seelenbegriff wird im 19. Jahrhundert gelegentlich fast gleichbedeutend mit dem des Willens gebraucht.) Die Rückführung auf die individuelle Psyche wird von ihm nachdrücklicher abgelehnt als von Lazarus und Steinthal, d. h. Wundt behauptet ⫺ in einem noch näher zu erläuternden Sinne ⫺ den autonomen Bestand von Volksgeist und Volksseele. Ihre Funktionen werden dennoch in strenger Parallelität zu denen der individuellen Psyche entworfen: Hat man es auf der einen Seite mit Vorstellen, Fühlen und Wollen zu tun, so auf der anderen mit Sprache, Mythos und Sitte. Diese Vorgehensweise kann Wundt sich erlauben, weil er den Hauptfehler, den seine Vorgänger in seinen Augen gemacht haben, nämlich die transzendente Hypostasierung der Begriffsbildung, beseitigt zu haben glaubt. Ist dieser Fehler behoben ⫺ dies ist offenbar seine Überzeugung ⫺, so kann man den Begriff des Volksgeistes unbedenklich zu dem der Volksseele erweitern, d. h. auch solche Phänomene in Betracht ziehen, die den gefühls- und willensmäßigen Funktionen der individuellen Psyche analog entsprechen. In der Hervorhebung der Sprache folgt Wundt den Älteren, doch fehlt die metaphysische Exposition. Viel stärker ausgeprägt als bei Lazarus und Steinthal ist die Exaktheit der Begriffsbildung und die Stetigkeit der Gedankenführung. Während jene die Naturwissenschaft im Rahmen der Völkerpsychologie nur als Hilfswissenschaft gelten lassen wollten, ist Wundt ganz von naturwissenschaftlichen Überzeugungen durchdrungen. Auch das linguistische Detail findet sorgfältigere Beachtung. Grundlegend ist der Begriff der „Ausdrucksbewegung“ (Wundt 1900 ⫽ 3 1911/12, Bd. I, 43⫺142). Es muß zwischen „Gebärdensprache“ und „Lautsprache“ un-
2.2. Wilhelm Wundt Auch Wundts (1832⫺1920) Werk ist noch weitgehend dem Gedankenkreis des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts verpflichtet, obwohl die ersten Bände seiner Völkerpsychologie erst im 20. Jahrhundert zu erscheinen beginnen. Wundt leitet die Völkerpsychologie wie seine Vorgänger mit methodischen Betrachtungen zu den Nachbardisziplinen ein; wich-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
terschieden werden (Wundt 1900 ⫽ 31911/12, Bd. I, 143⫺372). Die Lautsprache soll sich aus der Gebärdensprache entwicklungsgeschichtlich herausdifferenziert haben. Die Problematik dieser Annahme kommt auch in der Terminologie zum Ausdruck; so sieht Wundt (1900 ⫽ 31911/12, Bd. I, 182⫺200) sich genötigt, als Brückenelement sogenannte „symbolische Gebärden“ einzuführen. Wundt unterscheidet recht genau genetische und strukturelle Aspekte sowie äußere und innere Sprachform. So bietet der erste Band die Betrachtung von „Laut“ und „Lautwandel“, der zweite Band die von „Wortform“ und „Bedeutungswandel“. Man findet eine Definition des Satzes und seiner grundlegenden Arten, d. h. der „Ausrufungs“-, „Aussage“und „Frage“-Sätze (Wundt 1900 ⫽ 31911/12, Bd. II, 222⫺266). Wundt hat wie zahlreiche andere Denker des 19. Jahrhunderts eine spekulative Entwicklungslehre des menschlichen Geistes vorgelegt. Welche Schwierigkeiten sich ergeben, wenn man den Entwicklungsgedanken auf die Sprache anwendet, hat er noch nicht zu sehen vermocht, weil die Problematik des Verhältnisses der Systemebene der Sprache zu der zeitlich geordneten Aufeinanderfolge der Sprachzustände ihm nicht vertraut war. Gleichwohl hat sein Werk eine gewisse Nachwirkung gehabt, hauptsächlich wegen seines inhaltlichen Reichtums, sodann aber auch, weil eine andere Generation von Forschern wie etwa Bühler und Vierkandt ihr kritisches Ingenium an Wundt geschärft haben (vgl. §§ 10. und 11.). ⫺ Für eine Revision der Einschätzung Wundts, die gegenwärtig etwas einseitig durch das Urteil Bühlers bestimmt wird, setzt sich Graumann ein (1984; siehe auch 1988), ebenso Ungeheuer (1984).
3.
Sprache als Organismus und als Institution: Schleicher und Whitney
Die menschliche Sprache wird im 19. Jahrhundert oft mit einem (lebenden) Organismus verglichen, in andeutender Formulierung bereits von Humboldt, sodann von Karl Ferdinand Becker (1775⫺1849), Franz Bopp (1791⫺1867) und August Schleicher (1821⫺ 1868). Erst mit dem Aufkommen einer naturwissenschaftlichen Orientierung auch in der Linguistik beginnt man diesen anfänglich philosophisch inspirierten Vergleich wörtlich aufzufassen. Die Geschichte dieser folgenreichen Metapher ist an dieser Stelle nicht auf-
zurollen; doch sollen einige Bemerkungen über die Kritik Whitneys an Schleicher eingeschaltet werden, da diese gerade für die zeichentheoretische Fundierung der modernen Sprachwissenschaft mittelbare Bedeutung erlangt hat. Wohl am eindrucksvollsten ist die organismische Auffassung der Sprache von Schleicher in einem Aufsatz aus dem Jahr 1863 propagiert worden. Der Verfasser steht erklärtermaßen unter dem Eindruck der Schriften Darwins (1809⫺1882; vgl. Art. 85), die er allerdings im Lichte der Ideen Häckels interpretiert; so konzentriert sich für ihn die naturwissenschaftliche Grundaussage Darwins gelegentlich in der Formel vom „Kampf ums Dasein“. ⫺ Schleicher will der Beobachtung auch in der Sprachwissenschaft Anerkennung als methodischem Leitwert verschaffen; die Erfahrung ist für ihn die höchste Autoritätsquelle der Wissenschaft. Philosophisch tendiert Schleicher zum Monismus; seine Argumente beziehen einen erheblichen Teil ihrer Anziehungskraft aus der These, daß der Dualismus in allen seinen überlieferten Formen, insbesondere auch der cartesianischen, sich als Forschungshindernis erwiesen habe. Es würde jedoch eine unzulässige Vereinfachung darstellen, aus Schleichers Gedankengang lediglich das Bekenntnis zu entnehmen, die Sprachwissenschaft habe in Zukunft einen Teil der Naturwissenschaft zu bilden. Zwar gibt er sich allerdings überzeugt, daß „von den sprachlichen Organismen […] ähnliche Ansichten“ zu gelten hätten, „wie sie Darwin von den lebenden Wesen überhaupt“ ausgesprochen habe. Andererseits jedoch betont er, die „Entwicklungsgeschichte der Sprache“ sei „eine Hauptseite der Entwicklungsgeschichte des Menschen“ (Schleicher 1863 ⫽ 1977, 86 f). Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Sprachwissenschaft ist unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Befruchtung angelegt, wie denn nach Schleicher (1863 ⫽ 1977, 95⫺98) die Linguistik den einseitigen Vorzug besitzt, manche Vorgänge in statu nascendi beobachten zu können, deren Entsprechungen der Zoologe (heute würde man vorziehen zu sagen: der Evolutionsbiologe) nur hypothetisch rekonstruieren kann. Schleicher postuliert: „Die Sprachen sind Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und absterben; auch ihnen ist jene Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Na-
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men ,Leben‘ zu verstehen pflegt“ (Schleicher 1863 ⫽ 1977, 88). Vor diesem Hintergrund dehnt der Verfasser das Entwicklungsprinzip der darwinistischen Biologie auch auf die sprachlichen Erscheinungen aus und behauptet eine sich auch auf die Details erstreckende konstruktive Analogie von biologischer und linguistischer Terminologie: So soll der (Tieroder Menschen-)Gattung auf der anderen Seite der Sprachstamm, sollen den Arten und Unterarten die Einzelsprachen und ihre Dialekte korrespondieren usw. Hier wie dort wird das Leben der Organismen durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt, die dem Einfluß der Individuen durchaus entzogen sind (vgl. Kucharczik 1997). Schleicher glaubt sich aufgrund der geschilderten Prämissen gerechtfertigt, Rückschlüsse auf sprachgeschichtliche Entwicklungen zu ziehen. So nimmt er eine indogermanische Ursprache an, deren Existenz auch ohne schriftliche Dokumente oder andere beweiskräftige Dokumente geschlußfolgert werden kann, und bezieht auch zu der damals vieldiskutierten Frage Stellung, ob am Anfang der Sprachgeschichte nur eine absolute Ursprache oder vielmehr eine Mehrzahl von Ursprachen gestanden habe; die Analogie zur Entstehung von Zellgewebe läßt ihn dieser letzten Möglichkeit den Vorzug geben. Das älteste Stadium einer jeden Sprache kennt nur flexionslose Wurzeln als „Bedeutungslaute“; die Morphologie ist ein sekundärer sprachgeschichtlicher Erwerb. In diesem letzten Punkte stimmt ihm übrigens auch sein Kritiker zu, der freilich ganz andere Erklärungshypothesen favorisiert. William Dwight Whitney (1827⫺1894) entwickelt in seiner vernichtenden Kritik an Schleicher ein feines Gespür für die Argumentationsmängel, die sich zwangsläufig ergeben müssen, wenn ein ursprünglich der Biologie vorbehaltenes Begriffsmaterial auf eine Disziplin übertragen wird, die vielleicht nicht einmal ihre unmittelbare Nachbarwissenschaft darstellt: „Eine solche Argumentationsweise impliziert natürlich so etwas wie eine wirkliche und greifbare Identität zwischen einem Organismus, d. h. einem Tier oder einer Pflanze, auf der einen Seite und einer Sprache auf der anderen“ (Whitney 1871 ⫽ 1977, 111). Man kann, so Whitney, aus der von Schleicher behaupteten Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen des Sprachlebens nicht ableiten, daß eine Beteiligung des menschlichen Willens an ihrer Entstehung auszuschließen ist. Whitney gibt sich hier als
einer der Sprachtheoretiker zu erkennen, die das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, und darum greift er wiederholt Schleichers Tendenz an, den Entstehungskomplex der Sprachtatsachen der Sphäre des menschlichen Willens, ja sogar der Kultur überhaupt zu entrücken und in das Feld der organischen Kräfte zu versetzen. Der traditionelle Hintergrund von Whitneys Polemik gegen Schleicher wird übrigens erkennbar, wenn er (mit den Worten Herders, aber ohne Erwähnung seines Namens) sagt: „Der Mensch war Mensch, noch ehe die Entwicklung der Sprache einsetzte; er wurde nicht erst Mensch durch sie und mit ihrer Hilfe“ (Whitney 1871 ⫽ 1977, 136). Für den kulturellen Prozeß wird also eine Eigengesetzlichkeit gegenüber der biologischen Evolution behauptet; eine Position, die wir, ebenfalls unter Berufung auf Herder und außerdem mit einem deutlichen antidarwinistischen Affekt verbunden, auch bei Gehlen antreffen (vgl. § 11.3.). ⫺ Wie Whitney im einzelnen den Auffassungen Schleichers auf dem Gebiete der Bedeutungslehre und Morphologie entgegentritt, ist hier nicht zu verfolgen. Whitney verdichtet seine Einwände gegen Schleichers Gedankengang in einer folgenreichen Gegenüberstellung: „Wenn wir der Sprache einen Namen geben sollen, der ihr eigentliches Wesen am deutlichsten und schärfsten zum Ausdruck bringt ⫺ und gerade denjenigen zum Trotz, die sie zu einem Organismus machen möchten ⫺, so nennen wir sie eine Institution, und zwar eine der Institutionen, aus denen sich die menschliche Kultur zusammensetzt“ (Whitney 1871 ⫽ 1977, 127). In eben diesem Zusammenhang führt Whitney den Zeichenbegriff ein, eine Konstellation, aufgrund derer man ihn zu Recht als einen Vorläufer der Junggrammatiker und des Strukturalismus ansieht. Ähnlich wie für Saussure ist die Sprache für Whitney ein Corpus von Zeichen, das nach kulturellen Regeln zu handhaben ist. Was die grundlegende Gegenüberstellung Organismus versus Institution angeht, so wird man sich heute aber fragen, ob Whitney sich lediglich einer sprachlich vermittelten Intuition überläßt, wenn er glaubt, hier tue sich eine Kluft zwischen grundverschiedenen Bereichen auf. In organischen wie auch kulturellen Prozessen sehen wir heute Systeme von Elementen, deren Verhalten durch Gesetze bestimmt wird und die durch Regeln beschrieben werden können. Es besteht daher
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kein Hinderungsgrund, die Sprachwissenschaft einer Lehre vom menschlichen und tierischen Verhalten einzuordnen und sie damit zu einem Bestandteil der Biologie zu machen. Insofern sind die Überzeugungen Schleichers wohl doch weitsichtiger gewesen als die seines Kritikers.
4.
Die junggrammatische Schule
Die junggrammatische Schule war in ihren Anfängen radikaler als in ihren späteren Ausprägungen, deren wirkungsgeschichtliche Einflüsse bis tief in das 20. Jahrhundert hinein reichen. 4.1. Osthoff und Brugmann Die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft ist auch ein Hauptschauplatz des Ringens um die methodischen Grundsätze der sogenannten Junggrammatiker (vgl. Art. 79 § 2.2.1.). Während die Leistungen der Vergangenheit ganz überwiegend das Werk einzelner gewesen waren, formiert sich hier erstmals eine Gruppe von Wissenschaftlern, die durch gleiche oder verwandte Überzeugungen zusammengeführt wurden: Zu ihr gehören, jeweils eine Zeitlang in Leipzig lehrend, Osthoff (1847⫺1909), Brugmann (1849⫺1919), Leskien (1840⫺1916), Paul (1846⫺1921), Braune (1850⫺1926) und Sievers (1850⫺1932); daneben in Jena Delbrück. Verner (1846⫺1896) spielt eine entscheidende Rolle durch die scharfsinnige Erörterung der Möglichkeit lautgesetzlicher Ausnahmeerscheinungen. Ziel der Bestrebungen der Junggrammatiker ist die Sicherung und Erweiterung jenes Bestandes von Lautgesetzen, deren Beschreibung durch Rask (1787⫺1832) und Jacob Grimm (1785⫺1863) angebahnt worden war. Die ältere Forschung, die sich überwiegend als Lautphysiologie verstand, hatte die Übereinstimmung mit den Erfahrungstatsachen bisweilen durch die Dehnung des Wortlauts der Lautgesetze aufrecht zu erhalten versucht. Demgegenüber verlangen nunmehr die Junggrammatiker, die Lautgesetze dürften den Naturgesetzen in ihrer Strenge nicht nachstehen. Um diese Forderung zu erfüllen, muß allerdings die lautphysiologische Betrachtungsweise um einen psychologischen Faktor erweitert werden. Diesen nun glauben Osthoff und Burgmann in der „Formassoziation“ gefunden zu haben, die ihrerseits auf die „Ideenassoziation“ zurückgehen soll
(Osthoff und Brugmann 1878 ⫽ 1974, iii⫺ xx). So fließt in den junggrammatischen Szientismus, vermittelt durch Steinthal, etwas von der Herbartschen Psychologie ein. Grundlegende Entdeckung der Junggrammatiker ist die sprachgeschichtliche Rolle von analogischer Formbildung und Entlehnung. Das methodologische Bekenntnis der Junggrammatiker bringt es mit sich, daß der bis dahin von der Sprachphilosophie beachtete Primat der inneren Sprachform in sein Gegenteil verkehrt wird. Diese Verlagerung des wissenschaftlichen Interessenschwerpunkts ist nicht unwidersprochen geblieben. So stellt z. B. Jespersen, der in einer Reihe von Aufsätzen die Entwicklung der Lautgesetzfrage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beobachtet hat, fest: „Immer mehr drängt sich mir die Betrachtung auf, daß in der Sprache Äußeres und Inneres, Laut und Bedeutung, in der allerengsten Beziehung zueinander stehen […], und daß es ein grober Fehlgriff ist, der einen Seite ein genaues Studium zu widmen, ohne auf die andere Rücksicht zu nehmen“ (Jespersen 1886⫺1933 ⫽ 1970, 193). Die Orientierung am Modell des Naturgesetzes läßt weiterhin die Frage entstehen, wie der geschichtlichen Natur des Forschungsgegenstandes Rechnung zu tragen ist. Die Lautgesetze selbst werden als Ablaufgesetze des sprachgeschichtlichen Geschehens konzipiert, deren Allgemeingültigkeit auf der (relativ) konstanten Beschaffenheit der menschlichen Sprechwerkzeuge beruhen soll. Der Hoffnung der älteren Forschung aber, vielleicht einmal die hypothetischen indogermanischen Urformen oder womöglich sogar die hypothetische indogermanische Ursprache rekonstruieren zu können, wird gründlich abgesagt. Denn Lautgesetze von der gewünschten ausnahmslosen Gültigkeit können nach Auffassung von Osthoff und Brugmann nur an rezentem Material erhoben werden, wie es etwa die Mundartforschung darbietet. ⫺ Als dezidiert szientifische Richtung der Sprachforschung stellt sich die junggrammatische Schule in einen Gegensatz zu der Mehrzahl der zeitgenössischen Bestrebungen, besonders zu der philologisch orientierten „philosophischen Grammatik“, deren Tradition in Gestalten wie Georg Curtius (1820⫺1885) und Franz Misteli (1841⫺1903) nach wie vor lebendig war (Brugmann 1885, 3⫺41). 4.2. Hermann Paul Die wissenschaftstheoretische Komponente der junggrammatischen Bewegung wird noch
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deutlicher in Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte, die mit ihren zahlreichen Auflagen zugleich einen zeitlichen Querschnitt der damaligen Sprachwissenschaft darbieten; maßgeblich ist die letzte noch von Paul bearbeitete Fassung, nämlich die 5. Auflage von 1920. Erstmals im Jahre 1880 erschienen, stellt sich die umfängliche Schrift als ein Grundlagenwerk empirisch betriebener Sprachwissenschaft dar; dabei werden die anfänglich radikalen Thesen der frühen Junggrammatiker etwas abgemildert. Paul (1880 ⫽ 51920, Einleitung) wendet sich vor allem gegen völkerpsychologische Begriffsbildungen. Durch diese Kritik wird der Boden bereitet für eine Anerkennung der Rolle des sprechenden Individuums und eine genauere Betrachtung der sprachlichen Übertragungsvorgänge. Lazarus und Steinthal entwickeln Paul zufolge eine ganz abwegige Auffassung davon, wie sprachlicher Austausch vor sich geht, indem sie ein voraussetzungsloses Übergreifen von einem Bewußtsein auf das andere postulieren bzw. die Möglichkeit einer solchen Verbindung im Begriff des Volksgeistes beweislos voraussetzen (vgl. § 2.1.). Indem sich Paul vom Standpunkt des gemäßigten Erfahrungswissenschaftlers gegen die Existenz einer solchen Verbindung kehrt, umreißt er mittelbar den methodischen Raum für eine (allerdings ausschließlich psychologisch orientierte) Zeichentheorie. Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Ironie, daß mit dem Rückgang des Einflusses der junggrammatischen Schule verdiente Forscher wie Litt, Vierkandt und Weisgerber zu einer Theorie der „inneren Verbundenheit“ der Sprachgenossen zurückfinden, die ⫺ sachlich der Konzeption der Völkerpsychologen entsprechend ⫺ durch diesen scharfsinnigen Kritiker bereits entkräftet schien (vgl. § 11.2.). Bedauerlicherweise sind Pauls Bemerkungen über die Rolle des Zeichens im zivilisatorischen Prozeß ganz sporadisch; er stellt überwiegend auf die Tatsache der psychischen Ökonomie ab. Zu einer grundlegenden Begriffsgröße wird das Zeichen daher bei ihm nicht. Auch hätte das Festhalten an dem strukturblinden Assoziationsbegriff ein weiteres Ausgreifen auf das Gebiet der Zeichentheorie alsbald vor unlösbare Probleme gestellt: Weder die Tatsache der Sprachschichtung noch die Bilateralität des Zeichens oder gar seine Systemwertigkeit lassen sich von Pauls Prämissen aus konstituieren. ⫺ Eine zeitgenössische Stellungnahme zu Pauls Werk vom Stand-
punkt der „philosophischen Grammatik“ stellt die Rezension von Misteli (1882 ⫽ 1977) dar. 4.3. Delbrück Die junggrammatische Richtung hat sich nicht nur darum verdient gemacht, die Sprachforschung auf ein höheres methodenkritisches Niveau zu heben. Sie hat zugleich auch durch Ausschaltung überholter Lehrbestandteile die Konsolidierung der Sprachwissenschaft als einer gegenüber ihren Nachbarwissenschaften relativ autonomen Disziplin gefördert. Diese Tendenz läßt sich mit besonderer Deutlichkeit an der eindringlichen Polemik Bertolt Delbrücks (1842⫺1922) gegen die damals so beliebte psychologische Fundierung der Grammatik ablesen. Nachdem er die psychologischen Voraussetzungen Herbarts und Wundts eingehend kritisiert hat, stellt er die Frage ihrer vergleichsweisen Vorzugswürdigkeit aus der Sicht des Erfahrungswissenschaftlers als gegenstandslos hin: „[…] für den Praktiker läßt sich mit beiden Theorieen leben“ (Delbrück 1901, 44). Und zwar deshalb, weil die eigenständigen Argumentationszusammenhänge der Sprachwissenschaft ohnehin nicht in allen Einzelheiten von dem Prämissenmaterial einer anderen Disziplin abhängig zu machen sind. Diese Stärkung des methodischen Selbstbewußtseins der Sprachwissenschaft ist deshalb eine bemerkenswerte Entwicklung, weil die frühen Dokumente der junggrammatischen Richtung sämtlich vorbehaltlos psychologisch orientiert sind. Ähnlich wie Paul ordnet auch Delbrück die Spracherscheinungen ⫺ im Gegensatz zu den frühen Junggrammatikern ⫺ nicht mehr in die Naturgeschichte ein; er vindiziert ihnen vielmehr den Status kulturgeschichtlicher Tatsachen. ⫺ Die junggrammatische Bewegung gehört zu den Vorläufern des Strukturalismus; vgl. hierzu Meillet (1906 ⫽ 1977). Eine Darstellung der Situation der Sprachwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt Ströker (1984). Von besonderem Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist der Hinweis, daß das ungeklärte Verhältnis von Sprachpsychologie, Syntax und Phonetik die Konstituierung eines Zeichenmodells verhindert habe (Ströker 1984, 31).
5.
Die Krise der Konzeption der inneren Sprachform
Daß die junggrammatische Schule den Begriff der inneren Sprachform als unzweckmäßig gebildeten Begriff ablehnt, ergibt sich
1522 zwingend aus ihrer methodischen Einstellung. Paul erwähnt ihn in seinem Hauptwerk überhaupt nicht (vgl. § 4.2.), und Delbrück (1880 ⫽ 61919, 45⫺61) läßt nicht gelten, daß Humboldts Verdienste um die Indogermanistik mit dieser Begriffsschöpfung zu tun haben. Weder die Etymologie noch die Flexionslehre können ihm zufolge etwas mit der inneren Sprachform anfangen: In diesem Terminus scheinen ihm disparate Beobachtungen unsachgemäß verdichtet. Die meisten anderen Autoren gehen weniger weit und versuchen sich in einer Umprägung des Begriffs der inneren Sprachform, die typischerweise an ein oder zwei Hauptmomente Humboldts anknüpft: Georg von der Gabelentz (1840⫺ 1893, vgl. 1891 ⫽ 21901, 327⫺345) gibt zunächst einen fast kompendiösen Überblick über die Forschungsgeschichte, in dem man zahlreiche repräsentative Äußerungen angeführt findet. Er selbst unterscheidet den „Ideenkreis“ und die „Anschauungsweise“ des sprechenden Individuums. Sprachgenossen zeigen hierin, besonders aber in der Anschauungsweise, einen gewissen Grad von Übereinstimmung. Dieses formale Element ist es denn, das der Autor mit der von Humboldt konzipierten inneren Sprachform zu identifizieren bereit ist (v. d. Gabelentz 1891 ⫽ 21901, 344 f). Die Diskussion der äußeren Sprachform ist kennzeichnenderweise weit ausgedehnter, als es die spärlichen, wenngleich in die Zukunft der Sprachwissenschaft weisenden Bestimmungen der inneren Sprachform sind. Wundt (1900 ⫽ 31911/12, Bd. II, 439⫺443) glaubt Humboldt dafür kritisieren zu müssen, daß er der inneren Sprachform ein utopisches, d. h. für ihn unwissenschaftliches Vollkommenheitsideal zugrunde gelegt habe, das die perfekte Entsprechung von gedanklichem Inhalt und sprachlichem Ausdruck gebiete: Ist dies nicht ein Mißverständnis Humboldts? Demgegenüber will Wundt aus ihr einen wissenschaftlichen, d. h. für ihn: psychologischen, Begriff machen; dieser umfaßt demnach die „eigentümlichen Assoziations- und Apperzeptionsgesetze, die in dem Aufbau der Wortformen, in der Scheidung der Redeteile, der Gliederung des Satzes und der Ordnung der Satzglieder zur Erscheinung kommen“ (Wundt 1900 ⫽ 31911/12, Bd. II, 441). Die innere Sprachform macht sich besonders eindrucksvoll im Bereich der Metaphorik und Metonymie bemerkbar, während die syntaktischen und Flexionsphänomene weit schwerer zu fassen sind. Daher ist Wundts Intuition
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
nicht ohne Interesse, daß die innere Sprachform sich am nachhaltigsten in der Satzbildung auswirke, während Laut- und Begriffsmaterie sich ihrem Einfluß entzögen. Hierin deutet sich eine Ausklammerung der substantiellen Elemente aus dem prägnant verstandenen Sprachbegriff an, die man gerade von diesem Autor kaum erwartet. Wundts Stellungnahme ist im übrigen recht zwiespältig: Einerseits will er offenbar die innere Sprachform zu dem führenden Glied in der Korrelation mit der äußeren Sprachform machen, andererseits jedoch erscheint ihm vorläufig nur diese als wissenschaftlich wohlgebildeter, d. h. methodisch vorbildlicher Begriff. Die „Impersonalien“, d. h. vermeintlich subjektlose Sätze wie „Es donnert“, „Mich friert“ u. ä., sind der erste Untersuchungsgegenstand gewesen, der einem weiteren Kritiker Stoff für seine feingesponnenen Betrachtungen geliefert hat: Anton Marty (1847⫺ 1914; vgl. 1884⫺95 ⫽ 1918⫺20, Bd. 2.1, 3⫺ 307; als summarische Zusammenfassung siehe außerdem 1893 ⫽ 1918⫺20, Bd. 2.2, 57⫺99) will die innere Sprachform als „Ausdrucksmethode“, d. h. als Verständigungsmittel von der „Bedeutung“ getrennt wissen; damit gibt er die wohl erste spezifisch semasiologische Theorie, deren Kennzeichen es ist, daß in diesem Zusammenhang sachfremde Begriffe wie etwa die „Apperzeption“ konsequent vermieden werden. Der sprachwissenschaftliche Erkenntniswert dieser Konzeption äußert sich in der differenzierten Terminologie Martys; so unterscheidet er in seinem systematischen Hauptwerk „Lautform“, „äußere“ sowie „figürliche“ und „konstruktive“ „innere Sprachform“; dazu kommen die „genetischen Eigentümlichkeiten“ der Sprachform (Marty 1908, 99⫺150). Da Marty Lautform und äußere Sprachform auseinanderhält und äußere und innere Sprachform miteinander in Beziehung setzt, kann er ⫺ ähnlich wie der bereits erwähnte v. d. Gabelentz ⫺ als Vorläufer des strukturalistischen Zeichenbegriffs gelten (vgl. § 8.). Das „Logische“ wird von Marty als der universale Bedeutungshintergrund angesehen, vor dem sich die Einzelsprachen profilieren. Damit wird freilich auch der Standpunkt Humboldts verlassen, der die Erzeugung des Gedankens eingeschlossen hatte, und zögernd der Weg zu einer allgemeinen und rationalen Grammatik beschritten, über deren methodischen Grundriß sich Marty allerdings mit Husserl in eine heftige Kontroverse verwickelt (vgl. §§ 7.1. und 7.3.). Wenn Marty gegenüber Husserl
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1523
auf der historischen Individualität der Einzelsprachen insistiert, so steht er damit in der Tradition Condillacs (vgl. zu dessen „ge´nie des langues“ Art. 65 § 6.2.). Wie Marty dem Konzept der inneren Sprachform zuletzt eine Wendung gibt, die es ihm gestatten soll, den Begriffsapparat der Erkenntnistheorie kritisch zu revidieren und insbesondere Kants Lehre von Raum und Zeit als reinen Formen der Anschauung zu verwerfen, kann hier nicht verfolgt werden. Franz Nikolaus Finck (1867⫺1910; vgl. 1905, 33⫺36) setzt die innere Sprachform der „Weltanschauung“ gleich. Der Begriff der Anschauung soll hierbei wörtlich verstanden werden als die durch die Sprache vermittelte sinnliche Wahrnehmung der erfahrbaren Welt. Sein Werk weist in die Richtung einer Charakterisierung von Nationaleigentümlichkeiten, abgelesen am jeweiligen Stil der Sprache. ⫺ Croce (1902; deutsche Übersetzung 1930) und sein Schüler Vossler, der ihm in zahlreichen Publikationen folgt, ordnen die innere Sprachform in die Geschichte der Ästhetik ein (vgl. § 1.); hieraus hat sich bei Vossler ⫺ ähnlich wie bei Finck ⫺ eine Schilderung der stilistischen Atmosphäre von Einzelsprachen aufgrund illustrierender Züge ergeben. Kennzeichnend für diese Bestrebungen ist die heftige Ablehnung der Möglichkeit einer „logischen Grammatik“ (z. B. Vossler 1923, 3). Man darf dieser Konstellation wohl entnehmen, daß die logisch-erkenntnistheoretischen und die ästhetischen Momente der inneren Sprachform in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen. ⫺ Porzig (1923) vermittelt einen vorzüglichen Überblick über die vorhandenen Theorien; er selbst kombiniert das erkenntnistheoretische mit dem „völkerpsychologischen“ Begriffsmerkmal, indem er die innere Sprachform als die „mit der äußeren Sprachform in Wechselwirkung stehenden eigentümlichen Apperzeptionsformen einer Sprachgemeinschaft“ definiert (Porzig 1923, 167). ⫺ Eine zusammenfassende Darstellung der Dekomposition der inneren Sprachform ist mir nicht bekannt, doch gibt die Monographie Funkes (1924) über Marty auch manchen Aufschluß über andere Autoren. Eine Exposition der sprachphilosophischen Terminologie Martys findet sich in Kiesow (1990 b).
dient die Hermeneutik jedoch vor allem insofern Beachtung, als sie in die Konstituierung der Geisteswissenschaften eingeht (vgl. Art. 131). Diese Phase der Hermeneutik ist ebenso eng mit dem Namen Diltheys verbunden wie die vorangegangene theologische mit dem Namen Schleiermachers (vgl. Art. 74 §§ 8. und 9.). In seiner ersten systematischen Schrift bringt Wilhelm Dilthey (1833⫺1911; vgl. 1883 ⫽ 81979 ⫽ Gesammelte Schriften, Bd. 1) die Entstehung der Geisteswissenschaften in einen Zusammenhang mit dem Verfall der Metaphysik. Der geschichtliche Hintergrund, vor dem dieses Thema umrissen wird, ist jedoch nicht der Niedergang der Hegelschen Philosophie, der bald nach dessen Tode das 19. Jahrhundert bestimmte, sondern die abendländische Philosophiegeschichte als Ganzes, deren Anfänge Dilthey in der vorsokratischen Spekulation findet und deren Höhepunkte für ihn durch Platon und Aristoteles gebildet werden. Diltheys Grunderkenntnis besteht darin, daß die Zersetzung der Metaphysik in Skeptizismus mündet. Diese Einsicht bildet auch die Voraussetzung seiner späteren Schriften. Um der skeptizistischen Konsequenz zu wehren, bedarf es eines Neuanfanges, der in seiner ausgearbeiteten Fassung den Titel einer „Grundlegung der Geisteswissenschaften“ führt, in seiner reifen, von Dilthey aber nicht mehr vollendeten Form eine „Kritik der historischen Vernunft“ darstellen sollte. Der Zusammenhang mit der Zeichentheorie läßt sich recht gut an der Schrift ablesen, die als Diltheys Hauptwerk gelten kann. In dem Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910 ⫽ 71979 ⫽ Gesammelte Schriften, Bd. 7) werden „Erleben“, „Ausdruck“ und „Verstehen“ als Grundbegriffe aufgefaßt. Das Verfahren hatte Dilthey zuvor am Modell des künstlerischen Selbstausdrucks entwickelt, hier aber zielt er auf den universalhistorischen Zusammenhang und entfaltet die Hermeneutik als ein Instrument der Selbsterkenntnis der Menschheit. „Das Verstehen und Deuten ist die Methode, welche die Geisteswissenschaften erfüllt. Alle Funktionen vereinigen sich in ihm. Es enthält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich. An jedem Punkt öffnet das Verstehen eine Welt“ (Dilthey 1910 ⫽ 71979, 205). Gegenstand dieser Operationen ist der Lebenszusammenhang als Ganzes. Wenn man zu sagen pflegt, Dilthey entnehme die Grundlagen seiner Theorie der Psychologie,
6.
Die Hermeneutik Diltheys
Die Hermeneutik ist als eine Kunst der Auslegung der Bibel theologischen Ursprungs. Im Zusammenhang dieser Betrachtung ver-
1524 so muß man einschränkend hinzufügen, daß in der systematischen Akzentuierung von Struktur und Totalität des seelischen Lebens ein Grundzug der Objektivität eingeschlossen ist. Und tatsächlich faßt Dilthey seine Hermeneutik so auf, daß der qualitativen Eigenart der intellektuellen Operationen Strukturtypen des objektiven Geistes gegenüberstehen. Man muß das elementare Verstehen vorsichtig vom kausalen Schließen abrücken. Wenn man z. B. eine Gebärde als „Ausdruck“ des Schreckens versteht, so bilden doch beide Momente eine Einheit. Eine Lebensäußerung steht im „Grundverhältnis“ des „Ausdrucks“ zum „Geistigen“ (1910 ⫽ 71979, 208). Überschreitet das Verstehen aber den individuellen Lebenskreis, um sich auf umfassendere Zusammenhänge zu richten, so kann fraglich werden, ob das Geistige, das im Mittelpunkt der Lebensäußerungen steht und auf das sie zurückverweisen, adäquat bestimmt wurde. Der Erkenntniswert der höheren Formen des Verstehens hängt daher von der Beteiligung von Analogie-, Induktions- und Kausalschlüssen ab. In diesem Zusammenhang würdigt Dilthey auch den psychologischen Grundbestandteil des Verstehens (Dilthey 1910 ⫽ 71979, 213⫺ 216); besonders treffend wird die dramatischpartizipative Komponente geschildert, die vielen Akten des Verstehens eignet und auf den Zusammenhang von Ausdrucks-, Handlungs- und Aussageverstehen hinweist. Die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik aber besteht in der Erschließung „der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philologie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik“ (Dilthey 1910 ⫽ 71979, 217). Der Hervorhebung der Philologie entsprechend, ist der Text der repräsentative hermeneutische Interpretationsgegenstand. In seinen reifen Werken hat Dilthey alle Probleme charakterisiert, die später von seinen Nachfolgern abgewandelt wurden und zum großen Teil ihre Lösungen vorweggenommen, allerdings ohne ihnen stets die nötige prinzipielle Schärfe zu geben (vgl. Art. 31 § 1.). Eine systematische Verwendung des Zeichenbegriffs findet man bei Dilthey nicht vor; die Probleme, die heute unbedenklich auf den Zeichenbegriff als theoretische Mitte bezogen werden, besonders Fragestellungen der Wahrnehmungs- und Denkpsychologie sowie der Handlungslehre, werden von ihm noch nicht semiotisch artikuliert. Wohl aber erfahren die hermeneutischen Erkenntnislei-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
stungen eine spezifische Kennzeichnung, je nachdem sie sich auf Personen, Handlungen, Werke oder textliche Gebilde beziehen. Daher kann Dilthey für eine semiotisch inspirierte Hermeneutik unverändert Aktualität beanspruchen. ⫺ Eine Darstellung der Intentionen, die Dilthey zuletzt verfolgte, gibt Lessing (1983). Während Diltheys Schüler seine Gedankengänge in dessen Tradition fortsetzten, nahm die Hermeneutik mit Heideggers Sein und Zeit (1927 ⫽ Gesamtausgabe, I. Abt., 2. Bd., 1977) alsbald eine spektakuläre Wende. Hinzuweisen ist auch auf die systematischen Untersuchungen Gadamers (Wahrheit und Methode, 1960 ⫽ Gesammelte Werke, Bd. 1, 1986).
7.
Sprachphilosophie vor dem Hintergrund der Zeichentheorie
Es gibt einige Gemeinsamkeiten, welche, wenn nicht alle, so doch die meisten der im folgenden Abschnitt zu behandelnden Autoren untereinander verbinden. Ich stelle diese Momente zunächst einheitlich heraus, da sie auch eine gewisse Tragweite für die Einschätzung des Sachstandes der Zeichentheorie der Jahrhundertwende besitzen. Ungeachtet der Modernisierungsleistung, die insbesondere von Husserl, Meinong (1853⫺1920) und Külpe (1862⫺1915), nächst ihnen auch von Marty und Gomperz (1873⫺1942) erbracht wurde, gibt es in ihren Werken traditionelle Residuen. So bedienen sich die meisten Zeichentheoretiker der alten aristotelischen Unterscheidung der Synkategorematika und der Kategorematika (⫽ unselbständige vs. selbständige Zeichen bzw. Bedeutungen), deren Wert von jeher dadurch beeinträchtigt wird, daß es an einem Kriterium der Ergänzungsbedürftigkeit der Bedeutungen fehlt. Großer Beliebtheit erfreut sich weiterhin die Suppositionslehre, eine besonders im Mittelalter gepflegte Theorie der Bezeichnungs- und Bedeutungsweisen (vgl. Art. 49 § 12. und Art. 52 § 3.). Ja, in einigen Fällen kann man den Nachweis führen, daß die Zeichenmodelle überhaupt aus der Suppositionslogik deriviert sind. Damit erweist sich der Analyseansatz dann u. U. als problematisch, weil er entweder zirkulär ausfällt oder doch nicht zur empirisch-realen Zerlegung des Zeichens führt. Vom Standpunkt der modernen Semiotik z. B. Morrisscher Prägung (vgl. Art. 113) befindet man sich daher auch hier noch in einem Vorstadium der Theoriebildung. Dennoch gibt es eine überraschende Konvergenz
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auch im Ergebnis: Sie besteht in der übereinstimmenden Hervorhebung des konventionellen Zeichens gegenüber dem natürlichen Zeichen oder Anzeichen; der Erkenntniswert dieses Resultats wird auch durch etwaige Begründungsmängel nicht entscheidend tangiert.
tet; an diesem Punkte will ich die phänomenologische Analyse des Zeichens verlassen. Fortgesetzt werden diese Gedankengänge in gewisser Weise mit der Erörterung der Idee einer allgemeinen und rationalen Grammatik; man findet sie in der 4. „Logischen Untersuchung“ (§§ 1⫺14). Präzisiert wird nunmehr der zuvor geklärte Begriff der gegenständlichen Bedeutung; Husserl hofft, die Betrachtungen über die Ganzen und die Teile für die Abhebung der synkategorematischen und der kategorematischen Bedeutungen ausschöpfen zu können. Er unterscheidet daher „einfache“ und „zusammengesetzte“, „selbständige“ und „unselbständige“ Bedeutungen. Auffallend ist, daß der Unterschied in der Bedeutungssphäre selbst verankert wird, also hinter den sprachlichen Ausdruck zurückgreift (§§ 1⫺5). Um die Zusammensetzung der Bedeutungen zu erklären, versucht Husserl die „Gesetze“ der „Komplexion“ und der „Modifikation“ zu ergründen (§§ 10⫺14). Durch die Trennung des „Widersinns“ vom „Unsinn“ gelangt er dazu, die Existenz von zwei Schichten im Aufbau der allgemeinen und rationalen Grammatik zu vermuten, denen ein engerer und ein weiterer Begriff des „Analytischen“ entsprechen sollen. Eine „Formenlehre der Bedeutungen“ ist nach Husserl möglich und notwendig, weil die Phänomenologie die Existenz „sachhaltiger letzter Bedeutungskerne“ ergibt (§ 14). Zum Begriff der logischen Form vgl. § 7.6. sowie Art. 102 und Art. 109. Das hier betrachtete Werk hat 1901 seine erste Auflage (A), 1913 seine zweite Auflage (B) erlebt. Hiervon wird für die meisten wissenschaftlichen Zwecke heute B benutzt. In beiden Fassungen beruft sich Husserl vereinzelt auf Humboldt, vielleicht, weil er dessen im 19. Jahrhundert am meisten beachtetes sprachphilosophisches Theorem, die Identität von Sprache und Denken, durch seine Konzeption der allgemeinen und rationalen Grammatik bestätigt sieht. ⫺ Eine inzwischen klassische Darstellung der Husserlschen Sprachphilosophie stammt von Mohanty (1964); vgl. auch Art. 70 § 12. und Art. 103 § 2.
7.1. Husserl Edmund Husserl bemüht sich in seinen frühen Schriften zur Logik und Zeichentheorie zunächst um eine Überwindung des Psychologismus, dem er selbst als Theoretiker der Arithmetik eine Zeitlang nahegestanden hatte. Seine aus der Wesensschau gewonnene Auffassung der Struktur des sprachlichen Zeichens findet man in der 1. „Logischen Untersuchung“, die ⫺ auf die „Prolegomena“ folgend ⫺ den Auftakt zu den Betrachtungen des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen bildet (⫽ Husserliana XIX, 1, 1. Kap. §§ 1⫺16). Husserl unterscheidet „Anzeichen“ und „Ausdrücke“. Das „Bedeuten“ ist nur mit den Ausdrücken verknüpft, während die Anzeichen bevorzugt mit der „Ideenassoziation“ in Verbindung gebracht werden. Alle Ausdrücke haben eine einheitliche Struktur, an der eine physische und eine psychische Seite auseinandergehalten werden müssen. Naheliegend, aber doch irrig ist es, die „Bedeutung“ mit diesem „Belauf von psychischen Erlebnissen“ zu identifizieren (§ 6). Auch im folgenden ergibt Husserls phänomenologische Besinnung Distinktionen, die in eine Zeichentypologie umgesetzt werden können. Die Ausdrücke lassen sich nämlich wiederum einteilen, je nachdem sie „in kommunikativer Funktion“ oder „im einsamen Seelenleben“ auftreten (§§ 7 und 8). Höhepunkt der Analyse ist die Sondierung der Bedeutung (§§ 9⫺13). Alle Ausdrücke empfangen ihre Bedeutung durch „sinngebende“ und „sinnerfüllende“ Akte (§ 9). Bedeutung ist aber nicht nur als „Akt“, sondern sekundär auch als „Gegenständlichkeit“ zu verstehen, und diese beiden Aspekte korrelieren miteinander. Husserl will den „Inhalt“ eines Ausdrucks im „subjektiven Sinn“ vom „Inhalt“ im „objektiven Sinn“ geschieden wissen. Die weiteren Unterscheidungen berühren nun nur noch den objektiven Inhalt. Dieser wiederum kann Husserl zufolge interpretiert werden als „intendierender Sinn, Bedeutung schlechthin“, als „erfüllender Sinn“ und als „Gegenstand“. Dieses vorläufige Fazit zieht Husserl in § 14, bevor er die Besprechung einiger möglicher Einwände einschal-
7.2. Meinong Andere Wege ist Alexius Meinong gegangen, wie Husserl aus der Schule Brentanos (1838⫺ 1917) stammend. Dieser Autor gibt keine Strukturanalyse des Zeichens, vielmehr knüpfen seine Bestimmungen an die Funktion an. Meinong bemüht sich, ähnlich wie Husserl,
1526 um eine phänomenologische Aufklärung des Verhältnisses von „Ausdruck“ und „Bedeutung“, gelangt aber zu ganz eigenständigen Ergebnissen. Ausgangspunkt ist eine Analyse der „charakteristischen Leistungen des Satzes“ (Meinong 1902 ⫽ 1977, Kap. II). Untersucht werden die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man den Satz traditionell als „Urteilsausdruck“ bestimmt (§ 5). Die Entdeckung, daß es, wie beim Wort, so auch beim Satz, eine Bedeutung gibt, führt zur Einbeziehung der „Annahmen“ und der „Objektive“ in die Sprachanalyse. Diese Begriffe spielen bei Meinong auch in anderem Zusammenhang eine Rolle, z. B. in seiner Gegenstandstheorie (vgl. § 7.6. und Art. 74 § 13.). Annahmen sind gewissermaßen überzeugungsfrei, man stößt auf sie, wenn man die „Lüge“ oder das wesensverwandte Phänomen der „Kunst“ untersucht. Meinongs Betrachtungsweise hat viele Vorzüge, so wahrt sie z. B. die Nähe zu Psychologie und Ästhetik (siehe Günther 1987). Wie das an den Beginn dieses Abschnitts gesetzte Werk Husserls, so haben auch Meinongs „Annahmen“ zwei Fassungen (1902 und 1910) erfahren; die zweite Fassung ist erheblich verändert und erweitert; vgl. hierzu das Vorwort von Haller zur Neuausgabe (1977) der zweiten Fassung. Meinong hat schon zu Lebzeiten (vgl. die Biographie von Dölling 1997) erheblich auf die Entstehung der modernen Logik eingewirkt, so z. B. auf Russell (Simons 1988). Unter den Sprachtheoretikern hat sich Bühler auf ihn berufen, der in seinem Ansatz über eine Leistungsanalyse des Satzes einen Vorläufer seiner eigenen Konzeption erblickt hat (vgl. § 10. und Art. 112). 7.3. Marty Anton Marty besitzt keine so detaillierte Zeichentheorie wie sein großer Gegenspieler Husserl. Auf das Zeichen im allgemeinen sind nur die knappen Ausführungen über „Ausdruck“ und „Bedeutung“ sowie die „primäre“ und die „sekundäre“ „Intention“ beim Sprechen bezogen (Marty 1908, 280⫺287 sowie 532⫺541). Er legt der Klassifikation der „kategorematischen“ bzw. „autosemantischen“ Sprachmittel eine Einteilung der psychischen Phänomene in „Vorstellen“, „Urteilen“ und „Interessenehmen“ zugrunde. Diesen Funktionen sollen die „Namen“, allgemeiner: die „Vorstellungssuggestive“, sowie die „Aussagen“ und die „interesseheischenden Äußerungen“ oder „Emotive“ entsprechen (Marty 1908, 226⫺489). Wie bereits
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
die Terminologie unter Beweis stellt, folgt Marty der erkennbaren Zweckmäßigkeit der Sprachmittel im Beziehungsgefüge von Sprecher und Hörer; er bleibt daher an der Schwelle zu einer Formenlehre der Bedeutungen im Sinne Husserls stehen. Anders als dieser versucht er, den Gegensatz der „Autosemantika“ und „Synsemantika“ (so seine Terminologie) sprachgeschichtlich abzuleiten. Ihm zufolge sind die synsemantischen Ausdrücke aus den autosemantischen durch Vermittlung der inneren Sprachform entsprungen. Diese Konzeption verspricht reichen Aufschluß über eine Fülle linguistischer Einzelprobleme; sie macht etwa verständlich, warum ein Nebensatz als grammatisches Subjekt fungieren kann oder wie die Arten des Pronomens untereinander zusammenhängen. Martys Hauptwerk ist bedauerlicherweise arm an empirischer Konkretisierung, für seine kleineren Veröffentlichungen gilt dies jedoch nicht. Der Parallelismus von Sprache und Denken wird gegenüber Husserl durch die Anerkennung nicht logisch begründbarer Synsemantien aufgelockert (Marty 1908, 536⫺540). ⫺ Das neu erwachte Interesse an Marty wird durch Mulligan (1990) dokumentiert; dort auch eine Zusammenstellung der Literatur über diesen Autor (vgl. auch Art. 103 § 1.). 7.4. Gomperz Bei Heinrich Gomperz beginnt sich die Zeichentheorie tendenziell zu verselbständigen. Er versteht seine „Semasiologie“ (Zeichenlehre) als Einleitung zu einer „Noologie“ (Denklehre). Selbst wenn Gomperz sein Hauptwerk jemals fertiggestellt hätte, wäre die Reihenfolge, in der die Systembestandteile präsentiert werden sollten, doch höchst bedenkenswert geblieben. Wie für Marty, so ist auch für ihn ein enger Bezug auf das Vorbild Husserls gegeben; auch er differiert jedoch in Einzelheiten. Das Zeichenmodell selbst aber ist nahezu identisch. Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als Gomperz sich im Unterschied zu Husserl nicht der Wesensschau bedient, sondern der ausführlichen begriffsgeschichtlichen Erörterung. Aufschlußreich ist die doppelte Wendung gegen Humboldts Konzeption der inneren Sprachform einerseits, die Idee einer allgemeinen und rationalen Grammatik andererseits: Ist die erste Konzeption zu vage, so muß die andere nahezu unvermeidlich gewisse kontingente Züge der Einzelsprachen verallgemeinern (Gomperz 1908, 59/60 A 1). Aus dem
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sich abzeichnenden Dilemma sucht der Autor wie folgt einen Ausweg: Man hat doch seit den Zeiten der Scholastik (vgl. Art. 49 § 12. und Art. 52 § 3.) verschiedene „Suppositionen“ des sprachlichen Zeichens unterschieden. Steht z. B. das Wort „Vogel“ in der „suppositio formalis“, so hat es seine sprachübliche „Bedeutung“, d. h. es „repräsentiert“ den „Begriff“ oder die „Sache“ Vogel. In der „suppositio materialis“ hingegen „repräsentiert“ es sich selbst, d. h. eine Reihe von Schällen oder Graphitanhäufungen auf dem Papier. Verfeinert man diese Betrachtungsweise, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß das sprachliche Zeichen aus fünf „Aussageelementen“ und vier sie integrierenden „Relationen“ bestehe. Die Elemente werden gebildet durch die „Aussagelaute“, die „Aussagegrundlage“, den „Aussageinhalt“, die „Aussage“ im engeren Sinn und den „Sachverhalt“. Als Relationen findet man: „Ausdruck“, „Auffassung“, „Bezeichnung“ und „Bedeutung“. Diese Analyse kann an jedem sprachlichen Material abgelesen werden und ist daher allgemeingültig (Gomperz 1908, 77). Einige Berührungspunkte mit modernen Auffassungen verdienen ausdrücklich festgehalten zu werden: Gomperz greift in einem wesentlichen Punkt den Erkenntnissen der Strukturalisten vor, wenn er an der „Bedeutung“ noch „Form“ und „Inhalt“ unterscheidet und so zur Ausschaltung eines Grenzbegriffs, der „semasiologischen Materie“, gelangt (Gomperz 1908, § 45). Versagt geblieben ist ihm andererseits die Übertragung des gleichen Gedankens auf die lautlich-materielle Seite der Sprache; diese integrale Konzeption findet sich erst bei den Strukturalisten. Ob ein historischer Einfluß auf diese vorliegt, wie manchmal behauptet wird, kann vielleicht nicht sicher entschieden werden. Daß der Unterschied von Bezeichnung und Bedeutung suppositionstheoretisch formuliert werden kann, erlaubt es, den Anteil der Sprache an der erkenntnismäßigen Ausgestaltung der Welt anzugeben. Man kann mit Henckmann (1988, 392) von einem „Inkorporationsverhältnis“ sprechen, das im Falle der Sätze auf eine wohlbekannte These, die Sprachlichkeit der Tatsachen, hinausläuft. Damit existiert neben der inneren Sprachform und neben den Bild-Semantiken, die im Gefolge des frühen Wittgenstein untersucht werden, eine weitere theoretische Aussageweise für die Sprachabhängigkeit des Weltbildes.
Gomperz ist ohne nachhaltige wirkungsgeschichtliche Resonanz geblieben, hat aber einige Zeitgenossen unmittelbar beeinflußt. So findet sich ein Hinweis bei Külpe (1912⫺ 1923, Bd. 1, 15). Dittrich (1913) stützt seine Sprachpsychologie zeitweilig ganz auf dieses Vorbild; durch ihn lernen Ogden und Richards (1923 ⫽ 101956, 274⫺277) Gomperz’ Werk kennen; sie stellen es ⫺ vielleicht etwas großzügig ⫺ auf eine Stufe mit Peirce, Frege, Husserl und Russell. Ähnlich emphatisch äußert sich Bühler (1934, 1). ⫺ Gomperz löste sich später von der engen Beziehung auf Husserl, er sah vorübergehend in Cassirers symboltheoretischem Konzept eine verwandte Bestrebung, um ⫺ vor allem nach der Emigration ⫺ in die Nachbarschaft des Wiener Kreises und des behavioristischen Pragmatismus von Morris zu gelangen. Eine Schilderung dieses „Denkweges“ gibt Kiesow (1990 a). 7.5. Külpe Wieder andere Motive verfolgt Oswald Külpe, dessen Hauptwerk (in Anspielung auf und in Ergänzung von Kants Kritik der reinen Vernunft) eine Untersuchung der „empirischen Vernunft“ werden sollte: Die Realisierung. Ein Beitrag zur Grundlegung der Realwissenschaften (Bd. 1⫺3, 1912⫺1923). Das unvollendet gebliebene, mit Ausnahme des 1. Bandes posthum von Messer edierte Werk betrachtet am Vorbild der Realwissenschaften die verschiedenen Weisen, Reales zu setzen. Külpe gibt die folgende provisorische Übersicht über die Arten der Realisierung, deren Interesse sich nicht zuletzt daraus ergibt, daß die Realwissenschaften gegenüber den formalen Disziplinen deutlich aufgewertet werden und daß der Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften, damals eine durchgängig akzeptierte Voraussetzung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, durch sie sachgemäß relativiert wird. „Realisierung“ kann nach Külpe geschehen, „1. durch unmittelbare Beobachtung von empirisch Gegebenem […], 2. durch Folgerungen aus Beobachtungen, 3. durch symbolische Hinweise auf Beobachtetes und Erfahrenes, 4. durch Folgerungen aus realistischen Bestimmungen, 5. durch Kombination realistischer Bestimmungen“ (Külpe 1912⫺ 1923, Bd. 3, 197). Den Zeichentheoretiker wird vor allem interessieren, daß Külpe sich genötigt sieht, die besonders voraussetzungsvolle dritte Realisierungsweise im Laufe der Untersuchungen auszusondern und an den
1528 Schluß zu rücken (Külpe 1912⫺1923, Bd. 3, 309⫺336). Vielleicht aber hätte er aus der vorgefundenen Situation auch den Schluß ziehen können, die symbolische Natur der Setzungsweisen zur Grundlage zu machen, d. h. an den Anfang zu stellen. Külpe betont den Gegensatz der „konventionellen“ und der „natürlichen“ Zeichen; er glaubt sich auf die erste Gruppe konzentrieren zu dürfen, weil sich nur hier die Aufgabe der „Deutung“ im spezifischen Sinne stellt (Külpe 1912⫺1923, Bd. 3, 321⫺24). Man muß bedauern, daß die von Külpe in seinem Hauptwerk durchgeführte definitorische Kennzeichnung des konventionellen Zeichens entweder negativ oder tautologisch ist; dieser Mangel kontrastiert eigenartig mit der Reichhaltigkeit und Genauigkeit der durchgeführten Einzelanalysen. Übrigens figuriert das Zeichen im eigentlichen Sinne, d. h. das konventionelle Zeichen, für Külpe noch in einem anderen Zusammenhang: Er unterscheidet nämlich „Zeichen“, „Begriffe“ und „Objekte“ (Vorlesungen über Logik, 1923, Kap. III, § 17). Es kompliziert sich also eine Zeichentypologie mit einer gegenstandstheoretischen Einteilung (vgl. § 7.6.). Dahinter verbirgt sich zumindest ein semiotisch gehaltvolles Ergebnis: Die Zeichenstruktur darf nicht einseitig vom begrifflichen Inhalt her gesehen, darf nicht logisiert werden. Im übrigen entwickelt Külpe eine Phänomenologie der „Bedeutung“, deren Hauptvarianten die „begriffliche“ oder „logische“ und die „objektive“ oder „sachliche“ Bedeutung sind (Külpe 1923, Kap. III). Auch eine zweite Neuerung entstammt Külpes Untersuchungen: Er stellt Bedingungen für den Begriff der „Darstellung“ auf, indem er die „Gegenstände“ von den „Darstellungsmitteln“ unterscheidet und die Existenz einer gesetzmäßigen, d. h. für ihn: konventionellen Verknüpfung beider Bereiche herausstellt (Külpe 1923, 8 f). Damit wird die Logik zu einer Teildisziplin der Semiotik. Diese Bestimmung der Logik als allgemeiner Darstellungstheorie gewinnt später auch für Bühler systematische Relevanz, der sich in diesem Punkte explizit auf Külpe stützt. Man kann hierin einen ersten Ansatzpunkt für eine vergleichende Taxonomie der „symbolischen Formen“ (Cassirer, Langer) oder der „Darstellungsgeräte“ (Bühler) erblicken (vgl. §§ 9. und 10.). Allerdings bleibt Külpes Bestimmung der Logik in gewisser Weise zwiespältig, weil hier nicht mit Bestimmtheit zu entnehmen ist, ob die Logik selbst als universel-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
les Darstellungsinstrument intendiert ist oder lediglich als (wie man heute sagen würde) Metatheorie der Darstellungssysteme dienen soll. Külpe hat der Zeichentheorie viele Anhaltspunkte zu bieten. So unterscheidet er expressis verbis „Zeichengeber“ und „Zeichenempfänger“; dabei ist nicht an ein reines Bewußtsein im Sinne der Husserlschen Phänomenologie gedacht, sondern an empirischreale Subjekte in konkreten „Verhaltens“-Situationen. So vergleicht Henckmann (1985, 85) ihn insoweit mit Morris ⫺ ein Hinweis, der Külpes Aktualität unterstreicht. 7.6. Martinak, Gätschenberger, Erdmann Eduard Martinaks (1859⫺1943) kleine Schrift Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre (1901) hat nicht den Nachruhm der im voranstehenden Text behandelten Werke erlangt. Dennoch hat sie auf nahezu alle mit zeichentheoretischen Problemen befaßten Denker dieses Zeitabschnitts eingewirkt. Er wird z. B. erwähnt von Meinong (1902 ⫽ 1977, 16 f), Marty (1908, 491 A 1, 492 A 1), Gomperz (1908, 139) und Külpe (1912⫺1923, Bd. 3, 322 f). Der Grund hierfür scheint offenkundig: Diese Autoren hoffen, psychologische Analysen im Stile Martinaks mit phänomenologischen Betrachtungen im Sinne Husserls vereinbaren zu können. Solchen Bestrebungen hat die weitere Entwicklung jedoch zunächst den Boden entzogen. Richard Gätschenberger (1865⫺1936) legt Grundzüge einer Psychologie des Zeichens (1901) vor; auf ihn verweist außer seinem akademischen Lehrer Külpe (1912⫺1923, Bd. 3, 321) auch Meinong (1902 ⫽ 1977, 16). Gätschenbergers spätere Untersuchungen führen ihn in die Nähe des Wiener Kreises, dessen Sprachkritik jedoch an Schärfe weit überboten wird. ⫺ Karl Otto Erdmanns (1851⫺1921) Schrift Die Bedeutung des Wortes (1900 ⫽ 31922) betont im Gegenzug zur logischen Grammatik den „Gefühlswert“ der Wörter: Auf ihn nehmen Ogden und Richards (1923 ⫽ 101956, ix) Bezug. Einige Anmerkungen zu tragenden Begriffen des vorangegangenen Abschnitts sollen hier nachgetragen werden. Husserls „Formenlehre der Bedeutungen“ kann als ein erster Klärungsversuch für den Begriff der „logischen Form“ angesehen werden. Er gehört dann in einen historischen und sachlichen Zusammenhang mit den Untersuchungen von Peirce, Frege, Russell, Wittgenstein, Carnap, Church, Curry, Quine ⫺ um nur einige Autoren zu nennen, die am Aufbau der modernen Logik betei-
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1529
ligt waren oder sind (vgl. Art. 76 und Art. 106). Und tatsächlich gibt es einige Wechselwirkungen: So stellt Ajdukiewicz (1934: 103) bereits früh eine Verbindung zwischen Husserl und der WarschauLemberger Schule der Logik her. Tarski (1933 ⫽ 2 1983, 215) führt den Begriff der semantischen Kategorie auf Husserl zurück. Husserls Entwurf einer logischen Grammatik wird andererseits von BarHillel (1957 ⫽ 1970, 89⫺97) als Bestätigung für Carnaps Konzeption der logischen Syntax und Semantik aufgefaßt. Dennoch ist der Begriff der logischen Form bis heute nicht umfassend geklärt. Hierzu mögen zwei Versäumnisse beigetragen haben: Zumeist haben sich die Logiker (mit Ausnahme von Peirce!) zunächst wenig um den grundlegenden Begriff des Zeichens selbst gekümmert. Sodann wurden die Erkenntnisse der Strukturalisten verspätet rezipiert, so daß es ⫺ besonders im Gefolge der frühen Arbeiten Carnaps ⫺ zu einer Verwischung der zeichentheoretischen Grundlagen der Logik kam. ⫺ Eine Definition des Begriffs „Gegenstandstheorie“ kann hier nicht versucht werden, da er von den Autoren in nicht einheitlichem Sinne gebraucht wird. Vielleicht kann man sagen, daß eine Gegenstandstheorie die allgemeinen Strukturgesetze von Gegenständen untersucht, auch von nur möglichen oder sogar in gewissem Sinne unmöglichen Gegenständen. Darum haben zeitgenössische Kritiker in ihr eine Rückkehr zur Leibniz-Wolffschen Ontologie sehen wollen, doch ist dieser Vergleich nicht ganz gerechtfertigt, denn der Horizont der Gegenstandstheorie ist noch weiter gespannt. ⫺ Der Begriff des „Objektivs“ geht über Meinong sachlich und entstehungsgeschichtlich auf Twardowski (1866⫺1938; vgl. 1894 ⫽ 1982) zurück. Soweit die in § 7. besprochenen Zusammenhänge betroffen sind, kann man die Objektive am ehesten als „Aussageinhalte“ oder „Propositionen“ bezeichnen (vgl. Art. 74 § 13.).
sprachen als Abwandlungen oder Besonderungsformen eines hypothetischen universellen Musters auffassen.
8.
Der linguistische Strukturalismus
Der Strukturalismus in der Sprachwissenschaft hat zahlreiche Schulen hervorgebracht: Zu unterscheiden sind u. a. der Genfer (vgl. Art. 101), der Prager (vgl. Art. 115), der Kopenhagener (vgl. Art. 117) und der amerikanische Strukturalismus. Dieses Bild könnte erheblich verfeinert werden; doch soll die vorstehende Einteilung genügen. Der Strukturalismus zielt in allen seinen Versionen auf das Allgemeingültige an der Sprachstruktur. Von dieser Feststellung ist nur der amerikanische Strukturalismus auszunehmen, der, eng mit der ethnolinguistischen Feldforschung verbunden, mehr an dem Verhalten des Zeichenverwenders als an der Konstituierung eines einheitlichen Zeichenmodells interessiert ist (vgl. Art. 79 § 2.3.). Ein konsequent durchgeführter Strukturalismus müßte die Einzel-
8.1. Saussure Ferdinand de Saussures (1857⫺1913) Cours de linguistique ge´ne´rale (1916 ⫽ 1984) ist posthum von seinen Schülern Bally und Sechehaye aus Vorlesungsmitschriften publiziert worden. Die im Jahr 1931 von H. Lommel vorgenommene Übersetzung des Werks in das Deutsche hat einen bis heute andauernden Disput über die theoretische Äquivalenz der französischen und der deutschen Termini hervorgerufen, so daß sich die folgende Kommentierung ⫺ abweichend von der in diesem Artikel sonst geübten Praxis ⫺ auf das französische Original bezieht und dementsprechend die Originalausdrücke neben den deutschen Entsprechungen in Klammern vermerkt sind. Saussure strebt eine methodische Formgebung seiner Wissenschaft an, in der die Selbständigkeit der Linguistik gegenüber Grammatik und Philologie, genauer: gegenüber der grammatischen und der philologischen Phase in der Vorgeschichte des Faches deutlich in Erscheinung tritt. Ein Hauptverdienst des frühen Strukturalismus besteht in der Erkenntnis, daß nicht alle Analyseebenen der Sprache durch den Zeichenbegriff erschließbar sind. Diese Erkenntnis ergibt sich bei Saussure aus der Affinität der Linguistik zur Soziologie. Damit deutet sich erstmals ein Problem an, das auch gegenwärtig noch als ungelöst gelten muß. Geht man nämlich mit der traditionellen Definitionslehre davon aus, daß jeder Gegenstand durch die Angabe eines Oberbegriffs sowie eines oder mehrerer Abgrenzungsmerkmale („genus proximum“ und „differentia specifica“) beschrieben werden kann, so erhebt sich die Frage, wie der zu definierende Begriff der Sprache von dem übergeordneten Zeichenbegriff unterschieden werden soll. Wie aber läßt sich die Beschreibung der Sprache als soziale Tatsache mit ihrer Kennzeichnung als Zeichensystem vereinbaren? Wenn die „Semiologie“ dennoch Grundlage der Sprachwissenschaft sein soll, so muß innerhalb der Sprache im unspezifischen Sinne, d. h. des „langage“, die „langue“ als der eigentlich zeichentheoretisch strukturierbare Bestandteil des Untersuchungsgesamts von der „parole“ als der konkreten Sprechtätigkeit gesondert werden (Cours; 1916, 23⫺39). Saussure unterscheidet einen „synchronen“ und einen „diachronen“ Teil der Sprachwissenschaft sowie
1530 eine „statische“ und eine „evolutive“ Betrachtungsweise. Durchgehend versucht er außerdem, „konkrete“ und „abstrakte“ sowie „externe“ und „interne“ Tatsachen zu trennen. Diese das Werk im ganzen gliedernden Distinktionen, welche die in seinem Mittelpunkt stehende Wertlehre als wichtigsten Lehrbestandteil erkennen lassen, sind untereinander teilweise lediglich sinnverwandt, teilweise auch bestehen zwischen ihnen Beziehungen von logischer Strenge; der wohl wichtigste Zusammenhang besteht darin, daß spezifisch zeichentheoretische Überlegungen obligatorisch an die synchrone Untersuchungsperspektive gebunden sind. Das „Zeichen“ („signe“) ist aus den Bestandteilen der „Vorstellung“ („concept“) und des „Lautbildes“ („image acoustique“) zusammengesetzt; diese Komponenten nennt Saussure auch „Bezeichnetes“ („signife´“) und „Bezeichnendes“ („signifiant“). Für den so verstandenen Zeichenbegriff gelten die Grundsätze der „Beliebigkeit“ („l’arbitraire du signe“) und der „Linearität“ („caracte`re line´aire du signifiant“) (Cours 97⫺103). Diskutiert wird von der strukturalistischen Linguistik allerdings in der Regel nicht das vereinzelte Zeichen, sondern vorzugsweise das System der Zeichen. Im strengen Sinne kann überhaupt erst in Beziehung auf dieses System von Zeichen die Rede sein. Um die systematische Interdependenz der Zeichen zu beschreiben, stützt sich der Autor auf einen weiteren Begriff, den „sprachlichen Wert“ („valeur linguistique“) (Cours 155⫺169). Das System dieser Werte wird lediglich durch die Tatsache ihrer wechselseitigen Verschiedenheit geordnet, so daß es auf den Wertträger nicht ankommt. Jedes Element kann nun von zwei Seiten betrachtet werden, der vorstellungsmäßigen und der lautlichen; beide Betrachtungsweisen aber ergeben übereinstimmend, daß diese Seiten unauflöslich miteinander verbunden sind. Wenn dieser Gedankengang zu zeigen scheint, daß das System der sprachlichen Werte vollkommen autonom ist und von ausschließlich immanenten Beziehungen beherrscht wird, so stellt sich jedoch die Frage nach möglichen Außenbezügen, die jedenfalls durch Saussures einleitende Bemerkungen nahegelegt wird (Cours 158⫺162). „Wert“ („valeur“) und „Bedeutung“ („signification“) sind daher voneinander zu trennen, scheinen sich aber gleichwohl eng aufeinander zu beziehen. Die das System der sprachlichen Werte beherrschenden Beziehungen werden von Saussure
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
näher als „syntagmatische“ („les rapports syntagmatiques“) und „assoziative“ („les rapports associatifs“) charakterisiert (Cours 170⫺175). Für die zuletzt genannten Relationen hat sich heute der Begriff „paradigmatische“ Beziehungen eingebürgert. Nur eine genaue Interpretation vermag zu zeigen, inwieweit die Differenzierung beider Achsen der Sprachstruktur noch in die synchrone Ebene fällt. Die strukturalistische Zeichenkonstitution setzt eine graduelle Einführung des Zeitfaktors in die Betrachtung voraus; die Zeitebene, in der sich die Linearität des Zeichens entfaltet, ist nicht als soziokulturelles Wirklichkeitsmerkmal zu interpretieren. ⫺ Weil sowohl die Lautmaterie als auch die Vorstellung nur in ihrer Berührung für das Zeichen maßgeblich werden, sagt Saussure, die Linguistik befasse sich nur mit der „Form“, nicht mit der „Substanz“ (Cours 155⫺158). Auf das Verhältnis von Sprache und Denken angewendet, ergibt diese Überlegung, daß Laut und Vorstellung ohne Sprache ganz „unbestimmt“ sind; erst das sprachliche Zeichen selbst ruft kraft seiner Konsistenz eine parallele Gliederung der substantiellen Elemente hervor. Auch die gedankliche Strukturierung der Erfahrungswirklichkeit ist daher für Saussure beliebig, d. h. nur einzelsprachlich bestimmt; denn die sprachlichen Werte haben objektiven Rückhalt nur an der Tatsache der sozialen Gemeinschaft. Die von Saussure angestrebte, konsequent dann von Hjelmslev durchgeführte theoretische Interpretation von Schlüsselbegriffen wie „Form“, „Inhalt“ und „Substanz“ ist eine im wesentlichen selbständige denkerische Leistung; sie sollte nicht verwechselt werden mit dem platonisierenden oder aristotelisierenden Gebrauch dieser oder ähnlicher Termini, der sich bei manchen Vorläufern des Strukturalismus findet (vgl. die Diskussion von v. d. Gabelentz, Marty und Gomperz in § 5. und § 7.). ⫺ Eine umfassende Darstellung der Saussureschen Semiologie mit Hinweisen auf weitere Literatur gibt Koerner (1985); siehe auch Art. 100. 8.2. Trubetzkoy und Jakobson Die Prager Schule ist besonders eng mit den Leistungen von Fürst Nikolai S. Trubetzkoy (1890⫺1938) und Roman Jakobson (1896⫺ 1982) verknüpft. Diesem Zweig des Strukturalismus gebührt das Verdienst, die Klärung des Phonembegriffs vorangetrieben zu haben. Ein frühes Stadium der Theoriebildung wird z. B. durch Trubetzkoys Aufsatz Zur allge-
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1531
meinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme verdeutlicht. Die methodische Differenz von Phonetik und Phonologie wird mit Nachdruck betont, aber noch ganz psychologisch gefaßt: „Im Gegensatz zur Phonetik, die eine Naturwissenschaft ist und sich mit den Lauten der menschlichen Rede befaßt, hat die Phonologie die Phoneme oder Lautvorstellungen der menschlichen Sprache zum Gegenstand und ist demnach ein Teil der Sprachwissenschaft“ (Trubetzkoy 1929, 39). Das ausgeführte System der Phonologie ist erst posthum erschienen (Grundzüge der Phonologie, 1939 ⫽ 71977). Der Sachstand phonologischer Forschung, der sich in den frühen Arbeiten dieses Autors spiegelt, hat im amerikanischen Strukturalismus eine gewisse Parallele (vgl. Sapir 1925, 1929, 1933b). Die Phoneme werden heute weitgehend objektiv, d. h. als Bündel distinktiver Merkmale gefaßt. Wie für das Zeichen überhaupt, so ist auch für das Phonem die grundlegende Feststellung in seiner Systemwertigkeit zu erblicken; hinzu tritt die Anerkennung der Verschiedenheit als grundlegender Ordnungsbeziehung. Für die Beschreibung der Zeichennatur der Phoneme hat sich ihre provisorische psychologische Kennzeichnung jedoch als hinderlich erwiesen. Gegen sie haben besonders Jakobson und Bühler Einspruch erhoben. Der Phonembegriff kann nämlich nur dann zeichentheoretisch expliziert werden, wenn auf die psychologische Kennzeichnung verzichtet wird. So erinnert Bühler an die moderne, von Gomperz herrührende Fassung des Prinzips „aliquid stat pro aliquo“ (vgl. § 7.4.) und charakterisiert die Phoneme unter Verwendung des von ihm begründeten Prinzips der „abstraktiven Relevanz“ als „natürliche Male […], woran im Lautstrom der Rede die semantisch entscheidenden Einheiten […] erkannt und auseinandergehalten werden“ (Bühler 1934, 42⫺45; Zitat S. 45). Ähnlich im Rahmen zweier Vorträge im „Cercle linguistique de Prague“ (vgl. Art. 112). ⫺ Weitgehende Übereinstimmung wird unter Beweis gestellt durch einen Aufsatz von Jakobson mit dem Titel „Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems“ (1939 ⫽ 1988, 139⫺181). Auch Jakobson stützt sich auf die scholastische Zeichenformel. Außerdem bietet die Untersuchung weitere Information über die verschiedenen strukturalistischen Schulen (zu Jakobson vgl. Art. 116).
stantiellen Elemente aus der Sprachanalyse, d. h. die Konzentration auf die „Ausdrucks-“ und die „Inhaltsform“, wird konsequent vorangetrieben und damit die terminologische Vermengung von Zeichen und Zeichenträger definitiv unmöglich gemacht. Hjelmslev kritisiert die Inkonsequenz Saussures, der die „Ausdrucks-“ und die „Inhaltsseite“ der Sprache zunächst getrennt habe, um anschließend die Unmöglichkeit dieser Auflösung unter Beweis zu stellen (Hjelmslev 1943 ⫽ 1974, 54). Man kann aber der Gedankenführung von Saussure nach Hjelmslev einen komparatistischen Aspekt abgewinnen, wenn man betrachtet, wie eine gegebene Einzelsprache einen „Sinn“ realisiert. Dabei ist festzustellen, daß eine „Sinnzone“ durch verschiedene Sprachen in je spezifischer Weise aufgegliedert zu werden pflegt; das betrifft z. B. die Abgrenzung von „Holz“ und „Wald“ im Dänischen, Englischen, Französischen und Deutschen. Diese auch empirisch gut belegte Tatsache kann man in der These aussprechen, daß das Erfahrungskontinuum entsprechend den lexikalischen und grammatischen Verhältnissen eine von Sprache zu Sprache etwas variierende Segmentierung erhält. Diese auch schon Saussure vertraute Erkenntnis wird nun jedoch von Hjelmslev so pointiert, daß die universalistische Tendenz der strukturalistischen Linguistik mit größerem Nachdruck als bei seinem Vorgänger zur Geltung gebracht wird: „Unter einer natürlichen Sprache versteht man eine Sprache, in die sich alle anderen Sprachen übersetzen lassen. […] In der natürlichen Sprache kann man sich […], wie Søren Kierkegaard gesagt hat, mit dem Unsagbaren beschäftigen, bis es ausgesagt ist; das ist der Vorzug der natürlichen Sprache und ihr Geheimnis“ (Hjelmslev 1963 ⫽ 1968, 125). In den systematischen Werken von Hjelmslev wird durchgehend das Bestreben spürbar, die strukturalistische Linguistik auf das Niveau einer axiomatisch-deduktiven Disziplin zu heben, d. h. aus einer begrenzten Anzahl von Grundbegriffen und Grundaussagen exakt herzuleiten. Ungeachtet der weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung mit der Linguistik Saussures nimmt daher die „Glossematik“ Hjelmslevs noch einmal ein anderes, ein algebraisches Gesicht an. Dabei scheint das Vorbild der stetigen Formalisierung eine Rolle gespielt zu haben, welches damals das philosophische Schrifttum zumal des Wiener Kreises zu prägen begann. ⫺ Eine
8.3. Hjelmslev Der strukturalistische Zeichenbegriff ist von Louis Hjelmslev (1899⫺1965) beträchtlich verfeinert worden. Die Ausschaltung der sub-
1532 ausführliche Bibliographie zur Glossematik, zusammengestellt von E. Barth, findet sich in Hjelmslev (1974); siehe auch Art. 117. 8.4. Bloomfield Der amerikanische Strukturalismus ist maßgeblich von Edward Sapir (1884⫺1939), Leonard Bloomfield (1887⫺1949) und Zellig S. Harris (1909⫺1992) geprägt worden. Der anti-mentalistischen Programmatik entsprechend, steht auch hier der Fragenkomplex der Phonologie im Vordergrund; daneben spielt die ethnolinguistische Feldforschung eine Rolle. In formaler Hinsicht wird die distributionalistische Methode bevorzugt, d. h. es werden Laute und Lautfolgen segmentiert und klassifiziert und ihr Verhalten in möglichen Umgebungen betrachtet. Will man in eine Theorie dieses Typs den Bedeutungsbegriff einführen, so muß eine phonetisch-phonologische Analyseebene schon zur Verfügung stehen. Bloomfield (1933 ⫽ 1984, 139⫺157) entwirft vor diesem Hintergrund eine (wie man sagen könnte) Situationstheorie der Sprache. Diese ist ungeachtet der Reserviertheit des Autors gegenüber mentalistischen Konzepten nicht durchaus „bedeutungsfrei“; sie betont aber, daß die Festlegung der sprachlichen Bedeutungen nicht von der Linguistik allein vorzunehmen ist. Der Sprachwissenschaftler muß vielmehr bereits über einen Grundbestand sprachlicher Bedeutungen verfügen, um feststellen zu können, was die Phonemfolgen einer natürlichen Sprache bedeuten. Die Aufgabenstellung des ethnolinguistischen Feldforschers, wie sie sich aus Bloomfields Überlegungen zu ergeben scheint, hat später eine kongeniale Stilisierung in Willard V. O. Quines (*1908) Konzept der „radikalen Übersetzung“ gefunden (Quine 1960, deutsch 1980, § 7). In diesem Ansatz spiegelt sich die Forschungslage des älteren Strukturalismus, in der die Aufarbeitung des großen Materials der Indianersprachen die eigentliche Herausforderung war. Die Linguistik muß klären, wie den Phonemfolgen durch deiktische Operationen eine Bedeutung zugeordnet wird, welche Rolle dabei Umschreibung und Metapher spielen und wie sich sprachliche und außersprachliche Bedeutung zu einander verhalten. Grundlegend ist der folgende Untersuchungsgrundsatz: „In certain communities […] some speech-utterances are alike as to form and meaning“ (Bloomfield 1933 ⫽ 1984, §§ 5.3 und 9.5). Bloomfields Terminologie läßt mit großer Konsequenz hervortreten,
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
daß das Zeichen bei ihm in semiotischer Hinsicht auf den Status eines Signals beschränkt bleibt und daß der Untersuchungsgegenstand in sprachlichen Äußerungshandlungen bestehen muß. Das Zeichenmodell des amerikanischen Strukturalismus ist daher weniger explizit, als es die im Bereich der Genfer, der Prager und der Kopenhagener Schule angestellten Überlegungen für sich in Anspruch nehmen können. ⫺ Die Rolle Bloomfields im amerikanischen Strukturalismus würdigen Hymes und Fought (1981, 100⫺116). Zur ethnolinguistischen Forschung vgl. außerdem § 11.
9.
Die Philosophie der symbolischen Formen
Begründer dieser Richtung ist Ernst Cassirer (1874⫺1945; vgl. Art. 74 § 10. sowie Art. 111); ihm ist eine systematische Analyse von Sprache, Mythos, Religion und wissenschaftlicher Erkenntnis zu verdanken. Erneuert worden ist sein Werk von Langer. Auch die Sprachphilosophie Weisgerbers unterhält enge Beziehungen zu diesem grundlegenden Entwurf. 9.1. Cassirer Cassirer ist ursprünglich der Aufgabenstellung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zugewandt gewesen und hat Kant und dem Neukantianismus nahegestanden. Auch seine späteren, an Fragestellungen der Kulturphilosophie und Anthropologie orientierten Schriften spiegeln diese Provenienz insofern wider, als sie in eine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis einmünden. Eingeleitet wird die Philosophie der symbolischen Formen, die erstmals in den Jahren 1923 bis 1929 erschien, jedoch mit einer Phänomenologie von Sprache und mythischem Bewußtsein. Gerade weil die wissenschaftliche Erkenntnis in dieser Systemarchitektur die Spitze bildet, ist die schon von den Völkerpsychologen bekannte Disposition von methodischem Interesse (vgl. § 2.). Zuerst versucht Cassirer den Begriff der „Repräsentation“ zu klären, für den es einen erkenntnistheoretischen Möglichkeitsbeweis zu führen gilt (Cassirer 1923 ⫽ 71977, Einleitung und Problemstellung, 1⫺52). Cassirer knüpft an den kritisch-idealistischen Begriff der empirischen Realität an, den Kant zunächst für die Naturphilosophie etabliert hatte; ihn will er ⫺ dem im 19. Jahrhundert
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
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erfolgten Wissenswachstum entsprechend ⫺ auf die Kulturphilosophie übertragen. Der Autor fühlt sich auch dem objektiven Idealismus Hegels und der Phänomenologie, insbesondere Husserls, verpflichtet; er führt in seinem Werk die als dauerhaft erachteten Traditionsbestandteile des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zusammen. Die von dem Physiker Heinrich Hertz (1857⫺1894) getroffene Unterscheidung von „Bild“ und „Symbol“ wird in den Dienst der Untersuchung gestellt, weil sie verstehen läßt, daß in den Gestaltungen von Sprache, Mythos und Erkenntnis nicht etwa das Eine Sein nur verschieden abgebildet wird, sondern vielmehr spezifische Symbolwelten allererst geschaffen werden (Cassirer 1923 ⫽ 71977, 5 f, 17 f). Die Betrachtung von Mythos, Religion und Kunst ist für Cassirer deshalb wesentlich, weil diese Gestaltungen das schöpferische Element mit besonderer Deutlichkeit zeigen. Tiefgründig ist das Entwicklungskonzept der Sprache, das sich bei Cassirer findet. In ihren Anfängen ist sie mit dem Mythos verwoben, der ihr gegenüber als die ältere und ursprünglichere Erscheinung zu gelten hat. In der Sprache wird das mythische Element konserviert; zugleich aber trägt sie zu seiner Auflösung bei, indem sie ein kritisches Bewußtsein, vor allem im Zusammenhang mit historischen Tatsachen, fördert. Andererseits aber ist die Sprache auch mit einem so innovatorischen Element wie der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis verbunden. Diese Beobachtung läßt verstehen, warum in den natürlichen Sprachen vorzugsweise gerade die Übergangsstadien des menschlichen Geistes festgehalten werden. Ein Beispiel hierfür ist die Institution des Totemismus, der Tierverehrung, einer zugleich erkenntnismäßigen wie sozialen Ordnungsform. Die Forschungen von Durkheim (1858⫺1917) und Mauss (1872⫺1950) sind Cassirer bekannt gewesen, wie eine gelegentliche Zitierung unter Beweis stellt (Cassirer 1925 ⫽ 81987, 232). Jedoch sind die vielversprechenden Ansätze zu einer „Grammatik“ der kulturellen Formen auch in späteren Schriften Cassirers nicht zu einer der französischen Ethnologie und Soziologie vergleichbaren Entfaltung gelangt. Im Blick auf die Gesamtheit der symbolischen Formen erhebt sich die doppelte Frage nach dem inneren Zusammenhang dieser Gestaltungen und ihrem Zusammenhang untereinander. Was nach Humboldt von der Sprache gilt (vgl. § 1.), läßt sich, so Cassirer, auch
von Mythos, Religion und wissenschaftlicher Erkenntnis sagen: Sie besitzen ihre jeweilige, für ihre Eigenart bestimmende „innere Form“ (Cassirer 1923 ⫽ 71979, 12). Hierin liegt zugleich ein Verweis auf den „Modell“Charakter der Sprache, der seit der Zeit der Völkerpsychologie tradiert worden war. Und so macht sich Cassirer denn auch die Erkenntnis der Völkerpsychologie und Indogermanistik des 19. Jahrhunderts in weitestem Umfang zunutze; hierauf beruht das traditionelle Moment seines Philosophierens. Das spezifisch Moderne ist demgegenüber in der Beantwortung der zweiten Frage zu erblikken: Der Zusammenhang von Sprache, Mythos, Religion und wissenschaftlicher Erkenntnis wird nur durch die Tatsache hervorgerufen, daß in allen Gebieten das Zeichen für den Geist der Träger der Objektivität ist. Für diese These nimmt Cassirer mit einem charakteristischen Zögern den programmatischen Titel der „Semiotik“ in Anspruch, begleitet ihn aber durch den fast gleichsinnig gebrauchten „Symbol“-Begriff. Der von Cassirer favorisierte Zeichenbegriff gestattet nun aber mit Rücksicht auf die Eigenart der Kulturgebiete, die er umklammern soll, keine strukturelle Kennzeichnung. Zur Rechtfertigung beruft sich Cassirer (1923 ⫽ 71977, 11) auf das „Grundprinzip“ des „kritischen Denkens“, den „Primat“ der „Funktion“ vor dem „Gegenstand“. Ist diese Formulierung noch fast (neu-)kantianisch, so führt der Begriff des „Mediums“ im kulturphilosophischen Fragengebiet gewiß weiter. Wenn Sprache, Mythos, Religion und wissenschaftliche Erkenntnis als Medien geschildert werden, so hat der Autor dabei vor allem ihren „allumspannenden“ Charakter vor Augen (Cassirer 1923 ⫽ 71977, 18). Die Einstellung eines jeden Menschen zu Natur und Geist wird durch diese Medien vermittelt. Später hat Cassirer seinem Gedankengang endgültig eine anthropologische Fassung verliehen (Cassirer 1944, deutsch 1960). Obwohl diese Schrift lediglich die ausgedehnten Forschungen der mittleren Periode konzentrieren will, gibt es doch einige Veränderungen. Vor allem betont Cassirer nunmehr stärker das allgemeingültige Strukturmoment der Sprache; dafür ist offenbar die verstärkte Einbeziehung der strukturalistischen Linguistik und anderer moderner Sprachtheoretiker verantwortlich (Cassirer 1944 ⫽ 1960, 151⫺ 164). Cassirers Kulturphilosophie liegt inzwischen in wesentlich verbesserter Übersetzung (R. Kaiser) vor. ⫺ Obwohl die Bemühung
1534 um das Sprachproblem bei Cassirer noch keine endgültig erfahrungswissenschaftliche Gestalt annimmt, sucht er doch den Austausch mit der zeitgenössischen empirisch betriebenen Linguistik. Als Beispiel hierfür sei ein bereits zu Beginn der 30er Jahre veröffentlichter Aufsatz genannt, in dem das Kantische Thema der Gegenstandskonstitution auf sehr einleuchtende Weise mit der Thematik der sprachlichen Formung der Erfahrung verflochten wird (Cassirer 1932⫺33 ⫽ 1985). ⫺ Eine Darstellung der Cassirerschen Symbollehre gibt Neumann (1973). 9.2. Langer Eine Anknüpfung an Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, die vor allem im angloamerikanischen Raum Beachtung gefunden hat, bietet das Werk Susanne K. Langers (1895⫺1985). Die Symboltheorie wird im Vergleich zu Cassirer empirisch forciert; der Argumentationsstil ist evolutionistisch, sowohl die Kultur- als auch die Naturgeschichte wird einbezogen. Langer schränkt den Primat der sprachlichen Symbole ein, indem sie die Herauslösung von auditiven und visuellen Formen aus Wahrnehmungsbeständen als eine Abstraktionsleistung beschreibt, die tief in den organischen Voraussetzungen animalischen Lebens wurzelt. Der Schlüsselbegriff der „symbolischen Transformation“ fixiert die Tatsache, daß Erfahrung immer schon symbolisch strukturiert ist und daß die symbolischen Formen, in denen dies geschieht, zwar aufgrund ihrer Phylo- und Ontogenese eine je verschiedene expressive Kapazität besitzen, im übrigen aber als logisch gleichberechtigt zu gelten haben. Expressive Medien können grundsätzlich in präsentative und diskursive Typen eingeteilt werden; dabei kommt dem präsentativen Symbolismus, der in seiner Struktur weitgehend von der (menschlichen) Sinnesphysiologie abhängig ist, das höhere entwicklungsgeschichtliche Alter zu. Die Sprache bleibt von der Wirksamkeit der präsentativen Symbolismen dauerhaft abhängig und kann daher nicht voraussetzungslos zum Paradigma kognitiv gehaltvoller Symbolisierung erhoben werden (Langer 1942, deutsch 1984). Eine Entwicklungstheorie der Sprache begegnet dem Problem, daß die Evolution des genetischen Substrats der Sprachfähigkeiten bis heute nicht erklärt werden konnte. Auch Langers Werk schließt diese Lücke nicht. Dennoch erzielt sie in diesem Zusammen-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
hang einige bemerkenswerte Fortschritte. Zunächst betrachtet sie die Entstehung der menschlichen Sprechfähigkeit von der physischen Seite, d. h. sie diskutiert die evolutionäre Differenzierung der Sprechwerkzeuge und des Gehörs sowie der sogenannten Sprachzentren. Es bedurfte des Zusammentreffens mehrerer, voneinander im Ursprung ursächlich unabhängiger Entwicklungsprozesse, um die menschliche Sprechfähigkeit hervorzubringen, so daß man an den dem Menschen am nächsten stehenden Primaten beobachten kann, daß sie der Sprache entbehren, weil ihnen einmal diese, einmal jene organfunktionelle Voraussetzung fehlt. Die soziokulturelle Seite der Sprache erfordert eine getrennte Betrachtung. Langer erkennt zunächst, gestützt auf einige bedeutende Winke Sapirs (vgl. § 11.1.), daß das Symbolverhalten entwicklungsgeschichtlich älter ist als das Sprachverhalten. Es wäre daher ein Trugschluß, der Entstehung der Sprache bereits das Mitteilungsbedürfnis zu unterschieben; dieses charakterisiert vielmehr nur die rezenten Formen der Sprache, nicht aber ihre archaischen Entwicklungsphasen. Um den Entwicklungsschritt vom Symbolverhalten zum Sprachverhalten zu erklären, zieht Langer Freuds Traumtheorie sowie Gehlens Entlastungskonzept heran; beiden entnimmt sie übereinstimmend, daß es bei der Reizverarbeitung zur Ausbildung eines protosymbolischen Bewußtseinsmaterials kommt. Die entscheidende Leistung der Sprache besteht sodann darin, die primär auf den individuellen Bewußtseinsbereich beschränkten, d. h. nicht realitätsfähigen Symbolproduktionen auf das Gemeinschaftsleben einzustellen. Diese soziale Funktion der Sprache schlägt sich zunächst in den kommunalen Institutionen von Ritus und Tanz nieder, die nicht von ungefähr in Cassirers Version der Symboltheorie etwas vernachlässigt worden waren. In der Struktur der Sprache äußert sich demnach die Auflösung einer frühgeschichtlichen Krise der Menschheit: Die archaische Phase der Symbolbildung hätte nämlich, bedingt durch das exorbitante Wachstum der Phantasietätigkeit, durchaus zu einer definitiven Verfehlung der zweckmäßigen Anpassung an die erfahrbare Realität, d. h. die natürliche und Sozialumwelt führen können. An der thematischen Strukturierung der Symbolinhalte kann man demzufolge das erwachende Realitätsbewußtsein ablesen, das Langer zufolge heute in der Anerkennung der Tatsächlichkeit als alleinigem Erkenntnismaßstab gipfelt. Ähnlich wie Cassirer kommt
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1535
daher auch sie zu dem Fazit, in einer Theorie der Erkenntnis den adäquaten Systemabschluß einer Philosophie der symbolischen Formen zu erblicken. Wenngleich die geschilderten Gedankengänge hochspekulativ sind (und wohl prinzipiell über einen jeden empirischen Verifikationshorizont hinausgehen), so besitzt Langer doch das Verdienst, die Erforschung der Frühgeschichte der Sprache aus einer Sackgasse herausgeführt zu haben, in die sie durch die einseitige Betonung der Mitteilung als Quell der Sprachentstehung geraten war (Langer 1967⫺1982, Bd. 2, 265⫺355). Eine knappe Exposition der grundlegenden Motive dieser Philosophie bietet Kiesow (1989); zur Fortsetzung der Tradition von Cassirer und Langer durch Nelson Goodman vgl. Art. 75 § 10. und Art. 121.
sitz dieses ganzen Erbgutes gelangen“ (Weisgerber 1931, 608 ⫽ 1982, 187). Wenn im Schrifttum des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Beziehung von Sprache und Denken sich zunehmend gelockert hatte und die Verknüpfung des Sprachbegriffs mit dem Konzept des Volksgeistes als problematisch erkannt worden war (vgl. § 4. und § 5.), so sieht man bei Weisgerber das Pendel der Entwicklung gleichsam zurückschwingen. Von größerem Belang für die Zwecke einer modernen Zeichenlehre ist ein Gedankengang, der einer späteren Schrift dieses Autors zu entnehmen ist: Der Begriff des Zeichens ist eng verknüpft mit der unaufhebbaren Perspektivität sprachlicher Weltgestaltung. Weisgerber hat hierfür ein Beispiel angegeben, das als repräsentativ für seine Theorie anzusehen ist: Er fragt sich, ob z. B. das Sternbild des Orion in der Wirklichkeit objektiv vorgegeben sei (Weisgerber 1949 ⫽ 31962, 42⫺46). Mag diese Voraussetzung für die Elemente der sprachlich-geistigen Gliederung der Erfahrungswirklichkeit zutreffen, so muß doch eine spezifisch menschliche „Sicht“ hinzukommen. Diese Weise der gedanklichen Formung, wenn sie nicht energetisch, d. h. als Prozeß, sondern statisch, d. h. vom Ergebnis her, begriffen wird, ist ein Bestandteil der von Weisgerber so genannten sprachlichen „Zwischenwelt“. Es handelt sich hierbei um eine weitere Variation der Thematik des kulturellen Mediums: Sprachliche Zwischenwelten verbinden den sprechenden Menschen mit der Welt der Objekte, indem sie ihn zugleich von ihr distanzieren ⫺ eine Einsicht, die bereits Humboldt geläufig war. Zum Vergleich mit verwandten Ansätzen vgl. Ammann (1925⫺28, Tl. 1, 42⫺65). Weiteres zur Perspektivität von Wahrnehmung, Denken und Sprache in § 13.
9.3. Weisgerber In einem engen Verhältnis zur Philosophie Cassirers steht die Sprachtheorie Leo Weisgerbers (1899⫺1985). In einem Aufsatz, der der Kritik der „Bedeutungslehre“ gewidmet ist, kommt er zu dem Schluß: „[…] das Wort (ist) zu fassen als eine Spracheinheit, für die zwei Bestandteile wesentlich sind, die Lautform, der Name, und der Inhalt, der Begriff. Für die Beziehungen, die zwischen diesen Bestandteilen walten, sind am zweckmäßigsten die Ausdrücke Bezeichnung (Name als Zeichen, also vom Begriff aus gesehen) und Bedeutung (das Bedeutete, der Begriff, vom Namen aus gesehen). Für die Beziehung Name⫺ Objekt bliebe als bester Ausdruck Benennung […]. Das Verhältnis des Wortbegriffes zur Wirklichkeit ist etwas, was außerhalb des Wortes liegt“ (Weisgerber 1927, 181). Diese Auffassung steht dem strukturalistischen Zeichenmodell nahe; wie dieses klammert sie den transzendenten Bezug auf die Realität aus der Struktur des Zeichens aus. In einem Beitrag zum „Handwörterbuch der Soziologie“ hat Weisgerber eine Version seiner Sprachsoziologie entwickelt; er charakterisiert die „Leistung der Sprache und ihre Stellung in der Gesamtkultur“ in der Behauptung, „daß der eigentliche Ort, an dem sich die intellektuelle Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt vollzieht, die Sprachen der Völker sind“ (Weisgerber 1931, 600 ⫽ 1982, 179). Daran knüpft sich die weitere These: „die Sprache (ist) der geistige Mittelpunkt, in dem alle Erfahrungen einer Gemeinschaft ihren Niederschlag finden, und von dem aus die neu Eintretenden in den Be-
10. Die Sprachphilosophie Bühlers Ähnlich wie Külpe (vgl. § 7.5.) faßt auch Karl Bühler (1879⫺1963) die Logik als „allgemeine Darstellungstheorie“ (Bühler 1933, 63 ⫽ Ströker 1969, 80). Einige fundamentale zeichentheoretische Konstanten, die in Bühlers reifen Schriften im wesentlichen unverändert wiederkehren, lassen sich aufzählen: So unterscheidet er z. B. zwischen „Anzeichen“ und „Ordnungszeichen“. Die exakte Fixierung des Artunterschiedes dieser beiden Zeichenklassen hängt von der erkenntnistheoretischen Auswertung des (aus der Scholastik
1536 überlieferten) Grundsatzes „aliquid stat pro aliquo“ ab, den Bühler in einer interpretatorisch modernisierten Fassung aus dem Werk von Gomperz entlehnt (vgl. § 7.4.). Bühler selbst scheint erkannt zu haben, daß seine Ausführungen hierzu überaus provisorisch sind, und auch der Kommentar von Ströker behandelt diese Fragen nur kurz (Bühler 1933, 81⫺83; Ströker 1969, 148⫺150). Während die Anzeichen von einem ursächlichen Verhältnis abhängig sind und daher nicht einseitig logisch-strukturell charakterisierbar sind, ist für die Ordnungszeichen im Sinne Külpes eine Konvention maßgeblich. Ein besonders instruktives Anwendungsgebiet ist die Wahrnehmungslehre: Da die Sinnesdaten lediglich Anzeichen der empirischrealen Objekte sind, findet der kritische Realismus in der „Sematologie“ eine Stütze. Der unaufhebbare Anteil von Anzeichen in Wahrnehmung und Denken läßt Bühler eine Grenze für die Mathematisierung des Weltbildes vermuten. Auch die von Bühler ermittelten Grundfunktionen der menschlichen Sprache ⫺ er findet sie in „Kundgabe“ („Ausdruck“), „Auslösung“ („Appell“) und „Darstellung“ ⫺ hängen von der Unterscheidung der grundlegenden Zeichenklassen ab oder doch wenigstens mit ihr zusammen. Eine Komplikation ergibt sich jedoch daraus, daß die Sprachfunktionen im linguistischen Material selten in analytisch trennbarer Gestalt auftreten. Ein Modell für ein annähernd reines Vorkommen stellen allenfalls die poetischen Gattungen dar, d. h. Lyrik (⫽ Ausdruck), Rhetorik (⫽ Appell) sowie Epos und Drama (⫽ Darstellung). Der Ansatz über die Sprachfunktionen versteht sich bei Bühler zunächst als Resultat einer Ernüchterung über die Erträgnisse einer Tradition, die in Gomperz und insbesondere in Marty zwei letzte Höhepunkte aufzuweisen hatte; denn Bühler sieht den Vorzug seiner Betrachtungsweise nicht zuletzt darin, daß sie das Festhalten an dem überlieferten Begriffspaar „Form“/„Inhalt“ entbehrlich zu machen scheint. Dieses hatte, wie Bühler (1909) am Beispiel Martys aufweist, oft genug den Anlaß geboten, daß naheliegende linguistische Entdeckungen aufgrund erkenntnistheoretischer Präokkupation übersehen wurden. Bühler schließt sich aus diesem Grunde an Meinongs Entwurf einer Satzlehre an (Bühler 1927 ⫽ 31965, 61/62; vgl. oben § 7.2.).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Eine erste Präsentation der Sprachfunktionen gibt Bühler in einem Aufsatz, der manchmal als Keimzelle seiner reifen Theorie angesehen wird (Bühler 1918); der Autor läßt hier allerdings noch nicht erkennen, daß er über die Probleme, welche auch dieser funktionelle Ansatz aufweist, schon zur Klarheit gelangt wäre. Liegt nämlich der Vorteil einer Sprachfunktionstheorie erstem Anschein nach in ihrer Nähe zur linguistischen Empirie, so erhebt sich doch die Frage, ob die Angabe der Sprachfunktionen dem methodischen Postulat der Vollständigkeit unterworfen werden kann und muß oder ob eine solche Forderung das Wesentliche dieses Ansatzes verfehlt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist es Bühler nicht auf eine Versammlung aller möglichen Funktionen der Sprache angekommen, sondern auf die Herausarbeitung der in jedem sprachlichen Handlungsvollzug implizit realisierten Momente (vgl. Nerlich 1996). Darin scheint ein Unterschied zur Theorie von Austin (1911⫺1960) und Searle (*1932) zu liegen. Nicht selten ist versucht worden, die von Bühler skizzierte Trias von Sprachfunktionen zu modifizieren. Während ältere Versuche, eine Sprachfunktion, etwa die Darstellung, als die wesentliche auszusondern, heute kaum noch diskutiert werden, werden Erweiterungen des Modells nach wie vor in Betracht gezogen. Erwägenswert ist es z. B., ob das kontaktstiftende Moment der Sprache als selbständige Größe gesondert zu berücksichtigen ist. Diese Betrachtungsweise liegt besonders der Ethnologie nahe, und so hat etwa Bronislaw Malinowski (1884⫺1942, vgl. 1923 ⫽ 10 1956, Supplement I) eine „phatische“ Funktion der Sprache anerkannt. ⫺ Als belangreicher erscheint jedoch, ob Bühler dem poetischen Aspekt der Sprache gerecht werden kann. Sein Ansatz ist von realistischem Zuschnitt, d. h. Sprachgebilde mit gewissermaßen „eingeklammertem“ Realitätsanspruch, wie sie in zahlreichen künstlerischen Gebilden vorliegen, können nur schwer angemessene Berücksichtigung finden. Versuche, diesen empfindlichen Mangel zu beheben, finden sich bei Ingarden (1931 ⫽ 41972, Anhang) sowie Jakobson (1979). Der programmatische Realismus dieses sprachphilosophischen Ansatzes wird besonders deutlich in Bühlers Versuchen, die Zeichennatur der Sprache abzuleiten. Gegenüber Versuchen anderer Autoren wird das Bemühen Bühlers ersichtlich, nur die obligatorischen Elemente der Zeichenstruktur in sein
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1537
graphisches Schema aufzunehmen, diese aber in lückenloser Vollständigkeit. Das Modell verknüpft die Sprecher- und die Hörerrolle mit dem thematischen Bereich der Gegenstände und Sachverhalte, ordnet ihnen die Sprachfunktionen zu und arbeitet auch die Grundtatsachen der Phonologie tendenziell mit ein (Bühler 1934, 28). Bühler will vor allem deutlich machen, daß die Zeichenfunktion nicht allein aus einer naturalistischen Theorie des kommunikativen Prozesses entnommen werden kann. Es sind vielmehr drei Arten von Zeichen zu unterscheiden, nämlich „Signale“, „Symptome“ und „Symbole“; sie alle lassen sich nur semantisch charakterisieren. Während diese Veranschaulichungshilfen von vorwiegend heuristischer Natur sind, schlägt sich der prinzipientheoretische Gehalt der Bühlerschen Sprachtheorie vor allem in seinen Axiomatisierungsversuchen nieder. Es ist heute bekannt, daß Bühler die Grundlagen der Psychologie und der Sprachtheorie mehrfach axiomatisch zu erfassen versucht hat und daß sich in diesem Zusammenhang Abstimmungsprobleme ergeben, die wiederum ein eigenartig scharfes Licht auf die nach wie vor ungelöste Grundlagenkrise dieser Disziplinen werfen. Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem bedeutsam, daß Bühler das Axiom über die Zeichennatur der Sprache zunächst an die erste Stelle setzt (Bühler 1933, 24⫺40 ⫽ Ströker 1969, 25⫺ 48), es in seinem sprachtheoretischen Hauptwerk dann aber hinter das sogenannte „Organonmodell“ zurücktreten läßt. Daher erhebt sich auch gegenüber Bühlers Axiomatik bzw. Prinzipienlehre die Frage, ob die Verdichtung der grundlegenden Bestimmungen im sprachwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand widerspruchsfrei gelungen ist: Kann man es z. B. als eine echte phänomenologische Zwiespältigkeit der Sprache gelten lassen, sich dem Betrachter einmal als Werkzeug, einmal als Zeichen, bald als Handlung (Akt), bald als Werk (Gebilde) darzustellen? Vielleicht ist es klüger, an die ausgeführten Analysen Bühlers anzuknüpfen: So enthalten z. B. seine Untersuchungen über die Deixis eine empirische Phänomenologie der Zeichenverwendung, die noch keineswegs ausgeschöpft ist. Daß Bühler von der inneren Sprachform nicht viel wissen will, kann nicht verwundern, wenn man seine ideengeschichtliche Herkunft aus der Junggrammatik und den Einfluß Ph. Wegeners (1848⫺1916) erwägt und bedenkt,
daß er den philosophischen Grammatikern des 19. Jahrhunderts die Empiriker vorzieht. Entwicklungsgeschichtlich bringt er die innere Sprachform mit der „magischen Geisteshaltung“ in Verbindung (Bühler 1934, 47). Innere Sprachform hat für Bühler keine wirklichkeitsschaffende Potenz, wie auch der Vergleich mit dem Blick des Malers unter Beweis stellt: die Malerei setzt als ontologisches Prius die Welt der sichtbaren Gegenstände voraus (Bühler 1934, 152). Sachlich enthalten auch seine Betrachtungen zur Metapher und zur Satzfügung thematisch hierher gehörige Gedankengänge. Hätte Bühler, wie geplant, ein Buch speziell sprachpsychologischen Inhalts geschrieben, so wären gewiß zusätzliche sprachphysiognomische Bestimmungen dem Gesamtbild hinzugefügt worden. Aus gegenwärtiger Sicht muß der Anspruch Bühlers, eine axiomatische Klärung der Grundfragen der Sprachwissenschaft herbeigeführt zu haben, als ähnlich verfrüht gelten, wie derjenige der Glossematik der Kopenhagener Schule. Während die Strukturalisten schulfremde Einflüsse zunächst nur zögernd aufgenommen haben, ist Bühlers Werk tief mit der Situation seiner Entstehung verflochten und begegnet nahezu allen zeitgenössischen Strömungen zugleich kritisch und rezeptiv. Dies ist der Verbreitung seiner Grundideen nicht immer zuträglich gewesen. Welche seiner Intuitionen in den dauerhaften Bestand der Sprachwissenschaft und der Semiotik eingehen werden, muß die neubelebte Diskussion um diesen Autor zeigen (Graumann und Herrmann 1984; Eschbach 1984a; vgl. auch Art. 112).
11. Beiträge der Nachbarwissenschaften zur Erforschung der Sprache Wenn das Verhältnis der Sprachwissenschaft zu Biologie, Psychologie und (Ethno-)Soziologie in Rede steht, so ist zu beachten, daß die Einflüsse sich in beiden Hauptrichtungen entfalten: Einerseits greift die Sprachwissenschaft empirische Erkenntnisse dieser Disziplinen auf, um ihre strukturellen Modelle um faktische Rahmeninformation zu bereichern; andererseits aber wird die Sprache selbst in einem exemplarischen Sinne zur kulturellen Institution (vgl. Art. 85). Diese Konstellation verdient besondere Aufmerksamkeit. 11.1. Boas, Sapir, Whorf Die amerikanische Ethnologie besitzt den besonderen Vorzug, in Franz Boas (1858⫺1942) und Edward Sapir (1884⫺1939) zwei theore-
1538 tische Köpfe gekannt zu haben, die der Analyse der kulturellen Seite der Sprache auch ihren empirischen Aspekt abgewonnen haben. Einen ersten Anstoß hat wohl der ältere Autor mit der Erforschung amerikanischer Indianersprachen gegeben (Boas 1911⫺1934). Ihm ist es auch zu verdanken, daß das Verhältnis von Rasse, Sprache und Kultur als das von drei weitgehend unabhängigen Variablen aufgefaßt werden konnte (vgl. z. B. noch Boas 1938) ⫺ eine ideologische Unbefangenheit, die man in der deutschen Ethnosoziologie der Zwischenkriegszeit schmerzlich vermißt. Was den Zusammenhang von Sprache und Denken angeht, so hat seine theoretische Ausgestaltung durch Sapir wohl nicht zu Unrecht großen Nachruhm erlangt. Wenn auch das erstmals 1921 veröffentlichte sprachwissenschaftliche Hauptwerk viele treffliche Formulierungen enthält, so wird doch der Höhepunkt erst in einem 1933 veröffentlichten Aufsatz erreicht, in dem Sapir einen Überblick über den seither erreichten Sachfortschritt gibt. Dieser Essay erteilt in gedrungener Form Antwort auf nahezu alle wichtigen Fragen, die man an eine ethnologisch operierende Linguistik stellen kann. Folgenreich ist besonders die Schilderung der psychologischen Grundkennzeichen der Sprache, die man bei Whorf in leicht abgewandelter Form erneut antrifft. Sapir betont, daß die Sprache einer jeden Kultur deren universelles Ausdrucksmedium sei. Obwohl oder vielmehr weil sie daher die möglichen kulturellen Inhalte in einem gewissen Sinne umgrenzt, wäre es verfehlt zu sagen, es gebe etwas, das einer Kultur spezifisch zuzurechnen sei, aber sich in ihrer Sprache nicht ausdrükken lasse. Die Dialektik einer solchen Feststellung ist aus der Sprachphilosophie bekannt (Wittgenstein 1921), und es ist nicht ohne Interesse, festzustellen, daß sie sich einem Autor aufdrängt, der wie Sapir der nüchternen Beobachtung so viel stärker zuneigte als dem spekulativen Denken. Und gewiß ist es kein Zufall, daß er den Begriff des Mediums wählt, um den Zusammenhang von Sprache und Denken im Ganzen der Kultur zu beschreiben. Aufgrund ihrer immanenten systematischen Relationen bewirkt die Sprache eine Erweiterung des individuellen Erfahrungshorizonts; sprachlich vermittelte Tradition ist daher ein Speicher gemeinsamen Wissens. Sapir verwirft eine einseitige Anlehnung der Sprache an die kognitiven Bewußtseinslei-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
stungen und würdigt auch ihre Rolle für die Gefühlssteuerung und die Handlungsanbahnung. Die projektivische Natur des akustischen Symbolismus zeigt, wie sich in der Sprache Altes und Neues unaufhörlich durchdringen. Damit wird ein Problemkreis berührt, der aus den Forschungen Cassirers bekannt ist (vgl. § 9.1.). Das Entwicklungstempo der Kulturgebiete gehorcht spezifischen Maßstäben. Die Sprache kann die ihr in der kulturellen Dynamik zufallende Rolle nur deswegen spielen, weil sie weder extrem entwicklungsfeindlich ist (wie z. B. Religion, Recht und Sitte in archaischen Gesellschaften) noch extrem neuerungsfreundlich (wie etwa Wissenschaft und Technik in der modernen Zivilisation). Es ist daher irreführend, wenn die Ethnologie sie in der Regel als vollkommen konservativ beschreibt. Im Gegenteil gilt: „Language is at one and the same time helping and retarding us in our exploration of experience, and the details of these processes of help and hindrance are deposited in the subtler meanings of different cultures“ (Sapir 1933 a ⫽ 1985, 11). Wenn der Autor die Durchdringung von Sprache und Erfahrung kennzeichnet, so legt er Wert auf die diskrete Natur dieses Einflusses. Nicht die bindende Kraft grammatischer Kategorien für den Bewußtseinsablauf des menschlichen Individuums ist hier sein Thema, sondern die unauffällig stützende, insofern aber auch selektiv wirksame Steuerungsfunktion der Sprache. Eine weitergehende Auffassung, der sogenannte „linguistische Determinismus“, ist von Benjamin Lee Whorf (1897⫺1941) verfochten worden; er kann sich auf einige gelegentliche Formulierungen Sapirs berufen, läßt aber gerade die für diesen Forscher so charakteristische Zurückhaltung vermissen. Mit Saussure teilt Sapir die Skepsis gegenüber allen Versuchen, den Sprachursprung aufzuklären. Jedenfalls ist die Sprache für ihn nur ein Sonderfall des symbolischen Verhaltens: „It is probable that the origin of language is not a problem that can be solved out of the resources of linguistics alone but that it is essentially a particular case of a much wider problem of the genesis of symbolic behavior […]“ (Sapir 1933 a ⫽ 1985, 13). Das Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis ist jedenfalls nicht primär ursächlich: „It is best to admit that language is primarily a vocal actualization of the tendency to see realities symbolically, that it is precisely this quality which renders it a fit instrument for commu-
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nication […]“ (Sapir 1933 a ⫽ 1985, 15). Mit Aussagen wie dieser hat Sapir Langer wichtige Beweisstücke für das Projekt einer in ihren empirischen Grundlagen erneuerten Symboltheorie in die Hände gespielt, wie Hörmann erkannt hat (Hörmann 1967 ⫽ 1970, 29; vgl. § 9.2.). Es ist jedoch vor allem Whorf (1956 ⫽ 1963), der als Fortsetzer des Werkes von Sapir Bekanntheit erlangt hat. Seine Schilderung des „Hintergrundcharakters“ der Sprache nimmt die zurückhaltenden Formulierungen Sapirs forciert auf, während seine Analyse des Weltbildes amerikanischer Indianerstämme den Nachweis zu erbringen versucht, daß die perzeptuellen und kognitiven Prozesse von der Sprache abhängig sind, so daß sich ein relativistischer linguistischer Determinismus als Konsequenz ergibt. Gegen die Schlüssigkeit dieser Beweisführung ist wohl einzuwenden, daß Sapir gerade die bestimmende Rolle der Kultur im ganzen betont hatte, von der die Sprache nur ein, allerdings ausgezeichneter, Bestandteil ist. Daß man in naturvolklichen Kulturen spezifische Gestaltungen des Weltbildes findet, die sich von dem der europäischen oder europäisch beeinflußten Kulturen merklich abheben, ist seit langem gesicherter Erkenntnisbesitz der Ethnologie, selten aber ist diese Tatsache mit der Sprache so einseitig in Beziehung gesetzt worden. Wenn Whorf (1956 ⫽ 1963, 74) Sapir mit den Worten zitiert, das menschliche Individuum lebte „weder nur in der objektiven Welt noch allein […] in der Gesellschaft“, vielmehr sei sein Realitätskontakt durch das Medium der Sprache vermittelt, so ist Sapirs Warnung an einen soziolinguistischen Determinismus wohl unüberhörbar; Whorf selbst und seine Rezeption sind dieser Gefahr nicht immer entgangen. ⫺ Eine Würdigung der Rolle von Boas, Sapir und Whorf geben Hymes und Fought (1981, 78⫺100), eine kongeniale Interpretation ihrer Entdeckungen Henle (1958 ⫽ 1969, 9⫺39).
zeichnet fünf „Hauptformen des objektiven Geistes“, als da sind „Gebilde“, „Gerät“, „Zeichen“, „Sozialform“ und „Bildung“ (Freyer 1923 ⫽ 31934, 55⫺74). Wie schon in der Terminologie angedeutet, soll diese Einteilung nicht statisch aufgefaßt werden, vielmehr handelt es sich um dynamische Momente eines Kreislaufs, der sowohl unter dem Aspekt des Verstehens als auch des Schaffens zu sehen ist. In diesem Rahmen diskutiert Freyer theoretische Fragestellungen, die aus der Hermeneutik (Dilthey), aus der Kulturphilosophie (Simmel) und der Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften (M. Weber) bekannt sind. Was das Verhältnis der fünf Kategorien zueinander angeht, so läßt Freyer (1923 ⫽ 3 1934, 55) gelegentlich die folgende Bemerkung fallen: „Ein objektiv geistiger Inhalt kann, auf den Formcharakter seiner Objektivation hin betrachtet, entweder Gebilde oder Gerät oder Zeichen oder Sozialform oder Bildung sein. Es wird sich zeigen, daß sich diese fünf Grundformen des objektiven Geistes am realen Objekt gegebenenfalls durchdringen können. Eine objektiv geistige Erscheinung kann Gerät und Gebilde zugleich sein usf.“ Der Eindruck der Widersprüchlichkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Oder soll die im ersten Satz des Zitats ausdrücklich behauptete Disjunktivität der Kategorien nur idealiter gelten, während das jeweils zur Untersuchung anstehende Wirklichkeitsgebilde mehrere (oder sogar alle?) Bestimmungsmerkmale tragen kann? ⫺ Es ist zu wenig bekannt, daß Freyers Kulturlehre auch ein Gegenstück der Sprachtheorie Bühlers war; die Problemsituation, die in dem angeführten Passus Ausdruck findet, liegt auch dort vor (vgl. § 10.). Beachtung verdienen auch die Untersuchungen Alfred Vierkandts (1867⫺1953), die in weiten Teilen eine Sprachsoziologie darstellen. Vierkandt hat seine Lehre, ähnlich wie Bühler, im Zuge einer schrittweisen Abwendung von der Lehre Wundts entwickelt, steht jedoch darüber hinaus vor allem im Gegensatz zur französischen naturalistischen Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die, wie z. B. Tarde (1843⫺1904), das Nachahmungsverhalten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen gestellt hatte. Demgegenüber will Vierkandt den Zusammenhang der „sozialen Objektivgebilde“ in der „inneren Verbundenheit“ ihrer Angehörigen sehen, und an deren Zustandekommen hat die Sprache herausragenden Anteil. Maßgeblich ist
11.2. Freyer und Vierkandt Ungeachtet der einleitend geäußerten Vorbehalte hat auch die deutsche Soziologie und Ethnologie der 20er und 30er Jahre Entscheidendes zur Erforschung des Sprachverhaltens beigesteuert. Hinzuweisen ist zunächst auf Hans Freyers (1878⫺1969; vgl. 1923 ⫽ 31934) Kulturphilosophie, die man wohl auch als den Entwurf einer soziologischen Kategorienlehre interpretieren kann. Der Autor nennt und kenn-
1540 die zweite Fassung der Vierkandtschen Gesellschaftslehre (1923 ⫽ 21928); der Autor stützt sich nunmehr verstärkt auf die verwandten Bestrebungen von Max Scheler (1874⫺1928) und Theodor Litt (1880⫺1962). Es besteht weitgehende Übereinstimmung mit der soziologischen Kategorienlehre Freyers; die sozialpsychologische Betrachtung der sprachlichen Handlung folgt ⫺ wenn auch nicht in allen Einzelheiten ⫺ Bühlers Sprachfunktionstheorie. Die Übereinstimmung der genannten Autoren erklärt sich aus der damals weitverbreiteten Tendenz, die phänomenologische Methode im Unterschied zum frühen Husserl auch auf realsoziologische Gegebenheiten anzuwenden. Wenn Scheler erstmals die Möglichkeit einer unmittelbaren Wahrnehmung der menschlichen Person (anstelle induktiv-analogischer Rückschlüsse) betont hatte, so legt Vierkandt besonderen Wert auf die phänomenologische Einheitlichkeit von sprechender Person, Sprechakt und Aussageinhalt. Im Hinblick auf den Aufbau der Gesellschaft als ganzer ergibt sich, daß die zugleich ideale und objektive Natur der Sprache nur einen Spezialfall der Lehre von den „Objektivgebilden“ darstellt. Den Umkehrschluß, daß auch die kulturellen Institutionen symbolischer Natur sind, sucht man indes bei Vierkandt vergebens; ich erblicke darin eine gewisse Rückständigkeit gegenüber den Erkenntnissen der gleichzeitigen französischen Soziologie und Ethnologie. ⫺ Vierkandt ist auch der Herausgeber des „Handwörterbuchs der Soziologie“ gewesen, in dem Weisgerber eine erste Fassung seiner These von der notwendigen Bindung der Sprache an eine Sprachgemeinschaft vorgetragen hat; auch später hat sich Weisgerber (1949 ⫽ 3 1962, 22) auf Vierkandts Begriff der sozialen Objektivgebilde berufen. Der sprachsoziologische Gehalt des Grundgedankens schlägt sich auch weiterhin in den Termini „Bestand“ und „Geltung“ nieder. Eine Würdigung Vierkandts mit erläuternden Winken zur Wirkungsgeschichte findet sich bei Hochstim (1931 ⫽ 1982). 11.3. Gehlen Von größerer Tragweite als die Untersuchungen Freyers und Vierkandts ist die Anthropologie Arnold Gehlens (1904⫺1976), deren thematische Mitte durch eine fast schon kybernetischen Erkenntnissen vorgreifende Theorie der funktionellen Zusammenhänge von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
gebildet wird. Gehlen (1940 ⫽ 91972) zieht die philosophischen Überlieferungen des deutschen Idealismus und des Pragmatismus vor allem amerikanischer Prägung sowie der romantischen Sprachphilosophie und des Strukturalismus zu einem einheitlichen Interpretationshintergrund zusammen, vor dem die biologischen Erkenntnisse über die Sprache ausgewertet werden. Das Verhältnis Gehlens zum Darwinismus ist andererseits gespannt. Gehlen bemüht sich um den Nachweis, daß die Transformation einer auch dem Tier möglichen „Umwelt“ von Aktionsobjekten in eine prinzipiell offene „Welt“ von theoretischen Objekten beim Menschen nur unter wesentlicher Mitwirkung der Sprache gelingt. Während es Cassirer noch in der Hauptsache um die erkenntnistheoretische Deduktion eines Begriffs sprachlicher Repräsentation geht (vgl. § 9.1.), verfolgt Gehlen die Wirksamkeit des sprachlichen Zeichens in die differentiellen Funktionskontexte von Wahrnehmung, Denken und Handlung. Seine Anthropologie ist eine Theorie der Möglichkeitsbedingungen von „Weltoffenheit“ und Objektivität, doch ist ihr Argumentationsstil nicht transzendental, sondern empirisch. Insofern steht sein Vorhaben in Konkurrenz zu den Forschungen der großen Pragmatisten wie etwa Dewey (1859⫺1952, vgl. 1922 ⫽ 1957) und Mead (1863⫺1931, vgl. 1934, deutsch 1973). Als Anthropologe betrachtet Gehlen zunächst die motorische Komponente der Sprache; ja, er hält daran fest, daß das Wort auf allen Ebenen „Aktion“ ist. Er entwirft sodann eine Lehre von den „Sprachwurzeln“ (Gehlen 1940 ⫽ 91972, 193⫺236). Nicht die Ableitung eines historisch datierbaren Sprachursprungs ist intendiert, sondern der Aufweis der in jeder Realisierung sprachlicher Handlungen vorausgesetzten psychologischen Bedingungen. Wenn es hierbei noch um relativ elementare Phänomene geht, so sieht Gehlen die entscheidende Wirkung der Sprache im Aufbau eines psychischen Hintergrundes, einer wechselseitigen Anpassung von Innenwelt und Außenwelt, die nicht als solche, aber in ihrer durch die Sprache ermöglichten Ausprägung humanspezifisch ist: Die bei jeder biologischen Form festzustellende Korrelation von Individuum, Art und Umwelt nimmt beim Menschen eine eigenartig problematische, weil prinzipiell instabile Gestalt an. Den Interpretationsschlüssel zu seiner Auffassung findet Gehlen übrigens bei Dewey: „Wir beginnen kurz und bündig mit
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1541
der Behauptung, daß Überlegung eine dramatische Probe in der Phantasie für die verschiedenen konkurrierenden möglichen Handlungsrichtungen ist“ (Dewey zitiert nach Gehlen 1940 ⫽ 91972, 264). Eine „dramatische Probe“: In dieser Klausel ist der Zusammenhang mit der Sprache, d. h. für Gehlen: der Sprechhandlung, festgehalten. Es ist demnach die Sprache, durch die dem Menschen die geistige Welt geöffnet wird. Eine detaillierte Theorie der Zeichenstruktur findet man bei Gehlen nicht; doch ist es von Interesse, daß er aufgrund biologischer und psychologischer Kriterien in der Lage zu sein glaubt, ein Zeichenmodell als das adäquate auszuzeichnen, nämlich das strukturalistische in der Abwandlung durch Weisgerber. Dieses empfiehlt sich ihm, weil es die lautliche und die ideelle Komponente gleichmäßig akzentuiert (Gehlen 1940 ⫽ 91972, 249). Aus einem verwandten Grund verwirft er die Konzeption eines abstrakten, zeitlosen Sachverhalts, die in seinen Augen das Korrelat zu einer unsachgemäßen Logisierung der Zeichenstruktur darstellt. ⫺ Die innere Sprachform wird von einer Theorie der Phantasie her neu gedeutet (Gehlen 1940 ⫽ 9 1972, 283⫺290). Besonders die Bewegungsphantasie wird, im Anschluß an eine Anregung Julius Stenzels (1934, 86⫺89), als anthropologische Grundlage zahlreicher sprachlicher Wurzeln aufgewiesen. Die innere Sprachform wirkt sich darüber hinaus nach Gehlen überall dort aus, wo anschauliche Bedeutung primär nicht zu erwarten ist, d. h. bei der metaphorischen Ausgestaltung der Zeitund Raumanschauung sowie der inneren Welt. Das Hauptwerk Gehlens liegt jetzt in einer textkritischen Edition vor, die es nicht nur ermöglicht, das Verhältnis der 1. Auflage zu den Folgeauflagen besser zu beurteilen, sondern auch das Vorgehen der Kultur- und Sprachphilosophie aus dem biologischen Voraussetzungsrahmen erkennen läßt. ⫺ Eine interpretatorische Verflechtung der Resultate Cassirers und Gehlens, die insbesondere die Beteiligung der Symbole beim Aufbau der psychischen Dimension beim Menschen nachvollzieht, bietet Mühlmann (1962, 15⫺ 49).
ihrer Ursprünge liegt im Werk von Ivan Pavlov (1849⫺1936), des Begründers der wissenschaftlichen Reflexologie; er bietet im Rahmen seiner Theorie der organismischen Prozesse allerdings nur einige wenige sporadische Hinweise, die auf die Entsprechung des Sprachverhaltens mit dem Signalkonzept verweisen. Eine ausgeführte Theorie der Sprache, die auf Beobachtungen am kindlichen Spracherwerb beruht, bietet sodann Lev Vygotskij (1896⫺1934). Seine Ansätze sind vor allem von Aleksandr R. Lurija (1902⫺1977) und Aleksej A. Leont’ev (*1936) weiterverfolgt worden. Daneben finden sich Vorstöße in die Richtung einer formalen Syntax und Semantik. Eine materialistische Sprachphilosophie, welche auch die Einsichten von Herder, Humboldt und Marx (vgl. Art. 74 § 19. und Art. 167) sowie die Resultate der Ethnolinguistik einbeziehen will, bietet Schaff (*1913). Vygotskij hat trotz seines frühen Todes noch die Schriften William Sterns (1871⫺ 1938) und seiner Frau Clara (1877⫺1945), das kinderpsychologische Werk Bühlers und die ersten Veröffentlichungen Jean Piagets (1896⫺1980) kennengelernt. Eine große theoretische Leistung Vygotskijs, die seinem erstmals 1934 in russischer Sprache erschienenen Hauptwerk das Gepräge gibt, besteht in der theoretischen Entfaltung und empirisch-experimentellen Glaubhaftmachung der These, daß der Spracherwerb in drei voneinander beobachtungsmäßig unterscheidbaren Phasen abläuft. Auf das „soziale“ Sprechen folgt das „egozentrische“, auf dieses das „innere“ Sprechen. Die gegenwärtig viel diskutierte Frage, ob Denken und Sprechen getrennte onto- und phylogenetische Ansatzpunkte aufweisen, erhält so durch Vygotskij eine bemerkenswerte Wendung; denn das innere Sprechen wird vom egozentrischen Sprechen abgeleitet, einer zwar vorübergehenden, aber nur scheinbar zweckfreien sozialen Einrichtung. Diese Erkenntnis entwickelt Vygotskij teilweise im Zuge einer scharfsinnigen Überprüfung von Befunden, die bereits Piaget vorgelegt hatte (Vygotskij 1934 ⫽ 1974, 45; 314⫺328). Die geistige und die lautlich-materielle Seite der Sprache erscheinen dem Kind zunächst als unreflektierte Einheit; später lernt es, von dem phonetischen Aspekt zu abstrahieren. Die Beschränkung auf die semantische Substanz des Wortes begründet die Affinität des inneren Sprechens zum Denken. Es ist ein Vorzug dieser Untersuchung, daß die Entscheidung über rivalisierende theoretische
12. Moderne materialistische Sprachphilosophie Zur Erweiterung des empirischen Wissens über das Sprachverhalten hat die sowjetische Psychologie entscheidend beigetragen. Einer
1542 Konzeptionen, d. h. über die Adäquatheit des realistischen bzw. „materialistischen“ Repräsentationsmodells gegenüber dem idealistischen nicht allein aufgrund philosophischer Gesichtspunkte, sondern im Zuge sorgfältiger Interpretation des verfügbaren Beobachtungsmaterials gefällt wird; dennoch haben lediglich die empirischen Ergebnisse Vygotskijs ungeteilte Zustimmung gefunden, während die mit ihnen zusammenhängenden erkenntnistheoretischen Probleme weiterhin als offen betrachtet werden müssen. ⫺ Eine Würdigung Vygotskijs gibt Luckmann (1974); von besonderem Interesse scheint der Hinweis auf die konzeptionelle Verwandtschaft mit der sozialbehavioristischen Bewußtseinstheorie Meads (1934, deutsch 1973). Zu den prominenten Theoretikern der sowjetischen Schule gehört auch A. A. Leont’ev. Er bezieht sich in neueren Arbeiten teils kritisch, teils konstruktiv auf den Strukturalismus Saussures. Seine Psycholinguistik versucht, das Sprachverhalten unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Tätigkeit zu betrachten; sie rückt es daher in die Nähe von Arbeit und Interaktion. Fraglich ist aus diesem Grunde, ob in einen Untersuchungsansatz dieses Typs der Begriff des autonomen Sprachsystems überhaupt eingeführt werden sollte, dessen Gewinnung ein wesentliches Verdienst des modernen Strukturalismus darstellt (vgl. § 8.1.). In diesem Zusammenhang macht Leont’ev die Feststellung, daß auf die Einführung abstrakter Objekte in der Linguistik nicht verzichtet werden kann (Leont’ev 1971, Kap. I). An anderer Stelle gibt der Autor auch eine Zeichentypologie (Leont’ev 1984, 97⫺116). Seine Ausführungen verdeutlichen, daß die besonderen Darstellungsprobleme einer materialistischen Psycholinguistik daher rühren, daß die Semiose als ein Prozeß der Realabstraktion aufgefaßt werden muß. Die entscheidende Schlußfolgerung lautet: „Für die Aufdeckung des Wesens des sprachlichen Zeichens gibt es […] zwei Wege. […] Im ersten Fall analysieren wir das Zeichen durch die Verstehensprozesse, durch den Übergang vom Objektiven zum Subjektiven, vom Zeichen zum Gedanken. Im zweiten Fall hingegen analysieren wir das Zeichen durch die Objektivierungsprozesse der subjektiven Kommunikationsabsicht im Zeichen, durch den Übergang vom Gedanken zum Zeichen. In beiden Fällen stoßen wir unweigerlich auf das Problem der Bedeutung und des Sinns […]“ (Leont’ev 1984, 112 f).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Einen kraftvollen Vorstoß in wissenschaftliches Neuland findet man im Werk Lurijas. Während die älteren Arbeiten dieses Autors nur mehr eine Ergänzung zu den Forschungen Vygotskijs darzustellen schienen, legt er in seinen jüngsten Veröffentlichungen das Programm einer „Neurolinguistik“ vor. Diese versteht sich, wie schon im Namen angedeutet, als eine Fortführung der Vygotskijschen Psycholinguistik. War der Materialismus der sowjetischen Psychologenschule anfänglich mehr von philosophischen Impulsen getragen, so hat man es hier mit einem anspruchsvollen szientifischen Reduktionsprogramm zu tun. Sprache wird auch von diesem Autor vorrangig als Kommunikation gefaßt, aber in eine Theorie des Organismus eingebettet. Mit der erfolgreichen Durchführung dieses Reduktionsvorhabens würde sich die gesamte linguistische Terminologie, die wegen ihrer Abhängigkeit vom Zeichenbegriff dem Vorbehalt des Idealismus unterliegt, als entbehrlich erweisen. Den Zugang zur Analyse der neuropsychologischen Aspekte der Sprache bietet die Auswertung lokalisierter Hirnverletzungen. Der außerordentliche Variantenreichtum jener Störungen, die unter dem Begriff der Aphasie zusammengefaßt werden, ermöglicht der Neurolinguistik differenzierte Rückschlüsse auf die hirnorganischen Voraussetzungen der Codierungs- und Decodierungsprozesse bei der verbalen Kommunikation (Lurija 1975, englisch 1976). Man darf vermuten, daß durch Arbeiten wie die von Lurija die Erkenntnisse über die Struktur des sogenannten Sprachzentrums noch erheblich zu verfeinern sind. Auf einem anderen Blatt steht, daß auch er ⫺ wie zuvor Leont’ev ⫺ zur Beschreibung von linguistischem Material ein strukturorientiertes semiotisches Vokabular benötigt; so benutzt er in gewissem Maße das Begriffspaar Tiefenstruktur/Oberflächenstruktur. Während diese Ansätze im erfahrungswissenschaftlichen Bereich verbleiben, können Versuche zu einer logischen Syntax und Semantik nicht auf eine explizite Strukturierung des Zeichens verzichten (Klaus 1963 ⫽ 3 1972; Albrecht 1967, 1975 und 1991). Die Fragestellung ist zumeist erkenntnistheoretischer Natur; es geht darum, den in der traditionellen marxistischen Literatur informell verwandten Begriff der Abbildung mit den Mitteln der Logik zu präzisieren. Das semiotische Vokabular wird in weitgehender Übereinstimmung mit Autoren wie Carnap und Morris benutzt (vgl. Art. 106, 109 und 113). Um die Anstößigkeit zu beseitigen, die dem
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1543
Zeichenbegriff für einen materialistischen Ansatz anhaften mag, wird Leont’evs Konzeption der Sprache als eines zweiten, d. h. die Schicht der elementaren organismischen Reizverarbeitung überlagernden Signalsystems gelegentlich auch in den formalen Teil der Semiotik eingebaut. Einem ähnlichen Motiv entspringt wohl die Einbeziehung kybernetischer und informationstheoretischer Begriffsbildungen, da diese zu gewährleisten scheinen, daß auch das zeichentheoretische Begriffsmaterial grundsätzlich einer wissenschaftlichen Analyse fähig ist. Die Untersuchung von Klaus führt die semiotischen Termini sehr einsichtig ein und macht eine interessante Unterscheidung zwischen „Semantik“ und „Sigmatik“ ⫺ dadurch soll die innersprachliche Bedeutung vom Sachbezug in ähnlicher Weise getrennt werden, wie dies durch die Gegenüberstellung von „theory of meaning“ und „theory of reference“ bei Quine geschieht (Klaus 1963 ⫽ 31972, 51⫺ 151, besonders 67⫺73). Die Schrift von Albrecht (1967) enthält einen ausführlichen historischen Teil, in dem die Grundüberzeugungen vor- bzw. nicht-materialistischer Sprachphilosophie recht genau nachgezeichnet werden. Zu dem Versuch von Ferruccio Rossi-Landi, das Verhältnis zwischen der materiellen Basis und dem geistigen Überbau einer Gesellschaft durch die Einführung einer vermittelnden Zeichenebene zu klären vgl. Art. 113 § 5. Eine Sonderstellung nehmen die Untersuchungen Schaffs ein, da in ihnen eine nahezu unbefangene Aneignung der Sprachphilosophie Herders und Humboldts sowie eine konstruktive Auseinandersetzung mit der SapirWhorf-Hypothese stattfindet. Die These, daß das Weltbild des Menschen sprachlich vermittelt sei, hat wenige so nachdrückliche Verfechter gefunden wie ihn (Schaff 1964, 61⫺ 93). In einer anderen Schrift (Schaff 1960 ⫽ 1973, 145⫺284) gibt er eine „Analyse und Typologie“ des Zeichens. Hier zeigt sich mit größerer Deutlichkeit, daß auch Schaff an wesentlichen Voraussetzungen des Marxismus festhalten will, wie etwa der Ableitung der Zeichenfunktion aus den Prozessen der Arbeit und Interaktion. Insofern bleibt sein Werk ein vorsichtiger Kompromiß, der es erlauben soll, modernen Forschungsergebnissen gerecht zu werden, ohne die philosophische Grundlage einer materialistischen Sprachauffassung preiszugeben. ⫺ Eine kurze Auseinandersetzung mit der Darstellung der SapirWhorf-Hypothese durch Schaff findet sich bei Gipper (1972, 56⫺59).
Wenn man eine vorläufige Würdigung der geschilderten Bemühungen vornehmen will, so wird man sagen müssen, daß die materialistische Sprachphilosophie sich aufgrund traditioneller Vorbehalte nur zögernd der Anwendung formaler Methoden geöffnet sowie ältere Überlieferungen nur verspätet aufgenommen hat, daß aber auf dem Gebiete der Psycholinguistik Vorbildliches geleistet worden ist. Auch in diesem Zusammenhang kann jedoch auf die explizite Modellierung des Zeichens nicht verzichtet werden. Daher ist den Worten Hörmanns zuzustimmen, der die Problemsituation insbesondere der sowjetischen Psycholinguistik wie folgt beschreibt: „Sprache ist ihrem wesentlichen Charakter nach ein System von Zeichen. Zeichen, Bedeutung, signifikative Funktion sind Begriffe, die in jeder Sprachpsychologie eine entscheidende Rolle spielen. Aber es sind nicht eigentlich psychologische, sondern philosophische Begriffe“ (Hörmann 1967 ⫽ 1970, 10; vgl. dazu ausführlich Hörmann 1978).
13. Der phänomenologische Strukturalismus Abschließend sollen einige Entwicklungen betrachtet werden, die für die laufende Diskussion um die Möglichkeit eines phänomenologischen Strukturalismus von Interesse sind (vgl. Art. 103). Erwin Straus (1891⫺1975, vgl. 1936 ⫽ 2 1978) zählt nicht im engeren Sinne zur Phänomenologie, ist aber ein von der Phänomenologie inspirierter Psychologe von allerdings höchst eigenwilliger Ausprägung. Die positive Substanz seines Werkes wird durch die etwas derbe Polemik gegen die Pavlovsche Reflexologie und den Behaviourismus gelegentlich verdeckt. Diese beiden Doktrinen standen damals allerdings im Zenit ihrer Geltung, und ihre Wirkung ging weit über die wissenschaftliche Welt hinaus. Ihre innere Verwandtschaft hat Straus mit großer Deutlichkeit herausgestellt. Gemeinsames Merkmal ist, daß die Grundbegriffe über den Bereich hinaus erweitert werden, in dem sie durch empirische Befunde gedeckt sind. Es handelt sich gewissermaßen um szientistische Ideologien. ⫺ Abzulehnen ist nach Straus insbesondere die Reduktion des sprachlichen Zeichens auf den Signalaspekt. Durch seine Kritik wird insbesondere auch aufgezeigt, daß Ansätze wie die in § 12. besprochenen psycholinguistischen Forschungsprogramme
1544 gegenüber dem strukturellen Aspekt der Zeichenthematik versagen. Die Kennzeichnung des Zeichenbegriffs durch Straus macht allerdings in erheblichem Umfang von negativen Bestimmungen Gebrauch und kann daher im strengen Sinne nicht als Definition gelten. Ihr Vorzug besteht andererseits darin, den Zusammenhang mit dem Perspektivismus von Wahrnehmung und Denken auf eine Formel zu bringen: „Zeichen und Bezeichnetes können […] innerhalb einer semantischen Beziehung ihre Rollen nicht vertauschen. Die semiotische Beziehung konstituiert sich in einem dreieckigen Verhältnis […]. Die Rangordnung von Zeichen und Bezeichnetem, die Wertigkeit, Nähe, Zugänglichkeit ist von Gnaden des […] Subjekts […]. Die semiotische Beziehung ist mit der Egozentrizität, mit der leiblichen Gebundenheit unserer Existenz im allgemeinen gegeben“ (Straus 1936 ⫽ 21978, 159). Straus bemüht sich im übrigen, den cartesianischen Dualismus dadurch zu überwinden, daß er den intentionalen, auf Handlungsvollzüge gerichteten organismischen Prozeß in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. Dieses theoretische Ziel verfolgt auch Maurice Merleau-Ponty (1908⫺1961; vgl. 1942; deutsch 1967). Der Autor wendet sich gegen den „Empirismus“ und den „Intellektualismus“ in der phänomenologischen Sprachbetrachtung. Damit kehrt er sich in diesem Punkte auch gegen Husserl; denn dieser hatte die lautlich-materielle Seite des sprachlichen Zeichens weitgehend außer acht gelassen. Die Sprache wird in eine Theorie der Wahrnehmung eingebettet. Merleau-Pontys Meditation bezieht sich auf die Sinnhaftigkeit der Sprache, genauer: die Sprachimmanenz des Sinnes, die Einheit von Denken und Sprechen, das Ausdrucksphänomen, die Lautsymbolik und das Problem der Geste. Eindringlich ist die Diskussion der Schlußfolgerungen, die aus dem Phänomen der Aphasie zu ziehen sind. Auch Merleau-Ponty diskutiert übrigens den „Wortbegriff“, d. h. die psychische Realität der funktionalen Verbindung von Laut und Bedeutung, eine Entdekkung, die er Cassirer zuschreibt (MerleauPonty 1945 ⫽ 1965, 216; vgl. oben § 9.3.). Ähnlich wie bei Straus zeichnen sich auch bei Merleau-Ponty die Grundzüge einer Überwindung der cartesianischen Sprachauffassung ab, und zwar als Folge der vertieften Auffassung der motorischen Seite des Sprechvollzuges. Damit wird aber auch eine Revision des strukturalistischen Sprachbegriffs
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
fällig; dieser enthält in seiner Originalfassung die motorische Komponente nicht (Cours 98). Merleau-Ponty entwickelt übrigens als einer der ersten die programmatische Idee einer Verknüpfung der Husserlschen Phänomenologie mit den Humanwissenschaften, insbesondere der strukturalistischen Linguistik (Merleau-Ponty 1952, deutsch 1973). Eine ausschließlich der Sprache gewidmete monographische Darstellung hat der Autor nicht mehr vollenden können (Merleau-Ponty 1969, deutsch 1984). Man erkennt in den erhaltenen Fragmenten die Umrisse einer strukturalistischen Semiotik, welche insbesondere die ästhetischen Phänomene einer tiefgründigen Deutung unterzieht. Insbesondere die Malerei dient immer wieder als Vergleichsmaßstab für die Abhebung der Eigengesetzlichkeit der Sprache. Die Fiktion einer reinen, d. h. von Ausdrucksphänomenen gereinigten Wissenschaftssprache andererseits wird verworfen. Aus dem Strukturalismus übernimmt Merleau-Ponty die Einsicht in die Rolle der Verschiedenheit als grundlegender Ordnungsform, doch werden diese von Saussure nur scheinbar der Aporetik entkleideten Grundtatsachen der Semiologie der philosophischen Reflexion zurückgegeben. An vielen Stellen seines Oeuvres nähern sich seine Formulierungen der Gestaltpsychologie, in der man auch heute wieder ein Bindeglied der Humanwissenschaften erblickt. Auf die feinsinnigen Essays, in denen Merleau-Ponty seine Auffassungen in ebenso gemeinverständlicher wie stilistisch vollkommener Form zu popularisieren versucht hat, kann hier nur im Vorbeigehen hingewiesen werden (Merleau-Ponty 1964, deutsch 1984). ⫺ Eine Würdigung Merleau-Pontys geben Tilliette und Me´traux (1973). Die Resultate von Merleau-Ponty sind insofern exemplarisch, als die gesamte moderne Sprachwissenschaft und Semiotik im Zeichen einer Integrationsaufgabe steht. Schon erarbeitete Einsichten, die vor allem in der Phänomenologie und Gestaltpsychologie gewonnen wurden, müssen mit neu erworbenen Erkenntnissen aus den Bereichen der Kybernetik, Kommunikationswissenschaft, Kognitionswissenschaft, Künstliche-IntelligenzForschung, Systemtheorie, Neurolinguistik und mancher anderer, vielfach noch nur im ersten Umriß zu erahnenden Teildisziplinen zu einer Synthese zusammengefügt werden. Eine Theoriegestalt dieser Art ist beispielhaft von Jakobson geschaffen worden (vgl.
77. Zeichenkonzeptionen in der Sprachphilosophie
1545
Art. 116); dieser Denker kann im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr gewürdigt werden. Doch soll abschließend noch auf einige Publikationen Holensteins (*1937) hingewiesen werden, eines bekannten Schülers von Jakobson, der wie dieser insbesondere die Beziehungen zwischen der frühen und der reifen Phänomenologie, dem Strukturalismus ⫺ auch in seinen wenig erforschten Vorformen ⫺ und der Gestaltpsychologie zu untersuchen begonnen hat. Wenn Jakobson sich in seinen letzten Schriften darum bemühte, die Sprachwissenschaft in eine Theorie des Organismus einzubauen (Jakobson und Waugh 1979), so hat Holenstein insbesondere das Erfordernis einer interkulturellen Hermeneutik unterstrichen und den methodischen Wert der Universalienforschung neu herausgearbeitet. Ziel ist die Ermöglichung einer integrativen Sicht des denkenden und sprechenden Menschen, einer Theorie des Organismus, die zugleich Theorie seiner kulturellen und zivilisatorischen Leistungen ist. Das Werk Holensteins ist reich an wohlbegründeter Kritik an manchen in den Humanwissenschaften zu unbefragter Geltung gelangten Auffassungen. So wird gegenüber der zeitweilig zum Dogma verfestigten These, daß Wahrnehmung und Denken sprachabhängig seien, geltend gemacht, daß man zwischen kognitiven und linguistischen Universalien zu unterscheiden und eine kognitive Unterlage der Sprache anzuerkennen hat (Holenstein 1980 und 1985 a). Damit nimmt auch die linguistische Universalienforschung eine überraschende Wende: Wenn der immer wieder einmal unternommene Versuch, allgemeingültige Strukturmerkmale der Sprache aufzustellen, in der Regel ein so dürftiges und vor allem ungewisses Ergebnis aufzuweisen hatte, so auch deshalb, weil man es versäumt hat, allgemeingültige Strukturmerkmale der Sprache auf tieferliegende nicht-sprachliche Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen: Das Allgemeine an der Sprache ist oft gewissermaßen implizit. Semiotik, Linguistik und interkulturelle Hermeneutik stoßen im übrigen gemeinsam auf den Sachverhalt, daß es annähernd universale Strukturen („near-universals“) gibt (Holenstein 1985 b). Verworfen wird die These der „Unhintergehbarkeit der Sprache“ ebenso wie die Lehre von der Unaufhebbarkeit des „hermeneutischen Zirkels“, zwei weithin akzeptierte Überzeugungen, deren Funktion wohl nicht zuletzt darin bestand, die Erkenntnisse der Humanwissenschaften auf einen allgemein
akzeptierten Hintergrund zu beziehen. Holenstein ersetzt sie durch subtilere phänomenologische und gestaltpsychologische Betrachtungen einerseits, modernes Tatsachenwissen vor allem aus der kognitiven Psychologie andererseits. ⫺ Wenn diese Aussagen sich wie ein Katalog grundlagentheoretischer Revisionen ausnehmen, so ist dennoch die Befürchtung ganz unangebracht, es werde der Semiotik oder einer semiotisch inspirierten Linguistik und ihren Nachbardisziplinen damit das Interesse entzogen: Vielmehr kommen lediglich die phänomenologische Schau und die empirische Wißbegierde von neuem zu ihren gar nicht einmal so wesensverschiedenen Rechten (Holenstein 1975 und 1976).
14. Zusammenfassung Der betrachtete Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts stellt sich uns als Einheit dar, da wesentliche Erkenntnisse über die Natur des sprachlichen Zeichens, die bereits von Humboldt gewonnen wurden, auch durch die spätere Forschung wieder zu bestätigen waren. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß viele seiner Aussagen einen paradoxen Charakter aufweisen, so daß eine am Maßstab der Wissenschaft orientierte Sprachphilosophie sie zunächst nur als Herausforderung betrachten konnte und kann. So müssen etwa die Fragen nach dem Ursprung der Sprache, der Natur des Sprachwandels, der Identität des Sprachträgers und dem Verhältnis von innerer und äußerer Sprachform als nach wie vor unbeantwortet gelten. Wo Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft Lösungen für diese Probleme skizziert haben, mußten oft genug die Ausgangsfragen spezifisch umgedeutet werden; dieser variantenreiche Vorgang ist in den voranstehenden Abschnitten im Detail verfolgt worden. Es ist für die Geistes- und Kulturwissenschaften überhaupt typisch, daß vereinzelte Sachfortschritte noch keine Aussage darüber zulassen, ob ein integraler Erkenntniszuwachs erzielt werden konnte. So auch hier: Der untersuchte Zeitabschnitt ist reich an partiellen Durchbrüchen, die meist mit einer wissenschaftlichen Schule verknüpft sind, so etwa mit der Junggrammatik, dem Strukturalismus, der Philosophie der symbolischen Formen und der Würzburger Schule, wobei die Phänomenologie (vgl. Art. 103) und die Gestaltpsychologie (vgl. Art. 129) besondere Hervorhebung verdienen, weil man sich gerade von ihnen auch heute wieder integrative
1546 Leistung erhofft. Zum Abschluß soll daher eine vorläufige Bilanzierung versucht werden, um den weiteren Gang der Forschung womöglich in den Grundzügen erraten zu können. Ohne strenge Anknüpfung an die zuletzt kommentierten Autoren kann einiges Grundsätzliche festgehalten werden: Das Zeichen läßt sich sowohl unter dem Gesichtspunkt der Struktur als auch der Funktion betrachten. Was den ersten dieser Gesichtspunkte angeht, so sind Bestrebungen, einen Einheitstypus des (sprachlichen) Zeichens abzuleiten, gegenwärtig nicht als aussichtsreich zu beurteilen. Daher muß die Semiotik mehrdimensional verfahren. Da eine Zeichentypologie andererseits einsichtig motiviert werden muß, sind die grundlegenden Formen der Semiose zu betrachten. Aus diesem Grund wird man wohl die Semiotik von Peirce (vgl. Art. 100) noch immer als den maßgebenden modernen Entwurf ansehen dürfen, da die geschilderte Vorgehensweise durch ihn vorbildlich exemplifiziert wird. Auch die strukturalistische Einsicht in die Systemwertigkeit des Zeichens dürfte zum unverlierbaren Bestand der Zeichentheorie gehören. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, ob es minimale strukturelle Anforderungen gibt, denen jedes Zeichen als solches genügen muß, einen obligatorischen Strukturanteil, der unbeschadet anderweitiger Eigengesetzlichkeit an jedem Zeichen qua Zeichen verwirklicht ist. Es wäre nicht überraschend, wenn apriorische Restriktionen in diesem Bereich nur schwach wirksam sind; das hohe Maß an Divergenz unter den bestehenden Zeichentypologien läßt sich hierdurch in einem gewissen Sinne erklären. Diese Feststellung kann aus evolutionärer Perspektive ergänzt werden: Wenn die Beobachtung zutreffend ist, daß die materielle Beschaffenheit des Zeichenträgers entwicklungsgeschichtlich immer deutlicher hinter die Zeichenfunktion zurücktritt, so kann der vermutete Sachverhalt eines Höchstmaßes an struktureller Plastizität nicht verwundern. Daß die Semiotik darüber hinaus Konsequenzen für die Philosophie im ganzen hat, wird heute fast allgemein anerkannt. Hat doch bereits Peirce sein triadisches Zeichenmodell als repräsentativ für den funktionalen Dynamismus des menschlichen Bewußtseins ansehen können, während Heidegger der phänomenologischen Analyse des Zeichens eine zentrale Stellung im Rahmen seiner Existenzialontologie einräumt (vgl. Art. 74
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
§ 20.). Damit befreit sich die Semiotik wohl erstmals in der Neuzeit aus ihrer dienenden Rolle als Hilfsdisziplin der fundamentalen philosophischen Lehrgebiete. Solange sich die Philosophie im traditionellen Sinne als Metaphysik oder spezifisch als Ontologie verstand, war eine solche Aufwertung des Zeichenbegriffs überhaupt nicht möglich, so unentbehrlich er als Denkwerkzeug in manchen thematischen Zusammenhängen auch erscheinen mochte. Mit der Ablösung der Ontologie durch die Erkenntnistheorie bereits in der nachmittelalterlichen Philosophie beginnt sich das Bild zu differenzieren. Zwar bewahrt die Semiotik auch nun zunächst ihren subsidiären Status, doch entspinnt sich zwischen Erkenntnistheorie und Semiotik ein Konkurrenzverhältnis, da viele traditionell der Erkenntnistheorie zugewiesene Aufgabenstellungen wahlweise auch ganz der Zeichentheorie überlassen werden, die gegenüber der am Bewußtseinsbegriff orientierten Philosophie über den unschätzbaren Vorzug verfügt, ihr „Sujet“ „objektiv“, d. h. als ein Gebiet gegenständlicher Strukturen auffassen zu dürfen. Aufgrund dieser und verwandter Entwicklungen läßt sich der Semiotik ein nahezu universaler interdisziplinärer Vermittlungsberuf voraussagen. Unter dem zweiten der erwähnten Gesichtspunkte erscheint das Zeichen in seiner funktionellen Anlehnungsfähigkeit und -bedürftigkeit. In den vorangehenden Abschnitten waren vielfältige Belege dafür zu sammeln, daß das Zeichen auch für die Wissenschaften vom menschlichen und tierischen Verhalten eine unentbehrliche terminologische Größe darstellt (vgl. Art. 23 und 24 sowie 85). Scheinbar divergierende Wissenschaftszweige geben ihre begriffliche Homogeneität zu erkennen, sobald man den axiomatischen Gehalt ihrer grundlegenden Annahmen semiotisch zu explizieren beginnt. So kann man sagen, daß organismische Prozesse bereits auf relativ niederem Entwicklungsniveau nur von semiotischen Voraussetzungen her adäquat beschrieben werden können, weil die diskriminative Wirksamkeit von Zeichen in den Aufbau sowohl von Wahrnehmungsstrategien als auch von Aktionsplänen eingeht. Der bereits für die Biologie, insbesondere aber auch für Psychologie, Soziologie und Ethnologie unverzichtbare Begriff des intelligenten Verhaltens, d. h. der einsichtig motivierten Wahl zwischen gegebenen Aktionsbzw. Reaktionsalternativen, ist somit in einer wesentlichen Hinsicht semiotisch geprägt.
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Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als der Zeichenbegriff zugleich eine Brücke zu Kybernetik, Kommunikationswissenschaft und kognitiver Psychologie schlägt, also eine wissenschaftsintegrative Funktion aufweist, ohne jedoch eine reduktionistische Sicht zu präjudizieren. Somit empfiehlt sich die Semiotik als ebenso leistungsfähiges wie grundlagentheoretisch weitgehend neutrales Darstellungsmittel. Ähnliche Feststellungen lassen sich treffen, wenn man von dem weiten Feld der Verhaltenswissenschaften zu dem engeren Bezirk der Kulturtheorie übergeht. Ihre Grundlagen entstammen auch heute immer noch weitgehend der Philosophie, und es kann aus gegenwärtiger Sicht wohl nicht mehr genügen, die im wesentlichen aus den Quellen des Kantianismus und Hegelianismus gespeiste Version Cassirers an eine vermeintlich moderne, vor allem dem amerikanischen Pragmatismus entstammende Begrifflichkeit zu adaptieren, wie noch Gehlen es für ausreichend halten konnte. Vielmehr stellt sich auch hier zunächst vordringlich die Aufgabe einer Rekonstruktion des semiotischen Gehalts der tragenden Voraussetzungen. Als Beispielfall mag in diesem Zusammenhang der Begriff des „Mediums“ (vgl. Art. 14 und 15) dienen, dessen Abwandlungen anläßlich der Darstellung Humboldts, Cassirers, Gehlens und anderer bedeutender Autoren zu betrachen waren; er spielt im übrigen auch eine große Rolle in der pragmatistischen Philosophie, deren Beitrag zur Problematik hier nicht diskutiert werden konnte (vgl. Art. 107, 108 und 109). Wenn ein summarisches Fazit aus den dortigen Ausführungen zu ziehen ist, so dieses: Der Begriff des „Zeichens“ bedarf der Präzisierung durch weitere, vielleicht ebenso fundamentale Bestimmungen; dazu gehören neben dem schon genannten „Medium“ auch die Termini des „Geräts“ sowie des „Feldes“. Man findet so eine Vermutung schon der traditionellen Sprachphilosophie bestätigt, als deren zeitgenössischer Repräsentant etwa Heintel (1972, 40⫺55) herangezogen werden darf: Der Begriff des Zeichens trifft ein wesentliches Moment der Sprache, schöpft deren Wesensnatur aber nicht aus. Anders als dieser verdiente Exponent einer älteren Forschungstradition erblicke ich den tieferen Grund für die geschilderte Konstellation jedoch nicht darin, daß die Explikation der Sprache die Inanspruchnahme eines sei es religiösen, sei es existenzphilosophischen Wissens vom Menschen erfordert. Vielmehr zeigt
auch eine jede profane Betrachtung der Sprache, die deren Rolle im Ganzen der menschlichen Kultur zu würdigen versucht, die Ergänzungsbedürftigkeit des Zeichenbegriffs durch andere Konzepte. Was den insoweit vielversprechenden, aber auch besonders erläuterungsbedürftigen Terminus des Mediums angeht, so verweise ich auf den Explikationsvorschlag von Posner (1986).
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Karl-Friedrich Kiesow, Hannover (Deutschland)
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Vorbemerkung 2. Zeichenkonzeptionen in Geometrie und Algebra 2.1. Projektive Geometrie 2.2. Algebraische Geometrie 2.3. Differentialgeometrie 2.4. Invarianten und Erlanger Programm 3. Zeichenkonzeptionen in Arithmetik, Analysis und Mengenlehre 3.1. Grundlagen der natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen 3.2. Grundlagen der reellen Analysis 3.3. Grundlagen der Non-Standard-Analysis 3.4. Cantorsche und axiomatische Mengenlehre 4. Zeichenkonzeptionen in Graphentheorie und Topologie 4.1. Topologische Anfänge der Graphentheorie 4.2. Anwendungen in Physik und Chemie 4.3. Anwendungen in der Philosophie: Peirce 4.4. Anwendungen in der Informatik: Graphen und Algorithmen 5. Zeichenkonzeptionen der mathematischen Grundlagenforschung und Informatik 5.1. Semiotische Aspekte des Grundlagenstreits 5.2. Formalismus und Strukturalismus 5.3. Kalkül-, Maschinen- und Automatentheorie 6. Literatur (in Auswahl)
1.
Vorbemerkung
Die Mathematik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist durch eine stürmische Entwicklung alter und neuer Theorien gekennzeichnet, die von weitreichender Bedeutung für die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften sind. Dabei nehmen die verschiede-
nen Zeichenkonzeptionen dieser Theorien sowohl für die Anwendung als auch für die Grundlegung der Mathematik eine Schlüsselfunktion ein. Auf diesem Hintergrund ist eine Bemerkung von C. S. Peirce (1903 ⫽ 1971) zu verstehen: „Mathematik handelt im wesentlichen von Zeichen. Alles, was wir wissen oder denken, wissen oder denken wir durch Zeichen und unser Wissen selbst ist ein Zeichen.“ Historisch ist zunächst an die Figuren der Geometrie und die Ziffern der Arithmetik zu erinnern, die von alters her als typische Zeichen mathematischen Denkens verstanden wurden. An geometrischen Figuren und arithmetischen Ziffern können bereits charakteristische Aspekte der Semiotik unterschieden werden, die z. B. C. S. Peirce (vgl. Art. 100) und C. W. Morris (vgl. Art. 113) angeführt haben. So ist die syntaktische Struktur von Figuren und Ziffern durch ihre Konstruktionsvorschriften bestimmt (vgl. Art. 2). Die Frage nach der Semantik der geometrischen und arithmetischen Zeichen (vgl. Art. 3), die Frage also, ob damit Formen und Zahlen als unabhängige Entitäten bezeichnet werden, löste in der Philosophiegeschichte grundlegende Diskussionen aus, die mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Problemen in Zusammenhang stehen. In den mathematischen Grundlagendiskussionen dieses Jahrhunderts (vgl. Art. 84) wiederholen sich mit Logizismus, Formalismus, Intuitionismus und Konstruktivismus viele Positionen, die bereits im spätmittelalterlichen Universalienstreit bekannt waren (vgl. Art. 49).
1554 Für den „working mathematician“ ist aber vor allem der pragmatische Aspekt mathematischer Zeichen hervorzuheben, ob sie nämlich für den Benutzer etwa geschickt gewählt sind und einer leichteren Problemlösung dienen. Die Mathematikgeschichte ist voll von Beispielen, nach denen die Entdeckung eines mathematischen Zusammenhangs oder die Berechnung einer Aufgabe erst aufgrund geschickt gewählter Zeichen für den Benutzer möglich wurde. Leibnizens Differentialschreibweise mag stellvertretend für eine pragmatisch gerechtfertigte und heuristisch erfolgreiche Zeichenwahl stehen, die gleichwohl erhebliche semantische und syntaktische Probleme aufwarf (vgl. Art. 66). Neben der Unterscheidung von Morris nach der Syntax, Semantik und Pragmatik von Zeichen seien einige weitere semiotische Aspekte nach Peirce erwähnt. Ein Zeichen eines Objektes nennt Peirce „Icon“, wenn es mit dem Objekt Ähnlichkeit besitzt. Beispiele sind geometrische Figuren, die ein ähnliches Objekt abbilden (z. B. Architekturzeichnungen der Darstellenden Geometrie). Buchstaben an geometrischen Figuren sind nach Peirce Beispiele für „Indizes“, die keine Icone sind, d. h. sie bilden keine Objekte ab, sondern stellen Relationen her. Weitere semiotische Unterscheidungen werden in den folgenden mathematik-historischen Beispielen diskutiert. Mit Mengenlehre, Topologie und Algebra nimmt der Abstraktionsgrad in der modernen Mathematik zu. Zeichen stehen nun für komplexe Strukturen, die z. B. mit Differentialgeometrie und Funktionalanalysis auch grundlegende physikalische Theorien wie Relativitätstheorie und Quantenmechanik prägen. Eine bemerkenswerte Fallstudie über die Entwicklung von mathematischen Zeichenkonzepten vom 19. Jahrhundert bis auf die Gegenwart liefert die Graphentheorie (vgl. Art. 2 § 5.). Ihre Anfänge sind durch anschauliche graphische Darstellungsprobleme geprägt, die z. B. in Geographie, Chemie und Physik des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielen und eng mit den dortigen Theorieschüben verbunden sind. Die Graphentheorie ist ferner sowohl mit der Entwicklung der Topologie als auch der Informatik eng verknüpft. So mündet die Lösung des berühmten Vier-Farben-Problems schließlich in Lösungsvorschläge, die nur mit hochleistungsfähigen Rechnern realisierbar sind (s. u. § 4.4.). Ein anderes berühmtes graphisches Problem, nämlich die Reiseroute eines Reisenden zwi-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
schen endlich vielen Städten (die nur je einmal besucht werden dürfen) zu bestimmen, ist heute ein Paradebeispiel der KünstlicheIntelligenz-Forschung (s. u. § 4.4.). Mit der Herausbildung der Berechenbarkeitstheorie (Turingmaschine, rekursive Funtionen usw., Automatentheorie, Theorie formaler Sprachen, Programmiersprachen natürlicher Sprachen usw.) eröffnet sich in der Geschichte der Informatik ein neues Feld logisch-mathematischer Zeichenkonzeptionen, die auch in Wissenschaftstheorie (vgl. Art. 124) und Philosophie (vgl. Art. 74 §§ 16. und 17.) ausstrahlen.
2.
Zeichenkonzeptionen in Geometrie und Algebra
Die Sätze der griechischen Geometrie behaupten Eigenschaften von geometrischen Figuren (vgl. Art. 41). Ihre Konstruktion (Synthesis) ist nach Euklid logisch-deduktiv aus den geometrischen Postulaten und Axiomen zu rechtfertigen. In diesem Sinne ist die antike Geometrie eine synthetische Theorie. Die Semantik ihrer Zeichen ist platonisch, d. h. die Figuren gelten als (ungenaue) Abbilder von idealen Formen. Seit der Algebraisierung der Geometrie durch Descartes und Fermat treten an die Stelle von Aussagen über Figuren zunehmend solche über Gleichungen und Funktionen (vgl. Art. 66). Die Existenz von z. B. Schnittpunkten, Strecken usw. drückt sich als Lösung von Gleichungssystemen aus. Solche Lösungen werden durch Rechenverfahren der Algebra gefunden. An die Stelle der logischen Deduktion und geometrischen Konstruktion (Synthese) tritt also die „Analyse“ der algebraischen Methode. Entsprechend verlagert sich die Bedeutung der Zeichenkonzeptionen von den intuitivanschaulichen Figuren auf algebraische Formeln. Dabei vertreten Lagrange und Monge bereits den Standpunkt, daß die Formeln der analytischen Geometrie keiner Rechtfertigung durch Figurenkonstruktionen bedürfen, sondern durch die analytischen Verfahren alleine gerechtfertigt sind. Figurenkonstruktionen werden Thema eines besonderen Zweiges der Mathematik ⫺ der Darstellenden Geometrie, deren Zeichnungen und Zeichen in der Technik und Architektur Anwendung finden. Das 19. Jahrhundert wird nicht umsonst von einigen Autoren als das „heroische“ Zeitalter der Geometrie bezeichnet, in
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
dessen verschiedenen Entwicklungszweigen der projektiven, analytischen, nicht-euklidischen Geometrie, Differentialgeometrie usw. auch neue Zeichenkonzeptionen zum Zuge kommen. 2.1. Projektive Geometrie Projektionsprobleme werden in der Geometrie spätestens seit Pappos und Ptolemaios behandelt. Der französische Mathematiker M. Chasles (1793⫺1880) entdeckte 1845 das synthetisch-projektive Erbe von de la Hire und Desargues wieder, nachdem bereits 1822 G. Monges Schüler J. Poncelet seine grundlegende Arbeit zur projektiven Geometrie vorgelegt hatte. In Deutschland ist G. W. Leibniz mit seiner Schrift Über das Kontinuitätsprinzip von 1687 zu erwähnen, in der er invariante Eigenschaften von Zentralprojektionen bespricht. In der Philosophie und Pädagogik gibt es um die Jahrhundertwende deutschsprachige Autoren, die an der synthetischen Geometrie interessiert sind. 1802 veröffentlicht der Nachfolger auf Kants Königsberger Lehrstuhl J. F. Herbart (1776⫺1841) eine Schrift Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung untersucht und wissenschaftlich ausgeführt (Herbart 1851), in der er Pestalozzis pädagogische Anleitung zur Schulung der Anschauung mit Kants philosophischer Anschauungslehre (Pestalozzi 1801 ⫽ 1930) für den Geometrieunterricht auszuwerten versucht (vgl. Art. 74 § 2.). Es gehört ja zum zentralen Bestandteil von Kants Erkenntnisdoktrin, Bilder in der Anschauung mit Verstandesbegriffen zu verbinden. So betont Kant, daß Begriffe ohne Anschauung leer und Anschauungen ohne Begriffe blind seien. Angewendet auf die Geometrie heißt das: „Wir können uns keine Linie vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Ausmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkt drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen […]“ (Kant 1787, B 154). Auch Peirce steht mit seiner semiotischen Zeichenlehre in Kants Tradition. Bei Herbart liegt bereits ein starkes Interesse für die genetischen Strukturen der Zeichenentwicklung vor, die er im Sinne Pestalozzis auch pädagogisch umsetzen will. Während sich Pestalozzi um die Entstehung von Bildern und Raumerlebnissen bei Kindern bemüht, geht es Herbart (1851, 139) bereits darum, „daß die Kinder gewöhnt werden, auch bei Flächen, Größe und Gestalt in Gedanken zu trennen;
1555
die vorliegenden Zeichnungen sich als bloße Sinnbilder größerer oder kleinerer Gegenstände vorzustellen; die Form als eine Abänderung anderer Formen zu denken, und die Zahlen, welche die verschiedenen Formen zu unterscheiden dienen, als bloße Verhältnisbegriffe zu erkennen“. Daß die synthetische Geometrie nicht zwangsläufig mit einer solchen an Rousseau und Pestalozzi orientierten harmonischen Persönlichkeitsbildung verbunden sein muß, zeigt die Ecole Polytechnique, an der synthetische Geometrie seit G. Monges Gründung in der Revolutionszeit unterrichtet wurde und die sich unter Napoleon zu einer Eliteschule für Führungskräfte der französischen Nation entwickelte. Der pragmatische Zweck der Zeichnungen bekommt hier eine politische und militärische Ausrichtung. Auch J. V. Poncelet, der mit seinem Traite´ des proprie´te´s projectives des figures (1822) die Entwicklung der projektiven Geometrie im 19. Jahrhundert auslöste, ist als Schüler Monges und Offizier Napoleons ein Ergebnis dieser Ausbildung. Für die perspektivische Darstellung sind zunächst Zentral- und Parallelprojektion (Abb. 78.1 und 78.2) zu erwähnen. Jede Ab-
Abb. 78.1.
Abb. 78.2.
1556 bildung einer Figur auf eine andere durch Zentral- und Parallelprojektion oder durch eine endliche Folge von Projektionen heißt „projektive Transformation“. Die projektive Geometrie der Ebene oder der Gerade besteht aus der Gesamtheit derjenigen Sätze, die bei beliebigen projektiven Transformationen der Figuren, auf die sie sich beziehen, ungeändert gültig bleiben. Im Unterschied dazu ist die metrische Geometrie das System derjenigen Sätze, die sich auf die Größen von Figuren beziehen und bei starren Bewegungen invariant bleiben. Bei projektiven Transformationen werden im allgemeinen die Maße von Längen und Winkeln und die Verhältnisse solcher Größen verändert. So können gleichschenklige und gleichseitige Dreiecke durch Projektionen in Dreiecke mit verschiedenen Seitengrößen und Seitenproportionen übergehen. Also bleibt die Dreiecksgestalt erhalten, und damit ist der Begriff „Dreieck“ projektiv, während die Begriffe „gleichseitiges“ oder „gleichschenkliges“ Dreieck nicht projektiv sind und der metrischen Geometrie angehören. An die Stelle der Invarianz der Streckenlänge in der metrischen Geometrie tritt in der projektiven Geometrie die Invarianz des Doppelverhältnisses. Geometrische Formen und Formverhältnisse sind also durch die Invarianz gegenüber Transformationen festgelegt. Am Unterschied von metrischer und projektiver Invarianz wird nun deutlich, daß der geometrische Formbegriff keineswegs absolut festliegt, wie in platonischer Tradition vermutet werden könnte, sondern durch unterschiedliche Transformationsgruppen relativiert ist (Mainzer 1980, 136 f). Unter dem Gesichtspunkt neuer Zeichenkonzeptionen ist Poncelet ein weiterer wichtiger Beitrag zu verdanken. Gemeint ist die symbolische Bezeichnung und zeichnerische Darstellung von Begriffen wie „unendlich ferner Punkt“ und „unendlich ferne Gerade“, die durch die Anschauung nicht unmittelbar gegeben sind. So wie schneidende Geraden genau einem Punkt (dem Schnittpunkt) zugeordnet werden, ordnet Poncelet parallele Geraden genau einem Punkt (ihrem „unendlich fernliegenden Schnittpunkt“) zu. Ebenso läßt sich den gewöhnlichen Geraden der Ebene eine einzige „unendlich ferne Gerade“ zuordnen, die alle unendlich fernen Punkte der Ebene und keine anderen Punkte enthält. Zeichen und Figuren werden hier zu Symbolen, die zwar im Kontext der Theorie wohlde-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
finiert sind, aber keinen anschaulichen Vorstellungen entsprechen. Die projektive Darstellung der unendlich fernen Geraden gelingt wie folgt (Abb. 78.3).
Abb. 78.3.
Projiziert man eine Ebene e von einem Punkt O aus auf eine Ebene e⬘, so ordnet diese Projektion jedem Punkt A von e genau einen gewählten Punkt A⬘ von e⬘ zu mit Ausnahme derjenigen Punkte A von e, die mit O eine Parallele von e⬘ bilden, da der Projektionsstrahl AO die Ebene e⬘ nicht schneidet. Durch Einführung der unendlich fernen Punkte erledigen sich diese Ausnahmen, da nun dem Punkt A der unendlich ferne Punkt von AO zugeordnet wird. Die Gerade g, die alle auszunehmenden Punkte enthält, wird der unendlich fernen Geraden zugeordnet. Parallelen von e⬘ schneiden sich nach Projektion auf e tatsächlich in der Geraden g, der Projektion der unendlich fernen Geraden. So wie Punkte um unendlich ferne Punkte und Geraden um unendlich ferne Geraden erweitert werden, läßt sich in der Geometrie des Raumes als neues Element die unendlich ferne Ebene hinzufügen, die alle unendlich fernen Punkte und Geraden enthält. Bemerkenswert unter dem Gesichtspunkt der Zeichenkonzeption ist das Dualitätsprinzip der projektiven Geometrie. Zwei Lehrsätze heißen dual, wenn einer dadurch in den anderen übergeht, daß alle Grundbegriffe durch ihr duales Gegenstück ersetzt werden. Bezeichnet man z. B. Punkte mit A, B, C …, Geraden mit g, h, …, so werden semiotisch die dualen Zeichen z. B. für Punkte und Geraden (auch entsprechende duale Relationen) ausgetauscht und man erhält neue gültige Sätze (vgl. den Satz von Pascal und den dualen Satz von Brianchon). Der Einfluß der auf Anschauung gerichteten neuen Pädagogik von Pestalozzi und Her-
1557
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
bart ist auch in den Beiträgen von J. Steiner (1796⫺1863) zur projektiven Geometrie spürbar (Steiner 1881). Steiner geht von projektiven „Grundgebilden“ der Ebene und des Raumes wie Gerade, Ebene, Strahlenbündel, Ebenenbündel usw. aus, um sie projektiv aufeinander zu beziehen und so Kurven und Flächen zu erzeugen. Das Ziel der synthetischen Geometer, eine von metrischen Begriffen unabhängige Begründung der projektiven Geometrie zu liefern, wird erst von K. G. C. von Staudt (1798⫺1867) eingelöst. Staudt (1847), der ebenso wie Steiner vor seiner Hochschullehrertätigkeit als Pädagoge arbeitete, konnte nämlich das archimedische Meßbarkeitsaxiom ohne den metrischen Abstandsbegriff und ohne euklidische Parallelität projektiv begründen. Die einseitige Ausrichtung am synthetischen Standpunkt ergibt jedoch bald eine Komplizierung der Beweisführung, die durch analytische Methoden eleganter und kürzer erledigt wird. Dazu müssen zunächst Koordinaten eingeführt werden, also im Sinne der Peirceschen Zeichenlehre „Indizes“ an die Stelle der anschaulichen Figuren. Insbesondere sind die Koordinaten der unendlich fernen Punkte passend festzulegen. Dabei gelingt auch eine analytische Erklärung des Dualitätsprinzips: Bei der Verwendung homogener Koordinaten fällt nämlich in den Gleichungen ax ⫹ by ⫹ cz ⫽ 0 der Ebene die Symmetrie von Punkten und Geraden auf, da sowohl die Tripel (a, b, c) als Geradenkoordinaten und (x, y, z) als Punktkoordinaten als auch umgekehrt (a, b, c) als Punktkoordinaten und (x, y, z) als Geradenkoordinaten interpretiert werden können. Die Methoden der analytischen Geometrie erwiesen sich als äußerst fruchtbar und fanden zudem einleuchtende algebraische Erklärungen. So führte J. Plücker (1895⫺96) abkürzende Notationen für die komplizierten Gleichungen der analytischen Geometrie ein und nahm damit der Kritik der synthetischen Geometer an der „Hieroglyphenschrift“ (Carnot) der Analytiker den Wind aus den Segeln. 2.2. Algebraische Geometrie Die Algebraisierung der Geometrie und der damit verbundenen Zeichenkonzeption zeichnet sich im 19. Jahrhundert auf allen Gebieten ab. So wird auch die Analyse beliebigdimensionaler Räume möglich. A. Cayley veröffentlicht 1843 seine Chapters on the Analytical Geometry of n Dimensions, H. Graßmann
1844 seine Ausdehnungslehre. Ziel Graßmanns war ⫺ wie wir heute sagen würden ⫺, die Vektoralgebra auf affiner Grundlage einzuführen. Seine Terminologie und halbwegs philosophische Darstellung erwies sich jedoch als derart schwierig, daß die Vektoralgebra in Deutschland erst über den Umweg englischer und amerikanischer Mathematiker und Physiker rezipiert wurde. Die pragmatische Orientierung auf einen zweckmäßigen Rechenkalkül hat schließlich den synthetischen Standpunkt überwunden. Grundbegriffe der affinen Geometrie sind die Translationen und Parallelverschiebungen des Raumes, die im Anschluß an W. R. Hamilton (1805⫺1865) „Vektoren“ genannt werden. Eine Translation n führt einen Punkt A in einen Punkt n(A) ⫽ B über, der als Endpunkt des von A aus abgetragenen Vektors n bezeichnet wird. Eine solche Translation ist bereits durch die beiden Punkte A und B eindeutig bestimmt. Die Verknüpfung von Vektoren n1 und n2 ergibt eine neue Translation n1 ⫹ n2 im Sinne einer Hintereinanderausführung zweier Translationen und erfüllt die Gruppenaxiome. Der Zahlbegriff kommt in die Vektoralgebra durch die Möglichkeit beliebiger Iteration der Translation n zu nn ⫽ n ⫹ … ⫹ n, wird schließlich auf beliebig kleine Iterationen und damit von natürlichen Zahlen n auf reelle Zahlen x (Skalare) verallgemeinert. Für die Multiplikation von Vektoren und Skalaren werden ebenfalls Axiome eingeführt. Damit ist ein algebraisches Operationsfeld eingeführt, in dem sich geometrische Gebilde verschiedener Dimensionsstufen erzeugen lassen. Graßmann erkannte die Bedeutung des auf Leibniz und Cramer zurückgehenden Determinantenkalküls für die algebraische Charakterisierung geometrischer Gebilde. Betrachtet man vom semantischen Standpunkt die bisherigen Zeichen als „punktuell“ (bei einzelnen Zeichen) bzw. „linear“ (bei Reihung der Zeichen in einer Linie oder Kolonne), so werden mit Matrizen und Determinanten auch 2-dimensionale Zeichen eingeführt. Für zwei Streckenpunkte auf der xAchse mit Abszissen x1 und x2 wird die Strekkengröße x1⫺x2, für drei Ebenenpunkte die Größe des entsprechenden Dreiecksinhalts, für vier Raumpunkte die Größe des Tetraederinhalts bestimmt durch 1 1
冏 冏 冨 冨
冨 冨
x1 y1 1 x1 y1 1 1 x2 y2 x1 1 x y 1 , , x2 1 1 · 2 2 2 x y x3 y3 1 1 · 2 · 3 3 3 x4 y4
z1 z2 z3 z4
1 1 . 1 1
1558 Im zweiten Fall liefert die Determinante den doppelten Dreiecksinhalt, also die Parallelogrammgröße, im dritten Fall den sechsfachen Inhalt des Tetraeders, also den Inhalt eines Parallelflachs, für das Graßmann im Anschluß an den Ausdruck „Kalkspat“ aus der Bergmannssprache und Mineralogie die Bezeichnung „Spat“ prägte (Abb. 78.4).
Abb. 78.4.
Schon im 19. Jahrhundert waren Anwendungsbeispiele n-dimensionaler Vektorräume bekannt. Erinnert sei an die kinetische Gastheorie L. Boltzmanns, in der Räume von 6nDimensionen behandelt werden, wobei n ⫽ 6 · 1023 die Anzahl der Moleküle in einem Massengramm des Gases ist und die Zahl 6 durch die sechs Koordinaten für Ort und Impuls entsteht. H. von Helmholtz wies nach, daß die physikalische Mischung von Farbwahrnehmungen auf der Netzhaut der Vektoraddition entspricht. Die Vektorrechnung ist mittlerweile ein Rechenkalkül, der aus weiten Teilen der Technik und Naturwissenschaften nicht mehr wegzudenken ist. Die Theorie der Vektorräume oder lineare Algebra, wie man heute sagt, ist nur ein Beispiel für die Algebraisierung der modernen Geometrie. Die algebraische Geometrie hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer der tragenden Säulen der modernen Mathematik entwikkelt. Sie stellt heute nicht nur das Bindeglied zwischen Algebra und Geometrie dar, sondern steht durch ihre Verwendung neuer algebraischer und topologischer Methoden in enger Verbindung z. B. mit Topologie, Funktionentheorie und Zahlentheorie. Historisch läßt sich die Entwicklung der algebraischen Geometrie als schrittweise Verallgemeinerung ihrer geometrischen Objekte von der Untersuchung algebraischer und rationaler Kurven, affiner und projektiver Mannigfaltigkeiten über quasiprojektive Mannigfaltigkeiten, abstrakte algebraische Mannigfaltigkeiten bis hin zu affinen und projektiven Schemata und algebraischen Räumen charakterisieren. Die Abstraktion auch der damit verbundenen
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Zeichenkonzeptionen geschah jedoch nicht als „l’art pour l’art“, sondern rechtfertigte sich pragmatisch durch die Lösung klassischer und neuer Probleme und die dadurch sichtbar gewordene Verbindung verschiedener mathematischer Theorien. 2.3. Differentialgeometrie Die Untersuchungen zur Kurventheorie seit dem 17. Jahrhundert und zur Flächentheorie seit dem 18. Jahrhundert mit der Infinitesimalrechnung (vgl. Art. 66 § 1.) bilden den mathematischen Ursprung der Differentialgeometrie. Pragmatische Bezüge ergaben sich schon sehr früh durch die Anwendung von Geographie und Kartographie. Auch hier haben Napoleonische Militärstrategie sowie Steuer- und Verwaltungsneuordnung in Europa die Entwicklung der Geometrie gefördert. So erhält C. F. Gauß (1777⫺1850), der Begründer der Differentialgeometrie der Flächen, durch die Hannoversche Regierung einen Forschungsauftrag zur Landvermessung. Die Sprache der Differentialgeometrie ist durch analytische Geometrie, Integral- und Differentialrechnung bestimmt (Mainzer 1980, 154 ff). Der Landvermesser hat es jedoch nicht mehr mit geraden Raumkoordinaten zu tun, sondern mit krummen Kurven (Wege) auf der Erdoberfläche. So entstand der Gedanke, die Fläche mit einem 2-dimensionalen krummlinigen Koordinatennetz (u1, u2) mit stetigen und differenzierbaren Kurven u1, u2 zu überziehen, um so auch für die Fläche eine Parameterdarstellung xi ⫽ xi (u1, u2) mit 1 ⱕ
Abb. 78.5.
i ⱕ 3 im Raum zu erhalten. Kurven auf den Flächen a ⬍ t ⬍ b lassen sich nun durch Flächenkoordinaten u1 ⫽ u1 (t), u2 ⫽ u2 (t) und durch Raumkoordinaten x1 ⫽ x1 (u1 (t), u2 (t)) beschreiben (Gauß 1912). Wie Plückers Kurznotationen in der analytischen Geometrie führten auch in der Dif-
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
1559
ferentialgeometrie Kurznotationen zu erheblichen Vereinfachungen. Vereinbart man Hochindizes (keine Exponenten!) und (nach Einstein) Summation über die Indizes der Flächenkoordinaten, so erhält man als abgekürzte Schreibweise für die Bogenlänge
冕 b
s⫽
gmn
dum dun dt dt
a
mit gmn als metrischen Koeffizienten, wobei gmn ⫽ gmn (u1, u2) nur von den Flächenpunkdum die Richtung ten abhängt und in den dt der beliebig auswählbaren Flächenkurven zum Ausdruck kommt. Die Flächenmetrik ist dann die positiv-definite quadratische Differentialform ds2 ⫽ gmn dumdun. Im „unendlich Kleinen“ lassen sich immer cartesische Koordinaten xi mit der Darstellung ds2 ⫽ (dx1)2 ⫹ (dx2)2 ⫹ (dx3)2 angeben, d. h. lokal gilt auf den Gaußschen Flächen die euklidische Geometrie. Für die Anwendungen der Gaußschen Flächengeometrie sind die eineindeutigen Transformationen hervorzuheben, welche die Fläche längentreu (mit Invarianz der Kurvenlänge), konform (mit Invarianz der Winkelgröße) und flächentreu (mit Invarianz der Flächengröße) abbilden. So entsteht die ebene Merkator-Karte (Abb. 78.6 a) durch eine konforme, aber flächenverzerrende Abbildung der Kugeloberfläche, während der Lambert-Karte (Abb. 78.6 b) eine (bis auf einen Verkleinerungsfaktor) flächentreue Transformation zugrunde liegt. Eine Karte ist ein typischer Zeichenträger (vgl. die Art. 32 § 3.2., 46 § 6., 51, 55 § 3., 57 § 2.5. und 137; siehe auch § 4.4. im vorliegen-
Abb. 78.6a.
Abb. 78.6b.
den Artikel). Ihre Syntax ist durch geometrische Konstruktionsgesetze bestimmt, ihre Semantik durch die Abbildungsvorschrift, ihre Pragmatik durch den Zweck der Orientierung für den Kartenleser. Die Resultate der Gaußschen Flächentheorie wurden von B. Riemann (1826⫺ 1866) in seiner berühmten Habilitationsrede von 1854 für n-dimensionale differenzierbare Mannigfaltigkeiten verallgemeinert. Während mit der Bezeichnung „Krümmung“ bei den Gaußschen krummen Flächen im euklidischen Raum noch anschauliche Vorstellungen verknüpft werden können, versagt diese Bedeutung für beliebig dimensionale Riemannsche Mannigfaltigkeiten völlig. Das Zeichen für „Krümmung einer Mannigfaltigkeit in einem Punkt“ steht dann nur noch für eine mathematische Funktion, die von den Ortsfunktionen gmn abhängt, deren Werte im allgemeinen von Ort zu Ort verschieden sind. In Einsteins Relativitätstheorie erhält der Begriff der Raumkrümmung eine objektiv physikalische Bedeutung. Als mathematische Sprache dient der von G. Ricci und T. LeviCivita um 1900 eingeführte Kalkül für verallgemeinerte Vektoren, d. h. Tensoren wie z. B. den metrischen Tensor für Gravitationspotentiale oder den Krümmungstensor für Wirkungen von Gravitationsfeldern. Helmholtz hatte im 19. Jahrhundert die 3-dimensionalen Riemannschen Mannigfaltigkeiten mit kon-
1560
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
stanter Krümmung unter der physikalischen Annahme zu charakterisieren versucht, daß ein starrer Meßkörper überall im Raum frei beweglich sei. Anschaulich setzt also Helmholtz voraus, daß der Raum „überall gleich beschaffen“ und daher homogen sei. Aus der so anschaulich gedeuteten Geometrie wurde mittlerweile ein abstrakter verallgemeinerter Kalkül entwickelt, der z. B. in der modernen Kosmologie (vgl. Art. 137) Anwendung findet und die homogene und isotrope Struktur des Universums bestimmt. 2.4. Invarianten und Erlanger Programm Die alte Bedeutung von „Geometrie“ im Sinne von „Erdmessung“ (vgl. Art. 66 § 3.) konnte bereits die Forschungsspezialisierungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr abdekken. Erst F. Kleins „Erlanger Programm“ von 1872 lieferte mit dem Begriff der „geometrischen Invarianten“, die bei metrischen, affinen, projektiven, topologischen usw. Transformationsgruppen unverändert bleiben, eine Möglichkeit, die verschiedenen Formbegriffe der Geometrie und ihre Zeichenkonzeptionen in einer Hierarchie von Theorien zu ordnen (vgl. Art. 2 § 2.). In der z. B. 2-dimensionalen analytischen Geometrie werden geometrische Aussagen über Punkte der Ebene übersetzt in analytische Aussagen über Koordinatenwerte derart, daß Funktionen x und y jedem Punkt P die reellen Werte x ⫽ x(P) und y ⫽ y(P) zuordnen. Die Transformationen x¯ ⫽ ax ⫹ by ⫹ e und y¯ ⫽ cx ⫹ dy ⫹ f lassen sich zusammenfassen zu x¯ ab x e ⫽ ⫹ , y¯ cd y f
冉 冊 冉 冊冉 冊 冉 冊 冉 冊 冉 冊冉 冊 冉 冊
wobei die Matrix
ab cd
orthogonal sein
muß mit ab ac 10 ⫽ . cd bd 01 Die cartesische Geometrie der Ebene besteht dann aus denjenigen Aussagen und Eigenschaften, die sich gegenüber diesen Transformationen als invariant erweisen. Da die Hintereinanderausführung von cartesischen Transformationen wieder zu solchen führt, bilden sie eine Gruppe, welche die invarianten Eigenschaften der cartesischen Geometrie eindeutig charakterisiert. Die Untersuchung einer geometrischen Theorie besteht daher nach F. Klein (1921,
463) allgemein in folgender algebraischer Aufgabe: „Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben; man soll die der Mannigfaltigkeit angehörigen Gebilde hinsichtlich solcher Eigenschaften untersuchen, die durch die Transformationen der Gruppe nicht geändert werden.“ Kurz: „Es ist eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben. Man entwickele die auf die Gruppen bezügliche invariante Theorie.“ So ist z. B. die affine Geometrie der Ebene charakterisiert durch die Transformationen
冉 冊 冉 冊冉 冊 冉 冊 x¯ ab ⫽ y¯ cd
x e ⫹ y f
冉 冊
ab . Die cd affine Differentialgeometrie läßt sich dann charakterisieren durch die Transformationen x ⫽ f(x, y) und y ⫽ g(x, y), mit stetig-differenzierbaren Transformationen f, g und einer f⬘1 f⬘2 umkehrbaren Deriviertenmatrix , g⬘1 g⬘2 welche die lokale Affinität dieser Theorie zum Ausdruck bringt. Fordert man nur die Stetigkeit und die stetige Umkehrbarkeit, so ergeben sich die topologischen Transformationen. Die Theorie der Sätze, die gegenüber den topologischen Transformationen invariant bleiben, ist dann gerade die Topologie. Allgemein ist festzuhalten, daß die Kleinsche Hierarchie geometrischer Theorien von der euklidischen, projektiven usw. bis zur topologischen Transformationsgruppe mit großer Klarheit die Architektur der geometrischen Sprache im 19. Jahrhundert gliedert. Neben diese gruppentheoretische Charakterisierung tritt seit Anfang dieses Jahrhunderts die axiomatische Methode der Topologie, die auf den Ausbau der Strukturmathematik von N. Bourbaki großen Einfluß nahm. mit einer umkehrbaren Matrix
冉 冊
3.
Zeichenkonzeptionen in Arithmetik, Analysis und Mengenlehre
Nach überlieferter Auffassung handelt die Mathematik von Zahlen und Figuren. Nun hat die mathematische Forschung in den letzten hundert Jahren abstrakte Theorien wie die Mengenlehre, die allgemeine Algebra und die Topologie hervorgebracht, die nach neuer Auffassung die Grundlagen bilden. Andererseits zeigt sich aber auch heute, daß die moderne Forschung in der Mathematik und ih-
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
ren Anwendungen ganz wesentlich an das anknüpft, was in der Vergangenheit geschaffen wurde, und daß insbesondere das traditionelle Zahlensystem die wichtigste Grundlage aller Mathematik ist. Die arithmetische Sprache wird erst im 19. Jahrhundert präzisiert (Ebbinghaus, Hermes, Hirzebruch u. a. 1983). 3.1. Grundlagen der natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts beginnt man beim Aufbau des Zahlensystems mit den natürlichen Zahlen und erweitert sie schrittweise zu den ganzen, rationalen, reellen und komplexen Zahlen. Das ist aber nicht die historische Entwicklung des Zahlbegriffs: Zu den natürlichen kommen noch in antiker Zeit die rationalen Zahlen (Brüche, Verhältnisse) und gewisse irrationale Zahlen (die Kreiszahl p und Quadratwurzeln). Das System der (positiven) rationalen und irrationalen Zahlen wird von griechischen Philosophen und Mathematikern theoretisch beschrieben, aber es wird als eine eigenständige Lehre von den kommensurablen und inkommensurablen Proportionen dargestellt und nicht als Erweiterung der natürlichen Zahlen aufgefaßt (vgl. Art. 41). Semiotisch kommt diese Zahlauffassung darin zum Ausdruck, daß keine eigenen Zeichen für rationale oder reelle Zahlen existieren, sondern nur für das Verhältnis von Größen wie z. B. a : b. Erst nachdem man jahrhundertelang mit Proportionen wie mit Zahlen gerechnet hatte, setzte sich im 17. Jahrhundert die Erkenntnis durch: Zahl ist etwas, das sich zu Eins so verhält wie eine beliebige Strecke zu einer gegebenen Strecke. Aus „rationalen“ Verhältnisa sen a : b wurden Brüche . „Irrationale“ b Verhältnisse wurden durch Dezimalbrüche dargestellt. Der pragmatische Zweck des Rechnens bereitete also erst die Vorstellung der Zahlen vor, die im 19. Jahrhundert mengentheoretisch präzisiert wurden. Negative Zahlen, deren Gebrauch im 6. Jahrhundert in Indien nachzuweisen ist (vgl. Art. 92 § 5.2.), und komplexe Zahlen, die Cardano 1545 als Lösung quadratischer Gleichungen in Erwägung zog, werden noch lange nach ihrem Auftreten angezweifelt. Zählen mit kulturell verschiedenen Zahlzeichen steht historisch am Anfang der Arithmetik. Rechnen setzt Zählen voraus, und Zählen erfordert das Verfügen über Mittel der Zahldarstellung (vgl. Art. 2 §§ 4.4.⫺5.3.).
1561
Bis ins 19. Jahrhundert wurde versucht, den Zahlbegriff auf den psychologischen Vorgang des Zählens zurückzuführen (vgl. Art. 41 § 2.). Semiotisch gesprochen waren die Bedeutungen der Zahlzeichen mehr oder weniger klare psychologische Vorstellungen. Die dabei verwendete psychologische und philosophische Terminologie stieß jedoch auf Kritik, nachdem mit G. Freges Logik und G. Cantors Mengenlehre logisch-mathematische Grundlagen zur Präzisierung des Zahlbegriffs bereitstanden. R. Dedekind, der seit Anfang der siebziger Jahre mit G. Cantor korrespondierte, stellte in seiner Arbeit Was sind und was sollen die Zahlen? eine mengentheoretische Definition der natürlichen Zahlen vor, der Vorschläge von G. Frege, G. Cantor u. a. und schließlich G. Peanos Axiomatisierung folgten. Die natürlichen Zahlen bilden nach Dedekind (Mainzer 1983, 13 ff) eine Menge ⺞, in der ein Element 0 苸 ⺞ (die Null) ausgezeichnet ist und auf der eine Selbstabbildung S : ⺞ → ⺞ (Nachfolgerfunktion, engl. „Successor“, Nachfolger) definiert ist, so daß folgende Axiome erfüllt sind: (S 1) S ist injektiv. (S 2) 0 ⰻ S (⺞). (S 3) Wenn eine Teilmenge M 債 ⺞ die Null enthält und durch S in sich abgebildet wird, dann ist M ⫽ ⺞. Die Abbildung S beschreibt unter Benutzung mengentheoretischer Begriffe den Vorgang des Zählens und damit die Bedeutung der Zählzeichen. Die Vorstellung ist, daß S jeder natürlichen Zahl n die nachfolgende Zahl S(n) zuordnet. 1 : ⫽ S(0), 2 : ⫽ S(1), 3 :⫽ S(2) usw. Das erste Axiom präzisiert, daß man beim Zählen nicht mehrmals auf dieselbe Zahl stoßen kann. Im zweiten Axiom kommt zum Ausdruck, daß 0 der Ausgangspunkt des Zählens ist, aber auch, daß 0 durch den Zählprozeß nicht erreicht wird. Das dritte Axiom ist die mengentheoretische Formulierung für das „Prinzip der vollständigen Induktion“: Wenn eine Eigenschaft E der Zahl 0 zukommt (Induktionsanfang) und für jede Zahl n, welche die Eigenschaft E hat, auch der Nachfolger S(n) die Eigenschaft E hat (Induktionsvoraussetzung), dann kommt diese Eigenschaft allen natürlichen Zahlen zu. Die Äquivalenz dieses Prinzips mit dem dritten Axiom erhält man, indem man die Eigenschaft E durch die Teilmenge M der Zahlen ersetzt, denen sie zukommt. Ei-
1562 genschaften werden also extensional definiert. Daß die so axiomatisierten Zahlen einzig, d. h. bis auf Isomorphie bestimmt sind, folgt aus Dedekinds Rekursionssatz. Inhaltlich bedeutet diese Einzigkeit, daß wir verschiedene Zeichen mit verschiedenen Vorstellungen für die Einheit der natürlichen Zahlen haben können, sofern sie nur die Strukturgesetze (S 1)⫺(S 3) oder damit logisch äquivalente Charakterisierungen (z. B. Peanos Axiome) erfüllen. Mengentheoretisch kann nun auch der Begriff „unendlich“ präzisiert werden, für den es zwar verschiedene Zeichen (z. B. „⬁“ oder „…“ nach endlicher Aufzählung der Elemente) gibt, aber nur vage psychologische Vorstellungen als Bedeutung. Eine Menge M heißt nach Dedekind unendlich, wenn es eine injektive Selbstabbildung f : M → M mit f(M) ⫽ M gibt. Inhaltlich bringt diese Definition zum Ausdruck, daß nur unendliche Mengen auf echte Teilmengen injektiv abbildbar sind. Es läßt sich dann beweisen, daß es genau dann eine unendliche Menge gibt, wenn es eine Menge ⺞ gibt, welche die Axiome (S 1)⫺(S 3) erfüllt. Mit anderen Worten: Die natürlichen Zahlen existieren mengentheoretisch genau dann, wenn es eine unendliche Menge gibt. Alle allgemeinen Versuche für den Existenzbeweis einer unendlichen Menge führten zu Paradoxien, so daß heute das Unendlichkeitsaxiom der axiomatischen Mengenlehre für die Garantie aller natürlichen Zahlen in Anspruch genommen werden muß. Addition und Multiplikation der natürlichen Zahlen werden nach dem Rekursionssatz induktiv definiert. Allgemein wird dabei eine Abbildung f : ⺞ → A ausgehend von f(0) ⫽ a durch die Rekursionsformel f(n ⫹ 1) ⫽ g(f(n)) definiert, wobei n ⫹ 1 ⫽ S(n), A eine beliebige Menge und a ein Element aus A ist. Im Fall der Addition ist f(n) ⫽ m ⫹ n für konstantes m und g(n) ⫽ S(n). Alle vertrauten Rechenregeln bezüglich der Addition können bewiesen werden. Allgemein ist ⺞ bezüglich der Addition eine kommutative Halbgruppe (mit Kürzungsregel), die durch das Paar (⺞, ⫹) aus der Menge ⺞ und der Additionsfunktion ⫹ bezeichnet wird. Die Subtraktion ist im Bereich der natürlichen Zahlen nicht unbeschränkt ausführbar. Nachdem man die negativen bzw. „falschen“ (R. Descartes) ganzen Zahlen zunächst vorsichtig wie Wurzeln und imaginäre Zahlen als fiktive Rechensymbole behandelt hatte, be-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
zeichnet L. Kronecker im 19. Jahrhundert die ganzen Zahlen als den „naturgemäßen Ausgangspunkt für die Entwicklung des Zahlbegriffs“. Nach R. Dedekind waren aber bereits die positiven ganzen Zahlen nicht bloß „naturgegeben“, sondern „freie Schöpfungen des menschlichen Geistes“, nämlich mengentheoretische Begriffsbildungen. Algebraisch handelt es sich bei den natürlichen Zahlen um eine additive Halbgruppe, die bei den ganzen Zahlen zu einer Gruppe erweitert wird. Vom semiotischen Standpunkt aus handelt es sich hierbei ⫺ wie überhaupt heute in der modernen Strukturmathematik ⫺ nicht um formalisierte Begriffsbildungen, die in einer formalisierten Sprache vorgetragen werden, sondern um Strukturbegriffe, die in der Umgangssprache unter Voraussetzung der Mengenlehre definiert werden. Die Division als Umkehrung der Multiplikation ist im Bereich der ganzen Zahlen nicht unbeschränkt ausführbar. Brüche, die diese Division immer möglich machen, werden schon in früherer Zeit betrachtet. Ihre Zeichen waren nie so von Geheimnissen umwittert wie die negativen Zahlen, die man sich unterhalb von „Nichts“ vorstellte. B. Bolzano (1976) entwickelt in seiner im Nachlaß entdeckten „Reinen Zahlenlehre“ eine Theorie der rationalen Zahlen als Theorie derjenigen Zahlenmenge, die gegenüber den vier Rechenoperationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division abgeschlossen ist. In den Vordergrund tritt also die Untersuchung der Eigenschaften bestimmter Verknüpfungen ⫺ und nicht die Fragen nach dem „Wesen“ der Zahl als ontologischer Entität, die als Bedeutung eines Zeichens fungiert. Bei H. Hankel heißt es schließlich 1867 in seiner Theorie der complexen Zahlensysteme, daß die Gesetze dieser Operationen „das System der Bedingungen“ bestimmen, „welche nöthig und ausreichend sind, die Operation formal zu definieren.“ Für den sich so herauskristallisierenden neuen Strukturbegriff treten zunächst die Bezeichnungen „Rationalitätsbereich“ (L. Kronecker), „rationales Gebiet“, schließlich „Körper“ (R. Dedekind) auf. E. Steinitz gibt 1910 eine abstrakte Definition dieses algebraischen Grundbegriffs an. Steinitz stellt auch heraus, daß hinter der Erweiterung der ganzen zu den rationalen Zahlen eine allgemeine algebraische Konstruktion steht, nämlich die Einbettung eines Integritätsrings in einen Körper durch Quotientenbildung.
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
3.2. Grundlagen der reellen Analysis Nach der geometrischen Proportionenlehre der Griechen (vgl. Art. 41) wird für die neuzeitliche Entwicklung der reellen Zahlen der arithmetische Aspekt wichtig. Er geht auf das praktische Berechnen von Näherungswerten zurück, wie es von den an Technik und Astronomie interessierten Mathematikern bereits früher geübt wurde. Einen neuen Schub erfährt die Entwicklung des Zahlbegriffs durch die Infinitesimalrechnung im 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Art. 66). Hier liefert insbesondere die Theorie der Reihen seit Leibniz und den Gebrüdern Bernoulli eine neue Möglichkeit der Zahlendarstellung. Die Zeichen der unendlichen Summen bzw. Produkte stehen jedoch nicht ⫺ wie seit Cauchy und Weierstraß üblich ⫺ für Grenzwerte konvergierender Folgen. Man sagte vielmehr, daß sich z. B. ⬁
兺
k⫽1
1 k(k ⫹ 1)
von 1 um eine „infinitesimal-kleine“ Größe unterscheidet. L. Euler formuliert 1734 ein Konvergenzkriterium für Reihen in der Sprache der infinitesimalen Größen. Neben den „endlichen“ und „wirklichen“ (reellen) Zahlen, die als Meßwerte Anwendung fanden, schien es also noch „infinitesimale“ und „ideale“ Zahlen zu geben. Im 19. Jahrhundert wurden sie jedoch als ungenaue und psychologisierende Redeweisen aus der Mathematik verbannt und nach Einführung des Grenzwertbegriffs als überflüssig empfunden. Erst in der NonStandard Analysis kamen die infinitesimalkleinen Größen, jetzt allerdings mengentheoretisch präzisiert, wieder zu neuen Ehren. Mit K. Weierstraß werden die Überlegungen zur Begründung der reellen Zahlen in die mathematischen Grundvorlesungen aufgenommen. Die zentrale Vorstellung vom Begriff der reellen Zahl kommt für Weierstraß im Intervallschachtelungsprinzip zum Ausdruck. Man betrachtet auf der Zahlengeraden eine Folge von Intervallen I1, I2 …, In …, von denen jedes in dem vorherigen enthalten ist und von der Art, daß die Länge des n-ten Intervalls In mit wachsendem n gegen Null strebt. Gefordert ist, daß zu jeder Intervallschachtelung genau ein Punkt auf der Zahlengeraden existiert, der in allen Intervallen enthalten ist (Abb. 78.7 a). Eine systemati-
1563
Abb. 78.7a.
sche Definition der reellen Zahlen durch Intervallschachtelung wird 1892 von P. Bachmann angegeben. Die auf G. Cantor und C. Me´ray zurückgehende Definition der reellen Zahlen macht davon Gebrauch, daß jede reelle Zahl Grenzwert einer Folge von rationalen Zahlen ist, bei der die Differenzen der Folgeglieder mit wachsenden Indizes beliebig klein werden (Fundamentalfolgen) (Abb. 78.7 b). Anschau-
Abb. 78.7b.
lich gesprochen, kann ein Grenzwert durch verschiedene Folgen approximiert werden. Es bietet sich daher an, die reellen Zahlen als die Äquivalenzklassen konvergenter rationaler Folgen zu definieren, wobei zwei Folgen äquivalent genannt werden, wenn ihre Differenzenfolge nach Null konvergiert. Die Proportionenlehre des Eudoxos (vgl. 41 § 4.5.) wird von Dedekind in seiner berühmten Schrift „Stetigkeit und Irrationalzahlen“ von 1872 erneut aufgegriffen und mit vorbildlicher Schärfe präzisiert. Die Dedekindsche Definition bringt die seit der Antike tief verwurzelte geometrische Anschauung vom Kontinuum zum Ausdruck, daß die Punkte der Geraden durch „Zerschneidung der Geraden in zwei Teile“ (Dedekind), „durch die gemeinsame Grenze zweier Teile, die das Ganze ausmachen“ (Leibniz) oder „durch die gemeinsame Grenze zweier Stücke, die sich berühren“ (Aristoteles) bestimmt sind (Abb. 78.7 c).
Abb. 78.7c.
1564 Die Unvollständigkeit des Körpers ⺡ der rationalen Zahlen (z. B. 兹2 in ⺡ ist nicht definiert) wird durch die drei Konstruktionen der reellen Zahlen aus Schnitten, Fundamentalfolgen und Intervallschachtelungen unterschiedlich behoben. Gemeinsam ist aber, daß für diese neuen Objekte Addition und Multiplikation definiert werden und daß sie einen Körper bilden. Ferner können sie vollständig und total (⫽ linear) geordnet werden. Sie sind daher Modelle von folgendem Axiomensystem der reellen Zahlen: Eine Menge (⺢, ⫹, ·, ⱕ) mit den beiden (inneren) Verknüpfungen ⫹ und · und der zweistelligen Relation ⱕ heißt „Menge der reellen Zahlen“ genau dann, wenn folgende Axiome erfüllt sind: (R 1) (⺢, ⫹, ·, ⱕ) ist ein Körper. (R 2) ⱕ ist eine lineare Anordnung auf ⺢, die mit Addition und Multiplikation verträglich ist. (R 3) Vollständigkeitsaxiom: Jede nichtleere nach unten beschränkte Teilmenge M 債 ⺢ hat ein Infimum in ⺢ (d. h. eine untere Schranke, für die alle anderen unteren Schranken kleiner oder gleich (ⱕ) sind). Dieses Axiomensystem kennzeichnet die reellen Zahlen eindeutig. Wählt man nämlich ein Standardmodell der reellen Zahlen (z. B. Äquivalenzklassen der Cantorschen Fundamentalfolgen), dann ist jedes Modell, das die Axiome (R 1)⫺(R 3) erfüllt, in eindeutiger Weise zum Standardmodell isomorph. Darstellungen und Modelle der reellen Zahlen mögen zwar verschiedene pragmatische Zwecke erfüllen, ihre Semantik ist jedoch eindeutig. Die platonische Redeweise, daß Zahlen als ideelle Objekte einzig sind, erhält in der Strukturmathematik einen präzisen Sinn: Der Körper der reellen Zahlen gestattet außer der Identität keinen Automorphismus bzw. keine strukturinvariante Selbstabbildung. Was die Existenz der reellen Zahlen betrifft, so gilt festzuhalten: Ausgehend von einer unendlichen Menge wird die Menge der reellen Zahlen auf dem Weg über die Menge ⺞ der natürlichen Zahlen, die Menge ⺪ der ganzen Zahlen und die Menge ⺡ der rationalen Zahlen mit den Methoden der Mengenlehre konstruiert. Die Existenz der reellen Zahlen ist also gesichert, falls man die Existenz der Mengenlehre akzeptiert. Anders gesagt: Die Axiome (R 1)⫺(R 3) sind widerspruchsfrei, falls die benutzte Mengenlehre widerspruchsfrei ist.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
3.3. Grundlagen der Non-Standard-Analysis Die Grundlagenkritik des 19. Jahrhunderts hatte die infinitesimalen Größen als psychologisierende und ungenaue Redeweisen aus der Analysis verbannt. Wissenschaftshistorisch waren sie jedoch in Mathematik und Physik von großem heuristischen Nutzen, um neue Begriffsbildungen und Theoreme zu entdecken (vgl. Art. 66 sowie Mainzer 1981). Zudem hatte Leibniz mit seiner geschickten Symbolik der Differentiale und Integrale einen Kalkül geschaffen, ohne den die stürmische Entwicklung der Analysis im 18. Jahrhundert undenkbar wäre. Die Newtonsche Symbolik der Fluxionsrechnung wird noch heute in der Physik benutzt. Gleichwohl hatten bereits im 18. Jahrhundert Kritiker wie z. B. G. Berkeley auf Widersprüche aufmerksam gemacht, die sich durch naive Übertragung der Rechenregeln von „endlichen“ Größen der reellen Analysis auf „infinitesimale“ Größen ergeben können. Im Rahmen der Non-Standard-Analysis kann jedoch eine nachträgliche Präzisierung und logische Rechtfertigung der infinitesimalen Methoden gegeben werden. Für die Physik werden ferner mathematische Begriffsbildungen präzisierbar (z. B. Dirac-Funktion), die in der gewöhnlichen reellen Analysis pathologisch erschienen. Da die Non-Standard-Analysis wesentlich auf modelltheoretische und formallogische Methoden zurückgreift, eröffnen sich damit neue semiotische Zeichenkonzeptionen in der modernen Mathematik. Nach G. Cantor und C. Me´ray werden reelle Zahlen als Grenzwerte von rationalen Punktfolgen aufgefaßt, bei denen die Differenzen der Folgeglieder mit wachsenden Indizes gegen Null konvergieren (vgl. § 3.2.). Will man eine größere Zahlenmenge als ⺢ erhalten mit zusätzlich „unendlich kleinen“ und „unendlich großen“ Zahlen, so läßt sich Cantors Verfahren abwandeln, indem man mehr Folgen zuläßt als nur Fundamentalfolgen und mehr Äquivalenzklassen durch Abschwächung der Äquivalenzrelation erzeugt: Zwei rationale Folgen (rn) und (sn) heißen äquivalent dann, wenn für fast alle (d. h. bis auf endlich viele) Indizes n gilt rn ⫽ sn. Zur Folge (0), die aus lauter Nullen besteht, sind also gerade diejenigen Folgen äquivalent, die höchstens endlich viele von 0 verschiedene Glieder enthalten. Die Null1 folge ist daher nicht äquivalent zu (0). n Die Menge der so erzeugten Äquivalenzklas-
冉冊
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
sen sei ⺢첸. Die Ordnungsrelation ⱕ und die algebraischen Operationen ⫹, · lassen sich in naheliegender Weise von ⺢ auf ⺢첸 übertragen: z. B. für die durch die Folgen (rn) und (sn) definierten Äquivalenzklassen gilt (rn) ⱕ (sn), falls für fast alle Indizes n gilt rn ⱕ sn. 1 Die Nullfolge definiert ein Element n e aus ⺢첸, das kleiner als jede positive reelle 1 Zahl ist (wegen ⱕ x für alle x aus ⺢ mit n x ⬎ 0 und für fast alle n), aber größer als 0 1 für alle n). Die Folge 1, 2, ist (wegen 0 ⬍ n 3, … definiert ein Element v aus ⺢첸 mit n ⱕ v für jedes n (wegen n0 ⱕ n für jedes n0 und fast alle n). Für beide infinitesimal großen bzw. kleinen Zahlen gilt v · e ⫽ 1. Diese infinitesimalen Größen sind sogar konstruktiv im Sinne der konstruktiven Mengenlehre von P. Lorenzen und H. Weyl, da sie durch 1 und 1, 2, 3, … eindefinite Folgeterme wie n geführt wurden (vgl. § 5.1. sowie Art. 107). Die Relation, daß sich zwei Zahlen (rn) und (sn) aus ⺢첸 nur um eine infinitesimal kleine Zahl unterscheiden (d. h. der Absolutbetrag |(rn)⫺(sn)| ist kleiner als jede positive reelle Zahl aus ⺢), ist eine Äquivalenzrelation (Abk.: (rn) ⬇ (sn)). Die dadurch definierte Äquivalenzklasse m(0) aller Zahlen (rn) aus ⺢첸 mit (rn) ⬇ 0 enthält offenbar alle unendlich kleinen Größen aus ⺢첸 und wird daher mit Anspielung auf Leibniz als „Monade“ bezeichnet. In der Mathematik ist die Erweiterung ⺢첸 des reellen Zahlenkörpers ⺢ als das NonStandard-Modell von Schmieden und Laugwitz (1959) bekannt. Historisch geht sie auf die „Größenlehre“ von B. Bolzano (1830⫺ 35) zurück, die vor einigen Jahren erst in seinem Nachlaß entdeckt wurde (Laugwitz 1965). Leider kann man aber auf dem Non-Standard-Modell ⺢첸 nicht in der gleichen Weise rechnen wie in ⺢ : 1) Die Elemente von ⺢첸 lassen sich nicht total ordnen, da z. B. für ((⫺1)n) und y: ⫽ (0) weder x ⱕ y noch y ⱕ x bei x ⫽ y gilt. 2) In ⺢첸 gelingt das Dividieren nicht immer eindeutig, d. h. ⺢첸 besitzt Nullteiler: Für x: ⫽ (1 ⫹ (⫺1)n) und y ⫽ (1 ⫺ (⫺1)n) ist weder x ⫽ 0 noch y ⫽ 0, aber x · y ⫽ 0. Man sagt: ⺢첸 ist nur ein Oberring von ⺢, aber nicht ein Oberkörper. Diese Bemerkung war wichtig für die folgende Rekonstruktion des Leibnizschen Dif-
冉冊
1565
ferentialquotienten in ⺢첸. Zunächst müssen die reellen Funktionen f: D → ⺢ mit dem Definitionsbereich D für den Non-Standard-Bereich D첸 aus ⺢첸 erweitert werden. Es sei f첸: D첸 → ⺢첸 eine Non-Standard-Funktion mit (rn) aus D첸 für fast alle n mit rn aus D, und (yn) ⫽ f첸 ((rn)), falls yn ⫽ f(rn) für fast alle n. Die Differentiale dx bezeichnen beliebige unendlich kleine Größen aus m(0). Es ist x aus D und x ⫹ dx aus D첸. Für y ⫽ f(x) existiert der Differentialquotient dy f 첸 (x ⫹ dx) ⫺ f 첸 (x) ⫽ , dx dx falls dx kein Nullteiler in ⺢첸 ist. Für das Beispiel f(x) ⫽ x2 unterscheidet dy sich dann der Differentialquotient ⫽ dx 2x ⫹ dx von der 1. Ableitung f⬘(x) ⫽ 2x um eine unendliche kleine Größe. Man sieht an dieser Stelle den präzisierten Kern der Berkeleyschen Kritik an der infinitesimalen Methode (vgl. Art. 66): Die 1. Ableitung ist nicht identisch mit dem Differentialquotienten. Sie ist vielmehr eine reelle Zahl, die sich von ihm um eine unendlich kleine Zahl („Differential“) unterscheidet, d. h. 1. Ableitung und Differentialquotient sind nur äquivalent, nicht identisch. Die heuristische Anschaulichkeit und Einfachheit der infinitesimalen Methode hat ebenfalls einen logischen Kern: Die Anzahl der Quantoren in den Definitionen (z. B. des Grenzwerts) ist erheblich reduziert. Ebenso wie Physiker komplexe Zahlen und Funktionen mit Erfolg anwenden, ist auch ein Gebrauch von Non-Standard-Zahlen und Funktionen nicht ausgeschlossen. Ein Paradebeispiel ist Diracs Delta-Funktion: Eine in einem Punkt konzentrierte Masse oder Ladung, wie Newtons Mechanik oder Maxwells Elektrodynamik sie postulieren, ist im gewöhnlichen 3-dimensionalen reellen Zahlenraum nicht durch eine Dichtefunktion zu beschreiben, wohl aber approximativ im entsprechenden Non-Standard-Raum durch eine Diracsche Delta-Funktion, die nur in einer infinitesimalen Umgebung eines Punktes von Null verschieden ist, aber dort infinite Werte annimmt. Um in der Non-Standard-Analysis möglichst so rechnen zu können wie in der üblichen reellen Analysis ⺢, muß der Oberring ⺢첸 durch den Oberkörper ⺢* nach A. Robinson (1966) ersetzt werden. Schmieden und Laugwitz nannten zwei rationale Folgen äquivalent, wenn sie bis auf endlich viele Stel-
1566 len übereinstimmen, d. h. modelltheoretisch, wenn die Menge der Folgeindizes der Übereinstimmung in einem freien Filter liegt. Robinson nennt sie äquivalent, wenn die Menge der Indizes der Übereinstimmung in einem freien Ultrafilter liegt, d. h. in einem feinsten freien Filter über der Indexmenge der rationalen Folgen. Dazu müssen jedoch starke mengentheoretische Voraussetzungen wie das Zornsche Lemma bzw. Auswahlaxiom (vgl. § 3.4.) gemacht werden. Modelltheoretisch folgt dann, daß das Robinson-Modell auch alle Eigenschaften des Schmieden/LaugwitzModells besitzen muß. Es besitzt sogar die Eigenschaft der totalen Ordnung und Nullteilerfreiheit. Um ein allgemeines Übertragungsprinzip für Eigenschaften von ⺢ nach ⺢* formulieren zu können, verwendete Robinson eine formale Sprache 1. Stufe. Historisch folgte er dabei dem Vorbild von R. Skolem (1933), der die Peanoschen Axiome in der 1. Stufe formalisiert hatte, um damit eine Non-Standard-Erweiterung der natürlichen Zahlen zu erhalten, die immer noch ein Modell der Peanoschen Axiome war. Nach dem Robinsonschen Übertragungsprinzip gilt eine ⺢-Aussage a in ⺢ genau dann, wenn a in ⺢* gilt. Nun kann man die Entstehungsgeschichte von ⺢* aus den rationalen Folgen vollständig vergessen und muß nur noch die zu übertragenden Eigenschaften der reellen Zahlen und Funktionen formalisieren. Die Sätze der Non-Standard-Analysis werden also auf formal-semiotische Verfahren reduziert. Das ist der große Vorteil, den man mit den starken modell- und mengentheoretischen Voraussetzungen des Robinson-Modells erkauft. Setzt man ferner die Kontinuumshypothese (vgl. § 3.4.) voraus, so ist der (angeordnete) Körper ⺢* bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt. Allerdings ist der Rahmen der Übertragung für Eigenschaften von ⺢ nach ⺢* durch die gewählte formale Sprache semiotisch beschränkt. Erweitert man die formale Sprache z. B. so, daß eine Quantifikation über alle Teilmengen von ⺢ möglich wird, so läuft die Quantifikation, interpretiert in ⺢*, nicht mehr über alle Teilmengen, sondern nur noch über die sogenannten „internen“ Teilmengen von ⺢*. So ist z. B. die Menge ⺞ der natürlichen Zahlen keine interne Teilmenge. Dazu formalisiere man nur die folgende Aussage: „Jede Teilmenge, die 0 und mit x auch x ⫹ 1 enthält, überschreitet jedes Element.“
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
In ⺢ ist diese Aussage zwar richtig. In ⺢* interpretiert, kann sie sich nicht auf alle Teilmengen beziehen, da ⺞ zwar die Voraussetzung erfüllt, jedoch nicht jedes Element von ⺢* überschreitet. 3.4. Cantorsche und axiomatische Mengenlehre Die Sprache der modernen Mathematik ist geprägt durch eine mengentheoretische Beschreibung ihrer Gegenstände. Es hat sich nämlich seit G. Cantor (1845⫺1918) gezeigt, daß Eigenschaften, Relationen und Funktionen, die in der Mathematik meistens intuitiv benutzt wurden, auf den Mengenbegriff zurückgeführt werden können. Semiotisch handelt es sich dabei zunächst keineswegs um eine Formalisierung, sondern um eine begriffliche Präzisierung mit dem Mengenbegriff. Die verwendeten Symbole gehören also keiner formalen Sprache an, sondern sind Abkürzungen, Namen, Variablen etc. der mathematischen Umgangssprache. Sei M eine Menge von Elementen (z. B. die Menge der reellen Zahlen), E eine Eigenschaft über M. Dann wird in der Mengenlehre E mit der Menge {r 苸 M : E trifft zu auf r} derjenigen Elemente r von M identifiziert, die die Eigenschaft E haben. Den Eigenschaften über M entsprechen so die Teilmengen von M. Eigenschaften sind also hier allein durch ihren Umfang, ihre Extension bestimmt. Diese extensionale Auffassung wird für alle weiteren Gegenstände der Mathematik zugrunde gelegt. Um Relationen und Funktionen mengentheoretisch zu charakterisieren, ist die Definition von n-Tupeln notwendig. Für n ⫽ 2 definiert man nach K. Kuratowski (1921) das geordnete Paar (a, b) zweier Objekte a, b mengentheoretisch durch (a, b): ⫽ { {a}, {a, b}}. Man beweist leicht, daß (a, b) ⫽ (a⬘, b⬘) genau dann gilt, wenn a ⫽ a⬘ und b ⫽ b⬘ ist. Dieser Sachverhalt genügt völlig zur Beschreibung geordneter Paare. Hier wird deutlich, daß die Mengenlehre keine ontologischen Zwecke beabsichtigt. So soll ja nicht festgelegt werden, was z. B. ein geordnetes Paar wirklich ist, sondern nur ein Modell für den intuitiven Begriff des geordneten Paares geliefert werden, das dem Zweck der Mathematik genügt. Tripel lassen sich jetzt durch (a, b, c): ⫽ ((a, b), c) definieren usw. Die Menge aller geordneten Paare über einer Menge M ist dann M ⫻ M: ⫽ {(a, b) : a, b 苸 M}. Damit sind alle 2-stelligen Relatio-
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
nen über M im Sinne der mengentheoretischen Beschreibung der Eigenschaften gerade die Teilmengen von M ⫻ M. So ist z. B. K: ⫽ {(r, s) : r, s 苸 ⺢, r ⬍ s} die Kleiner-Relation über ⺢ und 1 ⬍ 2 bedeutet, daß (1, 2) 苸 K. Entsprechend kann eine Funktion f von einer Menge M1 in eine Menge M2 mengentheoretisch durch ihren Graphen als f: ⫽ {(a, f(a)) : a 苸 M1} definiert werden. Allgemein ist dann eine Funktion f eine Menge von geordneten Paaren, für die zu jedem Objekt a höchstens ein Objekt b existiert mit (a, b) 苸 f. Die mathematische Schreibweise f : M1 → M2 besagt, daß eine Teilmenge f 債 M1 ⫻ M2 eine Funktion ist, so daß zu jedem a 苸 M1 ein b 苸 M2 existiert mit (a, b) 苸 f. Für a 苸 M1 ist f(a) das b mit (a, b) 苸 f. Ähnlich geht man bei Funktionen höherer Stellenzahl, Funktionalen mit Funktionenmengen usw. vor. Die verwendeten Zeichen mathematischer Objekte können nun nach Typen wachsender Komplexität geordnet werden. So sind z. B. einstellige reelle Funktionen Mengen von geordneten Paaren reeller Zahlen. Geordnete Paare reeller Zahlen sind Mengen von Mengen reeller Zahlen. Also sind reelle Funktionen Mengen von Mengen von Mengen reeller Zahlen. Reelle Zahlen als Dedekindsche Schnitte sind Paare von Mengen rationaler Zahlen, die wiederum Äquivalenzklassen von Paaren ganzer Zahlen sind etc., bis man schließlich auf die Menge ⺞ der natürlichen Zahlen stößt, die axiomatisch als Menge mit den Eigenschaften (S 1)⫺(S 2) gebildet wird. Eine Axiomatisierung der Mengenlehre hat G. Frege (1848⫺1925) in seinen Grundgesetzen der Arithmetik angegeben. Sein Komprehensionsaxiom (lat. comprehensio ,Zusammenfassung‘) präzisiert die Cantorsche Vorstellung von Mengen als Extensionen von Eigenschaften. Zu jeder Eigenschaft E existiert die Menge ME :⫽ {x : x ist Menge und E trifft zu auf x}. B. Russell (1872⫺1970) entdeckte 1901 die Inkonsistenz des Komprehensionsaxioms: Wählt man als E die Eigenschaft, Nicht-Element von sich selbst zu sein, so liefert das Axiom die Menge MR :⫽ {x : x ist Menge und x ⰻ x}. Für diese Menge gilt MR 苸 MR genau dann, wenn MR Menge ist und MR ⰻ MR. Da MR nach Freges unbeschränktem Mengenbildungsaxiom eine Menge ist, erhält man
1567
den Widerspruch, daß MR 苸 MR genau dann ist, wenn MR ⰻ MR ist (vgl. Art. 76 § 3.2.4.). Viele Logiker und Mathematiker haben versucht, durch Revision und Einschränkung von Freges Axiomen zu einer widerspruchsfreien Axiomatisierung zu kommen. So geht E. Zermelo (1871⫺1953) von einem „Universum“ von Mengen aus. Um die Russellsche Antinomie zu vermeiden, hat Zermelo das Fregesche Komprehensionsaxiom zu folgendem Aussonderungsaxiom eingeschränkt: Zu jeder Eigenschaft E von Mengen und zu jeder Menge x existiert eine Menge y, die genau aus den Elementen von x besteht, welche die Eigenschaft E haben, d. h. y ⫽ {z 苸 x : E trifft zu auf z}. Anders als bei Frege werden Komprehensionen auf bereits vorher gegebene Mengen eingeschränkt, um das Universum der Mengen „von unten“ aufzubauen und keine Mengenbildungen „quer durch das Universum“ zuzulassen. Eine andere Revision schränkt die Mengenbildung insofern ein, als sie zu jeder Eigenschaft E von Mengen nur die Existenz der Klasse KE ⫽ {x : x ist Menge und E trifft zu auf x} garantiert. Jede Menge ist aufgrund dieses Axioms zwar eine Klasse, da sich eine Menge x immer als z. B. x ⫽ {z : z ist Menge und z 苸 x} schreiben läßt, aber nicht umgekehrt. Für die „Russellsche Klasse“ KR gilt KR 苸 KR genau dann, wenn KR Menge ist und KR ⰻ KR. Also ist KR keine Menge, denn sonst gälte ja KR 苸 KR genau dann, wenn KR ⰻ KR. In den verschiedenen Versionen der axiomatischen Mengenlehre sind zwar die bekannten Paradoxien vermieden. Ein Widerspruchsfreiheitsbeweis, wie er bis in die 20er Jahre noch für möglich gehalten wurde, kann nach dem zweiten Gödelschen Unvollständigkeitssatz (1931) selbst mit Hilfsmitteln von der methodischen Stärke der Mengenlehre nicht erbracht werden. Dennoch erfüllen Axiomatisierungen der Mengenlehre wichtige Funktionen. Auf dieser Grundlage läßt sich z. B. die Unlösbarkeit von Problemen aus Mathematik und Mengenlehre exakt beweisen. Ähnlich wie beim Parallelenaxiom in der Euklidischen Geometrie wurde untersucht, ob z. B. das Auswahlaxiom aus den übrigen Axiomen beweisbar oder widerlegbar sei. Beides wurde von Cohen 1963 bzw. Gödel 1938 widerlegt. Für die berühmte Kontinuumshy-
1568
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
pothese Cantors, die noch Hilbert 1900 an die erste Stelle einer Liste von 23 zentralen offenen mathematischen Fragen stellte, konnte ein Unabhängigkeitsbeweis gefunden werden. Die Leistungsfähigkeit von Zeichenkonzeptionen gerät durch diese Limitationssätze der Mengenlehre an Grenzen, die jedoch genau präzisierbar sind.
4.
Zeichenkonzeptionen in Graphentheorie und Topologie
Für die Entwicklung mathematischer Zeichenkonzeptionen vom 19. Jahrhundert bis auf die Gegenwart liefert die Graphentheorie eine prägnante Fallstudie, da hier sowohl Grundlagenprobleme der Topologie als auch Anwendungsprobleme der Naturwissenschaften angesprochen werden.
Menge von Kanten und einer Regel dafür, welche Kanten welche Paare von Ecken verbinden (vgl. Art. 2 § 5.2.). Dabei sind die verbundenen Ecken normalerweise verschieden, können aber auch zusammenfallen. In diesem Fall spricht man von einer Schleife. Ein Weg in einem Graphen ist eine Folge von Ecken und Kanten e0, k1, e1, k2, e2, …, er⫺1, kr, er, in der jede Kante ki die Ecken ei⫺1 und ei (1 ⱕ i ⱕr) verbindet. Die Lösung des Königsberger Brückenproblems ist ein Weg, der jede Kante des Graphen einmal und nur einmal enthält. Euler bewies, daß es einen solchen Weg in diesem Fall nicht gibt. Zeichnerisch wird ein Graph als ein Diagramm aus Punkten und Linien dargestellt, wobei die Ecken durch Punkte und die Kanten durch Linien repräsentiert werden. Ein Diagramm für den Königsberger Graphen zeigt Abb. 78.9. Allerdings darf die zeichneri-
4.1. Topologische Anfänge der Graphentheorie Ein berühmtes topologisches Problem des 18. Jahrhunderts, das mit der Graphentheorie eng verbunden ist, untersuchte L. Euler. Gemeint ist das Königsberger Brückenproblem: Gibt es einen Weg über die sieben Brücken (Abb. 78.8) über den Pregel in Königsberg, bei dem jede Brücke genau einmal überschritten wird? Abb. 78.9.
Abb. 78.8.
Euler ersetzte die Stadtkarte aus Abbildung 78.8 durch ein einfaches Diagramm. Im nächsten Schritt wird das Problem derart symbolisiert, daß anschauliche Diagramme überflüssig werden. Dazu bezeichnet er die vier Landflächen mit A, B, C, D, die sieben Brücken mit a, b, c, d, e, f, g, wobei die Brücke a die Flächen A und B, e die Flächen A und D usw. verbindet. Das ist ein Beispiel für einen Graphen, in dem eine geeignete Folge von Symbolen, d. h. ein „Weg“ gefunden werden muß. Allgemein besteht ein Graph aus einer endlichen Menge von Ecken, einer endlichen
sche Darstellung (wie auch in der Geometrie) nicht mit dem mathematischen Begriff des Graphen verwechselt werden, der allein durch die beiden endlichen Ecken- und Kantenmengen und die Verbindungsregel bestimmt ist. Ein weiteres Beispiel dafür, wie eng Graphentheorie und Topologie miteinander verbunden sind, liefert Eulers berühmte Polyederformel von 1758, die bereits R. Descartes 1639 benutzte. Unter einem Polyeder wird ein Körper verstanden, dessen Oberfläche aus endlich vielen polygonalen (vieleckigen) Flächen besteht. Die Platonischen Körper sind Spezialfälle. Ein Polygon heißt „einfach“, wenn seine Oberfläche sich stetig in eine Kugelfläche deformieren läßt, d. h. einfache Polyeder haben keine „Löcher“ wie z. B. der Torus. Die Eulersche Formel der einfachen Polyeder lautet dann für die Eckenzahl E, Kantenzahl K und Flächenzahl F : E ⫺ K ⫹ F ⫽ 2. Für die Gültigkeit der Formel sind nur die Anzahlen der Ecken (Punkte), Kanten
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
(Linien) und Flächen, also topologische Eigenschaften, entscheidend. Auf Länge, Flächeninhalt, Gradlinigkeit, Doppelverhältnis und andere Begriffe der metrischen, affinen oder projektiven Geometrie bezieht sie sich nicht. A.-L. Cauchy beweist die Formel durch das graphentheoretische Verfahren der Triangulation, das in der späteren Entwicklung der Topologie bedeutsam wird. Zum Beweis wird eine Fläche entfernt und der restliche Polyeder als Netzwerk in die Ebene ausgebreitet. Da diese Transformation topologische Eigenschaften invariant läßt, gilt die Formel E ⫺ K ⫹ F ⫽ 1 genau dann, wenn E ⫺ K ⫹ F ⫽ 2 für das ursprüngliche Polyeder gilt. Abb. 78.10 a zeigt den ebenen Graphen für den Würfel. Im nächsten Schritt (Abb. 78.10 b)
1569
sen. Auch hier sind die Zeichnungen nur Darstellungen, die der Anschauung heuristisch helfen sollen. Der mathematische Beweis bezieht sich auf die jeweiligen Graphen als mathematische Begriffe. 4.2. Anwendungen in Physik und Chemie Wichtige Anstöße für graphentheoretische und topologische Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen aus Physik und Chemie. So implizieren P. R. Kirchhoffs berühmte Gesetze über den Stromfluß in elektrischen Leitungen graphentheoretische und algebraische Probleme von Netzwerken. Graphentheoretisch geht es darum, einen Stromkreis als Summe von anderen Stromkreisen darzustellen. In Abb. 78.11 sind C1 ⫽ abe, C2 ⫽ cde und C3 ⫽ abcd Beispiele solcher Stromkreise.
Abb. 78.10a und 78.10b.
werden die Flächen mit ihren Vierecken und Kanten trianguliert. Dabei wird K und F jeweils um eins vergrößert, so daß die Summe E ⫺ K ⫹ F unverändert bleibt.
Abb. 78.10c und 78.10d.
Entfernt man nun schrittweise die Dreiecke, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man entfernt eine Kante, dann verschwindet eine Fläche und eine Kante wie in Abb. 78.10 c, oder man entfernt zwei Kanten und eine Ecke, dann verschwinden eine Fläche, zwei Kanten und eine Ecke wie in Abb. 78.10 d. Bei diesem Verfahren bleibt also die Formel E ⫺ K ⫹ F ⫽ 1 unverändert. Am Ende des Verfahrens bleibt ein einziges Dreieck übrig, für das die Formel E ⫺ K ⫹ F ⫽ 1 wahr ist. Damit ist die Formel bewie-
Abb. 78.11.
Allgemein besteht die Summe zweier Stromkreise aus all denjenigen Kanten, die nur zu einem der beiden Stromkreise (aber nicht zu beiden) gehören. So ist z. B. C3 ⫽ C1 ⫹ C2. Eine Menge von Kreisen heißt unabhängig, wenn keine von ihnen als Summe der anderen dargestellt werden kann. So sind {C1, C2} und {C1, C3} unabhängig, aber nicht {C1, C2, C3}. Eine maximal unabhängige Menge heißt auch „fundamental“. Das Ziel, eine fundamentale Menge zu bestimmen, mit der alle jeweiligen Stromkreise konstruiert werden können, entspricht Kirchhoffs physikalischem Problem: Die lineare Gleichung, die einer Summe von Stromkreisen entspricht, ist genau die Summe von Gleichungen, die den einzelnen Stromkreisen entsprechen. Die Gleichungen, die einer unabhängigen Menge von Kreisen entsprechen, sind also unabhängig. Kirchhoff zeigt daher, wie eine fundamentale Menge von Stromkreisen konstruiert werden kann, und beweist, daß für jeden verbundenen Graphen mit m Ecken und n Kanten eine fundamentale Menge immer n ⫺ m ⫹ 1 Stromkreise enthält.
1570 Kirchhoffs Idee der fundamentalen Menge, die in einem praktisch-physikalischen Kontext entstand, hat für die Entwicklung der algebraischen Topologie von Listing über Poincare´ und Veblen bis zu Witney grundlegende Bedeutung erlangt. In einer Arbeit On the Abstract Properties of Linear Dependence von 1935 macht Witney auf begriffliche Analogien der Graphentheorie und der Theorie der Vektorräume (z. B. Abhängigkeit, Unabhängigkeit, Basis) aufmerksam und führt allgemeine, übergreifende Strukturbegriffe für Graphen und Vektorräume ein. An dieser Stelle wird wieder deutlich, daß die Zeichen der Graphen in der modernen Mathematik zwar heuristischen Wert haben, im Zentrum aber der Graph als ein strukturtheoretischer Begriff steht, der nicht an die Anschauung gebunden ist. Neben der Physik hat auch die Chemie zur Entwicklung grundlegender graphentheoretischer Begriffe der modernen Mathematik beigetragen. Nachdem chemische Summenformeln (z. B. H2O) zur Bezeichnung von Molekülen und chemischen Bindungen üblich waren, stellte sich die Frage, wie die molekulare Struktur anschaulich-graphisch darzustellen sei (vgl. Art. 135). Berühmt wurde F. A. Ke´kule´s Entdeckung des Benzolrings von 1854. Eine graphentheoretische Darstellung im engeren Sinn führte 1864 der Edinburgher Chemiker A. Crum Brown ein. Jedes Atom wird danach durch einen kleinen Kreis mit dem Buchstaben des betreffenden Elements und die Bindungen durch verbindende Linien (Abb. 78.12) dargestellt. Der große Vorteil
Abb. 78.12.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
dieser Notation zeigte sich, als damit erstmals merkwürdige Experimente erklärt werden konnten, wonach Substanzen, obgleich sie dieselbe chemische Zusammensetzung besitzen, verschiedene physikalische Eigenschaften haben. Es handelt sich, wie man heute sagt, um einen Isomerismus verschiedener Isomere, deren unterschiedliche Wirkung sich durch die unterschiedliche Zusammensetzung derselben Bausteine ergibt. In Abb. 78.12 sind verschiedene Alkohole derselben Summenformel C3H7OH dargestellt. 1874 publizierte A. Cayley eine Arbeit On the Mathematical Theory of Isomers, in der er die Graphentheorie der Bäume anwendete. J. J. Sylvester, der neben Cayley und W. K. Clifford führende mathematische Invariantentheoretiker, versuchte 1877 einen systematischen Bezug zwischen Chemie und Algebra durch die Graphentheorie herzustellen. Algebraischer Ausdruck der graphentheoretischen (und damit chemischen) Strukturen sollten gerade die Invarianten von Polynomen sein, die bei bestimmten Transformationen ihrer Variablen unverändert bleiben. Ziel ist die Menge derjenigen Invarianten, mit denen das System aller Invarianten des Polynoms systematisch erzeugt werden kann. Die Invariantentheoretiker des 19. Jahrhunderts ließen sich auf den mühevollen Weg ein, solche Mengen für einzelne Beispiele rechnerisch zu bestimmen. Als D. Hilbert 1885 das Problem mit seinem berühmten Basissatz abstrakt beantwortete, kam die Invariantentheorie schlagartig zum Erliegen. Erst in den 20er und 30er Jahren wandten sich Chemiker und Mathematiker wieder der Frage zu, wie Isomere von chemischen Stoffen systematisch erzeugt und aufgezählt werden könnten. Zentral wurden Arbeiten von G. Polya von 1935⫺1937, in denen neben graphentheoretischen auch gruppentheoretische Methoden Anwendung fanden. Notation, stoffliche und mathematische Strukturen gehen gerade in dieser Fallstudie eine enge Symbiose ein. 4.3. Anwendung in der Philosophie: Peirce Graphentheoretische Zeichenkonzeptionen werden auch von Klassikern der modernen semiotischen Philosophie aufgegriffen. Hier ist besonders C. S. Peirce anzuführen, der mit Vertretern der mathematischen Graphentheorie wie Clifford und Sylvester freundschaftliche Kontakte pflegte. Graphen und Zeichen sind für Peirce Schlüsselbegriffe seiner pragmatistischen Philosophie. Semiotik
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
und Erkenntnistheorie bilden dabei eine Einheit. Peirces graphentheoretische Überlegungen setzten seine allgemeine Philosophie der Semiotik voraus (vgl. Art. 100). Das Zeichen wird definiert als etwas, das durch ein Objekt determiniert ist und damit seine Interpretation bestimmt. Es ist eine dreistellige Relation zwischen Mittel, Objekt und Interpretant. Im Objektbezug unterscheidet Peirce das unmittelbare und dynamische Objekt und im Interpretantenbezug den unmittelbaren, dynamischen und finalen Interpretanten. In seinen Arbeiten über Graphentheorie ist die Einteilung des Objektbezuges in Icon, Index und Symbol üblich, ebenso die Einteilung des Mittelbezuges in Legi-, Sin- und Qualizeichen. Die Unterscheidung von Sema, Rhema und Diloma entspricht der ebenfalls von Peirce vorgenommenen Einteilung des Interpretantenbezuges in Rhema, Dicent und Argument. Graphentheorie ist für Peirce keine mathematische Spezialdisziplin, sondern Grundlage seiner pragmatistischen Philosophie. Die Verbindung von Zeichen und Graphen wird hergestellt durch die Überlegung, daß einerseits Zeichen graphisch darstellbar sind und daher Denken nur durch Zeichen graphisch darstellbar wird, und daß andererseits die Graphen selbst Zeichen sind (vgl. May 1995). Der Graph wird definiert als ein „Diagramm, das in der Hauptsache aus Punkten und Linien, die bestimmte Punkte verbinden, besteht“. Unter Diagramm versteht Peirce eine schematische Darstellung. Mit diesem Ansatz greift er zwar den graphentheoretischen Ansatz von Clifford und Sylvester auf, läßt jedoch neben Punkten und Linien für seinen Begriff des „Existenzgraphen“ auch Flächen zu. Entscheidend ist für Peirce, daß Graphensysteme nicht isoliert sind, sondern in einem kommunikativen Prozeß dargestellt werden (vgl. Posner 1995). So unterscheidet er zwischen dem Graphisten und Interpreten und nimmt dabei ein Modell vorweg, in dem heute z. B. nachrichtentechnisch zwischen Sender und Empfänger unterschieden wird. Graphen sind also nach Peirce nur im Kontext der Wahrnehmung, des Denkens, Erkennens und Kommunizierens zu verstehen. Diese Komplexität seiner Sicht bedingt allerdings auch einen schwierigen Zugang zu seinem Begriff des Existenzgraphen, in den nicht nur semiotische und graphentheoretische Aspekte, sondern auch Überlegungen der Modalitätentheorie, Kommunikations-
1571
theorie, Wahrnehmungstheorie, Kategorienlehre, Mengenlehre, Algebra und Naturwissenschaften hineinspielen. So versucht er, die logische Algebra auf graphentheoretische Regeln zurückzuführen und entwickelt dazu eine 2-dimensionale logische Symbolik. In Abb. 78.13 ist seine Symbolik für den Konditionalsatz „Wenn etwas ein Mensch ist, dann ist es sterblich“ und die Behauptung „Etwas ist ein Mensch“ wiedergegeben:
Abb. 78.13.
Für die ganzheitliche Sicht der Graphentheorie spricht seine Aussage, daß Graphist und Interpret, Quasi-Sender und Quasi-Empfänger zwar begrifflich unterschieden werden, daß beide aber „im Zeichen vereint sind (d. h. ein Geist sind)“. Seine pragmatistische Zielrichtung wird deutlich in der Bemerkung: „Entsprechend ist es nicht nur eine Tatsache der menschlichen Psychologie, sondern eine logische Notwendigkeit, daß jede Entwicklung des Denkens dialogisch sein muß.“ 4.4. Anwendungen in der Informatik: Graphen und Algorithmen In der Graphentheorie des 19. Jahrhunderts treten bereits Probleme auf, die großen Einfluß auf Anwendungen in der modernen Informatik und Künstliche-Intelligenz-Forschung nahmen. Ein Beispiel ist das Problem, für einen Reisenden eine optimale Reiseroute zwischen verschiedenen Städten zu finden. Es gibt eine optimale Reiseroute, wonach nur einmal jede von n Städten besucht und zum Ausgangsort zurückgekehrt werden muß. Eine räumliche Version des Problems untersuchte W. R. Hamilton als „Reise um die Welt“ oder als „Dodekaeder des Reisenden“. Die Orte, die auf der Erdkugel besucht werden müssen, bilden dabei ein Dodekaeder (Abb. 78.14 a). Eine ebene Version des Problems zeigt der Graph in Abb. 78.14 b. Das graphentheoretische Problem läßt sich durch Methoden des maschinellen ProblemSolving bearbeiten, indem ein Programm für Suchstrategien zu einer Problemlösung aufgestellt wird. Dabei werden unterschieden a)
1572
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 78.14a.
Abb. 78.15a.
Abb. 78.14b.
Zustände des Suchverfahrens (mit ausgezeichnetem Anfangszustand), b) Operationen zum Erzeugen von Nachfolgerzuständen, c) Kosten- bzw. Bewertungsfunktionen zum Abschätzen des Suchaufwandes, d) Ziel- bzw. Lösungskriterium. Bei algebraischer Übersetzung der Aufgabe ergibt sich a) Anfangszustand ⫽ Anfangsort A, Zustand (allgemein) ⫽ m-Tupel AX1 … Xm (1 ⱕ mⱕ 5), b) Operationen: „Geh zur Stadt A (B, C, D, E)“, c) Kosten ⫽ Kilometerzahl, d) Zielkriterium ⫽ AX1 … X4A (X1, …, X4 für B, C, D, E). Die Suchstrategien sind in dem Baum von Abb. 78.15 a angedeutet. Ein Flußdiagramm produziert eine mögliche Gewinnstrategie (Abb. 78.15 b). Folgende Typen von Suchstrategien unterscheidet die Künstliche Intelligenz (KI) in Baumgraphen: a) Breadth-first-Suche, bei der ein Baum in seiner gesamten Breite bis zu einer bestimmten Tiefe entwickelt wird, b) Depth-first-Suche, bei der zunächst ein Ast eines Baumes produziert wird. Ein anderes graphentheoretisches Beispiel ist der Vierfarbensatz, der 1852 zum ersten-
Abb. 78.15b.
mal vermutet und erst 1976 unter dem Einsatz schneller Computer bewiesen wurde: Jede (ebene) Karte kann mit nur vier Farben derart gefärbt werden, daß Länder mit gemeinsamen Grenzen verschiedene Farben haben (kurz: Karte M ist 4-färbbar). 1879 zeigte A. B. Kempe, daß man sich auf normale Karten beschränken kann, deren Länder einfach verbundene Polygone sind, von denen sich genau drei in jeder Ecke treffen. Für diese Karte leitete er aus der Euler-Poincare´-Charakteristik die Gleichung m
(*) 4p2 ⫹ 3p3 ⫹ 2p4 ⫹ p5 ⫽
兺 (i ⫺ 6)p ⫹ 12 i
i⫽7
ab, wobei pi die Anzahl der Polygone mit genau i Nachbarn und m die maximale Zahl i der Karte ist.
1573
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
Kempe führte einen Induktionsbeweis des Vierfarbensatzes über die Anzahl p ⫽ S pi der Länder einer Karte: Nach Induktionsvoraussetzung sei jede Karte mit p ⱕ r 4-färbbar. Eine Karte Mr ⫹ 1 mit r ⫹ 1 Polygonen besitzt nach Kempes Gleichung wenigstens eine der folgenden unvermeidlichen (unavoidable) Polygone: P2 mit zwei Nachbarn, Dreieck P3, Viereck P4 oder Pentagon P5. In jedem Fall erhält man eine Karte Mr mit r Polygonen, wenn man in Mr ⫹ 1 eine Kante eines benachbarten Polygons entfernt. Nach Induktionsvoraussetzung besitzt Mr eine Vierfärbung fr, aus der Kempe eine Vierfärbung fr ⫹ 1 von Mr ⫹ 1 mit P2, P3, P4 oder P5 abzuleiten versuchte. Für die Fälle P4 und P5 betrachtete Kempe maximale Länderketten mit zwei Farben aus fr, die er derart umfärbte, um aus der neuen Färbung f⬘r von Mr eine Vierfärbung fr ⫹ 1 von Mr ⫹ 1 zu erhalten. Sein Beweis für P5 wurde 1890 von P. J. Heawood widerlegt. Heawood selber beweist einen allgemeinen Satz über eine hinreichende Anzahl von Farben für jede Fläche mit der Charakteristik x ⬍ 2, kommt aber für die Ebene nicht weiter. Kempe bewies also die Reduzierbarkeit (reducibility) von P2, P3 und P4, d. h. ein (minimales) Gegenbeispiel des Vierfarbensatzes kann keine Polygone P2, P3, P4 enthalten. G. D. Birkhoff (1913) erweiterte die Suche auf reduzierbare Konfigurationen K von Polygonen, deren Größe durch die Anzahl der Länder des äußeren Länderrings von K charakterisiert ist. Dem computergestützten Beweis von Apple, Haken und Koch von 1976 liegt die Beweisidee zugrunde, a) eine genügend große unvermeidliche endliche Menge von Teilkarten zu produzieren, von denen wenigstens eine in einer (normalen) Karte enthalten ist. 2) Von jeder dieser unvermeidlichen Teilkarten wird gezeigt, daß sie die Vierfärbbarkeit der sie enthaltenden Karten nach sich zieht (Reduzierbarkeit). Das Gesamtprogramm besteht aus folgendem Optimierungsverfahren. Man beginnt mit Algorithmen, die nachweislich unvermeidliche Mengen von Teilkarten im genannten Sinn produzieren (Discharging Algorithmen). Falls eine der Teilkarten nicht reduzierbar ist, muß der Algorithmus verbessert werden bis zur Problemlösung (Abb. 78.16). Die Rechenzeit realer Rechner wurde besonders durch den Reduzierbarkeitstest strapaziert: Die Testzeit einer Teilkarte entspricht etwa der Anzahl der Vierfärbungen, die für den äußeren Ring der Teilkarte möglich ist
Abb. 78.16.
(z. B. fast 200 000 Möglichkeiten bei Ringgröße 14). Um den zeitlichen und materiellen Aufwand der Beweissuche abschätzen zu können, führten Apple und Haken ein heuristisches Wahrscheinlichkeitsmaß für die Reduzierbarkeit von Teilkarten ein. Die Beweiszeit des Computers für das Vierfarbenproblem betrug damals über 1200 Stunden. Die Prüfung der Graphen kann daher von einem einzelnen Mathematiker nicht Schritt für Schritt nachvollzogen werden, nur indirekt durch Analyse des Beweisprogramms. Wir haben es also mit einem entscheidbaren Problem über Graphen zu tun, das bisher jedoch technisch-praktisch von menschlichen Rechnern nicht und nur von Computern bestimmter Rechenkapazität entschieden werden kann. Die Zeichenverarbeitung der Graphentheorie ist in diesem Entwicklungsstadium nur noch durch computergestützte Analysen möglich.
5.
Zeichenkonzeptionen der mathematischen Grundlagenforschung und Informatik
Die mathematische Grundlagendiskussion zwischen Logizisten, Formalisten, Intuitionisten und Konstruktivisten hat zur Präzisierung mathematischer Zeichenkonzeptionen, ihrer Möglichkeiten und ihrer Grenzen beigetragen. Die daraus entstehende Theorie formaler Sprachen und Kalküle beeinflußte die moderne linguistische Analyse natürlicher Sprachen ebenso wie die Programmiersprachen der Computer. Mit der mathematischen Maschinen- und Automatentheorie zeichnen sich neue Möglichkeiten der Zeichenverarbeitung ab.
1574 5.1. Semiotische Aspekte des Grundlagenstreits Um psychologische Redeweisen wie „Zählprozeß“ und „Anschauung“ zu vermeiden, versuchten Grundlagentheoretiker wie Dedekind, Frege und andere, den Zählprozeß „rein logisch“ zu begründen (vgl. § 3.1.). Russell, A. N. Whitehead und andere arbeiteten diesen Logizismus systematisch aus. Sein Aufbau sah vor, zunächst die Zahlen als besondere Menge (Begriffsumfänge bzw. Extensionen von Eigenschaften) einzuführen, schließlich Relationen und Verknüpfungen von Zahlen, um so Analysis und Funktionentheorie Schritt für Schritt aus der Logik zu gewinnen. Die Geometrie wird in diesem Aufbau als analytische Geometrie aufgefaßt, deren Grundbegriffe daher bereits in der Analysis definiert sind. Dieses Programm scheiterte aus verschiedenen Gründen. Einmal reichen, wie Russell später selber zeigte, die Axiome nicht aus, um Zahlen einzuführen. Vielmehr ist dazu das Existenzaxiom für eine unendliche Menge notwendig (vgl. § 3.1.). Schließlich traten mengentheoretische Paradoxien auf, die Russell im Unterschied zur axiomatischen Mengenlehre typentheoretisch zu vermeiden versuchte. Zeichentheoretisch erhalten dazu die Sprachsymbole zusätzliche Indizes, die angeben, ob es sich um ein Objekt der 0-ten Schicht (Urelemente), eine Menge der 1-ten Schicht aus Objekten der 0-ten usw. handelt. Mengenbildungen „quer durch die Typenhierarchie“ sind verboten, insbesondere also die Russellsche Klasse. Um widerspruchsvolle Begriffsbildungen zu vermeiden, müssen vor allem beliebig große unendliche Mengenbildungen vermieden werden. Die intuitionistische Mathematik L. E. Brouwers orientiert sich dazu an der „Ur-Intuition“ des Zählens: So wie die natürlichen Zahlen in endlich vielen Zählschritten Schritt für Schritt eingeführt werden, so müssen alle mathematischen Objekte konstruiert werden. Nur so läßt sich schrittweise prüfen, daß keine Widersprüche oder zirkelhaften Begriffsbildungen eingeführt werden. Dafür werden als reelle Zahlen nur solche Dezimalbruchentwicklungen wie z. B. 0, a1 a2 a3 … zugelassen, deren Folgeglieder schrittweise und effektiv berechnet werden können. Allgemein muß eine Existenzbehauptung durch die effektive Angabe eines Beispiels eingelöst werden. Eine Allaussage verlangt ein effektives Prüfverfahren der Behauptung für alle Beispiele. Für Brouwer sind mathe-
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matische Konstruktionen ausdrücklich nicht zeichengebunden, sondern rein geistige Akte. Der Intuitionismus versteht sich also als eine Spielart des Mentalismus. Brouwers intuitionistische Logik hat rigide Konsequenzen für den Aufbau der Mathematik. Von A. Heyting stammt folgendes Beispiel einer klassischen, aber intuitionistisch nicht zulässigen reellen Zahl. Sei z. B. eine rationale Folge (rn) wie folgt definiert: Falls die n-te Dezimalstelle bei der Dezimalbruchentwicklung von p die 9 ist in der ersten Sequenz 0123456789 in der Dezimalbruchentwicklung von p, so sei rn ⫽ 1, sonst sei rn ⫽ 2⫺n. Die Folge (rn) unterscheidet sich von der Folge (sn) ⫽ 2⫺n um höchstens ein Glied. Da (sn) eine Cantorsche Fundamentalfolge (vgl. § 3.2.) ist, ist in der klassischen Mathematik auch (rn) eine Fundamentalfolge. Beide Folgen stellen also im Sinne von Cantors Definition (vgl. § 3.2.) eine reelle Zahl dar. Da aber bisher nicht bekannt ist, ob eine Folge 0123456789 in p vorkommt oder nicht, können wir keine Stelle in der Dezimalbruchentwicklung von (rn) effektiv angeben, von der ab die Differenz aller folgenden Folgeglieder kleiner als z. B. ½ ist, d. h. (rn) ist intuitionistisch keine Fundamentalfolge und stellt also keine zulässige reelle Zahl dar. Die Beschränkung auf die effektive Logik führt dazu, daß einige zentrale Sätze der klassischen Analysis nicht bewiesen werden können. Es handelt sich meistens um Sätze, die vom Vollständigkeitsaxiom (R 3) Gebrauch machen, da hier ein unbeschränkter Gebrauch von Quantoren für Mengenbildungen vorliegt. Den Einschränkungen der intuitionistischen Mathematik entgeht man, wenn man wie H. Weyl (1918) die Methoden der klassischen Arithmetik zuläßt. Nachdem ein Widerspruchsfreiheitsbeweis der klassischen Arithmetik durch Gentzen, Gödel, Lorenzen und andere vorlag, war dieser Standpunkt auch logisch gerechtfertigt. In der folgenden auf Weyl und Lorenzen zurückgehenden Version des Konstruktivismus wird der semiotische Aspekt mathematischer Objekte grundlegend. Dort kann nämlich die klassische Logik widerspruchsfrei verwendet werden, sofern es sich um Sätze über „definite“ Objekte wie die natürlichen Zahlen handelt, die durch die Strichfolge |, ||, |||, … eingeführt werden (vgl. Art. 107 und 133). Folgen und Funktionen heißen mit Blick auf Bernoulli und Euler „definit“, wenn sie
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durch Abstraktion aus einem definiten Term entstehen. Definite Terme sind z. B. die ratio2r ⫹ s nalen Terme wie f(r) ⫽ r2, g(r, s) ⫽ r mit Variablen r, s für rationale Zahlen, aber auch induktiv eingeführte Folgen- bzw. Funktionsterme wie z. B. die Potenz x1 ⫽ x, xn ⫹ 1 ⫽ xn · x und die Funktionsfolge f1(x) ⫽ f(x), fn ⫹ 1(x) ⫽ fn (f(x)), falls x, f bereits definite Objekte sind. Ein Beispiel für eine definite reelle Zahl ist die transzendente Euler-Zahl e ⫽ lim (1 ⫹ n→⬁
1 n ) , n
die als Grenzwert der induktiv definierten Potenzfolge eingeführt wird. Entscheidend ist also in diesem Ansatz die definite semiotische Darstellung der Objekte, d. h. die Terme müssen induktiv definiert sein. Die Rede von „Mengen“ ist dann bloße „fac¸on de parler“. Während Konstruktivismus und Intuitionismus die Mathematik von Grund auf neu aufbauen wollen, um dabei Widersprüche zu vermeiden, läßt Hilbert die Mathematik in ihrem klassischen Bestand unangetastet und versucht sie über den Umweg einer Formalisierung auf ein widerspruchsfreies Zeichenspiel zurückzuführen. Dabei werden formale Sprachen grundlegend (vgl. Art. 2 § 2.). 5.2. Formalismus und Strukturalismus In seinen Grundlagen der Geometrie von 1899 verzichtet Hilbert auf alle Definitionen der geometrischen Grundbegriffe, denen er nur psychologisch-heuristische Bedeutung zubilligt. An die Stelle von wahren Sätzen treten bei Hilbert Formeln, d. h. formale Zeichenreihen, deren Bedeutung zunächst offen ist und über deren Wahrheit daher nichts ausgesagt werden kann. Wir können uns dabei unter den Grundbegriffen „Punkt“, „Gerade“, „Ebene“ nach Hilbert vorstellen, was wir wollen, sofern nur in unseren Modellen die axiomatischen Bedingungen erfüllt sind. Die Sätze, welche die Beziehungen des Systems festlegen sollen, heißen „Axiome“: „Zu zwei Punkten A, B gibt es stets eine Gerade a, die mit jedem der beiden Punkte zusammengehört.“ Seien P, G, L Variablen für Eigenschaften, die auch gelesen werden können als „x ist Punkt“ für „x 苸 P“ bzw. „z ist Gerade“ für „z 苸 G“ bzw. „x liegt auf z“ für „(x, z) 苸 L“. Dann erhält man mit den üblichen logischen Normierungen folgende abgekürzte Schreibweise des Hilbertschen Axioms:
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x y (x 苸 P ∧ y 苸 P → z (z 苸 G ∧ (x, z) 苸 L ∧ (y, z) 苸 L)). Obwohl man mit den Grundbegriffen bestimmte figürliche Vorstellungen verbindet, spielen sie für das Axiomensystem keine Rolle. Logisch gesprochen, sind die Grundbegriffe wie z. B. P, G, L freie Variablen, die Axiome sind Aussageformen, z. B. A(P, G, L). Das geometrische Axiomensystem ist also nach Hilbert weder „evident“ (im Sinne Pascals) noch „anschaulich“ (im Sinne Kants), noch „wahr“ (im Sinne Freges), sondern ein System von Aussageformen bzw. Formeln. Wie läßt sich nun einsehen, daß keine Widersprüche im formalen System der Geometrie ableitbar sind, wenn wir uns nicht auf die „Evidenz“ der Axiome oder der Raumanschauung berufen können? Dazu interpretiert Hilbert die Grundbegriffe der Geometrie in der Analysis und weist nach, daß alle Aussageformen wahre Sätze der analytischen Geometrie werden. Setzt man die Widerspruchsfreiheit der Analysis voraus, so muß auch das Hilbertsche Axiomensystem der Geometrie widerspruchsfrei sein: Ein Widerspruch in der Geometrie würde nämlich bei Interpretation in der analytischen Geometrie einen Widerspruch in der Analysis nach sich ziehen. Diese Art von relativen Widerspruchsfreiheitsbeweisen hat den Nachteil, daß man immer schon Widerspruchsfreiheit von teilweise sehr komplizierten Theorien (z. B. der Analysis) voraussetzen muß. Hilberts Programm des Formalismus zielt daher auf absolute Widerspruchsfreiheitsbeweise, bei denen die Formalisierung einer Theorie auf ein widerspruchsfreies Spiel mit Zeichen reduziert wird. Daß ein solches radikales semiotisches Programm für die gesamte Mathematik nicht durchführbar ist, zeigen die Gödelschen Sätze: Für die axiomatisierten Versionen der Mengenlehre, auf der die moderne Mathematik aufbaut, ist kein Widerspruchsfreiheitsbeweis mit finiten Mitteln möglich. Gleichwohl regen die Gödelschen Sätze die Entwicklung formaler Systeme und die Bestimmung ihrer Leistungsfähigkeit an, worauf im letzten Abschnitt unter dem Gesichtspunkt der mathematischen Informatik noch näher eingegangen werden soll. Andererseits ist die Sprache der modernen Mathematik im allgemeinen nicht im Sinne eines Kalküls formalisiert. Auf der Grundlage einer informalen axiomatischen Mengenlehre wird die Mathematik seit N. Bourbaki als Lehre von den abstrakten Strukturen auf-
1576 gefaßt. Mathematische Theorien beschäftigen sich danach mit den verschiedenen Arten von Strukturen, die semiotisch durch mengentheoretische Struktursymbole bezeichnet werden und sich einheitlich klassifizieren lassen. Das hängt damit zusammen, daß die Mengenlehre neben einer Standardlogik auch starke außerlogische Axiome über Mengen aufstellt, z. B. daß mit jeder Menge M auch die Potenzmenge Pot(M) als Menge aller Teilmengen von M existiert und daß es unendliche Mengen gibt. Für eine Menge M kann das cartesische Produkt M2 ⫽ M ⫻ M als Menge aller Paare von Elementen aus M definiert werden (allgemein die Menge Mn als Menge aller n-Tupel von n Elementen aus M). Allgemein ist eine Struktur ein endliches System von Mengen, deren Typ und deren Art axiomatisch festgelegt wird. So ist eine Gruppe (G, g) eine Struktur mit einer Basismenge G (z. B. reelle Zahlen) und einer 3-stelligen Relation g auf G mit der Typisierung g 苸 Pot(M3). Die Strukturart wird durch die Gruppenaxiome a(G, g) definiert, wonach z. B. die durch g definierte Operation auf G die Klammerregel erfüllt, das Axiom des inversen Elements usw. Was auf den ersten Blick so abstrakt wirkt, liefert uns semiotisch einen entscheidenden Vorteil. Wir erhalten nämlich einen einheitlichen Sprachrahmen, um die ungeheure Vielfalt aller denkmöglichen Strukturen, ihre Theorien und gegenseitigen Abhängigkeiten logisch präzise zu formulieren. Damit steht eine einheitliche Metatheorie aller mathematischen Theorien zur Verfügung. Wenn es zudem gelingt, diese Strukturen durch geeignete Abbildungsprinzipien mit Experimenten, Messungen usw., d. h. der empirischen „Wirklichkeit“, in Verbindung zu bringen, läge sogar eine allgemeine Metatheorie der empirischen Wissenschaften (z. B. Physik) vor (vgl. Art. 30 § 1.). Dieses semiotisch-wissenschaftstheoretische Programm scheint zunächst an den Logischen Empirismus Carnaps zu erinnern (vgl. Art. 106). Es liegen jedoch grundlegende Unterschiede vor. Es wird nämlich nicht die Absicht des Logizismus verfolgt, mathematische Begriffe auf Logik zu reduzieren. Vielmehr wird eine Standardlogik und eine for-
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male axiomatische Mengenlehre vorausgesetzt. Ferner wird keine absolute empirische Basis mit Symbolen für Empfindungs- und Meßdaten, Protokollsätzen und Beobachtungssprache vorausgesetzt, die durch Korrespondenzregeln mit der Theorie in Beziehung zu setzen sind. Diese absoluten Unterscheidungen Carnaps in seinem Logischen Aufbau der Welt (1928) haben sich im System der Naturwissenschaften als undurchführbar erwiesen. Der Wirklichkeitsbereich und die Anwendungsvorschrift einer mathematischen Theorie und Sprache hängen vielmehr im allgemeinen von der Theorie selber ab. Allgemein unterteilt man eine Struktur (M, s) in Basismengen M (Abkürzung für M1, …, Mn) und durch sie typisierte Strukturelemente s (Abkürzung für s1, …, sm). Der Strukturtyp s 苸 s(M) wird durch eine Leitermenge über M festgelegt, d. h. eine Menge, die aus M durch Iteration der Operation „Potenzmenge eines cartesischen Produktes“ entsteht. Die Strukturart von (M, s) wird durch ein Axiom a(M, s) festgelegt, das die Struktur bis auf Isomorphie eindeutig bestimmt, d. h. (M, s) ⬃ (M', s') → (a(M, s) ↔ a(M', s')). Diese Forderung an die Strukturart besagt, daß das Axiom a seinen Wahrheitswert nicht ändert, wenn man die Struktur (M, s) durch eine beliebige, dazu isomorphe Struktur (M', s') ersetzt. So gelten die Gruppenaxiome für die Drehungen eines gleichseitigen Dreiecks ebenso wie für die reellen Zahlen. Isomorphismen sind umkehrbar-eindeutige Abbildungen der Basismengen M auf die Basismengen M', wobei die typisierte Menge s auf die entsprechende Menge s' abgebildet wird. Die Typisierung bleibt dabei ungeändert, da die entsprechende Abbildung durch die Leitermenge s(M) gegeben ist. In die allgemeine Definition einer Struktur geht also ein Invarianzpostulat ein, das auch als kanonische Invarianzeigenschaft einer Struktur bezeichnet wird. Als Beispiel sei noch einmal an die gruppentheoretische Charakterisierung der Geometrie in der Nachfolge von F. Klein erinnert (vgl. § 2.4.). Sei M der Raum der betreffenden Geometrie und G eine Transformations-
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gruppe des reellen Zahlenraums ⺢n. Dann ist (M, F) eine Struktur mit einer typisierten Menge F 苸 Pot2 (M ⫻ ⺢n) von Koordinatensystemen und der Strukturart aG(M, F), worin das Axiom aG formuliert, daß F eine bezüglich G vollständige Menge von (globalen) Koordinatensystemen von M auf ⺢n ist. Die kanonische Invarianz von aG läßt sich leicht beweisen. Man kann nun eine Hierarchie von Transformationsgruppen des ⺢n aufstellen und die entsprechenden geometrischen Strukturen untersuchen. Die große Flexibilität der strukturtheoretischen Sprache erlaubt eine einheitliche Anwendung nicht nur in den Natur-, sondern auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften, sofern eine mengentheoretische Strukturierung der Probleme möglich ist. So ist zwar die Vision des Wiener Kreises von einer einheitlichen Wissenschaftssprache realisierbar, ohne jedoch die Forderung nach absoluter Widerspruchsfreiheit einlösen zu können (vgl. Art. 84 § 4.). 5.3. Kalkül-, Maschinen- und Automatentheorie Die Zeichenkonzeptionen der modernen Mathematik erreichen ihren Höhepunkt in der Kalkül-, Maschinen- und Automatentheorie, die schließlich Grundlagen der Informatik wurden. Den historischen Kern dieser Entwicklung bildete die Frage, wie der Begriff des Rechnens, von dem jeder eine intuitive Vorstellung hat, allgemein zu präzisieren sei. Seit Pascal, Leibniz und anderen lagen mechanische Realisierungen von einzelnen Rechenverfahren vor. Mit A. Turings Maschinenkonzept (1936⫺37) wurde erstmals eine mathematische Präzisierung vorgetragen, die Rechnen als effektive Verarbeitung von Zeichen und Symbolen verstand (vgl. Art. 2 § 4.8.). Anstelle der historischen TuringMaschine (TM) sei hier zunächst die auf M. Minsky zurückgehende Registermaschine (RM) angeführt, die sich anschaulich durch Abstraktion aus Handrechenmaschinen ergibt. Eine RM hat eine feste (genügend große) Anzahl von Registern. Jedes Register kann eine beliebige natürliche Zahl speichern. Zur
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Bezeichnung der Register werden natürliche Zahlen verwendet. Der Inhalt des Registers j wird mit *j+ bezeichnet. i ⫽ *j+ heißt, daß im Register j die Zahl i steht. Programme für Rechenmaschinen sind Anweisungen, nach denen die Rechenmaschine entsprechend elementare Operationen hintereinander ausführt. Allgemein wird der Begriff „Programm“ für eine RM induktiv erklärt, indem Konstruktionsregeln für die Zusammensetzung aus Elementaroperationen angegeben werden: 1) Jede Elementaroperation *i+ :⫽ *i+ ⫹ 1 und *i+ :⫽ *i+ ⱷ 1 ist ein Programm. Der Inhalt des Registers i wird dabei um 1 erhöht bzw. erniedrigt und das Resultat auf der linken Seite vom Doppelpunkt notiert. (Falls bei der modifizierten Subtraktion ⱷ das Register leer war, bleibt es bei weiteren Subtraktionsschritten leer.) 2) Die Verkettung zweier Programme P und Q zu P → Q ergibt wieder ein Programm. Mit jedem Programm P ist auch die Iteration
Abb. 78.17a.
ein Programm. Dabei wird das Programm P so oft ausgeführt, bis das Register i leer (Null) ist. Ein Beispiel ist das Additionsprogramm, das *j+ zu *i+ addiert, das Ergebnis ins Register i schreibt und Register j leert:
Abb. 78.17b.
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Die Matrix des Additionsprogramms lautet *i+ x x⫹1 . . . x⫹y
*j+ y y⫹1 . . . yⱷy
Während das Flußdiagramm die Funktionsweise des Programms symbolisiert, stellen die Matrixzeilen Momentaufnahmen des Inhalts aller betrachteten Register zu interessanten Zeitpunkten dar, die Spalten die Änderung des Inhalts des jeweiligen Registers in diesen Abschnitten. Eine RM mit Programm F berechnet die n-stellige Funktion f, wenn für beliebige Argumente x1, …, xn (in den Registern 1, …, n und 0 in den übrigen Registern) die RM das Programm F ausführt und nach endlich vielen Schritten stoppt und im n ⫹ 1-ten Register der Funktionswert f(x1, …, xn) steht. Die Anzahl der Elementaroperationen, die ein Programm F zur Berechnung eines Funktionswertes braucht, ist durch die Argumente der Funktion eindeutig festgelegt und bildet daher die Schrittzahlfunktion sF des Programmes F. Sie ermöglicht eine Messung der Komplexität des jeweiligen Rechenaufwandes. Eine andere Präzisierung der Berechenbarkeit durch rekursive Funktionen zeichnet zunächst gewisse elementare Anfangsfunktionen als berechenbar aus und führt dann induktiv zu komplexeren Funktionen durch die Zusammensetzungsverfahren der Einsetzung, primitiven Rekursion und Anwendung des m-Operators. Anfangsfunktionen sind die Konstante Co(x) ⫽ 0, die Nachfolgerfunktion f(x) ⫽ x ⫹ 1 und die Projektionsfunktion Uin (x1, …, xn) ⫽ xi. Mit zwei Funktionen g und h ist auch die durch Einsetzung von g in h entstandene Funktion f rekursiv berechenbar: f(x1, …, xn, y1, …, yr) ⫽ h(x1, …, xn, g(y1, …, yr)). Mit der n-stelligen Funktion g und der n ⫹ 1-stelligen Funktion h ist auch die durch primitive Rekursion aus g und h definierte n ⫹ 1-stellige Funktion f rekursiv: f(x, 0) ⫽ g(x); f(x, y ⫹ 1) ⫽ h(f(x, y), x, y).
Eine (partiell definierte) Funktion f entsteht aus der Funktion g durch Anwendung des m-Operators genau dann, wenn
Ï Ô Ô Ô f(x) ⬵ Ì Ó
das kleinste y mit g(x, y) ⫽ 0, falls es ein y mit g(x, y) ⬵ 0 gibt und alle (x, z) mit z ⱕ y im Definitionsbereich von g liegen; nicht definiert, sonst.
Abkürzung: f(x) ⬵ my g(x, y) ⫽ 0. Die beiden Berechenbarkeitskonzepte sind mathematisch äquivalent: Jede rekursive (partielle) Funktion ist eine mit einer Registermaschine berechenbare (partielle) Funktion und umgekehrt. Beide Konzepte gingen von unterschiedlichen intuitiven Vorstellungen der Berechenbarkeit aus. Im ersten Fall war das Rechnen mit Maschinen Vorbild, im zweiten Fall das algebraische Umformen wie Einsetzung, Zusammensetzung und ähnliches. Jede durch eine RM berechenbare Funktion und jede rekursive Funktion ist also im intuitiven Sinn berechenbar. Historisch wurden noch andere Berechenbarkeitspräzisierungen vorgeschlagen, die jeweils im intuitiven Sinn berechenbare Funktionen charakterisieren. Allerdings ist für keine dieser Funktionenklassen ein präziser Beweis möglich, daß sie dem intuitiven Konzept der Berechenbarkeit exakt entsprechen: Für intuitive Vorstellungen lassen sich nämlich keine präzisen Beweise führen. Die Tatsache aber, daß die verschiedenen präzisierten Berechenbarkeitskonzepte mathematisch exakt äquivalent sind, führte zu der berühmten These von A. Church, wonach die rekursiven Funktionen (oder damit mathematisch äquivalente Funktionenklassen) eine adäquate Präzisierung des Begriffs der (total) berechenbaren Funktionen darstellen. Damit war auch eine Präzisierung des Entscheidbarkeitsbegriffs von Eigenschaften möglich, sofern sie als zahlentheoretische Prädikate darstellbar sind. Dazu definiert man die charakteristische Funktion fP des Prädikates P durch fP(x) ⫽ 0, falls P auf x zutrifft (d. h., P(x)) und fP(x) ⫽ 1 sonst. Ein Prädikat heißt „rekursiv“ bzw. „RM-entscheidbar“ genau dann, wenn fP rekursivbzw. RM-berechenbar ist. Eine weitere Prädikatenklasse umfaßt die rekursiv-aufzählbaren Prädikate. Wenn eine einstellige Funktion f ihren Wertebereich M mit den Funktionswerten f(0), f(1), … durch-
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läuft, kann man intuitiv sagen, daß die Funktion f die Elemente von M aufzählt. Eine Menge natürlicher Zahlen heißt daher „rekursiv-aufzählbar“, wenn sie der Wertebereich einer rekursiven Funktion oder die leere Menge ist. Rekursiv-aufzählbare Mengen können also als Präzisierung der durch ein effektives Verfahren erzeugten Zahlenmengen angesehen werden. Es läßt sich beweisen, daß ein n-stelliges Prädikat P genau dann rekursiv-aufzählbar ist, wenn es ein n ⫹ 1-stelliges rekursives Prädikat Q gibt, so daß für alle x1, …, xn gilt: P(x1, …, xn) genau dann, wenn es ein y gibt mit Q(x1, …, xn, y). Rekursiv-entscheidbare Prädikate sind also rekursiv-aufzählbar. Die Umkehrung gilt jedoch nicht immer. Ein berühmtes Beispiel formulierte Hilbert (1900) in seinem zehnten Problem, das sich auf die ganzzahligen Lösungen algebraischer Gleichungen mit ganzen Koeffizienten bezieht. Hilbert fragte nach einem allgemeinen Verfahren, mit dem sich bei gegebener diophantischer Gleichung entscheiden läßt, ob sie eine ganzzahlige Lösung hat oder nicht. Ein entsprechendes diophantisches Prädikat ist zwar rekursiv aufzählbar, aber, wie erst 1970 bewiesen werden konnte, nicht rekursiv entscheidbar. Unter semiotischem Aspekt entsprechen den natürlichen Zahlen spezielle Worte formaler Sprachkalküle. Das Konzept der Maschinen-, Aufzählungs- und Entscheidungsverfahren läßt sich für Wortmengen verallgemeinern. Dazu wird eine endliche, nicht-leere Menge von unterscheidbaren Zeichen als Alphabet A bezeichnet, deren Elemente Buchstaben heißen. Eine endliche lineare Folge von Buchstaben heißt „Wort“. Das leere Wort ohne Buchstaben wird mit 첸 bezeichnet. Die Menge aller Worte über A wird mit A* bezeichnet. Die Verkettung von Worten über A ist eine 2-stellige (assoziative) Funktion über A* mit dem Funktionswert W1 W2 für die Worte W1, W2 苸 A*. Zwei Worte W1 und W2 sind gleich, wenn sie an der gleichen Stelle gleiche Buchstaben haben. Man schreibt dann W1 ⬅ W2. Ein Sprachkalkül zur Erzeugung von Worten ist gegeben durch zwei Alphabete, das Zeichenalphabet A und das Variablenalphabet V, die keine Elemente gemeinsam haben, und durch endlich viele Regeln. Regeln bestehen aus einer Conclusio mit oder ohne Prämissen:
a1 , …, an oder b
b
wobei a1, …, an, b Worte aus der Vereinigungsmenge der Alphabete A und V sind. Die Prämissen a1, …, an und die Conclusio b einer Regel werden nach Ersetzung sämtlicher Variablen durch Worte über A zu Worten W1, …, Wn bzw. W über A. Man sagt dann, daß das Wort W mit Hilfe einer Kalkülregel aus den Worten W1, …, Wn direkt abgeleitet ist. Eine Ableitung eines Wortes W in einem Kalkül ist eine endliche Folge von Worten, wobei jedes Wort der Folge entweder durch eine prämissenlose Kalkülregel oder aus vorangehenden Worten mit Hilfe einer Kalkülregel abgeleitet ist und das letzte Wort der Folge W ist. So werden die Ziffern |, ||, |||, … der natürlichen Zahlen durch ein Zeichenalphabet A ⫽ {|}, ein Variablenalphabet V ⫽ {S}, eine Anfangsregel ohne Prämisse | und eine Regel S mit Prämisse erzeugt. S| Von Kalkülen zur Erzeugung von Wortmengen sind solche zu unterscheiden, die der Umformung von Worten dienen. Intuitiv ist dem Mathematiker das „mechanische“ Lösen von Gleichungen seit Beginn der Algebra wohlvertraut. Um diese Verfahren allgemein semiotisch zu präzisieren, wird eine Gleichung als ein Wort über einem passenden Alphabet aufgefaßt. Die Lösung einer Gleichung ist dann ein Wort x ⫽ W, wobei in dem Teilwort W der Buchstabe x nicht vorkommen darf. Das Lösen einer gegebenen Gleichung soll durch Anwendung von Kalkülregeln eines geeigneten Kalküls geschehen. Beim Aufstellen der Kalkülregeln ist darauf zu achten, daß alle Regeln korrekt sind, d. h. daß bei ihrer Anwendung die Lösungsmenge der Gleichung nicht verändert wird und die Regelliste vollständig ist, daß also alle lösbaren Gleichungen des vorgegebenen Typs durch Anwendung des Kalküls gelöst werden können. Alle Regeln haben die Gestalt: W1 Z1 W2 Z2 … Wn Zn Wn⫹1 , W⬘1 Z⬘1 W⬘2 Z⬘2 … W⬘m Z⬘m W⬘m⫹1 wobei Z1 , …, Zn Variablen und {Z⬘1 , …, Z⬘m} 債 {Z1 , …, Zn}. W1, …, Wn, W⬘1, …, W⬘m sind spezielle Worte über A, die auch das leere Wort sein können. Kalküle dieser Art wurden 1936 von Post untersucht und heißen „kanonische Post-Kalküle“. Es handelt sich um ein zei-
1580 chenverarbeitendes Regelsystem, das äquivalent auch mit normalisierten Regeln W1 Z Z W2 angewendet werden kann. Ein weiterer Spezialfall der kanonischen Post-Kalküle sind solche, bei denen die Umformungen nur an einer Stelle im Innern des Wortes vorgenommen werden können. Sie wurden erstmals von Thue (1914) untersucht. Ein Semi-Thue-System ist ein Kalkül, bei dem alle Regeln die Gestalt X W1 Y X W2 Y haben. Dabei sind X, Y Variable und W1, W2 Worte über dem Alphabet des Kalküls. Ein Semi-Thue-System heißt „Thue-System“, wenn mit jeder Regel auch die inverse Regel X W2 Y X W1 Y gegeben ist. Ein Beispiel für Thue-Systeme sind endlich erzeugte Halbgruppen mit EinsElement. Die Regeln werden dabei meistens durch Gruppentafeln gegeben und die Elemente der Halbgruppe als Worte aus den Erzeugenden. Das gruppentheoretisch inverse Element ist semiotisch bezogen auf das Rückgängigmachen von Wortersetzungen. Bei Kalkülen ist im allgemeinen der Ablauf der Umformungen, die von einem Wort aus möglich sind, nicht eindeutig festgelegt. Ein Kalkül über dem Alphabet A heißt „determiniert auf einer Teilmenge B von A*“, wenn gilt: Für jedes Wort W von B und für jede mit W beginnende Ableitung ist die Ableitung eindeutig bestimmt. Determinierte Kalküle sind also mit Maschinen vergleichbar, die Worte verarbeiten. Die Kalkülregeln entsprechen dann dem Programm (vgl. Art. 26 §§ 3.⫺9.). Nach der Churchschen These sind RM-berechenbare und m-rekursive Funktionen zwei äquivalente Präzisierungen der im intuitiven Sinn berechenbaren Funktionen über natürliche Zahlen. Analog lassen sich berechenbare Funktionen über Worten als Wortalgorithmen präzisieren. Determinierte Kalküle, die für gewisse Worte ein Resultat liefern, lassen sich als Wortfunktionen auffassen. Für eine rekursive Wortfunktion stellt der sie kanonisch definierende Kalkül ein effektives
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Verfahren dar, die Funktionswerte auszurechnen. Die der Churchschen These entsprechende These von Markov besagt, daß der Begriff der rekursiven Wortfunktion eine adäquate Präzisierung des Begriffs der berechenbaren Wortfunktion ist. Wie bei den natürlichen Zahlen wurden viele andere äquivalente Präzisierungen des Berechenbarkeitsbegriffs angegeben, um die These von Markov zu erhärten. Ein Beispiel sind die durch Nebenbedingungen determinierten Semi-Thue-Systeme, die unter dem Namen „Markov-Algorithmen“ bekannt wurden. Ein weiteres Beispiel ist das bereits erwähnte Maschinenkonzept von Turing. Es stellt eine Abstraktion des Rechnens auf einem in Felder aufgeteilten Papierstreifen dar. Eine Turing-Maschine (TM) arbeitet auf einem in Feldern aufgeteilten, potentiell unendlich langen Rechenband, wobei jedes Feld ein Symbol aus einem endlichen Alphabet tragen kann. Das jeweilige Arbeitsfeld ist ausgezeichnet. Als Elementaroperationen gibt es das Verschieben des Arbeitsfeldes um ein Feld nach rechts (r) bzw. links (l), das Drukken des Buchstabens ak des Alphabets und das Stoppen (s). Programme von TM können wie bei RM durch Programmtafeln gegeben werden. Die i-te Programmzeile (i; e1, …, en; m1, …, mn) bedeutet: Trägt das Arbeitsfeld den Buchstaben ak, so führt TM den Elementarbefehl ek aus und geht über zur mk-ten Programmzeile. Maschinen lassen sich aber auch durch Programmworte einführen. Turing-Programme sind danach Worte über dem Alphabet {r, l, s, ai, (,)ai}, die durch Verkettung und Iteration der Elementarbefehle entstehen. Dabei bedeutet (P)ai, daß das Programm P so lange zu iterieren sei, bis das Arbeitsfeld den Buchstaben ai trägt. Die TM berechnen genau die rekursiven Wortfunktionen. Insbesondere führen die über dem Alphabet {|,*} arbeitenden TM auf die rekursiven Funktionen wie die über natürlichen Zahlen arbeitenden Registermaschinen. Auch Registermaschinen lassen sich durch Programmworte charakterisieren. Ein Programm für eine RM mit n Registern läßt sich nämlich als Wort über dem Alphabet {(,)i, E, Ai, Si, 1, …, n} auffassen. Dabei stehen Ai bzw. Si für die Addition bzw. Subtraktion von 1 im i-ten Register. E bezeichnet das Ende der Rechnung. Die Verkettung von Elementarbefehlen wird als Verkettung entsprechender Buchstaben zu einem Wort notiert.
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Die Iteration eines Programms P, bis das i-te Register leer ist, wird mit (P)i bezeichnet. Wie S. C. Kleene (1967) zeigte, können Programmworte wie die Worte formaler Sprachen „gödelisiert“ werden. Dabei werden den Zeichen des Alphabets wie üblich Gödelnummern zugeordnet. Einem Programmwort mit r Buchstaben entspricht dann ein r-Tupel natürlicher Zahlen, dem wie üblich durch Primzahlkodierung eine eindeutige Gödelnummer zugeordnet werden kann. Die gesamte Information über eine Maschine ist in dieser Gödelnummer kodiert. Analog zu Unentscheidbarkeitsproblemen über natürlichen Zahlen gibt es auch unentscheidbare Wortprobleme. Ein Beispiel ist das allgemeine Wortproblem für z. B. PostKalküle. Gefragt wird nach einem Verfahren, für einen beliebig vorgegebenen Post-Kalkül und zwei beliebige Worte über seinem Alphabet zu entscheiden, ob diese zwei Worte in diesem Kalkül ineinander umformbar sind. Mit der Unentscheidbarkeit des allgemeinen Wortproblems für Thue-Systeme ist, wie Post und Markov 1947 unabhängig voneinander zeigen konnten, auch die Unentscheidbarkeit des Wortproblems für Halbgruppen bewiesen, d. h. es ist nicht entscheidbar, ob zwei beliebige Darstellungen von Halbgruppenelementen einer beliebigen Halbgruppe dasselbe Element darstellen oder nicht. 1955 bewies Novikov die Unentscheidbarkeit des allgemeinen Wortproblems auch für Gruppen. Dagegen folgt aus dem Basissatz für endlich erzeugte kommutative Gruppen, daß das Wortproblem für kommutative Gruppen entscheidbar ist. Für die mathematische Grundlagenforschung und die Informatik wurde das Automatenkonzept von großer Bedeutung, das historisch in den 50er Jahren von J. von Neumann eingeführt wurde. Nach der heute üblichen Präzisierung kann man sich einen endlichen deterministischen (Mealy-)Automaten als eine Maschine mit endlich vielen Eingängen, Ausgängen und einem endlichen Speicher vorstellen, die Information aufnimmt, verarbeitet und weitergibt. Die Information erhält der Automat als einen Impuls über einen Eingangskanal. Er verarbeitet diese Information, indem er seinen Zustand ändert. Erhält er im Zustand zi über den Eingang xj einen Impuls, so geht er in den Zustand d(zi, xj) über und gibt über den Ausgang l(zi, xj) einen Impuls nach außen ab. Erst wenn er so durch Zustandsänderung und
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Ausgabe reagiert hat, kann dem Automaten ein neuer Impuls eingegeben werden. Graphisch wird ein Automat A mit Eingängen x1, …, xn und Ausgängen y1, …, ym so dargestellt:
Abb. 78.18.
Mengentheoretisch ist ein endlicher deterministischer (Mealy-)Automat ein 5-Tupel (Z, X, Y, d, l) mit einer endlichen, nichtleeren Zustandsmenge Z, endlichen Eingangsmenge X, Ausgangsmenge Y, einer Abbildung d einer Teilmenge von Z ⫻ X in Z, einer Abbildung l einer Teilmenge von Z ⫻ X in Y, wobei die Definitionsbereiche von d und l gleich sind. Automaten können durch Parallelschaltung und Rückkopplung zu Automatennetzen verknüpft werden. Es lassen sich Mengen von einfachen Automaten angeben, aus denen Automatennetze verknüpft werden können, um jeden endlichen Automaten zu simulieren. Man kann auch Automatennetze konstruieren, mit denen sich jede rekursive Funktion berechnen läßt. Dabei werden Zahlen (Argumente und Funktionswerte) als Zustände spezieller „Automaten“ dargestellt. Allerdings sind dazu Zählerautomaten notwendig, die alle unendlich vielen natürlichen Zahlen als Zustände besitzen und daher das Konzept der endlichen Automaten überschreiten. Historisch hatte J. von Neumann die sogenannten „zellulären“ Automaten entwickelt, um lebende Organismen zu simulieren. Insbesondere die Fähigkeit von Organismen zur Selbstreproduktion wird durch die Entwicklung von zellulären Automatennetzen erfaßt. Am Anfang der Automatentheorie stand auch ein Modell für neuronale Netzwerke, das W. S. McCulloch und W. Pitts 1943 entwarfen. Die Neuronen dieses Modells waren einfache Zellen mit erzeugenden und hemmenden Eingaben. Jede Zelle hatte eine einzige Ausgabe und zwei interne Zustände, nämlich „feuern“ und „nicht feuern“. Die Neuronen ließen sich zu Netzwerken verknüpfen, die logische Operationen ausführen.
1582 Die weiteste Anwendung haben endliche Automaten heute als mathematisches Architekturprinzip für Programme, die in irgendeiner Weise Texte und andere sprachliche Informationen verarbeiten. Ein Beispiel bieten Compiler, d. h. Programme, die Befehle in einer dem Menschen verständlichen Programmiersprache in solche einer dem Computer verständlichen Maschinensprache übersetzen. Der Teil eines Compilers, der jede Zeichengruppe auf ihre Zulässigkeit prüft, heißt lexikalischer Scanner. Als Beispiel sei ein Automat zum Erkennen römischer Zahlen angeführt, die in additiver Schreibweise (z. B. VIIII statt IX) vorliegen (vgl. auch Art. 3 § 2.). Das Alphabet der Eingangssymbole besteht aus den Buchstaben M, P, C, L, X, V, I und dem Leerzeichen (Abb. 78.19). Sobald der Automat auf einen Buchstaben (verschieden vom Leerzeichen) trifft, springt er in einen Zustand, der mit dem Namen des Buchstabens bezeichnet sei. Im M-Zustand werden alle Buchstaben (einschließlich M) als Folgezustände akzeptiert, im D-Zustand nur Symbole für kleinere Werte wie C, L, X, V, I, im C-Zustand ebenso, während im L-Zustand nur X, V, I zulässig sind usw. Im I-Zustand ist nur ein weiteres I oder ein Leerzeichen erlaubt, das den Automaten wieder in den Ausgangszustand schickt. Allerdings kann dieser Scanner nicht die erlaubte Anzahl gleicher hintereinander geschriebener Zeichen zählen, was für das römische Ziffernsystem erforderlich ist. Dieses Erkennen von zulässigen Einheiten ist eine Art syntaktischer Analyse einer Sprache, bei der ein endlicher Automat eine unendliche Zahl richtig gebildeter Zeichenketten von einer unendlichen Zahl falsch gebildeter unterscheidet. Voraussetzung ist, wie S. C. Kleene (1956) zeigte, daß es sich um eine sogenannte reguläre Sprache handelt. Kurz gesagt ist es bei einer regulären Sprache möglich, alle ihre Worte zu analysieren, indem von links nach rechts ein Symbol nach dem anderen gelesen wird, ohne zurück- oder vorausschauen zu müssen. Die Zulässigkeit eines Zeichens hängt höchstens von dem Zeichen ab, das unmittelbar links von dem zu beurteilenden Zeichen steht. Die Voraussetzung entspricht der Beschränktheit endlicher Automaten, die weder künftige Zustände voraussehen noch sich vergangene merken können, sondern aufgrund ihres momentanen Zustandes und Inputs einen Übergang in den nächsten Zustand wählen.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Jenseits der endlichen Automaten und regulären Sprachen gibt es eine Hierarchie stärkerer Maschinen und allgemeinerer Sprachen, die N. Chomsky in einer Hierarchie möglicher Modelle für natürliche Sprachen geordnet hat (vgl. Art. 2 § 4.). Dazu werden die grammatikalischen Regeln der Sprachen gelockert und die Automaten durch Speicherzellen ergänzt. Ein Beispiel ist der KellerAutomat, der kontext-freie Sprachen erkennt, bei denen die Zulässigkeit eines Symbols vom linken und von rechten Nachbarn, aber nicht vom weiteren Kontext abhängt. Hebt man auch diese Beschränkung auf, so erhält man kontext-abhängige Sprachen, bei denen weit auseinanderliegende Symbole miteinander in Beziehung stehen. Solche kontext-sensitiven Sprachen werden von linear beschränkten Automaten erkannt, in denen sich jede von endlich vielen Speicherzellen in wahlfreiem Zugriff erreichen läßt. In regulären, kontext-freien und kontextsensitiven Sprachen kann rekursiv entschieden werden, ob eine Zeichenkombination endlicher Länge zur Sprache gehört oder nicht. Dazu braucht man nur alle Zeichenreihen bis zu dieser Länge zu erzeugen und mit der vorliegenden Zeichenkombination zu vergleichen. Ist diese Forderung nicht erfüllt, werden Maschinen von der Komplexität der Turing-Maschine notwendig. Eine TM ist gewissermaßen ein endlicher Automat, der freien Zugriff in einem unbegrenzt großen Speicher hat. Von diesem Standpunkt aus ist eine linear beschränkter Automat eine TM mit einem endlichen Speicherband. Der Keller-Automat besitzt ein Band, das auf einer Seite unendlich lang ist, wobei der Lese-Kopf immer über dem letzten beschrifteten Band steht. Ein endlicher Automat ist eine TM ohne Band (Abb. 78.20). Es gibt allerdings auch so komplexe nichtrekursive Sprachen, daß auch eine TuringMaschine deren Zeichenreihen nicht in endlicher Zeit erkennen kann. Zwar treten solche Sprachen in der Informatik bisher kaum auf, können jedoch vom Menschen intellektuell gemeistert werden. Der Bereich der sprachlichen und anschaulichen Intuition ist also durch die bisher bekannten Zeichenkonzeptionen nicht annähernd ausgeschöpft. Umgekehrt wurde die mathematische Kreativität, wie die Entwicklung vom 19. Jahrhundert bis auf die Gegenwart zeigt, durch neue Zeichenkonzeptionen zu neuen Innovationsschüben angeregt (siehe auch Art. 133).
78. Zeichenkonzeptionen in der Mathematik und Informatik
Abb. 78.19.
1583
1584
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 78.20.
6.
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Klaus Mainzer, Augsburg (Deutschland)
79. Zeichenkonzeptionen in der Grammatik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Einleitung 2. Grammatikkonzepte und Zeichenbegriffe 2.1. Grammatikschreibung im wissenschaftsgeschichtlichen Umbruch 2.2. Dominante Paradigmen im 19. Jahrhundert 2.3. Linguistik im Zeichen des Strukturalismus 2.4. Formalisierung und Integration der Pragmatik 3. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Die Mythen der linguistischen Fachgeschichtsschreibung sind einander ähnlich darin, daß sie Brüche und Einschnitte konstruieren und diese sinnhaft gestalten durch die Benennung von Gründungsvätern, welche
erst die ‚Wissenschaftlichkeit‘ der Disziplin geschaffen hätten. Derartige Sichtweisen, die ⫺ verknüpft mit Namen wie Grimm, Paul, Saussure oder Chomsky ⫺ das Resultat konkreter Wissenschaftspolitik sind, werden in den letzten Jahren zunehmend destruiert durch eine Historiographie, die ihre eigenen Prinzipien kritisch reflektiert (vgl. etwa Grotsch 1982, Schmitter 1982, Bahner und Neumann 1985 und die Beiträge in der seit 1974 erscheinenden Zeitschrift Historiographia Linguistica). Das vermeintlich Neue erweist sich oft als der jeweiligen Tradition tief verbunden, und die eindimensionale Sicht weicht der Erkenntnis einer grundlegenden Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität im wissenschaftsgeschichtlichen Prozeß.
79. Zeichenkonzeptionen in der Grammatik
Vor diesem Hintergrund soll im folgenden gezeigt werden, daß das zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundlegende Axiom von der Bilateralität des Zeichens als der rote Faden einer semiotischen Kontinuität in der Grammatik durch alle Modifikationen hindurch zu betrachten ist. Wenn dieser Artikel von Zeichenkonzeptionen in der Grammatik handelt, so liegt hier zunächst jener Grammatikbegriff zugrunde, wie er zu Beginn des Untersuchungszeitraumes üblich war (vgl. Art. 67 § 2.). Er umfaßt Phonetik/Phonologie, Morphologie und Syntax. Dabei ist jedoch zu beachten, daß der Begriff im 19. Jahrhundert durch Prozesse disziplinärer Ausdifferenzierung komplexer wird. Die einzelnen Komponenten (inklusive der vorher kaum eigens betrachteten Semantik) avancieren zu Subdisziplinen der Linguistik. Gleichwohl wirken sie orientierend auf den Gesamtbereich der Grammatik zurück. Schließlich gehen im 19. und verstärkt dann im 20. Jahrhundert Grammatiktheorie, Grammatikographie und rein anwendungsbezogene Grammatikschreibung zunehmend auseinander. Bestimmte Theoreme ⫺ gesetzt sie sind erfolgreich ⫺ werden erst mit Verzögerungen von den Paradigmengemeinschaften in konkrete Grammatiken umgesetzt (es dürfte schon deutlich geworden sein, daß der Begriff des Paradigmas hier nicht die Kuhnschen Implikationen einer völligen Diskontinuität enthalten soll; vgl. Art. 123).
2. 2.1.
Grammatikkonzepte und Zeichenbegriffe
Grammatikschreibung im wissenschaftsgeschichtlichen Umbruch 2.1.1. Die Tradition der Spätaufklärung Ungeachtet zeitgenössischer und späterer Nekrologe bietet der in rationalistischer Tradition stehende Diskurs der grammatischen Spätaufklärung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein recht lebendiges Bild (zur Aufklärungstradition vgl. Hassler 1984). Der Diskurs vereinigt die Paradigmen der philosophischen (apriorisch-deduktiven und empirisch-induktiven) Grammatik und der auf Johann Christoph Adelung (1732⫺1806) sich berufenden deskriptiv-didaktischen Grammatik, wobei es mitunter zu heftigen Interferenzen dieser Ansätze kommt, was etwa die in mancher Hinsicht diskurstypische Grammatik von Heinrich Bauer bezeugt (vgl. Bauer 1827⫺1833, Dörner und Meder 1987
1587 sowie Bergenholtz et al. 1991). Die Beschreibung der Ausgangslage bezieht sich im folgenden auf den deutschen Sprachraum, der im 19. Jahrhundert die linguistische Entwicklung dominiert, ist aber modifiziert auch auf andere Kontexte übertragbar (vgl. Gipper und Schmitter 1975, Vesper 1980, Forsgren 1985, Naumann 1986, Aarsleff 1966 und Beyer 1981 zu Großbritannien und Biedermann 1981 zu Rußland). Grundlegend ist für diesen Diskurs die Sicht der Sprache als eines Systems, das sich aus arbiträr-konventionellen Zeichen aufbaut. Dem Zeichencharakter der Sprache werden ausführliche Reflexionen gewidmet, wobei die Konventionalität der Zeichen nicht naiv realistisch, sondern, oft parallel zu Vertragskonzepten im politischen Diskurs, als eine Art fiktive Modellvorstellung verstanden wird (vgl. Art. 17). Man geht in der Regel von einem bilateralen Zeichenkonzept aus: artikulierte Laute (Ausdrucksseite, meist „Zeichen“ genannt) dienen dem vernunftgeleiteten Menschen dazu, seine Vorstellungen (Inhaltsseite) zu bezeichnen (vgl. z. B. Vater 1801, 135 ff). Vorstellungen bestehen dabei aus Begriffen, die als Inhalt des Wortzeichens entweder der Anschauung oder dem reinen Denken entspringen, und aus Urteilen, die den Inhalt des Satzes konstituieren. Die Inhaltsseite der Zeichen ist dementsprechend weitgehend den Schemata der zeitgenössischen Logik gemäß aufgefaßt (vgl. etwa den Überblick bei Krug 1827). Als Instrument der Ratio wird die Sprache aber durchaus auch unter kommunikativen und pragmatischen Aspekten thematisiert (vgl. Art. 80). Die diachrone Dimension ist dabei zwar durchaus im Blick, es dominiert jedoch die Vorstellung einer linearen Fortschrittsbewegung, in der Mensch, Sprache und Kultur einer rationalen Vollendung entgegenstreben. Wichtig ist, daß das universalistisch-rationalistische Denken (vgl. Art. 67 § 2.4.) häufig schon gebrochen wird durch einen vom französischen Sensualismus und von Herder geprägten anderen Traditionsstrang des 18. Jahrhunderts (vgl. Art. 67 § 2.5. und § 3.2.). Die Sprachzeichen sind hier nicht mehr künstliche Namen für vorsprachlich schon gegebene Begriffe, sondern Sprache und Denken stehen in dialektischem Zusammenhang. Das Besondere und die Eigenzeitlichkeit einzelner Nationalsprachen wird zum Teil schon in dem von Adelung geprägten Paradigma thematisiert. Die herausragende Leistung der spätaufklärerischen Diskursgemeinschaft besteht jedoch in der Syntaxtheorie (Satzglied-
1588 systeme und komplexe Syntax), die ein Niveau erreicht, dem die historisch-vergleichende Sprachforschung über lange Zeit hinweg nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Die Tradition einer Verbindung von philosophisch-logischer und empirischer Sprachforschung ist hier durch Autoren wie Simon Heinrich Adolf Herling (1780⫺1849), Friedrich Jacob Schmitthenner (1796⫺1850) und Karl Ferdinand Becker (1775⫺1849) fortgesetzt. Dieser grammatikographische Diskurs, der vor allem im Bereich der Schulgrammatik höchst wirkungsvoll ist, nimmt wichtige Elemente der neuen Paradigmen in die eigene Argumentation auf, ohne mit der spätaufklärerischen Tradition zu brechen. Vor allem die Adaptation des Organismuskonzepts führt schließlich zur Ablehnung des konventionellarbiträren Charakters der Zeichen (vgl. exemplarisch Herling 1832, 1 oder Schmitthenner 1828, XII f). Gleichwohl wird der bilaterale Aufbau des Zeichens beibehalten als Struktur von Laut und Bedeutung, Form und Inhalt, Grammatik und Logik. 2.1.2. Historisch-vergleichende Grammatik Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist die Geltungszeit dieses Paradigmas abgelaufen. Dies verkündet (und bewirkt zugleich) im Gestus eines wissenschaftspolitischen Manifestes jenes berühmte Vorwort zur Deutschen Grammatik (1819) von Jacob Grimm (1785⫺ 1863), in dem allein die diachrone Sprachforschung als legitim wissenschaftlich ausgezeichnet wird und die aufklärerische Tradition eine Art Exkommunikation aus der Wissenschaftsgemeinde erfährt. Natürlich ist es nicht geschickte Politik allein, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts die hegemoniale Dominanz der diachronischen Grammatik ermöglicht: hinzu kommen (a) neue Konzepte und Methoden, die auf die Zeitgenossen faszinierend wirken (obwohl sie durchaus tradiertes Wissen integrieren), (b) größere ideologische Anschließbarkeit im Zeitalter der bürgerlichen Nationalbewegung, (c) eine umfassende Historisierung des gesamten Denkens (vgl. Schnädelbach 1983, 49⫺86) und vor allem (d) die Dynamik der disziplinären Institutionalisierung und Professionalisierung der Linguistik; gerade letztere rechtfertigt es noch am ehesten, von einer neuen Qualität der ‚Wissenschaftlichkeit‘ zu sprechen (vgl. Müller 1974, Stichweh 1984, Bahner und Neumann 1985, 151 ff sowie Fohrmann und Voßkamp 1987).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Dabei ist zu beachten, daß die ex post so einheitlich erscheinende Bewegung durchaus Divergenzen und Spannungen aufweist. Gerade im Bezug auf die Sprach- und Zeichenkonzepte wird etwa zu unterscheiden sein zwischen der Grammatik Grimmscher Prägung und der vergleichenden Indogermanistik in der Nachfolge Franz Bopps (1791⫺ 1867). Die Zeichenhaftigkeit der Sprache und das bilaterale Modell gehen insgesamt in eher implizites Wissen über und werden nicht mehr eigens thematisiert, so daß Problemfokus und Argumentationsebene sich verschieben (vgl. Neumann 1984). Die tonangebende Episteme der Zeit, das Organismuskonzept, bildet nun auch in der Grammatik den forschungsleitenden Orientierungsrahmen (vgl. Foucault 1966 und Schmidt 1986; siehe auch Art. 77 § 3.). Das Konzept, zunächst entwickelt in der Naturphilosophie bei Herder (1772), Kant und der Frühromantik, bezieht seine Attraktivität für die damaligen Intellektuellen aus mehreren Eigenschaften: es erlaubt den Anschluß an die aufstrebenden Naturwissenschaften, es ist hinreichend flexibel für die Integration heterogener Ansätze, und es ermöglicht eine beruhigende Verbindung von Wissen und Sinn, Empirie und gelösten Grundsatzproblemen (vgl. Wyss 1979, 120). Die konkreten Formulierungen sind unterschiedlich, gemeinsam ist ihnen jedoch die Ablehnung des arbiträrkonventionellen Zeichenmodells. Den Schritt von der schillernden und fruchtbaren Metapher zum biologisch-mechanisch zugespitzten Terminus vollzieht vor allem die historisch-vergleichende Indogermanistik. Im Anschluß an Forderungen von Friedrich Schlegel (1772⫺1829; vgl. Schlegel 1808) zeigen vor allem die Werke Franz Bopps die Leistungsfähigkeit eines genealogisch angelegten Strukturvergleichs von Sprachen auf. Dieser strukturelle Ansatz und die neue Zugänglichkeit des Sanskrit sind es, die der historisch-vergleichenden Sprachforschung eine paradigmenkonstitutive Dynamik verleihen (wobei auch hier oft verdeckte Kontinuitäten bestehen). Bopp hatte zunächst die kulturellen und philosophischen Implikationen der Sprache noch betont und ganz im Sinne der rationalistischen Tradition bei seinen Verbanalysen Ausdrucks- und Inhaltsseite der Zeichen untersucht (Bopp 1816, 36 ff). Später jedoch ⫺ hier wird das Fundament für ein Paradigma gelegt, das den linguistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts beherrscht ⫺ erfährt der Organismusbegriff
79. Zeichenkonzeptionen in der Grammatik
eine radikale Reifizierung und Naturalisierung. Sprache zeigt sich nun abgekoppelt von menschlichem Willen und Kultur als Naturphänomen, das stetigem Verfall ausgeliefert ist, in seiner Entwicklung allerdings beschreibbare Regelhaftigkeiten aufweist (vgl. Bopp 1836). Die Konsequenz liegt in einer naturwissenschaftlichen Orientierung und in einer Reduktion, die zwar Bilateralität der Zeichen konzediert, allein die Ausdrucksseite jedoch als legitimes Objekt wissenschaftlicher Beobachtung ansieht und pragmatische Gesichtspunkte völlig ausblendet. Als „klassische“ Gründerfigur der Linguistik kann spätestens seit Wilhelm Scherers (1841⫺1886) mitunter fast hagiographischen Texten Jacob Grimm gelten (vgl. Scherer 1865, Wyss 1979, 1⫺22). Grimm hat in den diversen Bänden und Ausgaben seiner Deutschen Grammatik ⫺ die eigentlich eine diachrone Grammatik der germanischen Sprachen darstellt ⫺ die historische Sprachforschung vor allem auf dem Gebiet des Lautwandels und der Morphologie vorangebracht. Die häufigen semantischen oder kulturell-sachbezogenen Ausführungen zeigen jedoch an, daß Grimm ungeachtet späterer selektiver Rezeptionen einen differenzierteren Sprach- und Zeichenbegriff aufweist als das historisch-vergleichende Paradigma der Indogermanistik. Auch Grimm greift die Organismus-Episteme auf, stark geraten alle Vorstellungen von Sprache als einem konventionellen System in die Kritik; aber Grimm ist als Protagonist des deutschen Historismus hauptsächlich interessiert an Sprache als Ausdruck von „Volksgeist“ und Kultur, d. h. an der sprachlichen Inhaltsseite. Sprache ist hier ein Kulturphänomen, vergleichbar den Erscheinungen von Mythos, Recht und Sitte. Die Grimmsche Semiotik, nirgends im Zusammenhang expliziert, umfaßt mehrere Aspekte: zum einen findet sich das zweiseitige Zeichenmodell als Einheit von „form und begriff“ oder „sinn und gestalt“ an vielen Orten der konkreten Beschreibung wieder. Die Betonung liegt auf der diachronen Entwicklung dieser Formationen, wobei Ausdrucks- und Inhaltsseite eine je eigene Dynamik zugestanden wird. Zum anderen aber macht sich die kulturelle Dimension dahingehend geltend, daß Grimm durch die Zeichen Wissen über Kultur zu rekonstruieren versucht und dabei teilweise einen Sprachrealismus entwickelt, der Wörter und Sachen in eine wesenhafte Beziehung bringt (vgl. Grimm 1831, 311⫺ 562).
1589 2.1.3. Der allgemein-typologische Ansatz Noch ein dritter Strang wird jedoch in dieser bewegten Umbruchphase der Linguistik angelegt: die allgemeine Sprachwissenschaft, die über den synchronischen Strukturvergleich von Sprachen versucht, Typologien aufzustellen und schließlich Rückschlüsse auf kulturelle Charakteristika der jeweiligen Sprachgemeinschaften zu ziehen. Als wichtigster Vertreter dieses Strangs ist zunächst Wilhelm von Humboldt anzusehen, wobei betont werden sollte, daß er seine allgemeinen Thesen zur Sprache aus konkreter Grammatikographie entwickelt (vgl. Buchholz 1986, 149). Gerade dieses induktive Prinzip führt nicht zuletzt dazu, daß die individuellen Eigenheiten einer jeden Sprache in diesem Ansatz herausgestellt werden. Ebenso zentral wie heftig diskutiert ist dabei die These, daß jeder Sprachstruktur spezifische „Weltansichten“ und kulturelle Implikationen entsprechen (zur Tradition der Weltansicht-These vgl. Hassler 1984; siehe auch Art. 65 § 6.). Die Abgrenzungsbewegung gegenüber traditionell rationalistischen Zeichenbegriffen rechtfertigt es, bezüglich der Sprache von einer Humboldtschen „Anti-Semiotik“ auszugehen (vgl. Trabant 1986, 86). Auch hier freilich findet sich die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität: zunächst wird das bilaterale Modell von Ausdruck und Inhalt, Lauten und Vorstellungen fortgeführt. Dabei handelt es sich nicht um eine willkürliche Verknüpfung, deren Elemente schon vorsprachlich gegeben wären. Erst die für jedes sprachliche Zeichen charakteristische Synthese von Ausdruck und Inhalt schafft jene Einheiten, mit denen der Mensch die Realität begrifflich gliedert (vgl. Humboldt 1836, 433 f). Die konkrete Stellung des Wortes im Sprachorganismus und im Verwendungskontext ist für seine semiotische Funktion entscheidend. Dem mechanisch-exakten Zuordnungsmodus des konventionalen Zeichenkonzeptes setzt Humboldt die Möglichkeit von Mehrdeutigkeiten und Unschärfen, Ikonizität und sekundärer Motivierung entgegen (vgl. Trabant 1986, 71 ff). Humboldt und seine Nachfolger legen im Unterschied zum historisch-vergleichenden Paradigma sehr viel Wert auf die systematische Untersuchung der sprachlichen Inhaltsseite. Zentral ist dabei der Begriff der Inneren Form, der weniger etwas Gegebenes meint als vielmehr eine Art generatives Prinzip, nach dem jede Sprache auf charakteristische Weise über Grammatik und Lexik eine Strukturierung der Realität leistet. Dies
1590 entspricht dem energetischen Prinzip, demzufolge Sprache kein fertiges Werk oder System, sondern primär eine ständige „Sprecherzeugung“, eine permanente „Arbeit des Geistes“ vermittels sprechender und kulturell eingebundener Individuen ist (Humboldt 1836, 419). 2.2. Dominante Paradigmen im 19. Jahrhundert Kann in den Etymologischen Forschungen (1833⫺36) von August Friedrich Pott (1802⫺1887) noch der Versuch zu einer Art Synthese der in § 2.1. vorgestellten Konzeptionen gesehen werden, so entfalten die neuen Paradigmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre ganze Dynamik und kristallisieren sich als kontrahente Denktraditionen aus. Bedenkt man die herausragende Stellung des Hegelschen Denkens im philosophischen Diskurs der 30er und 40er Jahre, so kann es nicht verwundern, daß gerade diese Philosophie (über die Rezeption vor allem bei Schleicher, Heyse und Steinthal) als eine Art Katalysator den Prozeß beschleunigt. Grob gesehen konstituieren sich so zwei mehr oder weniger geschlossene Diskursgemeinschaften: Auf der einen Seite die positivistische, am Methodenideal der Naturwissenschaften orientierte und diachron-vergleichend angelegte Grammatik, deren Aufmerksamkeit hauptsächlich der Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen zugewendet ist; diese Sicht erreicht zeitweise eine hegemoniale Stellung im linguistischen Diskurs. Auf der anderen Seite eine allgemeine Grammatik, die auf der Basis psychologischer Theorien den Zusammenhang Sprache⫺Denken thematisiert und entsprechend den Schwerpunkt eher auf die Inhaltsseite legt. 2.2.1. Diachrone Beschreibung und naturwissenschaftliches Methodenideal August Schleicher (1821⫺1868) unternimmt den Versuch, mithilfe der Hegelschen Entwicklungslogik ordnende Strukturen in den diachronen Sprachprozeß einzuziehen (vgl. Art. 77 § 3.). Er unterscheidet eine vorgeschichtliche und eine geschichtliche Zeit, wobei Sprachen nur in der vorgeschichtlichen Sphäre sich entwickeln und mit der Herrschaft des Geistes in der Geschichte stetigem Verfall unterliegen (1876, 12 f). Diese schon bei Grimm vorhandene Vorstellung einer phylogenetischen Gegenläufigkeit von Geistes- und Sprachentwicklung ermöglicht die
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Sicht von Sprache als natürlichem Organismus. Aber erst mit der biologistischen Umdeutung der Entwicklung im Rahmen der Darwinschen Evolutionstheorie setzt sich diese Tendenz durch (vgl. Schleicher 1863). Schleicher konzeptualisiert in der Verbindung von genealogischer und typologischer Argumentation das Verhältnis der Sprachen zueinander als Stammbaum (wobei er durchaus sprachgeographische Variablen berücksichtigt und somit weder zu Johannes Schmidts (1843⫺1902) sogenannter „Wellentheorie“ (vgl. Schmidt 1872) noch zu späteren sprachgeographischen Ansätzen ein Widerspruch besteht (vgl. auch Art. 67 § 2.3.)). Zieht man schließlich sogar Parallelen zum Überlebenskampf konkurrierender Gattungen und Arten in der Biologie, dann ist der Schritt zur Linguistik als Naturwissenschaft nur die logische Konsequenz (vgl. Abb. 79.1). Strenge Beobachtung und die Suche nach Gesetzen der Entwicklung kennzeichnen die jetzt dominante Position. Interessant ist dabei, daß zur typologischen Interpretation des Naturorganismus Sprache jedoch durchaus wieder auf ein bilaterales Konzept rekurriert wird, ergänzt freilich um die Dimension der „Beziehung“: sprachliche Laute dienen dazu, Bedeutungen (Begriffe und Vorstellungen) sowie deren Beziehungen untereinander auszudrücken (Schleicher 1850, 6 ff). Diesen Beziehungen als Inhaltsebene entspricht auf der Ausdrucksseite je nach Sprachtyp Agglutination oder Flexion, während sie in isolierenden Sprachen keinen lautlichen Ausdruck finden. Wichtig für die folgende Entwicklung ist jedoch, daß als Konsequenz einer naturwissenschaftlichen Methodik, die nur „genaue beobachtung des objektes“ und „schlüße, welche auf die beobachtung gebaut sind“ (Schleicher 1876, 1) zuläßt, die Inhaltsseite des Zeichens zunehmend auf die grammatische Komponente reduziert und schließlich die Lautentwicklung allein in den Mittelpunkt der Forschung gestellt wird. Genau in dieser Dimension der Beschreibung von Lautentwicklungen bewegt sich auch ein zweiter Denkzusammenhang. Die mit den Namen Rudolf von Raumer (1815⫺ 1876), Wilhelm Scherer (1841⫺1886) und Eduard Sievers (1850⫺1932) verbundenen sprachgeschichtlichen bzw. lautphysiologischen Arbeiten tragen neben Schleichers Werk maßgeblich bei zur Transformation des Boppschen Grundrisses in jenes ausgefeilte Paradigma, das unter dem Etikett „Junggrammatiker“ den linguistischen Diskurs
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Abb. 79.1: Schematische Darstellung der Verwandtschaftsverhältnisse von Sprachen, die sich auf eine gemeinsame Ursprache zurückführen lassen. In Schleichers Buch Die Deutsche Sprache (1860: 28) heißt es dazu: „Die Linien aa, bb, cc u. s. f. sollen die Zeitabschnitte darstellen, in welchen die Sprachtheilungen Statt fanden, von denen wir hier annehmen, daß sie auch in den schon getrennten Theilen einer Sprachsippe stets zugleich vor sich giengen. Was unterhalb aa liegt, ist die Periode der Ursprache; diese Ursprache veränderte sich allmählich in den verschiedenen Theilen ihres Gebietes so, daß zur Zeit aa vier verschiedene Sprachkörper aus ihr erwachsen sind; der Zeitraum zwischen aa und bb ist also der der Grundsprachen der vier Familien dieses Sprachstammes (dieß allmähliche Entstehen konnten wir nicht füglich bildlich anschaulich machen), von denen eine jede im Zeitabschnitte bb abermals einer solchen Viertheilung unterliegt, wodurch also nunmehr Enkelsprachen der Grundsprache entstehen, während die vorige Spaltung die Tochtersprachen der Grundsprache zur Folge hatte. Der Zeitraum von bb zu cc ist also der der noch nicht weiter gespaltenen Sprachen jeder der vier Sprachfamilien. Der abermalige Spaltungsproceß aller dieser Enkelsprachen bei cc bringt die Mannigfaltigkeiten von Sprachen oder Mundarten hervor, welche in die Gegenwart xx herein ragen.“
im letzten Drittel des Jahrhunderts dominiert (vgl. Art. 77 § 4.). So erweist sich dann schließlich das Denken der junggrammatischen Kerngruppe als eine positivistische, an der Spezifikation einzelner Fakten interessierte Variante des erkenntnistheoretischen Nominalismus, die Naturalisierungen der sprachlichen Zeichen ebenso vermeidet wie eine Spekulation über sprachliche „Urformen“. Hermann Osthoff (1847⫺1909) und Karl Brugmann (1849⫺ 1919) etwa binden in ihrem berühmten Vorwort zu den Morphologischen Untersuchungen die Sprachzeichen wieder an den individuellen menschlichen Sprecher zurück (Osthoff und Brugmann 1878, III). Die Linguistik erscheint nicht mehr als Naturwissenschaft, sondern als eine ⫺ freilich an naturwissenschaftlicher Methodologie geschulte ⫺ Geschichtswissenschaft (vgl. Paul 1909, 1 f). Im Mittelpunkt der junggrammatischen Semiotik steht jener Begriff, der insgesamt zum Hauptstreitpunkt in der Diskussion um das Paradigma avanciert: der Begriff des Lautgesetzes (vgl. Einleitung und Dokumenta-
tion in Wilbur 1977). Die These von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze unterstellt eine völlig regelhafte Entwicklung des sprachlichen Zeichensystems. So wie die Rede vom Organismus nun vor allem den systemischen Charakter von Sprache herausstellt, so modelliert der Gesetzesbegriff in nominalistischer Konsequenz hier nicht mehr eine reifizierte Eigenschaft der Sprache als eines Naturkörpers, sondern er steht als methodologische Warnung vor einem allzu schnellen Rückgriff auf psychische Restfaktoren bei der linguistischen Erklärung (vgl. Leskien 1876, XXVIII, wo sich wohl erstmals die rigorose Gesetzeshypothese findet). Hermann Paul (1846⫺1921), der führende Theoretiker der Gruppe (vgl. Art. 77 § 4.2.), entwickelt ein streng nominalistisch-individualistisches Fundament der Sprachforschung, das alle überindividuellen Realitäten verneint und dadurch ⫺ bei mancher Gemeinsamkeit ⫺ zum „völkerpsychologischen“ Ansatz bei Steinthal und Wundt in strengem konzeptionellen Gegensatz steht. Auch Paul greift für seinen Sprachbegriff auf
1592 ein bilaterales Zeichenmodell zurück: Laute dienen als das spezifisch sprachliche Mittel zum Ausdruck von Vorstellungen, wobei Sprache und Denken eng gekoppelt sind. Auch wenn methodisch sauber nur die Ausdrucksseite beschrieben werden kann, so wird doch die Relevanz einer genauen Analyse auch der Inhaltsstruktur anerkannt. Pauls Annäherung an ein konventionalistisches Zeichenmodell (Paul 1909, 174 ff) verweist auf andere Ansätze, die ⫺ ebenfalls in der Nähe des junggrammatischen Paradigmas ⫺ auch den willkürlichen Charakter der Zeichen stärker betonen und schließlich sogar die Anfänge einer systematischen Beschreibung von Entwicklungsgesetzen der sprachlichen Inhaltsseite formulieren (z. B. Whitney 1876, Bre´al 1897). Die schon bei Schleicher angelegte pragmatisch-kulturelle Dimensionierung der Sprachzeichen führt Paul unter dem Stichwort „Sprachspaltung“ weiter. Eine konsequente und mit dem Begriff der Lautgesetze zunehmend schwieriger zu vereinbarende disziplinäre Ausweitung erfahren diese Ansätze dann in der Sprachgeographie der Jahrhundertwende, wo gerade die enge Bindung zwischen Sprache und Kultur hervorgehoben wird. 2.2.2. Psychologisch-philosophische Grammatik Den wichtigsten Gegenpol zur dominanten historisch-vergleichenden Sprachforschung bildet jedoch die philosophisch und psychologisch begründete Grammatik, die vor allem auf Humboldts Fundamenten aufbaut. Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797⫺1855) und sein Schüler Heymann Steinthal (1823⫺1899) entwickeln eine allgemeine Sprachwissenschaft, die ⫺ auch hier wirkt Hegel als Katalysator ⫺ das diachronische Moment allenfalls als Komponente einer systematischen Analyse ansetzen. Sprache erscheint hier als Offenbarung des Geistes, als „lautgewordene Vernunft“ (Heyse 1856, 35). Sie ist nicht selbständiger Organismus, sondern ganz im Hegelschen Sinne das Organ des Geistes. Heyse wie Steinthal entgehen jener Aporie, in die Humboldt zwischen Transzendentalphilosophie einerseits und sprachlicher Relativität andererseits hineingeraten war, indem sie die Hegelschen drei Stufen des Geistes auf die Sprache beziehen: so bleibt Sprache als „Organ des Menschengeistes überhaupt“ getrennt von der Sphäre der Besonderheit (Einzelsprache) und der des Individuellen (vgl.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
die Gliederung des ersten Teils von Heyse 1856). Entwicklungslogisch und systematisch aufgefächert ist auch das zweiseitige Zeichenkonzept: die semiotischen Ausdrucksphänomene Laut, Wort und Satz entsprechen den Inhaltselementen Empfindung, Vorstellung und Begriff/Urteil. Steinthal entwickelt dieses System weiter, indem er die Hegelsche Philosophie nicht mehr unhinterfragt als Gesamtrahmen übernimmt, sondern sie von einem teleologischen Entwicklungsbegriff ablöst, mithilfe psychologischer Kategorien konkretisiert und in letzter Konsequenz auf den zentralen Gedanken der Dialektik von Sein und Werden reduziert (vgl. Steinthal 1848 und 1850, 65 ff). Auch Humboldts Begriff der Inneren Form erfährt eine Neuinterpretation vor dem Hintergrund der psychologischen Theorie Johann Friedrich Herbarts (1776⫺ 1841), der Steinthal zentrale Konzepte entlehnt. Alle Erkenntnis- und Sprachprozesse vollziehen sich als Apperzeption, als Aneignung von etwas Neuem vor dem Horizont schon vorhandener Vorstellungen in der Seele. Auf dieser Basis wird das Konzept der Inneren Form entwickelt als relationales Element zur jeweiligen Verknüpfung von Ausdruck und Inhalt, die jede Sprache in einer ihr spezifischen Weise vollzieht (Steinthal 1888, 120). Radikal postuliert Steinthal nicht nur die Bindung des Denkens an diese Sprachprozesse, sondern die Leistung der Sprache, die in einem semiotisch-konstruktiven Akt für die Sprachbenutzer Realität erschafft. Im Unterschied zu und heftiger Auseinandersetzung mit den Junggrammatikern wird dann auch das Überindividuelle, Kulturelle als real angesehen, so daß Sprache neben Mythos, Sitte und Recht als Gegenstand einer eigenen Disziplin Völkerpsychologie erscheint (vgl. dazu Wundt 1900 sowie Knobloch 1986, 128⫺238 und 431 ff; siehe Art. 77 § 2.). In verschiedenen Formen lassen sich zu Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch in anderen Ländern Adaptationen oder zumindest ähnliche Denkweisen zur Humboldt-Tradition finden. Genannt seien hier nur die russischen und polnischen Grammatiktheoretiker Alexander Potebnja (1835⫺1891; vgl. Potebnja 1888) und Jan Baudouin de Courtenay (1845⫺ 1929; vgl. 1895 und 1984) sowie ein heute unter dem Kürzel „Sapir-Whorf-Hypothese“ bekannter amerikanischer Denkzusammenhang, der die Abhängigkeit verschiedener Realitätsbilder von den (grammatischen) Strukturen der Sprache betont (vgl. Sapir 1921 und Whorf 1956; siehe auch Art. 77 § 11.1.).
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2.3. Linguistik im Zeichen des Strukturalismus Lange Zeit wurde der unter dem Namen Ferdinand de Saussures (1857⫺1913) veröffentlichte, von Bally und Sechehaye herausgegebene Cours de linguistique ge´ne´rale (Saussure 1916) als Auslöser einer einschneidenden Wende in der Linguistik angesehen. In den letzten Jahren ist das Bild differenziert worden: zum einen hat man den „authentischen“ Saussure als Vertreter einer hermeneutischphänomenologischen Auffassung rekonstruiert und gegen den Text des Cours abgesetzt (vgl. etwa Jäger 1975). Zum anderen aber ist zunehmend herausgearbeitet worden, daß der Cours jenseits revolutionärer Novität eher eine neue Kompilation und Systematisierung vieler schon bekannter Ideen darstellt, die ⫺ wie Bloomfield in einer Besprechung sagt ⫺ „in der Luft lagen“ (Bloomfield 1923/24, 317; siehe auch Art. 32 § 4.3.). So war auch die zeitgenössische Reaktion keineswegs durch den Schock des Neuen gekennzeichnet (vgl. Scheerer 1980, 30 ff). Zu verweisen ist u. a. auf die Ansätze von Jan Baudouin de Courtenay (s. o.), Georg v. d. Gabelentz (1840⫺1893; vgl. Gabelentz 1891) und Adolf Noreen (1854⫺1925; vgl. Noreen 1923), die viele Parallelen zu den Konzepten des Cours beinhalten. Der Cours sammelt und systematisiert in besonders prägnanter Formulierung gängiges Diskursgut seiner Zeit. Entscheidend bleibt jedoch, daß die zentralen Begriffe dieses Textes in der Folgezeit eine paradigmenkonstituierende Wirkung für die strukturalistische Sprachwissenschaft entfalten (vgl. Art. 77 § 8.). Der Text avanciert zum wissenschaftspolitisch relevanten, legitimatorischen Standardwerk. Im folgenden sollen nur diejenigen Aspekte kurz angesprochen werden, die für die weitere Entwicklung der Grammatiktheorie eine zentrale Rolle spielen (zu Saussure siehe auch Art. 101 sowie Scheerer 1980 und die dort angegebene Literatur). Als äußerst wirkungsmächtig haben sich die grundlegenden Dichotomien des Cours erwiesen (vgl. Saussure 1916, 104⫺139, 170⫺180). So ist die Dimensionierung von Synchronie und Diachronie vielerorts Anlaß, in radikaler Abkehr von der Linguistik des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich die synchrone Analyse zu betreiben, d. h. statt der Genese und Entwicklung von Zeichen wird das systematische Relationsgefüge eines bestimmten Sprachstandes (meist der Gegenwartssprache) in den Mittelpunkt gerückt. Die Betonung der Systemhaf-
1593 tigkeit von Sprache, in der jedes einzelne Element nur als „Wert“ durch seine Relationen zu anderen Elementen definiert ist, kann als Kerntheorem strukturalistischer Grammatikforschung angesehen werden. Auch hier dient wieder eine Dichotomie, die der syntagmatischen und assoziativen (d. h. paradigmatischen) Dimension des sprachlichen Zeichensystems, als ordnende Koordinate der linguistischen Methodologie. Zunächst auf dem Gebiet der Phonologie erprobt, ist dieser Aspekt bald zum konstitutiven Faktor von Analysen aller grammatischen Teilgebiete geworden. Schließlich ermöglicht die ⫺ im Cours keineswegs klar definierte ⫺ Gegenüberstellung von langue und parole (neben der langage als transzendentaler Sprachfähigkeit) eine einseitige Schwerpunktsetzung des klassischen Strukturalismus: Gegenstand der Beschreibung ist das abstrakte System, nicht die konkrete pragmatische Zeichenverwendung mit ihren kontextuellen und situativen Implikationen. „Systemlinguistik“ bildet in der Folgezeit den Kern des strukturalistischen Paradigmas. Was sich schon in der Betonung von Synchronie und Systematizität andeutet, wird durch die (freilich schon bei Whitney zu findende) Rehabilitation des Zeichenbegriffs offensichtlich: das Anknüpfen des Cours an der rationalistischen Tradition. Im bilateralen Zeichenkonzept, das eine Struktur von „concept“ und „image acoustique“ („signifie´“ und „signifiant“) postuliert (vgl. Saussure 1916, 97⫺103, 158⫺162), wird das kontinuierliche implizite Wissen des 19. Jahrhunderts re-expliziert und zugleich modifiziert. Wie schon im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist der arbiträr-konventionelle Charakter der Zeichen herausgestellt. Aber sie sind nun psychische und vor allem soziale Größen, die gemäß der im philosophischen und soziologischen Diskurs entwickelten Episteme der „Struktur“ radikal entsubstantialisiert sind. Das bilaterale Zeichenmodell in seinen systemischen Bezügen wird dann in den verschiedenen strukturalistischen Schulen fruchtbar gemacht und weiterentwickelt (vgl. als Überblick Albrecht 1988 sowie Hymes und Fought 1981). Zunächst ist hier zu denken an den Prager Linguistenkreis, der strukturalistisches Denken vor allem im Bereich der Phonologie umsetzt und dabei verschiedene Anregungen (u. a. das Phonemkonzept Baudouins und Sˇcˇerbas und die Sweetsche Theorie der Distinktivität) zu einem Beschreibungsmodell sprachlicher Lautsysteme integriert. Nikolaj Sergejewitsch Trubetzkoy
1594 (1890⫺1938) und Roman Jakobson (1896⫺ 1982) entwickeln hier, auf der sprachlichen Ausdrucksebene, erstmals ein Modell, um strukturelle Relationen mithilfe von Merkmalsbündeln, binären Oppositionen und entsprechenden abstrakten Einheiten (Phonemen) zu beschreiben (vgl. vor allem Trubetzkoy 1939 und Jakobson 1971). Phonologie als Beschreibung des abstrakten Sprachgebildes wird abgekoppelt von der Phonetik, die sich mit der materialen Seite konkreter Sprechakte beschäftigt. Wichtig ist jedoch, daß die Prager Linguisten das Zeichenmodell im Anschluß an Karl Bühler (1879⫺1982) um eine funktionale Komponente erweitern (siehe Art. 115 und Art. 116). Man fragt nach der Funktion, welche die Zeichen jeweils erfüllen: zunächst immanent, indem etwa die distinktive Funktion von Lauten beschrieben wird; dann aber auch im pragmatischen und kommunikativen Sinne als Funktion der Zeichenverwendung. Jakobson schließlich arbeitet später das funktionale Zeichenmodell aus, indem er die drei Bühlerschen Zeichenfunktionen (Darstellung, Ausdruck, Appell, bei Jakobson leicht modifiziert als referentielle, emotive und konative Funktion) mit der schon durch Jan Mukarˇovsky´ (1891⫺1975) ergänzten ästhetischen Funktion (Jakobson: poetische Funktion) zu einem ganzen Kommunikationsmodell vervollständigt, das zusätzlich vorsieht: die phatische Funktion mit ihrem Bezug auf den sozial-kommunikativen Kontakt und die metasprachliche Funktion als Möglichkeit der reflexiven Thematisierung des Kodes (Jakobson 1960, 353 ff). In diesem Zusammenhang wird auch das Saussuresche Begriffspaar „syntagmatisch“ versus „assoziativ“ aufgegriffen, indem Jakobson morphologisch-syntaktische Äquivalenzklassen definiert und auf zwei „Achsen“ der sprachlichen Formulierung projiziert: die vertikale Achse der Selektion, auf der sich jeweils ein Paradigma merkmalsäquivalenter Sprachelemente formiert, und die horizontale Achse der Kombination, wo sich im Textverlauf Syntagmen bilden (Jakobson 1960, 357 f; vgl. die Fortsetzung dieses Gedankengangs in Posner 1984, 198⫺204). Anders als im Cours wird die rigorose Trennung zwischen synchronischer und diachronischer Linguistik nie akzeptiert. Stattdessen versucht man gerade, die strukturellen Merkmale und Gründe sprachlicher Entwicklungsprozesse ausfindig zu machen (vgl. dazu Art. 17). Kommen in der Prager Grammatiktheorie vielfältige Traditionen zur Geltung, so ist die
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Kopenhagener Glossematik in der Formulierung Louis Hjelmslevs (1899⫺1965) geradezu als radikale Weiterentwicklung einiger Grundannahmen des Cours zu verstehen (siehe auch Art. 117). Hjelmslev zieht die Konsequenzen aus der entsubstantialisierten Sicht der Sprache, indem er die Grammatiktheorie auf ein formalisiertes und algebraisiertes Fundament stellt (vgl. Hjelmslev 1969). Das bilaterale Zeichenmodell wird aufgegriffen durch die Struktur des Ausdrucks- und Inhaltsplans der Sprache. Beide sind wiederum jeweils in eine formale und substantielle Dimension ausdifferenziert. So entstehen vier „Strata“: Ausdruckssubstanz und Ausdrucksform, Inhaltssubstanz und Inhaltsform, wobei jedoch nur die formale Ebene Gegenstand linguistischer Beschreibung ist (Hjelmslev 1969, 47 ff). Fragen nach lautlicher oder real-weltlicher Substanz werden ausgeblendet. Der Weg der Prager Phonologie, Systemrelationen durch Merkmalsbündel zu beschreiben, wird durch das Konzept der „Figuren“ auch auf die Inhaltsseite der Sprache ausgeweitet. Den „Kenemen“, Figuren der Ausdrucksseite, stehen „Plereme“ als inhaltliche Komponenten gegenüber. Beide werden dann jeweils zu „Glossemen“ als sprachlichen Zeichen kombiniert. Hjelmslevs Idee, den Zeichen eine aus vorsprachlichen Komponenten zusammengesetzte Bedeutung zuzuschreiben, verweist wieder auf die universalistische Tradition in der Grammatiktheorie. Unabhängig von solchen problematischen Implikationen ist sein Zeichenbegriff jedoch in einer Reihe von Arbeiten empirisch fruchtbar gemacht worden (vgl. Spang-Hanssen 1961). Eine Differenzierung und Modifikation der Prager bzw. Kopenhagener Ansätze findet sich auch bei verschiedenen französischen Autoren (z. B. Martinet 1960 und Greimas 1966; vgl. Art. 119), die das zweiseitige Zeichenkonzept vor allem in Phonologie, Morphologie und Semantik verwenden. Die spezifisch amerikanische Variante des Strukturalismus, die als „Deskriptivismus“ oder „Bloomfield-Paradigma“ bezeichnet wird, entwickelt sich gegenüber den europäischen Tendenzen eher eigenständig, wobei Bloomfield wahrscheinlich in seiner Studienzeit in Deutschland einige Anregungen durch die Junggrammatiker erhalten hat. Dies zeigt sich gerade auch im Zeichenbegriff. So knüpft Leonard Bloomfield (1887⫺ 1949) (1933, 27) zwar an der Tradition an, wenn er lapidar feststellt: „to put it briefly, in
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human speech, different sounds have different meanings“. Mehr als diese differentielle Sicht gesteht Bloomfield der sprachlichen Inhaltsseite im Kontext linguistischer Deskription jedoch nicht zu. Gemäß dem Ausgangspunkt eines strengen psychologischen Behaviorismus wird eine genaue Analyse von Bedeutungsphänomenen im Rahmen der Linguistik abgelehnt. Wichtig ist lediglich die bedeutungsunterscheidende Funktion, während Kern und Basis aller Beschreibung die Ausdrucksseite bleibt. Diese „Einseitigkeit“, die später auch bei den methodischen Prinzipien der Segmentierung und Klassifizierung (Harris 1951) sowie der Analyse unmittelbarer Satzkonstituenten (IC-Analyse; Hockett 1958, Fries 1940; vgl. auch Wells 1947) gewahrt wird, hindert Bloomfield und seine Nachfolger jedoch nicht daran, das Zeichenkonzept in besonderer Weise zu differenzieren. Man greift ⫺ wie schon die anderen strukturalistischen Schulen ⫺ das Modell der Merkmalsbündel auf, differenziert jedoch die Zuordnungen von Inhalts- und Ausdrucksseite entsprechend den verschiedenen Ebenen linguistischer Analyse. So konstituieren sich z. B. die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten als Glosseme, deren Inhalt aus Noemen besteht; diese Ausdruck-Inhalt-Struktur erscheint dann auf lexikalischer Ebene als Kombination Morphem-Semem, auf der grammatischen als Tagmem-Episemem (vgl. Bloomfield 1933, 264). Strukturell und genetisch lassen sich einige Ähnlichkeiten zwischen dem amerikanischen Strukturalismus und der britischen kontextorientierten Grammatiktheorie aufzeigen (vgl. als Überblick Steiner 1983). Auch die sogenannte „London School“ gelangt zu ihren zentralen Problemstellungen durch die (anthropologische) Aufgabe der Beschreibung exotischer Sprachen, und sie tut dies ebenfalls von einem dezidiert antimentalistischen Standpunkt aus. Und schließlich wird dem Kontext sprachlicher Einheiten eine besondere Relevanz zugesprochen, wenngleich zu betonen ist, daß der Kontext hier auch im außersprachlichen, d. h. im situativen und kulturellen Sinne verstanden wird. Bronislaw Malinowski (1884⫺1942) und John Rupert Firth (1890⫺1960), die Protagonisten dieses Ansatzes, grenzen die Inhaltsseite der Sprachzeichen keinesweges aus, sondern stellen sie gerade in den Mittelpunkt der Analyse. Bedeutung ist hier gleichgesetzt mit der Funktion des Zeichens im Kontext (vgl. Firth 1957, 19). Diese pragmatische Dimensionie-
1595 rung der Zeichen in ihrem Verwendungskontext verweist auf Malinowkis anthropologische Überzeugung, Sprechen sei nichts anderes als Handeln. Später hat Firth dann u. a. im Anschluß an die Wittgensteinsche Gebrauchstheorie der Bedeutung vor allem den innersprachlichen Kontext thematisiert. Das Kerntheorem lautet hier „meaning by collocation“ (Firth 1957, 195), und dieser Zugriff auf sprachliche Bedeutungen spielt auch in der aktuellen Semantiktheorie noch eine prominente Rolle (zum phänomenologischen Strukturalismus vgl. Art. 74 § 18. und Art. 77 § 13.). 2.4. Formalisierung und Integration der Pragmatik In den 50er Jahren erleben die strukturalistischen Diskursgemeinschaften in der Grammatiktheorie sowohl ihren Höhepunkt als auch jene charakteristische Stagnation in der Problemlösung, welche die Entwicklung neuer Modelle und Methoden verstärkt herausfordert. Entscheidende Anstöße zu diesem Aufbruch liefern Logik und Sprachphilosophie, vor allem aber das junge Feld der maschinellen Sprachverarbeitung mit den theoretischen Implikationen von Informatik und Automatentheorie. Gerade diese Entwicklung ermöglicht es, ungeachtet einer Vielzahl sehr verschiedener Ansätze von einer Grobtendenz zur Formalisierung und algebraischlogischen Modellierung in der Grammatiktheorie zu sprechen. Grammatische Analyse und Synthese erfolgen über formale Algorithmen. Syntax und Semantik sind die neuen Grundpfeiler der Grammatiktheorie. Daneben sollte jedoch nicht vergessen werden, daß auch der pragmatische Aspekt der Zeichenverwendung wieder beachtet wird (zu dessen Vorgeschichte vgl. Cloeren 1988 und Nerlich 1996). Ausgehend von Überlegungen der „Ordinary Language Philosophy“ in England entwickeln Austin (1955 ⫽ 1971) und Searle (1969) Theorien menschlicher Sprechakte; genauere Analysen von Texten und Gesprächen rücken auch komplexere sprachliche Einheiten in den wissenschaftlichen Fokus (vgl. Art. 74 § 15.); und es differenzieren sich im Anschluß daran in den 60er und 70er Jahren sogenannte „BindestrichLinguistiken“ wie Psycho- und Sozio-Linguistik aus. Eine Integration derartiger Erkenntnisse im Rahmen von Grammatikmodellen erfolgt allerdings erst relativ spät (vgl. etwa Dik 1978) ⫺ nicht zuletzt deshalb, weil eine
1596 Formalisierung hier schwieriger erscheint als in der Syntax. Für die Zeichenkonzepte bringen diese Trends neben der gerade erwähnten pragmatischen Redimensionierung eine mehrfache Aufspaltung der bilateralen Struktur von Ausdruck und Inhalt mit sich. Da ist zunächst die schon im amerikanischen Strukturalismus beobachtbare Differenzierung der Zeichen gemäß den diversen Analyseebenen von der Phonologie bis zur Semantik. Daneben aber wirkt sich die in verschiedener Form bei fast allen Grammatikmodellen anzutreffende Unterscheidung zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur dahingehend aus, daß die sprachliche Inhaltsseite einerseits kategoriell-syntaktische „grammatische“ Bedeutungen auf der Ebene der Tiefenstruktur und eher isolierte, lexikalische Bedeutungen auf der Oberflächenstruktur aufweist. 2.4.1. Generative Transformationsgrammatik Die prominenteste Variante der neueren Grammatiktheorien stellt ohne Zweifel die Generative Transformationsgrammatik (GT) dar. Popularisiert und institutionell etabliert nicht zuletzt durch massive wissenschaftspolitische Aktivitäten, die auch auf den Begriff eines „revolutionären neuen Paradigmas“ in polemischer Selbstbeschreibung rekurrieren, hat dieses mit dem Namen Noam Chomskys (*1928) verbundene Modell in den 60er und 70er Jahren den grammatiktheoretischen Diskurs beherrscht. Als besonders einflußreiche Version sollen im folgenden Chomskys Aspects of a Theory of Syntax (1965) skizziert werden. Im Zentrum steht hier die sprachliche Einheit Satz, deren Erzeugung und Analyse mithilfe von algorithmisch angeordneten Regeln geleistet werden soll. Die Einheiten des Satzes werden auf zwei Ebenen angesiedelt: der abstrakten Tiefenstruktur und der konkreten Oberflächenstruktur. Beide sind über eine Menge von Transformationsregeln so verbunden, daß die eine Struktur in die andere überführt werden kann. Als Basis des gesamten Regelapparates gilt dabei die syntaktische Komponente mit Ersetzungsregeln für die Konstituenten und semantisch-syntaktischen Merkmalen als Verbindungsbeschränkungen (Subkategorisierungsregeln). Die Ersetzungsregeln werden ergänzt durch ein Lexikon, in dem geordnete Bündel von syntaktischen, semantischen und phonologischen Merkmalen als einzusetzende Einheiten verzeichnet sind
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
(vgl. Chomsky 1965, 84 ff). Diese Basis wird dann durch eine semantische Komponente interpretiert, so daß Satzbedeutungen entstehen. Parallel erfolgt durch Transformationsregeln und eine Phonologische Komponente schließlich die Überführung in konkrete Ausdrucksketten. Semiotisch erscheint die Architektur so, daß ein tiefenstrukturelles Relationsgebilde aus abstrakten Variablen durch Lexikonregeln, Transformationen und die Interpretation in den verschiedenen Grammatikkomponenten sukzessive zu einer manifesten Satzstruktur entwickelt wird. Für die Gestaltung der Komponenten sind insbesondere im semantischen Bereich schon sehr unterschiedliche Vorschläge gemacht worden: so etwa die hauptsächlich zur Disambiguierung von Satzbedeutungen konzipierte Merkmalssemantik von Katz und Fodor oder Fillmores Kasusgrammatik, die über das Chomskysche Modell hinausgehend semantische Tiefenstrukturen als Basis der GT implementiert (vgl. Katz und Fodor 1963 und Fillmore 1987). Die Architektur der GT hat sich bis zu den neueren Entwürfen ständig verändert. Bemerkenswert erscheint dabei der in Chomsky (1981) beobachtbare verstärkte Rückgriff auf die formale Logik: so wird die sprachliche Inhaltsseite nicht mehr mithilfe essentieller Merkmale, sondern ⫺ ganz ähnlich kategorialgrammatischen Ansätzen ⫺ als FunktorArgument-Struktur aufgefaßt (vgl. dazu Horrocks 1987; siehe auch Art. 2 § 4.10.). 2.4.2. Alternative Modelle und gegenwärtige Tendenzen Kategorialgrammatische Überlegungen sind zuerst im Rahmen der philosophischen Logik (Husserl 1913, Les´niewski 1929, Ajdukiewicz 1935) angestellt worden, um die Unmöglichkeit bestimmter Aussagestrukturen durch die Unverträglichkeit von „Bedeutungskategorien“ zu begründen. Bar-Hillel (1964) und Lambek (1958) haben daraus in den 50er Jahren eine an den Bedürfnissen maschineller Sprachverarbeitung orientierte formale Grammatik natürlicher Sprachen entwickelt (als Orientierung vgl. Lehrberger 1974). Das Modell der Kategorialgrammatik setzt sich primär aus den Grundkategorien Satz (S) und Name (N) sowie aus Funktoren (z. B. S/N, S/NN, S/SS usw.) zusammen, die als Operationen auf den Elementen der Grundkategorien erscheinen. Die Grundkategorien sind also „Argumente“ der Funktoren. Die Wohlgeformtheit von Sätzen ist
1597
79. Zeichenkonzeptionen in der Grammatik
dann gegeben, wenn die Kategoriesymbole bei entsprechender Klammerung sich bis auf das Endsymbol S „kürzen“ lassen (z. B. Hans: N, läuft: N/S ⫽ Hans läuft: S). Waren die logischen Ketten zunächst noch isomorph zu den analysierten Sätzen angeordnet, so hat man bald eine kategorial-semantische Tiefenstruktur und Transformationsregeln eingeführt. Die semiotische Analyse ergibt hier, daß den sprachlichen Zeichen eine komplexe Inhaltsseite zugeschrieben wird, die aus der Zugehörigkeit zu Bedeutungskategorien und erst sekundär aus konkreten lexikalischen Bedeutungen besteht. Letztere werden im Modell nicht weiter analysiert. Der Anspruch, hinter den sichtbaren linearen Satzketten zugrunde liegende Strukturen aufzuzeigen, ist auch das Motiv der verschiedenen Formen der Dependenzgrammatik (vgl. grundlegend Tesnie`re 1980). Im Mittelpunkt der Analyse steht das Verb und seine syntaktische Valenz, welche die „Sättigung“ durch „actants“ und „circonstants“ erfordert; dabei ist nicht zu vergessen, daß Dependenzgesichtspunkte spätestens seit dem 18. Jahrhundert immer wieder eine wichtige Rolle in den Grammatiken gespielt haben! Eine stärkere Auffächerung der AusdruckInhalt-Struktur sprachlicher Zeichen bringt dagegen die meist im Schatten des generativen Paradigmas stehende Stratifikationsgrammatik (vgl. Lamb 1966). Es werden hier verschiedene Ebenen („Strata“) der Realisation sprachlicher Zeichen angesetzt, die mithilfe formallogischer Prozeduren ineinander überführt werden können. So schlägt Lamb für das Englische 6 Strata vor, auf denen sich jeweils sprachliche Zeichensegmente konstituieren, um auf dem nächstniedrigeren Stratum konkretisiert zu werden. Der semantische Bereich formt sich über Merkmalsbündel auf der „hypersemologischen“ und „semologischen“ Ebene, wird dann im „lexematischen“ (syntaktischen) und „morphologischen“ Stratum grammatisch geformt, um schließlich auf der „phonologischen“ bzw. „hyperphonologischen“ (das „hyper“ zeigt jeweils außersprachlichen Status an) Ebene lautlichen Ausdruck zu finden (Lamb 1966, 18 f). Auf die vielen Spielarten dieser Grammatikmodelle sowie zahlreiche Konkurrenzunternehmen kann an dieser Stelle nicht mehr eingegangen werden (vgl. als Überblick Hugues 1975; siehe auch Art. 2 § 5.). Wichtig erscheint abschließend noch ein Ansatz, der die grammatischen Diskurse im Computerzeitalter nicht unwesentlich prägt:
die Netzwerkgrammatik. Netzwerkgrammatiken wurden unmittelbar aus Anwendungszusammenhängen der Informatik heraus entwickelt. Das bekannteste Modell ist als „Augmented Transition Network“ (ATN) 1970 von Woods vorgestellt worden (vgl. insgesamt Bates 1980). Das ATN ist konzipiert als Automat, der ein syntaktisch-semantisches „Parsing“ (algorithmische Analyse) natürlichsprachlicher Eingabeketten vornimmt. Die Grundstruktur besteht zunächst aus Knoten, die bestimmte Zustände des Automaten im Analyseprozeß verkörpern, und Kanten, welche die Übergänge zwischen den Knoten herstellen. Diese Kanten bezeichnen die Übergangsbedingungen (Kategorien oder lexikalischen Einheiten). Die Analyse geht dann aus von einem Anfangszustand und testet jeweils, welche der vorhandenen Kanten für die zu analysierende sprachliche Einheit „paßt“, so daß das Parsing zum nächsten Knoten und schließlich zum Endzustand voranschreiten kann. Dieses Grundmodell ist erweitert worden u. a. durch „Aktionen“ auf den Kanten, die beispielsweise den Aufbau von Kasusstrukturen ermöglichen. Über eine „Push“-Option kann darüberhinaus in ein Subnetzwerk übergegangen werden, dessen Teilanalyse anschließend wieder in die Ursprungsebene eingeleitet wird. Zu beachten ist, daß gerade über die Aktionen auch so etwas wie eine tiefenstrukturelle Ebene in das Modell integriert wird. Mit entsprechenden Merkmalsanalysen im Wörterbuch der Grammatik sowie Unternetzen kann schließlich auch die Inhalts- und Verwendungsdimension (z. B. Proposition und Folgerung) der sprachlichen Zeichen genauer analysiert werden. Unter starkem Einfluß der Künstliche-Intelligenz-Forschung sind in letzter Zeit auch semantische Netzwerkmodelle entstanden, die das komplexe Geflecht von Konzepten sowie ganzen (typisierten) Situationsrahmen analysieren können (vgl. Charniak 1983). Paradoxerweise läßt sich so über die Automatentheorie ein Bogen schlagen von Chomskys Austreibung der Semantik aus der Syntaxanalyse zu den ausgefeilten semantischpragmatischen Netzwerkmodellen in den 80er Jahren (vgl. auch Art. 149).
3.
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Andreas Dörner, Essen (Deutschland)
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Zur Geschichte der Rhetorik, Stilistik und Poetik im 19. und 20. Jahrhundert 1.1. Rhetorik 1.2. Stilistik 1.3. Poetik 2. Texte 2.1. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Textdefinition 2.2. Text und Stil 3. Ausgewählte neuere Ansätze der Textsemiotik 3.1. Rhetorik, Stilistik und Poetik als Werkzeuge der Textanalyse 3.2. Rhetorik, Stilistik und Poetik als Werkzeuge der Textproduktion 4. Parametrische Texttypologie 4.1. Der linguistische Ansatz 4.2. Der kultursemiotische Ansatz 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Zur Geschichte der Rhetorik, Stilistik und Poetik im 19. und 20. Jahrhundert
Rhetorik, Stilistik und Poetik sind wissenschaftliche Ansätze, die in den letzten 200 Jahren eine wechselvolle Geschichte durchlaufen haben. Ihre Gegenstände, Methoden, Ergebnisse und Darstellungsformen sind nicht ho-
mogen. Jeder der Ansätze stellt Werkzeuge zur Analyse und Interpretation von Zeichen und Anleitungen zu deren Produktion bereit, die sehr verschiedenartig sind und aus recht unterschiedlichen Perioden der Wissenschaftsgeschichte stammen. In den Disziplinen, in denen sie verwendet werden, also im 19. Jahrhundert vor allem in der Philologie, im 20. Jahrhundert zunehmend in der Literatur- und Sprachwissenschaft, der Kunst- und Musikwissenschaft und den Kommunikationswissenschaften, werden Rhetorik, Stilistik und Poetik als interdisziplinäre Ansätze betrachtet (vgl. Art. 123). Insofern alle drei Ansätze sich mit dem Verhältnis zwischen Zeichen und Zeichenbenutzern befassen, gehören sie innerhalb der Semiotik zur Pragmatik (vgl. Art. 4). Die Vielschichtigkeit dieser pragmatischen Ansätze wird deutlich, wenn man sie in ihrer historischen Entwicklung sieht. 1.1. Rhetorik Die Rhetorik wird traditionell als die Kunst der Rede (lateinisch oratio: die sprachliche Darstellung der Gedanken) definiert. Seit der Antike versteht man unter Rhetorik die Lehre von der Beredsamkeit, welche Bau-
1602 steine (Redefiguren) der guten Rede und Regeln für deren Kombination im mündlichen Vortrag bereitstellt (vgl. Art. 42, 53 und 67). Im weiteren Sinne ist sie die Lehre von den Regeln für die Produktion von Gebrauchsprosa und wird dadurch von der Poetik abgegrenzt, die die dichterische Darstellung der Gedanken behandelt. Die Rhetorik wurde von Aristoteles (384⫺322 v. Chr.) begründet und von Cicero (106⫺43 v. Chr.) und Quintilian (ca. 35⫺100 n. Chr.) weiterentwickelt. Aristoteles unterscheidet drei Grundtypen öffentlicher Rede: die judiziale Rede (Anklage und Verteidigung vor Gericht), die deliberative Rede (parteipolitischer Disput, Zu- oder Abraten eines Politikers oder einer politischen Gruppierung zum Handeln) und die epideiktische Rede (Lob oder Tadel einer Person, Fest- oder Schmährede). Die antiken Rhetoriken geben aufeinanderfolgende Arbeitsschritte vor, nach denen öffentliche Reden zu verfassen sind. Die Reihenfolge der Arbeitsschritte von der Vorarbeit am Stoff bis zum ausgefeilten Vortrag vor dem Publikum wird genau festgelegt (vgl. Lausberg 1960 und 1967). Zunächst wird ein Thema gewählt (inventio), das danach logisch gegliedert (dispositio) und zum Schluß sprachlich ausgeformt (elocutio) wird. Die eigentliche Beredsamkeit besteht im wörtlichen Einprägen des Redetextes (memoria) und im lebendigen Vortrag (actio) mit gepflegter Aussprache (pronuntiatio). Die sprachliche Ausformung der Rede richtet sich nach den Regeln der ars bene dicendi (Lehre von der Wohlredenheit) und ist auf Schmuck und Verfeinerung (ornatus, decorum) bedacht. Die elocutio ist Kernstück der antiken Rhetorik und berührt sich in der Behandlung der Redefiguren mit der Stilistik. Sie umfaßt die Lehre von den Tropen (Redefiguren), ein lehr- und lernbares Regelwerk, das im Laufe der Jahrhunderte verfeinert und ergänzt worden ist. Das Inventar der Redefiguren ist offen und kann ständig erweitert und modifiziert werden; es ist zwar heute nicht mehr in seiner Gesamtheit lebendig, doch ist es immer noch unentbehrliches Instrumentarium auch der Poetik und Stilistik. Eine Übersicht über die gebräuchlichsten Redefiguren ist bis heute wichtiger Bestandteil jeder Einführung in die praktische Stilistik. Im 19. Jahrhundert änderte sich die Auffassung und Bewertung der antiken Rhetorik (vgl. Linn 1963). Zwar erschienen noch eine Reihe von Rhetorikbüchern (z. B. Falkmann, Praktische Rhetorik oder vollständiges Lehr-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
buch der deutschen Redekunst, 1835; Volkmann, Hermagoras oder Elemente der Rhetorik, 1865; Maaß, Grundriß der allgemeinen und besonderen reinen Rhetorik, 1885; Ortloff, Lehrbuch der gerichtlichen Redekunst, 1886), doch bahnte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Abwertung der Rhetorik an (vgl. Gläser 1979: 22, sowie Ueding und Steinbrink 1986: 138). Neben die Rhetorik als antikisierende Redekunst trat die auf Sprachpflege bedachte Stilistik. Becker, der mit seiner Satzgliedlehre die deutsche Schulgrammatik maßgeblich beeinflußte, betrachtete die Rhetorik bereits als bloß noch historisches Phänomen (vgl. Becker 1848). Die Frage, „[…] ob das Gymnasium durch Lehre und Übung eine eigentliche und ausdrückliche Anleitung zu deutscher Beredsamkeit geben soll“ (Raumer 1859: 264), war damals im Lehrkörper der deutschen Gymnasien umstritten. Einig war man sich allerdings darin, daß die Ausbildung von Rednern nicht Aufgabe der Gymnasien sei. Die Ausbildung in der Rhetorik habe sich aufs engste an die antike Lektüre anzuschließen (vgl. Raumer 1859: 261). Dabei hätten sich die Griechischund Lateinlehrer auf den Teil der antiken Rhetorik zu konzentrieren, der die Übungen am Stoff (exercitationes) und das Einprägen des Textes (memoria) betrifft. Die Gymnasiasten sollten etwa zunächst eine Rede von Cicero oder Demosthenes auszugsweise auswendig lernen, dann Teile daraus übersetzen und später den Inhalt der gesamten Rede in einem deutschen Aufsatz behandeln, der ihr in Argumentationsweise und stilistischer Ausformung gleichen sollte. Einer der Verfechter dieser Methode war der Privatlehrer Ruthardt aus Breslau. Seine Schrift Loci memoriales metrici et poetici (1841) für sächsische Gymnasien war zwar umstritten, die „Ruthardtsche Methode“ fand aber in Bayern und Preußen größeren Anklang (Raumer 1859: 108). Ruthardt wollte, daß der lateinische Lehr- und Lernstoff „[…] durch fortgesetztes denkendes Repetieren, Variieren, Wiedervereinigen, Zusammenstellen durch Verwendung bei verwandten Lectionen“ (Raumer 1859: 106) geistiges Eigentum der Lehrer und Schüler wurde. Lesen, Rezitieren und Interpretieren der deutschen Schriftsteller sollte dabei mit dem Studium der klassischen Sprachen koordiniert sein. Nur in dieser Ergänzungsfunktion könne die Beschäftigung mit klassischen Sprachen und Autoren die Bildung des sprachlichen Ausdrucks im Deutschen fördern. Die „theoretische Rhetorik“ aber ge-
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
hörte nach Raumer gar nicht erst in den gymnasialen Deutschunterricht: „Nicht Schriftsteller, sondern Leser soll das Gymnasium bilden“ (Raumer 1859: 262). Die geistliche Beredsamkeit im 19. Jahrhundert wurde in Deutschland vor allem durch Schleiermacher geprägt, der die aufklärerische Gesprächskultur für die Predigt erschloß und für diese weiterentwickelte (vgl. Art. 72 § 2.5.). Die Predigt von der Kanzel wurde als Gespräch zwischen Pfarrer und Gemeinde und somit als dialogisches Kommunikationsverfahren aufgefaßt (vgl. Ueding 1986: 149; siehe auch Art. 72 § 1.2.). Ähnlich wie etwa in den Massenmedien hundert Jahre später wurden zu festgesetzten Zeiten (sonntags), an einem bestimmten Ort (Kirche oder Gemeinderaum) und für eine mehr oder weniger anonyme Rezipientenschaft Texte produziert, die einem strengen Aufbau folgten. Nach Schleiermacher ist Religion nicht anders als rednerisch mitzuteilen, in Verbindung mit allen die Rede unterstützenden Künsten. Zu diesen unterstützenden Mitteln rechnete er etwa Hymnen und Chöre (vgl. Schleiermacher 1835⫺1864, II). Ähnlich wie Schleiermacher versuchten auch die englischen Rhetoriker Campbell, Whately und Blair in ihren rhetorischen Ansätzen, christliche und aufklärerische Zielsetzungen in Einklang miteinander zu bringen. Blairs Lectures on Rhetoric and Belle-Lettres (1783, deutsch 1785) und Ernestis Initia rhetorica (1750) waren in Deutschland lange Zeit hindurch verbreitete rhetorische Unterrichtswerke. In Rußland beeinflußte der rhetorische Ansatz seit dem 18. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Sprachforschung. Das war dem anhaltenden konzeptionellen und terminologischen Einfluß zweier grundlegender Werke der russischen Sprachwissenschaft zu verdanken: dem Rhetoriklehrbuch Kratkoje rukovodstvo k krasnorecˇiju (‘Kurze Einführung in die Redekunst’, 1748) und der Rossijskaja grammatika (‘Russische Grammatik’, 1757, dt. 1764) von Lomonossow. Die gesamte folgende Periode der Ausarbeitung der russischen Syntax bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts wird in der Geschichte der russischen Sprachwissenschaft als Lomonossowsche Periode bezeichnet (Vinogradov 1978: 46). Lomonossow unterteilte die Rhetorik in Poetik und Stilistik; syntaktische Strukturen seien sowohl in der Poetik als auch in der Stilistik zu beschreiben. Aus heutiger Sicht würde man Lomonossows Sprachauffassung als eine pragmatische kennzeichnen, da er versucht, grammatische Regeln als Gebrauchsregeln
1603
für sprachliche Zeichen zu formulieren. In der Rangordnung der Sprachbeschreibung ist die Syntax bei ihm auf unterer Ebene angesiedelt, während die Rhetorik den allgemeinen, alle Bereiche der Sprache umfassenden Platz einnimmt. Die nachfolgenden Generationen russischer Sprachwissenschaftler übernahmen die Lomonossowsche Einteilung der Sprachwissenschaft und seine Terminologie, die bis in die Grammatikschreibung des 20. Jahrhunderts fortwirkte. 1.2. Stilistik Mit dem wachsenden Interesse an allgemeinen und historisch-typologischen Problemen der Sprachwissenschaft (u. a. durch die Forschungsergebnisse von Becker, Grimm, Humboldt; siehe Art. 79) setzte im 19. Jahrhundert eine Abwertung der Rhetorik ein (vgl. Gläser 1979: 22, Ueding 1986: 139, Sowinski 1991: 14). An ihre Stelle trat die Stilistik, die aus der elocutio der antiken Rhetorik den Regelapparat der Redefiguren übernahm. Die Stilistik betrachtete Wackernagel am Ende des 19. Jahrhunderts als geordnete Zusammenstellung der Regeln des sprachlichen Ausdrucks (vgl. Wackernagel 1873). In seinen Vorlesungen, die Wackernagel ab 1836 in Basel hielt und 1873 unter dem Titel „Poetik, Rhetorik, Stilistik“ veröffentlichte, definierte er den Gegenstand der Stilistik als „die Oberfläche der sprachlichen Darstellung […], lediglich die Form, die Wahl der Worte, der Bau der Sätze“ (Wackernagel 1873: 409). Ähnliche Vorstellungen vertrat auch Becker in seiner Arbeit Der deutsche Stil (1848). Er bestimmte den Stil ausgehend vom Organismusbegriff der Sprache als die „vollkommene Darstellung der Gedanken“. Die Stilistik solle beschreiben, bewerten und belehren. Ihr Untersuchungsgegenstand seien literarische Texte, durch deren Anschauung der Stil geschult werden solle. Becker strebte eine systematische stilistische Analyse des einfachen und zusammengesetzten Satzes an. Bei einem solchen Satz unterschied er zwischen Inhalt (Wortschatz und Tropen) und logischer Form (Wortstellung im Satz und binäre Satzgliedstruktur), wobei er unter logischer Form die syntaktische Struktur verstand, die er in seiner logisch angelegten Satzgliedlehre beschrieb. Diesen Ansatz führte er in seiner Stillehre fort. Ein weites Echo fand Beckers Forderung einer Stilschulung durch die Betrachtung „guter Beispiele“. Charakteristisch war, daß Becker auf die aristotelischen Gattungen der Parteirede verzichtete und sich vor allem
1604 auf die sprachliche Form der Gedanken im Text konzentrierte. Rinne, ein Zeitgenosse Beckers, klammerte ebenfalls die Behandlung der Redegattungen aus seiner Stilistik aus, vgl. Die Lehre vom deutschen Stil, philosophisch und sprachlich neu entwickelt, 1. Teil: Theoretische Stillehre (3 Bände, 1837⫺40). In Scherers unvollendeter Poetik (posthum veröffentlicht 1888) wurde vorgeschlagen, Rhetorik und Stilistik in einer neuen Textwissenschaft zu vereinigen, in der sowohl literarische als auch nichtliterarische Texte analysiert werden sollen. Dieser Vorschlag blieb zwar nur Konzeption, war aber trotzdem wegweisend. Scherer suchte die literarischen Texte als Glieder einer Kette von Ursachen und Wirkungen zu erkennen und für die textwissenschaftliche Forschung dieselbe Sicherheit der Methode und der Ergebnisse zu erreichen, wie sie in den Naturwissenschaften üblich war. Dabei konzentrierte er sich auf den Dichter (Sender) und sein Werk (literarischer Text) und schlug vor, die Texte im Hinblick auf Erlebtes, Erlerntes und Ererbtes zu interpretieren. Allerdings wies er ständig auf die Bedeutung der antiken Rhetorik für die Analyse literarischer Werke hin. Er strukturierte seine Poetik ausdrücklich nach rhetorischen Gliederungsprinzipien (Scherer 1888 ⫽ 1977: 136). Am Ende des 19. Jahrhunderts besaß die Stilistik in den wissenschaftlichen Disziplinen, die Sprachen zum Untersuchungsgegenstand haben, ein weites Anwendungsspektrum: 1. Stilistik (auch „praktische Stilkunde“ bzw. „Stilschule“) als die Lehre von den Rede-/ Stilfiguren der Sprache mit Unterweisung in ihrer produktiven Handhabung (besonders in der höheren Schulbildung), 2. Stilistik als normative Sprachpflege zur „Bildung eines selbständigen deutschen Stils“ (Raumer 1859: 257), 3. Stilistik (auch „Lehre von der Stilkunst“) als Hilfswissenschaft der Literaturinterpretation unter Verwendung der Lehre von den Rede- und Stilfiguren. Damit hat sich jedoch das Anwendungsgebiet der Stilistik nicht erschöpft. Heute versteht man unter Stilistik einen über die Sprache weit hinausreichenden interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatz, der (a) neben sprachlichen Texten auch Architektur und Bildkunst (vgl. Art. 69 und 82) sowie Musik (vgl. Art. 81 § 2.2.) und die Gegenstände des Alltagslebens zum Forschungsge-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
genstand hat, (b) die Frage nach der besten Wahl von Zeichen für den jeweiligen Zweck beantworten und damit zur Auswahl der Zeichen aus beliebigen Kodes anleiten kann (vgl. Art. 125; siehe auch Art. 2 § 5.1.2.). Als Stiltheorie beschäftigt sich die Stilistik mit dem Stil in allen Kodes und Medien (vgl. Sanders 1973, Spillner 1974). Der Stilbegriff hat seit der antiken Rhetorik wie kaum ein anderer Begriff der Geisteswissenschaften seinen Bedeutungsumfang derart vergrößert, daß die Existenz von Stilen als besonderen Phänomenen manchmal grundsätzlich in Frage gestellt wurde (vgl. Gray 1969: 110). Auch außerhalb der Wissenschaft wird das Wort „Stil“ in der Alltagssprache in recht unterschiedlicher Weise verwendet (Amtsstil, Marktschreiereistil, Lebensstil, Kampfstil, Arbeitsstil, Tanzstil, Vorlesungsstil usw.). Unter lat. stilus verstand man in der Antike und auch noch im Mittelalter den hölzernen oder metallenen Schreibgriffel, mit dessen Spitze man Buchstaben in Wachstäfelchen einritzte (vgl. Art. 14 § 2.1.). Die Wortbedeutung wurde zunächst auf die Qualität des Schreibresultats ausgedehnt und später dann auch auf die Art und Weise des Schreibens und Redens. Zu dieser individualisierenden Bedeutung von stilus, die das Besondere, Einzigartige einer Schreib- oder Redeweise charakterisierte, kam noch eine generalisierende Bedeutung hinzu, die von den genera elocutionis (Redegattungen) herrührte. Mit der Unterscheidung dreier Stilebenen (stilus humilis, stilus medius, stilus grandiloquus), des schlichten, mittleren und erhabenen Stils, versuchte man, die sprachlichen Besonderheiten von Texten mit den gesellschaftlichen Anlässen ihrer Produktion in Beziehung zu setzen (vgl. Art. 53 § 3.). Wenn vorausgesetzt wird, daß die Stilistik ein interdisziplinärer wissenschaftlicher Ansatz ist, dann kann Stil als interdisziplinärer Begriff betrachtet werden. Der Stilbegriff kann in den jeweiligen Disziplinen entweder ein Kennzeichnungs- oder ein Wertungsbegriff sein. Ein Kennzeichnungsbegriff liegt dann vor, wenn Stile zum Beispiel nach dem Material oder der Technik (Marmorstil, Bronzestil u. ä.), nach Ort und Zeit (dorischer, korinthischer Stil, Revolutionsstil, Nachkriegsstil u. ä.), nach Kanal, Medium oder Kode (Klavierstil, Opernstil, Sprachstil, Singstil u. ä.), nach den Zeichenproduzenten (Bauhausstil u. ä.), nach der verwendeten Arbeitstechnik (Stil der Plastik, Baustil, Webereistil, Stil des geblasenen und geschliffenen Glases u. ä.) unterschieden werden. Solche Kennzeichnungen
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
zeigen an, daß es hier etwas Regelhaftes, Beobachtbares und Abgrenzbares gibt. Ebenso wird in der Ästhetik die Geschichte der Künste (Architektur, Musik, Bildkunst, Literatur) nach Stilepochen (Zeitstilen, Stilstufen) periodisiert (vgl. etwa Art. 75 § 3.). Diese Periodisierung ist ein systematisches und historisches Ordnungsprinzip, das von der Kunstgeschichte auf die Literaturgeschichte übertragen wurde (vgl. Wölfflin 1915). In der Architektur unterscheidet man etwa folgende grundlegende Stilepochen: „Romanik“ ist ein ca. 1820 von französischen Gelehrten eingeführter Begriff für den Rundbogenstil, der auch „byzantinisch“ oder „griechisch“ genannt wurde. Die Hauptstilelemente ⫺ Rundbogen, Pfeiler, Säule und Gewölbebau ⫺ sind der römischen Architektur entnommen. Der Begriff „Gotik“ wird seit der Mitte des 16. Jahrhunderts von italienischen Kunsttheoretikern (abwertend) für den nordischen (barbarischen) Spitzbogenstil verwendet. Der Begriff „Renaissance“, von ital. rinascita` ‘Wiedergeburt’, wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts von französischen Forschern eingeführt, um auf das Wiederaufleben der römischen Antike seit dem 15. Jahrhundert hinzuweisen. Der Terminus „Barock“ wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts als Schmähname für die Architektur zwischen 1675⫺1735 verwendet. Der Begriff stammt aus dem Goldschmiedehandwerk, wo barocco eine schiefrunde Perle bezeichnet. Die Bezeichnung „Rokoko“ ist von rocaille (franz. ‘Muschelwerk’) abgeleitet, dem beliebtesten Ornament des Spätbarock (1720⫺ 1770). „Rokoko“ bezeichnet die späte Barockphase. In Deutschland ist „Klassizismus“ der gebräuchliche Begriff zur Bezeichnung der Stilepoche, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum Barock entstand (Binding 1987: 8). Oft verwendet man aber auch den Stilbegriff in primär wertender Absicht: guter, richtiger, angemessener, eleganter, origineller, leichter, schlechter, kitschiger, pathetischer Stil u. ä. Dadurch wird entweder angezeigt, daß die Auswahl der Zeichen aus dem jeweiligen Kode speziell gestellten Anforderungen gerecht wird oder daß sie hinter diesen Forderungen zurückbleibt. Die Bewertung des Stils gehört zu den Aufgaben der Literatur-, Kunst- und Musikkritik. Die Auffassungen vom Wesen des Stils wandeln sich in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen kontinuierlich. Dieses Faktum wird erst aus der Distanz retrospektiver
1605
Übersichten feststellbar. Die folgenden sieben Stildefinitionen bzw. Beschreibungen der jeweiligen Stilauffassungen machen die Heterogenität des Stilbegriffs zu unterschiedlicher Zeit und in verschiedenen Kulturbereichen deutlich: 1. „Le style est l’homme meˆme“ („Der Stil ist der Mensch selbst“; Buffon 1753: 12). 2. „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes“ (Schopenhauer 1902: 447). 3. Stil „[…] ist also stets aus der Gleichartigkeit in den religiösen und sittlichen Anschauungen, in den künstlerischen Aufgaben und den hierfür gewählten Mitteln und Techniken hervorgegangen; er schließt die Gesamtheit aller Gesetze, Regeln, Typen und Formgebungen in sich, in deren konsequenter Anwendung der betreffende Volksstamm den unmittelbarsten und vollkommensten Ausdruck seiner geistigen Ideen fand. Umgekehrt sehen wir aber auch in einem bestimmten Stile das in die Form gebannte Grundschema der Anschauungsweise seiner ganzen Zeit“ (Hartmann 1910: 5). 4. Stil „[…] is the power to touch with ease, grace, precision, any note in the gamut of human thought and emotion“ („[Stil] ist das Vermögen, mit Leichtigkeit, Anmut und Genauigkeit jede Seite des menschlichen Denkens und Fühlens zum Schwingen zu bringen“; Quiller-Couch 1920: 248). 5. „Der Stil wird als Emphase (expressiver, affektiver oder ästhetischer Natur) verstanden, die zu den durch die sprachliche Struktur übertragenen Informationen hinzukommt, ohne den Sinn zu verändern“ (Riffaterre 1973: 30). 6. „Style is defined as an individual’s deviation from norms for the situation in which he is encoding, these deviations being in the statistical properties of those structural features for which there exists some degree of choice in his code“ („Stil wird definiert als Abweichung des Individuums von Normen für die Situation, in der es etwas kodiert, wobei diese Abweichungen die statistischen Eigenschaften der Strukturmerkmale betreffen, für die in diesem Kode ein gewisses Maß der Wählbarkeit besteht“; Osgood 1960: 293). 7. Stil bestimmt sich „durch die Gesamtheit aller quantitativ faßbaren Gegebenheiten in der formalen Struktur eines Textes“ (Fucks 1953: 507). 1.3. Poetik Die Poetik ist ein Teil der Ästhetik (vgl. Art. 50, 63 und 75). In ihr geht es um den ästhetischen Wert sprachlicher Zeichen. Sie lehrt, wie man Texte herstellt (griech. poieı˜n bedeutet ‘machen’, ‘schaffen’). Die Poetik ist
1606 insofern ein Sonderfall der aus der Rhetorik hervorgegangenen Stilistik, als der ästhetische Wert eines Textes durch die Auswahl von Zeichen aus einem Kode entsteht. Die älteste Poetik stammt von Aristoteles. Sie ist jedoch nur in Teilen überliefert. Eine weitere Poetik aus der Antike ist die als Gedicht abgefaßte Ars poetica des Horaz (vgl. Art. 42). Die erste deutsche Poetik von Bedeutung war das Werk Von der deutschen Poeterey von Opitz (1624), eine Programmschrift für die deutsche Dichtung des 17. Jahrhunderts. Opitz bezweckte mit ihr die Förderung der muttersprachlichen Dichtung auf der Grundlage der antiken Poetik, insbesondere der Poetik von Horaz (vgl. Art. 67). Im 19. Jahrhundert wurden dann eine ganze Reihe von Poetiken geschrieben; unter ihnen sind hervorzuheben: Carriere, Das Wesen und die Formen der Poesie (1854); Kleinpaul, Poetik (1861); Gottschall, Poetik. Die Dichtkunst und ihre Formen (1873); Baumgart, Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst (1887); Scherer, Poetik (1888); Viehoff, Die Poetik auf der Grundlage der Erfahrungslehre (1888); Wackernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik (1888); Borinski, Deutsche Poetik (1898), Beyer, Deutsche Poetik (1900). In dem überwiegenden Teil der Poetiklehrbücher nimmt die Aufzählung und Beschreibung der sprachlichen Darstellungsmittel in Poesie und Prosa einen breiten Raum ein. Die Einordnung der Poetik als Wissenschaft von der Dichtkunst und damit als Teil der Ästhetik (vgl. Art. 75) wird nur kurz abgehandelt. Bei Kleinpaul (1861) und Borinski (1898) fehlt diese Einführung völlig, man geht dort sofort zu den „Dichtungsformen“ (Kleinpaul 1861: 3 ff) und zu den „inneren und äußeren Mitteln der Dichtung als Kunst“ (Borinski 1898: 27 ff) über. Es herrscht Einigkeit darüber, daß sich literarische Texte von anderen Texten durch die entsprechende Auswahl von sprachlichen Mitteln abgrenzen lassen. Diese sprachlichen Mittel werden von Metrik, Prosodik und dem Inventar der Redefiguren bereitgestellt. Verslehre und Redefiguren bilden so als „Technik der Dichtkunst“ (Gottschall 1873: 160) den Kern der Poetiken. Der Dichter soll sich von anderen Textproduzenten dadurch unterscheiden, daß er die Auswahl von Zeichen aus seinem Sprachsystem perfekt beherrscht und zu seiner Weiterentwicklung beiträgt: „Vor dem Genius liegt der Sprachschatz offen da ⫺ er
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kann aus ihm wählen, er kann ihn bereichern; denn er hat das Recht, die Sprache fortzubilden, weil in ihm die schöpferische Kraft ruht“ (Kleinpaul 1861: 60). Die Frage, wie der Dichter zu dieser Fähigkeit gelangt, glaubt man aber nicht mit der Poetik beantworten zu können, denn diese konzentriert ihre Hauptaufgabe darauf, die Techniken der Dichtkunst bereitzustellen: „Dichter ist, […] wem Reim und Rhythmus nie unbequeme Hindernisse sind, vielmehr durch Gewohnheit unentbehrlich gewordene Kunstmittel“ (Beyer 1900: 25; Hervorhebung von C. P.). Dadurch entsteht ein Widerspruch, der in den Poetiklehrbüchern nicht aufgelöst wird. Einerseits werden die sprachlichen Mittel nach dem Vorbild der Rhetoriklehrbücher sehr detailliert mit dem Ziel aufgelistet, durch sie poetische Texte charakterisieren zu können, andererseits können diese kommentierten Beschreibungen von Redefiguren und Versarten vom Textproduzenten jedoch nur als Nachschlagewerk genutzt werden. Die entsprechende Auswahl der sprachlichen Mittel muß er nach eigenem Gutdünken vollziehen. Bei ausreichender Übung kann der Dichter auf diese Poetiken im Sinne eines Lehrbuchs ganz verzichten. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wird die Beschreibung der sprachlichen Mittel mit bewertenden Kommentaren versehen; vgl. die Formulierung von „Anforderungen des Schönen an poetische Sprache und poetischen Stil“ und die Warnung vor dem „dichterisch Unschönen“ bei Beyer (1900: 107). Als Anforderungen an die poetische Sprache, nach denen sich der Dichter richten soll, nennt Beyer 1. Ordnung, Treue, Vollständigkeit, Kürze; 2. Bestimmtheit, Deutlichkeit, Klarheit des Begriffs; 3. Natürlichkeit; 4. Mannigfaltigkeit und Einheit, Symmetrie; 5. Neuheit; 6. ästhetische Abstimmung der Farbgebung; 7. Reinheit (vgl. Beyer 1900: 107⫺116). Interessant ist hierbei, daß diese Normierungsansprüche nicht auf literarische Texte beschränkt sind, was aber in den Poetiken nicht ausdrücklich erwähnt wird. Jedenfalls zeichnet sich für literarische Texte in den Poetiken vor der Jahrhundertwende eine zunehmende Konventionalisierung der sprachlichen Form ab. Die Poetik von Scherer (1888) nimmt unter den Poetiken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Stellung ein. Sie müßte ausführlich und gesondert behandelt werden, weil sie weit mehr als die anderen zeitgenössischen Poetiken einem deutlich textsemiotischen Ansatz folgt. Die Poetik ist
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
in fünf größere Abschnitte gegliedert: Nach der Zielstellung untersucht Scherer die Rolle des Dichters und Publikums, die Stoffe und die Verschiedenheiten der inneren und äußeren Form des literarischen Produkts. So wird schrittweise die literarische Textproduktion dargestellt. Dieser Ansatz ist neu, weil Scherer systematisch aus der Perspektive des Senders (des Dichters) und des Empfängers (des Publikums) die gesellschaftlichen Bedingungen der Textproduktion aufrollt. Der Dichter produziert nach Scherer einen Text, der als Ware an das Publikum verkauft wird: „Die Poesie ist also schon in alter Zeit eine Art von Ware. Ihr Wert regelt sich nach Angebot und Nachfrage, nach dem Verhältnis von Produktion und Konsumtion“ (Scherer 1888: 121). Die literarische Produktion („dichterische Produktion“) wird nach Scherer (1888: 148) von drei Faktoren bestimmt: Natur, Kapital und Arbeit. Die Natur sei der Stoff des Dichters, das Kapital seien die „schon angesammelten Produkte […], Tradition, traditionelle Stoffe, traditionelle Behandlungsart der Form“. Die Arbeit sei die Art, wie sich der Dichter diese Tradition zunutze macht. Auch sei es möglich, in der literarischen Produktion von Arbeitsteilung zu sprechen: „Es gibt eine Teilung der Arbeit in der Art, daß ein und derselbe Dichter nur Romane verfaßt“ (Scherer 1888: 149). Nachdem Scherer das Verhältnis des Textproduzenten zu seinem literarischen Werk beschrieben hat, geht er zur Darstellung des Publikums über. Auch hier werden wieder die äußeren Bedingungen hervorgehoben, die zwischen dem literarischen Produkt und seinen Adressaten wirken. „Die Verschiedenheiten des Publikums müssen notwendig auf die Produktion einwirken […]. Der Autor hat in der Regel mit Massen zu rechnen […]. Weiß dies der Dichter nicht, oder nimmt er nicht darauf Rücksicht, so wird eben ein Teil befriedigt werden, ein anderer nicht“ (Scherer 1888: 186). Die Abgrenzung des literarischen Textes von anderen Texten hält Scherer für schwierig, doch lasse sich Poesie sowohl in gebundener als auch in ungebundener Rede ausdrücken. „Aber es muß sofort hinzugefügt werden: nicht alle Poesie ist kunstmäßige Anwendung der Sprache, und nicht alle kunstmäßige Anwendung der Sprache ist Poesie“ (Scherer 1888: 2). Als Beispiel werden Reisebeschreibungen, Parlamentsreden, naturwissenschaftliche Abhandlungen (Naturschilderungen), Reden vor Gericht und Predigten erwähnt, die poetische Elemente enthalten kön-
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nen. Die deutliche Trennung zwischen literarischem Text, dessen Entstehung von bestimmten gesellschaftlichen Faktoren abhängig ist, und „kunstmäßiger Anwendung der Sprache“, die auch nichtliterarischen Texten eigen sein kann, zeigt, daß Scherer die antike Rhetorik unter neuen Gesichtspunkten verarbeitet. Ganz im Gegensatz zu den anderen Poetiken des 19. Jahrhunderts gibt er keine Liste der Redefiguren vor. Zwar wird eine Reihe von Redefiguren erwähnt, sie werden jedoch einer poetisch motivierten Systematik untergeordnet. „Wir durchmustern die Sprache nach ihren Bestandteilen und untersuchen diese Bestandteile nach ihrem Wert für die Poesie“ (Scherer 1888: 263). Scherer geht von den Wortklassen aus, wobei er nacheinander am Verb, Partizip, Adjektiv, Substantiv, Adverb, an der Konjunktion und dem Pronomen untersucht, welche poetische Funktion sie in einem literarischen Text ausüben können. „Die poetischen Redeteile sind die Verba“, schreibt Scherer, „ihnen ist immer die Vorstellung eines Trägers verbunden, eines Subjekts, an welchem sich Handlung oder Zustand vollzieht, an welchem diese haften“ (Scherer 1888: 263). Die Bezeichnungen für die Träger der Handlung, die Substantive, seien prosaisch geworden, jedoch gebe es sprachliche Mittel, „ihnen neue Kraft einzuhauchen“ (Scherer 1888: 265). In diesem Zusammenhang führt Scherer nun exemplarisch die Redefiguren Personifikation, Allegorie, Metonymie und Metapher ein, die das Substantiv zur „ursprünglichen Sprachkraft“ (Scherer 1888: 265) zurückführen sollen. Auch ist auffällig, daß sich Scherer in seiner Beschreibung der poetischen Funktion der Sprache mehr auf die Prosa ausrichtet. Die Metrik handelt er nur kurz auf den letzten Seiten der Poetik ab. In der Analyse und Interpretation literarischer Texte wandte man sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher empirischen Methoden zu. Voraussetzung dafür war genaue Quellenkenntnis auf der Grundlage einwandfreier Textausgaben. Diese stellte die sich entfaltende Philologie zusammen. Kritische Ausgaben von Literaturdenkmälern nach dem Muster der klassischen (auf die antiken Sprachen und Literaturen angewandten) Philologie entstanden, zum Beispiel die Ausgabe des Nibelungenlieds von Lachmann (1826) und des Minnesangs von Lachmann und Haupt (1857). Im 19. Jahrhundert war man bereits gewohnt, die Philologie als Aggregat zu be-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
handeln (Boeckh 1877: 3). Als Philologie wurde etwa Altertumsstudium, Sprachstudium, Geschichtsstudium, Literaturstudium (Geschichte und Kritik) und allgemeines Humanitätsstudium betrachtet. Schon früh sah man in der Philologie auch eine Hilfswissenschaft. Ihre Methode, „das Erkennen vom Erkennen“ (Boeckh 1877: 33), wird ja in allen Wissenschaften benötigt. Daher konnte die philologische Lehre als methodische Propädeutik für die Wissenschaften überhaupt dienen. In diesem Rahmen wurde auch im 19. Jahrhundert erstmals der Begriff des Textes als wissenschaftlicher Grundbegriff thematisiert (vgl. Boeckh 1977, Scherer 1888, Paul 1891⫽1901). Ihren kultursemiotischen Anspruch, den Zusammenhang von Sprache, Geist und Kultur eines Volkes aufgrund seiner Texte zu erforschen, hat die Philologie jedoch im 20. Jahrhundert weitgehend aufgegeben und ist in Teilwissenschaften zerfallen.
2.
Texte
2.1. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Textdefinition Wenn wir im Zeichenprozeß zwischen Sender und Empfänger als Zeichenprodukt den Text ansetzen und weiter davon ausgehen, daß der Text eine kodierte, vom Sender intendierte Botschaft an den Empfänger enthält, dann wird auch ein Instrumentarium von Elementen und Verfahren vorausgesetzt, das diese Zeichenprozesse sowohl vom Sender als auch vom Empfänger aus beschreiben kann. Ein entsprechendes Inventar deskriptiver und analytischer Begriffe ist in den letzten 200 Jahren in der Rhetorik, Stilistik und Poetik entwickelt und ausgearbeitet worden. Es basiert weitgehend auf den Redefiguren der antiken Rhetorik, deren Nomenklatur unter der Bezeichnung „rhetorische Figuren“ oder „Stilfiguren“ fast uneingeschränkt weiterhin in Gebrauch ist. Das gilt für Ausdrucksfiguren wie zum Beispiel Metapher, Metonymie, Periphrase, Paraphrase, Allegorie, Synekdoche; für Wortfiguren wie Hendiadyoin, Figura etymologica; für Stellungsfiguren wie Asyndeton, Polysyndeton, Klimax; für Satzfiguren wie Zeugma, Chiasmus, Ellipse. Diese Figuren bilden ein Konglomerat, das im Laufe der Jahrhunderte zusammengewachsen ist. Es funktioniert wie eine offene Liste von Elementen, die entweder ergänzt oder auch gestrichen werden könnten. Unter einem Verfahren versteht man oft die Art der Anwendung der Elemente dieses
Instrumentariums. Dieser Verfahrensbegriff ist aber erst im 20. Jahrhundert explizit durch die Vorläufer der strukturalistischen Poetik diskutiert worden. Die um 1914 entstandene Schule der russischen Literaturwissenschaft, die unter der Bezeichnung „russischer Formalismus“ bekannt geworden ist (vgl. Art. 114), entwickelte Methoden zur Analyse literarischer Texte und zur Erforschung der Literaturgeschichte aufgrund eigener Begriffe; so führte Sˇklovskij den Begriff „Verfahren“ (russ. prie¨m) in die Poetik ein (vgl. Erlich 1973: 189). Für die Art, wie Redefiguren zu verwenden sind, galten schon in der antiken Rhetorik feste Normen. Zum Beispiel konnte das genus sublime zwei Varianten aufweisen: a) Bei der Verwendung des ungebrochen-erhabenen Genus (genus amplum) werden lange Perioden mit langen Kola (aus mehr als drei Wörtern bestehende Wortfolgen) vorgeschrieben. b) Die Verwendung des gehemmtheftigen Genus (genus vehemens) verlangt hingegen hämmernde Kommata und paradoxe Figuren wie Zeugma und Chiasmus (Lausberg 1967: 154 f). Ausgehend von einem Modell des Zeichenprozesses (vgl. Saussure 1916, Morris 1938, Shannon und Weaver 1959, Posner 1989) können Rhetorik, Stilistik und Poetik als wissenschaftliche Ansätze gelten, in denen ein deskriptives und analytisches Instrumentarium zur Interpretation von Texten entwikkelt wird. Sender und Empfänger sind einzelne Personen oder Personengruppen. Gegenstand der Untersuchung ist insbesondere auch die Art und Weise, wie Texte in allen Bereichen gesellschaftlicher Kommunikation (Massenkommunikation, Bildungswesen, Staat, Recht, Wissenschaft und Kunst) von den Sendern verfertigt und von den Empfängern verstanden werden. Wie oben ausgeführt, sind Rhetorik und Stilistik hauptsächlich senderorientiert, während die Poetik überwiegend empfängerorientiert betrieben wird. Die von den Sendern verfertigten und von den Empfängern interpretierten Texte können sprachliche (vgl. Saussure 1916) und nichtsprachliche (vgl. Posner 1989) Äußerungen sein. Texte sind immer das Resultat intentionaler Handlungen. Daher kann der Empfänger eines Textes beim Sender stets eine bestimmte Intention annehmen, die dem gesendeten Text zugrunde liegt. Die Intention des Senders muß allerdings nicht unmittelbar in einem Text realisiert bzw. aus ihm rekonstruierbar sein. Rhetorik, Stilistik und Poetik
1609
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
Texte
ästhetische Texte
nichtästhetische Texte
Sender
Empfänger
literarische Texte
nichtliterarische Texte
Rhetorik Stilistik (senderorientiert)
Poetik Stilistik (empfängerorientiert)
Abb. 80.1: Textsemiotische Ansätze und Semiose.
können jedoch helfen, Textintentionen zu erkennen und (für einen bestimmten Zweck) zu analysieren. Die Poetik als Teil der Stilistik beschäftigt sich mit literarischen Texten. Rhetorik und Stilistik untersuchen sowohl literarische als auch nichtliterarische Texte; so beschäftigt sich etwa die Rhetorik in der Antike mit mündlichen forensischen, d. h. im heutigen Sinne nichtliterarischen Texten. Becker untersucht in der Stilistik ausschließlich Texte der klassischen deutschen Literatur (literarische Texte), Scherer aber will literarische und nichtliterarische Texte in einer Textwissenschaft, die aus rhetorischen und stilistischen Ansätzen bestehen soll, gemeinsam behandeln. Neuere rhetorische und stilistische Ansätze konzentrieren sich auf nichtliterarische Texte (z. B. die funktionale Stilistik, die Texttypologie, die New Rhetoric u. ä., vgl. § 3.). Eine übergeordnete Unterteilung in ästhetische und nichtästhetische Texte (vgl. Schmidt 1978), wobei jeweils literarische und nichtliterarische Texte eingeschlossen sind, ist notwendig, weil Rhetorik und Stilistik auch nichtsprachliche Texte behandeln können (s. o. §§ 1.1. und 1.2.; vgl. Abb. 80.1). Da die Abgrenzung literarischer Texte von nichtliterarischen Texten ausschließlich durch textimmanente Merkmale problematisch ist, wird vorgeschlagen, den literarischen Text als institutionales Objekt anzusehen (vgl. Olsen 1987). Ein Verständnis von Literatur als
sozialer Institution hat viele Vorteile. Der Schwerpunkt der Literaturauffassung verlagert sich in diesem Fall von der ästhetischen Sensibilität des Lesers auf die gesellschaftlichen Funktionsbedingungen literarischer Texte. Ist die Literatur eine soziale Institution, müssen die entsprechenden Konventionen sowie die Produktions-, Distributions- und Rezeptionsumstände allen an der Produktion Beteiligten gleichermaßen vertraut sein, damit diese Texte erkannt und entsprechend behandelt werden (vgl. A. Pankow 1993). Diese Unterscheidung kann auch wissenschaftshistorisch motiviert werden. Ursprünglich, so etwa im gesamten 19. Jahrhundert, werden überwiegend geschriebene verbale Äußerungen als „Texte“ bezeichnet. Diese Auffassung ist auch heute noch verbreitet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden allerdings auch schon mündlich überlieferte Texte von der Philologie behandelt. Die Volksmärchen, aufgeschrieben und gesammelt von J. und W. Grimm, sind ein Beispiel hierfür. Einer Analyse dieser Texte geht jedoch ihre schriftliche Fixierung voraus, und diese verlangt bereits eine Reihe von Vorentscheidungen, die sich auf die spätere Analyse einschränkend auswirken können. Der Philologe läßt sich die Märchentexte erzählen und faßt sie dabei schriftlich, um sie später reproduzieren zu können. Außer mündlichen sprachlichen Äußerungen können darüber hinaus nichtsprachliche
1610 Äußerungen als Texte betrachtet werden. Um das gesamte gegenwärtige Spektrum der textsemiotischen Ansätze zu erfassen, ist es angebracht, von einem möglichst breiten Textbegriff auszugehen. Ein Gegenstand ist ein Text, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind: 1. er muß ein Artefakt sein; 2. er muß ein Instrument sein; 3. er muß kodiert sein. Dabei ist unter „Artefakt“ alles zu verstehen, was Ergebnis intentionalen Verhaltens ist, unter „Instrument“ alles, was in einer Kultur eine Funktion hat, und unter „Kodiertheit“ alles, was aufgrund der Konventionen einer Kultur Bedeutungsträger ist. Die Definition von Texten als intentional hergestellten konventionellen Zeichenträgern mit bestimmten Funktionen ermöglicht es, auf terminologisch saubere Weise gewisse Probleme in Angriff zu nehmen, die in der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft immer wieder Gegenstand der Diskussion gewesen sind: a. Die Herstellung eines Textes ist zwar von bestimmten Intentionen geleitet, aber der Text als Produkt der Herstellungshandlung läßt sich auch unabhängig von diesen Intentionen betrachten, was dadurch gerechtfertigt ist, daß er oft nicht intendierte Merkmale besitzt. b. Texten sind zwar von ihren Produzenten bestimmte Funktionen zugeordnet, sie können aber auch umfunktioniert, d. h. zu anderen Zwecken verwendet werden. c. Der Textbegriff ist weder auf Sprache noch auf andere spezifische Kodes beschränkt, was besonders die systematische Betrachtung von multimedialen Texten ermöglicht, die mit vielerlei Kodes arbeiten. d. Texte sind nicht unabhängig von ihrem Artefakt- und Instrumentcharakter zu verstehen. Ihre Analyse und Interpretation erfordert daher die Einbeziehung von ⫺ zumindest virtuellen ⫺ Textproduzenten und Textrezipienten. Dieses breite und zugleich präzise Textkonzept, das von Posner (1989) explizit ausgearbeitet wurde, wird auch von Koch (1971), Uspenskij et al. (1973), Eco (1976), Rozˇdestvenskij (1979) und Lotman (1981, 1982) vertreten (siehe auch Art. 150). 2.2. Text und Stil In Abb. 80.2 (auf Tafel I) liegt ein Text vor, der neben einer schriftlichen verbalen Äußerung, die ein Zitat aus einem anderen unbekannten Text ist, ein Farbfoto von einer unbekannten jungen Frau enthält. Das Medium, mit dessen Hilfe dieser Text produziert wurde, ist ein Computer (vgl. Art. 14 § 2.4.).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Die einzelnen Textelemente sind mithilfe von Scanner (Farbfoto) und Tastatur (Sprache) in den Computer eingegeben, und die danach folgende Textproduktion wurde am Bildschirm ausgeführt (z. B. wurden mithilfe eines Computerprogramms die einzelnen Textelemente zusammengefügt). Später wurde der fertige Text nach verschiedenen Zwischenverfahren auf Metall appliziert. Die Intention des Textproduzenten war es, das diesen Text enthaltende Objekt als Kunstobjekt in einer Kunsthalle zu plazieren. Der Text ist das Ergebnis der Auswahl von Zeichen aus den jeweiligen Kodes. Man kann daher auch sagen, daß dieser Text als Endergebnis der Textproduktion einen „Stil“ hat. Das zeigt, daß der Stilbegriff, wie bereits in § 1.2. ausgeführt, nicht nur sprachlichen Texten eigen ist (vgl. Hartmann 1910, Jahn 1966, Barthes 1966, Jencks 1987). Dementsprechend müssen die textsemiotischen Ansätze auch verschiedene Verfahren zur Interpretation nichtsprachlicher Texte entwickeln. In der Kommunikationspraxis scheinen allerdings neben sprachlichen Texten Mischtexte, die mit Hilfe der Sprache und anderer Zeichensysteme produziert werden, zu überwiegen. Ein weiteres Beispiel, wie die Auswahl der Zeichen aus verschiedenen Zeichensystemen den Stil bestimmen kann, bietet die Architektur der Postmoderne (siehe Jencks 1987). Die Projekte von Venturi und Rossi sind exemplarisch dafür, wie Stil als Auswahl von Zeichen aus der Gesamtheit des Inventars an Zeichensystemen in der Architektur entsteht. Der architektonische Stil in ihren Arbeiten hat zwei Merkmale: die spezifische (nationale, regionale) Komponente und die universale (internationale, globale) Komponente. Der „New International Style“ (vgl. Adjmi 1991) ist eine Mischung verschiedener Stilarten, sowohl in historischer (Gotik, Klassizismus, Neue Sachlichkeit u. ä.) als auch in typologischer Hinsicht (konstruktivistische Fassade mit romanischen Bögen, orientalischen Dachkonstruktionen u. ä.). Es werden hier bewußt viele verschiedene und früher je allein gültige Stile zusammen als Repertoire für einen neuen Stil verwendet. Der Ort, an dem diese architektonischen Zeichensysteme verwirklicht werden, ist die Stadt. Sie ist das Diskursuniversum des Architekten als Senders von Botschaften und fungiert heute als Modell des „global village“ (Jencks 1987: 18 f). Beim Vergleich der Fassadenmodelle in Abb. 80.3 wird deutlich, wie die universale
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
1611
Friedrichstadt-Projekt. Berlin 1981.
Via Arsia Apartments. Mailand 1985. Abb. 80.3: Aldo Rossi: Hausfassaden (dokumentiert in Adjmi 1991: 29).
Architektur (vgl. Jencks 1987) beide Stilmerkmale vereint. Das Spezifische der Kultur einer Region ist untrennbar verbunden mit dem ästhetischen Image des Neuen Internationalen Stils. Hier gibt es keine Grenzen, was die Auswahl der Zeichen betrifft. Prinzipiell kann jede Erscheinung Zeichenfunktion erhalten. (Die spitzen Dächer der Treppenflure aus Beton und Stahl in der Häuserfassade des Friedrichstadt-Projektes verweisen zum Beispiel auf die Silhouette historischer Berliner Stadtkirchen.) Bisher ist zu zeigen versucht worden, daß Stil nicht nur den Sprachen eigen ist, sondern auch anderen Zeichensystemen. Dazu wurde etwas ausführlicher der Prozeß einer Textproduktion in der Bildkunst und ein Beispiel für Stilmischung in der Architektur beschrieben. Wenn nun vorgeschlagen wird, Stil als Ergebnis der Wahl von Zeichen aus den jeweiligen Kodes zu verstehen, dann muß auch umgekehrt ein Instrumentarium von Stilelementen nachweisbar sein, das die Stilistik bei der Analyse sprachlicher, musikalischer und architektonischer Texte sowie solcher der bildenden Künste verwenden kann. Es scheint daher angebracht, im Anschluß an die Beschreibung von Textproduktion und Stilmischung die Verwendung des Instrumentariums der Stilelemente in verschiedenen Texten etwas genauer zu betrachten. Die antike Rhetorik hat für den sogenannten Schmuck (ornatus) der Rede eine Liste von Wortfiguren, Satz- und Gedankenfiguren entwickelt, die auf den vier rhetorischen Ver-
änderungskategorien adiectio (Hinzufügung), detractio (Auslassung), transmutatio (Umstellung) und immutatio (Sinnänderung) beruht (Lausberg 1967: 81 ff). 1. Der Chiasmus (nach dem griechischen Buchstaben x, Chı¯) gehört zur Umstellungskategorie (transmutatio). Er besteht in der Überkreuzstellung bestimmter Bestandteile in einander entsprechenden Gruppen und ist in der antiken Rhetorik ein die Antithese ausdrückendes Mittel der dispositio (Lausberg 1967: 128). In der Sprache kann der Chiasmus eine Überkreuzstellung antithetischer Wortpaare, Satzglieder oder Sätze sein, vgl. „Ihr Leben ist dein Tod! Ihr Tod ist dein Leben!“ (F. Schiller, Maria Stuart, 2. Aufzug, 3. Auftritt). Die Überkreuzstellung des Chiasmus setzt einen Parallelismus voraus, d. h. der Figurationseffekt entsteht dadurch, daß in den beiden Sätzen gleiche sprachliche Strukturen verwendet werden, die sie füllenden Elemente jedoch kreuzweise vertauscht sind. (A) Ihr [Leben]a ist dein [Tod]b ! (B) Ihr [Tod]b ist dein [Leben]a ! Abb. 80.4: Chiasmus in der Sprache. Beispiel aus F. Schiller, Maria Stuart.
In der Musik läßt sich eine chiastische Symmetrie unter anderem in der Fuge nachweisen. Die Fuge ist die wichtigste kontrapunktische Musikform, in der alle Stimmen
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 80.5: Chiasmus in der Musik. Beispiel aus J. S. Bach, Das wohltemperierte Klavier, 1. Teil, Beginn der Fuge XVI, erste Durchführung.
gleichberechtigt und gleich bedacht sind. In der abendländischen Kunstmusik bildet die Fuge den Abschluß einer Jahrhunderte währenden Ausbildung des polyphonen Stils. Ihre höchste künstlerische Vervollkommnung erhielt die Fuge durch Bach und Händel. Der Name Fuge stammt aus dem lat. fuga ‘Flucht’, weil das die verschiedenen Stimmen durchlaufende Thema bald hier, bald dort die Aufmerksamkeit auf sich zieht und immer von neuem entschwindet (vgl. Art. 81 § 2.1.). Wie das in Abb. 80.5 dokumentierte Beispiel zeigt, wird das Thema (Dux) zuerst von der beginnenden Stimme (die jede der beteiligten sein kann) allein vorgetragen, worauf eine zweite Stimme mit der Antwort (Comes) einsetzt, während die erste dagegen einen rhythmisch und melodisch prägnanten Kontrapunkt (Gegensatz) ausführt. Besondere Freiheiten sind die Beantwortung des Themas in der Umkehrung, Verkürzung oder Verlängerung. Dabei ergibt sich eine Kreuzstellung zwischen Dux, Comes und Gegensatz durch chiastisches Auftreten in verschiedenen Stimmen. 2. Die Paraphrase tritt in der antiken Rhetorik in der Nachbildung (imitatio) auf. In Übungen (exercitationes) werden fremdsprachige Texte in die Muttersprache übersetzt und muttersprachliche Texte durch paraphrasis nach den entsprechenden Veränderungskategorien umgeformt, wobei besonders auf die Weglassung und Hinzufügung Wert gelegt wird (Lausberg 1967: 156). In der Sprache treten Paraphrasen durch Veränderung der syntaktischen Form bei gleichem oder fast gleichem Inhalt auf (vgl. Posner 1972⫽1980: 61 ff). In der generativen Linguistik werden Paraphrasen als Resultate gemeinsamer Tiefenstruktur angesehen; vgl. Apresjan 1975, Ungeheuer 1989: 178⫺227;
siehe auch Art. 79 § 2.4. Die Paraphrasenbildung ist neben der Synonymie ein wichtiges Stilelement in der Stilistik. In der Bildkunst tritt die Paraphrase zwar erst im 20. Jahrhundert in stärkerem Umfang auf; Bildwerke spielen häufiger auf ältere Kunstwerke an und bilden ältere Kunstwerke in Form, Thema oder Stil nach. Beispiele für Paraphrasierung gibt es allerdings in der gesamten Kunstgeschichte; so war Tizians „Venus im Spiegel“ (1555, Öl auf Leinwand) der Ausgangspunkt für die „Toilette der Venus“ (1613, Öl auf Leinwand) von Rubens; Rauschenberg fertigte 1964 ein Bildwerk an, in das Rubens’ „Toilette der Venus“ als Photographie eingearbeitet wurde (Rauschenberg, „Persimmon“, 1964, Öl und Siebdruck auf Leinwand). Andere Beispiele für Bildparaphrasen sind: Millet, „Der Säende“ (1850), und van Gogh, „Der Säende nach Millet“ (1889); Vela´zques, „Portrait des Papstes Innocentius X“ (1650), und Bacon, „Studie nach Vela´zques’ Portrait des Papstes Innocentius X“ (1953); da Vinci, „Mona Lisa“ (1903⫺06), und Duchamp, „Mona Lisa L. H. O. O. Q.“ (1919). Bildparaphrasen sind oft eigenständige Kunstwerke (vgl. Örtegren 1992: 17). Kunstwerke werden hier ebenso wie sprachliche Texte als Artefakte betrachtet, die eine Funktion in einer Kultur haben und kodiert sind, auch wenn sie diesen Kode oft erst selbst schaffen.
3.
Ausgewählte neuere Ansätze der Textsemiotik
3.1. Rhetorik, Stilistik und Poetik als Werkzeuge der Textanalyse In ästhetischen Texten erhält der Zeichenträger einen Eigenwert, den er in anderen Zeichenprozessen nicht hat, weil dort die im Zei-
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80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
tionsmöglichkeiten werden durch die Regeln der Grammatik eingeschränkt, die die Anordnung (Kontiguität) der gewählten Textelemente bestimmen. Außerdem wird die Selektion noch durch den kommunikativen Zweck bestimmt. Jakobson stellt sechs grundlegende Funktionen innerhalb der sprachlichen Kommunikation fest: die emotive, referentielle, poetische, phatische, metasprachliche und die konative Funktion. In jedem sprachlichen Text kann jede der Funktionen nachgewiesen werden, nur spielen sie einzeln entweder eine mehr untergeordnete oder mehr dominierende Rolle. In literarischen Texten ist dagegen die poetische Funktion vorherrschend und strukturbestimmend. Die poetische Funktion manifestiert sich sprachlich in einer Verlagerung des Äquivalenzprinzips: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (Jakobson 1979: 94). paradigmatische Äquivalenzklasse
Selektion
chenträger kodierten Informationen die Aufmerksamkeit des Rezipienten (Empfängers) primär über den Zeichenträger hinauslenken: a) auf den Kode, der benutzt wird, b) auf den Sender, c) auf den Empfänger, d) auf den Kanal, e) auf die nicht an der Semiose beteiligten Wirklichkeitsbereiche. In literarischen Texten wird die Aufmerksamkeit häufig auf die sprachliche Form des Textes selbst gelenkt. Die ästhetische Information eines Textes kann nun entweder aus der formalen Organisation des Zeichenträgers (Textstruktur) freigelegt werden (vgl. Tynjanov und Jakobson 1928, Propp 1928, Veselovskij 1940, Jakobson 1960, 1966, 1979; Le´vi-Strauss 1963), oder sie kann aus der Struktur und den besonderen Merkmalen des Rezeptionsvorganges abgeleitet werden (Riffaterre 1966, 1971, 1978; Naumann 1973, Culler 1975). Die strukturalistische Textanalyse ist ein textsemiotischer Ansatz, der die gegebenen Zeichenmengen in einem Text in ihrem Systemzusammenhang untersucht. Sie fällt in den Bereich der Syntaktik (vgl. Art. 2 § 3.). Die strukturalistische Rezeptionsanalyse untersucht die systematischen Beziehungen zwischen dem Zeichenträger (Text) und ihren Interpreten (Zeichenempfängern) (vgl. Art. 4 § 2.). Die strukturalistische Textanalyse geht auch davon aus, daß die ästhetische Funktion des literarischen Textes durch seine Struktur festgelegt ist. Die Struktur ist hier ein System textinterner Relationen. Jakobson (vgl. Art. 116) gibt an mehreren Stellen seiner Arbeiten (inzwischen für die strukturalistische Poetik prototypische) Beispiele aus nichtliterarischen Texten, die exemplarisch zeigen, daß zwischen den Elementen eines Textes Relationen bestehen können, die grammatische Beziehungen überlagern: (a) veni, vidi, vici, (b) I like Ike, (c) horrible Harry. Beispiel (a) ist ein historisches Zitat, Beispiel (b) ein Zitat aus der Werbesprache, das für den Wahlkampf eines amerikanischen Präsidenten genutzt wurde, Beispiel (c) entstammt der Alltagssprache. In allen drei Beispielen bedient man sich bewußt oder unbewußt des poetischen Mittels der Paronomasie. Die Sender haben es bei der Wortwahl auf eine Äquivalenzbeziehung zwischen den Elementen des Textes abgesehen; in diesem Fall liegt eine phonologische Äquivalenz vor. Die Formulierung eines Textes läßt sich demnach als schrittweise Selektion der Textelemente aus einer Reihe vertikaler Äquivalenzklassen (Paradigmen) beschreiben. Die Selek-
Text
syntagmatische Äquivalenzklasse Kombination
Abb. 80.6: Das Äquivalenzprinzip in der strukturalistischen Textanalyse.
Aus den Äquivalenzklassen werden Elemente ausgewählt und als Glieder in die Textsequenz aufgenommen. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Prinzip für das Verfahren der Aneinanderreihung sprachlicher Einheiten erhoben. In dem Beispiel I like Ike wird so die eine Silbe der anderen Silbe derselben Sequenz angeglichen. Das Ziel der strukturalistischen Textanalyse besteht darin zu prüfen, zwischen welchen Elementen Äquivalenzbeziehungen unterschiedlicher Art bestehen. Die wichtigsten Äquivalenzrelationen, nach denen in der strukturalistischen Textanalyse auf den verschiedenen Textebenen gesucht wird, sind Synonymie, Opposition und Parallelismus.
1614 Als besonders fruchtbar erweisen sich bei der strukturalistischen Textanalyse die Untersuchungsebenen Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexik (lexikalische Isotopien; vgl. Greimas 1966, Rastier 1972; siehe auch Art. 81 § 2.1.1.: „harmony“). Dabei wird auf die Redefiguren zurückgegriffen, die die antike Rhetorik für den Schmuck (ornatus) der Rede bereitstellt. Figuren der Wiederholung und Umstellung werden im Rahmen des linguistischen Strukturalismus untersucht (vgl. Kasusreim und Parallelismus bei Jakobson 1966 ⫽ 1979: 264⫺310). Besonders bewährt hat sich die strukturalistische Textanalyse bei der Analyse von Texten der Volksund Märchendichtung (vgl. Propp 1928, Le´vi-Strauss 1963). Wenn literarische Texte dadurch gekennzeichnet sind, daß die anderen Funktionen der Nachricht von der poetischen überlagert werden, geht man bei der strukturalistischen Textanalyse von einem Text aus, der vom Empfänger schon interpretiert wurde, d. h. man setzt einen Kode als gegeben voraus und operiert mit ihm. Dadurch entsteht der Eindruck, als bestehe die Basis der Analyse in den syntagmatischen Äquivalenzen der sprachlichen Elemente und nicht der Funktionen, die der Text beim Rezipieren erhält (vgl. Posner 1971: 259 f). Die Rezeptionsanalytiker schlagen deshalb vor, daß zuerst der Rezeptionsverlauf analysiert wird. Erst nachträglich soll versucht werden, die eingetretenen Wirkungen auf ihre Ursachen im Text zurückzuführen (Riffaterre 1966, Naumann 1973, Culler 1975, Eco 1979). Die Rezeptionsanalyse untersucht nicht nur die phatischen und emotiven Prozesse, die den Text steuern, sondern alle Jakobsonschen Kommunikationsfunktionen als Arten der Aufmerksamkeitslenkung (vgl. Art. 122). Auch hier werden Äquivalenzklassen gebildet, jedoch in bezug auf jene Stellen im Rezeptionsablauf, an denen sich der Empfänger aufgehalten fühlt. Jede Stelle läßt sich kennzeichnen: a) durch den Kontrast, der die vorangegangenen Erfahrungen am Text in Frage stellt; b) durch die Äquivalenz mit anderen Kontraststellen, die ein Netz von Übereinstimmungen schaffen (vgl. auch Enkvist 1964). Die „Kontrasterlebnisse des Lesers“ werden zu prototypischen Merkmalen der Rezeptionsanalyse. Das Aufdecken und Beschreiben von Kontrasten bei Riffaterre und Oppositionen bei Jakobson sind grundlegende Analyseverfahren in der strukturalistischen Textanalyse, die ihre Wurzeln in der
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Prager Schule haben (vgl. Trubetzkoy 1958). In der strukturalistischen Rezeptionsanalyse wird der Zeichenempfänger des ästhetischen Textes zu einem idealen Leser, dem Superleser (Riffaterre 1966: 215), der als Interpret allen anderen Zeichenempfängern mitteilen kann, wie der entsprechende Text interpretiert werden muß. Aufbauend auf der These der strukturalistischen Poetik, daß syntagmatische Äquivalenzen die Textbasis in literarischen Texten bilden, ist von der mathematischen Poetik der Versuch unternommen worden, mit hypothetisch-deduktiver Modellierung die Struktur der „poetischen Sprache“ nachzuahmen (vgl. Bense 1962, Fucks und Lauter 1965, Marcus 1973, Fischer 1976). Außerdem haben formale Semantik und Sprachstatistik (vgl. Muller 1968) günstige Bedingungen für eine mathematische Modellierung wichtiger Aspekte der Dichtkunst geschaffen. Marcus (1973: 33) sieht die Hauptaufgabe der mathematischen Poetik darin, logische und algebraische Modelle mit ausdrücklich erklärender Funktion bereitzustellen. Der Unterschied zwischen der Sprache der Wissenschaft und der Sprache der Poesie bestehe aus der Sicht der mathematischen Poetik darin, daß im ersten Fall die Auswahl eines bestimmten Satzes aus unendlich vielen möglichen Sätzen erforderlich ist, die den gleichen Sinngehalt ausdrücken. Die so gestellten Stilfragen beträfen also ausschließlich die Art, in der ein bestimmter Sinngehalt ausgedrückt wird, ohne irgendwelchen Einfluß auf diesen selbst. Dagegen kenne die poetische Sprache keine Stilprobleme, weil der poetische Sinngehalt nur in einer einzigen Weise ausdrückbar, eine Auswahl also unter diesem Gesichtspunkt ausgeschlossen sei (Marcus 1973: 48). Das bedeutet, daß jeder zu analysierende literarische Text ein geschlossenes Diskursuniversum darstellt, dessen verschiedene Ebenen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Organisation untersucht werden können. Bezogen auf die oben gegebene Stildefinition liegt hier ein Sonderfall vor, weil die Auswahl aus der Gesamtheit aller möglichen Zeichen zusammenfällt mit dem realen einzig möglichen Text im Bereich der poetischen Sprache. Der untersuchte Text ist exemplarisch für ein gesamtes Zeichensystem. Nichtliterarische Texte werden auch von der Hermeneutik untersucht, die in ihrer klassischen Version die Intentionen des Senders auf der Basis schriftlicher Texte zu rekonstruieren versucht (vgl. Art. 131). In den meisten Fällen ist der Sender nicht mehr er-
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
reichbar, und seine kommunikative Situation (unter welchen Bedingungen der Sender lebte und unter welchen Umständen seine Texte entstanden sind) ist nicht mehr bekannt, nur der Text ist noch vorhanden (vgl. Ricoeur 1965, Gadamer 1971). In ähnlicher Weise wie schon Boeckh (1877) die Aufgaben der Philologie formulierte, bestimmt Betti (1967) die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften. Im Rahmen beider Ansätze werden Metatexte produziert, die etwas über andere Texte (Objekttexte) aussagen. Philologie (vgl. Boeckh) und Hermeneutik (vgl. Betti) als Metawissenschaften sind spezielle Ausprägungen einer allgemeinen Wissenschaft der Textinterpretation. Ihr Ziel ist es, methodisches Grundlagenwissen für diejenigen Disziplinen (wie etwa Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft, Theologie, Volkskunde, Ethnographie usw.) bereitzustellen, die Texte analysieren und interpretieren müssen. 3.2. Rhetorik, Stilistik und Poetik als Werkzeuge der Textproduktion Rhetorik, Stilistik und Poetik geben nicht nur für die Textinterpretation, sondern auch für die Textproduktion wichtige Hilfestellungen. Das ist besonders evident bei der antiken Rhetorik, die für die Rednerschulung eingesetzt wurde; es gilt aber auch für die Rhetorik des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel ist die Schulrhetorik von Lausberg (1960, 1967). Eine Bewegung von beträchtlichem Gewicht in den Geistes- und Sozialwissenschaften der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts war die New Rhetoric von Richards und Burke. Richards (1928, 1936) plädiert für einen psychologischen Ansatz in der Literaturwissenschaft. Burke definiert in A Grammar of Motives (1969) die Rhetorik als Lehre vom bewußten oder unbewußten Gebrauch verbaler und nonverbaler Zeichensysteme zur Erzielung einer Identifikation zwischen den Kommunikationspartnern. Die Wirkung konkurrierender Darstellungsweisen komplexer Sachverhalte auf das Publikum von Rundfunk- und Fernsehsendung erforschten Hovland und Mitarbeiter (1953). Mit der Klassifikation von Argumentationstypen und der Auswahl und Art der Prämissen befaßten sich unter Rückgriff auf die antike Rhetorik Perelman und Olbrechts-Tyteka (1969, 1979 und 1980). Naess (1975) ging es um die logische Struktur von Argumentationen und um Wege zu deren sprachli-
1615
cher Realisierung. Toulmin (1975) erarbeitete eine Klassifikation verschiedener Weisen des Begründens einer Äußerung und faßte sie in einem Argumentationsschema zusammen, welches er an die Stelle des antiken Argumentationsschemas und des logischen Erklärungsmodells setzte (vgl. Öhlschläger 1979). Die hermeneutisch-kritische Rhetorik von Jens (1979) und Kopperschmidt (1978, 1980) sowie die hermeneutisch-philosophischen Ansätze von Gadamer (1971) und Habermas (1981) liefern normative Theorien der rationalen Argumentation in der sozialpolitischen Auseinandersetzung und wollen dabei Überredung durch Überzeugung ersetzen. Da die mündliche Kommunikation in Rhetorik, Stilistik und Poetik lange unbeachtet blieb, weil Texte in erster Linie schriftlich fixiert sein mußten, um als Texte akzeptiert zu werden, ist die nonverbale Kommunikation in den rhetorischen Textproduktionslehren des 19. Jahrhunderts nur am Rande behandelt worden. Doch erschienen etwa gleichlaufend mit der Erweiterung des Textbegriffs seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr Publikationen, die im Rahmen der Rhetorik Ratschläge sowohl zur Erweiterung der allgemeinen Sachkompetenz des Textproduzenten als auch Hinweise zu effektivem Verhalten (Kleidung, Mimik, Gestik) in alltäglichen Kommunikationssituationen geben wollen. Gestik und Mimik sind ein wichtiger Faktor in der interkulturellen Kommunikation. In Politik und Wirtschaft, im Journalismus und in den Massenmedien, die heute zunehmend die Grenzen zwischen den traditionellen Kulturen überschreiten, werden Texte direkt mündlich produziert bzw. schriftliche Texte mündlich mit unterschiedlicher Mimik und Gestik vorgetragen (vgl. Raffler-Engel 1980, Schubert 1982). Wie Sprachen sind sie an bestimmte Kulturen gebunden. Jedoch hat nicht jedes Sprachsystem dasselbe System von Mimik und Gestik (vgl. Kanayama 1983, Poyatos 1986). Bei einem Vergleich der Fernsehnachrichten in den nordischen Ländern (z. B. Norwegen, Schweden, Finnland) mit denen in Deutschland, Frankreich oder Holland zeigen sich große Unterschiede in Mimik und Gestik beim Vortrag der Nachrichtentexte. In den nordischen Ländern ist die Mimik der Nachrichtensprecher sehr sparsam, Handbewegungen sind selten, die gesamte Körperhaltung ist eher unbeweglich. Demgegenüber zeigen die französischen Sprecher ausgeprägte Gesichtsbewegungen
1616 und verändern häufig die Körperhaltung. Intendierte nonverbale Zeichen müssen daher von den Sendern erlernt werden, zum Beispiel als integrativer Teil im Fremdsprachenunterricht (Ward und Raffler-Engel 1980). Auch in der theoretischen Semiotik wurden derartige Probleme seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zumindest terminologisch differenzierter erfaßt. Die Morrissche Definition von Pragmatik als Zweig der Semiotik, der das Verhältnis der Zeichen zu den Benutzern behandelt (Morris 1938 ⫽ 1971: 43), wurde zum entscheidenden Ausgangspunkt für die textsemiotische Forschung (vgl. Art. 113). Morris unterscheidet sprachliche Zeichen, die immer zu einem bestimmten Zweck produziert werden, von Signalen und Indikatoren. Ekman und Friesen (1969) erweitern das zu betrachtende nonverbale Instrumentarium, indem sie Embleme (sprachlich paraphrasierbare Gebärden) von Illustratoren (erläuternden Körperbewegungen), Regulatoren (die anzeigen, wer das Wort erhält) und Adaptoren (Berührungen von Objekten und Personen) unterscheiden. Einen wichtigen Beitrag zur Bewußtmachung des Redeverhaltens leisteten auch die Handlungstheorie (vgl. Goldman 1970 und Grice 1975) und die Sprechakttheorie (vgl. Austins Buch How to Do Things with Words von 1962 sowie Searles Speech Acts von 1969). Die Auffassung, daß Sprechen intentionales Handeln sei, führte zu einer Umorientierung im Bereich der Stilistik. Sprachliche Handlungen werden nun in ihre Teilhandlungen zerlegt: a) Äußerungsakt, b) Illokutionsakt (Zuschreibung eines Handlungstyps wie Aufforderung, Behauptung, Frage usw.), c) propositionaler Akt mit den Teilen Referenzakt (für das Bezugnehmen auf Gegenstände im weitesten Sinn) und Prädikationsakt (für das Zuschreiben von Eigenschaften, Aktivitäten usw.) und d) Perlokutionsakt (Handlungskonsequenzen); vgl. Sandig (1986: 56). An die Arbeiten von Austin und Searle knüpfte sich eine breite Diskussion zur Sprechakttheorie unter anderem von Wunderlich und Maas mit den programmatischen Sammelbänden Linguistische Pragmatik (Wunderlich 1972) und Pragmatik und sprachliches Handeln (Maas und Wunderlich 1972). Die Forderung, die Sprachwissenschaft müsse sich „mit der Analyse und Kritik von Kommunikationszusammenhängen, Interaktionsprozeduren und Sprachbewußtsein in den verschiedenen menschlichen Gesellschaften“ beschäftigen (Wunderlich 1976:
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
13), machte die Linguistik zu einer textsemiotischen Disziplin, die textproduzierende Verfahren untersucht und damit zumindest für sprachliche Texte eine eigenständige Rhetorik und Stilistik überflüssig macht, weil sie in diesen theoretischen Ansatz integriert erscheinen. Die Sprechakttheorie, die auch als „Pragmatische Stilistik“ bezeichnet wird (Sowinski 1991: 46), orientiert ihre Textanalysen an real möglichen Texten der Kommunikation einer Gesellschaft, wobei den Texten Intentionen und Wirkungen zugeordnet werden. Interessant ist weiter, daß fast ausschließlich die Produktion nichtliterarischer Texte untersucht wird (vgl. etwa die auf der Sprechakttheorie basierende Texttypologie in Rolf 1993). Literarische Texte werden nur in dem Maße einbezogen, in dem sie ähnliche Intentionalität wie Alltagstexte aufweisen oder solche Texte nachahmen, z. B. politische Lyrik, Dialoge in dramatischen Texten u. ä. Die Beschreibung von Sprechakten berücksichtigt eine Reihe von Elementen der Textproduktion, die bisher nur wenig beachtet worden waren: 1. Die Textproduktion wird dahingehend untersucht, welche kontextuellen Faktoren notwendig sind, um einen Text mit einer bestimmten Intention zu produzieren. Diese Faktoren werden „textexterne kommunikative“ Faktoren genannt. 2. In der Sprechakttheorie wird angenommen, daß verschiedene Kodes Verschiedenes beim Empfänger bewirken können. Erfolgreich waren dabei Untersuchungen an überschaubaren Texten wie Horoskopen, Wetterberichten, Kochrezepten und Werbetexten, für die eine klare Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen der Handlungsanalyse und der Stilanalyse nachweisbar ist (vgl. Stolt 1974, Ehlich 1981, Hoffmann 1983, Ermert 1987, Rolf 1993). Der handlungstheoretische Ansatz hat in der Stilistik die Verfahren zur Textproduktion nichtliterarischer Texte (verschiedene verbale Kodes können Verschiedenes bewirken) und Verfahren zur Analyse und Interpretation literarischer Texte deutlich voneinander getrennt. Eine Wissenschaftsrichtung, die parallel mit dem handlungstheoretischen Ansatz betrieben wurde und sich ihm heute inhaltlich nähert, ist die Funktionale Stilistik. Der Begriff des Funktionalstils ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts von tschechischen und russischen Linguisten entwickelt worden. Er geht zurück auf die Untersuchungen der Prager Schule (Mathesius, Havra´nek, Rypka,
1617
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik
Trnka u. a.) und des Petersburger Forscherkreises OPOJAZ (Jakobson, E´jxenbaum, Sˇklovskij, Tynjanov u. a.). Ähnlich wie erst später die Sprechakttheorie geht schon die Funktionale Stilistik von der Einsicht aus, daß die Verwendungsweise der Sprache in der gesellschaftlichen Kommunikation verschiedene Funktionen aufweist. Der Terminus „Funktion“ steht für alle Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer. Aber im Unterschied zur Tradition von Morris, Austin und Searle werden zusätzlich zwei Komponenten betont: 1. die historische Komponente (sprachliche Verhaltensweisen sind bis zu einem gewissen Grade historisch bedingt); 2. die soziale Komponente (das Verhältnis des Senders zu seiner Arbeit in der Gesellschaft gilt als bestimmend, zum Beispiel für die Sprachverwendung in Wissenschaft, Technik, Verwaltung, Handel, Rechtspflege, Alltagsgesprächen, schöner Literatur; vgl. Fleischer und Michel 1979). Die russische (sowjetische) Funktionale Stilistik (Vinogradov, Kozˇina, Murat, Sorokin, Skrebnev, Gal’perin, Riesel u. a.) kann sich auf umfangreiche empirische Textanalysen stützen. Vinogradovs Stildefinition wird allgemein akzeptiert: Stil ist das Verhältnis von Sprachnorm und funktional bedingten Variationsmöglichkeiten (Vinogradov 1955: 73). Der Normbegriff spielt in der russischen und tschechischen Sprachforschung wissenschaftshistorisch eine wichtige Rolle (Serebrennikow 1973: 454). In ihrem Kern ist die Funktionale Stilistik der Versuch, die gesellschaftliche Sprachpraxis in verschiedene Bereiche mit unterschiedlichen Funktionen zu gliedern. Die Gliederung ist außersprachlich und durch soziologisch-kulturelle Konventionen festgelegt. Die Abgrenzung der einzelnen Funktionalstile ist ständiger Gegenstand des wissenschaftlichen Meinungsstreits innerhalb dieser Wissenschaftlergruppe. Riesel (1970, 1975) zum Beispiel legt fünf Funktionalstile fest: 1. Stil der öffentlichen Rede, 2. Stil der Wissenschaft, 3. Stil der Presse und Publizistik, 4. Stil der Alltagsrede, 5. Stil der schönen Literatur. Ähnlich wie in der Textsortentypologie und der Sprechakttheorie sollen hier Texte typologisch geordnet werden. Eine Klassifizierung nach textimmanenten Merkmalen ist ausgesprochen schwierig, weil es kein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen einer Klasse von Textmerkmalen und einem Wirklichkeitsbereich gibt. Selbst einzelne Textmerkmale, die so konventionalisiert sind, daß sie in einem Wirklichkeitsbereich besonders
häufig auftreten, sind mehrdeutig: Die Routineformel Lieber Alexander! kann de facto in einem Brieftext erscheinen, aber auch im mündlichen Dialog oder im Monolog. Die Unterscheidung von literarischen und nichtliterarischen Texten ist bisher unter anderem durch ihre Institutionalisierung erklärt worden. Literarische und nichtliterarische Texte können aber auch danach klassifiziert werden, ob sie fiktional oder nichtfiktional sind. Häufig unterscheidet man fiktionale und nichtfiktionale Texte, weil man die Opposition von Wirklichkeit und Fiktion als eine der Elementarstrukturen unseres Wissens ansieht. Das setzt voraus, daß fiktionale Texte nur fiktional sind, während nichtfiktionale Texte reine Wirklichkeitsdarstellungen sind. Es gibt aber auch Texte, die Reales und Fiktives in ein Verhältnis zueinander setzen und doch literarische Texte sind. Deshalb ist die Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeitsdarstellung durch die dritte Kategorie des Imaginären erweitert worden (vgl. Iser 1991).
4.
Parametrische Texttypologie
4.1. Der linguistische Ansatz Der Textbegriff hat kultursemiotisch und textlinguistisch verschiedene Parameter. Die Textlinguistik beschäftigt sich mit universellen Merkmalen verbaler Texte. Sie ist bestrebt, eine Textgrammatik zu schaffen, die die spezifischen Konstitutionsbedingungen der Texte aus semantischer, pragmatischer und formaler Sicht im Hinblick auf eine umfassende Texttypologie beschreiben kann. Dabei kommt es oft zu unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs des sprachlichen Textes: a) Der Text kann als eine abstrakte Einheit, ein Konstrukt aus bestimmten gemeinsamen Eigenschaften betrachtet werden, die allen konkreten Texten (Texttoken) gemeinsam sind. Diese Eigenschaften machen seine Textualität aus. Van Dijk (1977) bezeichnet diese theoretische Einheit als „text“ im Unterschied zum „discourse“ der konkreten Textproduktion und -rezeption. b) Der Text ist ein sprachliches Produkt der Performanz, „a unit of language in use. It is not a grammatical unit, like a clause or a sentence; and it is not defined by a size“ (Halliday und Hasan 1976: 1). Die kommunikative Funktionalität ist zentral für die Bestimmung der Textualität (Gü-
1618 lich und Raible 1977, Isenberg 1977, Oomen 1979), weil die textinternen, rein sprachlichen Kriterien der Textualität für die Erklärung von Verschiedenheiten bei Textvorkommen nicht ausreichend sind. Die Textlinguistik gibt daher nur eine Teilbeschreibung der Konstitutionsbedingungen; komplett können sie nur unter Hinzuziehung textexterner Merkmale klassifiziert werden. Der Text ist eher eine Abfolge geschriebener oder gesprochener Elemente, die als ein Ganzes funktionieren, welches aufgrund mehrerer, zumeist außersprachlicher Kriterien klassifiziert wird (vgl. Petöfi 1973). Seit dem Aufkommen der Textlinguistik ist deren Verhältnis zur Stilistik wiederholt diskutiert worden. Die Stilistik, soweit sie sich auf die deskriptive Analyse von Einzeltexten konzentriert, kann als Vorgängerin der Textlinguistik angesehen werden (Sowinski 1983: 20). Man versucht aber auch, die Stilistik mit der Textlinguistik enger zu verbinden, indem man sie der Textlinguistik unterordnet ⫺ entweder als Teilgebiet, wobei Stil als die „Art und Weise der Konstitution von Texten“ (Harweg 1972: 71) definiert wird, oder als ergänzende Paralleldisziplin zur Textlinguistik (vgl. Enkvist in Dressler 1978: 174 ff). In jedem Fall beschäftigen sich Textlinguistik und sprachbezogene Stilistik mit dem gleichen Gegenstand, dem sprachlichen Text und seinen Merkmalen; nur ihre Ansatzpunkte sind verschieden. Die Stilistik analysiert etwa die verschiedenen Stilfiguren (Wort-, Stellungs-, Satzfiguren u. ä.). Die Textlinguistik hingegen interessiert sich insbesondere für textgrammatische Kategorien und Erscheinungen (Deixis, Satzverknüpfung, Thema-Rhema-Beziehungen u. ä.) und nutzt sie zur Interpretation von Einzeltexten. 4.2. Der kultursemiotische Ansatz Texte sind Bestandteile einer jeden Kultur. Sie sind mit Merkmalen versehen, die sie als zu dieser Kultur zugehörig ausweisen. Texte funktionieren innerhalb einer Kultur nicht nur einzeln als Textindividuen, sondern zugleich als Mitglieder eines Typs. Diese semiotischen „Texttypen“ ⫺ nicht zu verwechseln mit „Textsorten“ bei Gülich und Raible (1975) oder mit „Textgenres“ bei Hempfer (1973) und Segre (1980) ⫺ können sowohl analysiert und interpretiert als auch in andere Kulturen übersetzt werden. Für jeden inviduellen Text gibt es Vorläufer, denen dieser Text in einer bestimmten Weise ähnlich ist, jeder neue Text ist daher zugleich ein Nach-
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folger von schon existierenden funktionsähnlichen Texten (vgl. Bachtin 1979). Das gilt auch für solche Texte, die mit ihrem Vorläufer brechen wollen. Auch ein Ausbrechen aus einem Texttyp hinterläßt ja Spuren, an denen die Herkunft des Ausbrechers rekonstruiert werden kann. Beispiele dazu liefern sowohl ästhetische als auch nichtästhetische Texte: z. B. die Bilder von van Gogh, die Romane von Joyce, neue Werbevideos u. ä. Ein neuer Text kann nur dann als solcher erkannt werden, wenn die äußeren und inneren Regeln der Textproduktion für diesen Texttyp rekonstruierbar sind (vgl. Rozˇdestvenskij 1979). Der neue Text muß sich an die neue Umgebung anpassen, d. h. Merkmalen gerecht werden, die seinen Platz in der Menge der funktionsgleichen Texte sichern können (vgl. A. Pankow 1993). Die Vielfalt von Texttypen variiert nach einzelnen Kulturen. Man kann davon ausgehen, daß eine Kultur im Laufe ihrer Entfaltung immer mehr Typen von Texten schafft, die im Zusammenhang mit der Zunahme der Kommunikationsfunktionen in dieser Kultur stehen. Texttyp und Funktion stehen in Wechselwirkung zueinander (vgl. Lotman 1981, 1982). In den einzelnen Texttypen setzt sich der Mensch mit der Welt unterschiedlich auseinander. Ein und dasselbe Objekt oder ein und derselbe Sachverhalt (z. B. Sprache, Staat, Urwald, Liebe, Morgenstern, schwarze Löcher) können aus physikalischer, soziologischer oder ästhetischer Sicht beschrieben werden. Kulturen, die dies ermöglichen, nennt Lotman „syntagmatisch aufgebaut“. Kulturen mit „paradigmatischem Aufbau“ weisen hingegen eine strenge Hierarchie von Texten auf, die zu jedem Wirklichkeitsbereich jeweils nur einen verbindlichen Zugang ermöglichen. Für jeden Funktionalbereich gelten andere Inhalte und Formen, die durch Konventionen festgelegt sind. Wird gegen diese Regeln verstoßen, ist für diesen Funktionalbereich die Mitteilung ungültig; zum Beispiel wird ein Bewerbungsschreiben in Form eines Sonetts nicht als Bewerbung akzeptiert. Entsprechend kann man nach Lotman eine Kultur insgesamt als die Menge der Texte einer Gesellschaft auffassen (paradigmatischer Aufbau) oder als die Menge der Funktionen, die Texte in dieser Gesellschaft haben können (syntagmatischer Aufbau). Im ersten Fall kommt den in einer Kultur auftretenden Texten zusammengenommen nur eine einzige Funktion zu: die des Metatexts; im zweiten Fall ergibt sich aus der Vielfalt der
1619
80. Zeichenkonzeptionen in Rhetorik, Stilistik und Poetik Kultur als Gesamtheit von Texten (Metatext)
Einzeltext 1 Einzeltext 2
...
Einzeltext 3
Einzeltext n
Kultur als Gesamtheit von Textfunktionen (Metafunktion)
Funktion 1
Funktion 1
Funktion 2
Funktion 2
Funktion 3
Funktion 3
...
Funktion n
Funktion n
Abb. 80.7: Lotmans Kulturtypologie.
Funktionen eine Vielfalt von semiotischen Texttypen. Säkularisierte Gesellschaften sind mehr syntagmatisch aufgebaut, während Gesellschaften, die stark durch Religion oder Ideologie bestimmt sind, eher einem paradigmatischen Textaufbau folgen. In der Sowjetunion wurden z. B. alle wissenschaftlichen Bibliographien mit einer Arbeit von Lenin, Marx und Engels (in dieser Reihenfolge!) eingeleitet, erst dann wurde die verwendete Literatur in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Dabei brauchten diese Arbeiten für die Untersuchung im engeren Sinne nicht relevant zu sein und durften sogar disziplinfremd sein. Nach Lotman (vgl. 1981) liegt erst dann ein Text vor, wenn er sich von einem Nichttext abgrenzen kann. Er muß bestimmte Konstitutions- und Realisierungsbedingungen erfüllen, um als Text gültig zu sein. Diese Bedingungen sind historisch variabel. Gewisse Anforderungen können an materielle Realisationsbedingungen gestellt werden, zum Beispiel daß die Äußerung auf Stein- oder Lehmplatten (z. B. Babylon 2000 v. Chr.), auf Pergament (z. B. Italien 500 n. Chr.), auf Papier (z. B. Rußland 1900 n. Chr.) oder in elektronischen o. ä. Medien (z. B. Schweden 1990 n. Chr.) gespeichert ist; daß ein Dokument mit einer Unterschrift versehen ist; daß ein bestimmter Typ von Äußerungen nur in bestimmten Situationen vorkommt (Parlamentsrede im Parlament und nicht im Auf-
zug) usw. Der kulturbezogene Textbegriff setzt dort an, wo die sprachliche Realisierung als Tatbestand allein nicht mehr als hinreichend, ja nicht einmal mehr als notwendig dafür erachtet wird, daß das Äußerungsergebnis als Text gilt. Demzufolge können die in einer Gemeinschaft im Umlauf befindlichen Mitteilungen als Nichttexte aufgefaßt werden, vor deren Hintergrund sich eine Gruppe von Texten im emphatischen Sinne abhebt, die Merkmale einer zusätzlichen, im System der betreffenden Kultur signifikanten Realisierung aufweisen (Lotman 1981: 35). Um den Bedingungen eines Textes zu entsprechen, muß er als Äußerung in einem bestimmten Kode nicht-kodebestimmte Merkmale aufweisen, die ihn in das System der jeweiligen Kultur einordnen. Dies hat eine praktische Bedeutung für die Kontinuität der Kultur, denn zu einem Kulturbestandteil können nur solche Mitteilungen, Äußerungen, Artefakte werden, die ein akzeptiertes Zeichensystem realisieren. Was sich außerhalb eines solchen Zeichensystems befindet, ist kulturell nicht markiert und bleibt dadurch in gewissem Sinne kulturindifferent (Inschriften in nicht dechiffrierten Sprachen, Artefakte ohne nachweisbare kulturelle Herkunft und Verwendung). Äußerungen, die diesen Parametern nicht entsprechen und somit den Realisierungsbedingungen eines Textes nicht gerecht werden, sind aus dieser Sicht Nichttexte. Sie sind nicht in das Kodesystem
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der jeweiligen Kultur einbezogen und befinden sich außerhalb der Kultur (vgl. Rozˇdestvenskij 1979). Das zweite signifikante Merkmal eines Textes ist sein Geltungsanspruch. Der Text muß seinem Empfänger durch bestimmte typenspezifische Merkmale eine unmißverständliche Funktionszuordnung ermöglichen. „In der Sphäre, in der eine bestimmte Äußerung als Text figuriert (ein Gedicht etwa gilt nicht als Text im Bereich der Festlegung der wissenschaftlichen, religiösen oder juridischen Position der Gemeinschaft, sondern im Bereich der Kunst), wird ihr Geltung zugeschrieben“ (Lotmann 1981: 38). Die Beschreibung der Textvorkommen einer Kultur muß sich nach dieser Konzeption auf drei Ebenen vollziehen: a) Beschreibung der subtextuellen Mitteilungen, b) Beschreibung der Kultur als System von Texten, c) Beschreibung der Kultur als System von durch Texte realisierten Funktionen. Dies eröffnet die Möglichkeit, Textvorkommen nach bestimmten Typen zu klassifizieren, die die semiotische Realisierung bestimmter kultureller Funktionen normieren. Die Vielfalt von Funktionen und die Funktionalität der Texte bestimmen den Charakter einer Kultur und nehmen im Laufe ihrer Entwicklung meist zu. „Ein Zustand, in dem alle Texte nur noch auf ihre sprachliche [gemeint ist: „kodierte“, C. P.] Bedeutung reduziert werden, entspricht einer Liquidierung der Kultur“ (Lotman 1981: 38).
5.
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81. Sign conceptions in music from the 19th century to the present 1. Introduction 2. Signs in music itself 2.1. Romanticism 2.2. Modernism 3. The history of musical scholarship in the light of semiotics 4. Main lines in the development of musical semiotics 5. Selected references 5.1. Sources: composers with works discussed 5.2. Secondary literature
1.
Introduction
One can say with full reason that in Western civilization the period from the nineteenth century up to modern times is characterized by the breakthrough and flourishment of semiotics, in the proper sense. Nevertheless, in music history, which rather seems to follow its own inner laws, no phenomenon emerges unprepared, and the foundations of
1626 a style and of compositional techniques can always be traced back to earlier periods (cf. Art. 54 and Art. 68). When thinking about music history in the light of semiotics, one has to state straightforwardly that the ‘semioticity’ of music, either implicit or explicit, depends almost entirely on what one considers semiotics to be and how one defines it. In this article, which, after a short look backwards, focusses on the period from Romanticism to our time, the semiotic nature of music is defined in a relatively flexible way, borrowing concepts and terms from various schools, even ones which are contradictory in their mutual relations. The emphasis here lies on the material that is empirically given. It is the data of music history, which I will try to describe in the light of semiotics. Therefore I may take sign categories like “icon”, “index”, “symbol”, etc. from Peirce (cf. Art. 100), adopt notions like “seme”, “isotopy”, “modalities”, “disengagement/engagement” from Greimas (cf. Art. 119), employ Lotman’s view on culture as a text (cf. Art. 118), Eco’s distinction between structures of communication and signification (cf. Art. 120), and integrate all these approaches in the framework of the present Handbook. My intention is to determine the concepts used through the way I am using them where they first occur in my overview, and the reader who wants to become more deeply familiar with them should address him/herself to other articles in this Handbook or to the publications referred to in the bibliography (cf. § 5.2.). In other words, I am not strictly applying my own theory of musical semiotics here, but taking a more general and ‘objective’ standpoint. However, it would be erroneous to think that music became a semiotic phenomenon only with Romanticism, when it was experienced as an index for the personal emotions felt by a composer. Also in the Baroque era, music was said to signify, when it produced detailed figures that conveyed passions de l’aˆme (see Descartes 1649), i. e., affects which were of universal character and not personal, concrete, local feelings on the sender’s part of the musical message. In general, it is true that music is essentially a non-representational art (cf. Art. 121 § 2.2.). It is based upon the auditive organ, which is more self-related (“ich-bezogen”) than the ‘objective’ visual sense, and therefore stands less in representation of outer reality, functioning not so much as a sign for external phenomena as the visual arts. On the
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
other hand, during its various stylistic periods, music has always been more or less related to extra-musical reality, and has been semantic by its very nature of transmitting messages. In the alternation of musical styles, in their conflicts and pendular movements, one can see how certain semiotic functions of culture defined by Yury Lotman are realized, how certain texts and principles are ‘forgotten’ or ‘destroyed’ whereas other aspects are elevated to a status of ruling over the whole musical culture (see Lotman et al. 1975). We could in this way interpret the shift from the Renaissance to Baroque on the basis of dichotomies such as the following (Renaissance / Baroque): 1) one style / many styles; 2) moderate interpretation of a verbal text (so-called “madrigalism”) in vocal music / absolutizing the verbal text (such that the affects contained in it determine the music); 3) equivalence of parts / polarity of parts; 4) diatonic melodies (i. e., using tones of the major-minor scale) moving in a narrow range / chromatic melodies moving in a broad range; 5) modal counterpoint (chords resulting from a leading voice) / tonal counterpoint (parts written against a chordal background); 6) intervallic structures (dissonances counted from the bass) / chordal structures (dissonances counted from the ground tone); 7) permanent tempo (with the heartbeat as its basic unit) / variation of tempos (with rhythmic extremes); 8) un-idiomatic composing (i. e., same music for all instruments) / idiomatic composing (with different instruments and vocal parts having their own character, thus letting various vocal and instrumental styles emerge). In each of these dichotomies one could, moreover, see reinterpretations and re-evaluations of the semiotic processes underlying music. For example in Orlando di Lasso’s motet Tristis est anima mea sadness is depicted using descending series of chords in fifth relations (Fig. 81.1). Later, such devices develop into true “madrigalisms”, i. e., text interpretations through musical symbols. For instance in the vocal music by Marenzo, Gesualdo and Montedri one may hear ‘departure’ portrayed with chords in third relations (Fig. 81.2). In such musical techniques the semiotic nature of music is already a most conspicuous one: music is used as a sign which stands for something to someone.
81. Sign conceptions in music
Fig. 81.1: Passage from Orlando di Lasso’s motet Tristis est anima mea (from the early sixteenth century). Sadness is depicted by the descending series of chords in fifth relations.
One might describe the shift from Baroque to Classicism and from Classicism to Romanticism with similar dichotomies. Baroque / Classicism: polyphonic lines and counterpoint / homophonic texture (i. e., the melodic part is leading, other parts are subordinated to it as its accompaniment); dance suites with the fugue as one central technique / sonata form, etc. The Austrian musicologist Guido Adler illustrated the differences between Classicism and Romanticism (cf. Art. 75 § 2. and 82 §§ 1. and 2.1.) using the following oppositions: Classicism ⫺ by which Adler somewhat unusually understood not only composers from the Viennese Classics such as Haydn, Mozart and Beethoven (whom he called “neuklassisch”, ‘neo-classical’) but also some Renaissance and Baroque composers (whom he called “altklassisch”, ‘archi-classical’) ⫺ was characterized by complete congruence of parts; equivalence of the form processes; economy and mastering of the devices; limiting the expressive power so that a certain level of beauty is never exceeded; integration of the best results of earlier styles (Adler 1911: 225). In contrast, Romanticism revealed itself in the blending of forms; conscious rejection of classical norms; indulgent and uncontrolled manifestations; coloristic effects and tone painting; a programmatic attitude (in contrast to pure or ‘absolute’ in-
Fig. 81.2: In classical madrigals, chords in third relations symbolize ‘departure’.
1627 strumental music); etc. (Adler 1911: 228). Adler’s characterizations permit us to see that shifts from one style to another were not merely surface phenomena of musical discourse, but were related to deep epistemic changes in the worldviews (cf. Art. 65 § 6. as well as Art. 77 §§ 1., 6., and 11.1.) of their proponents. Another musicologist from the Germanspeaking territories, the Swiss Ernst Kurth, defined the difference between the polyphony of the Baroque age and the homophonic melody style of Classicism in the following way: Polyphonic music, whose development coincides with the rise of Protestantism and whose roots extend to the Middle Ages, emerged from the occidental religious striving for supernatural things. Its forms reflect the will for the infinite and the search for redemption. Accordingly, there emerged a polyphonic line-art which aimed at an elevating and sublime polyphonic texture. In contrast, Classical art touches the earthly human consciousness more directly, by emphasizing worldly pleasures and placing man and his nature in their center. From the heavy breath and rich inner elaboration of polyphony, the classical style freed itself into animated song and play. The Classical melody ⫺ which is based on the Lied with its symmetric periodic structures consisting of two, four, and eight bar phrases ⫺ finds its boundaries in ourselves, whereas the polyphonic lines strive for the unlimited. Polyphony aims at mystic development towards the distance, whereas classical homophonic melody draws expressivity as a particular inner quality into itself (“Innigkeit”) (Kurth 1922: 174⫺187). Consequently, for the whole period of Viennese Classics and, to a large extent also for Romanticism, the Classical Lied-type melody became the basic model of melodic expression. One can say that at this time melodies developed into virtual actors and became protagonists of the musical discourse, thus providing music with anthropomorphic features of a sort. This can be taken as the core of the conception of “actoriality” in music (see Greimas’s approach as well as my own publications: Greimas and Courtes 1979: 7⫺ 9; Tarasti 1991 e, 1992 b and 1992 d). As can be seen from these style distinctions, it is extremely difficult to separate implicit musical meaning from the explicit one. Their treatment depends almost entirely on which theory is chosen as the starting-point. Nevertheless, musical practice in the Western
1628
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
context may function as evidence in favor of the profoundly semiotic nature of music. A competent music listener very soon recognizes if the music’s interpreter has or has not realized the semantic differences between different styles. As early as the Baroque era, Franc¸ois Couperin said: “Nous e´crivons diffe´remment de ce que nous executons” (‘we write in a different way from what we perform’; quoted after Veilhan 1977: iii). In other words, music must not be interpreted by slavishly obeying the notation, that is, according to the visual signs of music (cf. Art. 121 §§ 4.2. and 5.2.), but in attaining to those conceptual, aesthetic, axiological and epistemic realities which lie behind them. Music is as inseparable from these cognitive cultural constructs as are the other arts.
2.
Signs in music itself
2.1. Romanticism In contrast to the processes which connect music with external reality, one can concentrate on the purely musical processes. The former are called “extrinsic musical processes”, the latter “intrinsic ones”. As an example take the ‘fate’ motif from Beethoven’s Fifth symphony: its intrinsic properties are the germ for Beethoven’s subsequent music; with its extrinsic properties it is said to signify the knocking of fate on the door. Concerning the intrinsic sign processes of music, the shift between the ages of Classicism and Romanticism was no abrupt qualitative change. The tonal basis of music had already been laid in the previous centuries (cf. Art. 54 and Art. 68). 2.1.1. Harmony, melody, rhythm, timbre When the 19th century began, the tonal system had already reached the status of a hierarchy in which every element was subordinated to the tension between tonic and dominant. Therefore, tonality could not be considered merely as a harmonic entity, but constituted a principle which also determined rhythmics, melodics and musical forms. Nothing could make the normal syntagmatic order of the chords I⫺III⫺VI⫺II / IV⫺V / VII⫺I (including the false cadence V⫺VI) unstable at the beginning of the Romantic era, even if Romanticism is said to mean that the universal tonal language of music starts to break down. On the one hand, this gradual collapse was launched by sign processes intrinsic in the music, when each composer cre-
ated his own variant of ‘tonality’, constantly developing new ways to become distanced from the center of musical ‘narration’, the tonic (Greimas and Courtes 1979: 79⫺82 call this phenomenon “de´brayage”, ‘disengagement’). It thus became more and more laborious to return to the tonic, and finally its attainment was totally given up. On the other hand, this dissolution also took place due to the relationship of music with outer reality. How is tonality to be interpreted in a semiotic sense? In fact, its existence as such can be taken as deep structure of the immanent narrativity of music. The minimal condition for a story is that something becomes something else; Greimas describes this with the formula: S V O, i. e., the subject is ‘disjuncted’ from an object; but it regains it in the course of the narration, i. e., becomes conjuncted with it: S O. In this framework, the chordal movement from a tonic towards a dominant means ‘disjunction’ from an ‘object’, i. e., a tonic; and there also occurs a return to it or a ‘conjunction’ with the object at the end. Greimas’s “subject” and “object” are ‘actants’, i. e., dramatis personae, which he extracted from the Morphology of the Folktale by the Russian formalist Vladimir Propp (1928); originally they appear on the side of other actants, such as “helper”, “opponent”, “sender” and “receiver”; however, to Greimas the concepts of subject and object have additional philosophical implications (see Greimas and Courtes 1979: 3⫺4). Narrativity in music can also become manifest on the surface level of musical discourse as a particular style or ‘gesture’ ⫺ in which sense it has most often been understood by traditional musicologists (Dahlhaus, Adorno, Newcomb, Meyer). As early as the age of Classicism, music developed into a so-called absolute or intrinsic sign language, and its highest forms, the symphony and the sonata form, penetrated even the field of opera. Nevertheless, music was also able to convey extra-musical meanings on its surface level through the so-called ‘topoi’. “Topos” in the Classical style refers to signs from the lower musical styles, i. e., functional music, military music, etc., which are embedded in the surface texture of a musical piece. This role could also be taken by examples of musical styles from earlier periods such as the counterpoint of the Baroque period in the so-called “gebundene” style (with suspended notes) or the so-called “learned style” (see Ratner 1980). In some cases such a topos might have a direct indexi-
81. Sign conceptions in music
cal connection to a certain emotional state, as in the dramatic ‘Storm and Stress’ passages with diminished seventh chords or in the “empfindsame” (‘sentimental’) style, in which the instrumental music imitated the singing quality and intervallic expressivity of vocal music. Even the gracious court culture was depicted by a topos of its own, the socalled “galant” style with many ornamentations (concerning a semiotic approach to the style concept cf. Art. 80 § 12.). However, in the Classical style the presence of topoi, signs referring to extra-musical reality, did not yet in any way disturb the hierarchic tonal construction. When Roland Barthes compared a Classical literary text to a well-ordered linen-cupboard (Barthes 1964), this metaphor could just as well be used for the music of that time. The topoi were there only in order to animate the basic tonal unfolding of a piece. In Romanticism, however, the relationship between music and other artistic discourses intensified, and the impact of literature and painting could be felt more and more deeply in the musical texts themselves. First of all, Romanticism elaborated its own particular topoi. In Franz Liszt’s piano works, e. g., the following topoi can be distinguished (according to Grabocz 1986): 1) the Faustian question ‘why’, i. e., the search for something; 2) pastorality; 3) pantheistic nature feeling; 4) religiosity; 5) storm and macabre struggle; 6) sorrow; 7) heroism. But also more traditional aesthetic categories could appear as musical topoi: the sublime (as rising, slow scale passages ⫺ in the slow movement of Beethoven’s Fifth piano concerto, in the slow movement of Bruckner’s Eighth symphony, in the Grail motif of Wagner’s Parsifal, in the slow movement of Sibelius’s Violin concerto, see Tarasti 1992 a). Naturally, the semiotic mechanism through which such topoi could be heard and distinguished operated with a mixture of iconic and symbolic (i. e., arbitrary or conventional) processes. The iconic form of a Faustian question and its topos may be based on the ascending speech intonations, accompanied by certain bodily gestures, which are iconically imitated in music by a rising melody which does not reach its culmination but is interrupted, causing in this way an expectation on the part of the listener; pastorality was created through the use of certain conventional instruments and their timbres which evoked pleasures of rustic life; moreover, the soft Siciliano dotted triple rhythm
1629 was felt to be pastoral, in the same way as open fifths were considered an imitation of bagpipe bordunas in Musette movements in Baroque dance suites. Thus the semiotic mechanisms for the musical enactment of various topoi were manifold, indeed. Even mythical associations could become recurrent topoi, and composers used them consistently, without collusion: D minor as a demoniac key (beginning as early as Mozart’s D minor concerto for piano) and G minor as a balladic key (Brahms, Liszt, Chopin, Wagner, Glinka; see Tarasti 1979). In some cases the topoi could be of a literary or philosophical origin: the principles of dream and ecstasy crystallized by Friedrich Nietzsche in his Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik were common topoi also in the music of the period (Nietzsche 1872). Nevertheless, the influence of these topical signs of Romanticism did not concern but individual, discrete signs of a musical piece, let them be certain chords, melodic motifs, rhythmic cells or timbres emerging from the orchestration. The syntactic combinations of the topos signs continued to take place according to the tradition stemming from Classicism. The most conspicuous influence which the new emphasis on expressivity had on the structure of music could be found in the cogency of themes in music as one pertinent level of articulation. Since Beethoven’s time, themes were characterized by the following attributes: a) relatively simple chordal background; b) rather clearcut form; c) a sufficiently great number of characteristic elements as to their musical substance. From these units of a theme, i. e., semes regarding the content, and phemes considering the acoustical manifestation (the terms “seme” and “pheme” originate from Greimas and Courtes 1979: 276 and 332⫺334, the former meaning the minimal unit of signification, the latter the minimal unit of phonetic expression), there emerged the compositional principle of the so-called “developing variation” (the concept is used by Arnold Schönberg 1975: 164), which has also been described as a pervasive thematicity of music (Reti 1962). This meant a method of composition by which one was able to derive from one theme an innumerous number of other themes, such that an entire composition could be integrated as one series of variants of the same theme, which thus achieved the status of a type or legisign (the terms “legisign” and “sinsign” come from Peirce: a le-
1630 gisign is a sign that serves as a rule for elaborating other signs, which, in turn, are called “sinsigns”, i. e., ‘single signs’). The classical example for this way of composing is the E flat major tonic chord opening Beethoven’s Eroica, and the so-called ‘fate’ motif of his Fifth symphony. On the plane of tonal relations, this thematicity serves as a factor which can unite sections (or phrases) which are very far from each other in time. For example, according to Jürgen Uhde’s analysis, all the movements of Beethoven’s Piano sonata op. 109 E major are based upon a thematic legisign consisting of two superimposed, falling major thirds used as the Lied theme of the last movement. This motif looms in the background as a hidden principle throughout the two first movements, but remains uncovered by the listener such that when the Lied theme bursts out the listener realizes that all music previously heard in the sonata had been nothing but a kind of ‘not yet’ in the piece (Uhde 1974: 467). In the age of Romanticism the idea of thematicity is maintained and finds even more emphasis as a force making the musical syntagm cohere while the tonic-dominant hierarchy weakens (the mere fact that Romantics started to favor key changes with third relations instead of fifths meant a weakening of the tonal hierarchy). At the same time themes are permitted to function as carriers of extramusical messages ⫺ they become signs of certain narrative protagonists popular in the time of Romanticism (narrative protagonists are called “actors” in the so-called “actantial model” of Vladimir Propp and Greimas, see Greimas and Courtes 1979: 3 f). When a theme is taken to be the description of the character of a certain actor, then it loses part of its structural value, whereby possibilities of its further development are reduced. The Romantics started to privilege themes that are Lied-like and can therefore be accomplished on their first hearing, thus having an immediate impact by portraying their object iconically, indexically and symbolically. But themes could then no longer be used so efficiently as a unifying force for the musical texture. Schubert’s Wanderer-Phantasie is a case in point. In the latter half of the nineteenth century when the functional harmony dissolved, themes assumed more crucial roles in the conception of musical form, as a fulcrum for the listener in the constantly varied modulations. This is the function of the Wagnerian
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
leitmotifs in the inner texture of his late style’s “musical prose” (Danuser 1975), which he considered an art of a continuous transition (of course there are also other cases, for example when Wagner employed his leitmotifs completely thematically, putting them into various new combinations not immediately recognized by a listener). With respect to harmony, Romantic music started to become an indexical enactment of emotions. The emotional values of dissonance and consonance ⫺ euphoric and dysphoric moods ⫺ gradually began to change: dissonance, a constant, unresolved dominant tension was no longer experienced merely as something unsatisfactory but as sweet and tempting. In his Oper und Drama, Richard Wagner described his harmonic devices and illustrated them by the phrase “Liebe bringt Lust und Leid ” (‘Love brings pleasure and suffering’), thus exemplifying a mixed sensibility: “[…] so that the musician would feel himself inclined to move from the key corresponding to the first feeling to another, second feeling. The word Lust […] would in this phrase contain a completely different tone than in the other one […]. The tone sung with it would necessarily become a leadtone determining another key, in which the word Leid is expressed” (cf. Wagner: Gesammelte Schriften, vol. 10⫺11: 260). By “leadtone” Wagner here does not mean the musical term in its proper sense, but takes it as referring to an entity that bridges modulations to another key (i. e., another “isotopy” in the sense of Greimas). Moreover, if the afore-mentioned phrase were to be continued by another one such as: “Doch in ihr Weh webt sie auch Wonnen” (‘However, into its woe it also weaves delight’), this would mean that the word webt would contain a modulation back to the first key to which we would, however, return one experience richer. In Wagner’s example, one and the same melodic phrase therefore subtly conveys several emotional states (cf. Greimas’s and Fontanille’s 1990 approach to the “modulations of passions”), and functions as an index to euphoric and dysphoric feelings. In another essay, Über die Anwendung der Musik auf das Drama, Wagner takes a further example from Elsa’s dream in Lohengrin (cf. the Nietzschean dream topos), in which seven different keys are passed by in a period of eight bars, which nonetheless returns to the beginning key (Wagner: Gesammelte Schriften, vol. 12⫺14: 297; cf. Fig. 81.3).
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81. Sign conceptions in music
Fig. 81.3: The harmonic modulations in Elsa’s Dream from the opera Lohengrin by Richard Wagner.
With this example Wagner illustrates his compository principle that one has to stay within the same key as long as there is something to say in it. Such literary utterances by Wagner are insofar rare as, regardless of the fact that Romantic artists were very prolific in a literary sense, they tended not to reveal their professional secrets, i. e., how they really wrote music or which were the intrinsic sign processes in their compositions. In their tractates they moved almost exclusively on the level of musical signifieds, paying only little attention to their signifiers (the distinction “signified / signifier” is here to be taken in the sense of Saussure 1916). The role of harmony in Romantic music can justly be portrayed as offering a signifier / signified relation, in the sense that the audible harmonies were only emanations of human psyche, and particularly its “will” (Schopenhauer 1818 ⫽ 1879: II, 582). Harmonies thus possessed quite clearly a sign content, a signified, which motivated them. For instance in the Wagnerian operas certain chords acquire a symbolic value when they express or describe some narrative topos. In Lohengrin the mere A major tonic conveys the sphere of the Grail, in the Ring des Nibelungen the chords of the Walhalla motif are firmly anchored in D flat major, the sword motif mostly appears in C major, etc. But at the same time, the chords still had their syntagmatic and paradigmatic dimensions: they
could well be simultaneously tensional when they were syntagmatically joined to a chain of chords, but also attract the ear by their color. Regarding this latter aspect, composers had many paradigmatic variations on their palette. As a typical illustration, one can take the so-called enharmonically altered chords, in which the color effect is created by alternation of two distant chords. The chords in Boris’s coronation scene in Musorgsky’s opera Boris Godunov (Fig. 81.4a) and the brass signals in Rimsky-Korsakov’s Scheherazade (Fig. 81.4b) function according to this principle. In some cases the chords can be both tensional and coloristic (see LaRue 1970), as in the death motif in Wagner’s Valkyrie, in which the effect of the gloomy, frightening and strange is created by combining the tonic chord of D minor and the dominant seventh chord of the F sharp major. ⫺ The major / minor alteration could alone function as a sign such as Brünnhilde’s greeting of the sun with its consecutive A major and a minor tonic chords (Siegfried’s III act). In general, the harmonic development in a piece of music was often meant to express the unconscious sphere. Wagner’s famous Tristan chord, of which there are innumerous analyses and interpretations, is naturally in the first place a tensional chord with its appoggiaturas, but it also serves as a symbol of longing in the whole opera. Interpreting “life
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Fig. 81.4a: Enharmonic devices in the chords depicting Boris’s coronation in Boris Godunov by Modest Musorgsky.
Fig. 81.4b: Enharmonic chord alterations in the fanfares from Rimsky-Korsakov’s Scheherazade.
as a prelude to some unknown song of which death plays the first notes” (cf. Lamartine’s poem, which Liszt used as the motto of his symphonic poem Les Pre´ludes), the Romantics thought that music was there precisely to express such an expectation. In late Romanticism, the appoggiaturas of chords remained unresolved to an ever greater extent, which became obvious in the extremely dissonant ‘catastrophic’ chords of Mahler’s symphonies, in which such chords also function as signs for extremely contradictory and tensed emotions. It is characteristic of the style of the late Wagner that he uses many diminished seventh chords. It is noteworthy that their resolutions, too, are often surprising and irregular. As a result music is produced which really sounds like a constant transition, in which one can never know at the beginning of a phrase on which key it will end (a somewhat analogic phenomenon in literature at the turn of the century being the novellistic style of Marcel Proust; his ‘Wagnerian’ prose was based upon similar
surprises in the relation between the beginning and the ending). As one culmination of Romantic distance from the tonic, Alexander Scriabin developed his famous Prometheus chord, which constituted whole pieces with its transpositions. Although compositions based on this chord were aurally experienced as one continuous and unbroken dominant function, Scriabin’s idea was to treat it as if it would form a tonic. So by writing music in which the extreme centrifugal elements were heard as new centers, he came close to atonality. According to him the Prometheus chord could be reduced into smaller units of ‘second articulation’ so that they consisted of the softness of a diminished fourth (⫽ major third), the hardness of the pure fourth, and the conflicting, demoniac qualities of the augmented fourth (⫽ tritone). Accordingly, the chord was put together out of several phemes and semes, i. e., minimal units of musical expression and content.
81. Sign conceptions in music
Despite all this, the compositions of the Romantic age must still be seen as obeying the principles of tonality in the building of a global form. In some cases the harmonic deep structure, i. e., the succession of the chords and their degrees, is reflected and repeated as melodic structure on the surface level: the famous central motif of Schubert’s Erlkönig is at the same time the bass line sketch of the tonal course of the whole piece (as Kielian-Gilbert 1987 has shown). In an analogous way, the notes on the staff of the ‘light organ’ in Scriabin’s Prometheus revealed the harmonic analysis of the whole piece of music (as remarked by Yuri Kholopov). In constructing extensive musical texts and syntagms on the basis of such tonal deep structures, the Romantics also often employed the old principle of horror vacui while creating long “implication structures” (the methodological concept by Leonard B. Meyer 1973: 114 et passim) or “Linienphasen” (‘line phases’, a term used by Ernst Kurth 1922: 23). For example, the introduction to Beethoven’s piano sonata Les adieux is based upon such gaps created in the musical textures and their fillings (see Meyer 1973: 250). With the third⫺fifth⫺sixth signal of the main motif Beethoven refers to the hunting and horn topos of the Classics, providing it however with an unexpected false cadence ⫺ at the very beginning of the piece ⫺ and therefore with a new indexical emotion, too (Fig. 81.5).
Fig. 81.5: The opening motif from the piano sonata Les adieux by Ludwig van Beethoven.
Correspondingly, at the end of the introduction a certain A flat note is avoided which is spared for its proper effect in the attacca opening of the allegro. The melodics of Romanticism was based to a great extent upon the harmonies in its
1633 background. Often a melody was no more than a linearisation of some harmonic idea. An example is the transition theme in Chopin’s Scherzo in C sharp minor before the coda. As a counterbalance to the regular symmetric periodicity of the Viennese Classics, Romantic melodics tended to express socalled kinetic energy: continuous movement with the Wagnerian ‘endless’ melody as its climax. In addition, melody was characterized by the growth of its ambitus, dynamics and the existence of large expressive and dramatic interval leaps. On the other hand, melodies served as signs of the acting protagonists in musical narration. Many gestural themes by Liszt are of this kind ⫺ for example the main motif of his piano piece Valle´e d’Obermann can be taken as a portrayal of the character of the hero, the musical interpretant of the main figure of the novel by Etienne de Se´nancour (1892). While the weak aspect of such gestural themes was that they could not be developed but only repeated (as Adorno 1952 ⫽ 1974: 35 once stated), they enabled the listener to follow the phases of such narrative in sonatas and symphonies through psychological identification. Note that the hero of Berlioz’s or Mahler’s symphonies is not at all the composer himself: the subjects of enunciation and the enunciatum have to be separated. Nevertheless, in many cases Romantic composers consciously strived to make this distinction disappear: for instance, Wagner rearranged important events of his life in his autobiography (Mein Leben, Wagner 1963) so that the invention of central themes or ideas in his work coincided with biographically relevant dates: the Good Friday music of Parsifal would thus have been written on a Good Friday whereas the idea to the prelude of Rhinegold, depicting streaming water would have come upon his mind while listening to the waves in the canals of Venice. Melodies thus had an emotive function in the Jakobsonian sense (see Jakobson 1963: 214 as well as Art. 116) in musical communication; they forced one to pay attention to the experiences of the sender of the message, the composer himself. In some cases it is true that a biographical study could discover connections between the creation of melodies and real events in the lives of composers ⫺ like the ide´e fixe of Berlioz alluding to his love, or the ‘Christ’ theme of the Second symphony of Sibelius evoking his trip to Rapallo, Italy, or Janacˇek’s string quartet Intimate let-
1634 ters referring to his love affairs. The age of Romanticism favored such a naive way of listening to melodies. As late as in the novel A la recherche du temps perdu by Marcel Proust the melodies created by the fictive composer Vinteuil are interpreted in this way: Swann and Odette listen to the small phrase of his violin sonata as “the national anthem of their love” (see Proust 1954). In semiotic terms, what is involved here are rather cognitive changes of this phrase in the minds of its listeners alongside the development of their intimate relationship, which passes through three phases from falling immediately in love to the boredom at the end (as if enacting Peirce’s three categories, Firstness, Secondness and Thirdness). The Romantic period emphasized originality in the melodics, but did not exclude musical quotation techniques (cf. Karbusicky 1992). For instance Brahms might cite the Emperor hymn in the finale of his Piano sonata in F minor, and Wagner could borrow the main theme of Liszt’s Faust symphony for a motif of Sieglinde in the second act of Valkyrie. Especially important were quotations from folk music which formed a genre of its own and helped create national styles. In all these cases the idea was to embed iconic signs in music: national iconicity thus became a most important sign category within music itself, and through it one could establish connections not only between folk and art music, but also between a composition and a place of birth, country, climate, nature, or general spiritual atmosphere. Moreover, Romantic melodics was closely related in its instrumental genre with vocal music. Chopin’s ‘singing’ melodic style formed a kind of intertext in his pieces referring to gestures of a singer ⫺ although his melodies were no longer to be hummed like an aria of Bellini (by “intertext” I understand a section or phrase which in one text evokes another text, let it be of a musical, visual, literary or any other nature; see Kristeva 1969: 443). On the other hand, the virtuosity of various instruments gave rise to special “Spielfiguren” melodies (cf. Besseler 1957) ⫺ one may recall Paganini and Liszt (see Mäkelä 1989). Concerning the rhythmico-temporal qualities of music, Romanticism also strived for breaking regularity and conventionality: the syncopated effects (Beethoven’s Appassionata, third movement) and pauses (especially the long fermate pauses in Bruckner sym-
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phonies) acquire a special symbolic value. Romanticism is, however, a period of long slow movements and rallentandos. As early as in the beginning of Beethoven’s Piano sonata op. 31 nr. 3 in E flat major with its ritardandos we find a sign of this kind. Such passages can be called “anti-indexes” in music inasmuch as they retard the normal temporal process of music. Romanticism favored not only such extreme ritardandos but, on the other hand, also extremely forward-rushing rhythmic climaxes (Chopin’s Sonata in B minor, last movement). Nonetheless, the rhythmics of Romanticism still remained, to some minds, within the boundaries of the human body. Roland Barthes has shown how the syncopated pulses of Schumann’s piano music are based upon special somathemes, the smallest units of the bodily rhythm. The body as it were ‘speaks’ through such units (see Barthes 1975). Schumann’s C major Phantasy with its rhythmico-temporal strategies is a typical example of the Romantic attitude towards time: the abrupt alternations of accelerando textures and adagios in the first movement, the extremely energetic figuration based on similarly repeated dotted rhythms in the second movement and the extraordinarily slow, retarding and halting music of the third movement (which could be taken as a musical illustration of the last scene in Goethe’s Faust II). In fact, it is precisely this kind of formation, free from the chains of periodic rhythmics, that Ferruccio Busoni took as a progressive element in Beethoven and Schumann, namely in those moments in which they anticipated what was already ‘absolute music’: “In general, in the introductory and passing movements, preludes and transitions the tone poets came closest to the true nature of music where they believed that they had left the symmetric relations without notice and seemed to breathe unconsciously freely” (Busoni 1916: 11). In any case, all rhythmic elements can become marked features, which assume various sign functions in musical discourse (see for the definition of markedness in music Robert S. Hatten’s writings, Hatten 1987). As early as Beethoven the pauses form an essential part of the musical text. Thus the main motif of the last movement of the Waldstein sonata effectively illustrates three typical features of Romanticism: the expansion of a melody to cover three octaves, the pause filled by the bass note c before the upbeat in the upper
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part of the melody, and the timbre which for some listeners evokes a sunrise. In the Romantic period, timbre is provided with a special sign function, not only along the development of orchestrational skills but especially through a special Klangfarben melodics. Richard Wagner believed that the orchestra had a specific “Sprachvermögen” (‘speaking ability’, see Voss 1970: 27). The orchestra was needed in order to realize the poetic intention; the instruments were considered to be extensions of the human voice, which were also in close connection with actors’ gestures. On the other hand, Wagner’s orchestration aimed at idealizing the timbre, by making the source of the sound disappear from the eye (a. o., in Bayreuth’s opera house the conductor and the orchestra were invisible): the physical sender of the sound had to be concealed so that the sound could create a perfect illusion. In Wagner’s scores every instrument has its particular basic meaning ⫺ a denotation, which has been compared to that of the words of a language (Voss 1970). Yet in operatic art, the task of an orchestration is to serve the dramatic situation, which provides the instrumental denotations with connotations depending upon their context. Hence, the denotation of the violins in Wagner, in their upper register, is the symbolics of Grail, sublimity, religiosity. The violin cantilena depicts the modality of “süsse Wonne” (‘sweet joy’). The altos have a melancholic and sad meaning, just as Berlioz also defines the tone of altos as deep melancholy (Berlioz and Strauss 1904: 67). The violoncelli express passions, but also need and disaster. The contrabassi depict the gloomy and threatening. The flute provides light effects, but does not occur very often in Wagner as an independent musical actor. The oboe refers to naivety and innocence, but also to sorrow and nostalgia. One of its semes is also pastorality. The English horn depicts sadness and complaint (in Berlioz it is dreaming, evoking distant events, and is used in this sense in Marguerite’s aria in the damnation of Faust). The clarinet in Wagner means love and eroticism. The horn is an instrument of hunting and it refers to nature in general. It depicts solemnity and rejoicing (for some of Wagner’s interpreters such as Paul Claudel it signified a call “of the lost paradise”; see Claudel 1970). The trumpet is an instrument of heroes and rulers; according
1635 to Liszt it is “brilliant” and “radiant”, but it also provides a tinge of religiosity. The trombones portray festivity, nobility and sublimity. The harp serves as an index of a certain local or historical color (such is the use of harp in the singer contest of Wartburg in Tannhäuser). Accordingly, the orchestration is a most important factor for creating meanings in music. It animates the musical structure and furnishes it with “modalities” (in the term’s linguistic sense). 2.1.2. Music and other arts In the nineteenth century, music came closer to the other arts, not only in the sense of the Wagnerian Gesamtkunstwerk, but by inventing various fusion forms with literature and painting. Music was joined with literary interpretants, in the light of which the composition itself, let it be absolute or not, was intended to be interpreted. Robert Schumann, for instance, furnished his Phantasie in C major with a motto which was a fragment from Friedrich Schlegel’s poem “Durch alle Töne tönet / im bunten Erdentraum / ein leiser Ton gezogen / für den der heimlich lauschet”. Musicologists later searched for a counterpart to that “silent tone” in the music itself and thought that it was the descending fifth, which was supposed to be a sign of the composer’s spouse, Clara Wieck. ⫺ The greatest ideal and model in the integration of music and literature was Beethoven’s Ninth symphony with Schiller’s ode An die Freude. Nevertheless, even in purely instrumental solo pieces the influence of literature could be felt as a kind of ‘subtext’ at each moment. Schumann’s Kreisleriana is based upon the novel Kater Murr by E. T. A. Hoffmann, which can also be considered an example of man-animal communication (cf. Art. 163) in the time of Romanticism as well as of its literary experiments: the novel consists of the alternation of memories of the cat Murr and the conductor Kreisler, every second page written by one of them in turn. ⫺ Even Chopin’s music, to which the composer added very little by way of written materials (connections between Adam Mickiewicz’s poems and Chopin’s G and F minor Ballades are probable but lack definite proof), was later taken into service by all kinds of programs: the beginning of the F minor Ballade was considered a variant of the subject “the Poles as prisoners in Russia” and the chromatically descending theme of one of the side sections as “Georges
1636 Sand”, etc. ⫺ Liszt, too, characterized a literary program for music in his essay on Berlioz and his Harold symphony (Liszt 1882). In his view instrumental music was able to transmit the events of “modern epos”, by which concept he meant Goethe’s Faust, Byron’s Manfred, etc. In his mind the most important task of music was, however, not to depict the action in an epos but the emotions in the soul of a hero. “As totally detached from the laws of probability, condensed and transformed, the action acquires a symbolic shimmer and mythical foundation” (Liszt 1882: 54). In the Romantic period a special network of mythical semes was formed to which music joined with musemes and phemes of its own. In some cases mythical atmosphere was created by the imitation of an archaic instrument (as in Smetana’s Vysehrad and in the song of the Bayan in the second movement of Borodin’s Bogatyr symphony), sometimes again by a quotation of folk music or a reference to the religious sphere (as in Mendelssohn’s Reformation symphony; cf. Tarasti 1979: 66⫺67). Nevertheless, one must not forget that in the Romantic period there was also a classicist line, which did not believe in anything but music’s own expressive power. Eduard Hanslick, a musicologist and music critic, formulated this view in his essay Vom musikalisch Schönen, in which he said that music consisted of “tönend bewegte Formen” (‘moving sound forms’; Hanslick 1854). With this he established a famous thesis, later known as the declaration of musical formalism which was in the next century to become the central aesthetic doctrine for composers as well. Hanslick’s theories were to find their fulfilment in Brahms’s symphonies, which were taken as counterpoles of the programmatic music represented by Liszt and Wagner. There were examples of interaction between music and painting not only in Liszt’s symphonic poems, but also in the so-called national composers. Musorgsky’s Pictures at an Exhibition were literally based on the aquarelles by the Russian architect Viktor Hartmann. The pictures in Musorgsky’s composition portray Hartmann’s paintings with titles such as “Old Castle”, “The Ballet of the Unhatched Chickens”, “Baba Yaga”, “Catacombes”, “The Great Gate of Kiev”. It is crucial that Musorgsky also depicted the spectator of the pictures in particular ‘promenade’ sections. Thus the musical form of the whole series was rather freely conceived ac-
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cording to the psychology of looking at the pictures. The borders of various movements are made vague since the music begins and ends with imitating the decrease and increase of the attention of the spectator. Therefore, what was involved was not only musical realism, iconic imitation of outer reality, but a kind of musical embodiment of cognition: that of an inner narrator or spectator embedded in the music itself. On the level of Firstness, Musorgsky presents his pictures as impressive musical scenes, whereas there is also an inbuilt reaction to them on the level of Secondness, as well as interpretations on the level of Thirdness (like the self-quotation from Boris’s death at the end of “The Great Gate”; cf. Tarasti 1992 b). The late-Romantic (and already a Symbolist composer) Mikalojus Konstantinas Ciurlionis went so far that he started to paint aquarelles whose form and subject were taken from music. Thus in an aquarelle entitled “Fugue” he could imitate by visual, graphic lines a subject and its response, the countersubject and even a stretto of all the parts of a fugal form (cf. Art. 80 § 2.2.). Correspondingly his symphonic poems The Sea and The Forest created strong impressionistic images. 2.2. Modernism The breakthrough of Modernism against the late Romanticism and Symbolism of the turn of the 19th to the 20th century means in the semiotic sense the dissolution of the unified tonal language inherited from Classicism. When tonality collapsed, the central force that had held music together collapsed with it and centrifugal, “disengaged” (according to Greimas, “disengagement” in any discourse means the movement away from the center of narration; the return to the center being its opposite, “engagement”) tendencies were set into motion. Nevertheless, narrative elements based on tonality maintained their position in many musical areas, particularly in popular and media music (cinema, TV, video, multi-media), which expanded to all countries of the world by the end of the twentieth century. In addition, a transition from a cold to a hot society came about (McLuhan, according to Le´vi-Strauss, see Charbonnier 1970), i. e., the changes that occurred in the language and style of music took place with growing rapidity (concerning the proliferation of the style concept see Art. 80 § 1.2.). Jacques Chailley (1977: 23) has described the situa-
81. Sign conceptions in music
1637
Fig. 81.6: The periodisation of music history according to the series of overtones (quoted from Jacques Chailley 1977: 23).
tion with a diagram which illustrates the acceleration in the development of musical structures (Fig. 81.6). If we are to believe Chailley, we already have attained the extreme point of development in music history, from which progress would no longer be possible. A look back at the beginning of the century shows that in its first decades various ‘isms’ prevail with their respective manifestoes: Atonalism, Bruitism, Chromaticism, Dadaism, Debussysm, Eroticism, Exoticism, Expressionism, Folklorism, Formalism, Futurism, Impressionism, Intellectualism, Classicism, Conservatorioism, Constructivism, Cubism, Lyricism, Machinism, Mechanism, Modernism, Motorism, Mysticism, Naturalism, Neoclassicism, Neoprimitivism, Neoromanticism, Orientalism, Orphism, Primitivism, Progressism, Provincialism, Purism, Relativism, Revolutionism, Romanticism, Scriabinism, Stravinskysm, Superchromaticism, Symbolism, Vitalism, Wagnerism (according to Kirchmeyer 1958: 222). In practice, however, there were not as many reformers of the musical language itself as there were declarators of these new musical aesthetics. It would also be erroneous to call the whole main orientation of our century’s music a “structuralism” (as Dahlhaus has done) in the sense that its main object of interest was the structure of a composition. It is essential to see that the whole ordinary situation of musical communication became an object of transformation in the Modernist age, ever since the first manifestations of performance art, such as the concert in St. Petersburg in which all the pipes of factories
played together to create so-called concrete music or as in compositions utilizing nature’s noises as such. The ultimate point was John Cage’s music philosophy which claimed that music is not communication at all (Charles 1981). Earlier, in the Classico-Romantic period, communication was thought to be a simple transmission of the musical message from the composer to a listener who had learned the right codes to understand ‘the musical language’. Now this unidirectional chain was broken. From a semiotic perspective the greatest dilemma of Modernism seems to have become the fact that it is impossible to demand that a music listener should receive both code and message simultaneously. Unless there is any familiar, steady point in music, any level of ‘first articulation’, its reception becomes awkward. It is true that modern music also corresponds to the worldview of ‘modern’ man, who finds himself to be a subject thrown out of the center of being, excentre´. This explains the basically anti-narrative tendency in many styles of contemporary music. The dissolution of the old tonal language started with its expansion through the following forms (LaRue 1970): a) expanded diatonicity: inclusion of larger chords of superposed thirds and free exchange of major and minor forms of the same key; b) chromaticism: beginning with Wagner’s Tristan, composers started to use chromatically altered chords so that the leading tone quality lost its indexical function completely and any tone led to any key whatsoever; c) neomod-
1638 ality: a generalization of the development of national musical styles (However original they may be, on the harmonico-technical level even such national music styles as those of France and Finland may resemble each other due to the use of modal elements, in the musical sense; one could use modal progressions, particularly those of an antitonal character, such as I⫺bVII, or Vb3⫺I or IV⫺ Im. Also exotic scales were used; the consciousness of music cultures outside Europe increased: Debussy’s pentatonic scales can be dated back to the moment when he heard Javanese gamelan music (cf. Art. 96) at the Paris world exposition in 1899; musical language opened up to an intercultural exchange. Bela Bartok (1957) systematically exploited folk music modes and developed a theory of how to harmonize peasant melodies in accordance with their original spirit.); d) structural dissonance: the habituation to dissonances, starting with the added sixth and leading to the acceptance of dissonant chord structures like I7 in cadences (cf. Debussy, Villa-Lobos); e) bitonality and polytonality: two or more superimposed keys prevailing in longer sections of a musical text as its two simultaneous ‘isotopies’ (i. e., levels of meaning), thus producing a special, mixed aesthetic effect (An example is the parallel use of F and F sharp minor in the piano piece Botafogo from Saudades do Brasil by Darius Milhaud. In some cases polytonality was caused by a simultaneity of musical events, stemming from the intention to present different overlapping events, as in Charles Ives’ symphonic work Three Places in New England. With bitonality a new type of music listening was also developed, which comprehended key situations of complex interpretation even in earlier styles; an example was how Milhaud listened to certain passages by J.-S. Bach in bitonal terms.); f) atonality: the conscious avoidance of tonality by favoring antitonal, i. e., centrifugal forces through negation of repetition (All the twelve notes of an octave became equivalent, their intrinsic hierarchy disappeared altogether. There emerged a serial tonal language in dodekaphonic music, which was based upon a “row”, its inversion, retrograde and the inversion of retrograde as well as their transposition to all other pitches. These elements constituted a matrix functioning as the basis for the work of composing. The main representatives of the serial school were Arnold Schönberg and Anton Webern.).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
The matrix of serial music could be compared to the elements of second articulation in a language, i. e., phonemic units, with the only difference that they do not form any recognizable lexicographic units. On the mere basis of aural perception it is impossible to discriminate the row that is used, and when, on the other hand, no figures are repeated, the music remains in its concrete “design” (the term is David Lidov’s) and stays rather inarticulated even if based upon a new “grammar”. In the end, not only pitches but even other musical parameters were subordinated to a serial elaboration. Olivier Messiaen’s work Mode de valeurs et d’intensite´s (1948⫺1949) was one of the first compositions to realize these ideas. This development reduced composing to a mere process of calculation and led to the loss of contact with the physiological level of music, its ‘somathemes’ and its topoi as well as other conventional properties. There has been much discussion on whether serial music was a language at all. In Le´vi-Strauss’s mind (1964: 32⫺34) it was not a language since the first level of articulation had been entirely swept off. According to Vladimir Janke´le´vitch, “Orpheus does no longer return” in serial music, which is thus doomed to sink into a meaningless, indifferent state (Janke´le´vitch 1961). It is hard to imagine how a completely serial piece of music could be analyzed semiotically. In the transition period, it is true, dodekaphonic music still maintained certain familiar elements from earlier periods on some levels of articulation. A good example is the “row” and the main theme of Alban Berg’s Violin concerto, consisting of a chain of successive, broken triads. In spite of its serial character this row still has strong tonal and instrumental implications. In the years after World War II, serialism made the composers acquire complete control over all musical parameters. Nevertheless, aurally, their products sounded rather similar to the improvisatory compositions of the aleatoric style. In this way serial music confronted a problem that had already occupied the Baroque age: should music be based upon ‘inaudible form’ or ‘audible structure’ (Bukofzer 1947)? Notwithstanding this problem, the idea of a grammar ruling over music already came into fashion at the beginning of the 20th century. The Russian formalists ⫺ in literature, film, painting as well as in music ⫺ stressed
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81. Sign conceptions in music
that no longer the inspiration of an artist but the principles, the artistic devices used in producing a work of art were the relevant aesthetic factor (cf. Art. 114). Later Igor Stravinsky, in his lectures at Harvard University in the 1930’s, pointed out that in music there was no place for the reflection of anything like a human soul (Stravinsky 1947). Already in the 1920’s Vassily Kandinsky had strived for a universal grammar of all arts whose elements were point, line and level. According to him, these arts included even dance and music (for example he offered an analysis of the beginning of Beethoven’s Fifth symphony on the basis of these concepts, cf. Kandinsky 1926). Music inspired the architect Le Corbusier to elaborate a semiotic system of architecture based upon the smallest units, which he called “modules” (Le Corbusier 1951⫺58; cf. Art. 82 § 2.4.). This approach, which used smallest significant units to form larger texts through a kind of ars combinatoria, is already structuralism in its purest form (cf. Art. 2 § 4.). Nevertheless, twentieth century music history cannot be interpreted as a linear advancement towards serialism, although many composers and critics in the 1950’s and 1960’s were willing to accept this as the only ‘progressive’ line. In the 1920’s the so-called Neoclassic movement emerged, which aspired to restore the stylistic ideas in the Classical and Baroque era, the reduced instrumental settings, a kind of ‘alienated’ expressivity as well as myths of antiquity (an example is the collaboration of Jean Cocteau with Igor Stravinsky). Neoclassicism respected above all the virtues of clarity and transparency, wanted to add ironic accents to the musical devices inherited from J. S. Bach and Pergolesi, favored playfulness, hilarity and lightness. In this sense the Neoclassics (like Poulenc in his Concerto for two pianos) could be taken as precursors of the Postmodernists of the 1980’s (cf. Art. 122). The manifestations of Neoclassicism are manifold: Musically it could appear as a pandiatonicism inspired by folk music, as a kind of petrified folklore exemplified in the reconstructions of Mexican Indian music by Carlos Chavez or Kanteletar arrangements by the Finnish Lied composer Yrjö Kilpinen. It could also appear as a phonetic treatment of a text omitting the meaning of the word level, as exemplified by Stravinsky’s method of versifying Latin in his Oedipus rex. Even Ferruccio Busoni could be held at least as a representative of “young classicality” (the term was coined by Anthony Beaumont, who introduced it in order
not to confuse him with the French Neoclassics or the German composers of Neue Sachlichkeit; cf. Beaumont 1985). He wanted to utilize musical expressions of the past and set them into firm and durable forms. In the 1960’s semiotics and music history met each other through the fact that avantgarde composers became familiar with structural linguistics (cf. Art. 101) and found inspiration in semiotic sources. Thus, Luciano Berio’s Sinfonia contains not only semiotically polyvalent collage techniques, but also borrowings from Claude Le´vi-Strauss’s structuralist texts (Le Cru et le Cuit). Pierre Boulez, a representative of a strict serialist school, also aims to elucidate the rhythmics of Stravinsky’s Sacre du Printemps in his texts (1971 and 1986). Umberto Eco (1968) raises the question of differences between “pense´e structurelle”, i. e., serial thought and “pense´e structurale”, i. e., structural thought: while the former kind of scholar or artist creates these structures, the latter only discovers them. One may say that the last-mentioned way of thinking has become a kind of episteme behind the music of the 1980’s and the beginning of the 1990’s. The shift from structuralist thinking with its orientation towards the object to the cognitive age with its emphasis on the subject is also manifested in the sign processes of music itself. As a reaction to the extreme rationalism and reductionism of the serialist school, two new trends appeared in music: the so-called musique pauvre with John Cage as its main philosopher ⫺ and minimalism. John Cage wanted to reject the serialist idea of maximal controllability since the more man controls the music the more he is controlled by it. Cage’s philosophy of freedom was also influenced by medieval mystics, oriental doctrines as well as the American transcendentalists Thoreau (1854) and Emerson (1836; cf. 1979). Daniel Charles has designated his music with full reason as “musique du non-vouloir” (‘music of not-will’; Charles 1987⫺88). The less a composer’s will tries to subordinate the listener, the more place is left for the will of a listener in the musical process (Fig. 81.7). not-will
will
composer → music ← listener Fig. 81.7: The principles of will and not-will in musical communication according to Daniel Charles.
1640 The principle of Cage was: Permit each person, as well as each sound to be the center of creation (Charles 1981). Cage’s musical ideal was the peaceful symmetry in Satie’s pieces, which can be seen to be realized in the music of the latter half of the twentieth century, particularly in the output of the Estonian Arvo Pärt. It is characteristic of musique pauvre, however, that it plays with the dialectics between scanty present elements and the elements which are absent but implied by them. For instance Cage’s composition Changes consists only of a series of pointillist sound events, whose coherence and consistency remains entirely in the responsibility of the music’s listener. One might say that such a music expressly activates man’s modal activity and forces him to fill with his modalities (in the linguistic sense) the gaps in the aural musical form (on Minimalism cf. Tarasti 1988 a). Another movement of contemporary music which tries to render the listener to a state in which he would merge with the musical process (Reich 1981) is Minimalism. It is again based on the excessive presence of tonal elements in endless repetitions of figures based on triads. These are no historical allusions to the period of tonal music, but a phenomenon analogous to the musical tests of cognitive psychology (Deutsch 1982), which are used in order to study man’s cognitive perception of music. Minimalist music is extraordinarily repetitive, it is in fact a kind of ecstasy of repetition (cf. Baudrillard’s theories on the “ecstasy” of communication in the modern world). While repetition had earlier occurred as an articulating principle of compositions against the background of non-recurrency, i. e., entropy, it has now changed from this marked character into a non-marked element, which allows even the slightest changes along these endless repetitions to be experienced as factors shaping the form: as “diffe´rances” (‘deferments’) in the Derridean sense; cf. Derrida 1967, see also Art. 122). In this context, the repetition can no longer act in the task Russian formalists allotted to it, i. e., as a surprise, as a distancing factor. From a temporal perspective, in spite of the active figuration on the surface level Minimalist music gives the impression of being extremely static: a kind of succession of reified ‘now’-moments. They represent pure durativity in the sense that they have neither beginning nor end and, in fact, no temporal articulation at all. In this sense Minimalism is also totally anti-narrative.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Minimalism just like Postmodernism has given up narrativity, the belief in ‘great stories’. The American Minimalists Steve Reich and Philip Glass find music completely subjectless. In Arvo Pärt a certain minimum of narrativity has been preserved, it is true, but his works appear as if supplied with the title “the last story”. In spite of their abundant repetition they are like expanded cadences. The illusion of narrativity is maintained with musical signs and allusions, symbols, indexes, icons such as the minor tonalities, bells, sounds of a string ensemble, techniques of canon, etc. In the history of 20th century music, electronic music forms its own line, even if it could be taken as a continuation of the experiments in man-machine communication started as early as in the Baroque era by Kircher (1650; cf. Art. 68 § 3.). Tape music facilitated the so-called “musique concre` te” (‘concrete music’), i. e., a systematic use of noises as the material for compositions (see above). As early as 1975 Russolo had classified various noises in his work The Art of Noises. In fact, the real anvils which Wagner used in Rheingold in order to depict the work of the Nibelungs in Niflheim are an instance of the use of noise in music. Various techniques of sound synthesis also made possible the transformation of noises, like the murmur of the wind, the rush of the waves, the sound of falling water, etc. Undoubtedly noises in music are kinds of elements of the first articulation (Martinet), kinds of words which have a certain denotation on the basis of their recognition. However, how one can create a continuum of signs, a syntagm out of them, and finally even music with a plot, is certainly one of the fundamental questions raised by tape music. Semiotic aspects of electronic music have not yet been pondered systematically (noteworthy in this respect are studies by Marta Grabocz (1991⫺92) concerning the tape music of Franc¸ois-Bernard Mache). Nevertheless, most often this research has focussed on the problems of producing new sound material, and not on its signification or its aesthetics (cf. the classical treatise Traite´ des objets musicaux by Pierre Schaeffer 1966 as well as the research conducted at IRCAM). One special style of contemporary music is formed by so-called “spectral music”, which experiments with synthetic transformations of overtones, making a composer with his computer and synthesizer a kind of musical sculptor who can delete certain regions from the natural tones
81. Sign conceptions in music
and work only on what is left (as Tristan Murail does in his music). A typical feature of spectral music (Murail, Grisey, Scelsi, Saariaho) is its extremely static quality, when the starting point can well be only one note of one instrument which is varied in many ways. This music seems to move as it were on the ‘subsemantic’ level of ‘protointonations’ (Leman 1992). The electronic communication technology of the 20th century has not only made all the style periods of Western art music simultaneously present but also brought extra-European music cultures into this context. Due to the recordings of music anthropologists and the ease of travelling, composers of art music have, to an ever greater extent, been exposed to all kinds of popular and folk music. As an example, the style of Ligeti in the 1980’s was influenced by African music, Reich by oriental music, Messiaen by Indian music, etc. The overwhelming abundance of messages flowing from all sides has relativized tonal languages (cf. Art. 2 § 2.). Music listeners have become absent-minded receivers who, with radio and TV channels open all the time, listen to music only with one ear. Music has become a mere sound coulisse, sound landscape, tonosphere. At the same time the triumph of tonal music has continued in the form of film music. Hollywood composers and producers of the music for TV-series have preserved, as their starting point, denotations of certain leitmotifs and topoi of the classico-romantic style period, which they transform according to their needs. The same elements are used in the so-called mood-music of waiting rooms, stores, airports, etc. These musical practices have conditioned almost the whole population of the globe to the tension-detension mechanism of tonal music. It is nearly impossible for a contemporary person to attain the freshness of Firstness in encountering present-day music.
3.
The history of musical scholarship in the light of semiotics
Musicology in the modern sense has been considered to have been born in the Germanspeaking territories, in the 19th century, and closely linked to inquiries into music history. Music history writing, bound to certain values, had to give way to a more ‘emic’ conception (cf. Art. 2 § 2.), in which the special character of the time was taken into consideration. Even extra-European music cultures
1641 were included in these treatises, as in the work Histoire ge´ne´rale de la musique (1869⫺ 76) by the French scholar Joseph Fe´tis. At the same time, scholars launched critical editions of works by great composers, music societies were founded and the first critical composer biographies were published (Forkel’s Bach biography in 1902, Wegeler’s and Ries’s Biographische Notizen über Ludwig v. Beethoven (1838), Philip Spitta’s Bach biography in 1873⫺78). The term “musicology” was first used in the modern sense in 1863 by Friedrich Chrysander, better known as the biographer of Händel. The first university professors in musicology were Eduard Hanslick (Vienna 1861) and August Wilhelm Ambros (Prague 1869). The former was the founder of formalist music aesthetics, the latter a music historiographer. Nevertheless, how little the particular nature of ethnic music was still understood is revealed by an example from Indian music in Ambros’s study (Ambros 1887); for him a certain melody Djungel-tuppah contained “very deep melancholy which was particularly expressed through the augmented second between the sixth and seventh tone of a minor scale in the fourth bar of the song” (Fig. 81.8). Aesthetically Ambros describes his impression by the words “a moon night on the Ganges” and says about the harmonization: “Here as in all the following illustrations of melodies from India, the harmonization has been added by myself […], it is a proof of how close these melodies are to European music, because they do not only allow a rich chordal treatment but almost demand it” (Ambros 1887: 237). This is still fairly far afield from modern ethnomusicology. Indian music basically appeared as a non-culture (Lotman et al. 1975) which had to be hastily transformed into a culture by introducing similarities. Nevertheless, the great German musicologists at the end of the nineteenth century created the basis upon which later semiotic systems of musicology could be built, even though these systems inevitably remained ethnocentric. We must consider the founder of modern musicology to be the Austrian Guido Adler (1855⫺1941), whose article Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft (1885) offered a taxonomy of modern musical research and whose books, such as Der Stil in der Musik (1911) and Methode der Musikgeschichte (1919), were pathbreaking as introductions to
1642
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Fig. 81.8: The transcription and harmonization of an Indian melody by the 19th century musicologist August Ambros.
musical style analysis. Adler’s division of musicology into two segments, historical and systematic, remained valid and is still used ⫺ even outside German-speaking territories. Musical semiotics is situated in the area between these two poles, since on the one hand it is the search for universal laws in the various musical practices, and, on the other hand, it also explores musical signs and symbols as historically changing stylistic entities. The most important tool for the historiography of music, was considered by Adler to be the concept of style, by means of which a musical work could be scrutinized on an objective basis. His basic interest was not the discrete, individual, single work, but a certain langue of music which could be recognized by comparing it to other products of the same period. Consequently, he emphasized the systematic aspect at the cost of diachrony ⫺ which dates him earlier than literary historians who, since Russian formalism, started to talk about literary “systems”. In Adler’s view, it was necessary to study the “expressive character” of a musical composition, i. e., its sign relationship to the personality of an artist and the atmosphere of the time. Various historical styles (cf. Art. 80 § 1.2.) were elucidated by him on the basis of dichotomies, the most important oppositions being those be-
tween Classical and Romantic, homophonic and polyphonic, vocal and instrumental, lyrical and dramatic, religious and profane style. Adler’s style classifications reveal ‘epistemes’ of Western erudite music just as traditional aesthetic categories do for the aesthetic attitudes of Western man: the sublime, the tragic, the comic, the gracious, the characteristic, the melancholic, the elegiac, the ordinary, etc. These ‘epistemes’ hold true for Western art music, but cease to exist immediately when one moves outside Europe. In the area of music theory and analysis, the German-speaking academe produced two remarkable music scholars who can already be considered almost as presemioticians: the Austrian Heinrich Schenker (1868⫺1935) and the Swiss Ernst Kurth (1886⫺1946). Schenker’s theoretical system was formed on the basis of historical research into musical performance practices and composition sketches (particularly those of Beethoven), and guided by German philosophy (e. g., Goethe’s morphology). According to Schenker, all great composers (who were German-speaking representatives of the Classico-Romantic period) improvised their musical works out of a deep structure which he called “Ursatz”. The Ursatz in turn was based on nature itself in the form of the first
81. Sign conceptions in music
tones of the overtone series, which together constituted a triad. By various operations one could move from this “Hintergrund ” (‘background’) through the “Mittelgrund” (‘middle ground’) to the “Vordergrund ” (‘foreground’), the latter of which was the same as the music to be heard (see, a. o., Neumeyer 1988). This typically ‘structuralist’ idea was the foundation for Schenker’s method of musical analysis. It appeared in complicated schemes and notations. Schenker did not consider his method as a science but as the practice of an art. Its great merit was that it took a composition’s structure as a continuum in which every event was significant and could find its own place. Thus temporally separated tonal events became meaningful when they formed a part of the so-called “Urlinie”, the tensional course of a piece. This method took well into account the primary kinetic nature of music. However, Schenker could be criticized for excessive axiomaticity and reductionism, in that he always reduced music to the same Ursatz, thus leveling the style differences between musical pieces and between individual composers. After his death, Schenker’s approach was taken up in the United States where it became a dominant method of analysis. When the musicologist Fred Lerdahl and the linguist Ray Jackendoff published their seminal work A Generative Theory of Tonal Music (1985), it became obvious that Schenker’s model was by its structure very similar to Noam Chomsky’s so-called tree-model of linguistic phrase structure (cf. Art. 2 § 3.); in fact it had been Leonard Bernstein in his Unanswered Question (1976) who suggested this parallel between generating a piece of music and a linguistic utterance. As early as in the 1960’s semioticians had supposed that language and music were analogous phenomena since they both consisted of chains of acoustic signals (cf. Posner 1988), and this view was fortified in Schenker’s model. The energetic music conception of Ernst Kurth has only recently been noticed as a precursor of musical semiotics. His view has proved particularly useful as a counterbalance to the segmentational and taxonomic methods of analysis in the 1980’s. Kurth stressed the energetic, continuous nature of music, and thought that what was essential in music was not separate, discrete signifiers, signs perceived by the auditory sense, but the signified, kinetic energy looming behind them. He spoke of “a will to a chord”. In this
1643 sense he joins the philosophical epistemes of the turn of the century, e. g., Henri Bergson’s view about two kinds of time: “temps d’espace” (‘space time’), which could be physically measured, and “temps de dure´e” (‘duration’), which was the phenomenal, experienced time (see for instance Bergson 1975). Kurth also emphasized the time character of music: the pertinent aspect in music was the experience of a movement. In his work Grundlagen des linearen Kontrapunkts (1922), which was in fact a study of J. S. Bach’s melodic style, Kurth stated: “The experience of movement which is felt in a melody is not only a kind of subsidiary psychological phenomenon, but it brings us to the very origin of the melodic element. This element, which is felt as a force flowing through tones, and the sensual intensity of the sound itself, they both refer to the basic powers in the musical formation, namely to the energies, which we experience as psychic tensions” (Kurth 1922: 3). In any case, Kurth can be considered a semiotician in three senses: he taught that 1) the sound stimulus of music always functions as a sign for something (semantic approach); 2) attention must be paid to what happens in the human mind at the moment of conceiving or listening to music (cognitive approach); 3) analysis starts from the ‘inner’ sphere and moves towards the ‘outer’ one, i. e., it goes from a deep structure to the surface (structuralist and generativist approach). The basic analytic units of Kurth are the “Bewegungsphase” (‘motion phase’) and the “Linienzug” (‘line course’). In other words, a musical segment lasts only as long as there is enough power in its initial impulse to keep the motion going. In this way Kurth’s theory revolutionizes traditional segmentational criteria and might thus be applied just as sucessfully, in the context of contemporary music, to the articulation of works hitherto considered to be non-segmentational, i. e., to pieces using field techniques, to those with free-pulsative movement (from Ligeti to Penderecki to Minimalism), and to spectral and computer music. Kurth did not develop an explicit procedure of analysis himself, albeit his theories were always close to musical practice (for example, his treatise Romantische Harmonik und ihre Krise (1923) deals with Wagnerian chromaticism). His broadest analysis concerned Bruckner’s symphonies. Other great music theoreticians from German-speaking academe have found less consideration. Hugo Riemann (1849⫺1919) was
1644 taken as out-dated in the context of 1960’s structuralism since he believed in the myth of tonality as a principle of nature. Alfred Lorenz (1868⫺1939) was regarded as a scholar whose system was violent towards music itself, when he forced the whole Wagnerian symphonic texture into the so-called Bar form (two “Stollen”, and one “Abgesang”) adopted from German medieval music. The fault in his analysis was that its basic units could be stretched to be as long or as short as necessary to fit his external categorizations. Nevertheless Lorenz’s main work Das Geheimnis der Form bei Wagner (1924⫺1933) was one of the first attempts at a complete analysis of Wagner’s musical texts which was not limited to merely hermeneutic interpretation. Moreover, Lorenz made several striking observations about leitmotif technique, melodics and other aspects of Wagnerian music. Lorenz also inspired the Finnish musicologist Ilmari Krohn to create his own musicotheoretical system of analysis which was based ⫺ as in Lorenz’s case ⫺ on rhythmic units. However, Krohn’s efforts to apply his system to the symphonies of Jean Sibelius has to be considered unsuccessful, particularly in his eagerness to reduce Sibelius to the Wagnerian leitmotif technique and to find programmatic declarations for each of his symphonies (Krohn 1945). One may mention that Krohn’s method of classifying folk tunes inspired Bela Bartok in his investigations into folk music, and that Krohn’s brothers Julius and Kaarle together with the folklorist Anti Aarne created a classificatory model of folk tales, which was later adopted by Vladimir Propp, who again was one of the founders of modern narratological theories (see Aarne and Thompson 1961 and Propp 1928; cf. Art. 119). The musical hermeneutics developed systematically by Arnold Schering (1877⫺1941) could be taken as a kind of semiotic attempt to analyze musical signifieds. However, Schering’s idea that behind every instrumental piece of Beethoven there was some literary program borrowed from Goethe or Schiller (as in the Piano sonata A flat major op. 100, which evoked Schiller’s tragedy Maria Stuart, or in the Allegretto of the Seventh Symphony, which depicted Mignon’s funeral in Goethe’s Wilhelm Meister) was obviously an exaggeration (Schering 1936). To defend Schering, one should note that according to him the program in a composer’s mind functioned like scaffolding; as soon as the composition had
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
been accomplished, the music began to live by its own power (Schering 1936). The theoretical bases of Schering’s ideas were questioned by, among others, Nils-Erik Ringbom in his treatise Über die Deutbarkeit der Tonkunst (1955). From Henri Bergson’s philosophical foundations there emerged another line of research, likewise postulating temporality as a central musical parameter. The phenomenologist Gise`le Brelet examined musical performance in the two-part work L’interpre´tation cre´atrice (Brelet 1951) and Boris de Schloezer, who was considered a precursor of structuralism in the 1960’s, belonged to the same school. These theories were attached to a view about the origin of melody in the notation of language. Vincent d’Indy (1851⫺1931) in his work Cours de composition musicale (1897⫺1900: 30) presumed that melody emerged from different ways of uttering a verbal phrase, when the syllables were, as it were, musicalized: in his example, the phrase Il a quitte´ la ville could be pronounced neutrally, interrogatively and affirmatively when its intonation was determined by two kinds of accents: tonic and pathetic (Fig. 81.9). Thus d’Indy, who published at the end of the 19th century, preceded later theories on the modalities of language and music. On the basis of language intonation and under the influence of Kurth, the Russian musicologist and composer Boris V. Asafiev (1884⫺1948) developed his so-called intonation theory, which became the prevailing approach and method in Eastern Europe for the whole period after World War II. Asafiev was a prolific writer who also published under the pseudonym Igor Glebow (which was nothing unusual in Soviet Russia, cf. Mihail Bakhtin’s several pseudonyms). His main work Musical Form as a Process was written during the siege of Leningrad, which partly explains its incoherent form (English translation in 1976). When Asafiev died in 1948 he was the only member of the Academy of Sciences in the musical field in the Soviet Union. Asafiev’s basic concept was “intonation”, which paired whatever musical element (interval, chord, rhythm, motif, timbre) with its emotional value content. In its aim to unite musical signifiers and signifieds, his theory was inherently semiotic. Asafiev also emphasized the motion character of music and presupposed that intonations form chains according to functions like “initium” (‘begin-
81. Sign conceptions in music
Fig. 81.9: The musicalization of a verbal phrase according to the French composer Vincent d’Indy.
ning’), “motus” (‘movement’) and “terminus” (‘ending, cadence’). Asafiev provided only a few examples of how his theories could serve as explicit models for analysis. He hypothesized that intonation stores were formed of the intonations which were characteristic passages in a musical piece, and therefore remained in the collective memory of the listeners. These stores contain the bases of the way people feel in a given period. In this way music could be felt as “true speech”. When people’s minds change, new intonations are also required. Asafiev particularly studied such an intonation crisis in connection with the French Revolution. The sociological aspect of Asafiev’s theory is reminiscent of some later ideas in the Tartu school of semiotics (cf. Art. 118), although it is burdened with the conservative view of folk music as a kind of “primary modelling system” of music, which determines the development of art music (this thesis was used in the Zhdanovian criticism against Shostakovich and Prokofiev). In the West, Asafiev’s theory remained almost completely unknown, in spite of some translations. Nevertheless, music semioticians rediscovered it in
1645 the 1970’s. Asafiev’s theories were further elaborated in the direction of modern narratology by Viacheslav V. Medushevsky, who distinguished concepts of protointonation (i. e., an expressive shape without any compositional articulation, like the form of a cry or complaint) from the intonation in the proper sense in music. Medushevsky has also presented typologies of inner narrators in music (a lyrical, dance-like, meditative, narrating ‘I’). Asafiev’s theories have also been applied by Joseph Kon, Yury Kholopov and Yevgeny Nazaikinsky, and they also had an impact upon the music-theoretical research of the Czech Jaroslav Jiranek (in his Grundfragen der musikalischen Semiotik, 1985, as well as in his music-historical works about Czech musical nationalism in Smetana’s operas), and influenced the publications of the Hungarian Academician Jozseph Ujfalussy (see, a. o., Ujfalussy 1968). Also present-day studies of popular music reflect some kind of Asafievian influence, as in the so-called theory of “hooks” of a popular song (Simon Frith) and the effect analysis of popular music by Philip Tagg (1979). In the United States musicology gained favor when, due to the Nazi oppression, many German scholars emigrated there from Europe. Following the specialties of these musicologists, strong interest developed in the study of performance practices of old music, research in archive materials and in ethnomusicology. However, on the theoretical level few new works appeared that treated methods of analysis and philosophico-aesthetic interpretation. Very often scholars were satisfied with European models, as Schenker’s popularity shows. Nevertheless, some figures must be foregrounded as pioneers of musical semiotics. As a precursor of modern ethnomusicology, Charles Seeger pondered broadly semiotic problems of music, and it is unfortunate that his epoch-making essay On the Moods of a Music Logic (1960) was left aside in the discussions on musical semiotics in the 1960’s and 1970’s. There Seeger presented a structuralist model of analysis, in which various musical parameters were divided into their smallest units: “modes”, which could be combined and thus formed into larger entities. Seeger also studied the semiotic nature of transcription in ethnomusicology as a prescriptive or descriptive procedure, and dealt with value problems of music (Seeger 1977).
1646 In Leonard B. Meyer’s extensive work in the field of music analysis and aesthetics, the term semiotics is but rarely used; nevertheless he dwells on semiotic problems. His distinction between referential and embodied meanings in music analyzes the eternal problem of music aesthetics: the nature of musical meaning and its place either inside or outside the music itself. Meyer’s most outstanding analytical work is Explaining Music, in which he presents a model of analysis based upon the concept of implication (Meyer 1973). He assumes that certain melodic archetypes such as symmetry, axis, triad, the ‘gap and fill’ (horror vacui) principle, etc. determine our musical expectations. On their basis the beginning of a piece of music implies a certain continuation and end. His analysis, e. g., of Wagner’s Tristan prelude or Beethoven’s sonata Les Adieux displays this theory convincingly. In fact, his theory is also related to Kurth’s thinking with respect to “line phases”. Susanne K. Langer (1895⫺1985) belongs to the classics of American semiotics (Sebeok 1991: 42⫺44), but her musical aesthetics in her book Philosophy in a New Key (1942) is rarely mentioned in connection with musical semiotics. According to Langer, music does not present symptoms (indexical signs) of feelings, but their “logical expression” (symbols). Nevertheless, via her master Ernst Cassirer, her theories also have their position within the semiotic traditions. Some theoreticians in the United States have developed Schenker’s theories in a semiotic direction, like Eugen Narmour in his theories on melody and more particularly in his book Beyond Schenkerism (1977). There he clearly shows how difficult it is to apply Schenker’s method in explaining the dramatic and narrative strategies of individual pieces ⫺ e. g., the last movement of Beethoven’s Piano sonata op. 9 in E major. Narratological studies of music in the proper sense began in the 1980’s, when musical narrativity was explored as a historical phenomenon of the time of Romanticism (cf. Newcomb 1984 and Abbate 1991). However, they did not apply the rich concepts developed by European narratological studies in the other arts. When one turns to the area of musical semiotics proper, as it developed in Europe in the 1960’s, it is often hard to distinguish traditional musicologists from semioticians of music. A typical example was the Swede Ingmar Bengtsson, who began his career as a
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musical historian and style analyst and only became interested in musical semiotics and non-verbal communication much later. However, his influence in Scandinavia as a pioneer of this approach was quite remarkable (see Bengtsson 1973).
4.
Main lines in the development of musical semiotics
Musical semiotics as a field relatively independent of both semiotics and musicology started to develop as early as the 1950’s and 1960’s. Just as semiotics in general in those days, musical semiotics, too, was structuralist, keenly obeying linguistic models. In his Structural Anthropology (1958), Le´vi-Strauss declared how linguistics had caused a “Copernican revolution” in the human sciences, offering the ‘rigorous’ methods of structural linguistics and phonetics to be used in other disciplines as well, and promising a level of exactness comparable to that of the natural sciences. As the first noteworthy application of linguistics to music one has to consider Nicolas Ruwet’s studies in the interrelationships of language and music, and more particularly his analyses of the Prelude of Debussy’s Pelleas and the medieval Geisslerlieder (Ruwet 1972; see also Art. 2 § 3.). The idea of reading a myth like a score (borrowed from Le´viStrauss’s famous analysis of the Oedipus myth; Le´vi-Strauss 1958), which was now turned back to music, led to the invention of the so-called paradigmatic method. Similar motifs ⫺ intervals, rhythms ⫺ would be placed in a chart one under the other so that one could see at a single glance the distribution of the musical material in a whole piece of music. From the beginning the problem of segmentation, i. e., the articulation of paradigmatic units, was emphasized, and the criteria used in the segmentation procedure were discussed. Jean-Jacques Nattiez adopted the method from Ruwet and thus established it for a long time as the music-semiotical method (Nattiez 1975 and 1990). However, in his paradigmatic analysis of Debussy’s Syrinx Nattiez already remarked that it was after all impossible to know in advance which were pertinent levels of paradigm in Debussy’s music, as they varied in the course of the piece, and that before starting to analyse a given piece one had to know several other works of a composer in order to obtain the
81. Sign conceptions in music
competence of style for selecting correct paradigms. When the ideal of the analysis was to develop a completely automatic method for a computer analysis, this seemed a noteworthy obstacle for the validity of the method. Moreover, the method seemed to fit only monodic music well ⫺ in more complex music like in J. S. Bach’s fugues in which the texture was not only linear but also harmonic, the method was more difficult to apply. The aim of the paradigmatic method was to lead to a generative grammar, which, following Noam Chomsky’s model, was being sought even in musical texts (cf. Art. 2 § 4.). Regarding the styles of some relatively restricted and simple musical works, one was capable of attaining generative rules by which endlessly new stylecoherent, grammatical and well-formed melodies could be produced on a computer, which in a test situation were indistinguishable from the ‘true’, ‘authentic’ melodies. Such applications were performed on children’s songs in Germany by Thomas Stoffer (see Stoffer 1979), in Sweden by Johan Sundberg (see Sundberg 1992, or Sundberg and Lindblom 1970), in Italy by Mario Baroni and Franco Jacoboni (1978) as well as by Rossana Dalmonte (1981) on Bach’s chorales and Legrenzi’s arias, later also by Lelio Camilleri and his colleagues in the Florence Conservatory Margo Ligabue and Francesco Giomi (see Camilleri 1992), in Canada by Ramon Pelinski (1981) and Jean-Jacques Nattiez on the music of the Inuits, and in Finland by Erkki Pekkilä (1988) on folk music. The generative method culminated in the work of Lerdahl and Jackendoff (1985), when they systematized the inherent tonal rules in Mozart’s style. However, neither Chomsky’s method nor Ruwet’s and Nattiez’s paradigmatic procedure took into account the fact that musical signifiers were also supposed to have another side, that of signifieds. If one considers as the minimal requirement of music that it has at least two levels, those of expression and content (Hjelmslev), signifier and signified (Saussure), that it is something which “stands for something to someone” (Peirce), the science of musical semiotics necessarily has to pay attention to musical significations as well. Nattiez improved his paradigmatic model by calling its object, the musical message or text itself, the “neutral level” and by adding to it ⫺ following theories of the French philosopher Jean Molino ⫺ the aspect of creating a message (poı´e¯sis) and of
1647 receiving it (aı´sthe¯sis). Moreover, besides musical production and reception, musical semiotics also had to clarify the implicit criteria used in the paradigmatic analysis itself. Nattiez’s own analysis of Wagner’s Tristan chord and its various interpretations well illustrates this strategy (Nattiez 1990: 216⫺238). This tripartite model was applied to Che´reau’s and Boulez’s Wagner interpretations by Nattiez (1983) and then considerably improved in his books Musicologie ge´ne´rale et s´emiologie (1987) and Music and Discourse (1990). Nevertheless, at the same time as linguistics entered musicology through Ruwet’s and Nattiez’s approaches, other, no less important trends in musical semiotics occurred, albeit ones which were not so conspicuously platformed in the international context due to language barriers. The first international congress on musical semiotics in Belgrade in 1973, organized by Gino Stefani from Bologna and others, made a whole group of such semioticians of music known (see Actes du 1er congre`s international de se´miotique musicale, Pesaro 1973). It was characteristic of the scholars at this congress that many of them had the profile of a traditional musicologist, to which semiotics fitted more or less naturally. Thus when one evaluates theories of musical semiotics, one should always take into account the underlying musical culture, tradition, experience and education. This helps to understand the strong points as well as weaknesses of such an approach. Thus Gino Stefani ⫺ who has to be considered the leading contemporary Italian semiotician of music ⫺ was influenced by an education in Catholic liturgical music and music of the Baroque era. In his several works Musica barocca (1974), Introduzione alla semiotica della musica (1976), Insegnare la musica (1977), La competenza musicale (1982), Gli intervalli musicali (together with Luca Marconi and Franca Ferrari 1990), Stefani is close to the everyday practices of music. He wants to develop a musical semiotics that could be used in music education, musical therapy and cultural animation. His theoretically most cogent work is La competenza musicale (1982), which is based upon the distinction between two models of musical competence: popular and erudite. The model contains five levels altogether, those of work, style, musical techniques, social practices and general codes, which are present to varied degrees in the aforementioned competences (Fig. 81.10).
1648
Fig. 81.10: The theory of musical competence by the Italian music semiotician Gino Stefani; the diagram illustrates the overlapping of popular and erudite musical competences through five levels: individual musical work, style, musical techniques, social practice and general codes.
Reflecting a much different formation is the musical semiotics of two Czech scholars, Jaroslav Jiranek and Vladimir Karbusicky. In their background one can see Czech structuralism (Petr Bogatyrev, Antonin Sychra, Jan Mukarˇovsky´; cf. Art. 115) and the rich tradition of Czech musical heritage (just as in the studies of their student Jarmila Doubravova´). But if Jiranek has been oriented towards Asafiev’s intonation theory (and earlier to the Marxist model), Karbusicky has chosen Charles S. Peirce’s sign theory as his starting point. In 1968 these scholars separated; Jiranek remained in Prague but was dismissed from his chair until being reinstated towards the end of the 1980’s, whereas Karbusicky was awarded a chair from the University of Hamburg. Karbusicky’s Grundlagen der musikalischen Semantik (1986) ⫺ which belongs to the most essential reading of the field ⫺ is strictly based upon Peirce’s concepts of icon, index and symbol. He considers music to be an indexical expression of emotions and has also conducted experimental studies in musical meaning on this basis. Peirce’s theory has also been applied to music by the Canadian David Lidov (1980) and the American Robert S. Hatten (1987), who in addition developed a theory of markedness in his analyses of Beethoven. Moreover, Wilson Coker (1972), William Dougherty (1993), Kofi Agawu (1991) and David Mosley belong to this line.
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A special school of musical semiotics proceeded from theories of the Lithuanian-born semiotician Algirdas Julien Greimas. I have myself applied his semanalyse to mythical meanings in music, trying to show that an interaction of myth and music in the sense of Le´vi-Strauss has also taken place in the context of Western music (Tarasti 1979). Music could thus receive its sense from myths. A whole network of mythical meanings could in this way be outlined, including semes like the nature-mythical, hero-mythical, magical, fabulous, balladic, legendary, sacred, demonic, fantastic, mystic, exotic, primitivistic, national-musical, pastoral, gestural, sublime and tragic. My later narratological inquiries ⫺ mainly on the Greimasian basis but utilizing concepts from the theories of Peirce and Lotman as well ⫺ have dealt both with programmatic and absolute music. My theory of musical semiotics is based upon four phases chosen from Greimas’s generative course: isotopies; spatial, temporal and actorial categories and their engagement / disengagement; modalities; and semes / phemes. For instance, I have given four different definitions for a term like “isotopy”, which can mean a) some achronic deep structure (e. g., the so-called semiotic square with its four opposed terms s1, s2, not-s1 and not-s2, or a Schenkerian Ursatz), b) a type of texture, c) a textual strategy, and d) thematicity in music (Tarasti 1985 a). Perhaps the most important and original of these levels is the one dealing with musical modalities: ‘will’, ‘know’, ‘must’, ‘can’ and ‘believe’. They can be defined in purely musical terms as well (see, a. o., Tarasti 1992 d and 1994a). Nevertheless, other scholars have also presented musical applications of Greimas’s concepts. Ivanka Stoianova, who in the 1970’s developed an original semiotic theory of psychoanalysis, intonation theory and semiotics (see Stoianova 1978), considers a theme of a fugue or a cantus firmus to be an example of an isotopy. Marta Grabocz, a Hungarian musicologist and student of Jozseph Ujfalussy, has applied the concept of isotopy, e. g., to Liszt’s piano music and to electronic compositions (Grabocz 1986). Especially noteworthy are her studies on pieces by Franc¸ois-Bernard Mache (Grabocz 1991⫺92). Furthermore, Greimas has inspired some other younger scholars. In particular, one might mention the school of Aix around Bernard Vecchione (1986 and 1987), who is using the concepts of instauration and de´chiffre-
81. Sign conceptions in music
ment (referring also to the theories of Pierre Francastel) to mean almost the same as Nattiez’s “poı´e¯sis” and “aı´sthe¯sis”. In ethnomusicology, semiotic ideas have been brought into discussion, among others, by John Blacking, who studied the musical semantics of South African Veda music (How Musical is Man? 1976). Charles Boiles clarified how meanings were united with music by the Tepehua Indians (1973). Simha Arom has systematically studied the music of the pygmies (1969). In Japan, Yoshihiko Tokumaru has applied semiotics to Japanese traditional music (1980), whereas Shuhei Hosokawa has investigated contemporary Japanese culture (such as in his analysis of the walkman; cf. Hosokawa 1981). The latest global view of musical semiotics has been presented at the end of the 1980’s by Raymond Monelle from Edinburgh in his Linguistics and Semiotics in Music (1992). It brilliantly introduces musical semiotics in all its breadth to the British academe, although one should notice that as early as the beginning of the 1980’s almost all the most important introductions to music analysis published in the Anglo-Saxon world already contained at least one chapter about musical semiotics or the theory of musical signs (cf. Bent 1987, Dunsby and Whittall 1988). The pioneer of the discipline in Britain has been David Osmond-Smith, who developed a theory about the inner iconicity in music (1975) and applied semiotics to the study of modern music (e. g., Berio). The most extensive research project in musical semiotics is conducted under the title of “Musical Signification”. It includes about 100 scholars from all over the world, both ethno- and art musicologists, computer theoreticians, cognitivists and more traditionallyminded musicologists. The project was founded in Paris in 1985 by such scholars as Franc¸ois Delalande, Costin Miereanu, Marcello Castellana and myself. It has held three international congresses, two in Finland and one in Edinburgh. The project also includes an international doctoral and post-doctoral seminar which is organized annually at the University of Helsinki. In these seminars training is given to future doctors in musical semiotics. Particularly promising have been the results at the university of Aix-enProvence with its young doctors in this field, Jean-Marie Jacono (working on Musorgsky’s Boris Godunov) and Christine Esclapez (working on temporal strategies in Beethoven’s
1649 string quartets).The project regularly publishes its research results. The extensive report “Basic Concepts in the Study of Musical Signification” appeared in 1987 (cf. Tarasti 1987); congress anthologies and papers from the doctoral seminars are regularly published in the series Acta Semiotica Fennica by the International Semiotics Institute at Imatra. To sum up, during the last thirty years musical semiotics has become part of ‘normal’ musicology at the same time as it became independent from the control of general semiotics and aimed at respecting the autonomy and originality of musical discourse. Recently, cognitive studies have turned semiotics into one of their special branches when investigating the counterparts of musical processes in the neural network models of the human brain (cf. Stoffer 1996). Within this framework, one notes a tendency to abandon more and more the simple generative models of rules for linear configurations in order to search for new types of theoretical schemes. This has been encouraged by results in the semiotics of other arts, e. g., deconstructionism, psychoanalysis, feminist studies, etc. Many of those who exercised semiotics in the area of experimental psychology of music (such as Michel Imberty 1976 and 1981) have quite naturally ended up in the cognitive sciences. However, one can also take the cognitive approach as one subarea of semiotics, in fact as a rather recent invention if one thinks of the 2000-year-old history of semiotics in Western civilization. In any case, semioticians of music are no longer outsiders, neither in general semiotics (in which Umberto Eco in the 1970’s still spoke modestly about the possibility of musical semiotics) nor in musicology (which has, as it were, tacitly adopted many concepts introduced by semioticians, such as the distinction between the subjects of the enunciatum and the enunciation, which Dahlhaus adopted, erroneously thinking to have borrowed it from the Russian formalists). Concerning the publishing channels of musical semiotics, the journal Musique en jeu, in which Nattiez published his first articles, must be mentioned for the 1970’s. Later music semioticians had to publish their essays either in general musicological journals (IRASM, Analyse musicale, Music Theory Review, Indiana Theory Review, etc.) or in semiotic journals (see the special issues on the semiotics of music in Semiotica (1976 and 1987), Zeitschrift für Semiotik (1987) and
1650
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Degre´s (1987⫺1988)). Eunomio (edited by the Italian musicologists Paolo Rosato and Michele Ignelzi) may at the moment be the only journal totally devoted to the semiotic analysis of music. Nevertheless, the number of dissertations under preparation in many parts of the world and the increasing wealth of theoretical approaches to be chosen by scholars working in the field show that musical semiotics is now undergoing rapid growth (for recent developments in Mathematical Music Theory see Art. 152).
5.
Selected references
5.1. Sources: composers with works discussed Ludwig van Beethoven (1770⫺1827): Third symphony in E flat major “Eroica” op. 55, 1806; Fifth symphony in c minor op. 67, 1809; Ninth symphony in d minor with choir finale to the ode “An die Freude” by Friedrich von Schiller, op. 125, 1826; Piano sonatas op. 31 nr. 3 in E flat major, 1803⫺ 1804, op. 53 in C major “Waldstein”, 1805, op. 57 in f minor “Appassionata”, 1807, op. 81 a in E flat major “Les Adieux”, 1811. Alban Berg (1885⫺1935): Violin concerto, 1935. Luciano Berio (1925⫺): Sinfonia, 1968. Hector Berlioz (1803⫺1869): Symphonie fantastique (Episode de la vie d’un artiste), 1830; Harold en Italie, a symphony for alto and orchestra, based upon George Byron’s Childe Harold’s Pilgrimage, 1834. Johannes Brahms (1833⫺1897): Piano sonata op. 5 in f minor, 1853. Alexander Borodin (1833⫺1887): Second symphony in b minor, 1876. Pierre Boulez (1925⫺). John Cage (1912⫺1992): 4'33'', 1952. Carlos Chavez (1899⫺1978). Fre´de´ric Chopin (1810⫺1849): Ballade in g minor op. 23, 1831; Ballade in f minor op. 52, 1840; Piano sonata in b minor op. 58, 1845; Scherzo in c sharp minor op. 39, 1840. Mikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875⫺1911): Symphonic poems “Miske” (‘Forest’), 1901, and “Jura” (‘Sea’), 1907. Claude Debussy (1862⫺1918): Syrinx for solo flute, 1913. Ge´rard Grisey (1946⫺). Charles Ives (1874⫺1954): Three Places in New England, orchestral set, 1903⫺1914. Leos Janacˇek (1854⫺1928): String quartet nr. 2 “Intimate Letters”, 1928. Yrjö Kilpinen (1892⫺1959): Kanteletar op. 100, 64 songs written in the 1950s. Orlando di Lasso (1532⫺1594): Motet Tristis est anima mea.
György Ligeti (1923⫺). Magnus Lindberg (1958⫺). Franz Liszt (1811⫺1886): Symphonic poem Les pre´ludes (d’apre`s Lamartine), 1848⫺1854; Piano piece Valle´e d’Obermann from the collection Anne´es de pe´le´rinage, Premie`re Anne´e: Suisse. Franc¸ois-Bernard Mache (1935⫺). Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809⫺1847): Reformation symphony op. 107, 1830. Olivier Messiaen (1908⫺1992): 4 e´tudes de rythme (Mode de valeurs et d’intensite´s), 1949. Darius Milhaud (1892⫺1974): Saudades do Brasil (two piano suites), 1920⫺21. Wolfgang Amadeus Mozart (1756⫺1791): Piano concerto KV 466 nr. 20, 1785. Tristan Murail (1947⫺). Modest Musorgsky (1839⫺1881): Opera Boris Godunov, first version 1869, second 1872; Pictures at an Exhibition, for piano, 1874. Francis Poulenc (1899⫺1963): Concerto for two pianos in d minor, 1932. Arvo Pärt (1935⫺). Steve Reich (1936⫺). Nicolai Rimsky-Korsakov (1844⫺1908): Symphonic poem Scheherazade op. 35, 1888. Kaija Saariaho (1952⫺). Giacinto Scelsi (1905⫺1988). Franz Schubert (1797⫺1828): Wanderer-Phantasie for piano in C major op. 15, 1822; Erlkönig, a song to the poem by J. W. v. Goethe 1815. Robert Schumann (1810⫺1856): Kreisleriana op. 16, 1837; Phantasie in C major op. 17, 1836. Arnold Schönberg (1874⫺1951). Jean Sibelius (1865⫺1957): Second Symphony op. 43 in D major, 1901⫺1902. Alexander Scriabin (1872⫺1915): Prome´the´e. Le poe`me du feu op. 60 for piano, tastiera per luce, orchestra and choir without words, 1908⫺10. Bedrich Smetana (1824⫺1884): Six symphonic poems “Ma Vlast” (‘My Fatherland’), including Vysehrad, 1874. Igor Stravinsky (1882⫺1971): Ballet Le Sacre du Printemps, 1911⫺1913; Opera-oratorio Oedipus Rex, written together with Jean Cocteau based on Sophocles, 1927. Richard Wagner (1813⫺1883): Operas Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, 1845, new version for Paris 1861; Lohengrin, 1845⫺1848; Der Ring des Nibelungen, a tetralogy, 1852⫺1874; Das Rheingold, 1852⫺54, Die Walküre, 1852⫺1856, Siegfried, 1856⫺1871, Götterdämmerung, 1869⫺ 1874; Tristan und Isolde, 1857⫺1859; Die Meistersinger von Nürnberg, 1861⫺1867; Parsifal, 1877⫺ 1882. Heitor Villa-Lobos (1887⫺1959).
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Eero Tarasti, Helsinki (Finland)
1656
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts from the 19th century to the present 1. Sign conceptions in the philosophy of art 1.1. The role of taste 1.2. Hogarth’s serpentine line as sign of taste and beauty 1.3. Burke’s philosophical enquiry into the idea of the beautiful 1.4. Kant’s Critique of Aesthetic Judgment and the archetype of taste 1.5. Hegel’s spiritualization of the artistic sign 2. Sign conceptions in art from the Beaux-Arts to Cubism 2.1. Charles Blanc’s Grammaire des arts du dessin 2.2. Seurat and Charles Henry’s scientific aesthetics 2.3. The Symbolists and the theory of correspondence 2.4. Cubism and sign conceptions of machine aesthetics 3. Sign conceptions in architecture from Quatreme`re de Quincy to Viollet-le-Duc 3.1. Quatreme`re de Quincy’s theory of types 3.2. Durand’s rationalizing of architectural composition 3.3. Viollet-le-Duc and the rationalization of Gothic architecture 4. The scientific guarantee of beauty and the body as a source of signs 4.1. The microcosmic theory of Fechner 4.2. David Ramsay Hay’s theory of the science of beauty 4.3. The anatomy of the external forms of the human body 4.4. Charles Bell’s anatomy of expression 5. The eclipse of signs in twentieth century architecture 5.1. Utopian movements: the sign from the Arts-and-Crafts to Art Nouveau 5.2. American cities and skyscrapers as graphic signs 5.3. Sign conceptions in the Bauhaus 6. Semiotic theories in architecture 6.1. Giovanni Klaus Koenig’s study of architecture as language 6.2. Umberto Eco and the semiology of visual communication 6.3. Intentions in architecture: Christian Norberg-Schulz’s semiotic theory 6.4. Robert Venturi: symbolism as surface ornament, or learning from Las Vegas 6.5. Architecture as a self-referential system 7. Selected references
1.
Sign conceptions in the philosophy of art
Historians often call the 19th century “the period of Romanticism”. In contrast with Classicism, Romanticism is characterized by
its preference of genius to rule, of subjectivity, irregularity, passion and the picturesque (cf. Art. 75 § 2. and Art. 81 §§ 1. and 2.1.). These characterizations were born from the development of an idea which was a key issue on the agenda of 18th century artistic and philosophical enquiries of beauty ⫺ the concept of taste ⫺ which was omitted in Article 69 and is now to be discussed here more extensively (see also Art. 63 § 3.2. and 67 § 4.3.). 1.1. The role of taste The importance of taste as a concept in art can be traced back to the quarrel between the “Ancients” and the “Moderns” at the end of the 17th century (cf. Art. 63 § 3.1.) and in particular to the debate between Claude Perrault (1613⫺1688) and Franc¸ois Blondel (1617⫺1686). By the early 1690’s, despite their differences regarding the authority of tradition, both the “Ancients” and the “Moderns” seemed to agree at least on one point: taste as the test of connoisseurship. Much as Blondel defended the traditional view that mathematical proportion had absolute value, he admitted the rule of taste in judging works of art. Perrault, on the other hand, thought that taste was formed by the knowledge of arbitrary beauty and that it is what distinguishes true architects from those who are not. While positive beauty is informed by common sense, arbitrary beauty depends on custom (“accoutumance”) and prejudice (“pre´vention”) which originate from imagination (“fantaisie”). It is custom, he says, and not the literal imitation of nature that gives us the idea of beauty. Although Perrault rejects the strict observation of proportional measures as the true source of beauty, he does not abandon the doctrine entirely. He maintains the classical analogy between the beauty of a building and the human body, except that he considers this beauty to reside not in the exact conformity of proportion but in the grace of the form and its agreeable modification. Perrault’s reformulation of the classical doctrine and the theory of beauty raised serious conceptual difficulties and questioned ideas which had been taken for granted by previous generations. If architectural proportions which please the sight are not fixed and invariable as are musical pro-
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portions in the way musical harmonies please the ear (for counterarguments from musicology see Art. 81 § 2.), then how is the architect to go about making buildings harmonious and beautiful? The one requirement he makes is conformity to taste, which thus becomes ever more important in subsequent theoretical investigations. Indeed, taste seems the only possible critical criterion of beauty in architectural theory. Ideas similar to Perrault’s had been voiced earlier by his contemporary Blaise Pascal (1623⫺1662), particularly about the ultimate basis of our beliefs in custom and feeling. This separation between reason and faith found its chief expositor in the 18th century in David Hume (1711⫺1776), who argues that our knowledge is composed of two things: idea and impression, and it is the latter that governs our choice of action. The empiricism of sensation paralleled by Hume’s analysis of the human passions pointed the way towards an increasingly subjective aesthetic. Justifications of the beautiful and sublime qualities in an object were by the effects of pain and pleasure in the subject. The principles of taste seemed to operate in this final court of appeal of the senses, which remained obscure and uncertain, as the mechanisms of our senses were not fully understood. Connoisseurs borrowed the principle of “je ne sc¸ay quoy” to account for their comprehension of grace. Philosophers were beginning to be drawn to the problem of taste. Joseph Addison (1672⫺1719) and Frances Hutcheson (1694⫺1746) were among the first to contribute significant discussions to the subject. By the mid 1750’s, there was a general discontent about the lack of fixed and determinate meanings for the word taste. The French Academy of Art discussed the word on a number of occasions, without reaching any conclusion. William Hogarth (1697⫺ 1764) produced his Analysis of Beauty in 1753 which, as the title says, was “written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste”. 1.2. Hogarth’s serpentine line as sign of taste and beauty Hogarth lists among the criteria of beauty: fitness, variety, uniformity, simplicity, intricacy and quantity. The most important of these is variety, which contains the others in embodying the idea of grace. Fitness seems to come next, it is taken to be the chief ingredient of proportion. Hogarth says he discovered the confirmation from Antiquity of the
1657 two criteria variety and analogy (proportion/ fitness) by reading James C. Le Blon’s English translation of Lambert ten Kate’s (1674⫺ 1731) treatise Le beau ide´al, but he expresses disappointment in not finding a satisfactory explanation for either term. Believing the ancients had kept their doctrines secret from the non-initiates by means of symbols, he proposes two things which he regards as the most expressive figures signifying not only beauty and grace but the whole order of form. These are the serpentine line and the triangular glass (Fig. 82.1). Both ideas seem to have been borrowed from Giovan-Paulo Lomazzo (1538⫺1600) although Hogarth maintains his own originality by referring to the 16th century theorist merely as a source of confirmation for the beliefs he had already formed. According to Lomazzo, the serpentine line was a precept given by Michelangelo (1475⫺ 1564) to his pupil, the painter Marcus of Siena (1525⫺1587/88), that he should always make a figure pyramidal, serpentine and multiplied by one, two and three. Lomazzo regards this as a rule in which the whole mystery of art consists. Hogarth calls it “the line of beauty” and demonstrates how different theorists and artists try to explain or use it. He also cites the story told by Pliny (Natural History 35, 81⫺83) about how Apelles and Protogenes communicated with each other merely by drawing an expressive line. This line he postulates to be something similar to the serpentine line. He adds further that most Egyptian, Greek or Roman deities have a twisted serpent or some symbol of this winding manner to accompany them while those of the barbarous and Gothic nations have none. Lomazzo mentions the idea of the triangular glass in connection with the Greeks who dedicated it to Venus, the goddess of divine beauty. Hogarth, however, does not establish further how the figure contributes to his theory of taste and makes very few references to it in the rest of the treatise. Hogarth’s obsession with variety of line is also shown by his recommendation to imagine every object in a shell-like manner whose surface is made up of very fine threads closely connected together so that the imagining eye can see both the inside and the outside surfaces alike, and thus catch the outlines of the figure easily. He believes this method helps one appreciate the grace of the serpentine line in beautiful objects. Indeed, the bulk of Hogarth’s treatise is given over to the demonstration of this in nature, particu-
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Fig. 82.1: Title page of William Hogarth’s The Analysis of Beauty (1753).
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
larly with respect to the human body. Echoing Descartes (1596⫺1650), Mersenne (1588⫺1648) and Perrault, Hogarth refutes the idea of deriving visual proportions from music. He further denounces the validity of any exact mathematical measurements taken from the body because all muscles alter appearances by their very movement. He argues that the measures from antique statues and buildings are of little use to artists and architects since they only serve to copy what has been done before rather than serving genuine creation. Instead, he recommends general measurements of the body along its vertical and horizontal axes which form a cross (cf. Art. 69 § 3.2.). To appreciate the beauty of the face, he warns against laying undue stress on physiognomy, yet credits it as a source of information for the expressions of the countenance written as a language of lineal description. He recommends that artists consult Charles Le Brun’s (1619⫺1690) pattern book of the passions, by then one of the best known art books (cf. Art. 69 § 4.). 1.3. Burke’s philosophical enquiry into the idea of the beautiful Hogarth’s analysis influenced many later writers on the philosophical enquiry of beauty, of whom Edmund Burke (1729⫺ 1797) was the most notable. Like Hogarth, Burke believes that taste operates by fixed principles in all men. A standard can thus be determined, which would operate like the laws of physical sciences. In his discussion on beauty, Burke devotes more than one third of the section to the problem of proportion (concerning the role of proportion in the aesthetics of Ancient Greece see Art. 44 § 2.3.). Following the teaching of the French masters as well as Shaftesbury (1671⫺1713), he denies that proportion is the cause of beauty in vegetables, animals or the human species. He also attacks the analogy between the body and buildings. He suspects that this analogy was devised to give credit to works of art by showing a conformity between them and the noblest work of nature. The idea of proportion was transferred to nature artificially and not borrowed from it. This is demonstrated, Burke goes on to argue, in the geometrization of gardens. The idea that proportion was the cause of beauty, Burke believes, was the result of either custom or utility. Custom, he argues, inclines us to think that beauty resides in proportion. This is derived from the false reasoning that deformity
1659 is the opposite of beauty, which compels us to want complete and normal proportion; we therefore believe it to be the cause of beauty, whereas the true opposite to beauty is ugliness. Between the two there is a sort of mediocrity in which the assigned proportions are most commonly found, which has no effect upon the passions. Neither is the idea of utility the cause of beauty. For if that were the case, men would be more lovely than women by their sheer strength and agility. This confusion of ideas, Burke maintains, is caused by a sophism which makes us take what is only a concomitant to be a cause. The real effects of fitness and utility (and hence proportion) are approbation and the acquiescence of the understanding, which judges the works of art by their fitness for their end and purpose. Beauty depends on love and the passions, which are, however, previous to any knowledge of use. Burke is not ignoring the significance of proportion at all. He is merely saying that it is different from beauty and the sublime. The real causes of beauty, according to Burke, are the following: smallness, smoothness, gradual variation, delicacy and color. Burke presented his views on the beautiful and the sublime in the context of a bold Newtonian faith in science, yet his account of taste and beauty was not really a scientific formulation. Although he exhorted a sensationist theory of beauty, he recognized the rational validity of proportion and therefore hesitated to dismiss end and purpose in art. His argument was taken up by Immanuel Kant (1724⫺1804) who next looked at the problem of finality in art in a way both subtle and radical (cf. Art. 74 § 2. and Art. 75 § 2.1.). 1.4. Kant’s Critique of Aesthetic Judgment and the archetype of taste Kant identifies taste as the faculty of estimating an object or a mode of representation by means of a delight apart from any interest. Beauty, on the other hand, is a source of pleasure apart from any concept; it is the form of finality in an object apart from the representation of an end. Kant distinguishes free beauty (“pulchritudo vaga”) from dependent beauty (“pulchritudo adhaerens”). Free beauty does not rely on an object ⫺ cf. the beauty of the foliage pattern in border decoration and on wallpapers, or the fantasias in music ⫺ and is assessed in a pure judgment of taste. Dependent beauty, on the other hand, presupposes a concept of the end that defines what the thing has to be ⫺ and hence
1660 a concept of perfection. This includes human beauty and that of horses and buildings. The ideal of beauty ⫺ the archetype of taste or the exemplary model ⫺ is an idea and therefore not free but fixed by a concept of objective finality. Kant claims that this ideal can only be sought in the human figure. The beautiful is acknowledged as an object of a necessary delight apart from concepts. While judgments of sense entail no necessity, and judgments with definite objective principles possess unconditioned necessity, the nature of modality in the judgment of taste is a conditioned subjective necessity. The condition involved is the idea of a common sense (“sensus communis”) which makes the universal communicability of our knowledge possible. Kant’s ideas on art are based on his theory of taste. Since beauty is subjective, a science of the beautiful is impossible. There is only a science of a critique of the beautiful. The beauty of art, unlike the beauty of nature, is mediated through concepts and hence belongs to dependent beauty. The former refers to concept and idea, the latter to the object itself. As a result, when compared with nature, the beauty of art is located on a secondary, semiotic level. Unlike the agreeable arts, which represent mere sensations comprising petty talk, entertaining narrative and the like, or the mechanical arts, which actualize objects according to ends, the fine arts involve modes of representation intrinsically final but devoid of an end, and have the effect of advancing mental culture in the interests of social communication. Kant regards fine art to be possible only as a product of genius, which is the medium through which nature gives rule to art. As taste is responsible for the possibility of beauty in nature, genius is responsible for the possibility of beauty in art. And since the beauty of nature is a beautiful thing while the beauty of art is a beautiful representation of a thing, genius is a secondary principle. It is a union of imagination and understanding guided by taste. Therefore, when a conflict arises between the two, taste should always prevail over genius. Kant also makes a comparison among the fine arts. He ranks poetry first and the art of the tone second. However, he says if we rank the arts by the culture they supply to the mind, then formative arts ⫺ sculpture, architecture and painting ⫺ should rank higher than music. Among the former, painting is higher than sculpture and architecture because it is the groundwork of all the formative arts and
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can therefore penetrate more into the region of ideas, thereby giving a greater extension to the field of intuition than the others. Kant’s idealism of the finality of nature and art tries to synthesize both the empiricism of the agreeable and the rationalism of the good. But his construction of the a priori for the judgment of taste is by no means final. Kant himself acknowledges this incompleteness in the idea of the “sensus communis” when he questions whether it is formed as a regulative principle by a still higher principle of reason (in which case taste would not be a natural and original faculty but the idea of one that is artificial and has to be acquired) so that the judgment of taste is but a requirement of reason for generating such a consensus. This unresolved problem still fascinates philosophers today. Nevertheless, it is agreed that Kant affirms the basic premise that art as a sign has its ultimate point of reference or its archetype in the human body. By announcing that ideal beauty is to be found in the human figure, and that beauty is the symbol of morality, Kant refers to taste as a transition from charm and emotion of the senses to the habitual moral interest. He says at the end of his Critique that “the true propaedeutic for laying the foundations of taste is the development of moral ideas and the culture of the moral feeling. For only when sensibility is brought into harmony with moral feeling can genuine taste assume a definite unchangeable form” (Kant 1790 ⫽ 1911: 227). 1.5. Hegel’s spiritualization of the artistic sign Kant’s exaltation of morality was admitted by G. W. F. Hegel (1770⫺1831), though he criticized Kant for stressing the practical side of the mind over the theoretical, and for relegating the reconciliation of concept and reality, understanding and sense, universality and particularity to inference and subjectivity. Hegel believes that the ultimate purpose of art is to reveal the Idea in sensuous artistic shape, and to represent the antithesis between sensuous particularity and spiritual universality. It is in overcoming this antithesis between impulse and duty, entertainment and instruction, sensuous enjoyment and moral improvement, that philosophy furnishes its own reflected truth and that of nature and art. For real art (fine art), according to Hegel, achieves its highest task in the same sphere with religion and philosophy and is a
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mode of revealing to consciousness the Divine Nature (“das Göttliche”). Beauty of art, therefore, is born of the spirit (“aus dem Geiste”), a born-again beauty which stands higher than the beauty of nature ⫺ a view opposite to that of Kant. Hegel also criticizes theories of taste as defective in universal principles. He refers to taste as the educated sense of beauty which is only directed to the external surface around which the feelings play. The profundity of the matter, however, demands not only sensibility and abstract reflection but the undivided reason and the mind in its full vigor. Hegel believes that the artist’s talent and genius, though containing a natural element, is in need of cultivation by thought, and of reflection on the mode by which it works, as well as training and skill in production. This close association of genius with the mind, therefore, puts it on a higher ground than taste, which is yet another view in conflict with Kant’s. Hegel’s spiritualization of art thus provides a formula for evaluating and classifying the different arts. For the task of art is to represent the Idea in sensuous shape to direct perception. The relation of the Idea to its “articulation” (“Gestaltung”) gives three kinds of art: the Symbolic, the Classical and the Romantic (cf. Art. 75 § 2.4.). The Symbolic form of art has the Idea still in the indeterminate and non-plastic stage, while objects are thoroughly determinate in their shape. The Classical form of art has an adequate embodiment of the Idea in the shape which is appropriate according to its conception. This shape, which “the original notion” (“der ursprüngliche Begriff ”) “invented” and the spirit of art “discovered” and brought into accord with free individual spirituality, is the human form. But the Mind which the human form depicts is a particular case of mind ⫺ the human mind ⫺ and not absolute and eternal, hence incapable of proclaiming and expressing itself otherwise than as spirituality (“Geistigkeit”). Out of this defect arises the third kind of art ⫺ the Romantic form ⫺ which has the unity of the human and divine nature raised from a potential to a conscious level. The true medium for the reality of this content is no longer the sensuous immediate existence of the spiritual, the human bodily shape, but “self-conscious inward intelligence” (“Innerlichkeit”). Romantic art is an art which transcends itself while remaining within the artistic sphere and in artistic form. But the external element (the sensuous exter-
1661 nality of concrete form) no longer has its notion and significance, as in Classical art, in its own sphere and medium, but in the feelings, the display of which is “in themselves”. This general division of art furnishes a hierarchical model also for the particular arts. Architecture, since its concrete spirituality does not admit of being realized and is thus retained as an inward existence over and against the external form, belongs to the Symbolic form of art. Sculpture is a Classical art because the spiritual inward being and its external sensuous shape and matter adapt to each other so that neither is predominant. It is also wrought in the ideal form of the human figure. Painting, music and poetry have the most intimate connection between their intellectual import and sensuous medium and therefore belong to the Romantic forms of art. However, the three arts of color, sound and word also seem to exhibit a hierarchy among themselves within such a domain according to the division of the Symbolic, Classical and Romantic. Poetry is the most transcendent Romantic form of art because sound is the only external matter which it retains, but degraded to a sign void of import. It is a sign of the idea which has become concrete in itself and not merely of indefinite feeling. For the import of words is in the indication of mind, of ideas and notions, and not in the audible aspect of sound or the visible aspect of letter. Hegel’s spiritualization of the artistic sign still leaves some difficulty with the significance of the sensuous existence. What he says about sound in poetry may be true, yet the role of poetical sonority cannot be denied. The mind uses and even needs the sensuous as its symbol. God is spirit and He exists in the medium of mind which is actualized as intelligence in the human self-consciousness. Hegel does not seem to be postulating a spiritual being whose bodily existence is a kind of thin matter; the spiritualization of the natural body is in the gait and gesture, the significance and dignity, that make the body of civilized man the outward image of his soul. The body is moulded as the symbol and instrument of the human soul. It is the only sensuous form in which the mind could attain adequate manifestation. It follows from this that anthropomorphism is a necessity in fine art. And even though Hegel draws a distinction between the Greek conception of God in human form and the Christian conception of God as spirit, he could have admitted the
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symbolization of the Deity to sense only in the image of man. It seems that Hegel’s spiritual doctrine of the Idea has not only not done away with the sensuous bodily medium but even exemplifies its inevitable existence in art.
2.
Sign conceptions in art from the Beaux-Arts to Cubism
2.1. Charles Blanc’s Grammaire des arts du dessin The outline of Kant’s and Hegel’s ideas provides the general context within which theories of art developed at the beginning of the 19th century. It is worth referring here again to Humbert de Superville (cf. Art. 69 § 6.) whose aesthetic semiotics is based on Kant. For Kant’s idea of the schema and intersubjective communicability of the judgment of taste provides the legitimation of Superville’s system of absolute signs. The basic premise of his system is that all people share more or less identical sets of affective responses in the face of certain fundamental linear and coloristic expressions. By abstracting a system of signs from nature and the human body, Superville attempts to link together the physical, intellectual and moral dimensions. But as no language is isomorphic with the world, Superville’s system remains also only a metaphoric approximation. Superville’s ideas, however, were taken up by another theorist, Charles Blanc (1813⫺1882), who was Minister of the Fine Arts in the Ecole des BeauxArts and founder of the Gazette des BeauxArts. Charles Blanc’s Grammaire des arts du dessin was written with the aim to instruct the public on aesthetics. His ideas were a culmination of the French philosophical movement during this period, which was led by Victor Cousin (1792⫺1867). Cousin synthesized Kant and Hegel to formulate the French version of the German spiritualist philosophy. His contemporaries and followers ⫺ Lamennais (1782⫺1854), Jouffroy (1796⫺1842) and Le´veˆque (1818⫺1900) ⫺ all in some degree contributed to Blanc’s theories. The´odore Jouffroy, Cousin’s student, developed the concept of art as made of “visual signs” (“signes visible”). Jouffroy proposed three types of expressive beauty: imitation, idealization and invisibility, which correspond to the sensible, intellectual and moral. He equated the invisible state of mind with
certain fundamental expressions or physiognomical signs, and distinguished two categories of signs: one according to the association of ideas (ideas linked by mere accident), and the other founded upon nature (the visible object reveals to the mind something of an invisible presence). He saw the human visage, for example, as a natural sign of the soul. According to this doctrine, human perception takes in signs which reveal to the mind the existence of the invisible. Jouffroy’s ideas had two possible sources. The concept of the two types of signs probably owed its origin to Moses Mendelssohn (1729⫺1786), friend and collaborator of Lessing (1729⫺1781) and direct precursor of Kant, who developed a theory of the arts based on the distinction between natural and arbitrary signs. A natural sign has its connection with the thing signified within the latter’s characteristics. Thus passions are connected with muscular movements, gestures and tones of voice. An arbitrary sign has nothing physically or materially in common with the designated thing and is assigned only conventionally to it. The articulated sounds of all languages are examples of arbitrary signs. The concept of the visible and invisible, on the other hand, was probably developed from Schelling’s (1775⫺1854) theory of the harmony of the visible and the invisible (cf. Art. 74 § 4). Jouffroy concluded that the highest task of art was the expression of the invisible by means of physical signs. Cousin’s abstract idea of expression ⫺ all arts should represent the rapport between the sentiment of the beautiful and the infinite through the supreme quality of expression ⫺ is thus realized in Jouffroy as a form of fundamental sign language. Each of the arts therefore possesses its own language of rudimentary signs to symbolize spiritual qualities. From Cousin to Jouffroy, there was hence a common basis in a Platonism which exalted the importance of expression; it was echoed also in Charles Blanc’s theories. Blanc regarded art as an all-encompassing aspect of humanity which comprises the religious, the moral, the useful and the beautiful. He adopted Hegel’s concept that art is no mere imitation of nature but should rise above it and transcend it. An artist imitates nature according to his personality, thus giving rise to different styles. He followed Hegel also in recounting the origin and division of the arts after the historical evolution of civilization. But unlike Hegel, he ascribed higher
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values to the arts according to their closeness to origins, not according to their degree of dissociation with materiality. Architecture thus becomes the most elevated form of art. It is also superior because it involves creation rather than imitation of nature, thus realizing par excellence the definition of art as interpretation of nature. There is an emphasis throughout Blanc’s treatise on the human figure, a kind of anthropocentric humanism such that every principle is related to man and his properties. The microcosmic concept of man is most apparent when he explains the idea of line and geometry as the fundamental aesthetic signs. This anthropocentrism came from Jouffroy and Le´veˆque, who sanctioned the idea of an all-embracing aesthetic physiognomy of expressive signs as visual manifestation of the invisible vital force. Blanc referred to line and geometry as the symbolic aesthetic signs of ideas and reasons while color was the natural symbol of the soul. However, he gave superiority to drawing over color as justified by biological evolution since in nature the less developed animals are more beautiful in color. The ideal model of aesthetic physiognomy is in man who embodies the perfect proportion. Blanc even drew an analogy between the organic members of the body and the forms of nature. Blanc’s aesthetic schema of line and geometry and its relation to the human body was explicitly borrowed from Humbert de Superville (Fig. 82.2). The references to verticality as the sign of man’s psychic direction and to the three types of human face ⫺ the horizontal, the expanding and the contracting obliques ⫺ with their moral significance are almost paraphrased from Suverville’s Essai (Fig. 82.3). But Blanc’s treatment of the human head as the model of a geometrical universe was developed from Bernardin de Saint-Pierre’s (1737⫺1814) theory of expressive geometrical figures which reduces all shapes to five essential types: line, triangle, sphere, oval and parabola. Blanc also extended the associationist theory of lines to architecture: width evokes stability, equilibrium and repose; height, the sentiment of elevation and spiritual ascension; depth, mystery and obscurity. He even drew affinity between the Greek Orders and the divinities of Olympus: Doric with Jupiter, Minerva, Mars and Neptune; Ionic with Venus, Proserpine and Flora; Corinthian with Juno, Bacchus, Diana and Apollo. This echoed the analogy which Paillot de Monta-
1663 bert (1771⫺1849) had found in musical modes in his The´orie du geste dans l’art de la peinture of 1813, apparently derived from Poussin (1594⫺1665) and Fe´libien (1619⫺ 1695). Blanc’s conception of drawing as revelation of thought also qualifies his distinction of drawing as masculine and color as feminine. This further substantiates his division of the arts in relation to drawing: architecture relies most on drawing for the generation of thought and therefore occupies a higher place than sculpture and painting. 2.2. Seurat and Charles Henry’s scientific aesthetics Charles Blanc’s theory had a strong impact on the development of Impressionism in the latter part of the 19th century. Georges Seurat (1859⫺1891), who was responsible for the creation of Neo-Impressionism and applied scientific theory in his paintings, acknowledged Blanc’s influence during his early art education at the Ecole. The aim of Impressionism, in Monet’s (1840⫺1926) words, was nothing but immediate sensation. The main function of this sensation was the appearance of the object as conditioned by light. Thus the effect of color was of paramount importance. Ce´zanne (1839⫺1906) also said that art was re-presentation of nature by means of color. The Neo-Impressionists took on themselves the task of refining the Impressionist concerns with the aid of scientific discoveries. Seurat studied various theories of color including those of Sutter (1811⫺1880), Blanc (1813⫺1882), Chevreul (1786⫺1889), Rood (1831⫺1902), Bourgeois (1759⫺1832) and Delacroix (1798⫺1863). His early interest in color theories was shown in his Une baignade, in which he applied the principles discussed by Blanc and the others, namely: optical mixture (the perception of color at a distance formed by small individual neighboring patches), which led to his devising of the pointillist method in which the patches were reduced to small dots; modulation (which Signa, 1863⫺1935, termed “de´gradation”: the juxtaposition of hues close to each other); value contrast (the creation of an illusion of depth); and color harmony (particularly the enhancement of colors by the use of black and white, as recommended by Blanc). Seurat’s interest later turned to theories of expression which unified color and lines to convey emotions. This change, apart from its direct lineage from Humbert de Superville
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Fig. 82.2: Synoptic table (from Humbert de Superville, Essai sur les signes inconditionnels dans l’art, 1827⫺39).
and Blanc, was a result of his meeting Charles Henry (1859⫺1926), who attempted a synthesis of mathematics, physiology and psychology to formulate a scientific aesthetics. Henry maintained that science did not create beauty but spared the artist useless hesitations and false starts by directing him to more perfect aesthetic procedures. While
art pursued the expression of the physiognomy of things, aesthetics dealt with “the conditions which these things satisfy when they are represented as gay or sad, pleasing or displeasing, beautiful or ugly”. He felt that science could furnish the critic with rapid means of discerning ugliness, which could often be sensed but not expressed. Henry as-
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
1665 tractor, which he developed by adopting Gauss’s (1777⫺1855) theory in order to determine what angle or linear directions were rhythmic (cf. Art. 66 § 6.). William Homer, Henri Dorra and John Rewald have shown that Seurat had possibly employed these rhythmic angles in his last two major paintings „Le chahuc“ and „Le cirque“ (Fig. 82.4 on plate III). Seurat’s theories and works summarize the Neo-Impressionists’ theoretical achievements. At first, they believed that by studying the scientific laws governing the behavior of color, they could reproduce nature’s mode of operation in painting and thus surpass the Impressionists. This attitude later changed to a concern less with naturalistic values but more with the problem of conveying emotions through abstract pictorial means.
Fig. 82.3: Diagrams showing “Three Great Lines” and “Man in Upright Position” (from Charles Blanc, Grammaire des arts du dessin, 1870).
sociated the direction from light to heavy with sadness, the opposite with joy; top to bottom with sorrow, the reverse with pleasure; right to left with disagreeable, and the contrary with agreeable. He justified this with the physiology of the human body. Henry’s interest in mathematics also led to his invention of the “rapporteur esthe´tique” ⫺ a pro-
2.3. The Symbolists and the theory of correspondence The Symbolist artists, represented by Gauguin (1848⫺1903), Serusier (1864⫺1927), Denis (1870⫺1943) and Aurier (1865⫺1892), conceived of painting, as Blanc had done, as being composed of subject matter, flat surface and arrangement in forms and colors. They proposed a theory of correspondence which synthesized both object and subject in formal and plastic equivalents of feelings and sensations. The Symbolists believed in the universal language of symbols inherent in the religious art of the remote past ⫺ Egyptian art in particular. The interest in Egyptian art and hieroglyphics (cf. Art. 63 § 3.1.3.) had been transformed by the reductive purism of the 18th century into search of universal character (cf. Art. 62 § 7.2.). Giambattista Vico (1668⫺1744) referred to hieroglyphics as the first type of written language in history. Court de Gebelin (1725⫺1754) considered it the prototype for natural signs, which even preceded the legend of the Corinthian maid who traced the shadow of her lover as the origin of drawing (Fig. 82.5 on plate IV). This idea was further developed by Quatreme`re de Quincy (1755⫺1849), who proposed in his study of Egyptian art that its relief sculpture was in fact writing. The word grammar in Greek means ‘painting’ or ‘picture’. This etymological connection between writing and painting perhaps explained the 19th century longing (as expressed by Fr. Schlegel) for the Romantics to create a new vocabulary in painting composed entirely of hieroglyphic symbols that contained the divine mysteries (cf. Art. 63 §§ 5.1.⫺5.3.). This
1666 trend towards an ideographic art formed the basis for the 19th century Symbolist art with its concern, in Maurice Denis’ words, for the equivalence between the harmony of forms and the logic of dogma. Denis (1912: 259 f) summed up the Symbolist idea as follows: “Art is no more a visual sensation than a refined photography of nature. No. It is a creation of our spirit in which nature is only the occasion. Instead of ‘working with the eye, we searched for it in the mysterious center of thought’, said Gauguin. In this way, imagination became again, following the wish of Baudelaire, the queen of the faculties. That is how we liberated our sensibility; and art, instead of being a copy, became the subjective deformation of nature. From the objective point of view, the decorative aesthetic and rational composition, which the Impressionists did not consider (as it contradicted their taste for improvisation), became the counterpart, the necessary corrective of the theory of equivalents. The latter authorized all transpositions, or all the excess of characterization, even caricatures with regard to expression. The objective deformation in its turn obliged the artist to transpose all this into beauty. In summary, the expressive synthesis, the symbol of a sensation must be an eloquent transcription and at the same time an object composed for the pleasure of the eyes” (Fig. 82.6 on plate V). This idea of double deformation of the object and the subject anticipated the disintegration and decomposition in art that was to come in the 20th century (cf. Art. 154). 2.4. Cubism and sign conceptions of machine aesthetics Impressionism disintegrated at the end of the 19th century into the Neo-Impressionism of Seurat and the Symbolist synthetism of Gauguin. The younger generation ⫺ Matisse (1869⫺1954), Derain (1880⫺1955) and Braque (1882⫺1963) ⫺ was at first interested in the Neo-Impressionists, but by 1905 they began to shift attention towards Van Gogh (1853⫺1890) and Gauguin. The exhibition of Matisse and others in the Salons of 1905 and 1906 was criticized as savage (“fauve”), and the label “Fauvist” stuck to the harshly painted and brilliantly colored work of the movement. Around 1908, Braque and Picasso (1881⫺1973) began to repudiate the Fauves and their precursors as a tradition of undisciplined decoration; they looked back to Ce´zanne (1839⫺1906) for new inspiration.
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
They admired Ce´zanne’s frequent choice of angular forms in his subject matter and even went beyond his perception of the geometrical forms underlying the disorder of nature. This endeavor is known as Cubism. The Cubists (of whom there were only two to begin with, Picasso and Braque) abandoned the violent colors of the Fauves for the pursuit of a geometrical rendering of landscape and human form, which owed much to Ce´zanne. The earliest analytical Cubism was very much concerned with the abandonment of perspective, both atmospheric and linear, in favor of a quasi-sculptured ‘construction’ of the image on the picture plane. The central concern was to show the representation of the object as many-faceted and transformed through motion and time. Objects were analyzed into further planar elements, so that a reading sometimes became problematic. Circa 1912⫺13, the Cubists moved to a more severe and clearer compositional method, relying on a tighter surface geometry, which has been termed “synthetic” (at the time “conceptual”) Cubism. Increasingly the presence of the surface was emphasized at the expense of the object represented, which led the two artists (Braque especially) to introduce lettering and imitation (rather than representation) of various textures on the surfaces of the picture plane. From about 1911⫺12 on, both artists started using collage, applying real objects: wall-paper, newspapers, tickets, playing cards (later three-dimensional objects as well) to the picture, to intensify its “objectness” (Fig. 82.7 on plate V). Many of these were machine-made textures. They used them much like certain writers of the time (especially their friends Apollinaire and Jacob) by deliberately quoting cliche´s to present the lyrical aspect of everyday reality. Formally, collage was the obvious extension of the simulated surfaces of earlier Cubist painting, and was taken up by a number of artists, e. g., Juan Gris (1887⫺1927) and Jean Metzinger (1883⫺1956). The collage technique demonstrated the emancipation of these artists from the exclusive use of traditional media. The juxtaposition of real (as against represented) objects with invented signs enriched the vocabulary and meaning of the Cubist composition. The question of subject matter in Cubism is also worth examining. The Cubists employed for the most part traditional subjects: figures, portraits, still life and objects like
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82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
bottles, playing cards, dice, violins, pipes, guitars, etc., which Meyer Schapiro calls “private instruments of idle sensation”. He interprets the choice of these objects as revealing a significant preoccupation of the Cubists with a Bohemian life style, despite the fact that the Cubists themselves attached very little importance to their subject matter. In other words, the Cubist subjects are interpreted not as direct objects of life but as symbols of art. This semantic dimension of the Cubist iconography is perhaps rooted in the social maladjustment of these artists, which is also reflected in the expressive choice of pierrot and harlequin as a theme. The influence of Cubism on architecture is most apparent in a subsidiary development of Purism. It is clearly manifested in the work of Le Corbusier (1887⫺1966). Corbusier and Ozenant (1886⫺1966) heralded this movement, which derived its polemic from a theme ⫺ machine aesthetics ⫺ that had also influenced previous avant-garde movements in other countries, including Constructivism in Russia and de Stijl in Holland. All of them shared a common concern for reform, were enthusiastic about new technologies, self-consciously modern, aware of social problems and not concerned with painting alone but with all forms of art, especially architecture. Purism distinguished itself in its choice of ordinary recognizable objects for pictorial signs and its emphasis on their representation in machine-like precision and workmanship. The elimination of depth, the overlapping of transparent planes and the deliberate joining and fitting of the contours of different objects ⫺ the “marriage of the contours”, as Corbusier calls it ⫺ facilitate ambiguous and multiple readings of a picture. Corbusier developed his architecture in relation to this planar definition of space (“shallow space”), enriching it with illusionistic and painterly qualities. The Villa Savoye and the Villa at Garches embodied his ideas of a new architecture (Fig. 82.8). Corbusier was greatly impressed by progress in technology and new machines, particularly the ocean liner, the automobile and the airplane. He thought of the house as an industrial product which can be mass-produced like a piece of furniture. Just as a chair is a machine for sitting in, so the house, Corbusier says, is a machine for living in. He recorded these radical ideas in his book Vers une architecture, published in 1923. Like many of his contemporaries, Corbusier saw the problem of housing
as the root of contemporary social unrest and he believed that, besides revolution, architecture was the necessary means to carry out social reform. He postulated “five points of a new architecture”: 1. house on pilons; 2. roof as terrace; 3. free plans instead of the traditional load-bearing plans; 4. long windows; 5. free facades, i. e., the facade as membrane instead of load-bearing wall. In addition to the development of these radical sign conceptions of new architecture, Corbusier later elaborated a new system of proportion ⫺ The Modulor ⫺ by combining the Fibonacci series (i. e., a recursive number sequence which can be expressed as a curve in the form of an equiangular spiral as in snail shells) with the height of an idealized human body (Fig. 82.9). His aim was to set up a system of measures which might facilitate a harmonious standardization of the building industry. Corbusier restated the fundamental link between architecture and the human body through proportion. The Modulor is perhaps the most recent investigation of proportion to have a strong impact on architectural production. Corbusier’s ideas have revolutionized the architecture of a whole generation and his influence is still effectual and perceptible today.
3.
Sign conceptions in architecture from Quatreme`re de Quincy to Viollet-le-Duc
The analogizing and scientific studies of the human body in relation to art and architecture constitute a main theme in our investigation of sign conceptions in these disciplines since the Renaissance. In the previous sections, we have outlined the development of this important idea in art during the 19th and 20th centuries and we believe that it will continue to inform the course of changes in the future. In the following sections, we shall examine how language, as an expressive attribute of the body, has become an important model for the formulation of architectural theories since the 19th century. 3.1. Quatreme`re de Quincy’s theory of types We mentioned earlier the connection between writing and painting (cf. § 2.3.). Indeed, the debate over the origin of architecture in the 18th century also found allegiance with that of language. It was Quatreme`re de Quincy (1755⫺1849) who used the latter to support his view on the former. By adopting the the-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Fig. 82.8: Le Corbusier: Villa at Garches, first floor plan.
ory of multiple origins in language, he argued that architecture also had multiple origins in different types of construction, namely, the hut, the cave and the tent. Greek architecture was developed chiefly from the hut while Egyptian architecture evolved largely from the cave. What holds them together is a universal grammar describing the common basis of the different languages. Quatreme`re distinguished further two kinds of languages ⫺ natural and artificial ⫺ and he identified Egyptian architecture as belonging to the former and Greek architecture to the latter. Unlike natural language, which is based on conventions, artificial language is based on reason which conveys abstract notions by in-
tellectual imitation and hence carries a greater social and moral import. This relationship between language and society therefore also imparts social significance to architecture. Quatreme`re’s exaltation of Greek architecture was in fact based on his exemplary esteem of the society which it served (cf. Art. 47 § 2. and Art. 60 § 4.6.). Regarding classical architecture as an artificial language, he believed it to be a universal language that could express the superior moral and intellectual social development he admired in classical Greek societies. Quatreme`re’s idea of types to integrate the history of architecture and his theory of imitation for the transformation of types into
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
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Fig. 82.9: Le Corbusier: The Modulor (1951).
styles were contemporaneous with the notion that architecture might be considered a field of signs (or at any rate of ‘modes’, or even moods � as the English preferred to think), which was maintained by a number of architects: most brilliantly by Claude-Nicolas Ledoux (1736�1806), whose elaborately differentiated buildings (and even more his unexecuted but widely published projects) outlined a whole “architecture parlante” as his later admirers called it.
3.2. Durand’s rationalizing of architectural composition Against this elaboration Jean Nicolas Louis Durand (1760�1834) advanced a reductive compositional system (Fig. 82.10). A pupil of another ‘visionary’ architect, Etienne-Louis Boulle´e (1728�1799), he, like his master, built very little. But unlike his master, whose work remained known through autographs only, he published two books, both of which were very successful. The first, Recueil et par-
´ cole Polytechnique, 1802⫺5). Fig. 82.10: Elements of buildings (from Jean N. L. Durand, Partie graphique des cours d’architecture faits a l’E
1670 X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
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alle`le des e´difices de tout genre, put the main constructed monuments of the world together at the same scale, universalizing the earlier presentations of David Le Roy (1729⫺1803) (churches) and Gabriel-Pierre-Martin Dumont (1700⫺90) (theatres), and showed the “superficial” nature of their ornaments, while proposing a systematic study of a society through the functions of its buildings; the second and more influential was the Pre´cis des lec¸ons d’architecture donne´es a` l’Ecole Polytechnique (1802⫺05; many editions, with changes in the title to “Ecole Impe´riale” and then “Ecole Royale”). Although given at the Ecole Polytechnique, the method which Durand used as the basis of his teaching was accepted as a didactic tool in most architectural schools all over the world. Durand’s method was based ⫺ against the “speaking” and variegated architecture of Ledoux ⫺ on the priority of the simplest forms, the sphere and the cube. This article of faith was mediated by the use of a system of axes, which governed the plan, and an overlaid grid, which “rationalized” the structural system of the building by providing center lines for walls and columns; the latter he treats as a near-equivalent of grammatical rules: “We see how the study of architecture […] [may be reduced] to a quite minimal number of elements, that are, however, sufficient for the composition of all buildings […], but with results that are as rich and as various as the combinations within language […]”. For Durand a building is the direct product of its function, filtered only through the mediation of symmetry and economy (both conceptual and financial). Ornament is accidental ⫺ richness and variety can be produced by judicious painting, a doctrine that also rejected his master Boulle´e’s grounding of architectural effects in Condillac’s (1715⫺ 1780) “sensationalism” (cf. Art. 62 § 8.2.5.). Durand’s mechanistic rationalism elides the traditional and ⫺ since Vitruvius ⫺ binding dichotomy of “significat” and “significatur” as well as the role of metaphor in designing: his compositions are not intended to carry any meaning. The architects of the next generation found this very disturbing. Some sought refuge from the dry doctrine in an eclectic functionalism (a style for the job: Fe´lix Duban (1797⫺1870), Le´on Vaudoyer (1803⫺1872)); a similar formulation was taught quite independently by the German architect Hans Hübsch (In welchem Stil sollen wir bauen?; 1828) while others (notably Henri
1671 Labrouste, 1801⫺1875) thought that a timeless ornament could be devised to clothe even the most ‘rational’ structures; the best-known realizations of Labrouste’s theories were the Library of Ste Genevie`ve and the Bibliothe`que Nationale in Paris. Victor Hugo (1802⫺1885), who knew Labrouste and his ideas, made his novel Noˆtre Dame de Paris a romantic paean to a single Gothic building. In a long digression (Book V, chapter 2) called “Ceci tuera cela” (“This will kill that”) he foresees the end of architecture as a carrier of messages because of the universal accessibility of the printed book: “architecture was indeed dead ⫺ dead beyond recall, killed by the printed book, killed because it is less durable, killed because it is more costly […]. Architecture will never again be the social, the collective, the dominant art. The great epic, the great monument, the great masterpiece of mankind will never again be a built ⫺ it will be a printed one.” When Hugo was writing this, Hegel was, completely independently, teaching an analogous doctrine (though for rather different reasons) in his lectures on Aesthetics at the University of Berlin, which were not published until some time after his death, in 1835 (cf. § 1.5. and Art. 75 § 2.4.). While Hegel was not concerned about the irrelevance of architecture, Hugo was lamenting the decline of architecture, wishing to promote its revival by inspiring a love of the monuments. 3.3. Viollet-le-Duc and the rationalization of Gothic architecture Victor Hugo’s novel was very significant in stimulating the Gothic passion in France, which had always been present in the classicism of Cordemoy (1631⫺1713) and Soufflot (1713⫺80). With Viollet-le-Duc (1814⫺79) and his Gothic credo and manifestos for architectural restoration, the Gothic passion reached at its acme. His Gothic was not so much a style to be revived but a set of principles that might lead to a timeless style ⫺ an idea which also inspired the architects Blouet (1795⫺1853) and Labrouste. Viollet-le-Duc analyzed every form and detail to arrive at a set of principles for design applicable in the 19th century. He sought a visible expression of 13th century architecture in contemporary materials of iron, timber, etc., replacing stone flying buttresses with cast-iron columns. This led to his belief that every Gothic feature and every moulding could be interpreted as a rational device and to his conviction that archi-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
tecture was a clear expression of function embodying political and social aspirations, material limitations and needs (Fig. 82.11). Viollet-le-Duc’s reinterpretation of Gothic architectural elements in modern building materials and methods was, of course, based on his understanding of Gothic building principles as a rational system of construction rules ⫺ a point which has been contested by several historians. But the syntactic isolation of elements from their semantic context also rendered his “revived” Gothic another style among the many within the eclecticism of the late 19th century. Indeed styles had by then become matters of habit, and any claim of exclusiveness was regarded as outmoded (for comparable developments in music see Art. 81 § 2.2.). Eclecticism was no longer interpreted as a position of uncertainty, but as freedom to adopt the style or styles which the occasion demanded. Eclecticism was most rampant in Victorian England in the numerous iron and glass constructions of exposition buildings and train stations. However, the new materials and construction techniques developed in the Industrial Revolution eventually stimulated new architectural forms.
4.
The scientific guarantee of beauty and the body as a source of signs
While inventive technologies at the end of the nineteenth and in the early twentieth century had a direct impact on architectural form, the positivist spirit which prevailed in scientific study required a revision of the relation between the arts and the natural sciences. In particular, any contention about beauty had to be legitimated on a scientific basis ⫺ statistical, physiological or even psychological. A common characteristic of such new theories was their meticulous examination of the human body in its various aspects: physiology, psychology, physiognomy, anatomy and phrenology. All these studies could be summarized as investigation of the sign systems in the body, and in as much as they were related to art, an integration of their results in a semiotic theory of art seemed possible. 4.1. The microcosmic theory of Fechner Some of Charles Henry’s ideas (cf. § 2.2.) can be traced back to a group of earlier intellectuals in the 19th century who believed in the scientific study of art and beauty. Henry him-
self acknowledged, among the scientists, Fechner (1801⫺1887), Wundt (1832⫺1920) and Helmholtz (1821⫺1894); among the aesthetic theorists and artists, Hanslick (1825⫺1904), Zeising (1810⫺1876) and Hay (1798⫺1866). All these scholars shared certain characteristics: they were interested in the aesthetic qualities of numbers and mathematics and tried to relate them to the psychological, physiological or physiognomical aspects of the human body in one way or another. Fechner, now generally regarded as the father of psychophysics, is famous for his theory of the calculable measurement of sensation. In his classic book Elements of Psychophysics (1860; English translation 1866), he formulates his first principle, i. e., that the magnitude of the stimulus is proportional to the magnitude of the sensation, which can be determined mathematically. However, the unit of measurement is conditioned by the degrees of sensitivity which depend upon subjective experience. In other words, although Fechner proposed the possibility of quantifying the elusiveness of sensation, he also recognized the innate subjectivity in the apparently objective measurements. This dilemma is epitomized by his experimental psychological work on aesthetics, e. g., in the statistical justification of the golden rectangle as the most beautiful quadrangular shape: the empirical statistical findings are based on subjective aesthetic judgment. The invention of statistics in the 19th century enabled Que´telet (1796⫺1874) and others to pioneer a new anthropological study of man, which also transformed the nature of the enquiry of the aesthetic ideal. The classical ideal that used to dwell only in the artist’s imagination and was held to be above the ordinary, had in the 19th century come to reside in the experiences of the many. Fechner’s work has another aspect relevant to our investigation: his panpsychic view of microcosm. He established a corporeal and spiritual link between man and the universe by analogy and produced a theory of resemblance between the earth and the human body. In his book Zend-Avesta (1851), he related microcosm to macrocosm and compared: the rocks with our bones, streams with the blood running through our arteries, light with the beams penetrating our eyes, and electricity with the fine force transmitted through our nerves. He even found correspondences with these analogies in Christian religious doctrines. But Fechner was well
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Fig. 82.11: Gothic details (from Viollet-le-Duc, Dictionnaire, 1854⫺68).
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1674 aware of the limitation of this analogy. Since resemblances are not subject to proof, they had to be regarded as a matter of faith. This also summarizes the problem of signs in art, which is based on physiognomic perception: the meanings of the signs derived from physiognomic analogy are imprecise, yet their strength stems from this very imprecision as a transitory step towards subsequent analytical understanding. 4.2. David Ramsay Hay’s theory of the science of beauty Charles Henry was probably inspired by D. R. Hay (1798⫺1866) concerning his idea of the “rapporteur esthe´tique” and his conclusion that direction is the reality which lines indicate. Hay, a decorative artist and writer on art from Edinburgh, produced a number of treatises on the principle of harmony governing color, sound and form. He subsequently summarized his whole theory into a re´sume´ work with the title The Science of Beauty, as Developed in Nature and Applied in Art, which first appeared in 1856. Hay owed much to Reid and Hutcheson but perhaps most of all to Victor Cousin; he postulated an idea of absolute beauty and hence a true science of the subject on fixed principles; this beauty he regarded as the result of harmony, which Aristotle had defined as “the union of contrary principles having a ratio to each other” (Hay 1856: 11). Following much earlier thinking he defined the two contrary principles as uniformity and variety; they give rise respectively to symmetrical and to picturesque beauty. The highest degree of beauty in nature is the result of an equal balance between uniformity and variety. An example of this is the human figure. Hay did not demonstrate how uniformity bore an equal ratio to variety nor did he mention what that ratio was. It was Adolf Zeising who attempted a synthesis, claiming that the governing ratio was the golden mean (Fig. 82.12). For Hay, picturesque beauty is not dependent on the total absence of symmetry, for it must be obedient to the harmonic law of nature, too. In fact, even architecture, which he says belongs to symmetrical beauty, must inevitably blend with the picturesque as it proceeds towards ruin. In the same way, the human body maintains a balance between the two types of beauty as it ages. All harmonious combinations in sound, color and form are composed according to these two prin-
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ciples. But to formulate a proper basis for a universal science of beauty, Hay concludes that one must first have recourse to numbers in the abstract. He bases his theory on the Pythagorean system of numerical ratios and on the analogical reasoning that music impresses the mind through the ear in the same way as proportion addresses it through the eye. This, of course, has been a subject of debate ever since Perrault’s attack of the idea in the 17th century (cf. § 1.). Hay does not deal with the philosophical difficulties of this problem; his argument is based on the concept of analogy, which was derived from ten Kate’s treatise on the “Beau ide´al” by Hogarth. In addition, he draws his philosophical support from the work of the contemporary chemist George Field (1777?⫺1854), who was also interested in the theory of chromatics and had written a treatise called Outlines of an Analogical Philosophy (1839). Following Field, who might have in turn been inspired by Superville, Hay classifies three kinds of lines: the straight, crooked and curved, which relate plastically to the square, triangle and circle, chromatically to blue, red and yellow and musically to the tonic, mediant and dominant (cf. Art. 81). Hay devised a system of proportions based on angles and musical ratios and demonstrated that they govern art and architecture. He also applied this system to the natural forms exemplified by the human head and body (Fig. 82.13). Hay cites in this connection the work of Camper (1722⫺1789), but criticizes his rule as being based more on a physiological than an aesthetic principle. The major objection is that Camper defines the facial line by the internal structure of the skull rather than by its external appearance. He believes the aesthetic beauty of the human head has to do with the external rather than the internal. However, this objection is, in a sense, nullified by his own system of harmonic angles for the human body. Hay derives these angles from the joints and principal points in the skeleton. It is interesting to note that although Hay did not practise anatomy himself, he was in close association with experts in Edinburgh, an important center for anatomical study in the 19th century. His re´sume´ work, The Science of Beauty, for example, was dedicated to John Goodsir (1814⫺1867), Professor of Anatomy at the University of Edinburgh, who had probably helped him in the formulation of his theory.
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Fig. 82.12: Human proportion (from Adolf Zeising, Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, 1854).
4.3. The anatomy of the external forms of the human body Goodsir was also interested in the aesthetics of forms and speculated that the triangle was the ground plan of all organic forms. He sought to classify living organisms into categories related to crystals, with man classified in this scheme as a tetrahedron. He wrote a paper “On the Dignity of the Human Body” (published posthumously in 1868) and read two papers “On the Natural Principles of
Beauty” ⫺ before the Aesthetic Society, established in Edinburgh in 1851 by Hay and others, of which he and Professor Philip Kelland (1808⫺1879), a mathematician who also took interest in Hay’s theory, were both members. In his paper “Exposition of the views of D. R. Hay, Esq., on Symmetric Proportion”, read to the Royal Society of Edinburgh, Kelland had sanctioned Hay’s ideas. Goodsir was the pupil of another interesting figure from Edinburgh, Robert Knox (1791⫺
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Fig. 82.13: Proportion of the human head (from David R. Hay, The Science of Beauty, 1856).
1862), who was a well-known anatomist. Knox’s interest in artistic anatomy led him to write several books on the subject, including A Manual of Artistic Anatomy (1852), in which he rejects the use of abstract geometrical figures in the instruction of figure drawings. He holds that since these forms are never seen in nature, they are not easily comprehensible. His empirical training led him to distinguish further between the exterior and the interior, referring to those who draw according to the latter as producing figures which look like living corpses. But the grand masters in the past, he said, drew what they saw; “they drew the true, that is, the exterior forms, masking internal shapes or configurations, and clothed them with that coloured drapery, which Nature designed” (Knox 1852: 10 f). Knox’s rejection of geometry in favor of observing externals was influenced by the French anatomist Julien Fau (1810⫺1878), whose book Anatomy of the External Forms of Man he translated into English (1849). Another anatomist who drew attention to the external forms of the human body was Pierre Nicolas Gerdy (1797⫺1856) who wrote Anatomie des formes exte´rieures du corps humain in 1829. His treatise on the anatomy of the
exterior forms of the human body was dedicated both to artists and surgeons. On one hand, anatomy shows the exterior of the body to the artists by recollecting the parts hidden beneath the skin. On the other hand, the exterior forms show what is hidden in the depth of the body to the surgeon (Fig. 82.14). Gerdy regarded Camper’s work on the relationship between the face and the cranium not as an evaluation of the intelligence of the animals but only as a means of comprehending their physiognomical differences and discovering an easy and convenient method to sketch the head. For Gerdy, the facial angle proposed by Camper does not signify intelligence but a convention of taste. He believes that the Greek heads with a facial angle of 100 degrees (like their perpendicular noses and the indentation at their roots), with the eyes deeply inset in their orbits, result from a caprice of taste and not from a calculation of reason. Thus they do not necessarily give to the face a designation of intelligence (cf. Art. 69 § 4.). Gerdy also rejects the work of Gall on phrenology, saying that the value of his method is neither proved nor manifested. Knox had also dismissed Camper’s facial angle in his Manual as a false postulate for the comparative measure of the human intel-
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82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 82.14: Anatomy of the exterior forms of the human body (from Pierre N. Gerdy, Anatomie des formes exte´rieures du corps humain, 1829).
lect. Citing Cuvier (1769⫺1832), he gave two reasons for this: first, Camper had overlooked the frontal sinuses; second, if the objective were really to compare the size of the
brain with the face, the area of the vertical section of the cavity of the cranium should be compared with the area of the vertical section of the face. Knox extended his rebuke
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
to similar kinds of formulas developed from Camper’s postulate, including the work of Charles Bell (1774⫺1842), a contemporary anatomist from Edinburgh, who was also a fine artist. 4.4. Charles Bell’s anatomy of expression Bell’s major scientific contribution was his discovery of the role of the nervous system in effecting emotion and expression. In verifying his theories and principles, he looked to the artistic representations in the works of the great masters in painting and sculpture. This connection between science and art led him to write a treatise called The Anatomy and Philosophy of Expression in 1805. Bell refused to measure the proportion of the head by comparing the size of the brain with that of the face. He considered facial features rather than the form of the entire head and maintained that unless there is conformity in every feature to the general shape of the head, measuring the obtuse facial angle of the ancient Greek sculpture will only produce deformity. Bell concludes that what distinguishes man from brutes most is speech, insofar as it corresponds to his exalted intellectual and moral endowments. The visible signs of this high endowment are the nostrils, jaws, mouth, and lips. Since the capacity of expression is in the nostril and mouth, they are the peculiar attributes of the human countenance. Bell devised a method of measuring the skull not unlike Camper’s (cf. Art. 69 § 4.). Inspired by his American pupil William Gibson (1788⫺1868), he positioned the skull upon a perpendicular rod passing through the foramen magnum into the interior of the skull so that the upper part of the cranium rests on the point. Instead of using the horizontal as the reference line as Camper had done, Bell chose the vertical line passing through the condyles of the occipital bone and the center of the foramen magnum to measure the degree of inclination of the face (Fig. 82.15). He claimed superiority for this method in that his facial line (unlike Camper’s which only marks the inclination of the face) now makes reference to the whole form and proportion of the head. By successively examining different facial bones, he discovered that the apparent magnitude of inclination in the Negro skull results from the size and form of the jaw-bones alone, while the upper bones of the face which have no relation to the teeth and mastication are less than those of the European skull. These findings
Fig. 82.15: Anatomy of expression (from Charles Bell, The Anatomy and Philosophy of Expression as Connected with the Fine Arts, 1877).
confirmed Bell’s view that the distinguishing characteristics of the human head depend on its various functions ⫺ the organs of mastication, speech and expression. Expression, according to Bell, is what makes a countenance beautiful. A face that has nothing remarkable in repose can become beautiful in expression. It is the harmony of the features of expression rather than the permanent form of a countenance that constitutes beauty of proportion. According to Bell, the organ of breathing is the principal apparatus which produces the outward signs of expression. His explanation of the facial anatomy that causes different expressions was based on a physiological mechanism connecting the passions of the mind with the organs of the body through the nerves which induce sympathy in the muscles (cf. Art. 21 § 2.). Bell’s approach was taken up and developed by Guillaume B. A. Duchenne (1806⫺ 1875) who passed electric current through muscular nerves to simulate and study human expression. Duchenne’s work also inspired Charles Darwin’s (1809⫺1882) book The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872; cf. Art. 85 § 2.). But neither of them related their physiological studies to art. Darwin even concluded that the representation of strongly contracted muscles of extreme emotion would destroy beauty in works of art.
5.
The eclipse of signs in twentieth century architecture
5.1. Utopian movements: the sign from the Arts-and-Crafts to Art Nouveau The 19th century utopian movement was a reaction against the conditions of industrial towns. It was reflected in the dissatisfaction
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
with the confusion and vulgarity of industrial production, even of everyday household objects and utensils, but above all, with the degrading condition of machine production. But the moral basis of labor advocated by John Ruskin (1819⫺1900) implied a return to the Medieval processes of handicraft production. The English Arts and Crafts Movement, which intended to improve the form and character of everyday household objects and utensils ⫺ furniture, tools, textiles, clothes, and utensils of all kinds ⫺, was linked by William Morris (1834⫺1896) to the line of thought of urban utopians. The utopian attempt at first was to reorganize art and industry on a formal level, but the central issue connected to quality of design later proved to be the moral and intellectual attitude of the designer and consumer, as expressed in the derivation of design and ornament from materials and techniques of construction. The application of materialist principles to craft and design was influenced to a large extent by the theories of Gottfried Semper (1803⫺1879) in the two volumes of his Der Stil in den technischen und architektonischen Künsten (1860⫺63). However, the attitude towards mechanical production on the part of the Arts and Crafts artists was not entirely negative. Starting from a Ruskinian position, William Morris thought that production could be transformed by an economic revolution based on Marx’s conception of the value of labor; he therefore did not mean to have all machinery abolished and even added that it was not the tangible machine but the great intangible machine of commercial tyranny which should be abolished. Successors to Morris such as Ashbee (1863⫺1942), Lethaby (1857⫺1931), Voysey (1857⫺1941) and Richard Norman Shaw (1831⫺1912) were able to conquer the prejudice against industry. In Scotland, Charles Rennie Mackintosh (1869⫺1928) was regarded as successor to the English Arts and Crafts movement. Coming from the Gothic Revivalist tradition as interpreted by William Butterfield (1814⫺ 1900) and George Edmund Street (1824⫺ 1881), Mackintosh’s architecture drew inspiration partly from Voysey and partly from the Scottish Baronial tradition. William R. Lethaby (1891), stimulated by the development of comparative anthropology and by the universalist ideas of the “Celtic twilight”, tried to formulate general “archetypes” of architectural symbolism; even if Mackintosh
1679 did not read him, he provided the link between Celtic mysticism and a pragmatic Arts and Crafts approach to form. The association with historical tradition perhaps differentiated Mackintosh from his continental contemporaries of the Art Nouveau movement who were striving for a style free from historical associations and drew inspirations from nature, in the curves and lines of vegetation etc. The Dutch artist Van de Velde (1863⫺1957) referred to the quality his work had in common with those of Victor Horta (1861⫺1947), Paul Hankar (1861⫺1901) and Gustave Serrurier (1856⫺1910) as its newness, and this was the origin of the term “Art Nouveau” (Fig. 82.16 on plate VI). The break with historical styles was also hastened by the influence of foreign taste, particularly by the vogue for oriental art. Japanism was as prevalent in the 19th century as Chinoiserie in the century before, and it is not difficult to find traces of this in various artists, e. g., Manet and Gauguin. Art Nouveau had a strong influence in Brussels and Vienna with representative figures such as Horta (1861⫺1947), Wagner (1841⫺1918) and Hoffmann (1870⫺1956), but the absence of historical continuity and a clear rationale in the flowery decorations and forms rendered the style short-lived. This was evident in the works of Peter Behrens (1868⫺1940) who abandoned organic shapes for a more regular and geometrical vocabulary after 1900. 5.2. American cities and skyscrapers as graphic signs Alexis de Tocqueville (1805⫺1859) observed in his book Democracy in America (1835) that the fundamental fact from which everything in America seemed to derive was the equality of condition among its people. He further postulated that this democratic spirit in American society led to its tendency towards the practical rather than the theoretical. De Tocqueville’s observation seemed applicable in American city planning and architecture of the 19th century at least. Leonardo Benevolo (1971) interprets this as a clue to the American tradition in that elements are laid down rigidly and invariably only in so far as is necessary to provide a common and indisputable frame of reference. While in the old world, and even in the Spanish and French settlements in America, the gridiron plan had many orientational and classificatory overtones, in the USA it became an unfinished spatial grid (Fig. 82.17).
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Fig. 82.17: New York, aerial view and plan (from Josef Stubben, Der Städtebau, 1890).
Parallel to this gridiron approach in planning was the development of highrise buildings in Chicago after the great fire of 1871 (Fig. 82.18). This was made possible by the invention of the elevator and the use of steel frame construction as a logical extension of the traditional building technique of “balloon framing” based on the idea of industrial standardization. Just as division of land in planning, mathematical operation in design contained the seed of a radical transformation of the traditional architectural scene and became a symbolic act of modern architectural design. It echoed the idea of form following function announced by Horatio Greenough (1805⫺1852) and later often repeated by Louis Sullivan (1856⫺1924). Grafted on the grid plan, this produced the silhouette of the city as a graphic representation of land-value. 5.3. Sign conceptions in the Bauhaus Modernism probably owed its success in the propagation of ideas more to the Bauhaus than to any institution of the 20th century. Started in Weimar in 1919, it was an art school integrating artists, craftsmen and architects towards building “the cathedral of the future”, a slogan as well as an emblem of the concept of “Gesamtkunstwerk”. The Bauhaus underwent many phases of change, but it was chiefly Walter Gropius (1883⫺1969) who managed to bring together a great variety of artists such as Theo van Doesburg
(1883⫺1931), Johannes Itten (1888⫺1967), Wassily Kandinsky (1866⫺1944), Paul Klee (1879⫺1940) and Oscar Schlemmer (1888⫺ 1943). Basic courses on form, color, interior, furniture and industrial design were integrated with music, theatre and dance as well as painting, sculpture and architecture in a comprehensive conception of the built environment (Fig. 82.19). Hannes Meyer (1889⫺ 1954) and Mies van der Rohe (1886⫺1969) succeeded Gropius as directors after the school moved to Dessau, but the school was eventually closed in 1933 because of political pressure from the National Socialist Party. The architecture inspired by Gropius’ and his associates’ design of the Dessau Bauhaus (and of other associated buildings there ⫺ as well as of Le Corbusier and the Dutch pioneers) came variously to be known as “modern” or “white”. Its protagonists insisted that it was not a style; yet in the USA, where an incipient historicism already demanded that it be categorized, it was soon labelled the “International Style”. Its most obvious characteristics: white, unscored walls; flat roofs and horizontal windows; clean, sharp detailing. The absence of decoration so colored popular perception that it obscured the deeper motivation of many of its practitioners. The label “functionalist” which came to be associated with such characteristics, for instance, suggested (and the practitioners were not quick to deny it) that such buildings fitted what went on
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82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 82.18: Chicago skyscrapers (from John Szarkowski, The Idea of Louis Sullivan, 1956).
inside them like a glove did a hand, without any intervening cultural (never mind semiotic) considerations. This was completely misleading in the case of Le Corbusier (as we have suggested), but even more perhaps in the case of Mies van der Rohe, who � in spite of his now infamous dictum “less is more” � made a determined effort to create an “art of building” (architecture was a word he deliberately avoided) by concentrating on the constraints provided by building technology as determiners of form; though even he, for all his technological asceticism, seems to have made secret recourse to the “regulating lines” � diagonal guides to proportional rectitude which architects (notably Henrik Peter Berlag, 1856�1934, and Theodor Fischer, 1862�1938) as well as historians (notably Heinrich Wölflin, 1864�1945) developed in the wake of Zeising’s experiments.
6.
Semiotic theories in architecture
After 1945 there was a building rush which allowed little leisure for theoretical reflection: Mies’ “productivism”, the (often uncritical) application of large-scale prefabrication to building tasks seemed to absorb most architectural energies. It is perhaps symptomatic that the first reflections on a possible semiotic approach to architecture were made in Italy, where war damage was relatively modest. 6.1. Giovanni Klaus Koenig’s study of architecture as language G. K. Koenig (1924�1989) studied architecture from a modern linguistic point of view and laid down some preliminary guidelines based on the semiotic theory of Charles Morris (Analisi del linguaggio architettonico, 1964). According to Koenig, architecture
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Fig. 82.19: Oskar Schlemmer: Schematic survey of the field of instruction “Man” (1928⫺29).
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must be considered a language because it is a system of signs that have liberated man from isolation and stabilized his relations with others just as the words of speech. He summarizes the characteristics of an architectonic sign as follows: 1. An architectonic image is a complex sign. 2. The denotata of architecture are connected with its inherent functions in the associated life of man. 3. The architectonic sign is iconic, because it shows some property of the denotata directly. 4. The architectonic sign is a prescriptive sign, i. e., it demands specific behavior. The iconicity of architecture depends on form expressing function through space. Contemporary architecture lacks iconicity, which results in the loss of specific spatial characteristics. The lack of articulation between inside and outside causes a loss of meaning. Consequently, an appartment house may look like a school and an office building like a factory. Koenig insists on the importance of a wellarticulated architectonic language. There are many levels of articulation in the language of architecture. On the level of structure and logic, architectural elements can be classified into beams, vaults, arches, etc. On the level of pure form, classical vocabulary offers twisted columns, giant Orders, etc. A functional vocabulary classifies the architectonic signs according to their semantic functions, e. g., night zone, day zone, common room, etc. Koenig proposes a more fundamental articulation which treats various works of architecture as bodies of complex signs unified according to the idea of “genre” ⫺ which is not based on structure (as often in music) but on particular functions such as those of a villa, a school, a church, etc. To recognize this architectonic genre or typology, Koenig believes the most reliable method is the reading of articulated external and internal spaces, since the complex signs that form an architectonic space speak of themselves without reference to other spaces. Such complex signs are iconic if they contain some properties of the events which can take place in them, so that one can make a direct inference from them to their denotata. The architectonic language, like any living language, has both permanent and emergent elements. An architectonic solution is neither rigidly predetermined nor completely free. The architect is free to discover his individual language within a linguistic camp which is
1683 determined by variable and continuous crisscrosses of social relations. Therefore, in stylistic analyses, it is necessary to inquire how the current language has been absorbed by the author and how his work has in consequence become an instance of the current language or a possible basis for a new artistic tradition. 6.2. Umberto Eco and the semiology of visual communication U. Eco’s Appunti per una semiologia delle communicazioni visive (1967) is a critique of Koenig’s analysis. He criticizes Koenig’s approach as too closely based on a Morrisian behaviorist foundation (cf. Art. 113). Instead, he proposes to base it on a code of meanings sustained by a cultural context which can be stabilized independently from any overt behavior or presumptive mental reaction. The defect of behavioral semiotics is that it bases the meaning of a sign on the relationship between the sign and an object or a sequence of responses. Yet a sign can have a significatum without a denotatum. Refuting Koenig’s definition of the architectonic sign as requiring a denotatum, Eco argues that this linguistic approach cannot apply to works of the past which have now lost their function ⫺ or whose original functions are unknown to us. This difficulty can be avoided if the meaning signified by an architectonic sign is taken as the function which the signifier renders possible within a cultural code. This semiological perspective of architecture facilitates a communicative reading in which the only concrete objects are the architectonic objects. In other words, the denotatum of architecture is architecture itself. Eco’s formulation of architecture as a form of communication is based on his hypothesis that all phenomena of culture belong to specific systems of signs and that culture is essentially communication. The architectonic codes, unlike the code of speech which is capable of generating infinite possibilities of messages, are codifications of types of messages. They are formal manifestations of solutions already elaborated. Eco queries the simplistic analysis of architectonic signs into syntactic and semantic categories or according to typological genres as in Koenig because it does not permit one to go beyond the architectonic-sociological determination of how to make use of a certain building or space. As long as the architectonic-sociological limit prevails, architecture remains only a
1684 system of rules that render to society what it prescribes for architecture. Instead he claims that architecture is a rhetoric in which the unexpected enters a dialectic relation with systems of acquired, stabilized and identified expectations which are never put in question. It follows that given architectonic codes are not in themselves sufficient to resolve all the problems of the architect. They may provide him with a vocabulary, or perhaps even a logic, but he still needs a grammar and a syntax. Architecture alone cannot supply all these rules. An architect has to turn outside given architecture in order to discover the system of relations, on the basis of which he elaborates architectonic meanings. There seem to be two extreme positions which the architect may take according to Eco. He may put himself completely at the disposal of the political and sociological decisions to furnish whatever is required of architecture in terms of “functions”. On the other hand, he may devise a system of stimuli and thus provide his work with significations which pattern the life of the inhabitants in certain ways. Between these two extremes, Eco proposes that the architect should design in such a way that the first (utilitarian) functions in his work are left variable and the second (symbolic) functions open. The architect needs to receive orientation from the sociologist, anthropologist, etc., but he must also guard against the fallibility of their hypotheses (cf. Art. 120). 6.3. Intentions in architecture: Christian Norberg-Schulz’s semiotic theory C. Norberg-Schulz (*1926) develops a theory of architecture by analyzing “intentions in architecture” (cf. his 1963 book). Following the Vitruvian triad of “utilitas”, “venustas” and “firmitas”, he classifies the architectural totality in terms of building task, form and technics and tries to integrate these aspects through a study of their semantic interrelations. The building task consists of a physical milieu and a symbol-milieu each comprising two categories, namely: physical control and functional frame for the former; social milieu and cultural symbolization for the latter. Form consists of elements and relations. Elements can be subdivided into mass, space and surface, relations into topological, geometrical and conventional ones. Topological relations concern concepts such as proximity and closure. Geometrical relations refer to organization such as centralization and parallelism. Geometrical relations are intro-
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duced as an expedient to simplify the description. They may be reduced to topological and geometrical properties. An example of conventional relation are the classical Orders. Forms may be grouped or ordered into a formal structure such as a row or a cluster. A formal structure consists of primary and secondary elements. Primary elements are basic to the structure; without them any composition disintegrates. The capacity of a formal structure, i. e., its ability to solve building tasks and to receive contents, depends upon its degree of articulation. “Technics” is understood as an ordered repetition of a limited number of technical elements and can be classified into two systems: mass and skeleton. The former has simple and relatively amorphous properties while the latter offers richer possibilities for articulation. The interrelations among building task, form and technics are described by the semantics of architecture; it presents certain conclusions about the capacity of formal and technical systems to solve tasks. There are two ways in which a form may mediate or represent another: by their common (iconic) properties (structural similarity) or by convention. In general, the physical milieu is taken care of by forms based on structural similarity while the symbol-milieu is satisfied by conventional forms. A technical solution is never based on convention and therefore its semantic relation to the building task is by structural similarity and causal connection. The technical dimension symbolizes through form. The semantic investigation of a formal structure shows to what extent the capacity of an individual form accords with the structure of the task in question and to what extent style integrates the individual forms in a more comprehensive system. Moreover, the semantics of formal structures depends on scale which implies that style is also co-ordinated with determined dimensions. Contemporary emphasis on the technical dimension seems to neglect the importance of the semantic correspondence between task and form. The technical systems should be developed according to their semantic capacity so that the architect can create a semantic correspondence when he chooses the system which fits the task best. Such is the correlation of the various aspects which govern the architectural totality. An architectural totality emerges when aspects from all the main dimensions (which have to be semantically co-ordinated to con-
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 82.20: Robert Venturi: Duck and decorated shed (1966).
1685
1686 stitute forms and constructions) acquire meaning by being connected with a building task. There are various characteristic types of architectural totality; and they can be satisfactory or unsatisfactory. For example, a piece of work is more of a “building” than “architecture” if the technical aspect is emphasized. An architecture is “utilitarian” when determined by the need for a physical milieu. It is “monumental” when determined by the need for a symbol-milieu. An architectural system can be understood as an ordered collection of architectural totalities and is characterized by the number and types of tasks. To conclude, architecture has both a practical and artistic purpose which comprises cognitive and evaluative components. It is a synthetic activity throughout history. But despite this synthetic character, we can learn about its components on the basis of an integrated theory of architecture (cf. Art. 155). 6.4. Robert Venturi: symbolism as surface ornament, or learning from Las Vegas Robert Venturi (*1925) interprets modern architecture as an embodiment, through a language of form, of the symbolism of late 19th century industrial iconography. He believes that formal languages and associational systems are good and inevitable and become tyrannical only when we are unconscious of them. This justification of symbolism in architecture is based on the theories of Gombrich (1962, 1963) and Colquhoun (1979, 1981). Gombrich denies that shapes have a physiognomic or expressive content which affects us directly. Physiognomic forms are ambiguous and can only be interpreted within a particular cultural ambiance. Colquhoun contends that we are not free from the forms of the past and argues for the availability of these forms as typological models. All artifacts can in fact become icons and gestalt entities imbued with aesthetic unity and symbolic quality. Corbusier’s “machine aesthetics” claims that industrial prototypes are symbolically charged, while historical buildings are not. Using Cubism as a model, Corbusier adapted the language of painting to that of architecture and achieved an abstract geometrical formalism. But Venturi (1966) argues that what he as well as the other modern masters did was only to substitute one set of symbols (Cubist-, industrial-, processoriented) for another (Romantic, historical, eclecticist).
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Venturi argues further that architecture should dominate space as symbol rather than as form. He classifies two kinds of architecture: duck vs. decorated shed. Duck architecture (named after the duck-shaped drive-in “The Long Island Duckling” illustrated in God’s Own Junkyard by Peter Blake, 1964), is an architectural system of space, structure and programme submerged and distorted by an overall symbolic form. A decorated shed is a system of space and structure directly at the service of a programme, with ornament applied independently to them. The duck is a building that is itself a symbol; the decorated shed is a conventional shelter to which symbols are applied (Fig. 82.20). Venturi maintains that both types are acceptable. He interprets the medieval cathedral as both duck and decorated shed and the Renaissance palazzo as decorated shed only. Modern architecture is mostly duck. However, he thinks that the duck is becoming less relevant today. Symbolism in duck architecture is implicit, connotative and physiognomic. It is explicit, denotative and heraldic in the decorated shed. Duck architecture has impoverished itself by rejecting denotative ornament and the rich tradition of iconography in historical architecture and by ignoring the connotative expression it substituted for decoration. Venturi believes that this is what is happening in present-day architecture; he is of the view that it lacks allusion and comment on the past or present or on our great commonplaces or old cliche´s, and it excludes the everyday in either the sacred or profane environment (cf. Jencks 1977). 6.5. Architecture as a self-referential system Venturi’s reduction of acceptable late-twentieth century symbolism to surface ornament, analogous to advertising, coincided with a general disappointment with the buildings of the sixties and seventies, and a withdrawal of architectural history into stylistic cataloguing. Post-modernism provided a convenient rearguard action for continuing commercial urban development (for whose previous ills “modern” architects could be blamed), while decking out the same industrially-produced buildings with historically derived quotations as ornamental justification. The semantic emptiness of such a procedure carried the inevitable threat of its rapid exhaustion. Nevertheless, the interpretation of the city as a figure-ground phenomenon, formulated by Colin Rowe in his Collage City (with Fred Koet-
82. Sign conceptions in architecture and the fine arts
Fig. 82.21: Zaha M. Hadid: The Peak. Hong Kong Competition, 1982⫺83.
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Fig. 82.22: Frank Gehry: Chiat/Day Main Street (Venice, California, 1991).
ter, 1979) became an important factor in the abstract and sign-less interpretation of urban form which provided a contextual justification for post-modern strategies. Many theorists and architects (particularly American ones) saw this process in terms of a neo-Hegelian conviction about the death of architecture, a view stated most powerfully (in both Marxist and post-Nietzschean rather than Hegelian terms) by the Italian historian and critic Manfredo Tafuri in a number of very influential publications. It led him to condemn, for instance, the work of Louis Kahn (1901�1974), concerned as it was with public institutions and public occasions, as irrelevant to the “alienated” and “nihilistic” late twentieth century, whose true spirit had been seized and realized in the semantically neutral (on his own showing) architecture of Mies van der Rohe, and his “productivist” progeny in the great Chicago offices. The rather far-fetched attempt to formulate the notion of a “self-referential” architecture
which would, inevitably, escape any semiotic reading, though it claimed to carry “uninflected” or “meaning-void” references to culturally approved models, had a short life, though it spawned many publications. At the time of writing this has produced a curious by-product as a reaction: a group which has adopted the label “deconstructionist”, a curious neologism which combines the taste of some of its protagonists for the work of the Constructivist architects and artists of the nineteen-twenties (particularly El Lissitzky, 1890�1941) with the literary technique which has come to be known as deconstruction, which aims at providing a sociopolitico-philological interpretation of any text which will in fact be the “reality” of the text, since it can only exist in a reading-interpretation (cf. Derrida 1987; see also Art. 122 § 5.). The patent theoretical irrelevance of such a critical stance to the production of buildings implies that the label does not indicate any semantic (or indeed any other theo-
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retical) analysis ⫺ either of the process of production or even of the product, but alludes to a taste for acknowledged and reputable (Constructivist, in this case) works of art. The buildings which were shown under that label in New York in 1991 have in common a taste for sliding planes and for fragmented plans which indeed may be said to “deconstruct”, physically rather than theoretically, “white architecture” buildings of the nineteen-twenties (Fig. 82.21). Of those who exhibited with the group, Frank Gehry has collaborated with the sculptor Claes Oldenburg to incorporate large-scale elements which raise commonplace objects to an epic scale (Fig. 82.22). Whatever the merit of individual works which show such an approach, it marks the end of a time when building was thought to be free of any semiotic charge.
7.
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83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Die Rezeption der antiken Medizinsemiotik in der frühen Neuzeit 2. Aufkommen und Blüte der philosophischen Semiotik in der Aufklärung 3. Der Niedergang der aufgeklärten Medizinsemiotik 4. Von der Semiotik zur mechanistischkausalanalytischen Symptomatologie 4.1. Auscultation, Percussion, Spirometrie, Thermometrie 4.2. Albers und das Ende des semiotischen Bewußtseins in der Medizin 4.3. Symptomatologie und Phänomenologie 5. Zahlen, Statistiken, Kurven, Bilder: neue Untersuchungsmethoden und die mechanistisch-naturwissenschaftliche Zeichenflut 6. Semiotik in Psychotherapie und psychosomatischer Medizin 7. Neue deutsche Ansätze der medizinischen Semiotik im 20. Jahrhundert 8. Literatur (in Auswahl)
1.
Die Rezeption der antiken Medizinsemiotik in der frühen Neuzeit
Ebenso wie die Lehre vom krisenhaften Verlauf aller Krankheiten hatte auch die hippokratische Krankheitszeichenlehre als diagnostisches Instrument vor allem der Prognostik gedient (vgl. Art. 45). Auf der Grundlage der Säfte- und Qualitätenlehre deuteten die hippokratischen Ärzte in ihren „subjektiv-selektiv“ zusammengestellten Krankengeschichten körperliche Zeichen mit Blick auf das zu erwartende Krankheitsschicksal ihrer Patienten (Kudlien 1971, 162). Eine überaus reiche klinische Erfahrung bildete die Grundlage ihrer Zeichendeutung. Die Beachtung der Krankengeschichte und eine sorgfältige Beobachtung aller wahrnehmbaren Körperäußerungen (Atmung, Temperatur, Geräusche und
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
Gerüche, Körperhaltung und Gesichtsausdruck, Hautbeschaffenheit) gestatteten dem Arzt zunächst generelle Aussagen über das Wesen der Krankheit (heilbar/unheilbar, chronisch/akut), dann detaillierte Voraussichten auf deren zu erwartenden Verlauf (vgl. Art. 56 § 2.). In der byzantinischen, vor allem aber in der arabisch-mittelalterlichen Rezeption der antiken Medizin wurde die alte prognostische Semiotik subtil differenziert und etwa in der Pulslehre, besonders aber in der Harnschau (Uroskopie) zu einer detailreichen Zeichenlehre ausgeweitet (vgl. Art. 90 § 16.). So unterschied man um 1400 in der Uroskopie bereits mehr als 20 Urinfarben, eine lange Reihe von Flüssigkeitsgraden, Gerüchen, geschmacklichen Eigenschaften und eine Vielzahl erkennbarer Inhaltsstoffe. Aus der Beschaffenheit des Harns konnte dann auf der Grundlage der Humoralpathologie unmittelbar auf eine körperliche Funktionsstörung geschlossen werden („Ist daz harn vil dunne unde bleich, so hat der mensch etwas unverdoutes in im“; „Ist daz harn rot unde dicke und ist sin vil, so ist die lungel zebrosten“; Bleker 1972, 17). Die Methode der Uroskopie hatte am Ende des Mittelalters die Grenzen der antiken Physiologie Galens weit überschritten; die Auffassung, daß der Harn die Möglichkeit biete, „jedwede Krankheit zu erkennen“, ließ die Matula (das Harngefäß) schließlich „zum Analogon des menschlichen Körpers“ (Bleker 1972, 19) werden und bot der humanistischen Kritik an einer zur spekulativen Uromantie verkommenen mittelalterlichen Harnschau manche Angriffsfläche (vgl. Art. 70 § 2.). Die schulmedizinische Diagnostik der frühen Neuzeit war auch in der Zeichenlehre um eine Rekonstruktion und Reinigung der antiken Überlieferung bemüht (zur Weiterführung dieser Tradition in den Künsten vgl. Art. 69 § 3. und Art. 82 § 4.). In zaghaften Ansätzen treffen wir bereits auch auf Versuche einer Systematisierung der freilich immer noch humoral- und qualitätenpathologisch orientierten Semiotik. Der Wittenberger Daniel Sennert (1572⫺1637) etwa widmet der ärztlichen Semiotik 1620 ein umfangreiches Buch seiner Institutionum medicinae libri quinque, in dem die Zeichenlehre, in genere, die Zeichen als „signa diagnostica“ und als „signa prognostica“ behandelt werden. Die Kategorie der „signa anamnestica“ (Zeichen aus der Krankengeschichte) wird nur gestreift. Zeichen („signa“) sind für ihn alle diejenigen Erscheinungen, die irgend etwas bezeichnen („significant“) oder eine unbekannte und verborgene Sache zugänglich ma-
1695 chen („rem ignotam & occultam patefaciunt“). Dem Arzt sei daher alles Zeichen, was in der Heilkunst auf etwas hinweisen, etwas bezeichnen, etwas zeigen oder ins Bewußtsein zurückrufen könne („quae in methodo medendi indicant, significare & monstrare, notu´mque reddere potest“; Sennert 1620, 538). Viele Ursprünge („fontes“) dieser Zeichen gebe es zwar, man könne diese indessen in drei Gruppen zusammenfassen. So habe man zunächst solche Zeichen festzuhalten, die aufgrund ihrer Beschaffenheit so typisch und unverwechselbar für eine Krankheit seien, daß man anderer Zeichen nicht bedürfe. Daneben gebe es noch Zeichen („per causam“), die von den Folgeerscheinungen („signa ab effectibus“) Schlüsse auf die Krankheit ermöglichten, und schließlich verfüge man noch über innere, äußere, zufällige und wie immer auch beschaffene Zeichen, die teils die sonderbarsten Ursachen hätten (Sennert 1620, 539). Dem knappen Ordnungsversuch Sennerts folgt dann bereits in den allgemeinen Teilen der Semiotik eine detaillierte Abhandlung der speziellen Krankheitszeichen, wobei ⫺ humoralpathologisch, qualitativ und nicht messend ⫺ die Zeichen der veränderten Temperatur verschiedener Organe (Gehirn, Leber, Hoden, Magen, Lunge), die Veränderungen des Urins und des Pulses abgehandelt werden. Allein in der Pulslehre sind es noch mehr als 30 unterschiedliche Zeichen, die der Arzt zu erkennen hat. Auch der bedeutende Londoner Kliniker Thomas Sydenham (1624⫺1689) stand fraglos noch fest auf dem Boden der klassischen Säftelehre, in seiner Auffassung von den humoralpathologischen Krankheitszeichen indessen klingt doch auch bereits Skepsis deutlich an. Sydenham bezweifelt, daß der Arzt durch die Analyse der humoralen Krankheitszeichen allein den Charakter der Krankheiten, ihre wahren Ursachen bestimmen könne: „For after all his fine discourse of the taste, smell, colour and consistence of the juices in the body, and the changes he supposes to be the cause of this or that disorder in the body“, heißt es 1668 in seiner Anatomie (Dewhurst 1966, 91), „it is certainly something more subtile and fine than what our senses can take cognisance of that is the cause of the disease, and they are the invisible and insensible spirits that govern preserve and disorder the oeconomie of the body“. Nicht die spekulative Hypothesenbildung, sondern allein die strenge klinische Beobachtung der Krankheitszeichen am Krankenbett
1696 ist die geeignete Methode, Krankheiten zu erkennen („you must go to the bedside, it is there alone you can learn disease“; Dewhurst 1966, 48). Klinische Beobachtung des Krankheitsbildes ist freilich für Sydenham immer auch Vervollkommnung des nosologischen Systems. Von den makroskopisch sichtbaren und typischen Zeichen einer Krankheit, etwa den Exanthemen der Masern, könne man nicht nur auf vermutlich ähnliche therapeutische Maßnahmen bei ähnlichen Zeichen, sondern auch auf eine gemeinsame Art oder Klasse dieser Erkrankungen schließen. Die Beschreibung und der Vergleich klinischer Krankheitsverläufe und deren Korrespondenz mit verschiedenen Therapieformen führte Sydenham schließlich zur Konstruktion von disease-histories aus den klassischhippokratischen case-histories. Disease-histories aber boten die Stoffe für die Erstellung nosologischer Krankheitsstammbäume, für die Klassifikation einheitlicher klinischer Krankheitsentitäten nach unmittelbar beobachteten Kennzeichen (Dewhurst 1966, 62⫺ 63; Rothschuh 1978, 166). Thomas Sydenhams erster Versuch einer „möglichst konzeptfreien Erfahrungsmedizin“ auf der Grundlage klinischer Beobachtung gelingt nicht vollständig. Zu stark sind noch die Verhaftungen im alten Systemdenken des klassischen Säftekonzeptes, zu zaghaft die Umsetzungsversuche. Entscheidend sind aber die Anstöße, die Sydenham zur Entwicklung einer „phänomenalistischempirischen“ (Rothschuh 1978, 168), nach den äußeren Krankheitszeichen geordneten Nosologie geliefert hat; ihr sollte sich im 18. Jahrhundert vor allem der Franzose Franc¸ois Boissier de Sauvages de Lacroix (1706⫺1767) widmen (Boissier de Sauvages 1731). Die Medizin des 18. Jahrhunderts offeriert eine Fülle unterschiedlichster Ideen und Konzepte, die alle auch eigene Lehren von den typischen Krankheitszeichen beinhalten. Die dominantesten unter ihnen sind sicherlich die cartesianisch bestimmten iatromechanischen, aber auch die animistischen, affektgeleiteten Medizinkonzepte, wie sie von dem Hallenser Ernst Georg Stahl (1659⫺1734) ihren Ausgang nahmen. Unter den Mechanopathologen des 18. Jahrhunderts ist an erster Stelle der Leidener Hermann Boerhaave (1668⫺ 1738) zu nennen (vgl. Art. 70 § 4.). Er „etabliert die Medizin als neuzeitliche Erfahrungswissenschaft“ und verhilft dem „technomorphen Modell des Lebendigen als Grundmuster aller theoretischen Medizin“
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
zum Durchbruch (Toellner 1991, 229). Sieht und interpretiert der Mechanopathologe Boerhaave den menschlichen Organismus als Komposition zahlreicher und verschiedenartiger Maschinen (Rothschuh 1978, 249⫺251), so stützt sich der erfolgreichste Kliniker des 18. Jahrhunderts auf die Erklärung von äußerlich sichtbaren Krankheitszeichen als Symptomen mechanischer Läsionen der menschlichen Maschine. Auf die Konzeptvielfalt im Bereich der Seelen-, Affekten- und Lebenskraftlehren des 18. Jahrhunderts kann an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden. Genannt seien aber neben Stahls Animismus vor allem Chr. Wilhelm Hufelands (1762⫺1836) Konzept der Lebenskraft oder die Reizlehre (Brownianismus) des Schotten John Brown (1735⫺1788). Daß auch diese Lehren wiederum nach äußeren Krankheitszeichen als Indikatoren für den Störungsgrad der Seele und die ärztlichen Möglichkeiten einer Stärkung der Selbstheilungskräfte des Körpers suchen, wie etwa im Animismus (vgl. Art. 70 § 4.), oder die Kennzeichen des Körpers als Indikatoren für den minutiös skalierbaren Erregungszustand des Organismus ausnutzen, wie im Brownianismus, liegt auf der Hand. Die verwirrende medizinische Konzeptvielfalt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und die daraus erwachsende Konfusion unterschiedlichster Zeicheninterpretationen ist möglicherweise einer der Ausgangspunkte für Versuche, die ärztliche Zeichenlehre zu systematisieren, sie selbst zum Thema nicht nur medizinischer, sondern auch philosophischer Überlegungen zu machen und so einen semiotischen Beitrag zur Rationalisierung der Medizin zu leisten. Diesem Versuch sollen die folgenden Kapitel gewidmet sein (vgl. Art. 140).
2.
Aufkommen und Blüte der philosophischen Semiotik in der Aufklärung
Die medizinische Semiotik (Semiologia, Zeichenlehre, Zeichenkunde) erlebt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als eigenständiges medizinisches Lehrfach und als ärztlich-philosophischer Gegenstand einer Vielzahl monographischer Abhandlungen im deutschsprachigen Raum eine Blütezeit, die sich durch die Eckdaten 1756 und 1852 unschwer begrenzen läßt (Eich 1986). Im Jahre
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
1756 erscheint als erstes eigenständiges Lehrbuch in deutscher Sprache das von Ernst Anton Nicolai (1722⫺1802) herausgegebene Werk Samuel Schaarschmidts […] Semiotic, oder Lehre von den Kennzeichen des innerlichen Zustandes des menschlichen Körpers (Nicolai 1756). Diese Arbeit, die sich, wie der Titel bereits andeutet, an einem Traktat des hallensischen Physiologen und Pathologen Samuel Schaarschmidt (1709⫺1747) orientierte, aber weit über ihre Vorlage hinausging, kann insofern als Leitarbeit einer neuen Semiotik gelten, als ihr Verfasser zum ersten Male den alten Definitionsbereich der Semiotik als „einer historischen Erkenntniß des menschlichen Körpers“ verläßt und als neue Zielsetzung eine „philosophische Erkenntnis“ definiert (Nicolai 1756, X). Nicolai kritisiert an den älteren Darstellungen der Semiotik vor allem, daß sie zwar die „Begebenheiten des menschlichen Körpers“ bewundert, nicht aber erklärt und kausal analysiert hätte (Nicolai 1756, X). Auch habe man eine Behandlung des weitgefaßten Stoffes nach logischen Prinzipien vermissen müssen und schließlich seien fast immer nur die Erscheinungen des kranken Körpers oder seiner Teile dem Gebiet der Semiotik zugerechnet worden, nicht aber die Zeichen des vollständigen und gesunden Körpers: „An nichts fehlet des weniger, als an semiotischen Schriften […]; wenn man aber denjenigen semiotischen Schriften, die weiter nichts enthalten, als was schon tausendmal von andern gesaget worden, bloße Samlungen von Urtheilen und Zeugnißen von Aerzten sind, und die Sachen nicht deutlicher, ordentlicher und beßer vortragen, als bishero geschehen ist, das Recht semiotische Schriften zu heißen absprechen wollte, so werden sehr wenige Schriften uebrig bleiben, welche den Namen einer semiotischen Schrift mit Recht fuehren koennen, ja ich unterstehe mich so gar zu behaupten, daß eine semiotische Schrift, welcher dieser Name vorzueglich und mit Recht zukommt, noch nicht vorhanden sey. Es kommen zwar voritzo mehr als zu viele semiotische Schriften heraus, aber sie sind elend und erbaermlich genug, und machen ihren Verfaßern wenig Ehre. Man kann fast von allen, was sie enthalten, das Gegentheil erweisen. Sie bewundern die Begebenheiten des menschlichen Koerpers, statt, daß sie solche erklaeren und den Grund davon anzeigen sollten. Sie bleiben blos bey einer historischen Erkenntniß des menschlichen Koerpers stehen und bekuemmern um eine philosophische Erkenntnis deßelben nicht; da
1697 doch jene ohne dieser unvollkommen und weniger nuetzlich und brauchbar ist, als wenn sie mit dieser verbunden ist. Die philosophische Erkenntniß setzt einen in den Stand, daß man die historische Erkenntniß in vorkommenden Faellen anbringen kann, und zeiget die Umstaende an, unter welchen dieses oder jenes geschiehet oder erfolget. Es kann eine Sache, eine Veraenderung des menschlichen Koerpers, ein Zufall unter diesen Umstaenden was Gutes und unter anderen was Schlimmes anzeigen, aber so viel Einsicht haben die semiotischen Schriftsteller nicht, daß sie dieses Wißen begreifen oder in Erwaegung ziehen sollten. Sie nehmen zu den Woertern: bisweilen, ofte und gemeiniglich, ihre Zuflucht und schreiben; bisweilen, ofte oder gemeiniglich zeiget diese oder jene Sache was Schlimmes oder Gefaehrliches oder was Gutes an, aber dieses ist so viel als nichts gesaget und kann gar nicht in vorkommenden Faellen gebrauchet werden […]. Ist nicht ein solches Reden, Schreiben und Sagen ganz vergeblich? Ist es nicht beßer, von einer Sache gar nichts sagen als so etwas? O! lernet doch ihr semiotischen Schriftsteller die Logic! Bemuehet euch doch, durch Huelfe derselben die dicke Finsterniß, welche in der gantzen Semiotic herrschet, zu vertreiben, die verwirrten Labyrinthe der Irrthuemer zu vermeiden, und eure Saetze recht und genau zu bestimmen! Und verstecket euch nicht hinter die Schlupfwinckel der Woerter, bisweilen ofte und gemeiniglich, und setzet eure Worte nicht auf Schrauben“ (Nicolai 1756: X f). Tatsächlich lassen sich viele der alten semiotischen Handbücher als ein wenig konsequent durchgemustertes Sammelsurium unzähliger Einzelerscheinungen verschiedenster Art und Bedeutung charakterisieren. Diese Arbeiten waren durchsetzt von einer Vielzahl subjektiver Befunde, ihre Systematiken änderten sich von Autor zu Autor und ihre Ziele beschränkten sich ausschließlich auf die Bereitstellung einer anamnestischen, diagnostischen oder prognostischen Hilfsmethode. Doch nicht nur die neusemiotische Zielsetzung Nicolais, sondern auch der durch ihn erstmalig vorgelegte Ansatz zu einer medizinischen Zeichentheorie unterstreicht die historische Bedeutung der Abhandlung aus dem Jahre 1756. Nicolai, den Wolfgang Eich in seiner 1986 als Dissertation vorgelegten Arbeit über Medizinische Semiotik (1750⫺ 1850) zurecht als „erste[n] Zeichentheoretiker der Medizin“ (Eich 1986, 40⫺46) charakterisiert, definiert seinen Zeichenbegriff folgen-
1698 dermaßen: „Dasjenige, wodurch wir das Seyn oder die Würcklichkeit eines Dinges erkennen können, nennen wir Zeichen, Signum, und dasjenige dessen Seyn oder Würcklichkeit wir aus dem Zeichen erkennen, das bezeichnete, die bezeichnete Sache, Signatum […]; die Verknüpfung der bezeichneten Sache mit dem Zeichen heißt die Bedeutung, oder deutlicher zu reden, die durch das Zeichen bezeichnete Sache macht, daß man dem Zeichen eine Bedeutung zuschreibet, oder daß man saget: das Zeichen hat eine Bedeutung, oder bedeutet etwas“ (Nicolai 1756, 2 f). Damit ist in der neuzeitlichen Medizin erstmalig eine einfach strukturierte Zeichentheorie vorgelegt, die für viele der folgenden Semiotiken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts richtungsweisend war. Einen anderen Typus der Semiotik präsentiert der Jenenser Johann David Grau (1707⫺1770) in seiner 1770 in Lemgo erschienenen Schrift Georg Erhard Hambergers semiotische Vorlesungen über Jodok Lommens medicinische Wahrnehmungen (Grau 1770). Wie Nicolai bezieht sich auch Grau bereits im Titel seiner Schrift auf Vorbilder. Genannt werden Jodocus Lommius (ca. 1500⫺1563/ 64), dessen Observationum medicinalium libri (1560) sich bis ins 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten und der Lehrer Graus, der Physiologe Georg Erhard Hamberger (1697⫺ 1755) (Biographisches Lexikon, Bd. 3, 39), erfolgloser Konkurrent Albrecht von Hallers um den Göttinger Lehrstuhl für Physiologie. Grau, der sich bald von den Vorgaben seines Lehrers löst, teilt die Semiotik in eine historische und eine philosophische. Die „historische Semiotik“ entspricht als eine „Reihe von [sinnlichen] Wahrnehmungen, in Ansehung derer bey den Kranken vorfallenden Veränderungen“ (Grau 1770, X) noch ganz der sensualistisch-deskriptiven Semiotik seines Lehrers Hamberger und dessen Vorbild Lommius. Ihr Ziel ist die möglichst treffsichere Prognose. Demgegenüber geht die „philosophische Semiotik“ als eine „Reihe von Schlüssen, welche von denen sich bey Kranken einstellenden Veränderungen auf ihre Gründe und Ursachen geschehen“ (Grau 1770, X), als analytisch und logisch schließende Semiotik weit über den alten Ansatz hinaus. Sie entspricht eigentlich gar nicht mehr der alten Semiotik, sondern ist bereits zeichenanalytische, schlußziehende Semiotik. Ihr Zweck bestimmt sich als Methode der Pathologie, begrenzt diese aber gleichzeitig auch in ihrer Theoriefähigkeit. In seiner Zeichen-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
theorie entspricht Grau Nicolai insofern, als auch er von der äußerlich wahrgenommenen Zeichenmenge auf die Krankheit schließt, die als „abstractum“ den äußeren Sinnen verborgen bleibt, da sie selbst „kein Kennzeichen abgeben kann“. Die Krankheit und ihre Ursachen besitzen damit keinen Zeichencharakter; sie sind keine „signa“, sondern lediglich „signata“ (Grau 1770, X). Während den semiotischen Lehrbüchern Nicolais und Graus keine Neuauflagen zuteil wurden, weist die 1774 zuerst erschienene Physiologische und Pathologische Zeichenlehre zum Gebrauche akademischer Vorlesungen des Jenenser Professors der Arzneikunde Christian Gottfried Gruner (1744⫺1815) mit ihrer dritten Auflage (1801) bereits ins 19. Jahrhundert. Gruners voluminöses Werk muß in vielerlei Hinsicht wohl zurecht als Leitdarstellung der medizinischen Semiotik für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgefaßt werden. Dabei sind die Ausarbeitungen Gruners Kulminations- und Endpunkt zugleich; mit ihnen betritt die Semiotik, die von ihrem Bearbeiter wie übrigens auch bereits von Ernst Anton Nicolai in eine „physiologische“ und eine „pathologische Zeichenlehre“ unterteilt wird, erstmalig den Raum der Diagnostik und Differentialdiagnostik. Diese methodische Teildisziplin des medizinischen Theorie- und Praxisgebäudes sollte die „alte“ Semiotik spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts für viele Jahrzehnte ablösen. Bei Gruner ist sie noch integrierter Bestandteil der allgemeinen Zeichenlehre und wird ihr nicht gleich- sondern untergeordnet: „Die Diagnostik […] ist nicht allgemeine Zeichenlehre, kann es auch nicht seyn, aber höchst nützlicher Theil derselben, ist von denkenden Theoretikern längst erkannt und in einzelnen Krankheiten angewandt, aber nur von den gewöhnlichen Practikern, […], meistentheils übersehen und verkannt worden“ (Gruner 1794, Vorrede). Dabei liege die besondere Nützlichkeit der Diagnostik vor allem darin, daß sie durch die „gehörige Unterscheidung verwandter, ähnlicher oder ähnlich seiender Krankheiten, die richtige Heilungsanzeige“ (Gruner 1794, Vorrede) liefern könne. Die Diagnostik nützt also die Zeichen von Krankheit und Gesundheit zur Indikationsstellung, während die Semiotik die gleichen Zeichen nach einem theoretischen System zu ordnen hat. Hierbei ist sich Gruner der Beschränktheit solcher Ordnungsversuche durchaus bewußt; sie können unmöglich Abbild der Natur sein, sondern
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
allenfalls artifizielles Konstrukt: „Jeder will ein Naturmaler seyn, will die Natur treu copiert haben. Die allgemeine Zeichenlehre kann, ihrer Natur und Bestimmung nach, nichts weiter liefern, als die aus mehrmaligen Beobachtungen abstrahirten Resultate, und falls sie zu Vorlesungen bestimmt ist, die Zeichen historisch und unter gewissen Rubriken darstellen. Das Uebrige fällt auf den Lehrer zurück“ (Gruner 1794, Vorrede). Unter „historisch“ ist im Verständnis der Zeit weniger der Aspekt der (Zeichen-)Genese zu verstehen, sondern eher der Hinweis auf den deskriptiven Charakter der allgemeinen Zeichenlehre und auf den Versuch, deren Einzelelemente systematisch „gewissen Rubriken“ unter- und zuzuordnen. Gruner ist einsichtig, daß die „Ordnung der einzelnen Zeichen […] wohl immer willkürlich sey“, ja, daß es dem Arzt „vielleicht immer unmöglich bleiben“ werde, „alle so zu stellen, dass keines am unrechten Orte zu stehen scheine“ (Gruner 1794, Vorrede). Solche Schwierigkeiten ergaben sich unter anderem auch aus dem Umstand, daß der Charakter vieler Zeichen sowohl diagnostischer als auch prognostischer Art sein konnte, daß der Lehrende aber aufgrund der Kürze der ärztlichen Ausbildungszeit auf an sich notwendige Redundanzen zu verzichten habe. Gerade in dieser Passage des Vorwortes klingt die süffisante Kritik des Semiotikers Gruner an der viel zu kurzen ärztlichen Ausbildungszeit deutlich an; sie führe vielfach gerade da zu „modischen Vereinfachungs- und Combinationsmethoden“, wo doch „keine oberflächlichen Subalterne, sondern gründlich gelehrte Aerzte gebildet werden sollen, welche Zeichen mit pathologischen Ursachen und therapeutischen Anzeigen schicklich zu verbinden wissen“ (Gruner 1794, Vorrede). Im Hinblick auf die unzureichende ⫺ weil zu kurze ⫺ Ausbildungszeit der Ärzte, insbesondere auf dem Felde der Semiotik, verstand sich Gruner als Neuerer und seinen Versuch einer Physiologischen und Pathologischen Zeichenlehre zum Gebrauche akademischer Vorlesungen als Ermunterung, dem Objekt seiner Bemühungen endlich die wohlverdiente „scientifische und hinlängliche Behandlung“ angedeihen zu lassen. Sein Versuch sei lückenhaft und dem Charakter nach allenfalls eine allgemeine Zeichenlehre. Es komme deshalb in der Zukunft darauf an, an eine „specielle Semiotik“ ernsthaft zu denken, ja, sogar im Sinne Giorgio Baglivis (1668⫺1708) eine „semiotische Akademie“
1699 mit vereinten Kräften anzustreben. Des futuristischen Aspektes solcher Wünsche war sich Gruner indessen bewußt: „Allein so lange die bessern Practiker den hohen Ton von Alleinweissheit affectiren, die kleinern Practiker bemitleiden, die Theoriker behohnlächeln, weil sie nicht alle Tage viele Kranke sehen, und endlich, die diese strengen Aristarchen für allzu vielem Sehen gar nichts mehr sehen; so schwindet auch diese angenehme Hoffnung. Dass doch der Deutsche so selten wahrer Patriot ist! Ein semiotisches Wörterbuch möchte für die fleissigen Practiker ohne Kopf und Buch wahres Bedürfniss, vollständige Elementa semiologiae möchten für die gründlichern Aerzte wahre Geistesnahrung sein“ (Gruner 1794, Vorrede). Das eigentlich Neue an Gruners Semiotik ist ihr Anspruch, nicht mehr philosophische, sondern physiologische und pathologische Zeichenlehre zu sein. Die Zustände des menschlichen Organismus in Gesundheit und Krankheit liefern die Zeichen, die es dem Theoretiker erlauben, sie in sein semiotisches Lehrgebäude einzuordnen und dem Praktiker Fingerzeige für die diagnostische und prognostische Erkenntnisbildung am Krankenbett geben. Die Semiotik abstrahiert dabei von der Vielzahl einzelner Zeichen ⫺ modern: vom grauen Rauschen der Krankheitssignale ⫺ auf die „charakteristischen Merkmale“ der Krankheit, während die Diagnostik auf einer niedrigeren und zugleich praktischeren Stufe der Erkenntnisbildung „das Symptom als Wirkung“ erfaßt und so „auf die erregende Ursache“ zurückführt, um dessen Beseitigung sich der „heilende Arzt“ zu mühen habe (Eich 1986, 142). Gruners Unterteilung in eine physiologische und eine pathologische Semiotik blieb nicht ohne Kritik. H. A. Langheinrich etwa erwähnt als Verfasser des Artikels „Semiologia“ im Encyclopädischen Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften (1843) als Kritikpunkte zum einen den Umstand, daß Gruner im Gegensatz zur pathologischen Semiotik der physiologischen Semiotik keine „genauere Bearbeitung“ habe angedeihen lassen und daß zum anderen von „Einigen“ die neue Einteilung Gruners „sogar als zweckwidrig und unstatthaft zurückgewiesen“ worden sei, „weil die Zeichen der Gesundheit für den Arzt nur in sofern von Interesse sein sollten, inwiefern sie als Beweise der wiederkehrenden Genesung sich an die pathologischen Zeichen anschließen und in die Reihe der prognostischen gehören“ würden. Hierin
1700
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
liegt in der Tat die Schwäche des ansonsten recht eleganten Grunerschen Versuchs einer physiologischen und pathologischen Zeichenlehre für den Unterrichtsgebrauch (Langheinrich 1843, 579). Wirft man einen Blick auf die Ausführung der Zeichenlehre Gruners im Bereich der Detailprobleme, so verliert das voluminöse Opus recht schnell an eigenständigem Glanz und erweist sich bald als außerordentlich eklektisches Konzeptkonglomerat. Es finden sich in ihm vitalistisch-animistische Anklänge an den Brownianismus ebenso wie Rückgriffe auf den humoralpathologischen Konzeptbereich oder Aspekte des um die Jahrhundertwende absolut modernen Lokalismus. Gruners Eklektizismus läßt dabei konzeptionelle Auswahlkriterien völlig vermissen und vermag sich daher auch nicht von seinem insgesamt kompilatorischen Charakter zu befreien (Eich 1986, 63). Richtungsweisend ist immerhin der Versuch, sich von der philosophischen Semiotik zu entfernen und die Pathologie stärker in seine Zeichenlehre einzubeziehen. Durch diesen Versuch offenbart sich indessen gleichzeitig nichts weniger als die „tiefe Legitimationskrise der Semiotik“ (Eich 1986, 69). Dieser Krise versucht Gruner gerade durch seine Betonung der pathologischen Zeichenlehre zu entgehen, die ohne eine differenzierte Diagnostik nicht mehr auskommt. Diagnostisches Denken und Erkennen ist aber nichts anderes als die praktische Umsetzung einer theoretischen Zeichenlehre in ihrem bedeutendsten Kernpunkt, der symptomatologischen Diagnostik.
3.
Der Niedergang der aufgeklärten Medizinsemiotik
Ähnlich wie die Semiotik Gruners ist auch der semiotische Versuch von Ferdinand Georg Danz (1761⫺1793) seinem Ausgangspunkt nach noch dem 18. Jahrhundert zuzuordnen, während die letzte Auflage in der Bearbeitung durch und um einen entscheidenden Part ergänzt von Johann Christian August Heinroth (1773⫺1843) bereits ins 19. Jahrhundert weist (Heinroth 1812). Ihrer Intention nach kann die 1793 für den Chirurgenstand verfaßte Semiotic oder Handbuch der allgemeinen Zeichenlehre zum Gebrauch für angehende Wundärzte (Danz 1793) indessen kaum mehr denn als ein semiotisches Gemengestück bezeichnet werden, über das be-
reits sein späterer (1812) Bearbeiter Heinroth eher verächtlich urteilte, daß es dem Leser medizinische Zeichen „wie die Bilder einer Laterna magica in bunter Unordnung“ (Heinroth 1812, VI) beliebig präsentiere. Immerhin ist auch die Danzsche Semiotik ein neuerlicher Versuch, die allgemeine Zeichenlehre zu ordnen, wobei der Verfasser als Ordnungselemente die klassischen „Abtheilungen“ der Medizin seiner Zeit wählt, nämlich die chirurgische, geburtshilfliche, forensische und im eigentlichen Sinn medizinische. H. A. Langheinrich unterstellt 1843, Danz habe diese letzte Abteilung noch um eine der psychischen Zeichenlehre ergänzt; offensichtlich hat dem Verfasser des Wörterbuchartikels indessen nur die von Heinroth neubearbeitete und um eine „Zeichenlehre der psychischen Krankheiten“ erweiterte Auflage des Jahres 1812 vorgelegen (Langheinrich 1843, 579). Es ist daher nicht Danzens Überlegung, daß die „physischen und psychischen Krankheiten auf das Innigste miteinander verschmolzen seien“, wie Langheinrich unterstellt (Langheinrich 1843, 579), sondern die Auffassung Langheinrichs selbst, der 1843 die Zusammenfügung der Teile von Danz und Heinroth sieht und ihnen diese Intention unterstellt. Träfe Langheinrichs Vermutung zu, so müßte in der Tat die Semiotik von Danz einen außerordentlich frühen Versuch psychosomatischer Theoriebildung darstellen. Heinroths Ergänzung der Danzschen Semiotik um eine psychische Abteilung dient nicht nur der Vervollkommnung der Danzschen Schrift, sondern sie stellt auch eine innerliche Erweiterung der Semiotik im zweiten Dezennium des 19. Jahrhunderts insgesamt dar. Sie ist das eigentlich neue Element und eilt späteren psychosomatischen Theorien in der Tat voraus. Wichtig ist daneben aber auch die propädeutische Ergänzung, die Heinroth dem Danzschen Semiotik-Gebäude hinzufügt. Heinroth müht sich darüber hinaus um eine neue Definition der Semiotik insgesamt: „Alle Krankheitsformen nehmlich offenbaren sich […] durch eine Reihe von Erscheinungen, welche […] ja nichts anderes als die Theile der äußerlich gewordenen Krankheitsformen selbst sind, Symptome, und wiefern sie als solche, äußere Verräther der Krankheit sind, Zeichen derselben“ genannt werden können (Heinroth 1812, 4 f). Semiotik ist damit für Heinroth kaum mehr als Symptomatologie oder Diagnostik, die medizinische Zeichenlehre nichts anderes
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
als der Brenn- und Ausgangspunkt ärztlichen Handelns, der „gleichsam die einzelnen Strahlen einer bestimmten Krankheit in ein Centrum sammlet“, von dem aus der Arzt alle weiteren Heilwege zu wählen habe. Semiotik also ist „Centralpunkt“ (Heinroth 1812, 5) einer Medizin, die sich allein auf ihren sinnbestimmenden Objektcharakter, nämlich auf die fürsorgliche Behandlung des konkret erkrankten Patienten konzentriert und sich nicht auf die Prognostik im klassischen Sinne der Zeichendeutung verschwendet. Eine solche Bestimmung der alten Semiotik sei „fehlerhaft“, denn Zeichenlehre dürfe „von nichts Anderem handeln als von Zeichen“ (Heinroth 1812, 6). Auch bei Heinroth ist damit die Semiotik letztlich pathologische Phänomenologie, wobei die Phänomene selbstverständlich nicht in sich bereits krankhaft sind, sondern allenfalls auf potentielle Krankheiten hinweisen und damit als Zeichen Verweisungscharakter tragen. Was also ist angesichts der Schlichtheit dieses wenig innovativen Konzeptes neu bei Heinroth? Neu ist in der Tat die Erweiterung der alten physiologisch-pathologischen Semiotik um eine psychologische bzw. psychiatrische Komponente. Dieser Aspekt ist sogar von Vorbildcharakter für eine weitere Zeichenlehre, die im Jahre 1825 als Handbuch der pathologischen Zeichenlehre in Würzburg erscheint. Ihr Verfasser ist der Nervenarzt Johannes Baptista Friedreich (1796⫺1862). Friedreichs Werk folgt in seiner Intention tatsächlich der mechanistischen Zusammenfügung von physiologischen und psychologischen Gesichtspunkten einer Zeichenlehre durch Danz und Heinroth. Unter den Motivationen des Verfassers dominiert dabei zweifelsohne die psychiatrische (Friedreich 1825). Dies wird deutlich bei einem Vergleich mit der Allgemeine[n] Diagnostik der psychischen Krankheiten Friedreichs, die 1832 in Würzburg bei C. Strecker die Druckerpresse verläßt (Friedreich 1832).
4.
Von der Semiotik zur mechanistisch-kausalanalytischen Symptomatologie
Bereits zu den letzten Vertretern der klassischen medizinischen Semiotik des 19. Jahrhunderts gehört der Dorstener Johann Friedrich Hermann Albers (1805⫺1867) (Biographisches Lexikon, Bd. 1, 63), der 1834 in Leipzig sein Lehrbuch der Semiotik für Vorlesungen bearbeitet (Albers 1834) in der ersten
1701 und 1852 in der zweiten Auflage publiziert. Albers war eine durchaus interessante Persönlichkeit der rheinisch-westfälischen Medizingeschichte. Als Privatdozent und Direktor der pharmakologischen Sammlung unterrichtete er in Bonn auf den Gebieten der Pharmakologie ebenso wie auf denen der Nervenund „Gemüthskrankheiten“. Albers war auch ein fruchtbarer Schriftsteller. Seine Arbeiten erstreckten sich von der pathologischen Anatomie bis hin zur Dermatologie. Für die Geschichte der Semiotik sind besonders zwei Arbeiten wichtig. Es handelt sich hierbei neben dem Lehrbuch der Semiotik für Vorlesungen bearbeitet vor allem um die 1850 publizierte Erkenntniss der Krankheiten der Brustorgane aus physikalischen Zeichen der Auscultation, Percussion und Spirometrie (Albers 1850). Albers gehört nicht mehr in die Gruppe der klassischen Semiotiker des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Seine Zeichenlehre ist bereits physikalisiert, d. h. sie entspricht in Inhalt und Methodik der Lehre der neuen klinisch-methodologischen Zentren Paris und Wien. Auscultation, Percussion, Spirometrie und in der späten Auflage auch die Thermometrie sind die wesentlichen Elemente der Zeichenlehre von Albers. 4.1. Auscultation, Percussion, Spirometrie, Thermometrie Die Methode der Auscultation (Günther 1830, 463) war durch den französischen Kliniker Rene´ The´ophile Hyacinthe Laennec (1781⫺1826) entwickelt worden und erstreckte sich auf die Beobachtung und Auswertung aller im Körperinneren produzierten Schallphänomene (Herzschlag, Blutstrom, Darm- und Atmungsgeräusche). Die Percussionsmethode (Vetter 1841, 475⫺484), d. h. die Ausnutzung der unterschiedlichen Schallleitung und Schallreflexion im menschlichen Körper, hatte bereits im 18. Jahrhundert der Wiener Kliniker Leopold Auenbrugger propagiert (vgl. Art. 70 § 5.). Die Methode war aber in Vergessenheit geraten und erst durch den Pariser Kliniker Jean Nicolas Corvisart des Marest (1755⫺1821) wiederentdeckt worden. Das Verfahren der Spirometrie (Knauthe 1889, 507⫺513) maß die Luftaufnahmefähigkeit der Lunge und interpretierte sie als physiologisches und diagnostisches Zeichen. Diese Methode war in den frühen 1840er Jahren durch den englischen Physiologen John Hutchinson (1811⫺1861) entwickelt worden (Hutchinson 1849 und 1852).
1702 Auch die klinische Thermometrie (Rosenbach 1889, 599⫺606) reichte in ihrer Vorgeschichte bereits ins 18. Jahrhundert zurück, war aber als klinisch-diagnostische Methode erst in den 1840er Jahren durch grundlegende Arbeiten von Wunderlich, Traube, Bärensprung, Zimmermann, Liebermeister und anderen zur Reife gelangt. Ihren zeichentheoretischen Ausgangspunkt bildete die Feststellung, daß es unter physiologischen Bedingungen eine „Constanz“ der „Normaltemperatur“ geben müsse. Jede Abweichung von dieser Normaltemperatur könne als „Zeichen eines krankhaften Zustandes, als die Reaction des Gesamtorganismus gegenüber local oder allgemein einwirkenden Noxen“ interpretiert werden (Rosenbach 1889: 599 f). 4.2. Albers und das Ende des semiotischen Bewußtseins in der Medizin Den Stoff seiner Semiotik gliedert Albers in drei Abteilungen, deren erste das Beziehungsverhältnis der Zeichen zueinander und ihre jeweilige Unterscheidung voneinander behandelt, während in der zweiten die Zeichen in ihren Relationen zum jeweiligen Krankheitsverlauf betrachtet und interpretiert werden. In der dritten Abteilung schließlich werden lokalistisch und regionalistisch Krankheitszeichen nach ihren „einzelnen Regionen und Teilen des Körpers“ aufgezählt und „vom Ort ihrer Entstehung selbst [ausgehend] in ihren Beziehungen zur Krankheit“ gewürdigt (Langheinrich 1843, 580). Albers’ Semiotik ist der definitive Endpunkt einer philosophisch geprägten zeichendidaktischen Kultur der Medizin des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ihr Verfasser hat sich bereits weit von ihr entfernt und die medizinische Semiotik der Aufklärung ersetzt durch den Versuch einer Physikalisierung ärztlicher Erkenntnisprozesse. Auskultation, Perkussion, Spirometrie, Thermometrie, Analytische Chemie der Körperflüssigkeiten, das sind die neuen Schlagworte einer neuen Semiotik, die im alten Sinne keine Semiotik mehr ist, sondern naturwissenschaftliche Phänomenologie der Krankheit sein will. Sie kann freilich diesem Anspruch noch kaum gerecht werden und bleibt ⫺ gemessen an der Semiotik der Aufklärung ⫺ zunächst nur physikalisch-reduktionistische Kumulation klinischer Symptome. Auch der Blick in die 1850 zuerst publizierte Erkenntniss der Krankheiten der Brustorgane aus physikalischen Zeichen oder Auscultation, Percussion und Spirometrie von Albers zeigt,
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
daß die dort präsentierte Zeichenlehre nicht viel mehr als eine klinisch-pathologische Symptomatologie verkörpert. Von Semiotik im klassischen Sinne ist in ihr nicht mehr die Rede. Es muß daher auch das Urteil Langheinrichs aus dem Jahre 1843 relativiert werden, in dem dieser mutmaßte, daß „durch die zahlreichen und wichtigen Entdeckungen, welche die eifrige Cultur der pathologischen Anatomie in den neuesten Zeiten nothwendig herbeiführen musste, wie nicht minder durch die ganz neuerdings durch die erste ins Leben getretene und eifrig betriebene Auscultation und Percussion [die Semiotik, d. Verf.] ganz unverhältnissmässig schnell bis zum Grade von Vervollkommnung gefördert“ worden sei, „auf dem sie heutigen Tages“ stehe (Langheinrich 1843, 578). Gerade das Gegenteil war der Fall. Das Aufblühen der physikalischen und chemisch-analytischen Diagnosemethoden einer sich modernisierenden klinischen Medizin hatte nicht etwa zur Vervollkommnung, sondern gerade zur Veränderung, wenn nicht zum Untergang der alten historisch-philosophischen Semiotik beigetragen. 4.3. Symptomatologie und Phänomenologie Die neuen Meßverfahren und die jederzeit reproduzierbaren physiologischen und pathophysiologischen Zeichen bedurften nicht mehr eines philosophisch-semiotischen Überbaues; sie ordneten sich im Sinne einer kausalanalytischen Betrachtungsweise auf völlig neue Weise in ein medizinisches System ein, das von den naturwissenschaftlich geprägten Methoden und Ergebnissen der neuen Physiologie und der neuen Patho(physio)logie quasi naturgesetzmäßig vorgegeben schien. Voraussetzungen hierfür waren die Annahme eines strengen Determinismus aller Lebensvorgänge und die feste Überzeugung experimentell ermittelbarer Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen im Krankheitsgeschehen. In der klinischen Diagnostik wurden diese Voraussetzungen handlungskonstitutiv für die systematische Ausforschung registrierbarer Körperäußerungen, der Sprache des Körpers. Der Körper als krankes Subjekt, nicht mehr als erkranktes Objekt oder Gefäß von Krankheit, wurde nunmehr ausgehorcht, abgeklopft, vermessen und analysiert. Gemessene Zeichen und Symptome verloren so ihre klassische Bedeutung als Signifikanten oder Indikatoren von Krankheit und wurden selbst zu Fragmenten der Krankheitstotalität. Die Summe aller Krankheits-
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
fragmente schließlich „bildet das, was man die Krankheit nennt“ (Broussonet 1797⫺98, VI). „Jenseits der Symptome“, so umschreibt Michel Foucault den Wandel des Symptoms vom Zeichen zum Krankheitsphänomen, „gibt es keine pathologische Wesenheit mehr. Die Symptome spielen insofern die naive Rolle von ersten Naturgegebenheiten […]. Sie sind einfach eine ganz dem Blick dargebotene Wahrheit; ihre Verbindung und ihr Status verweisen nicht auf eine Wesenheit, sondern zeigen eine natürliche Totalität an, die lediglich Kompositionsprinzipien und mehr oder weniger regelmäßige Zeitbestimmungen aufweist. […] Das Symptom hat also die Rolle des souveränen Indikators verloren und ist nur mehr das Phänomen eines Erscheinungsprozesses ⫺ also bloße Natur“ (Foucault 1973, 105). Für den französischen Kliniker Philippe Pinel (1745⫺1826) bilden die „äußeren Zeichen [der Krankheit, d. Verf.], wie etwa der Zustand des Pulses, der Temperatur, der Atmung, der Verstandesfunktionen, die Veränderung der Gesichtszüge, Nerven- oder Krampfleiden, Beeinträchtigung der natürlichen Strebungen, […] durch ihre verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Tableaus“, Gemälde oder Bilder also, die der ärztliche Blick in ihrer Gesamtheit liest und versteht. Das Bild aber ist auch die Krankheit selbst, die „von ihrem Beginn bis zu ihrem Ausgang als ein unteilbares Ganzes betrachtet werden, als eine geregelte Gesamtheit von charakteristischen Symptomen und eine Abfolge von Perioden“ aufgefaßt werden muß (Pinel 1815, VII). Obwohl Symptom und Krankheit, „Signifikant und Signifikat“ auf diese Weise eine „primäre Schicht der unlöslichen Einheit bilden“, ist die Zeichenwirkung des Krankheitsphänomens, des Symptoms als „Signifikant seiner eigenen Totalität“ freilich immer noch erkennbar; bestimmt sich doch der Gehalt seiner Aussage durch die erkennbare Abweichung vom Phänomen der Gesundheit. Diese Differenz offenbart sich dem Blick des Arztes. In seinem Bewußtsein vollzieht sich dann die Transformation der „Symptome in Zeichen“ (Foucault 1973, 106⫺108), kein Symptom ist im Bewußtsein des Arztes also ohne Zeichencharakter, „kein Zeichen ohne Symptom“ (Landre´-Beauvais 1813, 4). Entsprechend definiert Pierre-Adolphe Piorry (1794⫺1879) (Pagel 1901, 1296 f) als Symptom: „jede den Sinnen wahrnehmbare Veränderung irgend eines Organs oder einer Funktion, welche an die Gegenwart ei-
1703 ner Krankheit gebunden ist“ (Rothschuh 1965, 251). Die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts sind durch den Bedeutungswandel des Begriffs „Semiotik“ in der oben beschriebenen Weise sowie durch ein zunehmendes ‚Begriffsfading‘ bis hin zur Begriffsverdrängung charakterisiert. Dieser Prozeß kündigt sich 1833 bei Burghard Eble (1799⫺ 1839) an, der es bereits für nötig erachtet, keine reine Semiotik mehr zu verfassen, sondern ein Taschenbuch der allgemeinen Nosologie, Symptomatologie und Semiotik, in dem der kumulative Charakter einer Symptomatologie deutlich überwiegt (Eble 1833). Ähnlich ist auch der Versuch von Rudolf Küttner (1836) zu bewerten, der schon ganz auf den Begriff der Semiotik verzichtet und eine Medicinische Phänomenologie. Ein Handbuch für die ärztliche Praxis verfaßt (Küttner 1836). Ebles und Küttners Ausarbeitung stehen bereits ganz im Dienste der Diagnostik, die in den folgenden Jahren noch häufig als Begriff neben die Semiotik tritt, wie etwa 1837 in der deutschen Übersetzung des Traite´ de diagnostic et de se´me´iologie, den der französische Kliniker Pierre-Adolphe Piorry, Auskultationsspezialist und Erfinder der Plessimetrie (Vetter 1842, 609 f), einer Hilfsmethode der Auskultation, verfaßt hatte. Piorry gehört in eine Reihe mit den führenden Köpfen der modernen Pariser klinischen Medizin am Anfang des 19. Jahrhunderts; sie ist, neben Piorry, durch Männer wie Jean-Nicolas Corvisart (1755⫺1821), Gabriel Andral (1797⫺ 1876), Philippe Pinel (1745⫺1826), Philippe Ricord (1799⫺1889) gekennzeichnet. Wenig lag diesen Klinikern ferner als die Konstruktion eines historischen oder philosophischen Semiotikgebäudes. Ihnen ging es wie auch Piorry um eine Verbesserung der physikalischen Methoden der Diagnostik, um die systematische Einbeziehung der pathologischen Sektion in die epikritische Beurteilung klinischer Krankheitsbilder sowie um die Entwicklung einer wissenschaftlichen Nosologie auf der Grundlage präziser Diagnostik, klinischer Symptomatologie und Statistik. Die deutsche Übersetzung, die noch im Druckjahr der ersten französischen Auflage erscheint, verdeutlicht diese Zielsetzung bereits im Titel, der weit über den französischen hinausgeht. Gustav Krupp, der das Werk zeitgerecht und werbewirksam übersetzt und annotiert hat, überschreibt es noch im Jahr seines französischen Erscheinens (1837) Diagnostik und Semiotik, mit vorzüglicher Berück-
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
sichtigung der neuesten mechanisch-nosognostischen Hülfsmittel ins Deutsche (Piorry 1837). Auch von deutschen Autoren werden in den folgenden Jahren Semiotik und Diagnostik begrifflich und inhaltlich parallelisiert; so etwa von Adolph Moser (1845) und Friedrich Wilhelm Theodor Ravoth (1851). Ravoth bezeichnet seine semiotischen Vorüberlegungen als Prolegomena zur rationellen medicinischen Diagnostic und Semiotic für Kliniker und Klinicisten (Ravoth 1851), während Mosers „medicinische Diagnostic und Semiotic“ sich als Lehre von der Erforschung und der Bedeutung der Krankheitserscheinungen bei den innern Krankheiten des Menschen (Moser 1845) präsentiert. Nach 1850 verschwindet der Begriff „Semiotik“ dann gänzlich von den Titelblättern diagnostisch-symptomatologischer Lehrwerke. An seine Stelle tritt die „Diagnostik“, die freilich durchaus auch Elemente der alten Zeichenlehre enthält. Im Grunde liefert das neue Wort nicht viel mehr als den begrifflichen Überbau für eine Vielzahl neuer, alter und bisweilen differenzierterer Elemente der alten Zeichenlehre, in denen die Semiotik durchaus weiterlebt. Lediglich die Zeichen sind vielfältiger geworden und spiegeln die größere Eindringtiefe einer erweiterten ärztlichen Diagnostik. Interessant ist, daß sich die nun ganz vom Glauben an die naturwissenschaftliche Dekodierbarkeit des Organismus getragene diagnostische Zeichenlehre ihrerseits neue abstrakte Bilder von den Körperzuständen in Gesundheit und Krankheit entwirft und zeichnet. Sie greift dabei auf mathematisch-statistische, graphische und photographische Methoden zurück.
5.
Zahlen, Statistiken, Kurven, Bilder: neue Untersuchungsmethoden und die mechanistischnaturwissenschaftliche Zeichenflut
Die praktische Einführung der statistischen Methode in die klinische Medizin erfolgte in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts durch den Pariser Kliniker Pierre Charles Alexandre Louis (1887⫺1872) (Ackerknecht 1967, 9, 104). Louis bemühte als erster die mathematisch-statistische Auswertung großer Mengen vergleichbarer Krankheitsphänomene und Einzelkrankheiten, um zu generellen Aussagen über den Charakter bestimmter Krankheitsentitäten zu gelangen. Anwendung fand diese „me´-
Abb. 83.1: Transportabler Polygraph von E´tienneJules Marey (1830⫺1904). Mit dem Gerät wurde die Übertragung des Arterienpulses auf eine Drehtrommel möglich.
Abb. 83.2: Malariafieberkurven (um 1870), Tertian- und Quartanfieber.
thode nume´rique“ etwa bei der Analyse der Phthisis (Louis 1825), beim typhoiden Fieber (Louis 1829) oder im Nachweis der Sinnlosigkeit und Gefahr des Aderlasses bei der Pneumonie (Louis 1835). Die Methode hatte konstitutive Bedeutung sowohl für die klinisch forschende Medizin, als auch für einen neuen Typus des Entwurfs von Krankheitsbildern. Die Klinik war durch die Einführung der statistischen Beobachtungsmethode zum Objektreservoir der forschenden Medizin gewor-
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
Abb. 83.3: Röntgenuntersuchung des Sportlerherzens beim Berliner Sechstagerennen 1912.
Kurven eines normalen Elektrokardiogramms. Man beachte die regelmäßige und klare Linienführung, im Gegensatz zu jener bei akuter Vorhoftachykardie. Auf der 1. und 3. Zeile sieht man ganz deutlich eine normale Kurve, die plötzlich von einem Tachykardieanfall unterbrochen wird, während Zeile 2 fortdauernde Anfälle zeigt (Henry Wallace Jones u. a., An Elementary Atlas of Cardiography. Bristol 1948). Abb. 83.4: Elektrokardiogramm (um 1920).
den, zum Sammelbecken nicht nur von Fällen und Zeichen (Foucault 1973, 102), sondern von Fällen als Zeichen. Die statistische Krankheitszeichenlehre aber hatte damit ganz den Charakter einer nosologischen Symptomatologie angenommen. Sie suchte nicht mehr unmittelbar nach der individuellen Krankheitsentität, sondern sie deduzierte
1705 aus einer möglichst großen Beobachtungsmenge individueller Krankheitsausprägungen einen Idealtypus der Krankheit, der seinerseits wiederum als normative Vergleichsgröße für den individuellen Fall zu dienen hatte. Auf diese Weise konnten nun gedanklich konstruierte Abbilder idealtypischer Krankheiten als Designate entstehen, während den Einzelobjekten der Krankheitswirklichkeit die Rolle von Referenten zufiel. Neben der statistischen „me´thode nume´rique“ führte aber auch die physikalisch-technische Methodik des klinischen Messens und Wägens zu Zeichenmengen, die sich nicht mehr allein aus ihrer Gestalt als Zahlen und Zahlenkolonnen ausdeuten ließen und nach neuen Darstellungsformen als Hilfen zu ihrer Entschlüsselung verlangten. In diesem Sinne offerierten die etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Physiologie entwickelten graphischen Untersuchungsmethoden Bilder als Hilfsmittel des ärztlichen Erkennens. Bei diesen Bildern handelte es sich um Kurven, die aus beliebig häufigen Messungen physiologischer oder pathophysiologischer Ereignisse und deren Eintrag in ein Koordinatensystem im zeitlichen Verlauf konstruiert werden konnten. Entweder gelang es, Bewegungsvorgänge des Körpers (Atmung, Puls, Blutstrom, Muskelzuckung) durch mechanische Hilfskonstruktionen und einen Kurvenschreiber linear aufzuzeichnen (vgl. Abb. 83.1), oder es waren Einzelmessungen gegen die Zeit als Punkte in ein Koordinatensystem einzuzeichnen, die dann zu einem Kurvenzug verbunden werden konnten (Urindichte, Temperatur; vgl. Abb. 83.2). Den ärztlichen Erkenntnisgewinn, den die neuen graphischen Untersuchungsmethoden boten, hat 1888 der Greifswalder Physiologe Leonard Landois (1837⫺1902) auf den Punkt gebracht. „Der bedeutende Vortheil der Methode“, so Landois, liege „ganz vornehmlich darin, dass dieselbe unmittelbar in einem System weniger Linien dem Beobachter alles das klar und anschaulich wie aus einem Gusse darzustellen“ vermöge, „was in dieser Uebersichtlichkeit auch die minutiöseste Beschreibung oder die Aufführung ganzer Reihen von Zahlen niemals bieten“ könne. „Noch vor wenigen Jahren beschränkt auf wenige, zum Theil enge Gebiete und ausgerüstet mit einem nur bescheidenen Armamentarium von Werkzeugen“, habe die graphische Methode inzwischen eine „ziemlich bedeutende Menge von Terrains in Besitz genommen, die sie mit Hilfe eines wohl erprobten
1706
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 83.6: Sphygmophon zur Diagnostik pathologischer Geräusche der Arteria radialis (um 1890).
Abb. 83.5: Blutdruckmessung nach Scipione RivaRocci (1896).
reichen Apparatenschatzes fruchtbar“ mache (Landois 1888, 493). Die zeitgemäße kolonialistische Metaphorik des Physiologen signalisiert für die ärztliche Zeichenlehre des ausgehenden Jahrhunderts den Vollzug eines medizintheoretischen Eroberungs- und Aneignungsprozesses, den Sieg der aufzeichnenden Graphik über die registrierende Metrik. Was auch immer sich durch die neue Methode erschließen läßt, wird nun graphisch dargestellt. Der Charakter der neuen graphischen Zeichen (Kurven) entspricht scheinbar noch dem eines Symptoms mit der wesentlichen Einschränkung freilich, daß die von den französischen Klinikern zu Beginn des 19. Jahrhunderts geforderte Wesensidentität von Symptom und Krankheit im Einsatzbereich der graphischen Methode wieder verloren geht. Die unmittelbare symptomatische Krankheitsäußerung wird physikalisch-technisch in eine Maschinensprache übersetzt und ⫺ symptomatographisch ⫺ als Kurve aufgezeichnet. Die Kurve aber ist damit ihrem Wesenscharakter nach kein biomorphes Symptom mehr, sondern technomorphes Symbol, durch sie ist die zeichensehende und zeichendeutende (diagnostische) Unmittelbarkeit zwischen Arzt und Patient aufgehoben (Bauer 1994). Diese Charakteristik ist bis heute zutreffend für jede symptomtransformierende Untersuchungsmethode (vgl. Abb. 83.3). Die Anfänge dieses semiotischen Wandlungsprozesses liegen etwa in der Mitte
des 19. Jahrhunderts. Eine Vielzahl neuer analoger graphischer Aufzeichnungsmethoden, deren Namen trotz veränderter Techniken teils bis heute noch im Gebrauch sind, entstehen in jener Zeit. Bei der Dokumentation „schnell verlaufender Bewegungsvorgänge“ etwa ist es die Herzbewegung, die durch die Aufzeichnung einer „Herzstosscurve“, das „Cardiogramm“, die Ära der (prämodernen) „Cardiographie“ einleitet (Landois 1887, 495⫺507). Die moderne Kardiographie zeichnet als Elektrokardiographie elektrische Herzströme auf und interpretiert die so entstandenen technomorphen Zeichen (Elektrokardiogramm, EKG; vgl. Abb. 83.4) als Indikatoren für biomorphe pathologische Veränderungen des Herzmuskels und/oder der neuronalen Bioelektrik des Herzens (Eckart 1990, 284 f). Das
Abb. 83.7: Direkter Sphygmograph zur Aufzeichnung des Arterienpulses (um 1890).
83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
Eines der ersten Elektroenzephalogramme eines Hundes, das von Neminski 1913 aufgezeichnet wurde (Arthur Earl Walker, History of Neurological Surgery. Baltimore 1951).
1707
Illustration der ersten Beschreibung eines menschlichen Elektroenzephalogramms (Hans Berger, „Über das Electrenkephalogramm des Menschen“. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 87,4 (1927): 527⫺570). Abb. 83.9: Erstes menschliches Elektroenzephalogramm (1927).
Abb. 83.8: Elektroenzephalogramm (1913).
von Hermann von Helmholtz (1821⫺1894) (Turner 1972, 241⫺253) konstruierte „Myographium“ registriert und „schreibt“ Muskelzuckungen als Ereignisprotokolle und begründet damit die diagnostische Methode der Myographie (Landois 1888, 1, 620 f). Ähnlich wie in der Elektrokardiographie werden in der modernen Myographie die Reizströme des Muskels, nicht mehr das muskuläre Kontraktionsereignis, sondern das elektrische Reizphänomen aufgezeichnet. Auch Blutdruck (vgl. Abb. 83.5), Pulsschlag (Sphygmographie, Angiographie) (vgl. Abb. 83.6 und Abb. 83.7; siehe auch Landois 1888, 2, 232⫺ 263), Atembewegung und andere Körperfunktionen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmalig registriert, aufgezeichnet und zu interpretierbaren Zeichen verarbeitet (vgl. Abb. 83.8 und Abb. 83.9). Bei den „langsamer sich vollziehenden Bewegungen“ (Landois 1886, 493) ist es besonders die auf der Thermometrie fußende Thermographie (Wunderlich), die die Reihe einzelner Temperaturmessungen in ihren zeitlichen Bezug setzt. Die Mecographie verspricht neue Aufschlüsse über die „Gesetzmässigkeit der Entwicklung des Wuchses, der Grösse und des Gewichtes des Menschen“ (Landois 1886, 493), die Dynamographie erlaubt Einblicke in die Kraftentwicklung einzelner Muskeln oder in die Kraftentwicklung des Körpers insgesamt. Der französische Mathematiker Lambert Adolphe Jacques Que´telet (1796⫺1874)
(Freudenthal 1975) unterzieht schließlich auch sozialpsychologische Phänomene der statistischen Auswertung und graphischen Darstellung. Sein „Versuch einer Physik der Gesellschaft“ (Que´telet 1838) ist der Erfassung sozialpsychologischer und sozialpathologischer Zeichen gewidmet und zeichnet in „Curven“ neue Bilder von der „Lebensfähigkeit in den verschiedenen Altern“ (Que´telet 1838, 386), der „Entwicklung der sittlichen und geistigen Fähigkeiten“ (Que´telet 1838, 493) des Menschen, der Entwicklung seines „literarischen Talentes“ (Que´telet 1838, 423) und seines „Hanges zum Verbrechen“ (Que´telet 1838, 544). Metrik, Statistik und Graphik sind zu den neuen Grundtechniken der neuen diagnostischen Semiotik avanciert. Die Einführung der photographischen Dokumentationsmethode in die Medizin ⫺ und mit ihr verbunden die Möglichkeit, durch lebensgetreue Momentaufnahmen den Prozeß der physiologischen und pathophysiologischen Diagnostik zu bereichern ⫺ verbindet sich mit dem Namen des französischen Physiologen E´tienne-Jules Marey (1830⫺ 1904) (Grosse 1974, 101⫺103). Zunächst hatte sich Marey in den 1850er und 1860er Jahren noch mit der Technik der graphischen Aufzeichnung muskel- und gefäßphysiologischer Vorgänge (Kardiographie, Sphygmographie) beschäftigt und seine Studien vornehmlich auf die Mechanik des Herz-Kreislaufsystems, der Respiration und der Muskelkontraktion gerichtet. Spätestens 1868 beginnt der Physiologe aber, sich einem neuen aufregenden Untersuchungsfeld, dem der
1708 menschlichen und tierischen Bewegungsabläufe zuzuwenden (vgl. O’Connell u. a. 1995). Dieses Interesse mußte zwangsläufig auf das technisch junge Gebiet der photographischen Registrierung führen. Bald zeigte sich nämlich, daß die Reduktion auf eine mathematisch-graphische Dokumentation in Form von Kurven für das Verständnis der physiologischen Bewegungsabläufe nicht hinreichend war. Erst die ganzheitliche Betrachtung der Abläufe versprach tiefere Einsichten in das Phänomen der tierischen und menschlichen Bewegungen und ihrer Störungen insgesamt. Marey bemerkte, daß durch Photographien, die in schneller Abfolge geschossen wurden, Bewegungsabläufe differenzierter dargestellt werden konnten. Intensiv bemühte er sich um eine Verbesserung dieser Methode und konstruierte schließlich ein „photographisches Gewehr“, mit dem in sehr schneller Folge Aufnahmen ablaufender Bewegungsvorgänge „geschossen“ werden konnten. Das Mareysche photographische Gewehr, die Weiterentwicklung einer ähnlichen Kamera, die zu astronomischen Studien in den 1870er Jahren bereits benutzt worden war, stellte einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Entwicklung cinematographischer Aufzeichnungsmethoden in der Physiologie und Pathophysiologie der Bewegung dar. Nach dem für das Verständnis des diagnostischen Wandels in der Medizin des 19. Jahrhunderts unerläßlichen Abstecher auf das Gebiet der neuen mathematischen und physikalisch-technischen Verfahren in der klinischen Diagnostik ist die Frage reizvoll, ob sich nicht durch die Einführung der neuen Methoden des zeichengestützten Erkenntnisgewinns in der Medizin auch neue Ordnungsstrukturen ausgebildet haben, die letztlich nichts anderes als spezifizierte Subsemiotiken darstellen. Verräterisch für ein solches Phänomen ist etwa ein Beitrag, der 1884 in der Wiener Medizinischen Wochenschrift erscheint und von seinem Verfasser mit dem Titel „Einige Beiträge zur physikalischen Semiotik“ (Heitler 1884) überschrieben wird. In diesem Fall sind es physikalische Zeichen, die im Sinne einer physikalischen Zeichenlehre systematisiert werden. Physikalische Zeichen sollen in ihrer Qualität und in ihrem Zusammenhang zum Entwurf eines Bildes vom Kranken und seiner Krankheit beitragen. In anderen Fällen mag es sich um physiognomische (Kohne 1895; Curschmann 1894; Heiming 1989), chemische, bakteriologische, röntgenographische, elektrokardiographische
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Zeichen gehandelt haben oder um chemischuroskopische, wie noch 1905 bei Stanislaw Serkowski, der einen Grundriß der Semiotik des Harns (Serkowski 1905) entwirft. Am Ende des 20. Jahrhunderts können wir diese Reihe um eine Vielzahl zeichenentwerfender Methoden der klinischen Diagnostik ergänzen, von denen beispielgebend nur die Computertomographie (Eckart 1990, 284) oder die Ultraschalldiagnostik etwa in der Geburtshilfe (Böhmer und Schneider 1991) erwähnt seien. Ausdruck ärztlicher Kunst ist die Fähigkeit, diese Zeichen zu erkennen, Zusammenhänge zwischen ihnen richtig zu interpretieren, um schließlich aus Einzelzeichen und Zeichensystemen die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Am Anfang dieser Erkenntnisfigur steht auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch eine nun freilich hoch differenzierte Zeichenlehre; ihr Ende wird durch Diagnose und Prognose gekennzeichnet, wobei es sich bei diesem schlußfolgernden Element ärztlicher Kenntnisbildung und Verlaufsvoraussicht eigentlich um nichts anderes handelt als um eine abschließende Instrumentalisierung einer Vielzahl unterschiedlichster Zeichenlehren. Die Gesamtfigur dieses handlungsgerichteten und Handlung begründenden ärztlichen Erkenntnisgangs hätte der Königsberger Pathologe Samuel 1889 in einem Beitrag zum Begriff „Symptom“ kaum treffender charakterisieren können. In seiner Definition wird auch deutlich, daß frühere Versuche einer Gleichsetzung von Diagnostik und Semiotik am Ziel vorbeigingen: „Symptom […] ⫽ Krankheitserscheinung, Krankheitsäusserung, Krankheitszeichen. Die Lehre von diesen Zeichen heisst Symptomatologie, auch Phänomenologie, die Kunst, sie aufzufinden, festzustellen ⫽ Semiotik […]. Es liegt am Bau des menschlichen Organismus, dass nur seine Oberhaut und wenige sichtbare Schleimhäute der unmittelbaren Besichtigung zugänglich sind, aber auch an diesen wenigen Stellen ist nur höchst selten ein ganzer Krankheitsprocess in seinem ganzen Verlaufe klar erkennbar, noch weniger ist seine Rückwirkung auf den Gesamtorganismus ohne Weiteres sichtbar. Bei inneren Krankheiten, wie auch bei äusseren ist man also immer nur im Stande, einzelne abnorme Vorgänge zu constatieren, aus denen man den Krankheitsprocess erkennt, die Diagnose stellt […]. Die Diagnose ist also immer ein Schluß, beruhend auf Abwägung aller einzelnen Symptome. Die Symptome
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83. Zeichenkonzeptionen in der Medizin
bilden in gleicher Weise die Grundlage der Prognose […], Vorhererkennung, Vorhersage, des Urtheils also, über den Ablauf des Krankheitsprocesses“ (Samuel 1889, 299 f). Wenn Samuel in seiner Definition vom ärztlichen „Schluß, beruhend auf Abwägung einzelner Symptome“ schreibt, so wird dennoch das, worüber er schreibt, die Diagnostik, dadurch noch nicht zu einer „Logik des ärztlichen Denkens“ (K. E. Rothschuh), allenfalls zu einer ärztlichen Praxeologie, denn ihr Handlungsbezug geht nie verloren (vgl. Art. 108). Symptomatologie, Phänomenologie, Semiotik sind zwar durchaus gleichgerichtete Techniken, um „Zeichen zu finden und sie“ aus ihrer Körperverborgenheit „ans Licht zu ziehen“, aber sie entscheiden nicht „über die Notwendigkeit und [den] Aussagewert einer diagnostischen Methode“ (Rothschuh 1965: 176).
6.
Semiotik in Psychotheraphie und psychosomatischer Medizin
Die Begründung der Psychoanalyse durch Freud sollte auch für die medizinische Semiotik von weiterführender Bedeutung sein (vgl. Art. 130). Nicht nur neue Formen der Krankheitsentstehung, sondern auch neue Bilder der Krankheiten dringen durch sie in die Medizin ein. Heinrich Schipperges sieht in zentralen Denkfiguren der Lehre Freuds darüberhinaus Zugänge zu einer neuen „Theorie der Therapeutik“. Alte „Kriterien der Semiotik“ träten mit den Prinzipien des Widerstandes und der Übertragung nach Jahrhunderten des Vergessens erneut „in ein wissenschaftliches Gefüge, wobei die Anamnese aus der Verdrängung, die Diagnose als Analytik, die Prognose als Individuation semantisch interpretiert werden“ könnten. Damit sei die „psychoanalytische Topographie […] zu einer medizinischen Dramaturgie geworden“, wie sie die „alte Heilkunde ihrem Wesen nach immer“ gewesen sei (Schipperges 1970, 245). In der psychosomatisch-anthropologischen Medizin war es besonders das durch Viktor von Weizsäcker (1886⫺1957) entwikkelte Konzept des „Gestaltkreises“, das der Heilkunde des 20. Jahrhunderts neue zeichentheoretische Elemente und Probleme hinzufügte. Die Gestaltkreislehre, die gewisse Parallelen zu Jakob von Uexkülls Funktionskreis von Umwelt und Organismus (J. v. Uexküll 1936; Th. v. Uexküll 1988, 85) nicht verbergen kann, umfaßt das Zusammenspiel von
„Organismusinnenwelt und -umwelt in einer Ganzheit“ (vgl. Art. 110). In der therapeutischen Situation entsteht ein kreisförmiger Prozeß des Gebens und Nehmens, des Erkennens und Veränderns durch Erkennen, der gegenseitigen Beeinflussung: der Gestaltkreis. Alles organische Kranksein hat seinen Sinn und entwickelt Formen der Mitteilung, Zeichen als Signale für die Außenwelt. Der Arzt muß sich auf das Subjekt dieser Mitteilungen, auf den Patienten, einlassen, seine „Leistungen und Symptome als Sprache des Organischen betrachten, entziffern und bewerten“ (Rothschuh 1978, 319). Daß die Seele bei den Äußerungen des Körpers mitrede, bestritten nur noch „prinzipiell unverbesserliche Charaktere“; es komme indes darauf an, „daß in der organischen Krankheit auch der Körper ein Wort“ mitrede (vgl. Art. 19 und Art. 21). Die „Entzifferung der Organsprache“ sei hier „das Geschäft, die Übersetzung in das der Seele verständliche Wort die schwierige aber lösbare Aufgabe“ des Arztes, so formuliert Viktor von Weizsäcker 1949 in seiner Psychosomatischen Medizin (Rothschuh 1978, 319, 483).
7.
Neue deutsche Ansätze der medizinischen Semiotik im 20. Jahrhundert
Der vorliegende Beitrag sollte lediglich ins 20. Jahrhundert hineinführen. Gleichwohl müssen einige der neuen theoretischen Ansätze zur ärztlichen Zeichenlehre bei Richard Koch (1882⫺1949), Karl Eduard Rothschuh (1908⫺1984) und Thure von Uexküll (*1908) zumindest angedeutet werden. In seiner 1920 verfaßten Abhandlung über Die ärztliche Diagnose hat der Frankfurter Medizinhistoriker und Medizintheoretiker Richard Koch die „Erkenntnismittel der Diagnose“ in drei Gruppen unterteilt, von denen die erste die Anschauung, die zweite die Untersuchung und eine dritte alle anderen Mittel diagnostischer Erkenntnis und diagnostischen Verhaltens umfaßt. Das diagnostische Anschauen oder Hinschauen auf die äußere Gestalt des Kranken ist für Koch nur eine erste ärztliche Sinnestätigkeit. Sie führt, begleitet und unterstützt durch die Erinnerung, durch den Denkakt, zur Wahrnehmung und zum Erkennen: „Das Anschauen führt zu einer Wahrnehmung. Wenn man etwas wahrnimmt, kann man es erkennen. Man kann erkennen, dass es etwas Bestimmtes ist, nicht
1710 irgendeine Veränderung der Haut, sondern ein Ekzem, ein Lupus. Damit ist aber schon ein Denkakt vollzogen, man hat die Identität der Wahrnehmung mit einem Erinnerungsbild erkannt“ (Koch 1920, 98). Das Bild der Krankheit wird also von verschiedenen Determinanten bestimmt, von der Anschauungsschärfe etwa, vom Gedächtnis, also vom geistigen Bestand des Schauenden und schließlich sogar von der Willenseinstellung des Schauenden, denn „man sieht, was man sehen will, was man sucht. Der Erdbeersucher sieht unter den mannigfachen Formen des Waldbodens nur Erdbeeren, der Mikroskopierende im Auswurfpräparat unter Umständen nur Tuberkelbazillen“ (Koch 1920, 99). Entscheidend für das Wesen und den Prozeß des ärztlichen Erkennens, dem sich endlich auch die Ergebnisse der Untersuchung und sogar intuitive Elemente hinzugesellen, ist, „dass mit dem einheitlichen Erfassen des Gesamtbildes der Teil des Erkenntnisprozesses, der sich am Kranken abspielt, beschlossen und das erfasste Gesamtbild somit ungeteilt in den Denkakt aufgenommen wird. Das Denkergebnis hingegen ist unabhängig von dieser Art des Erfassens und kann dem auf andere Weise gewonnenen vollständig gleichen bis auf den einen Unterschied, dass das in der Erkenntnissumme am Kranken als einzelnes Erkannte fehlen muss“ (Koch 1920, 100). Der Physiologe, Medizinhistoriker und Medizintheoretiker Karl Eduard Rothschuh, ein Schüler Richard Kochs, hat in seinen 1965 veröffentlichten Prinzipien der Medizin dem „Erkennen der Krankheiten“ ein eigenes Kapitel gewidmet (Rothschuh 1965, 176⫺ 183). Rothschuh bemüht sich in seiner Krankheitszeichenlehre und Symptomatologie um strenge Begriffsklärungen. Symptome sind für ihn „die ohne weiteres sichtbaren Erscheinungen der Krankheit“, die Signa hingegen „sind nur vom Arzte als Kenner deutbare Hinweise auf verborgene tiefere Zusammenhänge und Ursachen, z. B. auf das Temperament, die Disposition“ (Rothschuh 1965, 176). Bei ihnen habe man zu unterscheiden zwischen uncharakteristischen (ubiquitären), hinweisenden und pathognomonischen (krankheitstypischen) Zeichen. Für Rothschuh ist unter Symptomatologie oder Semiologie (Sprengel 1801; Michaelis 1940; Goldeck 1959) „die Lehre von allen für die Diagnose und Krankenbeurteilung in Frage kommenden Daten und Zeichen“ zu verstehen, während die Semiotik lediglich eine
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
„Technik der Zeichenerhebung“ darstellt. Die Diagnostik schließlich „verwertet die Zeichen und interpretiert sie“ (Rothschuh 1965, 176). Dem Internisten, Psychosomatiker und Medizintheoretiker Thure von Uexküll wird im Handbuch an anderer Stelle Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. auch das von ihm herausgegebene Themenheft der Zeitschrift für Semiotik über „Semiotik und Medizin“; Uexküll 1984). Seine zusammen mit Wolfgang Wesiack (*1924) 1988 vorgelegte Theorie der Medizin enthält den jüngsten Versuch, eine komplexe, moderne, stark an der Sprachwissenschaft orientierte ärztliche Zeichenlehre zu präsentieren. Von Peirce wird der triadische Charakter der Zeichenbeziehung (Repräsentierendes, Objekt, Interpretant) übernommen. Unter Berufung auf Morris und Carnap habe man zwischen einer syntaktischen, semantischen und pragmatischen Zeichendimension zu unterscheiden. Bedeutsam für eine Theorie der Medizin sei vor allem der Aspekt, „daß auch Arzt und Patient Glieder in Kreisprozessen sind, in denen sowohl der Arzt als auch der Patient Informationen empfängt und verarbeitet. Auf der syntaktischen Ebene registriert der Arzt Befunde und sucht mögliche Fehlerquellen auszuschalten. Auf der semantischen (diagnostischen) Ebene deutet er Befunde mit Hilfe bewährter Interpretationsmodelle (Diagnosen), und auf der pragmatischen Ebene versucht er, die (therapeutischen) Handlungsweisen zu realisieren, die sich aus den Interpretationen ergeben“ (Uexküll und Wesiack 1988, 130 f). Entscheidender Schlüsselbegriff ist auch in der Zeichenlehre die Biologie der Subjekte, die von Einheiten auszugehen habe, „in denen Subjekt und Objekt sich gegenseitig bestimmen“ (Uexküll und Wesiack 1988, 145). Die Nähe des so angesprochenen Situationskreises zur Umwelttheorie (Funktionskreis) des Vaters, Jakob von Uexküll (1864⫺1944), und zur Gestaltkreislehre des Heidelberger Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker ist unverkennbar.
8.
Literatur (in Auswahl)
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Wolfgang U. Eckart, Heidelberg (Deutschland)
1713
84. Zeichenkonzeptionen in der Physik
84. Zeichenkonzeptionen in der Physik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Einleitung 2. Vom transzendentalen Idealismus zum semantischen Konventionalismus 2.1. Der Deskriptivismus von Kirchhoff 2.2. Die Zeichentheorie von Helmholtz 2.3. Die Bild-Theorie von Hertz 3. Vom Konventionalismus zum Empirismus, oder „Was ist eine Theorie?“ 4. Die Wirkung des semantischen Konventionalismus auf Philosophie und Wissenschaftstheorie 4.1. Die Bild-Theorie des Tractatus 4.2. Die Theorie-Konzeption von Ramsey 4.3. Hilberts Programm einer Beweistheorie 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
Die Physik des 19. Jahrhunderts hat wie kaum eine andere Disziplin, ausgenommen die Mathematik, zur Entwicklung der modernen Zeichentheorie beigetragen. Sie hat dabei in bewußter Abgrenzung von naiven Vorstellungen (vgl. Art. 71) das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem nicht als ein an sich bestehendes Abbild, sondern stets als ein auf einen Interpreten bezogenes Verhältnis verstanden. Sie hat damit von Anfang an ⫺ ohne die Zeichentheorie von Peirce (vgl. Art. 100) einzubeziehen ⫺ die Funktionsweise von Zeichen als eine triadische Relation zwischen dem Zeichen, dem Bezeichneten und dem Interpreten verstanden, und sie ist somit, ohne ihre Absicht, zu einem der Ausgangspunkte für die moderne Semiotik geworden. Die Besonderheit dieser Zeichenkonzeption besteht freilich darin, wie bereits Cassirer (vgl. Art. 111) bemerkte, daß sie weniger eine linguistische als vielmehr eine bestimmte epistemologische Position reflektiert, die man am besten mit Stichworten wie „semantischer Konventionalismus“, „ontologischer Relativismus“ oder „epistemologischer Solipsismus“ umschreibt, um anzudeuten, daß sich diese Position zwischen der Skylla des empirischen Realismus einerseits und der Charybdis des rationalen Idealismus andererseits bewegt (vgl. Art. 74 §§ 1.⫺6. und 11.). Ja, man kann geradezu mit Cassirer sagen, daß die neue Zeichentheorie, so wie sie in der Physik seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem von Helmholtz, Hertz und vielen anderen entwikkelt wurde, Ausdruck einer kritischen „Selbstbesinnung“ der Physik ist, welche er-
kenntnistheoretische Überlegungen explizit mit in den Begriff einer physikalischen Theorie aufnimmt und damit zum Wegbereiter der Relativitätstheorie und Quantenmechanik wurde, in denen die Beziehung des Beobachters zum beobachteten Objekt zum ausdrücklichen Bestandteil der Theorien gemacht wurde (vgl. Art. 30). In den folgenden drei Hauptabschnitten soll (i) die historische Entwicklung des semantischen Konventionalismus nachgezeichnet, (ii) seine systematische Stellung zu verwandten und konkurrierenden Positionen analysiert, und schließlich (iii) seine Wirkung auf die gegenwärtige Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie untersucht werden. Es wird dabei weniger auf die Vollständigkeit aller historischen Details als vielmehr auf die Folgerichtigkeit der systematischen Argumentation Wert gelegt.
2.
Vom transzendentalen Idealismus zum semantischen Konventionalismus
Der Ausgangspunkt der hier zur Diskussion stehenden Entwicklung (zur Vorgeschichte vgl. Art. 66) ist die Transformation der Kantischen Philosophie einer transzendentalen Begründung der Anschauungsformen und Verstandeskategorien (vgl. Art. 74 § 2.) zu einer mehr strukturalistischen Auffassung von Theorien, wie sie sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts zunächst in der Mathematik (vgl. Art. 78 § 5.) und sodann in den Naturwissenschaften durchzusetzen begonnen hat. Der erste Schritt in diese Richtung wurde noch von Kant (1724⫺1804) selbst vollzogen, indem er das „Ding an sich“ für unerkennbar erklärte und stattdessen nur von Dingen qua Erscheinungen sprach, die sich vermittelst unserer Sinne dem Verstand kundtun und ihm Anlaß geben, eine objektiv bestimmte Welt von Gegenständen allererst durch ein Zusammenwirken von Anschauung und Denken zu konstituieren. Diesen Vorgang kann man als eine natürliche Erkenntnisgenese bezeichnen, und soweit nur sie im Spiel ist, kann man Kant getrost als einen Naturalisten Humescher Prägung bezeichnen (vgl. Art. 62 § 6.).
1714 Kant vertrat jedoch darüber hinaus die Auffassung, daß wir im Besitze „synthetischer Urteile a priori“ seien, was durch die Existenz entsprechender Urteile in Mathematik und reiner Physik bewiesen sei; er knüpfte daran den Versuch, die Notwendigkeit der zugehörigen Verstandeskategorien und Anschauungsformen auf transzendentalem Wege, d. h. als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zu beweisen, ohne die überhaupt keine Erkenntis zustandekommt. Durch den Nachweis der relativen Konsistenz und somit der Möglichkeit nicht-euklidischer Geometrien anhand der Konstruktion geeigneter Modelle (vgl. Art. 78 § 2.) und durch das Auftreten der Elektrodynamik als einer nicht auf die Mechanik reduzierbaren Theorie geriet diese Auffassung jedoch zunehmend in Schwierigkeiten. Die Zweifel betrafen in erster Linie den synthetischen Charakter der mathematischen Urteile und die Existenz apriorischer Urteile in der reinen Physik. (i) Im bewußten Gegensatz zu Kant versuchten Richard Dedekind (1831⫺1916) und Gottlob Frege (1848⫺1925) die Urteile der Arithmetik als analytisch zu erweisen in dem Sinne, daß zu ihrer Begründung auf keinerlei Anschauung Rekurs genommen werden muß; die Sätze der Arithmetik sollten als „unmittelbarer Ausfluß“ der Gesetze des reinen Denkens verstanden werden, d. h. für Dedekind und Frege, als Folge einer um mengentheoretische Begriffe erweiterten Logik: „Indem ich die Arithmetik nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon aus, daß ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit halte“ (Dedekind 1888). (ii) Kants Theorie von Raum und Zeit als für die Erfahrung unbedingt notwendigen Formen der Anschauung wurde durch die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrien zunehmend in Frage gestellt. Ein Ergebnis dieses Prozesses war, daß der durch die euklidische Geometrie charakterisierte Raum den Status einer für die Erfahrung notwendigen Anschauungsform verlor und die Frage, welche der möglichen Geometrien zur Physik (beweglicher Körper) am besten paßt, unwiderruflich zu einer pragmatischen Frage geworden war, in der es neben der empirischen Adäquatheit auch um die Frage der Einfachheit ging, d. h.: Welche der verschiedenen möglichen Geometrien ergibt die einfachste Beschreibung der physikalischen Phänomene?
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Diese Schwierigkeiten führten jedoch nicht zu einem unmittelbaren Zusammenbruch der Kantischen Philosophie und ihrer Ersetzung durch den logischen Empirismus (vgl. Art. 106), wie vielfach angenommen, sondern zu einer allmählichen Umformung des transzendentalen Erkenntnisansatzes zu einer mehr pluralistischen, den Charakter freier Setzungsakte betonenden Auffassung von Theorien im allgemeinen und zum semantischen Konventionalismus im besonderen. Hier soll nur der letztere behandelt werden, da allein er für die Entstehung der neuen Zeichenkonzeption der Physik von entscheidender Bedeutung war. Die besagte Transformation, welche in erster Linie mit den Namen der Physiker Gustav Kirchhoff (1824⫺1887), Hermann von Helmholtz (1821⫺1894) und Heinrich Hertz (1857⫺1894) verbunden ist, vollzog sich in drei Schritten. Sie wird am besten beschrieben als eine (implizite) Kritik der Annahme von den zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis (vgl. Art. 71), welche der gesamten Philosophie Kants zugrunde liegt: Sinnlichkeit und Verstand bzw. Anschauung und Denken. Beide sind nach Kant notwendig für die Erkenntnis von Gegenständen („Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“) und zugleich schließen sich ihre beiden Funktionen wechselseitig aus in dem Sinne, daß der Verstand nur zu denken aber nichts anzuschauen, und die Sinne nur anzuschauen aber nichts zu denken vermögen (Kant, Kritik der reinen Vernunft A51/B76 ff). Ohne die Unterscheidung von Anschauung und Denken direkt zu kritisieren, entwikkelten die genannten Physiker ein erkenntnistheoretisches Programm, das im deutlichen Gegensatz zu der These von der wechselseitigen Ausschließung von Anschauung und Denken stand: Die Erkenntnis der Dinge der Außenwelt beruht auf einem einzigen grundlegenden Prozeß, dem der Symbolbildung, der nicht in mehrere, sich gegenseitig ausschließende Teilvorgänge zerlegt werden kann. Die Ausarbeitung und Präzisierung dieses Programms erstreckte sich über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren. Sie begann mit Kirchhoffs Kritik am Kraftbegriff der Newtonschen Mechanik und endete mit der Veröffentlichung des Buches Die Prinzipien der Mechanik ⫺ dargestellt in einer neuen Form von H. Hertz im Jahre 1894. Dazwischen lagen, als entscheidender Anstoß, die Arbeiten von Helmholtz zur Theorie der optischen und akustischen Wahrnehmungen.
84. Zeichenkonzeptionen in der Physik
2.1. Der Deskriptivismus von Kirchhoff Der erste Schritt von der transzendentalen Begründung der Kategorien und Anschauungsformen durch Kant in Richtung auf eine strukturalistische Auffassung von Theorien war die sogenannte Wende von der Erklärung zur Deskription. In den dürren Worten Kirchhoffs ausgedrückt, ist es die Aufgabe der Mechanik, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise […]. Ich will damit sagen, daß es sich nur darum handeln soll, anzugeben, welches die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre Ursachen zu ermitteln“ (1877, 1). In dem Zitat kommen bereits fast alle die für die spätere Entwicklung des Symbolbegriffes maßgebenden Gesichtspunkte zum Ausdruck: (a) der strenge Phänomenalismus, der sich auf die Beschreibung der Erscheinungen beschränkt und nicht nach Ursachen hinter den Phänomenen sucht (Auf diese Weise sollten die mit dem Begriff „Kraft“ als der Ursache der Bewegung verbundenen Unklarheiten vermieden werden); (b) der strukturalistische bzw. prognostische Charakter von Theorien, der sich auf die Angabe der zeitlichen und räumlichen Beziehungen zwischen den Erscheinungen beschränkt, aber nicht das Wesen der Dinge als der selbständigen Träger der Erscheinungen ergründen will; (c) die empirische Unterdeterminiertheit und die sich hieraus ergebende Pluralität der möglichen Beschreibungen, welche durch die Forderungen nach Vollständigkeit und Einfachheit der zulässigen Beschreibungen zu begrenzen ist („Vollständigkeit“ ist hier im Sinne einer semantischen Forderung zu verstehen: es sollen alle Phänomene in einer Beschreibung erfaßt sein; „Einfachheit“ hingegen ist eine pragmatisch-ästhetische Forderung: die Beschreibungen sollen frei von Unklarheiten, übersichtlich usw. sein; beide Forderungen führen jedoch nicht zu einer eindeutigen Auswahl unter den empirisch möglichen Beschreibungen; es bleibt offen, welche Forderungen hinzukommen müßten). Zwar ist der Deskriptivismus Kirchhoffs keine Zeichentheorie im echten Sinne ⫺ dazu fehlt ihm die syntaktische Seite ⫺, aber als eine Theorie der Naturbeschreibung formuliert er doch Grundbedingungen, die auch für die Symbolbildung als einen Prozeß der Erkenntnisgewinnung gelten.
1715 2.2. Die Zeichentheorie von Helmholtz Helmholtz hatte als Sinnesphysiologe die Idee, daß die Sequenz unserer inneren Empfindungen ⫺ unabhängig davon, ob dieselben uns bewußt sind oder nicht ⫺ als eine Art von natürlicher Sprache analysiert werden können, in der die Welt der äußeren Erscheinungen zu uns spricht ganz analog einer Folge von Zeichen auf einem Stück Papier (vgl. Art. 21 § 9.). Wir müssen lernen, diese Sprache zu verstehen, gerade so wie wir als Kinder lernen müssen, unsere Muttersprache zu verstehen. Die Sprachanalogie basierte bei Helmholtz auf zwei epistemologischen Annahmen: (a) Einzelne Empfindungen sind keine Bilder sondern Symbole der äußeren Dinge, die sie repräsentieren. Damit meint Helmholtz, daß die Qualität unserer Empfindungen wie Farben, Gerüche, Töne usw. keinerlei Identität oder auch nur Ähnlichkeit mit den Dingen besitzt, welche sie vorstellen ⫺ wie man dies von einem guten Bilde, sagen wir einem Blumenbild, erwarten würde ⫺, sondern daß sie stattdessen bloße Funktionen derjenigen Sinnesorgane sind, die durch die Einwirkung der äußeren Dinge erregt werden. „Funktion“ hat hier den gesetzlichen Sinn, daß die unterschiedlichen Qualitäten der Empfindungen allein die spezifische Wirkung der jeweils erregten Sinnesorgane sind, ganz gleich, wodurch diese erregt werden: „Licht wird erst Licht“, faßt Helmholtz die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien seines Lehrers Johannes Müller (1801⫺1858) zusammen, „wenn es ein sehendes Auge trifft, ohne dieses ist es nur Ätherschwingung“ (Helmholtz 1855, „Über das Sehen des Menschen“ in Helmholtz 1865, I, 98). (b) Empfindungen sind mit den Dingen der Außenwelt einzig und allein durch das Gesetz der Kausalität verbunden, was ungefähr bedeutet, daß unter den gleichen Umständen in der äußeren Welt (einschließlich der Position des Beobachters zu derselben) stets dieselben Empfindungen in uns wachgerufen werden. Woher wissen wir das? Die Antwort lautet: Das Gesetz der Kausalität ist mit Bezug auf die Empfindungen ein transzendentales Gesetz im Sinne Kants, denn es ist unmöglich das Ergebnis irgend einer Erfahrung; vielmehr ist es umgekehrt eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit von Erfahrung. Dies wird in der abschließenden Konklusion deutlich, welche den Kern der Sprachanalogie formuliert.
1716 (g) Obwohl die einzelnen Empfindungen keine Bilder, sondern nur Symbole der Dinge sind, so sind die Sequenzen der Empfindungen dennoch Bilder in dem wörtlichen Sinne, daß ihre Ordnung identisch oder zumindest ähnlich ist mit der Ordnung der Ursachen, sprich der Phänomene, durch welche sie hervorgerufen werden. In moderner Terminologie würde man sagen, daß die Beziehung zwischen der Sequenz der inneren Empfindungen und ihren äußeren Ursachen die einer Strukturgleichheit oder Isomorphie zwischen beiden Ordnungen ist. Mit der Unterscheidung von „Bild“ und „Symbol“ war erstmals das alte Problem der (Struktur-)Gleichheit von Bild und Urbild bei gleichzeitiger Verschiedenheit beiderlei Bereiche gelöst. Dennoch war die Zeichentheorie von Helmholtz nicht ohne weiteres mit dem Deskriptivismus von Kirchhoff verträglich, wegen der Annahme des Kausalgesetzes als einer transzendentalen Voraussetzung der Bild/Urbild-Beziehung. Dazu bedurfte sie einer weiteren Modifikation. 2.3. Die Bild-Theorie von Hertz Den dritten und letzten Schritt einer Synthese von Deskriptivismus und Zeichentheorie vollzog Hertz, indem er die transzendentale Annahme einer Kausalbeziehung zwischen inneren Empfindungen und äußeren Phänomenen fallen ließ und sie ersetzte durch gewisse Festsetzungen, welche die Zuordnung von Symbolen zu den Erscheinungen der äußeren Dinge regeln. Genauer gesagt, Hertz ersetzte die umstrittene Kausalbeziehung durch eine Reihe von Meßvorschriften, die sogenannten Abbildungsgesetze, durch welche die inneren Symbole wie Zeit, Raum und Masse den Ergebnissen bestimmter Messungen an den Dingen der Außenwelt zugeordnet werden. Das Ergebnis dieser Substitution ist eine Bild-Theorie, in welcher Vorstellungen und Begriffe im Prozeß der Symbolbildung so miteinander verzahnt sind, daß die Kantische Unterscheidung von Anschauung und Denken als sich gegenseitig ausschließenden Funktionen unseres Geistes nicht mehr sinnvoll ist, denn, so Hertz: „Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände“ (Hertz 1894, 1).
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Für ein angemessenes Verständnis der Hertzschen Bildtheorie sind die Kriterien entscheidend, denen gemäß wir unter allen denkbaren Bildern die logisch zulässigen, empirisch richtigen und intuitiv zweckmäßigsten Bilder auswählen, denn es sind diese Kriterien, die durch ihr eigentümliches Verhältnis den semantischen Konventionalismus bedingen. Hertz formuliert drei solcher Kriterien, welche die Bilder wie eine Reihe von Filtern passieren müssen, um als angemessen akzeptiert zu werden: (1) Logische Zulässigkeit: die Bilder dürfen nicht den Gesetzen des Denkens widersprechen. (2) Empirische Adäquatheit: die Bilder müssen empirisch richtig sein im Sinne der genannten Forderung, daß die logischen Folgen der Bilder mit den zeitlichen Folgen der abgebildeten Gegenstände, sprich Phänomene, übereinstimmen. (3) Intuitive Zweckmäßigkeit: die Bilder sollen deutlich und einfach sein in dem Sinne, daß sie möglichst viele der wesentlichen Beziehungen zwischen den Phänomenen wiedergeben und zugleich so wenig wie möglich überflüssige oder leere Zeichen enthalten ⫺, und Hertz fügt hinzu: „Ganz werden sich leere Beziehungen nicht vermeiden lassen, denn sie kommen den Bildern schon deshalb zu, weil es eben bloß Bilder unseres Geistes sind und von seiner Abbildungsweise mit bestimmt sein müssen.“ Obwohl alle drei Kriterien in enger Beziehung zueinander stehen ⫺ insbesondere sind Konsistenz und Zweckmäßigkeit eines Bildes eng miteinander verknüpft ⫺, ist für den semantischen Konventionalismus allein das Verhältnis des zweiten zu dem dritten Kriterium ausschlaggebend, weil in ihm die Grenze zwischen Erfahrung und Konvention erst näher bestimmt wird. Während gewöhnlich die Korrespondenz eines Bildes als die Übereinstimmung des Bildes mit dem abgebildeten Gegenstand verstanden wird (Frege, „Der Gedanke“; 1918, 60 ⫽ 1990, 344), läßt Hertz keinen Zweifel daran, daß er den empirisch verifizierbaren Gehalt eines Bildes auf die Übereinstimmung mit den Phänomenen begrenzt; alles was darüber hinausgeht, insbesondere die Annahme der Existenz von Gegenständen als Trägern der Phänomene gehört dem Bereich der Zweckmäßigkeit an: „Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, wel-
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che in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch keine Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.“ Einfachheit und Deutlichkeit sind also empirisch verifikations-transzendente oder, wie man auch sagen kann, ästhetische Merkmale eines Bildes; sie bestimmen den Grad der Komplexität des ontologischen Modells, welches man den Phänomenen zugrunde legt. Ein Bild ist um so deutlicher, je mehr wesentliche, d. h. gegen raum-zeitliche Transformationen invariante Beziehungsträger es widerspiegelt. Ein Bild ist um so einfacher, je weniger überflüssige Terme es enthält, d. h. Terme, denen keine oder nur eine fiktive Beziehung zwischen den Dingen entspricht. In diesem Sinne hielt Hertz den Begriff der Kraft für einen überflüssigen Begriff der Physik, den es zu eliminieren galt.
3.
Vom Konventionalismus zum Empirismus, oder „Was ist eine Theorie?“
Hertz stand mit seiner konventionalistischen Auffassung von Theorien als mehr oder minder zweckmäßigen Bildern der Erscheinungen keineswegs allein. Um die Jahrhundertwende gab es eine ganze Reihe verwandter Auffassungen, die sich ⫺ außer durch den allgemeinen Mangel an begrifflicher Schärfe und gedanklicher Präzision ⫺ nur in untergeordneten Teilfragen von der Hertzschen Position unterschieden. Es sind da in erster Linie die Auffassungen von Ernst Mach (1838⫺ 1916), Ludwig Boltzmann (1844⫺1909), Henri Poincare´ (1854⫺1912) und Pierre Duhem (1861⫺1916) zu nennen: (a) Machs wiederholt vertretene Auffassung, Begriffe seien nichts anderes als ökonomische Mittel unseres Denkens zur einfachen Beschreibung der Erfahrungstatsachen, steht, bis auf besagte Einschränkung, der Ansicht von Hertz am nächsten. Auch für Mach hat der Begriff der Kraft keine eigenständige Bedeutung außer der, gewisse Erfahrungstatsachen zusammenzufassen. Der Hauptunterschied zu Hertz besteht darin, daß für Mach das Prinzip der Denkökonomie ein pragmatisches Moment verkörpert, während die
1717 Zweckmäßigkeit bei Hertz eher von geistigästhetischer Natur ist, denn er betont explizit: „daß wir von einer Zweckmäßigkeit überhaupt nur geredet haben in einem besonderen Sinne, nämlich im Sinne eines Geistes, welcher […] das Ganze unserer physikalischen Erkenntnis objektiv zu umfassen und in einfacher Weise darzustellen sucht; daß wir aber keineswegs redeten von einer Zweckmäßigkeit im Sinne der praktischen Anwendung und der Bedürfnisse des Menschen“ (Hertz, Vorrede zu den Prinzipien der Mechanik). (b) Boltzmann stimmt der Theorie von Hertz ausdrücklich zu mit dem einen Unterschied, daß für ihn der Begriff der Kraft kein überflüssiger Begriff ist. Dieser Unterschied ist jedoch kein Unterschied, der die Bild-Theorie als solche betrifft, denn Hertz hatte ausdrücklich betont, daß hinsichtlich der Zweckmäßigkeit Meinungsverschiedenheiten bestehen können: „Das eine Bild kann nach der einen, das andere nach der anderen Richtung Vorteile bieten, und nur durch allmähliches Prüfen vieler Bilder werden im Laufe der Zeit schließlich die zweckmäßigsten gewonnen“ (1894, 3). (g) Poincare´ vertrat einen im wesentlichen auf die Gültigkeit geometrischer Sätze beschränkten Konventionalismus, denn sie sind seiner Ansicht nach eher den Definitionen als den echten Aussagen zuzurechnen. Diese Ansicht ⫺ die später noch einen Einfluß auf die Auseinandersetzung zwischen Rudolf Carnap (1891⫺1970) und Hugo Dingler (1881⫺1954) um den Grundsatz der „Einfachstheit“ ausüben sollte ⫺ stellt einen gewissen Rückschritt gegenüber Hertz dar, insofern Poincare´ damit der Geometrie (von Raum und Zeit) eine Sonderstellung unter den Sätzen der Physik einräumt. Zwar hatte auch Hertz die saubere Trennung dessen, was „wir nach Willkür hinzutun oder wegnehmen können“, von den übrigen, entweder logischen oder empirischen Komponenten eines Bildes verlangt; er hatte die Forderung jedoch nicht allein auf die Geometrie sondern auf die Theorie der Mechanik als ganze bezogen; diese zerfällt demgemäß in zwei Teile: einen ersten Teil, der die nötigen analytischen Sätze und Definitionen umfaßt, und einen zweiten Teil, der die einschlägigen Erfahrungen in einem einzigen Grundgesetz zusammenfaßt. (d) Duhem schließlich vertritt eine besondere Variante des Konventionalismus, die sich vom semantischen Konventionalismus
1718 weniger im Ergebnis, als in der Begründung unterscheidet: Auch für Duhem ist die Wahrheit auf die Übereinstimmung mit den Phänomenen begrenzt und unser Versuch, diese Grenze gedanklich in Form von Theorien durch die Einführung von Hypothesen zu transzendieren, ist nichts anderes als der Ausdruck eines metaphysischen Verlangens. Dieser Versuch muß jedoch aus logischen Gründen scheitern, weil nach Duhem jede Hypothese zur Erklärung der Erscheinungen auf Kosten anderer ad infinitum verteidigt werden kann ⫺ im Rahmen einer Theorie. Dieser Zusatz ist insofern wichtig, als die Behauptung nur für die Gesamtheit der Hypothesen eines Phänomenbereiches gilt; darüber hinaus, d. h. für empirisch nicht-äquivalente Hypothesenmengen (Theorien) gilt der Satz freilich nicht, denn hier besteht ja gerade aufgrund der fehlenden Äquivalenz die Möglichkeit der empirischen Überprüfung! Dieser Holismus, nach dem Theorien nur als ganze, nicht aber einzelne ihrer Hypothesen empirisch überprüfbar sind, ist also nur ein anderer Ausdruck des von Hertz betonten Umstandes, daß zu ein und derselben Menge von Erscheinungen stets verschiedene Bilder möglich sind, die sich nur in ihren theoretischen Annahmen bzw. Hypothesen, nicht aber in ihren Konsequenzen bezüglich der Phänomene unterscheiden. Es wäre jedoch ein Irrtum, aus der allgemeinen Verbreitung des semantischen Konventionalismus zu schließen, dieser sei mehr als eine nur vorübergehende Erscheinung gewesen, denn alsbald setzten sich radikalere Tendenzen durch, die im Konventionalismus, gleich welcher Spielart, nur eine unnötige Reverenz vor Kant sahen, die es möglichst schnell und restlos zu Gunsten des „Logischen Empirismus“ zu beseitigen galt, der, wie sein Name sagt, alle Sätze der Wissenschaft entweder auf logische, und somit analytische, oder auf empirische, und somit synthetische, Aussagen zurückgeführt wissen wollte (vgl. Art. 106). Man kann allerdings vom semantischen Standpunkt aus den Logischen Empirismus als einen Grenzfall des Konventionalismus betrachten, nämlich als einen „entarteten“ Konventionalismus, der alle „theoretischen“ Terme und „verifikations-transzendenten“ Sätze zugunsten einer bloßen Beschreibung der Phänomene eliminieren will. Während also der semantische Konventionalismus die Existenz von Dingen und ihren Beziehungen keineswegs bestreitet, sondern
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
nur die Möglichkeit bezweifelt, diese mit Gewißheit zu erkennen, so daß Alternativen möglich sind, leugnet der Logische Empirismus die Existenz der Dinge an sich, indem er jede auch nur hypothetische Annahme derselben als sinnlos ⫺ weil verifikations-transzendent ⫺ bestreitet; damit aber entfällt die Möglichkeit alternativer Bilder bzw. Theorien, weil Theorien letzten Endes überhaupt sinnlos sind; sie besitzen nur einen instrumentellen Wert als Mittel zur Vorhersage von Phänomenen, aber ihre theoretischen Terme und Sätze bedeuten nichts in bezug auf eine an sich existierende Welt von Dingen. Der Logische Empirismus ist, wie Frege richtig bemerkte, in Wahrheit ein Solipsismus (Frege, „Der Gedanke“; 1918, 69⫺72 ⫽ 1990, 354⫺357). Selbstverständlich setzte sich der Empirismus nicht mit einem Schlage durch; vielmehr vollzog sich der Übergang in steter Auseinandersetzung mit dem Neu-Kantianismus, indem man sich der zweifelhaften Rolle annahm, welche die theoretischen Terme in der Wissenschaftstheorie des semantischen Konventionalismus spielten. Man versuchte, ihren ungeklärten epistemologischen Status mit den Mitteln der neu gewonnenen Logik zu analysieren, und stieß dabei auf eine Reihe von prinzipiellen Schwierigkeiten und Absurditäten: (i) Theoretische Terme lassen sich nicht ohne weiteres durch Beobachtungsterme definieren. (ii) Theoretische Terme lassen sich auf rein logischem[!] Wege (Craig, Ramsey) eliminieren. (iii) Sätze mit theoretischen Termen, wie z. B. Newtons Kraft-Gesetz (K ⫽ m· b), scheinen weder verifizierbar noch falsifizierbar zu sein. (iv) Der Begriff des Gesetzes entzieht sich bis dato einer rein logischen Analyse: Sind Gesetze nichts anderes als induktive Verallgemeinerungen? Was aber unterscheidet sie dann von Allaussagen? Diese und ähnliche Probleme beherrschten die weitere Diskussion, die sich um die eine Frage drehte: Was ist, logisch gesehen, eine Theorie? (vgl. dazu Art. 30 § 1.).
4.
Die Wirkung des semantischen Konventionalismus auf Philosophie und Wissenschaftstheorie
Der Logische Empirismus war nicht die einzige Folgeerscheinung, die der semantische Konventionalismus hervorrief, es gab auch
84. Zeichenkonzeptionen in der Physik
weit weniger feindliche Reaktionen, die sich offen oder heimlich zur Bild-Theorie von Hertz bekannten. 4.1. Die Bild-Theorie des Tractatus Wenn es längere Zeit verborgen blieb, daß die Bild-Theorie des Tractatus logico-philosophicus von Ludwig Wittgenstein (1889⫺1951) ein direkter Nachfahre der Bild-Theorie von Hertz ist, so hat dies weniger seinen Grund darin, daß Wittgenstein den Namen von Hertz gleichsam in letzter Minute aus dem Vorwort zum Tractatus entfernte (zugunsten der Nennung von Frege und Russell), sondern vor allem in dem historischen Umstand, daß der Tractatus von Anfang an im Kontext des Logischen Empirismus interpretiert wurde ⫺ ein Kontext, in den er nachweislich nicht gehört! Dabei hatte es Wittgenstein an Hinweisen auf den Ursprung der Bild-Theorie nicht fehlen lassen: Hertz wird im Inneren des Tractatus nicht nur mehrfach erwähnt, sondern Wittgenstein übernimmt auch der Sache nach die Auffassung von Hertz in bezug auf die Darstellung der Mechanik (Tractatus 6.3 ff). Das zu sagen heißt nicht, daß die BildTheorie des Tractatus mit der von Hertz identisch ist; die Unterschiede sind jedoch weitgehend terminologischer Art, bis auf eine wichtige Ausnahme: Im Unterschied zu Hertz verfügt Wittgenstein über einen genauen Begriff von Logik, nämlich die Theorie von Frege und Russell, die es ihm erlaubt, die BildTheorie in dieser Hinsicht wesentlich präziser zu gestalten (vgl. Art. 76 § 3.). Zwar hatte bereits Hertz mit Bezug auf die logischen Begriffe bemerkt, daß sich „überflüssige“ Terme nicht ganz vermeiden lassen, aber erst Wittgenstein kann mit hinreichender Genauigkeit angeben, welches die überflüssigen aber zugleich unvermeidlichen logischen Terme sind, die nichts aus der Welt der Tatsachen abbilden. Dadurch gelingt es Wittgenstein, den logischen vom deskriptiven Gehalt eines Bildes schärfer zu trennen und zugleich den Begriff der Abbildung im Sinne einer strukturellen Übereinstimmung von Bild und Wirklichkeit zu präzisieren: Abgebildet werden allein Sachverhalte, genauer die Struktur von Sachverhalten, d. i. die Art und Weise, wie die Dinge sich zueinander verhalten. Das Bild stellt die Sachverhalte im logischen Raum als Tatsachen, d. h. als das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten dar; ein Bild ist wahr, wenn es mit der Wirklichkeit, d. i. der Gesamtheit der (positiven und negativen)
1719 Tatsachen übereinstimmt. A priori wahre Bilder gibt es nicht. Logische Sätze sind keine Bilder sondern Tautologien; sie sind mit jeder möglichen Sachlage verträglich; Kontradiktionen mit keiner. Die Mathematik ist eine logische Methode (der Substitution gleichbedeutender Terme). Newtons Mechanik ist eine Form der Weltbeschreibung neben anderen; die Form allein sagt über die Welt nichts aus; sie stellt nur die möglichen Sachverhalte dar. Empirisch sind einzig und allein die Gesetze der Bewegung. Diese sind jedoch von rein hypothetischer Natur; das heißt, wir wissen nicht, sondern wir glauben nur, daß die Sonne morgen aufgehen wird. Die hier skizzierte Auffassung kann als eine Einbettung des logischen Atomismus von Russell in die Bild-Theorie von Hertz verstanden werden. 4.2. Die Theorie-Konzeption von Ramsey Daß auch die Theorie-Konzeption von Frank P. Ramsey (1903⫺1930) der Bild-Theorie von Hertz wesentliche Impulse verdankt, ist bislang kaum bekannt und erst durch neuere Untersuchungen gesichert worden (Majer 1988). Der äußere Anlaß ist eine Arbeit über die Theorie der Wahrheit, die Ramsey 1928 verfaßte, in der er die Korrespondenztheorie der Wahrheit gegen verschiedene Einwände seitens der Kohärenztheorie verteidigte. In diesem Zusammenhang stieß Ramsey auf die Bild-Theorie von Hertz, von der er sogleich richtig erkannte, daß sie einen gravierenden Einwand gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit darstellte. Der Zusammenhang ist kurz gesagt der folgende: Während die Korrespondenztheorie der Wahrheit in Verbindung mit einer wahrheitsfunktionalen Auffassung des Satzes unterstellt, daß jeder Satz entweder wahr oder falsch ist ⫺ tertium non datur ⫺, bestreitet die Bild-Theorie die uneingeschränkte Gültigkeit des Satzes vom Ausgeschlossenen Dritten (Wahrheitswert), indem sie unterstellt, die Wahl der geeignetsten Bilder sei keine Frage der Wahrheit, sondern der Zweckmäßigkeit! Letzteres trifft insbesondere für die Gesetze und Existenzannahmen zu, die zur Erklärung der Erscheinungen dienen. Mit anderen Worten, man kann an einer Theorie zwei Teile unterscheiden: (1) das „primary system“, dessen Sätze entweder wahr oder falsch sind; (2) das „secondary system“, auf welches der Satz vom Ausgeschlossenem Dritten keine Anwendung findet, da es bei der Erklärung des „primary“ durch das „secondary system“ nicht so sehr
1720 um die Wahrheit der Hypothesen (insbesondere der Existenzannahmen) als vielmehr um deren Zweckmäßigkeit geht, denn hier stehen sich die Hypothesen nicht wie Position und Negation, sondern wie miteinander in Konkurrenz liegende Alternativen gegenüber. Mit dieser Umdeutung des semantischen Konventionalismus in Richtung des Pragmatismus, wie er von Peirce vertreten wurde (vgl. Art. 100), hat man bereits einen wesentlichen Aspekt des Theorie-Begriffs von Ramsey erfaßt. Was noch hinzukommt, ist die „finitistische“ Analyse dieses Konzeptes in Anlehnung an die Arbeiten von Herman Weyl (1885⫺1955) und seinen Begriff von Gesetzen als „Abstracta“ zweiter (und höherer) Stufe bezüglich der Existenz von Funktionen. 4.3. Hilberts Programm einer Beweistheorie Die Beweistheorie David Hilberts (1862⫺ 1943), d. h. die Begründung der Mathematik, aber auch der Physik, als formal möglicher Theorien durch den Beweis ihrer Widerspruchsfreiheit, steht zwar in keinem direkten historischen, wohl aber in einem systematisch höchst engen Zusammenhang mit der BildTheorie von Hertz und der mit ihr verknüpften strukturalistischen Auffassung von Theorien (vgl. Art. 2 § 2.). Hilbert hatte bereits in den Grundlagen der Geometrie (1899) den Standpunkt vertreten, es komme nicht darauf an, was die geometrischen Ausdrücke „Punkt“, „Gerade“, „Ebene“ usw. bedeuten, sondern darauf, „die Widerspruchsfreiheit und gegenseitige Unabhängigkeit der Axiome“ durch eine geeignete Interpretation über dem System der reellen Zahlen einzusehen. Man würde jedoch Hilberts wahre Absicht gründlich mißverstehen, wollte man hierin ⫺ wie dies häufig geschieht ⫺ den Ausdruck eines bloßen Formalismus sehen, der die Geometrie jedes Inhaltes beraubt. Ganz im Gegenteil wollte Hilbert in erster Linie den gesicherten, zweifelsfreien Inhalt der Geometrie so übersichtlich und vollständig wie überhaupt nur möglich in einem System von Axiomen darstellen, allerdings ohne sich dabei auf die „anschauliche“ Bedeutung solcher Ausdrücke wie „Punkt“ und „Gerade“ zu stützen, denn genau diese hatte sich seit der Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien als zweifelhaft erwiesen. Dem entspricht, was häufig übersehen wird, daß keineswegs alle Ausdrücke in Hilberts Axiomatisierung der Geometrie „uninterpretiert“ sind, sondern nur diejenigen Terme, welche geometrische Objekte im engeren Sinn be-
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zeichnen; hingegen sind die Ausdrücke für topologische Relationen, wie „a liegt zwischen b und c“ usw. in ihrer gewöhnlichen geometrischen Bedeutung genommen. Dasselbe gilt von den logischen Zeichen, die ihre übliche wahrheitswertfunktionale Bedeutung besitzen. In einem Satz: Hilbert kam es in erster Linie darauf an, die Geometrie als ein ganz bestimmtes Gefüge von Relationen, d. h. als eine bis auf Isomorphie eindeutig bestimmte Struktur zu charakterisieren, ohne dabei die ontologisch heikle Frage beantworten zu müssen, was Punkte, Gerade und Ebenen „in Wahrheit“ eigentlich sind. Vielleicht sind es Bierseidel, Tische und Stühle ⫺ wie Hilbert scherzhaft sagte ⫺, vielleicht sind es aber auch nur nützliche „Ideale der Vernunft“, womit wir Hilberts Auffassung bereits ein erhebliches Stück näher gekommen sind. Denn es sind diese „idealen Elemente“, von denen in erster Linie zu zeigen ist, daß sie einander nicht widersprechen. In beide Richtungen ⫺ der Formalisierung einerseits und der Konsistenzbeweise andererseits ⫺ ist Hilbert in seiner ersten Mitteilung über die „Neubegründung der Mathematik“ (1922) noch wesentlich weiter gegangen, indem er sich die Aufgabe stellte, die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik (einschließlich der Logik) in einem absoluten ⫺ und das heißt hier, nicht nur relativen ⫺ Sinne zu beweisen, also in einem Sinne, der sich nicht, wie im Falle der Geometrie, auf die Konsistenz der Analysis beruft, sondern der an Hand der Regeln, mit denen wir in der Arithmetik operieren, die Konsistenz der Arithmetik unmittelbar beweist, ohne auf die Konsistenz irgend einer anderen Theorie zurückzugreifen. Ein solcher absoluter Konsistenzbeweis war nach Hilberts Meinung aus zwei Gründen notwendig: (i) Zum einen kann die elementare Arithmetik, anders als die Geometrie und die übrigen mathematischen Theorien, nicht auf eine elementarere Theorie zurückgeführt werden; sie ist bereits die elementarste Theorie. Der Beweis ihrer Konsistenz muß daher direkt geführt werden. (ii) Zum anderen ⫺ und dieses ist für die hier in Rede stehende Entwicklung des Symbolbegriffs von weit größerer Bedeutung ⫺ bietet weder die Logik noch die Semantik noch sonst irgend eine andere Erkenntnisquelle, von der Anschauung ganz zu schweigen, die Gewähr dafür, daß wir uns mit unseren Theorien nicht in irgendwelche Widersprüche verwickeln. Daher müssen wir die Konsistenz unserer Theorien auf rein formalem Wege
84. Zeichenkonzeptionen in der Physik
prüfen, und zu diesem Zweck ⫺ aber auch nur zu diesem (!) ⫺ müssen wir die Zeichen ganz von ihrer Bedeutung, ihrem semantischen Wert befreien, den sie ursprünglich für uns hatten, und sie nur gemäß den syntaktischen Regeln betrachten, die wir im Zuge der Axiomatisierung festgelegt haben. Es ist dann die Aufgabe der Metamathematik, an Hand der zulässigen Ableitungsregeln zu beweisen, daß diese niemals, ausgehend von den Axiomen, zu einer Formel der Form „A ⫽ A“ führen können. Gelingt dies, so ist die betrachtete Theorie konsistent in dem absoluten Sinne, daß für den Beweis keine anderen Mittel (jedenfalls keine stärkeren) als die Regeln der gerade betrachteten Theorie vorausgesetzt wurden. Zu diesem Zweck mußte die gesamte Arithmetik (einschließlich der Logik) formalisiert werden, was in diesem Zusammenhang zweierlei heißt: (a) Die Zeichen haben keine andere Bedeutung, als die, die ihnen durch das Axiomensystem in Form bestimmter Regeln beigelegt wird. Die Zeichen sind nichts anderes als die sinnlich wahrnehmbaren Träger der Regeln, nach denen sie selbst gehandhabt werden ⫺ gerade so wie die Königin in einem Schachspiel auch keine reale Königin bezeichnet, sondern nur die Gesamtheit der Regeln verkörpert, denen gemäß sie bewegt werden darf. Die Zeichen stehen für sich selbst, sie sind, wie man sagt, autonym. „Indem ich diesen Standpunkt einnehme“, sagt Hilbert, „sind mir ⫺ im genauen Gegensatz zu Frege und Dedekind ⫺ die Gegenstände der Zahlentheorie die Zeichen selbst“ (Hilbert 1922, 163). (b) Die Axiome müssen nicht als wahr, sondern lediglich als hinreichend bestimmt angesehen werden, d. h. es muß einerseits feststehen, nach welchen Regeln Formeln aufgebaut werden, und es muß andererseits feststehen, nach welchen Regeln sie abgebaut, d. h. auseinander abgeleitet werden, geradeso wie in einem Schachspiel nur gewisse Züge erlaubt, andere hingegen verboten sind. Die innere Konsistenz des ganzen Systems wird dann durch den Nachweis erbracht, daß es unmöglich ist, eine Formel der Form A ⫽ A abzuleiten, geradeso wie es unmöglich ist, in einem Schachspiel zu mehr als 9 Königinnen zu gelangen. Gegen Hilberts Vorschlag, die Arithmetik ⫺ und mit ihr alle anderen mathematischen Theorien ⫺ restlos zu „formalisieren“, und die inhaltlichen Betrachtungen bezüglich Wi-
1721 derspruchsfreiheit, Vollständigkeit usw. auf die Metamathematik zu beschränken, ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden ⫺ interessanterweise sowohl von Seiten der logischen Empiristen als auch der Intuitionisten ⫺, Hilbert degradiere die Mathematik zu einem bloßen „Formelspiel“, ohne jeden Sinn und Inhalt. Dieser Vorwurf verkennt jedoch erstens, daß die „Formalisierung“ der Mathematik für Hilbert kein Selbstzweck war, sondern einzig und allein dem Ziel diente, absolute Konsistenzbeweise zu führen, und zweitens, daß vor jeder Formalisierung die inhaltliche Analyse der betreffenden Theorie zu stehen hat, die man zum Zwecke des Konsistenzbeweises formalisieren möchte. Letzteres ist von Hilbert immer wieder mit Nachdruck betont worden, und zwar völlig zu Recht, wie wir heute angesichts fortschreitender Automatisierung wissen, denn eine Formalisierung, d. h. die Umsetzung in einen Kalkül von Zeichen und Regeln ist nur möglich, wenn zuvor der Inhalt der Theorie vollkommen verstanden wurde. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als in der Arithmetisierung der Analysis, in der ja die einzelne reelle Zahl, sagen wir 兹2, nur durch eine unendliche Folge von rationalen Zahlen dargestellt werden kann. Gibt es nun die durch 兹2 bezeichnete Zahl ⫺ oder nicht? Hier erst zeigt sich das Problematische an Hilberts Vorgehen, denn Hilbert möchte einerseits sagen, „es gibt 兹2“, und ⫺ da er sich über die Wahrheit dieser Behauptung nicht ganz sicher ist ⫺ zugleich beweisen, daß diese Existenzbehauptung niemals zu Widersprüchen führt. Soviel zur Beweistheorie. Die eigentliche Nähe zur Bild-Theorie von Hertz kommt jedoch erst in Sicht, wenn man von der Beweistheorie zu der Methode der „idealen Elemente“ übergeht, wie Hilbert jenes Verfahren nennt, mit dessen Hilfe wir das endlich Gegebene transzendieren und uns zu einer Betrachtung unendlicher, aber nur in unserem Geist fingierter Gesamtheiten aufschwingen. In ihr kommen Mathematik und Physik zur innigen Berührung. Wir führen nämlich in der Mathematik ebenso wie in der Physik zu einem gegebenen Bereich von Gegenständen neue ideale Elemente ein, um die Theorie dieses Bereiches so einfach und übersichtlich wie nur irgend möglich zu gestalten. So führen wir bereits in der (projektiven) Geometrie der Ebene die „unendlich fernen Punkte“ ein, um dem Satz, daß zwei Geraden sich stets in genau einem Punkte schneiden,
1722
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
auch für die Parallelen Gültigkeit zu verschaffen (vgl. Art 78 § 2.). Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren; erinnert sei nur an die „Dedekindschen Schnitte“ für die Erweiterung des Gebietes der rationalen Zahlen zu dem der reellen Zahlen sowie an die Einführung der imaginären Zahl i ⫽ 兹⫺1 in der Theorie komplexer Zahlen. Die Existenz dieser idealen Elemente in der reinen Mathematik ist aber ebenso ungewiß wie die der theoretischen Terme in der Physik, denn beiden kommt nach Hilbert nur die Rolle einer regulativen Idee der Vernunft zu, aber keine reale Existenz! Beide sind nur „symbolische“ Entwürfe, durch die „das Konkrete im Sinne der Totalität“ hypothetisch zu einer möglichst einfachen und geschlossenen Theorie ergänzt wird. Da wir uns der Existenz der Ideale jedoch niemals ganz sicher sind, müssen wir zumindest zeigen, daß ihre Annahme zu keinerlei Widersprüchen führt, sei es mit den übrigen Annahmen, sei es mit der Erfahrung. Daher die Notwendigkeit von Konsistenzbeweisen, nicht nur in der Mathematik sondern auch in der Physik! In der symbolischen Konstruktion „idealer Elemente“ stimmen nicht nur Physik und Mathematik ihrem Wesen nach überein, nämlich spekulative Entwürfe unseres Geistes bezüglich des Aufbaues der wirklichen Welt zu sein, sondern es kommen auch die Theoriebegriffe von Hertz und Hilbert zur Deckung (weitere Ausführungen zu semiotischen Problemlösungen in Mathematik, Physik und Chemie liefert Art. 78). Gegenwärtig ist es in erster Linie Günther Ludwig und seine Schule, welche in ihren Arbeiten zu den „Grundstrukturen einer physikalischen Theorie“ die Tradition der BildTheorie von Hertz und, so darf man sagen, von Hilbert vertritt (vgl. Art. 134).
5.
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Ulrich Majer, Hannover (Deutschland)
85. Zeichenkonzeptionen in der Biologie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Einleitung 2. Charles Darwins Lehre vom Ausdruck der Gemütsbewegungen 3. Jakob von Uexkülls Umweltlehre 4. Die Selbstdarstellung des Lebendigen nach Adolf Portmann 5. Zeichenkonzeptionen in der Verhaltensforschung 6. Zeichenkonzeptionen in der evolutionären Erkenntnistheorie 7. Semiotik und Ökologie 8. Semiotik und Molekularbiologie 9. Schlußbemerkung 10. Literatur (in Auswahl)
1. Einleitung Bereits Sebeok (1965) hat die gesamte organische Welt zum Thema der Semiotik erklärt und mit „Biosemiotik“ alle Zeichenphänomene im Bereich des Organischen zusammengefaßt (vgl. Art. 18 und Art. 19). Zeichenphänomene sind demnach auf molekularbiologischer Ebene (vgl. Art. 20) genauso gegeben wie im Bereich der Kommunikation von Tieren (vgl. Art. 21 und Art. 24) und Pflanzen (vgl. Art. 22 und Art. 23) und der natürlichen Sprachen des Menschen (vgl. Art. 25). Auf
der Grundlage der Auffassung von C. S. Peirce, der ausdrücklich auch Naturphänomene in die Semiotik einbeziehen wollte, bezeichnet Sebeok Lebewesen selbst als sich reproduzierende und hinsichtlich ihrer Umwelt sich verändernde Zeichen, so daß die Evolution des Lebenden insgesamt als ein semiotischer Prozeß zu definieren wäre (vgl. Schult 1991). Nun wurde in der Biologie zwar nicht häufig explizit auf die Semiotik Bezug genommen, und diejenigen Forschungsansätze in der Biologie, die ausdrücklich auf einer Anwendung der Semiotik beruhen, sind eher spärlich. Andererseits ist ein indirekter und metaphorischer Gebrauch von semiotischen Konzepten in den Biowissenschaften seit dem 19. Jahrhundert häufig festzustellen. Denn schon der bloße Umstand, daß Lebewesen miteinander auf vielfältige Weise kommunizieren (vgl. z. B. Tembrock 1975), legt es nahe, in der Biologie von Zeichenprozessen zu reden, sei es im buchstäblichen oder eben nur im übertragenen Sinne. Auch wenn die „Sprache“ der Tiere nicht mit der menschlichen Sprache gleichzusetzen ist, so dürfte man doch allgemein akzeptieren, daß Tiere ⫺ und in gewissem Sinne auch Pflanzen ⫺
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interagieren, indem sie Signale aussenden und empfangen. Dieser Interaktionsprozeß kann als ein Zeichenprozeß gedeutet werden. Zu den verschiedenen Sinnesorganen, welche den Tieren die Beteiligung an Zeichenprozessen ermöglichen, vgl. Art. 6⫺11. Der vorliegende Artikel gibt Auskunft über einige Zeichenkonzeptionen in den Biowissenschaften seit dem 19. Jahrhundert und die Verwendung semiotischer Begriffe in der Erklärung biologischer Phänomene. Dabei kann nicht Vollständigkeit angestrebt werden; vielmehr sollen markante Beispiele den Gegenstand veranschaulichen.
2.
Charles Darwins Lehre vom Ausdruck der Gemütsbewegungen
Im Jahre 1872 veröffentlichte Darwin (1809⫺1882) ein Buch mit dem Titel The Expression of the Emotions in Man and Animals. Dieses Buch, das ihn nicht nur als einen Pionier der modernen Verhaltensforschung ausweist, sondern auch in der Darstellungsweise seines Themas auffällt (Darwin bedient sich dabei erstmals der Photographie), enthält vieles, was unter dem Aspekt der Zeichenkonzeptionen Beachtung verdient. Darwin behandelt in diesem Werk verschiedene Lebensäußerungen von Tieren und Menschen und demonstriert, daß die elementaren Formen des Gemütsausdrucks bei verschiedenen Spezies (den Menschen eingeschlossen) gleich sind oder doch einander stark ähneln, was nur mit Hilfe der Evolution bzw. des gemeinsamen Ursprungs zu erklären sei. Demzufolge wäre beispielsweise das Stirnrunzeln des Menschen daraus zu erklären, daß kämpfende Tiere ihre Stirn runzeln, um die Augen dadurch zu schützen; der Mensch drückt dadurch die Schwierigkeit eines Problems aus, mit dem er zu kämpfen hat. Dieses Beispiel schon zeigt, daß Darwin viele Konzepte und Vorstellungen der modernen Humanethologie (Eibl-Eibesfeldt 1984) vorweggenommen hat, welche die Parallelen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten allgemein aufgrund gemeinsamer Abstammung und auf der Basis biologischer Zweckmäßigkeit erklärt. Die Humanethologen nehmen ⫺ explizit oder implizit ⫺ an, daß verschiedenen (angeborenen) Verhaltensweisen Signalfunktionen zukommen, die arterhaltende Bedeutung haben. Darwin kam nun in dem erwähnten Buch zu dem Schluß, „daß der Ausdruck an sich,
oder die Sprache der Seelenerregungen […] sicherlich für die Wohlfahrt der Menschheit von Bedeutung ist. So weit als es möglich ist die Quelle und den Ursprung der verschiedenen Ausdrucksweisen, welche stündlich auf den Gesichtern der Menschen um uns herum zu sehen sind (unsere domesticirten Thiere dabei gar nicht zu erwähnen), verstehen zu lernen, sollte ein grosses Interesse für uns besitzen“ (vgl. Darwin 1872 ⫽ 1986: 375). Damit zeigt sich, daß Darwin in gewissem Sinne eine biosemiotische Deutung der Gemütsbewegungen gegeben hat. Denn er spricht ausdrücklich davon, daß die „Seelenerregungen“ ihre eigene „Sprache“ haben, die wir uns zu verstehen bemühen sollten. Es ist also sicher keine eigenwillige Interpretation der Studien Darwins, wenn man seiner Deutung der Gemütsbewegungen eine Zeichenkonzeption unterlegt. Darwin hatte erkannt, daß im Sinne der Arterhaltung von den Tieren bestimmte Zeichen gesetzt werden, die wiederum von anderen Tieren verstanden werden müssen, und daß die diversen Ausdrucksbewegungen beim Menschen ebenso unter dem Aspekt der Lebenserhaltung zu betrachten sind. Ausdrücklich hatte er dabei von der Bedeutung der Gebärdensprache („gesture language“) gesprochen, die in ihrer Rolle als Mittel nonverbaler Kommunikation beim Menschen auch aus der Sicht der modernen Humanethologie und -psychologie unbestritten ist (vgl. z. B. Argyle 1972; Eibl-Eibesfeldt 1984). Darwin beschäftigte sich in diesem Zusammenhang auch konkreter mit verschiedenen Gebärden als Zeichen. Er wies beispielsweise darauf hin, daß es angeborene und nicht angeborene (konventionelle) Zeichen beim Menschen gibt, daß aber sämtliche Zeichen irgendeinen natürlichen Ursprung haben, wie etwa die Gebärdensprache der ZisterzienserMönche, die erfunden wurde, weil das Sprechen als sündhaft galt, andererseits aber nicht auf Mitteilungen verzichtet werden konnte. Wichtig ist aber vor allem, daß Darwin klar erkannt hatte, daß nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen Lebewesen teils recht komplexe Interaktionsformen ⫺ und damit im weitesten Sinne Zeichenprozesse ⫺ ablaufen, wenn auch diese (von der Wortsprache des Menschen abgesehen) von nonverbaler Struktur sind und nicht bewußt reflektiert werden. Im Anschluß an Darwin schrieb Haeckel (1902, 733 f): „Die Sprachen der Säugethiere, wie z. B. das Bellen des Hundes, das nächtliche ‘steinerweichende
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Lied’ der Katzen […] usw., sind bloss Interjections-Sprachen, d. h. vereinzelte Ausrufe, welche gewisse Gefühle oder Wünsche des Säugethiers mittheilen. Bei gesellig lebenden Säugern können diese Ausdrücke ihres Empfindungs- und Willens-Vermögens auch noch weitere Bedeutung erlangen, als Befehle, Warnungen, Hilfsrufe usw. Auch kann ihre Wirkung durch die Geberden-Sprache wesentlich verstärkt werden. Obgleich nun die meisten dieser Interjections-Sprachen oder Laut-Sprachen noch tief unter der gegliederten ‘Begriff-Sprache’ des Menschen stehen, müssen wir dennoch in den ersteren die phylogenetische Vorstufe zur letzteren sehen, ebenso wie die Ton-Sprache der singenden Vögel.“ Die Evolutionstheoretiker hatten also praktisch von vorneherein zwar die qualitativen Unterschiede zwischen der menschlichen Sprache und der „Sprache“ der Tiere erkannt, zugleich aber gesehen, daß die menschliche Kommunikation funktionell aus tierischen Interaktionsformen ableitbar ist. So schrieb etwa auch Drummond (1897, 204): „The simplest Language open to Man was […] the Language of gesture or sign. To the word gesture, however, it is necessary to attach a larger meaning than the term ordinarily expresses to us. The ejaculations of the savage, the drumming of the gorilla, the screech of the parrot, the crying, growling, purring, hissing, and spitting of other animals are all forms of gesture. Nor is it possible to separate the Language of gesture from the Language of intonation.“ Diese wenigen Beispiel mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß im 19. und 20. Jahrhundert, vor allem ausgehend von Charles Darwin, Kommunikation generell als ein biologisch erklärbares Phänomen gesehen wurde und man durchaus die Verständigung bei Tieren und Menschen als Zeichenprozeß zu interpretieren gewillt war. Dabei kann allerdings nicht behauptet werden, daß die Biologen jener Zeit ausdrücklich eine semiotische Betrachtungsweise im Sinn hatten, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, daß Name und Gegenstand der Semiotik im Bereich der Biologie erst im Laufe des 20. Jahrhunderts klarer präzisiert worden sind, obwohl sie in der Medizin zum tradierten Wissen gehörten (vgl. Art. 83 §§ 1.⫺3.). Es darf angenommen werden, daß die Evolutionstheoretiker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kaum etwas von der Existenz des bereits im 17. Jahrhundert von John Locke für die Philosophie in Gebrauch genommen Begriffs „Semiotik“ wußten (vgl. Art. 62 § 8.2.3.).
3.
Jakob von Uexkülls Umweltlehre
Ein bemerkenswertes semiotisches Verständnis der Phänomene des Lebenden entwickelte indes der Biologe Jakob von Uexküll (1864⫺ 1944; vgl. Art. 110). Schult (1991) bezeichnet ihn als „Kryptosemiotiker“, was seine Berechtigung haben mag. Uexküll war dem Vitalismus verpflichtet und stand dem Evolutionsgedanken, insbesondere der Evolutionstheorie Darwins, skeptisch gegenüber. Generell waren die „Vitalisten“ davon überzeugt, daß die Lebewesen in ihrer Vielfalt nicht durch mechanische bzw. mechanisch wirkende Prinzipien ⫺ wie z. B. die Selektion ⫺ erklärbar sind und daß man zum Verständnis des Gefüges jedes Lebewesens auf Voraussetzungen zurückgreifen muß, die sozusagen hinter den natürlichen Erscheinungen liegen; die so postulierten Vital- oder Lebenskräfte haben im Laufe der Geschichte der Biologie und Biophilosophie verschiedene Namen bekommen (zur Übersicht siehe z. B. Wuketits 1985). Die Natur zeige uns, so Uexküll (1938, 85 f), „daß sie keinerlei mechanischen Zwang auszuüben braucht, um auch völlig frei lebende Wesen nach ihrem Plane zu lenken“. Für ihn dominiert in der Natur überall die Planmäßigkeit; die planmäßig arrangierte Umwelt im Zusammenhang mit unserem eigenen planmäßig konstruierten Organismus gehört demnach zu den Grundvoraussetzungen unserer Existenz. Wichtig bei Uexküll ist der Funktionskreis. „Jedes Tier“, schreibt Uexküll (1928 ⫽ 1973, 150), „ist ein Subjekt, das dank seiner ihm eigentümlichen Bauart aus den allgemeinen Wirkungen der Außenwelt bestimmte Reize auswählt, auf die es in bestimmter Weise antwortet. Diese Antworten bestehen wiederum in bestimmten Wirkungen auf die Außenwelt, und diese beeinflussen ihrerseits die Reize. Dadurch entsteht ein in sich geschlossener Kreislauf, den man den Funktionskreis des Tieres nennen kann.“ Und weiter heißt es an gleicher Stelle: „Die Funktionskreise der verschiedenen Tiere hängen in der mannigfachsten Weise miteinander zusammen und bilden gemeinsam die Funktionswelt der Lebewesen, in die die Pflanzen mit inbegriffen sind. Für jedes einzelne Tier aber bilden seine Funktionskreise eine Welt für sich, in der es völlig abgeschlossen sein Dasein führt.“ Uexküll geht es also durchaus um eine Zeichendefinition, wobei er von dem subjektiven Erleben des Tieres (und des Menschen)
1726 ausgeht, von subjektiven Ereignissen, die die Bedeutung vermitteln, welche ein Vorgang für ein Lebewesen besitzt. Dabei bedeutet Subjektivität auch, daß das Zeichensystem eines Lebewesens nicht mit dem Zeichensystem des jeweiligen Beobachters identisch ist, so daß dieses auch die jeweilige Interpretation des beobachteten (Zeichen-)Systems durch den Beobachter beeinflußt: „Befindet sich ein Beobachter einem Tier gegenüber, dessen Welt er untersuchen will, so muß er sich vor allem darüber klar sein, daß die Merkmale, aus denen sich die fremde Welt zusammensetzt, seine eigenen Merkmale sind und nicht aus den Merkzeichen des fremden Subjekts entstanden sind, die er gar nicht kennen kann. Darum sind diese Merkmale samt und sonders mit der Gesetzmäßigkeit unserer Aufmerksamkeit belastet, von der wir sie gar nicht befreien können, sobald wir unsere Aufmerksamkeit ihnen zuwenden“ (Uexküll, 1928 ⫽ 1973, 104). Uexküll hat aber auch interessante und wichtige Überlegungen über die spezifische Weise, in der einzelne Lebewesen ihre Umwelt wahrnehmen, angestellt. Der Begriff der Umwelt erhält bei Uexküll eine besondere Bedeutung. Jedes Lebewesen lebt sozusagen in seiner eigenen Welt, es nimmt die Strukturen der außersubjektiven Realität auf unterschiedliche Weise wahr, diese Strukturen haben für verschiedene Lebewesen unterschiedliche Bedeutung. Uexkülls „Umweltforschung“ untersucht in diesem Sinne, welche Daten der ein Lebewesen umgebenden Wirklichkeit sich in diesem Lebewesen, in seiner Sinneswelt „abbilden“ und welche dieser Daten zu bestimmten Verhaltensweisen des betreffenden Lebewesens in Beziehung stehen. Demzufolge hat nun jede Spezies nicht nur ihre spezifische ökologische, sondern auch kognitive Nische (Vollmer 1985): Sie interpretiert die gegebene Außenwelt auf bestimmte Weise, womit Wahrnehmung zu einem Zeichenprozeß wird bzw. als solcher verstanden werden kann. Weil wir Menschen, so argumentierte Uexküll, über die gleichen Sinnessphären verfügen, gleichen sich auch die Gegenstände, die jeden einzelnen von uns umgeben. Andere Lebewesen existieren in anderen Sinnessphären, ihre Wahrnehmungswelt ist also von unserer sehr verschieden (vgl. Art. 23 § 3.3.): „Wenn Mücken in der Abendsonne tanzen, so gibt es für sie nicht unsere große Menschensonne […], sondern es sind ihre kleinen Mückensonnen, die einen halben
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Meter von ihnen entfernt untergehen. Mond und Sterne gibt es am Mückenhimmel nicht“ (Uexküll 1957, 9).
4.
Die Selbstdarstellung des Lebendigen nach Adolf Portmann
Eine ebenfalls dem Vitalismus zuzuordnende Biologie vertrat Adolf Portmann (1897⫺ 1982). Doch sind auch bei ihm deutlich ausgearbeitete Zeichenkonzeptionen zu erkennen. Die seinem Werk anhaftende vitalistische Aura zeigt sich schon in der Terminologie; er spricht beispielsweise von der „Innerlichkeit“ und der „Selbstdarstellung“ des Lebendigen. „Wir müssen erkennen“, mahnt Portmann (1976, 82), „daß sich die rätselhafte verborgene Innerlichkeit im Äußeren in ihrer Eigenart manifestiert“. Schon hier wird eine bestimmte Zeichenkonzeption deutlich. Noch deutlicher wird sie, wenn wir etwa folgende Seite betrachten: „Aus vielen Gründen muß der Biologe […] ‘Phänomene’ hervorheben, die in einer festen Beziehung zu einem auffassenden Sinn stehen. Wir können in einem der beliebten technischen Vergleiche […] von Erscheinungen sprechen, die als ‘Sendungen’ an einen Empfänger gerichtet sind, die von einer Sendestruktur erzeugt, für eine Empfangsstruktur bestimmt sind: die adressierten Erscheinungen“ (Portmann 1965, 109). Oder: „Eigentliche Erscheinung ist ja auch stets nicht nur Mittel der Kommunikation, sie ist über diese soziale Kundgabe eine geheimnisvolle Äußerung der Wesenheit, die sich aus einer ganz besonderen plasmischen Grundstruktur der molekularen Formstufe aufsteigend entwickelt in die andere Welt einer zur Wirkung auf Sinn fähigen Seinsweise“ (172). Portmann vertrat eine Art „Kryptobiologie“ und kann wohl nicht minder als „Kryptosemiotiker“ bezeichnet werden.
5.
Zeichenkonzeptionen in der Verhaltensforschung
Mit einiger Berechtigung läßt sich sagen, daß die Verhaltensforschung oder Ethologie ⫺ zu der Darwin und Uexküll, wenngleich vor unterschiedlichem Hintergrund, wichtige Vorarbeiten geleistet haben ⫺ in mancher Hinsicht besonders stark semiotische Aspekte impliziert. Schon auf der Ebene der bloßen Tierbeobachtung spielen sich Zeichenprozesse ab: Wir sehen, welche Bewegungen beispielsweise ein Hund macht, daß er etwa die Zähne
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fletscht, mit dem Schwanz wedelt usw., und deuten diese Äußerungen als Ausdruck für seine Befindlichkeit. Zugleich können wir sagen, daß der Hund in seinem Verhalten Zeichen setzt ⫺ er drückt seinen „inneren Zustand“ aus, den Zustand der Freude und der Angst oder seine Angriffsbereitschaft. Eibl-Eibesfeldt (1967⫽1978, 150) schreibt: „Ein balzender Vogel benimmt sich recht auffällig. Er spreizt die Federn, nimmt bestimmte Haltungen ein, singt und bietet seinem Weibchen oft Futter und andere Geschenke an. Ein Hund begrüßt einen anderen schwanzwedelnd, wenn er ihn gut kennt, oder er knurrt den Fremden zähnefletschend an. Eine drohende Katze macht einen Buckel und faucht, sie schnurrt dagegen in freundlicher Stimmung. Verhaltensweisen dieser Art haben eine mitteilende Funktion. Ihre Wirksamkeit wird oft durch das Hinzutreten besonders auffälliger morphologischer Strukturen (Federn, Mähnen) verstärkt. Man nennt die zu Signalen differenzierten Verhaltensweisen Ausdrucksbewegungen.“ Der biologische Zweck solcher Ausdrucksbewegungen liegt auf der Hand: sie dienen dem sozialen Verhalten bzw. seiner Koordination und sind Auslöser wie die zur Signalsendung entwickelten Organe oder, allgemeiner, körperlichen Strukturen. Ausdrucksbewegungen sind mithin Kommunikationsformen und im Zusammenhang mit dem sozialen Leben der Tiere zu sehen, welches umgekehrt von der Koordinierung der Interaktionen zwischen den Tieren abhängt (Cullen 1972). Dabei beziehen sich die jeweils von einem Individuum ausgesandten Signale auf Artgenossen (und sollen von diesen „verstanden“ werden), aber auch auf artfremde Individuen (vgl. Art. 163). So wird das Bellen oder Knurren eines Hundes nicht nur von anderen Hunden verstanden, sondern beispielsweise auch von Katzen. Es erscheint einsichtig, daß in der Stammesgeschichte der Kommunikation Signale stets im Rahmen einer „Interessengemeinschaft“ ausgebildet wurden, also wenn auch ein Empfänger da ist, der ein Signal verstehen und sozusagen daran interessiert sein könnte. Eine Ausnahme dabei ist allerdings das als Mimikry bekannte Phänomen, das als Täuschung eines Signalempfängers dient, wobei es sich also „um die Entwicklung eines Signals handelt, an dem der Empfänger gar nicht interessiert ist“ (Wickler 1973, 228). Ohne auf diese und ähnliche Aspekte hier näher eingehen zu können, wird man wohl
1727 generell die Kommunikation als einen wichtigen Gesichtspunkt tierischen Verhaltens akzeptieren und ebenso zustimmen, daß Lebewesen als Nachrichtensysteme (Wieser 1959) definiert werden können. Was an dieser Stelle aber interessiert, ist, inwieweit Verhaltensforscher in die Untersuchung der Kommunikation semiotische Begriffe und Methoden eingebracht haben. Man findet zwar keine überwältigend große Zahl von Ethologen, die sich der Semiotik explizit bedienen, aber durchaus interessante Stellen in der (ethologischen) Literatur, die zeigen, daß die Semiotik in der Ethologie Anwendung findet. Als erstes sei Wilson (1975) erwähnt, der dem Studium der Kommunikation im Rahmen der Untersuchung des Sozialverhaltens breiten Raum widmet und sich dabei auch durchaus einer semiotischen Terminologie bedient. Wilson kommt unter anderem zu dem Schluß, daß es in der tierischen Kommunikation etwas menschlichen Sprachen Ähnliches kaum gibt, mit Ausnahme der „Einladung zum Spiel“ („play invitation“) bei Primaten. Dieses Verhalten ordnet er unter das Phänomen der Metakommunikation ein: Durch bestimmte Gesten, mit denen etwa Rhesusaffen ihren Artgenossen zu verstehen geben, daß sie mit ihnen spielerisch kämpfen wollen, setzen sie ein Signal, das gleichsam als „Meta-Signal“ gelten kann und ⫺ nach Wilson ⫺ etwa die folgende Bedeutung hat: „What I am doing, or about to do, is for fun; don’t take it seriously. In fact ⫺ join me!“ Besondere Erwähnung verdienen im vorliegenden Zusammenhang die Arbeiten von Günter Tembrock, der explizit eine semiotische Terminologie in der Beschreibung von Kommunikationsprozessen in der Tierwelt verwendet. In seiner Tierstimmenforschung (1977) beruft sich Tembrock auf Peirce und legt für die tierische Kommunikation zwei Möglichkeiten fest, wonach der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem unterschieden werden kann: 1. ikonische Zeichen, d. h. das Zeichen bildet das Bezeichnete ab; 2. arbiträre Zeichen, wo das Zeichen das Bezeichnete nicht abbildet. Um ikonische Zeichen handelt es sich, wenn die Sinnesorgane die Vektoren der Umwelt eines Lebewesens in Eigenschaftsvektoren umwandeln und aus der Fülle realer Objekte der Umwelt bestimmte Merkmale derselben abstrahieren. Dieser Methode bedienen wir uns beispielsweise, wenn wir einem Kind einen Hund als „Wau-Wau“ beschreiben, also eine typische Eigenschaft des Hun-
1728 des, das Bellen, herausgreifen. Mit dem Wort „Hund“ hingegen setzen wir ein arbiträres Zeichen, es bildet keine der Eigenschaften eines Hundes ab, sondern ist ein Name, der nichts über das bezeichnete Objekt aussagt. In der Tierwelt sind wohl ikonische Zeichen über die eigene Befindlichkeit verbreiteter und stammesgeschichtlich wahrscheinlich auch ursprünglicher. Mit Bezugnahme auf Lyons (1972) unterscheidet Tembrock (1977) auch verschiedene semiotische Funktionen von unterschiedlichen Signalen (vgl. Art. 3 § 5.4.), und zwar: (a) deiktische Signale, die die Aufmerksamkeit des Empfängers auf ein sich äußerndes Subjekt lenken („Hier bin ich!“); (b) vokative Signale, welche die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt (oder Subjekt) richten („Schau dorthin“); (c) nominative Signale, die ein Objekt durch einen Namen bezeichnen (Benennung); (d) desiderative Signale mit der Funktion, den Wunsch eines Organismus nach einem Objekt anzuzeigen; (e) instrumentale Signale, die eine Aktivität, ein Tun veranlassen (Fragen, Aufforderungen usw.). Mit Ausnahme der nominativen Signale, die die Existenz einer Wortsprache voraussetzen, kommen diese Signale in der Tierwelt, zumal bei den Vögeln und Säugetieren, durchaus in vielfältiger Weise vor. Viele tierische Signale sind auch indexikal, Informationen werden vielfach über einen (akustischen) Sender übermittelt: „Der ständige Hintergrund stimmlicher Invariablen (also phonetischer Eigenschaften) liefert die ‘Stimmqualität‘. Diese wiederum kann bestimmte Indices liefern, also eine Bedeutungsqualität über den Sender vermitteln“ (Tembrock 1977, 49). Zu diesen Qualitäten gehören: Individual-Identifikation, Gruppen-Identifikation, Alters-Identifikation, Geschlechts-Identifikation, ArtIdentifikation. „Diese Bedeutungsklassen“, schreibt Tembrock (1977, 49) weiter, „können aber auch über andere Eigenschaften (Invarianten) der Lautäußerungen, speziell syntaktische, übermittelt werden, meist wohl durch eine Kombination phonetisch-syntaktischer Eigenschaften. Auch bestimmte Umgebungszustände können durch Signale angezeigt werden, wie Nahrung, Feind (hier bei manchen Arten noch gesondert ‘Luftfeind’ und ‘Bodenfeind’, mit unterschiedlichen Signalen belegt […]).“ Es zeigt sich also, daß Zeichenkonzeptionen in der Verhaltensforschung durchaus ihre
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Rolle spielen können. Inwieweit man aber sagen kann, daß in der Verhaltensforschung Probleme auch semiotisch gelöst worden sind oder werden können, sei dahingestellt (vgl. dazu Art. 168). Die Semiotik dient, so scheint es, eher zur Verdeutlichung verschiedener Fragestellungen und Resultate der Ethologie. Man kann natürlich ⫺ und dies ist auch geschehen ⫺ Kommunikationsprozesse in der Organismenwelt auf die drei „klassischen“ Aspekte bzw. Teildisziplinen der Semiotik beziehen, also Syntaktik, Semantik und Pragmatik: ⫺ Die syntaktische Analyse erhellt die Existenz verschiedener optischer, akustischer, taktiler und olfaktorischer Signale unabhängig von dem Umfeld, in dem sie auftreten (vgl. Art. 2.); ⫺ auf der semantischen Ebene wird die Art der Information untersucht (vgl. Art. 3); ⫺ die pragmatische Ebene schließlich bezieht sich auf die Inhalte der Signale und ihren Gebrauch bei den Teilnehmern an Kommunikationsprozessen (vgl. Art. 4.). Die Ethologie der Kommunikation kann freilich auf keinen dieser Aspekte verzichten, soll Kommunikation in ihrer ganzen Tragweite, gleich bei welchen Organismen, erfaßt werden (vgl. Art. 13). Die Verhaltensforschung hat bislang keine eigene „semiotische Theorie“ entwickelt, doch erscheint eine engere Beziehung zwischen Ethologie und Semiotik wünschenswert (vgl. Art. 27 und Art. 138).
6.
Zeichenkonzeptionen in der evolutionären Erkenntnistheorie
Die vergleichende Verhaltensforschung ist einer der Ausgangspunkte der evolutionären Erkenntnistheorie, die nicht nur menschliches Erkennen und Denken als Resultat der Evolution erklärt, sondern die Evolution insgesamt als einen „erkenntnisgewinnenden“ Vorgang ausweist (vgl. Campbell 1974; Lorenz 1973; Riedl 1980; Vollmer 1985; Wuketits 1990). Die Vertreter dieser Theorie haben bislang zwar nicht explizit zeichentheoretische Aspekte diskutiert oder die Semiotik auf die Grundlagendiskussion der Theorie angewandt, andererseits läßt sich aber sagen: „Da die evolutionäre Erkenntnistheorie für die Evolution einen durchgehenden Lernprozeß annimmt, läßt sie den Schluß zu, daß diese Vorgänge sich auch als Zeichenprozeß beschreiben lassen, denn ein Lernprozeß setzt
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Kommunikation im weitesten Sinne voraus“ (Schult 1991, 139). Außerdem nehmen mehrere Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie Bezug auf die Arbeiten von Uexküll, der bereits eine im weitesten Sinne semiotische Theorie entwickelt hatte (s. o. § 3.). Ungeachtet der Tatsache, daß Uexküll der Theorie Darwins skeptisch gegenüberstand ⫺ und die evolutionäre Erkenntnistheorie in den meisten ihrer modernen Versionen auf Darwins Überlegungen beruht ⫺, ist man sich weitgehend darüber einig, daß Uexkülls Ansatz für die evolutionäre Theorie des Erkennens sehr fruchtbar ist. Denn Uexkülls Konzept der Umwelt, seine Einsicht, daß alle Lebewesen anatomisch und physiologisch so strukturiert sind, „bestimmte Dinge, die für sie von Bedeutung sind, merkend und wirkend zu umfassen“ (Uexküll 1939, 113), bedeutet im Grunde nichts anderes als die Relativität der Weltbilder, ausgedrückt in der These der evolutionären Erkenntnistheorie, daß alle Organismen über einen spezifischen Weltbildapparat verfügen, der eben jeweils spezifische, für das Leben und Überleben relevante Aspekte der realen Außenwelt vermittelt (vgl. Art. 21 § 7.). Versteht man nun, der evolutionären Erkennthistheorie gemäß, das Leben als einen Informationsprozeß, dann läßt sich wohl auch sagen, daß das Leben ein Zeichenprozeß ist, ein mehr oder weniger komplexer Kommunikationsvorgang, der einen Kreislauf von Sendern und Empfängern umfaßt. Sender kann dabei ein Artgenosse sein, ein artfremdes Individuum oder die jeweilige Umwelt des Lebewesens. Dabei wird vor allem in der auf dem Anpassungsparadigma beruhenden Version der evolutionären Erkenntnistheorie ausdrücklich von einer Abbildung der ein Lebewesen umgebenden Wirklichkeit durch den Weltbildapparat desselben gesprochen (Lorenz 1973). Die Kritik, die diesem anpassungstheoretischen Konzept von Erkenntnis ⫺ berechtigterweise ⫺ entgegengebracht wird, kann nicht Gegenstand vorliegender Darstellung sein (zur Diskussion siehe z. B. Wuketits 1990). Interessant ist hier, daß ja dieser Abbildungsprozeß durchaus als Zeichenprozeß verstanden wurde, wenngleich die Vertreter dieser Version der evolutionären Erkenntnistheorie sich dabei nie explizit auf die Semiotik bezogen haben. Denn wenn ein Lebewesen in seinen Strukturen und Funktionen Aspekte der Außenwelt in lebensdienlichem Sinne „abbilden“ soll, dann geht diesem Prozeß naturgemäß ein
1729 „Verstehensprozeß“ voraus: die Zeichen, die von der Außenwelt gesendet werden, müssen verstanden worden sein, um eine spezifische Entwicklung von Organen und Funktionen zu ermöglichen. Aber auch dort, wo die evolutionäre Erkenntnistheorie nicht mehr von einer Korrespondenz zwischen Organismus und Außenwelt ausgeht, sondern mit dem Konzept der Kohärenz operiert, werden Zeichenprozesse vorausgesetzt. Dabei wird unterstellt, daß ein Organismus, um leben bzw. überleben zu können, nur bestimmte Vorstellungen von der ihn umgebenden Wirklichkeit haben muß, gleich, ob diese Vorstellungen mit der äußeren Wirklichkeit nun tatsächlich übereinstimmen oder nicht. Was ein Organismus von seiner Außenwelt „repräsentiert“, muß bloß kohärent, d. h. „in sich stimmig“ sein und dem Organismus eine adäquate, d. h. dem Leben bzw. Überleben dienliche Reaktion ermöglichen. Und wenn dabei schon von Korrespondenz gesprochen wird, dann im Sinne einer funktionalen Korrespondenz, die keine abbildende Funktion hat: „Denn zum Überleben sind nicht richtige ‘Bilder’ der Wirklichkeit, sondern nur die richtigen Reaktionen auf Umweltverhältnisse oder Umweltereignisse nötig. Diese funktionale Korrespondenz jedes überlebensfähigen Organismus mit seiner Umwelt ist das Ergebnis der evolutionären Verkopplung eines realen Erkenntnisapparates mit der dazugehörigen Umwelt“ (Oeser 1987, 15). Sicher setzen die „richtigen Reaktionen“ eines Lebewesens auf seine Umwelt ein wie auch immer geartetes „Verständnis“ dieser Umwelt voraus. Mit anderen Worten: Die Zeichen der Umwelt müssen so gedeutet werden können, daß dem Lebewesen ein Überleben möglich ist. Insgesamt also liefert die evolutionäre Erkenntnistheorie einige Ansatzpunkte für semiotische Deutungen von Erkenntnisvorgängen. Denn die evolutionäre Erkenntnistheorie versucht ja letztendlich nichts anderes als anzugeben, wie die verschiedensten Organismen ihre jeweils eigenen Zugänge zu einer objektiv gegebenen Realität entwickelt haben; und diese Zugänge können durchaus im zeichentheoretischen Sinne verstanden werden, etwa in folgendem Sinne: jedes Lebewesen deutet die Signale seiner Umwelt auf seine Weise, d. h. so, wie es sein eigener Weltbildapparat nahelegt. Dabei ist natürlich dieser Weltbildapparat schon das Resultat jener innigen Beziehung zwischen Organismus und Umwelt,
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die ihrerseits nur zustande kommen konnte, weil Zeichen ausgesandt und jeweils „adäquat“ verstanden worden sind.
7.
Semiotik und Ökologie
Das bisher Gesagte legt nahe, daß auch in der Ökologie, der Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt, semiotische Konzepte Anwendung finden müssen (vgl. Art. 27). In der Tat schrieb beispielsweise Thienemann (1956, 38): „[…] so sind überhaupt in dem ganzen großen Lebensraum der Erde zahllose Lebensräume mit ihren Lebensgemeinschaften einbegriffen, gleichsam ‘eingeschachtelt’, einander berührend, ineinander übergreifend, eine ganze Stufenfolge von Lebensräumen, eine Hierarchie von Lebensgemeinschaften verschiedener Ordnung, alle verknüpft miteinander durch ein enges Netz von Beziehungen. Sie alle wiederum bilden die größte biozönotische Einheit, die wir kennen, den ganzen irdischen Lebensraum mit der Gesamtheit der Flora und Fauna der Erde.“ Gewiß, der Autor bedient sich hier nicht explizit einer semiotischen Terminologie, aber man kann, ohne viel in den Text hineinzugeheimnissen, das „enge Netz von Beziehungen“ zwischen den Lebensgemeinschaften semiotisch deuten, freilich nur in dem weiten Sinne, daß zwischen Organismen und ihrer Umwelt einerseits sowie zwischen den einzelnen Lebensgemeinschaften andererseits eine zeichentheoretisch beschreibbare Beziehung besteht. In neuerer Zeit aber hat Haila (1986) demonstriert, daß die ökologische Theorienbildung semiotische Dimensionen aufweist, indem er am Beispiel der Insel-Biogeographie mit Bezug auf Peirce einheitliche Interpretationen der sogenannten Gleichgewichtstheorie vorschlägt.
8.
Semiotik und Molekularbiologie
Unter den neueren Disziplinen der Biologie bedient sich insbesondere die Molekularbiologie bzw. -genetik einer semiotischen Ausdrucksweise (vgl. Art. 20). So bemerkt etwa Jacob (1972), daß jedes organisierte System ⫺ also z. B. ein Lebewesen ⫺ unter dem Aspekt der Regulation und dem der Botschaft analysiert werden könne. „Unter Botschaft“, schreibt Jacob (1972, 269) weiter, „ist die Reihenfolge von Symbolen zu verstehen, die einem bestimmten Verzeichnis ent-
nommen werden. Diese Symbole können ebensogut Zeichen wie auch Buchstaben, Töne, Lautgebilde usw. sein. Eine Botschaft bedeutet somit eine bestimmte Selektion unter allen möglichen Anordnungen. Sie stellt eine bestimmte Ordnung unter all denen dar, die im Kombinationsspiel der Symbole möglich sind.“ Sicher zählt zu den bedeutendsten Erkenntnissen der modernen Biologie die „Entzifferung“ des genetischen Kodes, d. h. die Erkenntnis, daß nach einer bestimmten Regel eine Polypeptid-Sequenz mit einer gegebenen Polynukleotid-Sequenz verknüpft ist. Dabei wird der Aufbau von Proteinen meist mit einer Schrift verglichen, die aus zwanzig Buchstaben (den Aminosäuren) besteht; den Aufbau von Nukleinsäuren vergleicht man ebenfalls mit einer Schrift, die aber aus nur vier Buchstaben besteht, nämlich den Nukleotiden. Die zentrale Frage, die es zu enträtseln galt, war, wie eine „20-Buchstaben-Schrift“ in einer „4-BuchstabenSchrift“ verschlüsselt ist. Man spricht nun in der Molekularbiologie tatsächlich davon, daß es „Anleitungen“ für die Bildung bestimmter Proteine gibt, die „abgeschrieben“ werden, und daß anschließend ein „Übersetzungsprozeß“ stattfindet. Man bedient sich also einer im weitesten Sinne semiotischen Redeweise. Einerseits dient nun die Verwendung solcher Ausdrücke wie „Übersetzung“, „abschreiben“ usw. der bloßen Veranschaulichung und gehört in den Bereich der in der Biologie generell sehr reich entwickelten Metaphorik. Andererseits steckt hinter dieser Terminologie durchaus die Überzeugung, daß es so etwas wie eine molekulare Semantik gibt, die der Entwicklung jedes Organismus zugrunde liegt. Daher schreiben beispielsweise auch Eigen und Winkler (1975, 305): „Alle Funktionen im Organismus sind minuziös aufeinander abgestimmt. Das bedeutet: Alle Wörter der Molekülsprache sind zu einem sinnvollen Text zusammengesetzt, der sich nach Sätzen gliedern läßt. Die Weitergabe dieses Textes von Generation zu Generation und die Nachrichtenübermittlung zwischen Legislative und Exekutive innerhalb der Zelle können jedoch nicht mit dem auf funktionelle Effizienz zugeschnittenen Alphabet der Proteine verwirklicht werden.“ Es muß also auch die Sprache der Nukleinsäuren wirksam werden, als Legislative, wodurch die Bauanleitungen für den entstehenden Organismus festgelegt sind. In der Molekularbiologie wird aber nicht nur der semantische Aspekt von Information
85. Zeichenkonzeptionen in der Biologie
deutlich gemacht, sondern man spricht ebenso auch vom pragmatischen und syntaktischen Aspekt, wenn man die Entstehung biologischer Information und Ordnung beschreiben und erklären will (vgl. z. B. Küppers 1986 und Witzany 1993), womit also alle drei Ebenen der Semiotik eingebracht wären.
9.
Schlußbemerkung
Diese Hinweise mögen nun gezeigt haben, daß es in der Biologie Bereiche bzw. Disziplinen gibt, die sich nicht nur in metaphorischer Weise einer zeichentheoretischen Konzeption bedienen, sondern für deren Probleme die Semiotik auch eine genuine Sichtweise darstellt. Sicher könnte die Semiotik auch noch in anderen Bereichen der Biologie fruchtbar gemacht werden. Derzeit scheint die Anwendung der Semiotik aber vor allem in der Verhaltensforschung und in der evolutionären Erkenntnistheorie ein vielversprechender Ansatz zu sein, der noch zu interessanten Ergebnissen führen wird (vgl. Art. 138).
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1732
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
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Franz M. Wuketits, Altenberg (Österreich)
86. Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Ökonomik und Semiotik als Humanwissenschaften 2. Wort und Wert an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert 2.1. Das klassische Repräsentationssystem 2.2. Konzeptionen des Übergangs 2.3. Wirtschaft als Kommunikation 2.4. Wirtschaftswissenschaft zwischen der Psychologie des Wertes und der Logik des Wortes 3. Historizität: Sprache und Volk 4. Tausch, Geld und Semiotik 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Ökonomik und Semiotik als Humanwissenschaften
Wenn es gilt, die ökonomischen Diskurse des 19. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer zeichentheoretischen Inkremente zu befragen, so werden wir zunächst auf ein Bündel von Fragen zurückgeworfen: Welche strukturellen Differenzen lassen sich im 19. Jahrhundert zwischen den ökonomischen und den linguistischen Diskursplänen auszeichnen? Finden wir in ihrem syntagmatischen Aussageraum Verbindungslinien, welche die beiden Diskurstypen ungeachtet ihrer divergenten Untersuchungsgegenstände in einer gemeinsamen Positivität versammeln und begründen? Können wir im 19. Jahrhundert Konnexionen zwischen Wirtschaft und Sprache herstellen, die das Eindringen der Semiotik in ökonomische Diskursformationen nicht als ein fremdes, äußerliches Ereignis darstellen? Existiert ein epistemisches Verwandtschaftsverhältnis, welches die beiden Diskursformationen in korrelativen Räumen anzuordnen gestattet, ohne sie bloß im Verhältnis der Analogie, Ähnlichkeit und Isomorphie zu erfassen?
Obgleich sowohl die Semiotik als auch (neuerdings) die Ökonomik einen universalwissenschaftlichen Anspruch erheben, ist der Überlappungsbereich zwischen diesen beiden Wissenschaften erstaunlich klein. Selbst innerhalb von ökonomischen Spezialdisziplinen mit sachlicher Affinität zur Semiotik wie Informations- und Medienökonomik spielen semiotische Ansätze noch so gut wie keine Rolle; so verzeichnet die repräsentative Literaturdatenbank Econlit 1998 unter dem Schlagwort „Semiotik“ nur 16 Publikationen (vgl. allerdings Art. 144). Das Kommunikationsdefizit zwischen ökonomischer und semiotischer Forschung ist freilich ein wechselseitiges. Obwohl etwa Peirce den universalwissenschaftlichen Anspruch der Semiotik ausdrücklich auch auf die Ökonomie bezogen hat (1958: 408), verzeichnet die Bibliography of Semiotics (Eschbach und Eschbach-Szabo 1986) unter diesem Schlagwort gerade 17 Eintragungen, von denen nur knapp die Hälfte ökonomische Fragestellungen im eigentlichen Sinn zum Inhalt haben. Die Notwendigkeit, sich diesen grundlegenden Problemen mit einem epistemologisch ausgerichteten Blick zu stellen, scheint um so drängender, wenn man sich erinnert, wie spärlich die Versuche, Zeichen und Ökonomie in einem gemeinsamen Diskurs kurzzuschließen, im 20. Jahrhundert sind. Denn gerade durch die Suspension der epistemologischen Dimension zeigen die Arbeiten von Rossi-Landi (1972), Goux (1975), Guattari (1980), Ponzio (1988) und anderen besonders deutlich, wie prekär der Gestus einer Vermittlung ist, die das historische Apriori der untersuchten Wissenschaften außer Acht läßt. Die semiotische Nomenklatur scheint dem öko-
86. Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie
nomischen Diskurs hier hinzugefügt, als konjekturaler Metadiskurs dem ökonomischen Diskurs artifiziell aufgesetzt zu sein. Isomorphe und analoge Beziehungen zwischen semiotischen und ökonomischen Diskurslinien werden vorschnell als strukturelle Identitäten dargestellt. Die Elemente einer allgemeinen Semiologie werden als schematische Vorlage auf ökonomische Kategorien des Wertes, der Arbeit, des Tausches, der Zirkulation usw. projiziert, um diese als universale Kategorien innerhalb einer allgemeinen (symbolischen) Ökonomik etablieren zu können. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieser Prozeß sich auf eine unermüdliche Übersetzungsarbeit von Begriffen reduziert, ohne Versuche zu unternehmen, eine Verfeinerung der Analyse zu betreiben und so zu neuen Resultaten zu kommen. Die Semiologie dupliziert zu oft die kategoriale Struktur der Ökonomik mittels ihres eigenen Jargons. Diese Verdopplungsarbeit, die die engen Grenzen akademischer Formationen aufzulösen hofft, ist mit besonderer Vorsicht zu beurteilen. Zum Beispiel suchte man zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts den Andeutungen von Saussure (1916: Kapitel 4), Hjelmslev (1974: 79) und Barthes (1983: 46) folgend den Wertbegriff in der Ökonomik auf den Wertbegriff der Semiologie zu übertragen, ohne das epistemologische Profil dieser Begriffe weiter zu berücksichtigen. Dies führte zu so unzulässigen Analogisierungen, wie der Gleichsetzung des Tauschwertes mit dem Signifikanten und des Gebrauchswertes mit dem Signifikat (vgl. Rossi-Landi 1972: 90 ff). Eine ähnlich fragil konstruierte und unvermittelt ins Spiel gebrachte Analogisierung finden wir bei Goux, der das Geld als Zeichen in dessen Signans/ Signatum-Struktur verhandelt und dabei die Differenz zwischen Geld als Kapital und Geld als Tauschmittel übergeht. Wer meint, die Semiologie würde eine universale Syntax der Dinge und Wörter entziffern können, dem erscheint ihre Applikation auf den ökonomischen Diskurs allzu leicht als metadisziplinäre Verheißung eines allgemeingültigen kategorialen Schemas. Eine epistemologische Recherche der Begriffsprofile würde dieses konjekturale Phantasma wenn nicht verunmöglichen, so doch relativieren. Diese Fragen können sich gewiß nicht in der historiographischen Selbstreflexion über die Genese von Ökonomik und Linguistik im 19. Jahrhundert erschöpfen. Sie rühren vielmehr an das Sein dieser wissenschaftlichen
1733 Disziplinen, sofern es jenseits ihrer akademischen Oppositionen zu zeigen gilt, warum es überhaupt möglich ist, daß semiologische Problemstellungen innerhalb der Ökonomik auftauchen, ohne als disziplinfremdes Moment wahrgenommen zu werden. Suspendieren wir für einen Augenblick die Bestrebungen der Ökonomen und Semiologen des 20. Jahrhunderts, Unterscheidungskriterien gegenüber den benachbarten Disziplinen festzuschreiben (vgl. etwa Barthes 1983: 80), und sehen wir zunächst von den Abgrenzungsmanövern ab, die eine wissenschaftliche Disziplin als einheitlichen Körper darzustellen ermöglichen (vgl. Art. 123), so finden wir im 19. Jahrhundert die klassische Ökonomik und die Philologie (aus der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Semiologie ableiten wird) um ein gemeinsames Feld herum gelagert, welches Foucault in Die Ordnung der Dinge (1974: 413 ff) als Feld der Humanwissenschaften beschreibt. Diesem epistemischen Terrain, das zugleich grundlegende Verbindungen zwischen der Ökonomik und der Semiotik (sofern sie einer allgemeinen Philologie ihr Entstehen verdankt) herstellt, gilt es vorerst Aufmerksamkeit zu schenken. Die Bezeichnung „Humanwissenschaft“ referiert im Falle des ökonomischen und philologischen Diskurses nicht auf die Analytik der Natur des Menschen. Die Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts orientieren ihre Analysen vielmehr in einem anthropologischen Zwischenbereich, worin einerseits der Mensch in seiner Positivität als lebendiges, arbeitendes und sprechendes Wesen erscheint, andererseits aber der Raum definiert wird, welcher diesem Wesen zu wissen gestattet, was das Leben überhaupt ist, worin das Wesen der Arbeit und ihre Gesetze bestehen und auf welche Weise es sprechen kann. Dem empirisch ermittelten Faktum, daß der Mensch ein sprechendes und arbeitendes Wesen ist, wird je ein transzendentaler Apparat untergeschoben, der den Menschen als Gestalt eines möglichen Wissens herauslöst (Foucault 1974: 437). Diese Ordnung des Humanwissens ermöglicht es, eine positive Affinität zwischen dem ökonomisch-soziologischen und dem philologisch-semiotischen Dispositiv herzustellen ⫺ eine Ordnung, die Foucault in drei Modellen schematisiert, welche der Biologie, der Ökonomik und der Sprachuntersuchung entnommen sind. Die Projektionsoberfläche der Biologie des 19. Jahrhunderts enthüllt den Menschen in seiner Eigenschaft als mit physiolo-
1734 gischen, sozialen und kulturellen Stimuli zu affizierendes durch und durch funktionelles Wesen. Er, der Mensch, hat sich dabei den Erfordernissen eines Milieus zu unterwerfen, indem er mittlere Anpassungsnormen vorfindet, welche die Ausübung seiner Funktionen gestatten. An der Projektionsoberfläche der Ökonomik des 19. Jahrhunderts erscheint der Mensch als mit Bedürfnissen und Leidenschaften ausgestattetes Wesen, welches aufgrund der Knappheit der Güter und des Widerstands der unfruchtbaren Böden in einer Konkurrenz- und Konfliktsituation zu anderen Menschen steht. Die Vernunft des Menschen ermöglicht es, einen Regelzusammenhang zu entwerfen, welcher auf die Begrenzung wie die Produktivierung dieses Konflikts abzielt. Schließlich erscheint an der Projektionsoberfläche der Philologie der Mensch als ein Wesen, das permanent Bedeutung freisetzt und mit dieser operiert. Alles, was der Mensch errichtet, deponiert, spricht, unterläßt, verwaltet, also sein ganzer Raum des Handelns und (Fehl-)Verhaltens, konstituiert ein kohärentes Ganzes und ein Zeichensystem (vgl. Art. 80 § 3.2.). Das mögliche Wissen über den Menschen wird demnach über drei trajektorische Begriffspaare organisiert: Funktion/Norm, Konflikt/Regel, Bedeutung/System. Obgleich sie an den Projektionsoberflächen der einzelnen Disziplinen auftauchten, blieben sie nicht im Eigendünkel ihrer je eigenen Disziplin lokalisiert, sondern wurden in den gemeinsamen Raum der Humanwissenschaften aufgenommen, in dem sich die Disziplinen gegenseitig interpretieren und ihre Grenzen verwischen. Was man in diesem Trieder sich gegenseitig durchdringenden Wissens feststellen kann, ist nicht die Reinheit des einer Disziplin eigenen Modells, sondern die paradigmatische Vorherrschaft eines Modells über die anderen, sofern es in allen Humanwissenschaften zu seiner Anwendung kommt. So meint Foucault, eine Vorherrschaft des biologischen Modells als Paradigma der Humanwissenschaften zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausmachen zu können. Seine Suprematie ermöglichte es, eine „organische“ Seinsweise des Menschen, der Gesellschaft, der Sprache vorauszusetzen, welche in den Termini der Funktion analysiert wurde. Anschließend hat sich nach Foucault in den Diskursen der Humanwissenschaften das ökonomische Modell in den paradigmatischen Vordergrund gedrängt, sofern der Mensch mit seinen Aktivitäten als Hort des Konflik-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
tes und der Konkurrenz um knappe „Ressourcen“ erscheint. Schließlich ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts das philologische Modell innerhalb der Humanwissenschaften tonangebend gewesen, wobei das philologische Modell dort interveniert, wo es selbst die „Deutung“ verborgener Bedeutung anbietet und seine semiologisch-linguistische Variante an der Scheidelinie zwischen Sprechen („parole“) und Sprache („langue“) die Strukturierung des Bezeichnungssystems analysiert (vgl. Art. 33 § 4.). Die Pointe in der Beantwortung der Frage, inwieweit der ökonomische Diskurs des 19. Jahrhunderts semiotische Theorien entwikkelt oder mit ihnen operiert hat, liegt in der Foucaultschen Analyse wohl in dem Nachweis, daß beide Wissenschaften sich nicht als wesensfremde Diskurspläne zueinander verhielten. Als Modellieferanten für die Humanwissenschaften standen sie sich nicht äußerlich gegenüber (auch wenn man diesen Eindruck an der Oberfläche gewinnen möchte), sondern speisten sich beide aus einem gemeinsamen Ereignis in der Geschichte des Wissens: dem Auftreten des Menschen als Objekt möglicher Erkenntnis (vgl. Art. 15).
2.
Wort und Wert an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
2.1. Das klassische Repräsentationssystem Für das 17. und 18. Jahrhundert haben sowohl die Wörter als auch die Werte die Funktion, eine zugrunde liegende Ordnung von Dingen zu repräsentieren. In dieser Repräsentationsfunktion erscheinen die Systeme der Wörter (Sprachen) und der Tauschwerte (Ökonomien) als Abkömmlinge einer anfänglichen Ursprache (Diskurs der unmittelbaren Erkenntnis) bzw. einer ursprünglichen Verteilungsordnung (Politik der Natur). Die allgemeine Grammatik untersuchte diese Tiefendimension der Wörter, indem sie in den Wortstämmen verschiedener Sprachen den ursprünglichen Stamm suchte, der das Ding als solches repräsentiert. Das Wort war für sie damit ursprünglich ⫺ Substantiv, das zum Verb erst wird durch die Hinzufügung des Wortes „sein“, ⫺ Bezeichnung, Demonstrativum, Index, was zurückgeht auf die anfänglichen Schreie der Naturvölker, ⫺ Buchstabe in einer gewissermaßen göttlichen (bzw. „natürlichen“) Schrift des Verstandes,
86. Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie
⫺ geknüpft an das Ding, wenn auch nicht nach Art einer Abbildung, sondern eines ordnenden Rasters, ⫺ Element einer Logik. In ähnlicher Weise verfuhr die Analyse der Reichtümer mit den Werten, die nunmehr nicht die Dinge repräsentieren, sondern das Repräsentationsverhältnis der Dinge zueinander, ausgedrückt in Quantitäten. Der Tauschwert (d. h. die Darstellung einer Einheit von Ding A in einer Menge von Ding B) repräsentierte das reziproke Verhältnis von mangelnden zu überschüssigen Gütern; er gewann damit Sinn im Handel (nicht in der Produktion). Um von Mangel und Überschuß erst sprechen zu können, mußte allerdings eine natürliche Ordnung der Bedürfnisse unterlegt werden (das Tableau der Nachfrage; noch bei Thomas Robert Malthus, 1766⫺1834; vgl. Malthus 1798). Während die Sprachen also aus einer ursprünglichen Logik hervorgegangen schienen, von der sie allerdings (durch äußere Störungen) abgewichen sind und zu der sie (durch den Prozeß der Zivilisation) wieder zurückfinden müssen, repräsentierten die Ökonomien die Abweichung (der realen Verteilung von der ursprünglichen Ordnung der Bedürfnisse) als solche. Die Sprachen schienen aus einer Ordnung der reinen Repräsentation durch Differenzierung entstanden, die Ökonomien repräsentierten die Differenz zwischen einer Ordnung des Bedarfs und einer Ordnung der Produktion. Die Ordnung des Bedarfs entsprach jedoch ihrerseits einer Sprache, die durch den Fortschritt der Erkenntnis erst in das ursprüngliche System einer reinen Repräsentation der Bedürfnisse zurückverwandelt werden muß. Die Multiplikation der Bedürfnisse und die wachsenden Schwierigkeiten der Produktion hatten damit auch eine direkte Bedeutung für den Fortschritt der Erkenntnis (vgl. Malthus 1798). Die Elemente des ökonomischen Repräsentationssystems (Preis, Zins, Lohn, Profit, Rente) standen zueinander in einem Verhältnis wechselseitigen Ausdrucks. In letzter Instanz repräsentierten sie den Mangel (als Verhältnis der Nahrungsmittel zum Nahrungsbedarf: „die Nahrung eicht die Preise“). 2.2. Konzeptionen des Übergangs Ende des 18. Jahrhunderts stieß die allgemeine Grammatik auf die Tatsache, daß sich in verschiedenen Sprachen gerade die Wortstämme verändern, während die Flexionsord-
1735 nungen konstant bleiben. Die Flexionsmorpheme selbst waren bisher nur als verstümmelte Nomina angesehen worden, als Hilfsmittel zur Verbindung der einzelnen Zeichen. Nunmehr schienen aber etwa die Konjugationen nach einem souveränen Gesetz zu funktionieren, das keinen Repräsentationswert mehr in der Ordnung der Dinge hat. Die Sprache verlor damit ihren Diskurscharakter und erschien zusehends als ein innerer, autonomer Mechanismus. Dieser Mechanismus verändert sich seinerseits, was sich nun aber nicht mehr als Entfernung von einem Ursprung oder Abschleifung durch äußere Störungen deuten ließ, da das ursprüngliche Korrelat fehlte. Die Gesetzmäßigkeit der inneren Variation der Sprachen erschien damit als immanente Kraft der Historie. Ebenso verlor für die Ökonomik der Wert allmählich seinen Zeichencharakter. Er repräsentierte keinen Mangel (kein Verhältnis zwischen real produzierten und virtuell gebrauchten Dingen) mehr, sondern schien aus dem Widerstand der Dinge gegen ihre Produktion selbst zu entstehen. Dieser Widerstand reguliert das Ausmaß von Arbeit. Er stellt nun aber keinen repräsentierbaren Mangel mehr dar, sondern folgt seinen eigenen Gesetzen (dem Fortschritt der Produktionsbedingungen). Die Arbeit wurde nun von der Ordnung des Bedarfs abgekoppelt. Aber auch diese Ordnung selbst erschien nicht mehr als ein Repräsentationssystem, das von einer ursprünglichen Ordnung ‘wahrer’ Bedürfnisse (einer Ordnung der rationalen Nützlichkeit, also eigentlich einer moralischen Ordnung) abgeleitet worden wäre und durch Vernunft wieder in sie überführt werden könnte. Sie unterlag einem eigenen Gesetz, dem der Bevölkerungsentwicklung. Kennzeichnend für diese Verschiebungen sind Autoren wie Malthus und Adam Smith (1723⫺1790). Die produktiven Widersprüche im Denken beider resultieren vornehmlich aus dem Versuch, gerade jene Kräfte, welche das klassische Repräsentationssystem zur Auflösung brachten, innerhalb des alten Tableaus zu denken. Bei Smith zeigte sich dies augenfällig am Kontrast von wertbildender Arbeit einerseits und Arbeit als Tauschwert andererseits. Arbeit wurde nun zwar als Konsequenz eines eigengesetzlichen Widerstands der Dinge konzipiert, sie repräsentierte damit nichts mehr. Andererseits ließ sich ihr Wert in Subsistenztagen darstellen und durch ein bestimmtes Quantum an Nahrungsmitteln repräsentieren. Daraus ergibt sich ein Wider-
1736 spruch, den Smith noch nicht auflöste und auf dem dann erst Ricardo sein System errichtete. Eine ähnliche Stellung am Schnittpunkt zweier Epistemen nahm das Malthussche Bevölkerungsgesetz ein. Einerseits war es als blinder Drang konzipiert. Malthus versuchte jedoch, in diesem Drang immer noch das Drängen hin zu einem ursprünglichen, ‘natürlichen’ Verteilungssystem zu sehen. Der Druck auf die Reallöhne ist bei ihm nicht ziellos, sondern soll (durch Kultivierung unkultivierter Böden, demographische Verschiebungen usw.) zur Herstellung der ‘wahren’ Proportionen führen. Außerdem führt der Druck auf die Bedürfnisse zur Reflexion, nötigt zur vernünftigen Durchleuchtung der Bedarfsstruktur und verwandelt sie damit in eine Logik der Nützlichkeit. 2.3. Wirtschaft als Kommunikation Wenn Adam Smith als Begründer der Nationalökonomie und Mitbegründer der Soziologie und Politikwissenschaft hingestellt wird (vgl. Medick 1973: 180 ff und Prisching 1991: 53 ff), so wird dabei oft vergessen, daß die Begründung der Politischen Ökonomie als Sozialwissenschaft in seinem emphatischen Verständnis des Menschen als eines sozialen und daher gleichermaßen auf Kommunikation angewiesenen wie dafür geschaffenen Wesens die Konstitution ihres Gegenstandes als kommunikatives Phänomen impliziert (vgl. Smith 1976a: II.ii 3.1), weswegen auch die Rhetorik, der Smith 1748 seine ersten akademischen Vorlesungen gewidmet hat, als Grundlagenwissenschaft der Sozialwissenschaften erscheinen kann (vgl. Bauer und Matis 1993). Dementsprechend führt Smith die Tauschneigung als das Grundprinzip der Arbeitsteilung und damit des gesamten Wirtschaftssystems auf ein Kommunikationsbedürfnis zurück, das eigentlich Gegenstand der Rhetorik ist, nämlich den Wunsch zu überzeugen: „If we should enquire into the principle of the human mind on which this disposition of trucking is founded, it is clearly the natural inclination every one has to persuade. The offering of a shilling, which to us appears to have so plain and simple a meaning, is in reality offering an argument to persuade one to do so and so as it is for his interest“ (Smith 1978: A vi 56; vgl. auch B 220 f). Der Tausch, dessen kommunikationstheoretische Fundierung Adam Smith freilich nirgends systematisch ausgeführt hat, beruht demnach auf der non-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
verbalen Kodierung eines Sprechakts (vgl. Art 80 § 1.1.). Diese Emanzipation des Tausches gegenüber der verbalen Kommunikation, die erst die Autonomisierung des Wirtschaftssystems gegenüber anderen Systemen der gesellschaftlichen Kommunikation und Koordination ermöglichte, hatte zu ihrer Voraussetzung die Beanspruchung nicht-sprachlich vermittelter Formen der Informationsgewinnung über die Motivationslage des Kommunikations- und Tauschpartners, wie Einfühlungsvermögen („sympathy“) auf der einen und Universalisierungsfähigkeit („impartial spectator“) auf der anderen Seite: „Worüber man nicht reden kann, davon muß man nicht schweigen, wie Wittgenstein meinte, sondern damit kann man Handel treiben [. . .]. Im Tausch verständigt man sich nicht über Wahrheiten oder Werte. Damit der Tausch dem Individuum möglichst gut gelinge, muß es indessen eine Ahnung von anderen als seinen subjektiven Werten und Wahrheiten haben („impartial spectator“, „sympathy“), ohne sich über diese mit anderen einigen zu müssen“ (vgl. Sturn 1991: 108). Der Tausch erscheint somit als eine der universellsten Formen von Kommunikation, wenn auch gleichzeitig als reduzierte Weise des gesellschaftlichen Verkehrs, als Grenzform. Und selbstverständlich beeinflußt er alle anderen Aspekte der Kommunikation ebenso wie er selbst auf Kommunikation beruht. Da Adam Smith mit dieser kommunikationstheoretischen Fundierung des Tausches die Alternative von instrumenteller versus kommunikativer Rationalität unterlief, konnte er den freien Markt als eine grundsätzlich kommunikativ-kooperative Veranstaltung darstellen, die ihn als eine Quelle der Solidarität im tieferen Sinn erscheinen läßt. 2.4. Wirtschaftswissenschaft zwischen der Psychologie des Wertes und der Logik des Wortes Die epistemische Umwälzung der Philologie verband sich mit einer neuen Konzeption von den Wurzeln der Wörter. Diese wurden nicht mehr als Nomen aufgefaßt, die erst in Verbindung mit dem Verb „sein“ eine Tätigkeit bezeichnen können, sondern schienen jetzt selbst Verbalbedeutung zu besitzen. Denn nun schien der Wortstamm nicht mehr Dinge zu repräsentieren, sondern der unbewußten Macht des Sprechens zu entspringen und so immer schon einer Tätigkeit des Subjekts zu ihrem Ausdruck zu verhelfen. Er verwies
86. Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie
nicht auf eine vergessene Kenntnis der Dinge, sondern auf die spontane Freiheit des Willens. Die vergleichende Philologie (insbesondere der indogermanischen Sprachen) versuchte seit Franz Bopp (1791⫺1867) und Jacob Grimm (1785⫺1863) nicht mehr, den gemeinsamen Ursprung der Sprachen in einer primordialen Logik aufzudecken. Die Sprachen wurden jetzt vielmehr nach der Art ihrer Flexionssysteme verglichen und erschienen so voneinander ableitbar. Das Hervorgehen einer Sprache aus der anderen zeigte sich nicht als Entfernung oder Annäherung an ein ursprünglich transparentes System zur Bezeichnung der Dinge, sondern wurde auf ein inneres historisches Gesetz zurückgeführt, das die Flexionsordnungen als solche umgestaltet (vgl. Art. 79 § 2.1.2.). Die Philologie konnte der Logik daher nicht mehr dienen. Im Gegenzug spaltete sich die Logik aber von der Grammatik ab, emanzipierte sich von sprachlichen Analysen und wurde zu einer Algebra des Denkens (vgl. Art. 76 § 2.). Analog verloren auch die Systeme der Ökonomie (etwa das Verhältnis von Lohn, Profit und Rente) ihren repräsentativen Charakter und schienen einer eigengesetzlichen Macht (dem technischen Fortschritt, insbesondere aber der Akkumulation des Kapitals) unterworfen. Die Arbeit war seit David Ricardo (1772⫺1823) nirgends mehr repräsentierbarer Standard des Werts (als solcher diente jetzt, wenn auch nur approximativ, das psychologisch völlig indifferente Geld; vgl. die Auseinandersetzung mit Malthus und Jean Baptiste Say, 1767⫺1832), sondern sie erschien als „Quelle“ bzw. „Ursache“ des Werts: „Es kann daher nicht richtig sein, mit Adam Smith zu sagen [. . .] ,daß, weil die Arbeit allein sich niemals im Werte ändert, sie allein der letzte und wirkliche Maßstab ist, mit welchem der Wert aller Güter zu allen Zeiten und an allen Orten geschätzt und verglichen werden kann‘; ⫺ aber es ist richtig zu sagen, wie Adam Smith früher gesagt hatte, ,daß das Verhältnis zwischen den Arbeitsmengen, die zur Erlangung verschiedener Gegenstände erforderlich sind, der einzige Umstand zu sein scheint, welcher irgend eine Regel, um sie untereinander auszutauschen, abgeben kann‘ “ (Ricardo 1923: 17). Auch der Wert wurde nicht mehr unter semiotischer Perspektive betrachtet: „Der Wert hat aufgehört, ein Zeichen zu sein, er ist Produkt geworden. Wenn die Dinge so viel wert sind wie die Arbeit, die man darauf verwendet, oder
1737 wenn wenigstens ihr Wert in einem bestimmten Verhältnis zu dieser Arbeit steht, dann nicht, weil die Arbeit ein fester, konstanter, zu jeder Zeit und in allen Ländern austauschbarer Wert wäre, sondern weil jeder beliebige Wert seinen Ursprung in der Arbeit hat“ (Foucault 1974: 312). Kennzeichnend für diese Wendung war die später von den Marginalisten Walras und Pareto (siehe unten § 4.) in Anspruch genommene Theorie der Differentialrente. Danach repräsentierte die Rente nicht mehr die Fruchtbarkeit der Böden, sie ergab sich vielmehr aus dem wachsenden Widerstand der Böden gegen ihre Bestellung, und insbesondere aus dem Unterschied dieser Widerstände. Das langfristige Gleichgewicht, auf das die Kräfte von Bevölkerungsvermehrung, zunehmender Unfruchtbarkeit der Böden, Akkumulation des Kapitals und technischem Fortschritt hinlaufen, war als utopischer Endpunkt der Geschichte jetzt nicht mehr identisch mit einer ursprünglich vorhandenen, wenngleich verschütteten Ordnung der „Natur“, wie Malthus (1798: 126) noch zu zeigen versucht hatte. Das Bedürfnis verlor damit nicht nur seine Wichtigkeit für die Bildung des Werts (womit es aus der Ökonomie in die entstehende Psychologie gedrängt wurde), es verlor auch seinen Halt in einem natürlichen System des Nutzens. Die Psychologie hatte es mit autonomen Kräften zu tun, nicht mehr mit der natürlichen Kraft des Fortschritts zu einer Erkenntnis des Wahren. Die moderne Psychologie (Alexander Bain, 1818⫺1903; John Stuart Mill, 1806⫺1873; Herbert Spencer, 1820⫺1903) spaltete sich also von der Politischen Ökonomie ab, wie die Logik (George Boole, 1815⫺1864; Augustus De Morgan, 1806⫺1871; William Stanley Jevons, 1835⫺1882) von der Analyse der Sprachen. Ende des 19. Jahrhunderts kam es sowohl in der Politischen Ökonomie als auch in der Philologie zu einem Paradigmenwechsel, der aber keinen epistemologischen Bruch darstellte, sondern einen Austausch des Wissenschaftsgegenstands: die Psychologie nahm sich des Wertes an, die Logik des Wortes ⫺ damit verkehrte die Politische Ökonomie sich in Ökonomik, die Philologie in Semiologie. Die „marginalistische Revolution“ war demzufolge erst möglich auf Basis der Umwälzung, die sich zwischen Smith, Malthus und Ricardo bemerkbar machte. Die scheinbare Rückkehr des Bedürfnisses in die Ökonomik ist nicht mehr die Verpflichtung der Preissysteme auf die Repräsentation
1738 von Mangel-Überschuß-Verhältnissen. Ebenso, wie die Arbeitswertlehre die Veränderung des Werts aus dem wachsenden Widerstand der Objekte erklärte, fundierte ihn der Marginalismus im zunehmenden Leidensdruck des Individuums: der Fortschritt der Maschinerie senkt den Wert durch ein Aufweichen des Widerstands, die zunehmende Ausstattung mit einem Gut senkt ihn durch Nachlassen des psychischen Drucks. Die Probleme der Grenznutzentheorie bezüglich der Meßbarkeit des Nutzens reflektieren die Unmöglichkeit, dem Wert noch einen repräsentativen Charakter zu geben. Er repräsentiert nicht die letzte Einheit des Nutzens, sondern wird durch die Kraft des Bedürfnisses erzeugt. Der Umstand, daß bereits die Arbeitswertlehre Ricardos per definitionem keine unmittelbare Beziehung zwischen verschiedenartigen Arbeiten und Werten angeben konnte, bezeugt hier eine Verwandtschaft, die durch die gleichgewichtstheoretischen Ansätze der Ricardianer in Rentenund Profittheorie untermauert wird. Bedürfnis und Reichtum konnten im 18. Jahrhundert noch zueinander in Beziehung gesetzt werden, indem man ihr Verhältnis analog zu den Wortstämmen analysierte. Nutzen und Arbeit erschienen im 19. Jahrhundert dagegen nicht mehr als repräsentierbare Realitäten, sondern als blinde Kräfte, die sich durch ökonomische Einheiten (Lohn, Profit, Rente usw.) nicht etwa darstellen lassen, sondern für die Veränderung derselben verantwortlich sind, analog zur Variation der Flexionssysteme. Im 18. Jahrhundert der vergleichenden Lexikologie verwandt, funktionierte die Ökonomik im 19. Jahrhundert eher in Analogie zur historischen Phonologie. Ein Wort zum Preis als „Signal“: Der Preis kann auch im marginalistischen System nicht über die „Schätzung“ eines Gutes „informieren“, ebensowenig wie in der Arbeitswertlehre über die aufgewendete Mühe. Er „informiert“ als relativer Preis nur über das ausgleichende Verhältnis zwischen erzeugtem und nachlassendem psychischen Druck bzw. zwischen aufgewandter und ersparter Arbeit. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden theoretischen Systemen scheint darin zu liegen, daß der Widerstand der Objekte, d. h. die benötigte Arbeit, apriori allgemeiner und damit von gesellschaftlicher Natur sein soll, also insbesondere unabhängig von der bereits produzierten Quantität. Im Marginalismus erscheint dagegen das „Preisverhältnis“ (als Grenznutzenquotient) immer schon quanti-
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tätsabhängig und damit individuell. Daher bedarf es eines Aggregationsmechanismus ⫺ und hier kommt der „Informationscharakter“ des Preises zum Tragen, den der Wert bei Ricardo nicht haben mußte, weil er (als langfristiger natürlicher Preis) immer schon „im Gleichgewicht“, ja selbst eine Art „Gravitationszentrum“ war. Diese Allgemeinheit der Produktionsbedingungen ist aber auch bei Ricardo abgeschwächt: erstens in der Grundrententheorie, zweitens in der Theorie der komparativen Kostenvorteile im Außenhandel.
3.
Historizität: Sprache und Volk
Die deutsche Volkswirtschaftslehre vermied den Gang in den unauffälligsten Bereich der Umwälzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und hielt sich an die Jurisprudenz und die nachhegelsche Historik. Gleichwohl verschob sich nach dem Absprung von der (durch die britische Klassik repräsentierten) allgemeinen Nationalökonomie durch Adam Müller (vgl. 1922: I 35) das Interesse auf eine ursprüngliche Kraft, die die Ökonomie des je spezifischen Volkes leitet und lenkt (vgl. Art. 77 § 2.). Die Kraft des Volkes schien nicht mehr auf der Ebene verstreuter in sich jedoch kohärenter Elemente lesbar, sondern zeigte sich im Vergleich verschiedener Völker. Die Kraft des Volkes „spricht sich aus“: „Die Volkswirthschaft ist, wie der Staat, das Recht, die Sprache, eine wesentliche Seite der Volksentwicklung; daher sich der Charakter, die Kulturstufe des Volkes in ihr ausspricht [Hervorhebung von L. B.], und beide zusammen enstehen, wachsen, blühen und wieder abnehmen“ (so Wilhelm Roscher, 1817⫺1894; vgl. Roscher 1843: 3 f). Doch die Aussprache des Volkes blieb vorderhand ein Versprechen. Sichtbar war nur das Gewimmel der Individuen, die Masse: „Das Volk aber ist nicht bloß die Masse der heute lebenden Individuen. [. . .] Die Schwierigkeit, aus der großen Masse der Erscheinungen das Wesentliche, Gesetzmäßige herauszufinden, fordert uns dringend auf, alle Völker, deren wir irgend habhaft werden können, in wirthschaftlicher Hinsicht mit einander zu vergleichen“ (Roscher 1843: IV). Die Kraft des Volkes war, bevor deren Verzweigungen in eine gesetzmäßige Entwicklung eingebunden wurden, Sprache: „Wer in einer Sprache spricht und nicht aufhört, in einem Gemurmel zu sprechen, das man nicht hört, aber von dem den-
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noch der ganze Glanz kommt, ist das Volk“ (Foucault 1974: 354). Die Suche nach einer geschichtlichen Methode sollte sich an die Jurisprudenz anlehnen. Der Weg zu einer geschichtlichen Methode, der im Ausgang nur noch in seinen Abweichungen auffindbar ist (Karl Bücher, 1847⫺1930, und Werner Sombart, 1863⫺1941), führte diesbezüglich über Umwege zu Jacob Grimm (der ja bei von Savigny Jurisprudenz studiert hatte, bis ihm eines Tages die Bodmersche Ausgabe der deutschen Minnesänger in die Hände fiel, was ihn zum Philologen bestimmte; vgl. Grimm 1864: I 115). Das scheinbar Gemeinsame von Recht und Sprache ⫺ der Einbruch des Historischen, Diachronischen ⫺ wird in einem Briefwechsel von 1814 offenbar. Friedrich Karl von Savigny (1779⫺1861) sandte seine Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ an Jacob Grimm nach Wien. Die Gemeinsamkeit von Recht und Sprache schien schnell gesichert: „Wenn ein und dasselbe auf ganz verschiedenem Wege und mit anderen Mitteln erkannt wird, so kann einem nichts erwünschter sein und es steht schon darum als etwas rechtes sicher“ (Grimm an Savigny; vgl. Grimm und Grimm 1953: 171). Grimm und die nachfolgenden, anlehnungsbedürftigen Rechtswissenschaftler und Nationalökonomen, denen diese Schrift als Gründungsurkunde des Historismus galt, lasen Savigny vor dem Hintergrund des Naturrechts. Jedes Gesetz, das nicht aus der Mitte des Ganzen stamme, sei dem Verdacht des Willkürlichen ausgesetzt. Die Sprache sei jedoch gleich dem Recht dem prinzipiellen Erfinden der Menschen entzogen: „Das Recht ist wie die Sprache und Sitte volksmäßig, dem Ursprung und der organisch lebendigen Fortbewegung nach“ (Grimm und Grimm 1953: 172).
4.
Tausch, Geld und Semiotik
Gemessen an Adam Smiths kommunikationstheoretischer Einbettung der Ökonomik muß deren weitere Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert als ein Prozeß der Entleerung und Neutralisierung der semiotischen Dimension von Wirtschaft erscheinen. Die einzige bedeutende Ausnahme ist Karl Marx (1818⫺1883), der aber von den Fachökonomen an den Rand gedrängt wurde (vgl. Art. 74 § 19.). Man denke nur an Marx’ Analyse der Warenform im ersten Kapitel von Das Kapital, wo er den Kode der Waren de-
1739 chiffriert: „Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigener Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehn uns nur als Tauschwerte aufeinander“ (MEW Bd. 23: 97; vgl. dazu Ponzio 1988: 33). Sein Ansatz wurde erst durch die Entstehung einschlägiger Spezialdisziplinen wie der Informations- und Medienökonomik im Laufe des 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen und expliziert. Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als die sogenannte marginalistische Revolution der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, aus der das heute noch dominierende Paradigma der Neoklassik hervorging, an und für sich gerade jene ökonomische Operation ins Zentrum des theoretischen Interesses rückte, die bei Adam Smith den kommunikativen Charakter der Wirtschaft begründete, nämlich den Tausch, weswegen sie auch als „katallaktische Revolution“ bezeichnet wird (vgl. Hicks 1976). Während etwa die sogenannte „moralische Ökonomie“ des „ganzen Hauses“ (vgl. Bauer und Matis 1989) noch eine fast ausschließliche Gebrauchswert-Orientierung aufwies, und die Klassiker (einschließlich Marx) zumindest die Unterscheidung von Gebrauchsund Tauschwert berücksichtigten, beschäftigte sich die Neoklassik ausschließlich mit Tauschwerten. Produktion und Konsumtion wurden ausgegliedert, die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert verschwand; in der Sprache der Semiotik ausgedrückt, betrieb die neoklassische Ökonomik eine Analyse von Nachrichten in der Form, daß sie von den Produkten (dem nicht Zeichenhaften) ausging: Produkte werden zu Waren kodiert, um dann in der Konsumtion wiederum in Produkte dekodiert zu werden (vgl. Rossi-Landi 1972: 62). Diese in der neoklassischen Tauschtheorie angelegte Affinität von Ökonomik und Semiotik fand ihre Bestätigung in der ausdrücklichen Berufung Saussures auf die Lausanner Schule des Marginalismus (Le´on Walras, 1834⫺1910; Vilfredo Pareto, 1848⫺1923) als methodologisches Vorbild (vgl. Art. 101 § 2.3.), was den Gedanken einer theoretischen Abhängigkeit der Saussureschen Zeichentheorie von Methodologie und Ideologie der Lausanner Schule nahelegt: „Ausgehend von der Werttheorie der Schule von Lausanne reduziert Saussure den sprachlichen Wert auf
1740 einen Tauschwert. Der Wert eines Zeichens ergibt sich aus der Position in einem Zeichensystem, gerade wie der Wert einer Ware in der ,reinen Ökonomie‘ (Walras) sich aus ihrer Beziehung zu anderen Waren auf dem Markt ergibt. Saussure sagt nichts über die Sprachproduktion; genauso schweigt die Lausanner Schule über die ökonomische Produktion“ (Ponzio 1988: 34). Die Motivation für die katallaktische Revolution des Marginalismus relativiert freilich jene semiotische Analogie, die ihre Tauschorientierung nahelegt: Der Tausch wird nicht aufgrund seiner quasi universalpragmatischen Allgemeinheit im Wirtschaftssystem als Paradigma gewählt, sondern vielmehr weil er in Gestalt des Tauschwerts (als „ratio of exchange“) jene quantitative Wertbestimmung ermöglicht, die eine Einlösung des mathematischen Wissenschaftsideals verheißt, das Pioniere der Neoklassik wie William Stanley Jevons und Le´on Walras dem alten „moralwissenschaftlichen“ Paradigma der Politischen Ökonomie entgegenstellen, das in seiner Kodifizierung durch Jean-Baptiste Say (1803) die Anwendung der Mathematik mit Hinweis auf die menschliche Freiheit noch ausdrücklich ausgeschlossen hatte: „It is clear that Economics, if it is to be a science at all, must be a mathematical science [. . .]. To me it seems that our science must be mathematical, simply because it deals with quantitities. Wherever the things treated are capable of being greater or less, there the laws and relations must be mathematical in nature“ (Jevons 1965: 3; vgl. Me´nard 1980). Ähnlich sagte Walras (1954: 71) von seinem Konzept einer reinen politischen Ökonomie: „This pure theory of economics is a science which resembles the physico-mathematical sciences in every respect“. Dementsprechend reduziert Jevons (1965: 77) den Wert expressis verbis auf den Tauschwert: „There are, doubtless, qualitites inherent in such a substance as gold or iron which influence its value; but the word value, so far as it can be correctly used, merely expresses the circumstance of its exchanging in a certain ratio for some other substance.“ Auch bei Walras begründet die Konzeption des Tauschwerts den Anspruch der Ökonomik auf das Wissenschaftsideal der Physik: „Thus any value in exchange, once established, partakes of the character of a natural phenomenon, natural in its origins, natural in its manifestations and natural in essence. If wheat and silver have any value at all, it is because they are scarce, that is, useful
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and limited in quantity ⫺ both of these conditions being natural. If wheat and silver have a definite value with respect to each other, it is because they are, each of them, more or less scarce, that is, more or less useful and more or less limited in quantity ⫺ again the same two natural conditions mentioned above“ (Walras 1954: 69). Als quasi natürliches Phänomen wird der Tausch auch nach dem Modell physikalischer Prozesse beschrieben, wie etwa die Analogie zwischen der Tauschtheorie und der Mechanik des Hebelgleichgewichts anzeigen, die sowohl Jevons (1965: 102 ff) als auch Walras (1987 ff: VII 330 ff) herstellen (vgl. Mirowski 1989). Auch wenn sich diese physikalischen Analogien auf formale Strukturähnlichkeiten beschränken, die aus der Anwendung des Differentialkalküls resultieren, so wird aufgrund des marginalistischen Grundprinzips der Proportionalität der Grenznutzen zu den relativen Preisen doch der Tausch durch die Erreichung eines Gleichgewichtszustandes determiniert, der sich ⫺ als Lösung eines Optimierungsproblems ⫺ allein aus der Maximierung der Nutzenfunktionen der Akteure unter der Beschränkung ihrer Güterausstattung ergibt. Zwar reduziert diese Heuristik des Optimierungskalküls (vgl. Schoemaker 1991) den Tausch noch nicht auf einen physikalischen Prozeß, doch läuft sie auf die Neutralisierung seiner semiotischen Dimension (insbesondere in pragmatischer Hinsicht) hinaus, wie sich schon an der Neutralisierung der Informationsproblematik durch die Standard-Annahme vollständiger Information zeigt: als irrtumfähiges stellt zeicheninterpretierendes Verhalten auf elementare Weise die mathematische Determiniertheit des Tauschprozesses in Frage. Insofern das marginalistische Tauschgleichgewicht zu jener Walrasianischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie verallgemeinerbar ist, die den Bezugsrahmen neoklassischer Theorie bildet, wird damit tendenziell jede Form von sozialer Handlungskoordination, die über das individuelle strategische Handeln hinausgeht, überflüssig, was auf der reflexionstheoretischen Ebene durch die Reduktion ökonomischer Rationalitätskonzeptionen auf nutzenmaximierendes Verhalten besiegelt wird. Die Problematik dieser Neutralisierung der semiotischen Dimension des Tausches und des ökonomischen Handelns im allgemeinen zeigt sich freilich schon an der Schwierigkeit, auf neoklassischer Theoriegrundlage eine befriedigende Erklärung
86. Zeichenkonzeptionen in der Ökonomie
für jenes universelle Tauschmedium zu geben, das die Systemtheorie von Talcott Parsons (1902⫺1979) und Niklas Luhmann (*1927) schon lange als zentrales Kommunikationsmedium der Wirtschaft identifiziert hat, nämlich das Geld (vgl. Luhmann 1988: 23 ff). Gütertausch wird in neoklassischen Theorien nicht zufälligerweise zuerst in einer nicht-monetären Welt modelliert. Die Verwendung eines beliebiges Gutes als Recheneinheit („nume´raire“) präfiguriert dann die Einführung des Geldes in dieser Funktion als neutrales allgemeines Tauschmedium: der Grundsatz der „Neutralität des Geldes“ in der neoklassischen Theorie, beschrieben in jedem einführenden wirtschaftstheoretischen Lehrbuch, wonach Geld „lediglich einen ,Schleier‘ über den realen Vorgängen bildet und [. . .] keinerlei langfristigen Einfluß auf das reale Geschehen in der Volkswirtschaft nimmt“ (Felderer und Homburg 1989: 79), entwickelte sich zu einer der zentralen Annahmen jener Theorietradition. Hat sich die neoklassische Theoriegrundlage schon als wenig tragfähige Basis für eine Erklärung der Funktion des Geldes erwiesen, so schien diese Neutralisierung des Geldes eine Antwort auf die Frage nach dem Wie und Warum der Durchsetzung eines bestimmten Gutes in dieser Geldfunktion gänzlich zu verunmöglichen (vgl. Jones 1976: 757 ff). Als einzige der marginalistischen Schulen hat sich die Österreichische Schule der Frage nach der Genese des monetären Gütertauschs gestellt. Die Geldtheorie ihres Begründers, Carl Menger (1840⫺1921), stellt sich dementsprechend als eine Evolutionstheorie dar. Der individualistischen Methodologie der Österreichischen Schule entsprechend, bildet das „Interesse der einzelnen Wirtschaftssubjekte an ihrer Güterversorgung“ den Ausgangspunkt (vgl. Menger 1923: 248). Seine Untersuchung über den Ursprung des Geldes beginnt Menger bei der Naturalwirtschaft, die zu einem Tauschhandel übergegangen ist. Geld ist für ihn mehr als ein „nume´raire“ oder eine andere neutrale ökonomische Institution (vgl. O’Driscoll 1986: 611). Geld ist eine Ware, die im Laufe der Zeit die Rolle eines Zirkulationsmittels übernommen hat. „Was Geld von allen übrigen Objekten des Güterverkehrs unterscheidet, sind dessen Tauschvermittlungsfunktion und die Konsekutivfunktion derselben“ (Menger 1923: 262). Geld als „allgemein gebräuchliches Tauschmedium“ entstand nicht durch Zwang infolge gesetzlicher Vorschriften, sondern
1741 durch „Gewohnheit“, durch „gleichartige subjektive Antriebe“, durch „Intelligenzfortschritte“ der Individuen und eine sich ausbreitende „Nachahmung“ (Menger 1923: 255 ff). Diese Beschreibung der Institutionalisierung des Geldes als Informationsprozeß verlangt förmlich nach einer semiotischen Transformation der Geldtheorie, wie sie neuerdings Alan W. Dyer (1989: 505) skizziert hat: „In some basic semiotic theory, orthodox economists conceive of the act of paying with money as a dyadic event in which two independent objects are related only by a physical exchange of energy. If money is understood as a semiotic phenomenon, however, it is necessary to view the use of money as a medium of exchange as a triadic event in which the symbol of money allows two people to share in a common understanding of the world.“ Die scheinbar neutrale Tauschmittelfunktion des Geldes wird damit zu einer zentralen sozialen Funktion, da erst durch sie in einer monetären Gesellschaft „Sinn“ erzeugt wird. Der Kode, der dem Prozeß der monetären Symbolisation zugrunde liegt, kann in der Form „Geld⫺Ware⫺Geld“ abgebildet werden. „The fundamental rule of this code is that the symbol of money is to be linked with the meaning ,commodity’. Thus, when some part of life is re-presented as money, the understanding is that this part of life can be taken as commodity; which is to say that life is made available for purchase and sale. The role of money as a medium of exchange is to represent life in such a way that it articulates a semiotic code based on the merchant’s practice of buying and selling in order to make profit“ (Dyer 1989: 507). In einer Geldwirtschaft wird jener „Sinn“ erzeugt, der ⫺ vermittels der Substitution von „Personalbeziehungen“ durch „Geldbeziehungen“ ⫺ diese Welt in ihrer von Marx beschriebenen Struktur erst intelligibel macht: „Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittels derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesell-
1742
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
schaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ (Marx 1872, MEW 23: 87). Erst wenn die Welt für die ökonomischen Akteure einheitlich definiert und damit akzeptiert wird, kann der Tausch von Gütern, inklusive der Arbeitskraft, erfolgen (vgl. Art. 144).
5.
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87. Zeichenkonzeptionen in der Religion vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Religion und Sprache 1.1. Religionswissenschaft 1.2. Hermeneutik, Sprachlogik, Linguistik 2. Religionsbegriff und Semiotik 2.1. Geistes- und naturwissenschaftlicher Religionsbegriff 2.2. Kategorial-semiotische Theologie 3. Literatur (in Auswahl)
1.
Religion und Sprache
1.1 Religionswissenschaft Seit dem europäischen 19. Jahrhundert haben sich zugleich die historische und institutionelle Religionskritik, die historisch vergleichende Religionswissenschaft und damit verbunden die zunehmend ins Bewußtsein tretende Erkenntnis der Geschichtlichkeit (bis dahin unbefragt geltender Traditionen) durchgesetzt (vgl. Art. 86 § 3.). Damit stehen
auch die jeweils eigene Religion und deren Ansprüche auf bestimmten Glauben und bestimmtes Verhalten (aufgrund eines festgefügten Menschen-, Welt- und Gottesverständnisses) in radikal neuer Weise zur Diskussion. Was die historisch-hermeneutischen Wissenschaften als Geschichtlichkeit reflektieren, erscheint zugleich in der Volksfrömmigkeit als wachsende Distanz, Mobilität und Relativierung der eigenen religiösen Prägungen, religionssoziologisch als Funktionalisierung der Religion im Sinne ihrer gesellschaftlichen Integrations- und Kompensationsfähigkeit oder einfach als Säkularisierung, d. h. als Übergangsphänomene von religiösen auf weltlich-gesellschaftliche Begründungsmuster (Wössner 1972; Ratschow 1975). Diese Entwicklungszüge verbreiten sich zusammen mit der Industriegesellschaft, wobei allerdings der zunehmende Verlust an eu-
1744 ropäisch-kirchlichen Selbstverständlichkeiten durchaus nicht mit einem Bedeutungsverlust des Christentums bzw. von ihm beeinflußter religiöser Weltinterpretationen einfach identisch ist (Greschat 1980: 234). Außerdem ist zu beobachten, daß die überwiegend intellektuell vertretene religionskritische Protesthaltung des 19. Jahrhunderts, die wesentlich den kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Machtstrukturen galt, sich im 20. Jahrhundert popularisiert hat, während es umgekehrt gegenwärtig gerade die wissenschaftliche Reflexion ist, die auf einer erneuerten, selbstkritischen Befragung auch ihrer eigenen Geschichtlichkeit, Kontingenz und Relativität bestehen muß, einer Kritik der Kritik sozusagen. Das geschieht parallel zu den gesellschaftspolitischen Phänomenen von unkontrolliertem bzw. nur massenmedial gesteuertem, synkretistischen Religionsersatz, ohne daß dies soziologisch prognostiziert worden wäre. Alltagsmythen, allerhand Aberglaube und exotische Rituale bevölkern eine Szene, die von den entmythologisierenden Wissenschaften und dem partiellen kirchlichen Funktionsverlust leergeräumt war. Nachdem auch in der Religion die ihr heiligen Zeichenwelten durchschaut zu sein schienen, kehrt sie zurück aufgrund der Erfahrung und der Erkenntnis, daß dies Durchschauen selbst ein unaufhebbares Problem darstellt. Es bleibt nur dann nicht in einem banalen Sinn „offen“, wenn es als religiöse Interpretation von Zeichen gefaßt und bearbeitet werden kann (Elsas 1975; Volp 1975; Handbuch der Fundamentaltheologie I: 1): „Man darf annehmen, daß ein Bereich des Lebens und der menschlichen Bedürfnisse existiert, der eigentümlich mit den religiösen Symbolen korreliert oder auch intentional auf eine bestimmte Wirklichkeit bezogen ist, die ausschließlich durch diese Gattung von Symbolen zugänglich wird“ (Kolakowski 1971: 103). Wenn der Naturwissenschaftler und Philosoph Ch. S. Peirce im Jahr 1893 programmatisch von „The Marriage of Religion and Science“ spricht (deutsch in Peirce 1994: 208 ff), so reagiert er damit bereits konstruktiv auf eine Situation, in der die Wissenschaften (moderne Geschichts-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Evolutionslehre, erkenntniskritische Philosophie) die Religion zu einem anachronistischen Dokument oder Laborphänomen herabzuwürdigen im Begriffe waren. „A religion of science“ (eine „wissenschaftliche Religionsauffassung”, vgl. Peirce 1994: 211) wäre dagegen weder eine
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Religion von wissenschaftlichen Gnaden noch gar eine Wissenschaft von Gnaden einer bestimmten Religion, sondern die Inspiration ursprünglicher, menschlicher Religiosität gerade durch den Geist der Wissenschaften. Zu überwindende Begrenztheiten im bisherigen Verständnis von Religion und Wissenschaft sieht Peirce damit sowohl auf seiten der institutionellen Religionsgemeinschaften (Kirchen) und ihrer theologischen Dogmatik wie auf seiten eines reduktionistischen Wissenschaftsverständnisses. Beides betrifft nun bis heute die spezifischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Gegenstand und Methode der Religionswissenschaft: inwieweit in Sachen Religion die Mitbetroffenheit der sie erforschenden Subjekte nicht als (unverzichtbare oder störende) Bedingung hinzugehört. Das gilt gerade auch dann, wenn die Religionswissenschaft aufgrund ihrer breiten Entdeckungen historischen und ethnographischen Materials, wie das seit dem 19. Jahrhundert der Fall ist, kritische Epochen- und Kulturtheorien entwirft, worin Magie, Mythos und Ritualität einer vergangenen Entwicklungsstufe angehören, die durch das Zeitalter der (tendenziell atheistischen) Wissenschaftseinsichten abgelöst wurde (vgl. Gladigow und Kohl in Cancik 1988: 26⫺38 und 239⫺262 sowie Stolz 1988: Kap. 1 u. 2). Dabei kann der gegenwärtige Forschungsstand, der von einem möglichst unvoreingenommenen empirischen Interesse geprägt ist, die kulturell und anthropologisch offenbar unersetzbare Funktion, die in religiösen Symbolsystemen wahrgenommen wird, überzeugend belegen (vgl. Art. 158). Denn die Geschichtlichkeit als menschliche Selbsterfahrung (Geburt und Tod, Entwicklungsphasen, soziale Handlungs- und Konfliktfelder, Weltdeutungen) wird jedenfalls in nichtneuzeitlichen Kulturen aufbewahrt und verarbeitet in Magie, Mythos und religiösem Ritual; und deren Ausdrucks-, Verständigungsund Handlungsmedium ist die religiöse Symbolik (Waardenburg 1979: 445 ff; Stolz 1988: 101 ff). Nun ist hier nicht der historische Schatz der „Symbolik der Religionen“ das Thema (vgl. Herrmann 1958 ff), sondern die Reflexion auf die Funktion und Bedeutungsvielfalt der religiösen Symbolsysteme. Diese sind elementar in den (1) Ritualen; qualitativ und epochal unterschiedlich zuzuordnen in (2) Magie, (3) Mythos und theologisch-philosophisch reflektierter (4) Religion.
87. Zeichenkonzeptionen in der Religion
(1) Im Ritual, seinem Ablauf und seiner Wiederholbarkeit (vgl. Art. 88 § 3.1.), verdichten und summieren sich Selbst- und Weltbezüge dadurch, daß sie symbolisch repräsentiert, also sichtbar gemacht und ausgeübt werden können: „Symbols are both the resultants and the instigators of this process, and encapsulate its properties“ (Turner 1969: 53; vgl. Zuesse 1987: 405, 410 f). Unter „Symbol“ sind hiermit Zeichenhandlungen, Zeichen in sinnlichen Wahrnehmungen und die Produktion von Ausdruckszeichen zu verstehen (Cancik und Mohr in Cancik 1988: 122), sofern diese als erlebte Bedeutungsträger Stellvertreterfunktionen übernehmen können (vgl. Art. 72 § 1.1.). So ist vor allem der menschliche Körper bereits ein „natürliches Symbol“ (Douglas, zit. in Cancik 1988: 137), dessen Gestik, Bekleidung, Darstellung in den Religionen in vielfältiger ritueller Weise als Bedeutungsträger fungieren kann. In der christlichen Tradition ist der Gottesdienstablauf, verbunden mit den sakramentalen Handlungen (insbesondere von Taufe und Abendmahl), der Ort, wo Alltagserfahrungen im Ritual auf neue Weise kommuniziert werden (vgl. Jetter 1978: Kap. 4). Der Speiseritus (Abendmahl, Eucharistie, Herrenmahl) enthält uralte rituelle Praktiken (vgl. Art. 47 § 4.) in christlich aufgeklärter Modifikation: die lebendige und leibhafte Vergegenwärtigung der Lebenszusage Gottes ⫺ erinnert über die Passionsgeschichte (vgl. Abb. 87.1 auf Tafel VII). (2) In der Magie tritt das fragliche Verhältnis von Zeichen und im Symbol Bezeichnetem in der Weise auf, daß die Wirkmächtigkeit im Übergehen vom einen auf das andere unterstellt und praktiziert wird. In „vorund außergeschichtlichen Kulturen“ dominiert das „Lebensgefühl“ der Einheit mit den Dingen (Ratschow 1947: 148 ff), und diese Einheit präsentiert sich selbst, den faktischen Lebenskonflikten zum Trotz, in der magischen Praktik. „Hin- und hergerissen“ zwischen der Welt der Bedeutungen und der Welt der Objekte sichert die „symbolische Funktion“ im Falle der Magie (Le´vi-Strauss 1949: 277) die einheitliche Lebendigkeit des Selbst- und Weltverstehens. Vom Geist der modernen Wissenschaften aus betrachtet geschieht das durch zwei fehlerhafte Vorstellungsassoziationen: durch das Gesetz der Ähnlichkeit („that like produces like“) in der „imitativen“ („homoeopathic“) Magie und durch das Gesetz der Berührung („that things which have once been in contact with each other continue to act on each other“) in der
1745 „kontagiösen“ Magie (Frazer 1911: 52; vgl. Bertholet 1926⫺27). Im Mythos der Tukano vom Nordwest-Amazonas (vgl. Reichel-Dolmatoff 1978: 3 ff, 7 ff; Ratschow 1982: 223 f) wird beispielsweise die magische Wirkung eines Rauschtranks erzählt, der aus der Pflanze „vaje´“ (Banisteriopsis) gewonnen wird. Deren Stiftung wird zurückgeführt auf die erste Frau („Yaje´“) und ihr von den Männern des Urstammes während einer ersten Rauschfeier zerstückeltes Kind (Sonnenvaters Sohn). Die sakrale Feier stellt seither in der Opfererinnerung und im Getränk die Gottesverbindung her. ⫺ Unbestreitbar ist dabei der Realitätsgehalt im Selbstverständnis magischer Kulturen und Zeitalter, aber im (wissenschaftlichen) Bewußtsein symbolischer Funktionen unterliegt deren Wirkmächtigkeit und Lebendigkeit offenbar einer kritischen Kontrolle, und das christlich verstandene Sakrament ist der magischen Auffassung nur noch in der formalen Struktur analog. (3) Im Mythos sind Einheit und Differenz von Zeichen und Bezeichnetem in sublimer Weise gesteigert dadurch, daß die mythische Symbolik, idealistisch ausgedrückt, am Unendlichen und Endlichen zugleich Anteil hat: „Denn bedeutsam und erwecklich wird das Symbol eben durch jene Incongruenz des Wesens mit der Form und durch die Überfülle des Inhalts in Vergleichung mit seinem Ausdrucke. Desto anregender daher, je mehr es zu denken giebt“ (Creuzer 1810 ⫽ 1967: 36). Die neuere (strukturalistische) Mythosforschung hat solche Beschreibungen formalisieren können: Der Mythos besteht nicht allein in der erzählten, weltgründenden Götteroder Heldengeschichte; sondern in der mythischen Erzählung realisiert sich eine textlogisch nachzukonstruierende Struktur, die den eigentlichen Mythos ausmacht (vgl. im Anschluß an Le´vi-Strauss und Barthes: Dalferth 1993: 168 ff). In dieser Struktur sind folglich die symbolischen Funktionen aufzusuchen und zu bestimmen. Die „Unendlichkeit“ der Bedeutungswelt präzisiert sich jeweils unter bestimmten Regeln an der „Endlichkeit“ einer Zeichenkonstellation. Beide Seiten aber brauchen einander, und die Realisierung dieser Gegenseitigkeit geschieht im jeweils beanspruchten Symbolsystem. Dies beruht kulturund geschichtsabhängig auf überlieferten „Zeichenkomplexen“, die auf natürliche, artifizielle oder fiktive Zeichenbildungen zurückgreifen können (vgl. Cancik 1988: 143) und zugleich in der Tiefengrammatik der Sprache und den im gesellschaftlichen Konsens gel-
1746 tenden Kommunikationsbildungen fundiert sein müssen (vgl. Stolz 1988: 111⫺135). Der genannte Tukano-Mythos zeigt eine solche Struktur in der gegenseitigen Abhängigkeit von Gotteskind, Opfer und Feier, worin sich Gotteserfahrung, Leiden an der Welt und Heilung miteinander vermittelt erzählen und darstellen lassen ⫺ so daß darauf begründet gelebt werden kann. (4) Unter Religion ist schließlich ein Doppeltes zu verstehen: Einmal ist damit die Fülle der kulturgeschichtlich und empirischdeskriptiv zu belegenden religiösen (auf Göttliches oder Heiliges bezogenen) Darstellungsund Lebensformen bezeichnet, zentral erfaßbar unter den Ordnungsgesichtspunkten Ritual, Magie, Mythos; zum anderen aber bezeichnet Religion gerade auch die Gegenwartsformen zusammen mit dem neuzeitlich geprägten Selbstverständnis von Religiosität, das sich in europäischer Perspektive durchaus auch in verbindlich überlieferten Ritualen, nicht mehr aber in gleicher Weise wie in der Religionsgeschichte und also nicht mehr unmittelbar in Magie und Mythos auszudrücken vermag (vgl. Art. 158). Denn dieser nicht historisch oder empirisch deskriptive, sondern aktuell das eigene Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis betreffende Sinn von Religion ist zugleich der, der sich im Bewußtsein von Wissenschaft selbstkritisch entwickelt hat. Die Absolutheit des je eigenen Symbolsystems ist zurückgetreten zugunsten von Säkularisierung, Individualisierung und gesellschaftlicher Pluralität von religiösen Vermittlungsformen (vgl. Stolz 1988: 135 ff). Diese epochale Veränderung ist einerseits (bezüglich Magie/Religion) als Differenz zwischen der noch vorausgesetzten Einheitswirkung von Geist und Natur in der Magie und dem bewußt erfahrenen Zwiespalt allen Lebens in der genau diesen Riß symbolisch bearbeitenden Religion festzustellen (Ratschow 1947); andererseits (bezüglich Mythos/Religion) von Paul Tillich ⫺ gestützt auf eine „symbolischrealistische Theorie“, die den Mythos nicht mehr ohne das Bewußtsein der Transzendenz des Göttlichen gelten lassen kann ⫺ sehr treffend mit dem Stichwort vom „gebrochenen Mythos“ bezeichnet worden (Tillich 1987: 229 ff). Die entscheidende Frage an die Religion ist dann die nach der Lebendigkeit und Vermittlungskraft ihrer Symbole: In welcher Weise und mit welchem Realitätsgehalt repräsentiert das Zeichen das Bezeichnete? Das Problem zeigt sich beispielhaft in der anhaltenden Diskussion um die Wirksamkeit und
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das Verständnis der „Elemente“ oder „Zeichen“ in den Sakramenten (Taufe und Abendmahl), nämlich als religionswissenschaftliche Seite eines theologischen Problems (vgl. Art. 62 § 3. und Art. 72 § 2.1): Werden Zeichen und Bezeichnetes auseinandergedacht, so verliert das Sakrament seinen Sinn (vgl. Ratschow 1972: 128⫺140). Andererseits ist im Christentum bereits seit der Hochscholastik eine „sensualistische“ Deutung von Brot und Wein als Leib und Blut ⫺ jedenfalls in den theologischen Interpretationen (Schillebeeckx 1968: 9 ff) ⫺ ausgeschlossen worden. Dies aber festzuhalten, ohne in einem unqualifizierten Sinn „nur“ noch von Zeichen zu sprechen, braucht einen qualitativen, sakramental brauchbaren Symbolbegriff, der aus der „schöpferischen Periode“ der Religionen deren „Lebenssymbole“ weiterzugeben vermag (Langer 1965: 164; vgl. Neville 1996). Die gleiche Frage hat N. Luhmanns Religionssoziologie so zu lösen versucht, daß er der gesellschaftlichen Funktion der Religion einen eigentümlichen Zeichenbegriff zuordnet: die „Chiffrierung“, deren Leistung gerade darin bestehen soll, „keine Realität“ zu haben. Damit soll gesichert werden, daß der sonst unendliche Progreß selektiver Zeichenbildungen (im Bezug auf immer weitgehend vergegenständlichte Realität) einmal als Vorgang selbst sozusagen abgebremst und damit als Welt- und Sinnproblem überhaupt darstellbar und bearbeitbar wird (Luhmann 1977: 33; vgl. Deuser 1988; Pöttner 1994). Diese phänomennahe und aufschlußreiche Beschreibung von Religion wird aber mit einem Zeichenbegriff erkauft, der das entbehren soll, was die Definition eines Zeichens ausmacht: Zeichen, Objekt und Interpretanten zusammenzubinden (vgl. Art. 5 § 1.1.). Anders als in Luhmanns Theorie der „Chiffren“ müßte erst genauer bestimmt werden, worin der spezifische Objektbezug der Zeichenprozesse gelebter Religion ⫺ oder anders: worin die Realität des religiösen Symbols besteht. 1.2 Hermeneutik, Sprachlogik, Linguistik Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Religion erhält im 19. Jahrhundert einen dreifach geprägten Ausdruck: In Hegels Religionsphilosophie, in Schleiermachers Glaubenslehre und in Kierkegaards Existenzdialektik. Hegel (vgl. Art. 74 § 5.) versucht die Mitte des Christentums, die Menschwerdung Got-
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tes, als spekulative Idee aus der Form der religiösen „Vorstellung“ in die des Begriffs zu überführen (dazu s. u. § 2.1.) ⫺ eben weil „auch jene höchste, göttliche Autorität“, geschichtlich gesehen, selbst wieder autoritativer Begründungen bedarf: „Denn wir sind nicht dabei gewesen und haben Gott nicht gesehen, als er offenbarte. Es sind immer nur Andere, die es uns erzählen und versichern“ (Hegel 1821 ⫽ 1983: 135 Anm.). Während Hegel also das bloß Zufällige, Historische zu vermeiden sucht dadurch, daß er die Geschichte als Selbstwerdung des Geistes zu denken lehrt, bindet Schleiermacher (vgl. Art. 74 § 8.) Geist und Religion zurück an das Gemeinsame aller „Glaubensweisen“ überhaupt und definiert „Frömmigkeit“ als „eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls“ (Schleiermacher 1821⫺22 ⫽ 1984: §§ 7⫺9). Damit ist konsequent jede religiöse Vergegenständlichung kontrolliert und auf ihren eigentlichen Wirkungsraum bezogen: nämlich das Sich-zu-sich-Verhalten des frommen Selbstbewußtseins als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott, d. h. auf die höchste Form von Selbstbewußtsein überhaupt. Dieses Gottes- und Selbstverhältnis kann sich folglich nicht mehr ungebrochen in supranaturalen, heilsgeschichtlichen Vergegenständlichungen thematisieren, sondern allein in gefühlsbegleiteten Sinnerfahrungen, und deren Medium sind Sprache und individuelles Verstehen. Die Wirklichkeit des religiösen Gefühls ist nur sprachvermittelt erreichbar, und die seit Schleiermacher die (evangelische) Theologie prägende Hermeneutik (vgl. Ebeling 1959 und Gadamer 1974) ist eben diese Sprach- und Verstehenslehre, die den komplexen Aneignungsvorgang des Gottesglaubens als primären Wirklichkeitszugang gegenüber allen traditionellen (dogmatischen) Inhaltsvorgaben anerkennt; und genau diese Hermeneutik ist semiotisch nicht nur zu interpretieren, sondern selbst als Beitrag zum Verständnis zeichenvermittelten Handelns und Sich-zu-sich-Verhaltens aufzufassen (Volp 1982a; vgl. auch Art. 72). Einen weiteren konsequenten Schritt bedeutet Kierkegaards Existenzdialektik und Ausarbeitung einer Theorie der „Indirekten Kommunikation“ (vgl. Deuser 1985: Kap. III.3), insofern die Frage der Aneignung des Glaubens in doppelter Weise zeichenvermittelt vorgetragen wird: Einmal betrifft der Glaube die Lebensform des Einzelnen derart existentiell verbindlich, daß demgemäß das Wie der Vermittlung an die erste Stelle des
1747 philosophisch-theologischen Interesses rückt. Es verbietet sich nämlich für den existentiellen Ernst des Glaubens jede natürliche intersubjektive (oder gar objektive) Verständigung sowie jede rational-systematische Überzeugungsbildung und jede emotional direkte Bewunderung, Empfehlung oder Weitergabe ⫺ zugunsten von ästhetisch-religiös bewußt gestalteten (also indirekten) Mitteilungsformen; und diese müssen folglich in der Funktion stehen, von sich selbst weg auf die existentielle Lebensrealisierung des betroffenen Lesers oder Hörers hinzuweisen und diese einzufordern. Zum anderen ist der theologische Gegenstand: die Menschwerdung Gottes, d. h. für Kierkegaard das Bild des leidenden Christus, selbst ein „Zeichen des Widerspruchs“ in sich selbst, nämlich als Erlöser der Menschen ihnen zuliebe den Weg der abstoßenden Erniedrigung gehen zu müssen. Die christliche (indirekte) Kommunikation achtet auf diesen Zeichencharakter: „denn das Zeichen ist nur für den, der weiß, daß es ein Zeichen ist, und, streng genommen, nur für den, der weiß, was es bedeutet; […] aber daß es etwas bedeuten soll, dies heißt ja etwas anderes sein, als es unmittelbar ist“ (Kierkegaard 1850: 118). Die „Bedeutung“ aber macht gerade die Kraft des Bildes, des Zeichens, der Geschichte und des Symbols aus, und darin erweist sich die Wirklichkeitserschließung, um die es dem religiösen Glauben geht. E. Munchs „Golgatha“ (vgl. Abb. 87.2 auf Tafel VII) inszeniert diese Symbolik des Christusbildes zugleich als kosmische Weltorientierung und als Zeichen des Widerspruchs für die Menschen, die zu ihm hinstreben oder von ihm herkommen (vgl. Schmied 1980: 273; Zink 1984: 27 f). Was in dieser Weise im 19. Jahrhundert vorbereitet war, thematisieren Religionsauffassung und Theologie des 20. Jahrhunderts einerseits in phänomenologischen, hermeneutischen oder existentiellen Denkstilen (vgl. zu Bultmanns „existentialer Interpretation“ und deren hermeneutisch-theologischen Weiterführungen durch Ebeling und Fuchs die Übersicht bei v. Bormann 1986: 127⫺130), andererseits orientiert an den Denktraditionen der Logik (Bochen´ski 1968), der Naturwissenschaften (dazu s. u. § 2.1.) und der daran anschließenden analytischen Sprachphilosophie als „Sprachlogik des Glaubens“ (vgl. zur Übersicht Dalferth 1974 und 1988). Dabei ist auf seiten der hermeneutischen Theologie auffallend das Bemühen, mit dem Sprachzugang die lebendige Wirklichkeit der theologischen Themen zu sichern. Spra-
1748 che und Leben liegen ineinander (Ebeling 1971: 191 f, 214), Theologie kann folglich als „Sprachlehre des Glaubens“ definiert werden (1971: 227). Diese Wendung läßt sich auch so ausdrücken, daß das neuzeitliche Problem der „Denkbarkeit Gottes“ an die Bedingung seiner „Sagbarkeit“ gebunden wird (Jüngel 1977), d. h. an das „Erzählen“ des „Ereignisses“ der Menschwerdung Gottes. Um dabei aber nicht das „Sprachereignis“ und die darin sich ausdrückende Sache verwechselbar zu machen, muß einerseits der Vorrang des Ereignisses selbst angenommen (1971: 393), andererseits eine Analogie gedacht werden, in der das Sprachereignis sich in Entsprechung zu seiner göttlichen Vorgabe realisieren kann (1971: 395). Das offene Problem dabei bleibt, wie der Übergang, wie die Wahrheit des Gottesereignisses bestimmt werden soll, wenn ihr Medium allein als „metaphorische Wahrheit“ beschrieben wird, als „die ‘Übertragung’ des Seienden in die Sprache“ (1971: 396 Anm. 17). Deutlich ist hiermit auf sprachontologischem, hermeneutischem Wege dieselbe Frage erreicht, wie sie bereits über die religionswissenschaftlichen Symbolsysteme formuliert wurde: Wie ist eine genauere Begründung des Objektbezuges, der Realität des religiösen Sprachereignisses, d. h. seiner behaupteten Wirklichkeitserschließung, zu gewinnen? Unter Sprachlogik des Glaubens wäre ganz allgemein der Versuch zu verstehen, mit den Mitteln der analytischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts (vgl. Art. 109) genau diese Frage zu präzisieren und zu beantworten. Dabei ist von den Ausgangspunkten in den Denksystemen des Logischen Atomismus und des Logischen Empirismus her (Dalferth 1981: 29⫺144) eine Entwicklung festzustellen, in der die logisch nachkonstruierte und dadurch fest limitierte Wirklichkeitsabbildung durch Sprachzeichen zurücktritt zugunsten einer Öffnung gegenüber den unzensierbaren Lebensformen der Alltagssprache. Vor allem durch die Anregungen aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (vgl. Art. 109 § 1.2.) wird eine neue Diskussion auch der religiösen Sprachformen ermöglicht, wobei nicht mehr deren Abbildungsleistungen nachgemessen, sondern einfach ihr unersetzbares Vorhandensein in praktischen Lebensumständen entdeckt und respektiert wird (vgl. Holmer 1972; Peukert 1976: 145 ff; Track 1977: 77 ff; Schrödter 1979: 153 ff; Browarzik 1988). In diesem Sinne ist bereits religionswissenschaftlich zu
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zeigen, daß das „Religiöse“ einer Sprache letztlich nicht an ihrem Vokabular, sondern allein an ihrem Gebrauch abzulesen ist, und dieser verweist über die benutzten Sprachzeichen und die jeweilige empirische Realität hinaus auf einen eigenartig „transzendenten“ und unbedingten Bedeutungsraum, von dem her das übrige menschliche Handeln erst seinen Zusammenhang erhält (Waardenburg 1979). Eine solche kultur- und religionswissenschaftliche Beobachtung aber zu begründen bedarf der philosophischen Analyse der Sprache, und diese ist nur unter Einschluß der Struktur- und Regelgenauigkeit der modernen Linguistik im Detail durchzuführen (vgl. Dalferth 1981: 308; Kaempfert 1983 a). Verallgemeinert und formalisiert heißt das zunächst, daß für eine umfassende (linguistische) Analyse der „Sprachlogik des Glaubens“ der ausnahmslose Zeichencharakter aller Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen vorauszusetzen ist (Herms 1982), aufgrund dessen auch das fragliche Zusammenspiel von Religion und Sprache seine begründete Beschreibung finden kann. Diese läßt sich ⫺ die sprachanalytische und linguistische Diskussion der vergangenen Jahrzehnte aufnehmend ⫺ in drei Schritten aufbauen: (1) Gesprochene Sprache („Rede“) nutzt und prägt Sprachzeichen als „symbolische Handlungen“, die „doppelt“ bezeichnen (Dalferth 1981: 179), sofern sie mit dem, was sie ausdrücken, zugleich ein Mitgemeintes in Szene setzen: Der Segen am Ende des Gottesdienstes ist nicht allein gesprochener Appell, sondern zugleich die naherwartete Realisierung gelingenden Lebens. (2) Kreativ und kompetent wird Sprache im weiteren Zusammenhang ihrer Situationsbestimmungen eingesetzt, und diese finden ihren Ausdruck in „symbolischer Interaktion in Texten“ (1981: 309), deren lebendiger (religiöser) Kontext folglich konstitutiv für das Textverständnis sein muß: Das im Gottesdienst gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis ist „Text“ unter den Situationsperspektiven der Liturgie, der Gemeinschaft und der mit beidem sich wieder neu realisierenden Lebensbasis des Glaubens. (3) Schließlich hat die kritische Reflexion auf die Wirklichkeit und Wahrheit des Religiösen dessen „kontextgebundene Verstehenseinheit im Rahmen einer interindividuellen Kommunikationssituation“ selbst zum Thema zu machen, ohne dabei die „(semiotischen) Interaktionszusammenhänge“ (1981: 497) zu vergessen oder zu destruieren. Das
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Bekenntnis „Ich glaube an Gott, den Vater …“ ist folglich eine Aussage, die plausiblerweise nicht restriktiv nach einem empirisch feststellbaren Gegenstandsbezug abgesucht werden kann, sondern deren Redesinn und symbolische Bedeutung sich erst im Zusammenspiel von traditionsbewußten Glaubensüberlieferungen, aktuellen Lebensentwürfen und damit verknüpften und eigens begründeten Annahmen über die Welt- und Lebensperspektiven überhaupt erschließen läßt. Die sprachanalytisch und linguistisch arbeitenden Theologien sind mit unterschiedlicher Konsequenz und nach Fachdisziplinen aufgefächert diesen drei Sachgesichtspunkten zuzuordnen. Zu 1: Religiöse Symbolhandlungen sind ihrer Sprachlogik nach (religionsphilosophisch gesehen) ausführlich analysiert worden daraufhin, wie diese doppelte Bedeutung sich vollziehen kann: Religiöse Sätze geben in ihrer entscheidenden „anderen“ Bedeutung nicht Gegenstandsbeschreibungen, sondern repräsentieren in einer überraschenden und dadurch verbindlichen Erkenntnis eine „Erschließungssituation“ („disclosure“), die sich im Anschluß an die linguistisch-philosophische Diskussion der „performativen“ oder „illokutionären“ Sprechhandlungen genauer spezifizieren läßt (vgl. Ramsey 1983; de Pater 1971); religiöse Sätze vertreten eine Welteinstellung, einen „blik“ (Hare in Dalferth 1974: 87 ff; vgl. Martin 1974: 134 ff), der folglich vor der rationalen Satzanalyse steht und vor allem dadurch ausgezeichnet werden kann, daß der Sprecher in seinen Äußerungen in verbindlicher Weise sich selbst riskiert („selfinvolvement“), sich selbst einbezieht (vgl. im Anschluß an Evans Ladrie`re 1972: 99 ff). Die symbolischen Handlungen der Religion sind deshalb immer zugleich auch Vollzüge, die sich (praktisch-theologisch, liturgisch, kunstund literaturwissenschaftlich gesehen) bildhaft darstellen und in dieser Weise auch praktizieren lassen. So wie Gottfried Keller die kindlich-religiöse Situation des Gott-SymbolErfahrens beschreiben kann (der goldene Wetterhahn auf dem Kirchendach oder der über alles beeindruckende Tiger im Bilderbuch; vgl. Stock 1977: 185 f), so setzen Auferstehungsbilder stellvertretend oder in künstlerisch-liturgischer Aktion „Grenzüberschreitung“ in Szene (Stock 1979: 26 sowie Stock 1978; zur christlichen Ikonographie vgl. Schiller 1966⫺80; Urech 1976; Sinding-Larsen 1984). Religiöse Symbole sind als Lern-, Spiel- und Therapieformen wiederentdeckt
1749 worden (vgl. Hollenweger 1982; Martin 1987 Biehl 1987), und Gottesdienst ist folglich als Semiose zu analysieren und bewußt zu gestalten (Schiwy 1976; vgl. Volp 1982 b). Dazu gehören die Versuche, zumal die Feier der Sakramente als Gemeinschaftserfahrungen in der Alltäglichkeit neu zu erleben, so wie die Kirchen und Befreiungstheologien Lateinamerikas (vgl. Boff 1976), Koreas (vgl. Byung-Mu 1988: 192) oder Afrikas (vgl. Rücker 1985: 176 f) die kirchlichen Symbolhandlungen ganz unmittelbar als Lebensstiftung und geschichtliche Verheißung umzusetzen vermögen. Eine neue (im europäischen Kontext bewußte) Naivität verdankt sich solcher Rückbesinnung auf die (materialen) Lebenssymbole des Glaubens (vgl. Schmied 1980: 47) ⫺ wie sie im Christusbild die Kunst längst wiederentdeckt und nahegelegt hat: das Kreuz und der Gekreuzigte in der Landschaft, in die Wirklichkeit eingelassen (vgl. Abb. 87.3 auf Tafel VIII). Zu 2: Der Textbezug religiöser Interaktionen ist das natürliche Untersuchungsfeld der (strukturalistischen und linguistischen) Textwissenschaften, theologisch speziell der biblischen Exegese. Die synchron ermittelten Erzählstrukturen ergeben Interpretationshinweise, die nicht nur der Einzelexegese dienen, sondern beispielsweise Gattungsfragen und literarische Formen schärfer herauszustellen vermögen: die Fiktionalität des Gleichnisses im Erzählkontext (Delorme 1979: 169; vgl. zur Gleichnisauslegung auch Harnisch 1985), die „mythische“ Struktur der biblischen Schöpfungsgeschichte (Leach in Chabrol und Marin 1973) oder die sich kunstvoll interpretierenden Erzählelemente in der neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung (Marin 1976: 140 ff, 187). Für die Leistungsfähigkeit solcher Strukturanalysen ist aber nicht allein die literarisch entdeckende Produktivität ausschlaggebend, sondern vor allem der Streit um die in den Texten zum Ausdruck kommende „Wirklichkeit“ bzw. die in diesem Sinne sachgemäße Gegenwartsinterpretation. Die linguistisch, strukturalistisch und semiotisch orientierte Bibelexegese korrigiert nämlich in erster Linie den ausschließlichen Interpretationsanspruch der historischen Forschung, und sie tut dies mit dem Nachweis, daß es der Überlieferung gerade nicht angemessen sein kann, „Wirklichkeit“ als besonderen Raum hinter den Texten anzuzielen, während diese doch (Handlungs-)Sinn und Wirklichkeit zugleich erst entstehen lassen (Güttgemanns 1974 und 1978; Pöttner 1995). Damit aber wird die entscheidende Frage
1750 akut, wie denn überhaupt über Wirklichkeit entschieden werden soll. Denn das vermag weder die historisch isoliert geleitete Rückfrage noch die Textwelt analytisch für sich genommen, sondern erst eine Religionstheorie, die sich allerdings auf den sprach- und strukturwissenschaftlichen Textbegriff beziehen können muß. Sofern sich gerade an R. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm zeigen läßt, wie die Mythen der Texte in der wissenschaftlichen Interpretation wiederkehren (Nethöfel 1983), folgt daraus, daß der strukturalistisch ermittelte Mythos nicht zu entmythologisieren ist, sondern selbst als Vorgabe von Wirklichkeit zu gelten hat, die immer schon interpretiert auftritt. Das erst bringt die Frage nach der Leistungsfähigkeit religiöser Symbole wieder an die richtige Stelle: Läßt sich an der Sprachlichkeit selbst die Realität des Religiösen nachweisen? Gibt es einen spezifisch religiösen Wortschatz (vgl. Kemper 1974), der diese „andere“ Wirklichkeit vertritt? Zu 3: Religiöse Symbolbildungen im Kommunikationszusammenhang des Lebens überhaupt sind nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern auch kritisch zu prüfen. Zumindest die christliche Theologie hat sich nie auf das Faktum einfach vorhandener religiöser Glaubens- und Handlungsformen beschränken lassen, sondern diese immer mit dem Anspruch verbunden, „that certain things are true“ (MacKay 1972: 1). Eine in diesem Sinne „linguistische Theologie“ ist nicht auf behavioristische Kontrolleffekte angewiesen, sondern gründet in einer inneren „konditionalen Bereitschaft“ zur Kommunikation, die nach außen wirkt und interaktiv verflochten auftritt, aber davon nicht im Rückschlußverfahren abhängig gesetzt werden kann. Die kognitive Leistung religiöser/ theologischer Sprache ließe sich dann so begründen, daß sie aus den niemals vollständig analogisierbaren Begegnungserfahrungen resultiert, wie sie im menschlichen Umgang alltäglich sind, indem diese durch die Rede von Gott prinzipialisiert werden: „If succeeding generations find that statements in these terms have coherent organizing functions and bear the weight of daily experience, they can be considered to convey knowledge, and to have relevance to reality, at least as securely as statements about ‘other minds’“ (MacKay 1972: 10). Damit ist gesagt, daß sich ein rationaler Sinn von religiöser Sprache zeigen läßt, nicht aber, daß religiöse Sprache selbst „rational“ limitiert werden müßte. Ihre Kennzeichen
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bleiben durchaus das Ausdrucksmittel der Paradoxie (Ramsey 1972) oder die Beobachtung ihrer „Regelwidrigkeiten“ (Crombie in Dalferth 1974: 103 ff). Gerade dieser Befund ermöglicht es aber, zwischen der symbolischen Handlungs- und Sprachpraxis (in deren vielfältig variierenden religiösen Ausdrucksformen) und deren denkend nachvollziehbarer Begründungsfähigkeit unterscheiden zu können; und damit ist die von Dalferth überzeugend vertretene These erreicht, daß Religiosität allein aufgrund von Analysen sprachlicher Eigenschaften nicht nachgewiesen werden kann (Dalferth 1981: Teil II). Religion äußert sich in Sprache und Symbol, aber beides ist so noch keine Begründung ihrer Wahrheit (vgl. dazu im nichteuropäischen Zusammenhang Art. 32 § 5.).
2.
Religionsbegriff und Semiotik
2.1. Geistes- und naturwissenschaftlicher Religionsbegriff Die Frage nach der Bedeutung und Begründung religiöser Symbolbildungen wird unabweisbar dadurch, daß im (religions-kritischen) Bewußtsein von Geschichtlichkeit und empirischer Verifikation die Differenz von Wirklichkeit und Illusion, Unwahrheit und Wahrheit des Glaubens bzw. der Religion zur Entscheidung steht. In der geisteswissenschaftlichen Weiterentwicklung dieses Problemfeldes war es vor allem die Ablösung der spekulativen Religionsphilosophie Hegels, wodurch die Auffassung von Religion auf die „Wirklichkeit“ als Begründungs- und Bedeutungsinstanz zurückgestoßen wurde. Denn Gott als trinitarisch-dialektischen und darin zugleich „absoluten Begriff“ zu denken, der dann selbstverständlich „Sein als Bestimmtheit“ enthalten muß (Hegel 1821 ⫽ 1983: 325), ⫺ dieses Konzept mußte aus zwei unterschiedlichen Rezeptionsweisen als hybrid und damit unsachgemäß verworfen werden. Einmal war dieser absolute Begriff schon dadurch relativiert, daß er im Falle der Religion als dem „Vorstellen“ des Göttlichen noch vom exklusiv philosophischen Begreifen überboten wurde bzw. sich nur aus dessen Perspektive in diesem Rang überhaupt vorfinden konnte (vgl. Wohlfart 1981: 176): Gott schien ⫺ trotz allem ⫺ entbehrlich zu werden. Zum anderen war eine solche, spekulativ verortete Religion dem Einspruch ausgesetzt, als Teil der bloß gedachten Geistes-Geschichte über den Köpfen der sie aktiv und
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passiv erlebenden Menschen entworfen zu sein, d. h. die Instanz des spekulativen Religionsbegriffs wurde nicht nur von ihrer Begründung, sondern vor allem von ihrer behaupteten Wirklichkeitserschließung her einem Test unterzogen. In diesem doppelt kritischen Zugriff ⫺ aus dem inneren Sinn der Religionsaufhebung im absoluten Geist und dem äußeren Sinn ihrer Gestaltungsfähigkeit ⫺ löste sich die Plausibilität dieser Einheit von Sein und Denken auf. Die erfahrene Widerständigkeit bestimmten „Seins“ kann nicht immer schon integrationsfähig und als mit dem Absoluten vermittelt vorausgesetzt werden; eher ist dies Programm ein immer ausstehend zu erfüllendes, dann aber sind die Einzelmomente freigegeben und nicht mehr nur Momente eines schon längst entschlüsselt Gedachten. Gleichzeitig unternimmt die naturwissenschaftliche Weiterentwicklung des Problemfeldes durchaus eigenständige Versuche, Religiosität in ihrem geschichtlich-empirischen Vorkommen zumindest einer funktionalen Deskription zugänglich zu machen. Beispiele dafür sind die ganz unterschiedlich arbeitenden Psychologen W. Wundt, W. James und S. Freud, die aber in ihrem naturwissenschaftlichen Denkansatz einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: Religion ist Sache der Gefühlswelt, und insofern gibt die Religionsgeschichte die „Tatsachen“, die „leitenden Gesichtspunkte“ aber die Psychologie (Wundt 1915: 512); Hypothesen über die Realität zeigen sich an den individuellen religiösen Schicksalen, aber diese Hypothesen sind am „Gesamtkontext der Erfahrung“ zu überprüfen (James 1982: 396); Religion erscheint psychoanalytisch als eine menschheits- wie individualgeschichtlich erklärbare Illusion (Freud; vgl. Nase und Scharfenberg 1977), doch deren Symbolbildungen haben sich trotz dieser religionskritisch durchgeführten These unentbehrlich gemacht für das, was die ausgezeichnete Aufgabe der Therapie sein muß: Stärkung des Ich im Konfliktzusammenhang seiner Gefühlswelt. Es ist nun für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bezeichnend, daß der Versuch, Religionskritik konstruktiv zu verarbeiten, sich darin präzisieren läßt, daß eine symbolisch vermittelte Wirklichkeitsauffassung zweierlei zu leisten vermag: Sie macht kritisch auf unzulässige Übertragungen von innerem Erleben auf äußere Realität aufmerksam, und sie stellt gleichzeitig ein Kommunikationsmedium zur Verfügung, worin Realität
1751 nicht auf Meßbares reduziert, sondern als erlebte, erhoffte, immer auch erst entstehende und in diesem Sinne erfahrbare bestimmt werden kann. Realität überhaupt ist demnach zeichenvermittelt, und das gilt geistesund naturwissenschaftlich gleichermaßen. Sub contrario machen darauf bereits Nietzsches (vgl. Art. 74 § 20.) destruktive Bestreitungen „wirklicher“ Moral oder „wirklicher“ Kausalität aufmerksam: „Diese geistige Welt, diese Zeichen-Welt ist lauter ‘Schein und Trug’“ (Nietzsche 1980: Bd. 11, 464); in der Natur gibt es keine Gesetze, diese sind vom Menschen immer nur „subintelligirt“; „Subjekt, Objekt […] gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet“ (Bd. 13, 258). Ganz ähnlich ⫺ nur in konstruktiver Absicht ⫺ bestimmt W. Wundt (vgl. Art. 77 § 2.2.) Religion über ihren Kultus, und dessen Geschehen ist analysierbar in der religionshistorischen Abfolge von unmittelbarer Vorstellung, realer und schließlich idealer Symbolik (Wundt 1915: 521). Diese Sicht wird so konsequent durchgeführt, daß schließlich das „einzigartige Phänomen“ zu konstatieren ist, „daß das Gefühl selbst zum Symbol wird, d. h. daß es das einzige übrigbleibende Zeichen ist, das die hinter ihm stehende religiöse Idee im Bewußtsein vertritt“ (1915: 524). Letzteres garantiert im wissenschaftlichen Zeitgeist die mögliche Ersetzung der Wahrheitsfixierungen des geglaubten Bekenntnisses durch die im Kultus „repräsentierte Idee“ (1915: 549), und damit erklärt sich auch die seitherige Umgewichtung des doppelten Sinnes von „Symbol“ als fachtheologischem Terminus. Denn „Symbol“ meint einmal die kirchenrechtliche Festlegung der „maßgebenden dogmatischen Gedanken“ im Sinne der traditionellen Bekenntnistexte, meint zum anderen aber auch den Gebrauch religiöser Sinnbilder im Kultus (Kattenbusch 1907: 197). Während der dogmatisch-kirchenrechtliche Sinn von „Symbol“ inzwischen nur noch als reiner Fachbegriff auftritt, dominiert heute der zeichentheoretisch zu begründende und damit die Religionskritik integrierende Symbolbegriff. P. Tillich hat in exemplarischer Weise seine Theologie und Religionsphilosophie durch eine ontologische Symbollehre darstellen können, woran die Schwierigkeiten der traditionell geisteswissenschaftlich orientierten Begründungen noch einmal zu studieren sind. In einem programmatischen Text aus dem Jahr 1928 hat Tillich (1987: 213⫺228) in Re-
1752 aktion auf die naturwissenschaftlich inspirierte Religionskritik (Marxismus und Psychoanalyse), aber auch in Reaktion auf den „vergegenständlichenden Mißbrauch“ religiöser Inhalte allgemein (1987: 225) eine Apologie des „religiösen Symbols“ vorgelegt, worin das Wesen von Religion überhaupt: die Gottes-Beziehung, sich konzentrieren läßt. Semiotisch rekonstruiert sind die von Tillich angeführten vier Determinanten jedes Symbols auf drei zusammenzuziehen: Seine „Uneigentlichkeit“ ist als Objektbezug, seine „Anschaulichkeit“ als das Zeichen selbst, seine „Selbstmächtigkeit“ und seine „Anerkanntheit“ sind als Interpretantenbezug zu identifizieren (1987: 213 f). Entscheidend ist dabei für Tillich die mit der „Selbstmächtigkeit“ gesetzte „Notwendigkeit“ des Symbols (worin es sich vom Index, nach Tillichs Terminologie: vom bloßen „Zeichen“, unterscheidet), denn sie betrifft die Nicht-Beliebigkeit immer schon vorgegebener Symbolverständnisse in Kommunikationsverbindlichkeiten ganz allgemein; und sie ist damit die Voraussetzung auch für den Rang des religiösen Symbols, dessen Objektbezug („Uneigentlichkeit“) nicht-gegenständlicher Art ist, in Tillichs Terminologie: das „Unbedingt-“ bzw. „Unanschaubar-Transzendente“ (214). In einer zusätzlich entworfenen Typen-Hierarchie von „Gegenstandssymbolen“ (221 ff) kann Tillich darüber hinaus am religionsgeschichtlichen Material verständlich machen, wie religiöse Symbole einerseits (auf niedrigster Stufe) in bloßem Hinweis- oder Zeichencharakter fungieren können, andererseits (auf höchster Stufe) die Gottes-Symbolik so radikal vertreten, daß sich die Vergegenständlichung Gottes selbst aufhebt, d. h. „dieser […] immanente Atheismus ist die Tiefe des religiösen Aktes“ (222). Erst durch diese äußerste Konsequenz kann Tillich den religionskritischen Erklärungen (naturwissenschaftlich geprägter Provenienz) entgegenhalten, sie könnten zwar die (kritisch zu bewertende) Herkunft bestimmter Symbole beleuchten, nicht aber den Grund von religiöser Symbolik überhaupt angeben (216); denn deren Transzendenz-Bezug impliziert ja das „Seinund Sinn-Gebende“ selbst (221)! Diese vorgeschaltete Ontologie ist nun zugleich aufs innigste verbunden mit einer strikt existentiellen Auffassung des Religiösen, die Tillich aus der Existenzphilosophie und -theologie in der Wirkungsgeschichte Kierkegaards ins Spiel bringt (s. o. § 1.2.), wodurch die ontologische Symbollehre in ihrer theologischen Intention
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
erst wirklich verständlich gemacht werden kann ⫺ daß nämlich die These gelten soll: „Die Tatsache, daß die Seele sich da, wo sie sich unmittelbar ausdrückt, religiös ausdrükken muß, kann gar nicht anders erklärt werden als dadurch, daß sie religiös ist, daß die Beziehung zum Unbewußt-Transzendenten für sie konstitutiv ist“ (217). Das religiöse Symbol, das nicht als bloßer Index verstanden werden darf, ermöglicht also die Verbindung von unmittelbarem Ausdruck mit dem Transzendenten; anders gesagt: Bedingung für den Zugang zur existentiellen Unmittelbarkeit wie zum Unbedingten (Unbewußten, Unanschaubaren) ist die Vermittlungsleistung des Symbols (vgl. Tillich in Schmied 1980: 59 ff; zu Jawlenskys Bild in Abb. 87.4 auf Tafel IX vgl. Schmied 1980: 246 f). Nun ist an dieser ontologischen Konstruktion die Unstimmigkeit aufgefallen, daß Tillich in wissenschaftlicher Propositionalität die Ungegenständlichkeit der Transzendenz und ihrer unmittelbaren Äußerung vertritt, so daß es zu einem Widerspruch durch Selbstanwendung dieser Symboltheorie auf ihre wissenschaftliche (nicht-symbolische) Darstellung kommen muß (vgl. Thatcher 1978: 34 ff; Wenz 1979: 161 ff). Damit ist die Problematik jeder Existenzontologie demonstriert, wie das „Unbedingte“ überhaupt unter endlichen Bedingungen (der Sprache und ihres Behauptungscharakters) zum Ausdruck gebracht werden kann. Daß dem Symbol dabei eine Schlüsselfunktion zukommt, liegt daran, daß seine Repräsentationsleistung durchaus und gerade nicht-gegenständlich aufzufassen ist. Das wird besonders deutlich in Denkoperationen, Zukunftsentwürfen, Selbstbezüglichkeiten, Sprachhandlungsmodellen und in allen kommunikativen Verbindlichkeiten historischer und gesellschaftlicher Implikationen. Dies alles klärt aber noch nicht die eigentliche Frage nach der wirklichen und wahren Bedeutungsbeziehung des Symbols „Gott“; und erst deren Aufweis wäre die gesuchte Begründung religiöser (und damit auch theologischer) Symbolik. ⫺ Es soll im folgenden die These vertreten werden, daß eine auf Ch. S. Peirce (vgl. Art. 100) zurückgehende Semiotik und Kategorienlehre diese Fragen nach Bedeutung und Begründung besser zu beantworten in der Lage ist, als das in den sonst vorgeschlagenen religionsphilosophischen und theologischen Modellen der Fall sein kann. Der bisher erreichte Diskussionsstand sei dazu in dreifacher Weise als Frage nach der Realität religiöser Erfahrung, reli-
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giöser Sprache und theologischen Denkens formuliert, nämlich (1) als (ontologische) Frage nach der Realitätserschließung, (2) als (epistemologische) Frage nach dem Realitätsbezug und (3) als (metaphysische) Frage nach der Realität als solcher. 2.2. Kategorial-semiotische Theologie Es ist deutlich, daß in Tillichs Symbollehre zwar die ontologisch-existentielle Realitätserschließung und die metaphysische Realität des Seins-selbst behauptet, ein Realitätsbezug aber kaum aufgewiesen werden kann, während in den psychologischen Religionsbeschreibungen naturwissenschaftlicher Orientierung offensichtlich ein operationaler Gegenstandsbezug erreicht wird, dessen Zusammenhang mit ursprünglicher Realitätserschließung schwierig, mit Realität als solcher gar nicht mehr herzustellen ist. Diese Einwände besagen, daß „Realität“ in gleichgewichtiger Weise dreifach (ontologisch, epistemologisch, metaphysisch) bestimmt werden muß, und dieser Begriff von Realität entspricht der Definition, die Peirce (beispielsweise 1889 im Century Dictionary) gegeben hat: „Real unterscheidet sich von wirklich, weil das, was nur keimhaft oder in posse ist, insofern es das Vermögen hat, sich zu einer bestimmten Wirklichkeit zu entfalten, real ist und unabhängig davon, was wir darüber denken mögen. Reale Objekte sind entweder außerhalb des Geistes, wenn sie nämlich überhaupt von unserem Denken unabhängig sind, oder sie sind innerhalb des Geistes, wenn sie vom Denken, wiewohl nicht vom Denken über sie, abhängen“ (1988: 468). Als Realitätserschließung ist der erfahrungsmäßige Grundvorgang zu bezeichnen, worin Menschen sich immer schon vorfinden in der Weise, daß ein qualitatives Sosein keineswegs konstruiert, sondern nur nachgezeichnet werden kann. Diese Vorgabe zum Zuge zu bringen, entwirft Peirce die dreistellige Zeichen- und Kategorienlehre, deren Vorteil gerade darin besteht, ihre formalen Strukturen aus Erfahrungen abzuheben, für deren Ausdruckgabe diese Strukturen dann wiederum kritisch zur Verfügung stehen. Daß darin kein Zirkelschluß versteckt ist, kann dadurch sichergestellt werden, daß immer wieder und zeitlich unterschieden jeweils gemachte Erfahrungen analysiert werden auf das hin, was in ihnen schon strukturell impliziert war, um von daher die angemessene Beschreibung verallgemeinern zu können. Insofern ist bei Peirce von Beginn an
1753 die Grundstruktur der semiotischen Beschreibung (Ikon, Index, Symbol) kategorial abgeleitet (vgl. die „New List of Categories“ in Peirce 1984: 49⫺59; dt. 1986: 147⫺159), d. h. sie ist phänomenologisch aufgefaßt und angewiesen darauf, wie sich die Welt uns zeigt (1986: 431 ff; vgl. Fitzgerald 1966: chap. II). Religionsphilosophisch angewendet bedeutet dies, daß nicht die kategoriale Zergliederung das Ziel sein kann, sondern umgekehrt die vorausgegebene Einheit als Ermöglichung der folgenden Gliederung von Erfahrung miterfahren und also auch theoretisch mitberücksichtigt werden muß. Dies hat Peirce als „Neglected Argument for the Reality of God“ zu formulieren versucht („Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes“, vgl. Peirce 1994: 329 ff) und den Grundgedanken als „das bescheidene Argument“ (Peirce 1994: 355) herausgestellt: daß intentionslos, meditativ und spielerisch, in einer sich selbst zurücknehmenden Gestimmtheit und Spontaneität von Versonnenheit (englisch „musement“; Peirce 1994: 333) sich Gott als Schöpfer des kategorial zu differenzierenden Universums unserer Erfahrungen mit unhintergehbarer Gewißheit erschließen wird. Peirce insistiert damit (ähnlich wie W. James und A. N. Whitehead, vgl. Deuser 1993: Kap. 6) auf einer religiösen Grunderfahrung, die in dreifacher Weise interpretiert werden muß: Einmal ist sie offenbar die Voraussetzung und damit die Einheit der Kategorien der Erfahrung, zum anderen ist sie selbst innerhalb der Kategorien als „Erstheit“, d. h. als qualitative Erschlossenheit, zu lokalisieren, und zum dritten ist das Gottesargument dann als ganzes in allen drei Kategorien, d. h. nach Qualität, Gegenständlichkeit und geistigem Lebenszusammenhang, auszulegen. Mit dieser mehrfachen Funktion wird deutlich, daß das Gottesargument von Peirce durchaus nicht als Anwendungsfall einer übergeordneten Theoriebildung anzusehen ist, sondern daß tatsächlich die Theoriebildung selber mit der Gotteserfahrung problematisiert wird. Wie nun die Realität in Wahrheit und in Wirklichkeit ist, kann methodisch reflektiert nicht direkt erfaßt, wohl aber indirekt angegeben werden, wenn die primäre Beeinflussung unserer Erfassungsmöglichkeiten bereits mitkalkuliert wird. Das tut Peirce, wenn er Versonnenheit, Kontemplation, Instinkt und die Sprache des Herzens als die einzigen Zugänge für die Einheit der Erfahrung in der Idee Gottes verteidigt (Peirce 1994: 294 f; vgl.
1754 Orange 1984: 75 f und Raposa 1989: 123 ff). In diesem Sinne kann gesagt werden, daß unter „Gott“ der Inbegriff menschlicher Primärerfahrung zu verstehen ist (vgl. wiederum Whitehead 1926 ⫽ 1985: 115: „Gott ist also die eine systematische, vollendete Tatsache, die den vorausgehenden Grund bildet, der jeden schöpferischen Akt bedingt“) ⫺ eine Realitätserschließung vor der nun fälligen kategorialen Durchsicht: wie denn diese primäre Eindrücklichkeit zum Ausdruck gelangt. In der kategorialen Semiotik ist es nun der als Erstheit zu verstehende Gegenstandsbezug des Ikons, innerhalb dessen die primäre Realitätserschließung zu beschreiben ist, und es sind damit noch einmal drei unterschiedliche Aspekte zu unterscheiden, in denen die wissenschaftliche Analyse diese Ursprünglichkeit thematisieren kann. Erstens ist der Charakter eines Ikons als Zeichen zu bestimmen, das Abbildfunktion durch Ähnlichkeit hat; zweitens ist unter forschungslogischem Aspekt die Abduktion („retroduction“, „conjecture“, „hypothetic inference“) als Grundoperation der Gott-Hypothese zu erkennen (Peirce 1994: 342 f); drittens ist unter kosmologischem Aspekt die Lehre des Tychismus als evolutionäre Konsequenz daraus zu ziehen, daß es Spontaneität, Neues und Freiheit gibt (Peirce 1988: I. Teil; vgl. Deuser 1983: Kap. 3). Die damit angeschnittenen Fragen lassen sich bündeln in der Problembeschreibung, wie denn überhaupt das Auftreten von ⫺ in striktem Sinne ⫺ Neuem gedacht werden kann, ohne es jeweils schon von Bekanntem abzuleiten: das „Paradox der Spontaneität“ (Hausman 1964: 21 f); und es ist genau dies die Leistung ikonischer Gegenstandsbeziehung, daß sie in dieser paradoxen Situation keinen dunklen, irrationalen Anfang postuliert, sondern auf Erfahrung setzt, die hier allerdings von einer Direktheit sein muß, daß dem ikonischen Zeichen jedenfalls die Reflexionsdistanz nicht zukommen kann. Es ist genuin bei seiner Sache, von ihr her bestimmt und doch zugleich ein geistiges Element, eben ein Zeichen mit Realitätsabbildung. Diese Doppelleistung ist aufzufangen in Peirces Unterscheidung von „Immediate“ und „Dynamical Object“ (vgl. Fitzgerald 1966: 43; Hausman 1987: 386 f), wobei das „unmittelbare Objekt“ als Gegenstandsrelation vom Zeichen her, das „dynamische Objekt“ als die Realität aufzufassen ist, die sich im Zeichenprozeß abbildet. In diesem Sinne steckt in der ikonischen Gegenstandsbeziehung die ursprüngliche Kreativität der Reali-
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tät selbst, die forschungslogisch als Abduktion, kosmologisch als Zufallsproduktivität (Tychismus) und zeichentheoretisch als primäre Realitätserschließung erfaßt werden kann. Gott als Zeichen in diesem fundamentalen Sinn zu erfahren, das meint „direct experience“ so umfassend, daß die traditionelle philosophische Alternative purer Sinnesdaten einerseits oder purer Verstandesleistungen aufgrund von Anschauung andererseits verlassen werden kann: „Was Gott betrifft, öffne Deine Augen ⫺ und Dein Herz, das ebenso ein Organ der Wahrnehmung ist ⫺, und Du siehst ihn“ (Peirce 1994: 245). Wird diese qualitative und kreative Erstheit in der ikonischen Zeichenleistung akzeptiert, so lassen sich von daher Aussagen religiöser Erfahrung (wie sie auch bereits von hermeneutischer und linguistischer Theologie herausgearbeitet wurden, vgl. zusammenfassend Track 1977: 283 ff) ebenso erklären wie die sogenannte religiöse „Chiffrierung“ (s. o. § 1.1.). Letztere ist eben als spezifische Form kreativer Zeichen in einem primären Sinn aufzufassen, wie sie auch für die Metapher in Anspruch genommen werden kann (Hausman 1987), sofern deren ontologische Erschließung eben als dynamischer Objektbezug des Ikons verstanden wird. Das ist keine theoretische Leistung, keine analoge Erschließung der diskursiven Vernunft, sondern ein Sich-Einlassen auf Vorgaben, die als solche nicht rational zu deduzieren oder zu induzieren, deren abduktives Zustandekommen und ikonische Präsentation sich aber durchaus rational begründen läßt. Was der religiöse Glaube mit aller Gewißheit weiß („eine Hypothese mit der allerhöchsten Plausibilität“; Peirce 1994: 353), verdankt sich nicht seiner „Einbildung“ (im heutigen verflachten Sinn dieses Wortes), sondern der (göttlichen) Ein-Bildung der Realität selbst (wie Luther es sprachlich und sachlich verstanden hat). Auch das religiöse Sprachdenken der jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig läßt sich in diesem Sinne semiotisch interpretieren (Ochs 1990; vgl. zur Beschreibung jüdischer Riten und Symbole de Vries 1986; siehe auch Art. 61), und das zeigt, wie universal Bildkraft und Symbolgebrauch in den Religionen vergleichbar sind. Alternativ zu diesem erfahrungskategorialexistentiellen Konzept im Anschluß an Peirce stehen Theologien, die zwar wissenschaftstheoretisch die umfassende Rolle der Zeichentheorie mitvertreten, sie aber als Frage
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nach der Bedingung der Möglichkeit eines Grundes von Wirklichkeit anwenden; das kann transzendental-substantiell (Härle 1988) oder transzendental-evidentiell (Herms 1987) geschehen. Einigkeit besteht aber zwischen diesen transzendentalen, den linguistischsprachlogischen Konzepten (zumindest den rational argumentierenden, vgl. Dalferth 1991: Goff) und einer von Peirces Religionsphilosophie inspirierten Theologie darin, daß zeichentheoretisch auch für Religion und Theologie „ein öffentlich bewährbarer metaphysischer Explikationsrahmen“ zur Verfügung steht (Herms 1974: 453). Darin läßt sich Realität an (kategorial) erster Stelle als (ikonisch vermittelte) schöpferische Lebendigkeit Gottes erschließen. Unter Realitätsbezug ist die Indexfunktion als Bezeichnung bestimmter Wirklichkeit (durch natürliche oder Sprachzeichen) zu verstehen (vgl. Fitzgerald 1966: 55⫺ 61; zum Weltbezug der Dichtung vgl. Art. 67 § 4.3.). Mit dieser Instanz der zweiten Kategorie stellt sich für Peirce die Bedeutungsfrage von Zeichen bezüglich des konkret Bezeichneten. Existenz, Reaktion, Verifikation sind Stichworte im Bereich indexikalischer Bedeutung, und es ist gegen die Gottesidee von Peirce hier konsequent der kritische Einwand erhoben worden, warum denn „Gott“ im Sinne einer absolut gedachten Zweitheit nicht „Existenz“ zukommen solle ⫺ was Peirce mit seiner Unterscheidung von Realität und Existenz abgelehnt hat (Hartshorne 1964: 463). Eine Gegenständlichkeit Gottes wäre auch deswegen problematisch, weil forschungslogisch gesehen dem Index die Deduktion korrespondiert, und diese zweite Form des Schließens wird zwar gegenstandsbezogen angewandt, aber aufgrund von hypothetisch bzw. ideal gesetzten Prämissen (Peirce 1994: 344). D. h. die als Realitätserschließung ikonisch und abduktiv verstandene direkte Gotteserfahrung würde sich dann entweder auf raumzeitliche Objekte einschränken oder nachträglich noch theoretisch deduzieren lassen, was beides Peirces religiösen Intentionen zuwiderläuft. Eher ist Peirces Rechenschaft im Rahmen seines Gottesarguments so zu lesen, daß er die Deduktion mit ihrer explikativen Aufgabe wie eine natürliche Theologie sehen möchte, die die Vernünftigkeit des geistig sich entwickelnden Forschungsprogresses als Beleginstanz für die von Gott erschaffene Welt auswerten kann (Peirce 1994: 346⫺351).
1755 Eine weitere Interpretationsmöglichkeit ergibt sich aber dadurch, daß Peirce unter kosmologischem Aspekt (und dies genau an seine Lehre vom Tychismus anschließend) für den Prozeß der Evolution und als diesen in Wahrheit erst erklärend „kreative Liebe“, das Gesetz der Liebe, Agapismus verantwortlich gemacht hat (CP 6.302; 1988: 249 f; vgl. Hausman 1974; Deuser 1993: Kap. 2; Raposa 1989: 72 ff). Damit ist nun mehr als eine bloß theoretische Hypothese ins Spiel gebracht; es ist der Versuch gemacht, das je eigene Leben in die Ansicht der Welt als Wachstums- und Forschungsprozeß, worin Menschen Verantwortung tragen, hineinzuziehen. Dies negieren wird nur der weltfremde Theoretiker, „or rather, a papyrobite, a man whose vitality is that of sentences written down or imagined“ (MS 842: 82; vgl. Peirce 1994: 334)! Die Konkretion gelebter Liebe als konstruktives ethisches, nicht-egoistisches Weltverhalten (vgl. wiederum Whitehead 1926 ⫽ 1985: 118) entspricht aber genau der christologischen Bestimmtheit christlicher Theologie. Insofern ist es bezüglich der Indexikalität religiöser Sprache, wenn nach der Bedeutung (im Sinne von Referenz) religiöser Äußerungen gefragt wird, durchaus richtig, nicht mehr Religiosität allgemein, sondern deren konkrete Ausdrucks- und Begegnungsweisen zum Prüfkriterium zu machen, wie das Dalferth für die Wahrheitsfrage religiöser Rede getan hat. Damit kommt ⫺ an dieser Stelle! ⫺ die von K. Barth zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitete theologische Wendung zum Zuge, Theologie nicht im Anschluß an einen allgemeinen Religionsbegriff zu betreiben, sondern letzteren in Übereinstimmung mit der Religionskritik relativiert liegen zu lassen, um davon entlastet desto entschiedener mit der eigenen Glaubenserfahrung im Bezug auf Jesus Christus festzulegen, was unter „religiöser Situation“ zu verstehen sei: „Eine Situation ist daher christlich, wenn ihre Struktur in einem aufweisbaren strukturellen Zusammenhang mit der Situation und den Situationen des Lebens und Sterbens Jesu von Nazareth steht“ (Dalferth 1981: 362 f). In dieser (christologischen) Konkretion von Gottes „Gegenständlichkeit“ zu sprechen, dürfte mit der Kategorie der Zweitheit und der Funktion des Index konform gehen. Der überprüfbare Realitätsbezug des christlichen Glaubens ist eben diese Welt ⫺ als Welt Gottes gesehen, und deren aktuelle Bestimmtheit sind Personalität und Selbstopfer der kreativen Liebe (Peirce CP 6.287 ff; 1988: 236 f).
1756 Von Realität als solcher sprechen zu müssen, ergibt sich aus der Symbolfunktion, verbunden mit der Kategorie der Drittheit. Das Symbol hält zusammen, was Ikon und Index bezeichnen, genauer: es ist deren Zusammenhang, insofern er als Regelhaftigkeit, Gesetz oder Verhalten („habit“) im Zeichengebrauch unterstellt werden muß. Das hat zur Folge, daß sich ein Symbol nicht mehr auf ein gegenständliches Etwas, sondern generalisiert auf einen faktischen Gebrauch im Kontext bezieht ⫺ und damit ist zugleich auch zukünftiges Verhalten impliziert (vgl. Fitzgerald 1966: 62 ff). Letzteres ist wiederum mit dem forschungslogischen Aspekt der Induktion und kosmologisch mit dem von Peirce geprägten Begriff des Synechismus zu verbinden, d. h. so wie bereits Ikon und Index deutlich von der Realität her ⫺ und nicht als bloß gedachtes Netz formaler Verknüpfungen ⫺ konzipiert waren, so zeigt sich jetzt explizit die Leistung der Drittheit als vorliegender geistiger Zusammenhang, in dem Gegenstandserfahrung über Zeichen gemacht wird. Damit ist einerseits die pragmatische Dimension der Interpretantenrelation des Zeichens erreicht, andererseits durch die Zukunftsdimension der immer akute Lebenskontext mitthematisiert. Dann muß anthropomorph gesprochen und geschlossen werden: Symbole sind lebendig: „Das dritte Universum umfaßt alles, dessen Sein darin besteht, zwischen verschiedenen Objekten durch aktive Kräfte Verbindungen herzustellen […]. Dies trifft auf alles zu, was wesentlich ein Zeichen ist […], wenn man so sagen darf, auf die Seele des Zeichens, dessen Sein in seiner Kraft liegt, zwischen seinem Objekt und seiner geistigen Instanz zu vermitteln. In gleicher Weise verhalten sich ein lebendiges Bewußtsein, das Leben und die Wachstumskraft einer Pflanze; und ebenso eine lebendige Institution ⫺ eine Tageszeitung, ein großes Glück, eine soziale ‚Bewegung‘ “ (Peirce 1994: 331). Die Kraft des Symbols ist seine Lebendigkeit, und diese hat Peirce nicht nur im Satzkontext, nicht nur im Sozialzusammenhang, nicht nur im Kommunikationsgeflecht, sondern auch kosmologisch und universalistisch gedacht. Wenn es in der Welt, so wie wir sie erfahren, Wachstum und Leben gibt, muß dies in ihren regierenden Zusammenhängen begründet sein; da diese sich wiederum auf alle Zeit erstrecken, muß Realität im ganzen Kontinuität haben ⫺ das meint Peirces Programm des „Synechismus“ (1988: 179 ff; vgl.
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Deuser 1993: Kap. 2; Raposa 1989: 49 ff), und seine Gottesauffassung ist damit verflochten. Denn lebendiges Wachstum und Entwicklung des Geistes, die sich nicht positivistisch reduzieren lassen, treiben „im puren Spiel der Versonnenheit“ zur Idee von Gottes Realität (Peirce 1994: 339), und diese ist kein fertiges Faktum, sondern ⫺ wie Person und Welt ⫺ ein Symbol, dessen Rationalität darin besteht, sich weiter zu entfalten. Ähnlich wie später Whitehead denkt Peirce damit die Entwicklungsfähigkeit Gottes (Peirce 1994: 339 f), und er tut dies, um dem rationalen, wissenschaftlichen Prozeß der Herausbildung von Wahrheit gerecht werden zu können (vgl. Lowe 1964). Realität und Metaphysik brauchen sich gegenseitig, weil die bloßen Fakten der Wissenschaft („science“) ihre eigene Entwicklung und Wahrheitsfindung nicht erklären können (Peirce 1994: 249 ff). Die universale, rationale Begriffsbildung aber bleibt für Peirce an die Kontrolle der Wissenschaft zurückgebunden, bzw. die Lebenserfahrungen werden im Rahmen symbolischer Drittheit zur pragmatistischen Instanz der wiederum lebendigen Überprüfung. Wegen der Einbindung der symbolischen Zeichenleistung in den Prozeß der Wahrheitsfindung überhaupt läßt Peirce an dieser Stelle die (semiotische) Interpretantenrelation übergehen in die experimentierende (pragmatistische) Relation von Glauben („belief“) und Verhaltensbildung („habit-forming“). Damit ist eine umfassende Rolle der Induktion im menschlichen Verhalten („conduct of life“) angezeigt (Peirce 1994: 353 ff), die aber nicht als bloßes Testverhalten, sondern wiederum im Rahmen ebenso umfassender Rationalität gesehen werden muß: Die Ordnungsprinzipien, wie sie (kategorial) angenommen und im Induktionsschluß unterstellt werden, gehören nicht zu den Dingen und ihrem vorliegenden Zusammenhang allein, sondern sind selbst noch einmal zu generalisieren (Peirce 1994: 364 f): „Super-Ordnung“ und „Super-Verhaltensgewohnheit“ schlägt Peirce als Bezeichnungen vor, um diese metaphysische, kosmologische, religionsphilosophische Ebene im wissenschaftlichen Kontakt beschreiben zu können. Die Realität Gottes entspricht dann jedenfalls in Problematik und Durchführung des Gedankens genau dieser Realität der Natur, und es ist nur konsequent, daß Peirce sich insofern der Naturphilosophie Schellings (vgl. Art. 74 § 4.) nahe fühlt (CP 6.102) und mit der Weltvernunft und dem „objektiven Idealismus“ Hegels Gemeinsamkeiten sieht. Doch
87. Zeichenkonzeptionen in der Religion
die Differenz zu Hegel (vgl. sehr treffend schon 1865 formuliert in Peirce 1986: 96) liegt darin, daß die Vermittlungsformen sich nicht zwingen lassen, die „Logik der Evolution“ bleibt induktiv und damit hypothetisch (Peirce 1994: 257 f). Deshalb muß der rational gedachte und sich entwickelnde Gesamtprozeß weder Zufall noch Spontaneität und Freiheit an die Seite schieben, sondern gerade in deren Zeichen lebt das, was in Wahrheit Fortschritt heißen kann. Das „Universum“ ⫺ so hat Peirce 1903 in den Pragmatismus-Vorlesungen zur „Realität der Drittheit“ formuliert ⫺ „is … a great symbol of God’s purpose, working out its conclusions in living realities“ (CP 5.119). Die Stärke dieser Symbollehre ist ihr Realismus, der metaphysisch und wissenschaftlich zugleich vorgetragen wird. Genau diesen Anspruch macht Peirces Stichwort der „religion of science“ (vgl. Peirce 1994: 211), und damit ist rückblickend sowohl religionswissenschaftlich (s. o. § 1.1.) wie religionsphilosophisch (s. o. § 2.1.) eine Programmatik entworfen, theologisches Denken nicht durch sich distanzierende Deskription von religiösen Phänomenen ersetzen zu müssen, sondern den Anspruch der Gott-Rede als Symbolleistung, die unserer Realität überhaupt entspricht und an ihrer Bewältigung und Herausbildung mitarbeitet, gelten zu lassen. Die Bedeutung der Gott-Rede zeigt sich im wirklichen Gebrauch des Symbols, und dieser ist nicht ohne die pragmatistischen Relationen von Glauben und Verhaltensbildung, Glauben und Handeln bestimmbar (vgl. MacKay 1972: 10 ff). Begründet ist das Symbol letztlich durch die Gesamtauffassung von Realität, zu der der unableitbare Akt des Glaubens (vgl. zu Wittgensteins Religionsauffassung Browarzik 1988: 97 ff und Munz 1997) ebenso gehört wie seine mögliche rationale Darstellung als Erschließungsbedingung für Realitätsverhalten (vgl. Williams 1978; Plantinga 1979). Der menschliche Umgang mit der Realität ist Teil der Realität selbst. Dieses Implikationsverhältnis aufzuklären, bedarf es der kategorialen Semiotik, worin die Lebendigkeit der Gott-Rede theoretisch adäquat zum Ausdruck kommt (vgl. Art. 158).
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1. Alltagsleben in Kunst und Wissenschaft 2. Alltagsforschung der Angewandten Semiotik 3. Bestimmungsmerkmale des Alltäglichen 3.1. Das Repetitive 3.2. Das Gegenwärtige 3.3. Das Gewohnte, Gewöhnliche und Gegebene 4. Zeichenkonzeptionen des Alltags 4.1. Zeichenkonzeptionen vom Alltag 4.2. Zeichen- und Semiosekonzeptionen im Alltag 5. Einige allgemeine Spezifika der Alltagssemiose 6. Alltägliche Semiose und Zeichensysteme in der industriellen Konsumgesellschaft 6.1. Beschleunigung der semiotischen Reproduktionszyklen 6.2. Neuere Geschichte alltäglicher Zeichensysteme 6.3. Ideologiekritische Aspekte der Zeichen 7. Konstruierte Alltäglichkeit und Nichtalltäglichkeit 8. Literatur (in Auswahl)
1.
Alltagsleben in Kunst und Wissenschaft
Das Alltagsleben ist in den letzten zwei Jahrhunderten in zunehmendem Maße in den Mittelpunkt des Interesses von künstlerischer Darstellung und wissenschaftlicher Forschung gerückt. Künstler hatten schon früher das Alltägliche als lohnenden Gegenstand insbesondere der ikonischen und indexikalischen Repräsentation entdeckt. So informieren uns die mittelalterlichen Buchillustrationen und Tafelbilder, Fabliaux, Chroniken und Rahmenerzählungen sowie später die Genremalerei oder die Romane und Komödien des 17. und 18. Jahrhunderts in vielfältiger Weise über den Alltag des bäuerlichen, bürgerlichen und höfischen Lebens dieser Zeit. Im 19. und 20. Jahrhundert jedoch wurde die Darstellung des Alltäglichen für Maler, Schriftsteller (vgl. Thurn 1978) und Musiker zum Programm, dem sie sich in zahllosen Varianten des Realismus (vgl. Kohl 1977) verschrieben, vom bürgerlichen, sozialistischen, psychologischen und magischen Realismus, vom Naturalismus (vgl. Abb. 88.1), Verismus, der Pop Art, dem Photorealismus, der Neuen Sachlichkeit bis hin zum Hyperrealismus (vgl. Baudrillard 1976 ⫽ 1982: 112 ff) der Postmoderne. Folgt man Roelens (1992: 583),
so konvergiert schließlich in der literarischen Postmoderne das Alltägliche mit dem Element des Irrationalen: beides dient als inhaltliches Mittel zur Durchbrechung erstarrter narrativer Kodes und konventionalisierter Erwartungsschemata (vgl. Art. 122). Im Gegensatz zu den Künsten fand in den Wissenschaften die Entdeckung des Alltags im wesentlichen erst in den letzten beiden Jahrhunderten statt. Einige Wissenschaften konstituierten sich geradezu als Wissenschaften von Aspekten des Alltagslebens, so zum Beispiel die Volkskunde, die Kulturanthropologie, Psychologie, Soziologie, Ökonomik und die Medienwissenschaft. Eine explizite Alltagsforschung entwickelte sich vor allem in der Volkskunde (Bausinger et al. 1978), der Kulturanthropologie (Greverus 1978), der empirischen Kulturforschung (Jeggle et al. 1986) und der angewandten Soziologie (Truzzi 1968, Certeau 1980, Giard und Mayol 1980, Willis 1991; vgl. auch die Zeitschrift Der Alltag (Berlin und Zürich 1978 ff)). In der theoretischen Soziologie findet sich Alltagsforschung besonders in phänomenologischen (Schütz und Luckmann 1979, 1984), marxistischen (Lefebvre 1958, 1968), handlungstheoretischen (Goffman 1959), ethnomethodologischen und wissenssoziologischen (Arbeitsgruppe 1980) Ansätzen. Eine zusammenfassende Orientierung geben Hammerich und Klein (1978). Relativ spät wandte sich auch die offizielle Geschichtswissenschaft explizit der historischen Erforschung des Alltags zu (vgl. zum 19. Jh. zum Beispiel Thuillier 1977 und Kuczynski 1981⫺82). Die Linguistik wurde in dem Maße zur Alltagswissenschaft, in dem sie sich der Umgangssprache des native speakers und ihren Varianten in alltäglichen Diskursen zuwandte. Auch die neuere Kognitionswissenschaft ist insoweit eine Alltagswissenschaft, als sie Modelle des Alltagswissens entwickelt. Eine weitere Wissenschaft vom Alltäglichen entstand in der Sprachphilosophie, seit sie zu einer Philosophie der normalen Sprache (vgl. Art. 109) wurde. Programmatisch äußert hierzu etwa Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen (§ 116): „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ In gewisser Weise bedeutet
1762
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 88.1: Alltagsleben als programmatischer Inhalt der Malerei des Photorealismus in „Stop for Cows“ (1967) von Alex Colville (Polymer, Acryl, Malborough Fine Arts Ltd., London).
diese Hinwendung zum Alltag in der Philosophie des 20. Jahrhunderts jedoch auch eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Philosophie, wie Lefebvre (1968 ⫽ 1972: 30 f) bemerkt, denn: „Der erste professionelle Philosoph, der, der nicht schrieb, Sokrates, sprach nur von gewöhnlichen Dingen, um den philosophischen Dialog in Gang zu setzen: über Töpfe mit dem Töpfer, über Schuhe mit dem Schuster!“ Viele Ergebnisse der erörterten wissenschaftlichen Alltagsforschung sind implizit semiotischer Art, denn die untersuchten Objekte und Verhaltensweisen des Alltags fungieren als Zeichen kultureller Werte und Normen, als Zeichen in Kommunikationssituationen oder auch als Anzeichen der Zugehörigkeit des Zeichenträgers zu einer Kultur oder sozialen Gruppe.
2.
Alltagsforschung der Angewandten Semiotik
Explizit semiotische Forschung zur Kultur des Alltags findet sich vor allem im Bereich der Angewandten Semiotik, deren Pioniere in den Mythen und Ideologien des Alltäglichen vom Plastik zum Beefsteak mit Pommes frites (Barthes 1957; 1964), vom Kitsch zur Werbung und der Welt des Charlie Brown
(Eco 1964 und 1968, Putz 1994), vom Gadget zum Striptease und Graffiti (Baudrillard 1968 und 1976), von der natürlichen Umwelt (Greimas 1970) oder vom Photoroman zum Superman Comic (Koch 1971) ein semiotisches oder semiologisches System zu ergründen suchten (vgl. Abb. 88.2). Einige Bereiche des Alltäglichen werden in diesem Handbuch an anderer Stelle semiotisch erörtert, so die alltägliche Gestik und Mimik (Art. 168), der Sport (Art. 162), der Tourismus (Art. 165), das Geschäftsleben (Art. 166), die urbane Umwelt (Art. 155) oder die Massenmedien (Art. 146). Zu anderen Themen, wie der Semiotik der Comics, der Werbung, der Alltagsobjekte oder des Raums und der Zeit im Alltag siehe Nöth (1990) sowie die Sondernummer der Zeitschrift Prote´e 19,2 (1991) mit dem Titel „Se´miotiques du quotidien“. Weitere Ansätze zu einer sich zum Teil erst entwickelnden Semiotik des Alltagslebens seit dem 19. Jahrhundert finden sich zu folgenden Themenkreisen der Alltagskultur: ⫺ semiotisierte natürliche Welt im Alltag: allgemein (Greimas 1970, Sturm 1979), alltägliche Landschaften (Relph 1976, Wilson 1991), „Sprache der Blumen“ (Kleinpaul 1988, Martinet 1973, Goody 1993, Krampen 1994, Schmauks 1997),
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
1987), heutiges Familienleben (UmikerSebeok 1979, Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton 1981, Hodge und Kress 1988), alltägliche Umgangsformen und Höflichkeitsrituale (Guiraud 1973, Civ’jan 1977, Werlen 1984), Autofahren (Martinet 1973, Savigny 1980), industrieller Alltag (Lucas 1974), nonverbale Kommunikation am Arbeitsplatz (Cuny 1969, 1971, 1972), nationale Kollektivsymbolik (Link und Wülfing 1991 sowie Art. 147) ⫺ Zeichen- und Kommunikationssysteme im alltäglichen Leben: Fernsehen (Eco 1980, Schulz 1982, Bettetini 1989 sowie Art. 148), Telefon (Forschungsgruppe Telefonkommunikation 1991, Hopper 1992), Bildschirmtext (Claussen 1988), Postkarten (Wasik 1992), Straßenverkehrszeichen (Mounin 1970, Krampen 1988), gebrauchsgraphische Instruktionen (Toumajian 1986), Zeitungsgraphiken und -layout (Savarese 1991), alltägliche Inschriften (Wienold 1990, 1993), Geld (Baudry 1968, Shell 1982, Komar 1991, Coulmas 1992).
3. Abb. 88.2: Die Semiotik der alltäglichen Mythologie in der Werbung untersuchte R. Barthes 1964 in einer vielbeachteten Studie zur „Rhetorik des Bildes“ (in: Communications 4, 1964: 40⫺51) am Beispiel dieser französischen Anzeige für Panzani-Produkte.
pflanzliche Umwelt (Krampen 1981; vgl. auch Art. 23). ⫺ Artefakte des Alltags: Konsumgüter allgemein (Nöth 1988), alltägliche Designobjekte (Meurer und Vinc¸on 1979), Einkaufsgalerien (Brion 1987), Automobile (Z˙ygulski 1973, Aronoff 1985, Becker 1989), Uhren (Berger 1984, Semprini 1991), Mobiliar und sonstige Wohnungseinrichtungen (Imbert 1978, Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton 1981), Wohn-, Arbeits- und Spielräume (Mehrabian 1976), Abfall und Müll (Thompson 1979, Culler 1988) ⫺ Psychosemiotik des Alltags: alltägliche Empfindsamkeit (Parret 1988), Sexualität (Guiraud 1978), Umweltpsychologie (Mehrabian 1976) ⫺ Soziosemiotik des Alltags: sozialer Alltag im gesellschaftlichen Leben des 19. und 20. Jahrhunderts (Lotman 1985, Sauer
Bestimmungsmerkmale des Alltäglichen
Alltag ist ein Wort, das auf Zeit und Wiederholung verweist. Dabei ist der Begriff des Alltäglichen polysem. Er hat zeitliche, kognitive und axiologische Dimensionen. Die einzelnen Bestimmungsmerkmale des Begriffs erschließen sich in besonderer Weise aus der Opposition des Alltäglichen zu seinen Gegensätzen im Nichtalltäglichen. Die verschiedenen Merkmale lassen sich temporal unter die Begriffe des Repetitiven (s. § 3.1.) und Gegenwärtigen (s. § 3.2.), kognitiv und axiologisch unter die Begriffe des Gewohnten, Gewöhnlichen und Gegebenen (s. § 3.3.) subsumieren (vgl. auch Art. 59 § 2.). 3.1. Das Repetitive Das Alltägliche als das Repetitive verweist auf den Aspekt der regelmäßigen Wiederkehr des Gleichen im Alltag (vgl. Art. 48). Obwohl im Zeitverlauf verankert, liegt hierin keine diachrone Dimension des Alltags, denn die Wiederkehr des Alltäglichen impliziert keinen eigentlichen Wandel. Das Repetitive ist vielmehr die panchrone zeitliche Struktur des Alltags (cf. Art. 32 § 5.). Das Repetitive des Alltags ist in seiner Temporalität entweder linear oder zyklisch. Der Alltag als die sich immer wiederholende Routinewirklichkeit hat eine lineare
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Abb. 88.3: Beispielhaft für das Merkmal des Repetitiven ist das tägliche Rasieren, hier dargestellt in einer Anzeige aus der Jahrhundertwende (Quelle: Unser Jahrhundert im Bild, Gütersloh 1964: 91). Dem Meister des Realismus G. Flaubert (1821⫺1880) wird nachgesagt, daß für ihn das tägliche Rasieren ein Akt war, dessen Repetitivität ihn allmorgendlich erneut mit einem Gefühl des „ennui“ erfüllte.
Temporalität. Sie besteht in der Gleichförmigkeit der Zeitpunkte (Termine), Zeitdauer (zum Beispiel Stundenpläne) sowie der zeitlichen Abfolge alltäglicher Ereignisse. Lefebvre (1968 ⫽ 1972: 31) beschreibt das Repetitive des Alltags wie folgt: „Das Alltägliche setzt sich in seiner Trivialität aus Wiederholungen zusammen: Gesten in der Arbeit und außerhalb der Arbeit, mechanische Bewegungen (die der Hände und des Körpers und auch die der Stücke und Vorrichtungen, Rotation oder Hin und Her), Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre; lineare Wiederholungen […].“ Die Linearität der zwangsläufig invarianten Geschehensabläufe im alltäglichen Tagesplan erörtern auch Schütz und Luckmann (1979: 76⫺77), wobei sie dem Prinzip „first things first“ besondere Bedeutung beimessen: „Ich muß mich in die mir auferlegte Abfolge der Ereignisse in der äußeren Welt, in meinen körperlichen Rhythmus, in den sozialen Kalender einfügen und das eine zurückstellen, dem anderen zeitliche Priorität geben […]. Zuerst muß ich diese ⫺ im übrigen unwichtige, subalterne ⫺ Angelegenheit aus dem Weg räumen, um mich dann der be-
deutsameren Sache zuwenden zu können. (Ich muß mich rasieren, wobei ich zunächst warten muß, bis das Wasser heiß geworden ist, bevor ich zu einer Unterredung gehe, die eine Wendung in meinem Leben zur Folge haben mag.) Alle die ,unwichtigen‘ Zwischenstücke, Teilhandlungen usw., die ich z. B. in meinen Tagträumen überspringen kann, sind notwendige Elemente meines Lebens im Alltag“ (vgl. Abb. 88.3). Die gesteigerte linear temporale Regularität und sequentielle Rigidität des Alltags ist eine der spezifischen kulturgeschichtlichen Entwicklungen seit Beginn des Industriezeitalters (vgl. Kern 1983 und Zerubavel 1981). Während der lineare Aspekt der Temporalität des Alltagslebens in der Gleichförmigkeit der Ereignisse und ihrer Abfolgen besteht, liegt der zyklische Aspekt in den gleichbleibenden Rhythmen der Unterbrechung des Alltags durch das Nichtalltägliche des Feiertages und der Nacht. Diese zyklische Temporalität des Alltagslebens ist kalendarisch und rechtlich durch den Gegensatz des Alltags zu den Sonn- und Feiertagen geregelt. Verbunden mit dieser juristischen Bestimmung des Alltags ist die Opposition zwischen
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Abb. 88.4: Daß der Begriff der „Frei“-Zeit ex negativo dem zu ihm in semantischer Opposition stehenden Begriff der Arbeit die Konnotation der Unfreiheit zuzuschreiben vermag, wird durch die Arbeitsbedingungen verständlich, die für Industriearbeiter noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestanden: Hier ein Photo von Arbeitsplätzen in der Gußstahlfabrik F. Krupp um 1908 (Quelle: Unser Jahrhundert im Bild, Gütersloh 1964: 101).
Arbeit und Nichtarbeit bzw. „Frei“-Zeit, einem Begriff, der die Routine des Alltags zugleich als weniger frei kennzeichnet (vgl. Abb. 88.4). Die Wortbildung des Begriffes „Alltag“ verweist auf einen weiteren temporalen Gegensatz von zeitlicher Zyklik, nämlich denjenigen zwischen Tag und Nacht. Das Alltägliche ereignet sich tags. Daran erinnern Schütz und Luckmann (1979: 73 und 1984: 161 ff), wenn sie Schlaf und Traum als eine Abkehr vom Alltag interpretieren. Parret (1988: 17 f) leitet in diesem Zusammenhang die folgenden Bestimmungsmerkmale des Alltäglichen ab: „Le quotidien fourmille d’activite´s qui sont repe´rable a` la lumie`re du soleil; il est de´ja` plus difficilement acceptable de caracte´riser le repos nocturne, l’absence d’activite´s pendant la nuit, comme une pratique quotidienne. En plus, la` ou` il y a ,vie nocturne‘ (a` la limite ne´cessairement illicite), on sort, ou pre´tend de sortir de l’ordinaire du quotidien.“ („Das Alltägliche wimmelt von Aktivitäten, die nur bei Tageslicht erkennbar sind. Es ist schon schwieriger, die Nachtruhe, das Fehlen von Aktivitäten während der
Nacht, als alltägliche Praxis anzuerkennen. Dort, wo (im Grenzfall notwendigerweise verbotenes) ,Nachtleben‘ stattfindet, verläßt man übrigens das Gewöhnliche der Alltäglichkeit oder gibt zumindest vor, dies zu tun.“) Als das temporal Repetitive steht das Alltägliche schließlich auch im Gegensatz zum Einmaligen und Einzigartigen. Oft ist das Einzigartige auch einmalig, aber während das Einmalige auch vorhersagbar und somit erwartet sein kann, wie zum Beispiel die Erscheinung eines Kometen, ist das Einzigartige immer das Unerwartete. Diese den Erwartungshorizont des Repetitiven betreffenden Aspekte des Alltäglichen führen zu den Kategorien des Gewohnten und Gewöhnlichen (s. u. § 3.3.). 3.2. Das Gegenwärtige Das Alltägliche ist im Hier und Jetzt gegeben und wird als das Reale erfahren. Dieser Gedanke impliziert einen weiteren temporalen Aspekt des Alltäglichen, der in seiner Synchronie begründet ist. Diachron steht nämlich das alltäglich Gegenwärtige im Gegen-
1766 satz zum Vergangenen. Das Gegenwärtige hat ferner einen räumlichen Aspekt, denn es steht (diatop) im Gegensatz zum räumlich Fernen und Fremden. Schließlich ist das alltäglich Gegenwärtige in der Realität verankert: Alltag ist keine Fiktion. Was heute alltäglich ist, verliert in diachroner Perspektive zwar seine Alltäglichkeit, aber jede geschichtliche Epoche hat auch ihre eigene synchrone Alltäglichkeit. Kosı´k (1967 ⫽ 1970: 71 f) bringt diesen Aspekt des Alltäglichen wie folgt zum Ausdruck: „Jede Art der menschlichen Existenz […] in der Welt hat ihre Alltäglichkeit. Auch das Mittelalter hatte seine Alltäglichkeit […]. In der Alltäglichkeit lebt sowohl der Schreiber wie der Kaiser […]. Die Alltäglichkeit ist vor allem die Gliederung des individuellen Lebens der Menschen im Rahmen jedes Tages: die Wiederholbarkeit ihrer Verrichtungen ist in der Wiederholbarkeit eines jeden Tages, in der Zeiteinteilung eines jeden Tages fixiert. Das Alltägliche ist die Gliederung der Zeit und der Rhythmus, darin sich die individuelle Geschichte des einzelnen abspielt.“ Neben seiner zeitlichen hat der Alltag auch eine räumliche Gegenwärtigkeit. Sie ist es, welche die Tourismuswerbung anspricht, wenn sie Reisen als einen „Auszug aus dem Alltag“ anpreist. Fremde Orte und mit ihnen fremde Landschaften und Kulturen sind das Nichtalltägliche, das zu den gewohnten Orten unserer täglichen Umwelt im Gegensatz steht, was nicht ausschließt, daß im Zuge des organisierten Massentourismus die Zielorte der Fernreisen in einer neuen, ganz gewöhnlichen Alltäglichkeit erfahren werden (vgl. Greverus 1978: 94). Aus dem Gegenwärtigen des Alltags heraus führen auch die Wege in das Reich des Fiktiven und Imaginären, denn der Alltag ist die Welt des Realen. Sobald die Realität des Alltags, und sei sie noch so gewöhnlich oder vertraut, Teil einer Repräsentation oder Fiktion wird, etwa in Photographie, Film oder Fernsehen, verliert sie den Charakter des Alltäglichen, denn eine dargestellte ist nicht mehr eine reale Alltäglichkeit. Dies schließt nicht aus, daß einerseits die Inhalte des Dargestellten auf höchst Alltägliches verweisen können und andererseits der Konsum des Fiktiven zur alltäglichen Gewohnheit werden kann. 3.3. Das Gewohnte, Gewöhnliche und Gegebene Die Folge der temporal repetitiven und gegenwärtigen Struktur der Routinewirklichkeit ist, daß das Alltägliche zum kognitiven
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Schema des Gewohnten wird, es als phänomenologisch gegeben akzeptiert wird und es axiologisch zum Gewöhnlichen, ja Trivialen degeneriert. Als Gewohntes bestimmt das Alltägliche unseren Erfahrungs- und Erwartungshorizont und steht im Gegensatz zum Einzigartigen und Außergewöhnlichen. Diesen Aspekt des Alltäglichen beschreibt zum Beispiel Jakob Wassermann auf den letzten Seiten seines Romans Das Gänsemännchen (1915) wie folgt: „Aber es ereignete sich nichts Außerordentliches. Alles was vorging, war ganz alltäglich und scheinbar ganz gewohnt.“ Aus dem individuell Gewohnten wird im System der sozialen Welt einerseits das Normale, gegen das man nicht verstößt, andererseits das Gewöhnliche oder Triviale, das als wertlos erachtet wird. Das Alltägliche als das Triviale oder Ordinäre steht dem Extraordinären, Einmaligen und Originalen gegenüber. Repetitivität, Gegenwärtigkeit und Gewohntheit des Alltäglichen führen zu dem Bestimmungsmerkmal des Gegebenen und Akzeptierten des Alltags. Der Alltag ist die „problemlose, […] akzeptable und akzeptierte Routinewirklichkeit“ (Bausinger u. a. 1978: 81). Er verliert also seine Alltäglichkeit, wenn er zum Problem wird, explizit problematisiert oder gar theoretisiert wird (siehe Schütz und Luckmann 1984: 176; vgl. auch die implizite Alltagskonzeption der Ordinary Language Philosophy, siehe Art. 109 § 1.3.). Kosı´k (1967 ⫽ 1970: 72 f) beschreibt diesen Aspekt der Alltäglichkeit wie folgt: „Dinge, Menschen, Bewegungen, Verrichtungen, Milieu und Welt werden nicht in ihrer Ursprünglichkeit und Authentizität erfahren, werden nicht geprüft und offenbaren sich nicht, sondern sind einfach da und werden als Inventar, als Bestandteil der vertrauten Welt hingenommen […]. Jenseits der Grenzen dieser Welt der Vertrautheit, des Bekanntseins, der unmittelbaren Erfahrung […] beginnt eine andere Welt, die das Gegenteil der Alltäglichkeit ist.“ Der philosophische Hintergrund der Definition des Alltäglichen als des unmittelbar Gegebenen ist die auf Edmund Husserl zurückgehende Phänomenologie der Alltagswelt. Unter ihrem Einfluß formulieren Schütz und Luckmann (1979: 25) ihr Konzept der „Lebenswelt des Alltags“ in einer Weise, die deutliche Parallelen zur Semiotik der Prager Schule (s. u. § 4.) erkennen läßt: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache
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und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist […]. In der natürlichen Einstellung finde ich mich immer in einer Welt, die für mich fraglos und selbstverständlich ,wirklich‘ ist. Ich wurde in sie hineingeboren, und ich nehme es als gegeben an, daß sie vor mir bestand. Sie ist der unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muß.“
4.
Zeichenkonzeptionen des Alltags
4.1. Zeichenkonzeptionen vom Alltag Trotz des breit angelegten Interesses der Angewandten Semiotik für diverse Zeichenphänomene des Alltags (s. o. § 2.) hat die Semiotik bisher noch keine explizite Theorie der Alltagssemiose entwickelt. Es gibt jedoch eine implizite semiotische Theorie des Alltäglichen. Diese entstand im Kontext der semiotischen Ästhetik bei dem Versuch, das Spezifische der ästhetischen Semiose im Kontrast zu nichtästhetischem Zeichengebrauch zu bestimmen. So finden wir in der Tradition vom Russischen Formalismus (vgl. Art. 114) bis zur Semiotik der Prager Schule (vgl. Art. 115) den Gedanken von der alltäglichen Wahrnehmung als einer auf Gewöhnung beruhenden automatisierten Kognition, der die ästhetische, deautomatisierte Wahrnehmung gegenübersteht (vgl. Posner 1982: 188 ff). Am weitesten entwickelt ist die implizite semiotische Bestimmung des alltäglichen Zeichens in Mukarˇovsky´s Theorie der Funktionen. Eine Funktion ist für Mukarˇovsky´ (1966 ⫽ 1970: 125) „die Art und Weise des Sich-geltend-Machens des Subjekts gegenüber der Außenwelt“. Mukarˇovsky´ (1966 ⫽ 1970: 126 f) unterscheidet vier Funktionen als Modi des menschlichen Handelns gegenüber der Außenwelt, die praktische, theoretische, symbolische und die ästhetische Funktion. Nur die praktischen und die symbolischen Funktionen sind kennzeichnend für alltägliche Handlungen. Beiden gemeinsam ist, daß die Handlung des Subjekts auf das Objekt gerichtet ist. Während jedoch die praktische Funktion unmittelbar objektbezogen ist, ist die symbolische Handlung mittelbar objektbezogen. Bei praktischem unmittelbaren Handeln macht sich der Mensch gegenüber der Welt dadurch geltend, daß er die Wirk-
1767 lichkeit mit seinen Händen oder auch Geräten umgestaltet, „um diese Umgestaltung sofort zu seinem Vorteil auszunutzen“ (siehe dort; vgl. Abb. 88.5). Bei symbolischem und mittelbarem Handeln wird die Aufmerksamkeit „konzentriert auf die Wirksamkeit der Beziehung zwischen dem symbolisierten Gegenstand und dem symbolischen Zeichen“ (siehe dort). Das symbolische Zeichen fungiert als Handlungsinitiative und „wirkendes Objekt“ (1966 ⫽ 1970: 136). 4.2. Zeichen- und Semiosekonzeptionen im Alltag Nach diesen phänomenologischen und semiotischen Konzeptionen vom Zeichen im Alltagsleben stellt sich nun die Frage nach den Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben, also den Konzeptionen, die der alltägliche Zeichenbenutzer von Zeichen im Alltag haben mag. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was unter „Zeichenkonzeptionen“ zu verstehen ist. Versteht man darunter theoretische Begriffe, die ein durchschnittlicher Benutzer in vielleicht rudimentärer Weise von der Funktion von Zeichen im Alltag haben mag, so erscheint es zweifelhaft, ob es unter der Prämisse des Alltags als des fraglos Gegebenen, Automatisierten und Wirklichkeitsorientierten Zeichenkonzeptionen im Alltag überhaupt geben kann. Zwar kennt die Alltagssprache eine Vielzahl von Begriffen für Zeichen aller Art (vgl. Bernard 1983), aber auch nur ansatzweise theoretische Konzepte des Zeichens entwickeln sich kaum im Alltagsleben; denn, wie Parret (1988: 20) treffend bemerkt: „Le quotidien ne se dit pas, ne se remarque pas, puisqu’il se vit sans the´orie ni distance.“ („Das Alltägliche benennt sich selbst nicht, bemerkt sich selbst nicht, denn man lebt es ohne Theorie und ohne Distanz.“) Anders lautet die Antwort jedoch, wenn man die Suche nach Konzepten vom Zeichen auf alltägliche Prozesse des Zeichengebrauchs erweitert und dabei als Konzepte jene ,volkssemiotischen‘ Vorstellungen und Begriffsbildungen versteht, von denen Lakoff und Johnson (1980: 3) sagen: „The concepts that govern our thought […] govern our everyday functioning, down to the most mundane details […]. Our conceptual system thus plays a central role in defining our everyday realities […]. But our conceptual system is not something we are normally aware of. In most of the little things we do every day, we simply think and act more or less automatically along certain lines.“ So verstandene
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Abb. 88.5: „Woman Washing Her Feet in a Sink“ von George Segal 1964/65 (Gips, Waschbecken, Stuhl; Museum Ludwig, Köln): Die praktische Alltagshandlung des Füßewaschens verliert die Funktion ihrer Alltäglichkeit dadurch, daß sie als Skulptur in einen musealen Kontext gestellt ist. Aus der praktischen Handlung wird ein ästhetisches Zeichen.
konzeptuelle Systeme der Alltagssemiose gibt es in großer Zahl in der Alltagssprache. Eines davon ist die „Leitungsmetapher“ vom Kommunizieren (Reddy 1979). Kennzeichnend für dieses und andere metaphorische Konzepte der Alltagssemiose sind diverse Reifizierungen bzw. Konkretisierungen der Elemente der Kommunikation. Weit verbreitet sind etwa Konzeptualisierungen vom Zeichenträger als Behälter, seiner Bedeutung als einem dort hineinpassenden Gegenstand und vom Kommunizieren als einem Transportieren über Wege oder (Rohr-)Leitungen (siehe dort; vgl. auch Abb. 88.6). Andere Reifizierungen der Alltagssemiose liegen etwa in der Metaphorik von den Zeichen als Speisen und der Kommunikation als Nahrungsaufnahme oder von der Alltagssemiose als handwerklichen oder künstlerischen Tätigkeiten wie Bauen, Spinnen, Weben, Prägen oder Zeichnen (siehe Brünner 1987 und Fiehler 1990: 105⫺106; vgl. auch Abb. 88.7).
Obwohl derartige konzeptuelle Systeme der Alltagssemiose erst in jüngster Zeit ins semiotische Bewußtsein gerückt sind, handelt es sich bei den zuletzt erörterten Beispielen wohl kaum um spezifische Konzepte vom Zeichengebrauch in unserer Zeit. Für die neuere Zeit spezifische Konzepte finden sich einerseits dort, wo die Metaphorik über alltägliches Kommunizieren aus Bildern des heutigen Industriezeitalters, insbesondere der Medientechnologie abgeleitet ist, andererseits dort, wo neue Redeweisen über neue Kommunikationssysteme entstehen. Hier ist bemerkenswert, daß den oben erwähnten Reifizierungen in der Metaphorik von der traditionellen, oralen und skripturalen Alltagssemiose eine Tendenz zur Anthropomorphisierung der Automaten und Datenverarbeitungssysteme gegenübersteht (siehe Fiehler 1990: 121⫺122; vgl. auch Abb. 88.8): So gelten zum Beispiel Computer als Wesen mit eigener Sprache, als Dialogpartner, an die man
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Abb. 88.6: Die Leitungsmetapher vom alltäglichen Kommunizieren findet sich sowohl in der wissenschaftlichen Beschreibung als auch in ,volkssemiotischen‘ Darstellungen des Kommunikationsprozesses. Oben: Nach Saussures Darstellung der lautsprachlichen Kommunikation aus seinem Cours von 1916 verläuft diese auf dem Wege einer Linie. Unten: Auf diesem piktographischen Brief eines Indianerhäuptlings aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Weg der Mitteilung der Indianer des Adlerstammes (links) an den Präsidenten der USA (rechts im Weißen Haus) ebenfalls als Linie dargestellt (Quelle: Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie, Band 1: Die Sprache, Teil 1, 4. Auflage. Stuttgart 1921: 246).
Abb. 88.7: Reifizierung der Sprache: Die ,volkssemiotische‘ Vorstellung von Wörtern als Gegenständen, die mittels eines Trichters ihren Weg über das eine Ohr in den Kopf finden, über das andere ihn aber wieder verlassen können, illustriert diese Karikatur (Quelle: Konturen 1, 1992: 29).
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Abb. 88.8: Personifizierung der Maschinen: Der Computer in der Rolle eines menschlichen Partners (Quelle: Der Technologie-Manager 35.2, 1986: 3).
Fragen richten kann, denen man Befehle geben kann (nicht nur technische), die man loben kann oder über deren Unfähigkeit oder Unpäßlichkeit man klagen kann (vgl. Weingarten 1989).
5.
Einige allgemeine Spezifika der Alltagssemiose
Betrachten wir im folgenden einige Spezifika des Zeichengebrauchs im Alltagsleben, die sich zum Teil aus den obigen Prämissen, zum Teil auch aus weiteren Gesichtspunkten ergeben. Wir beginnen mit einigen allgemeinen Spezifika, bevor wir uns im nächsten Abschnitt Besonderheiten im alltäglichen Zeichengebrauch der letzten beiden Jahrhunderte zuwenden. (1) Indexikalität des Alltäglichen: In der Interpretation der Soziologen Berger und Luckmann (1966 ⫽ 1969: 25) ist „Alltag um das Hier meines Körpers und um das Jetzt meiner Gegenwart herum angeordnet“. Semiotisch wird mit dieser Umschreibung des Alltäglichen als des Gegenwärtigen (s. o. § 3.2.) die Indexikalität der Zeichen im Alltag angesprochen. Sowohl die Alltagssprache als auch die alltägliche nonverbale und öffentliche Alltagskommunikation ist essentiell situationsbezogen und somit von indexikali-
schen Zeichen geprägt. Assmann (1991: 11) begründet mit diesem Merkmal der Indexikalität auch die Opposition zwischen Alltag und Festtag: „Die Sprache des Alltags ist eine Sprache der Nähe, die uns mit den Zeitgenossen verbindet, die des Festtags ist eine Sprache der Distanz, die uns mit den Vorfahren verbindet.“ Für die Historiographie des Alltagslebens hebt Assmann (1991: 13) einen weiteren Aspekt der Indexikalität hervor: Zeichen des Alltäglichen einer historischen Kultur sind Spuren und Dokumente. Auf Nichtalltägliches verweisen demgegenüber Monumente als Botschaften einer inszenierten Kultur, die einerseits primär auf sich selbst verweist, andererseits auf die Nachwelt gerichtet ist. (2) Potentielle Ikonizität des Alltäglichen: Das Merkmal des repetitiv ewig Gleichen (s. o. § 3.1.) macht das Alltägliche zu einem potentiell ikonischen Zeichen. Lefebvre (1965 ⫽ 1975: 209) spricht im Zusammenhang seiner Kulturkritik der Maschinen und Automaten im alltäglichen Leben von der „Mimesis als repetitiver Praxis“. Die Ikonizität der Alltäglichkeit ist insofern nur eine potentielle, als der Prozeß der Bewußtwerdung vom immer Gleichen zu einer Krise und somit zu einer Durchbrechung des Alltags führt. (3) Alltägliche als nichtsymbolische Zeichen: In ihrer phänomenologischen Zeichen-
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theorie definieren Schütz und Luckmann (1984: 196) die Zeichen im Alltagsleben als Anzeichen, Merkzeichen oder Zeichen (im engeren Sinn). Gemeinsam ist diesen Zeichentypen, daß ihre Bedeutungsträger und das von ihnen „Mit-Vergegenwärtigte“ dem gleichen Wirkungsbereich, nämlich dem Alltag angehören. Dem stehen nach dieser Definition Symbole (in völlig anderem Sinn als bei Mukarˇovsky´) als Zeichen gegenüber, deren Zeichenträger auf andere Wirklichkeiten, wie zum Beispiel Traum, Rausch oder Ekstase, verweisen. (4) Dialogizität des Alltäglichen: Mit Bezug auf Bachtins Theorie der Dialogizität hebt Assmann (1991: 15 f) die dialogische Natur der alltäglichen Kommunikation hervor. Während das dialogische Wort „Grenzziehung weder duldet noch achtet und sich auf ein Spiel mit dem einrahmenden Kontext einläßt“ (1991: 16), tendiert das monologische Wort dazu, autoritätsgesichert, abgeschlossen und alltagsentrückt zu sein. (5) Alltägliches als ritualisiertes Zeichen: Alltägliche soziale Interaktion ist in weiten Bereichen durch Konventionen kodifiziert, die seit Goffman (1959 und 1967) als Interaktionsrituale bezeichnet werden: Regeln für Begrüßung und Verabschiedung, Bitten und Geben, Nehmen und Danken, Ehrerbietung und Rücksichtnahme, Höflichkeit, Etikette, Gesprächseröffnung und -beendigung sowie Normen der Direktheit bzw. Indirektheit in sozialen Interaktionen bilden die kulturell stark divergierenden Systeme der Riten des Alltags (vgl. zum Beispiel Werlen 1984). Der Grad der Befolgung von Ritualen in den westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts ist umstritten. Douglas (1970: 206) spricht von einer Tendenz zum Antiritualismus in heutiger Zeit. Soeffner (1988) hingegen erkennt in den aktuellen Tendenzen zur Überwindung institutionalisierten Zeichengebrauchs einen neuen „ritualisierten Antiritualismus“. (6) Alltägliches als automatisiertes Zeichen: Durch die Merkmale des Repetitiven (s. o. § 3.1.) und Gewohnten (s. o. § 3.2.) der Alltäglichkeit werden die Phänomene des Alltags zu automatisierten Zeichen (s. o. § 4.). Merkmale einer semiotischen Automatisierung sind, daß die Zeichen weniger bewußt und kognitiv stärker schematisiert sind (vgl. Mukarˇovsky´ 1932 ⫽ 1964: 19). Doch bedeutet die dem Alltäglichen inhärente Automatisierung nicht, daß das Alltagsleben notwendigerweise zur Stereotypie erstarrt: „Das tägli-
che Leben ist nicht unverrückbar fest; es kann verfallen, also sich ändern“, stellt Lefebvre (1958 ⫽ 1987: 229) fest. Es gibt eine kulturelle Dynamik des Alltagslebens, die über Prozesse der Entautomatisierung Gegenwelten des Alltäglichen schafft, welche einerseits aus dem Alltag herausführen können, andererseits aber auch wieder nur durch erneute Automatisierung in neue Alltagswelten übergehen können (siehe § 6.1.).
6.
Alltägliche Semiose und Zeichensysteme der industriellen Konsumgesellschaften
6.1. Beschleunigung der semiotischen Reproduktionszyklen Der Prozeß der Reproduktion von Zeichen, wie er sich aus der kulturellen Dynamik von Automatisierung und Deautomatisierung ergibt (vgl. auch Posner 1991: 63), beschleunigt sich in der Evolution der alltäglichen Zeichensysteme der industriellen Konsumgesellschaften mehr und mehr. Symptomatisch und mitursächlich für diese Entwicklung ist die zunehmende Verkürzung der Lebensdauer der zeichenhaften Alltagsobjekte. Wie Cavalli (1991: 201) bemerkt, „war früher das durchschnittliche Lebensalter der Dinge in der Regel länger als dasjenige der Menschen, die sie benutzten. Alltagsobjekte vergegenständlichten ein Stück des Familiengedächtnisses und wurden somit zu Symbolen der Kontinuität zwischen den Generationen.“ Unterstützt durch die Mechanismen der Werbung, werden im Zeitalter der Massenproduktion Konsumgüter immer mehr zu Zeichen und Marken(zeichen) (vgl. Nöth 1988 sowie Abb. 88.9), deren materieller und semantischer Gehalt sich mit jeder Mode oder Werbekampagne verändert. In immer kürzeren Produktionszyklen von Produkten und Nachrichten wird die Neuheit oder Sensation von gestern zum Alltag von heute. Zeichenwandel wird zu einem Ritual, zum „Ritus des Neuen in seiner unmöglichen Permanenz“, wie es Salabert (1992: 235) treffend formuliert. Die in der Produktion der Zeichen angelegte Kurzlebigkeit garantiert die Beschleunigung ihrer Reproduktionszyklen. 6.2. Neuere Geschichte alltäglicher Zeichensysteme Eine Geschichte der Zeichensysteme seit dem 19. Jahrhundert ist bisher ein bloßes Desiderat der semiotischen Historiographie. Einen Anfang in diese Richtung macht Krampens
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Abb. 88.9: Konsumgüter als Zeichen: Modeartikel mit Aufdruck des Herstellers illustrieren den Prozeß der Semiotisierung von Gegenständen des Alltags. Das Zeichen ist zudem polysem: Einerseits ist der Modeartikel Zeichenträger des Markenimages bzw. der Qualität, die die Herstellerfirma garantieren soll, andererseits wird der Modeartikel und die Person, welche dieser bekleidet, zum Träger einer Werbebotschaft (Quelle: Werbeprospekt).
(1988) Geschichte der Verkehrszeichen. Die allgemeine Historiographie des Alltags hat semiotische Themen entweder weitgehend ignoriert (zum Beispiel Kuczynski 1981⫺82) oder sie nur implizit im Zusammenhang mit kulturgeschichtlichen Einzelthemen wie Geld (hierzu aber Sedillot 1992), Verkehrswesen oder Mode erörtert (vgl. Braudel 1979). Thuilliers (1977) Alltagsgeschichte des 19. Jahrhunderts untersucht jedoch in einem besonderen Kapitel die neuere Geschichte der alltäglichen Zeichensysteme im Arbeitsleben, Haushalt, Verkehrs- und Kommunikationswesen. Zu den spezifischen Entwicklungen dieser Zeit zählt er (1977: 250 f) die zunehmende Ersetzung öffentlicher auditiver durch visuelle Zeichen (hierzu auch: Lefebvre 1968 ⫽ 1972: 158 f), die zunehmende, wenn auch unbewußte Beherrschung des Alltagslebens durch indexikalische Zeichen wie Kontrollsignale (Warnlampen, Überwachungssysteme), die Multiplikation von Verkehrszeichen und -leitsystemen, die Markierung von Wanderwegen und Badestellen durch Verbots-
X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
und Gebotsschilder aller Art, die Beschilderung von Straßen und Gebäuden sowie die Markierung von Produkten der Industrie und des Handels (vgl. Abb. 88.10). Derartige Zeichen werden inzwischen jedoch vielfach als „semiotische Umweltverschmutzung“ („semiotic pollution“) gebrandmarkt, und ihr Überhandnehmen wird im Rahmen eines verallgemeinerten Umweltschutzes bekämpft (vgl. Posner 1995 und 1998). Daneben findet sich in anderen Bereichen auch ein Rückgang traditioneller Zeichengebräuche, zum Beispiel in der Verwendung von Trauerkleidung oder Trachten der Kirchen und des Handwerks. Die Standardisierung der Zeitmessung, die Verkürzung der Zeiträume durch zunehmende Terminzwänge, die Pluralität der Räume und die Verkürzung der Distanzen zwischen den Kommunikationspartnern (vgl. Kern 1983) sind weitere neuere kulturgeschichtliche Entwicklungen mit tiefgreifenden Veränderungen für die Alltagssemiose. Symptomatisch für diese semiotische Transformation ist die Geschichte des Telefonierens in Europa (vgl. Abb. 88.11). Kern (1983: 316) interpretiert sie als einen Faktor, der mit zum Zusammenbruch der aristokratischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts führte, denn Telephone durchbrechen nicht nur geographische, sondern auch soziale Schranken: „Telephones […] make all places equidistant from the seat of power and hence of equal value. The elaborate protocol of introductions, calling cards, invitations, and appointments is obviated by their instantaneity; and the protective function of doors, waiting rooms, servants, and guards is eliminated by the piercing of their intrusive ring. Telephones penetrate and thus profane all places; hence there are none in churches.“ 6.3. Ideologiekritische Aspekte der Zeichen Neben der Kultur- und Mediengeschichte finden sich weitere Elemente einer Geschichte der Alltagssemiose in der Ideologiekritik der Konsumgesellschaft. Einige Stichpunkte hierzu sind: (1) Resemantisierung des Gebrauchswerts von Konsumgütern durch Ästhetisierung und diverse Gebrauchswertversprechungen (vgl. Haug 1971) in Form von Werbebotschaften (Nöth 1988) oder mittels zeichenhafter Verpackungen (siehe Keller 1977: 13 und Willis 1991; vgl. auch Abb. 88.12). (2) Desemantisierung des ästhetischen Zeichens im Prozeß der technischen Reproduktion der Kunstwerke (Benjamin 1963).
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
Abb. 88.10: Die Multiplikation von Zeichen im alltäglichen Schilderwald des Straßenverkehrs von Boston (Quelle: City Signs and Lights, Cambridge MA 1973: 8).
Diese von den Gralshütern (oder Apokalyptikern: Eco 1964) der „Hochkultur“ vertretene These von der Sinnentleerung der reproduzierten Kunst in der Massengesellschaft ist allerdings im Zeichen der Postmoderne nicht unwidersprochen geblieben: Statt Desemantisierung werden auch hier vielmehr diverse Prozesse der semiotischen Umdeutung, also Resemantisierung, konstatiert (siehe Treinen 1978, Thompson 1979; vgl. auch Abb. 88.13). (3) Einen Verfall des Referentiellen seit Anfang des 20. Jahrhunderts glaubt Lefebvre (1968 ⫽ 1972: 157 f) feststellen zu können: „Vor hundert Jahren herrschten solide Referentielle im Gebiet des Sprechens und der Rede, im sozialen Kontext […]. Die Einheit des Referentiellen zeigt sich […] in der Vernünftigkeit oder im gesunden Menschenverstand, in der sensiblen Wahrnehmung (euklidischer Raum mit drei Dimensionen, Uhrzeit), in der Auffassung von der Natur, im historischen Gedächtnis, […] in der allgemein akzeptierten Ästhetik […]. Seit den Jahren 1905⫺1910 jedoch fallen die Referentiellen, eines nach dem anderen, unter Pressionen verschiedener Art (Wissenschaft, Techniken, gesellschaftliche Veränderungen) […]. Der absolute Charakter des Realen verschwindet für den ,gesunden Menschenverstand‘. Dieses
Reale der wohl-informierten (oder dafür gehaltenen) Wahrnehmung wird ersetzt oder überlagert durch ein anderes Reales, für eine andere sensible Welt. Die funktionellen und technischen […] Objekte ersetzten die traditionellen Objekte […]. Die Herrschaft der Elektrizität, des elektrischen Lichtes, der elektrischen Signalisierung, der elektrisch bewegten und kommandierten Objekte beginnt um 1910. Diese bedeutende Neuerung berührte nicht nur die Industrieproduktion, sie drang in die Alltäglichkeit ein; sie veränderte die Beziehungen zwischen Tag und Nacht, die Wahrnehmung der Konturen.“ Eine Illustration für den Verfall des Referentiellen gibt Abb. 88.14. (4) Eine Brechung der Einheit zwischen Signifikant und Signifikat seit 1900 postuliert Lefebvre (1968 ⫽ 1972: 159, 166) als Folge dieses Verfalls des Referentiellen (vgl. Abb. 88.15). Er illustriert sie mit dem Phänomen der Verselbständigung des Signifikanten in der Malerei des Kubismus und des Signifikats im Expressionismus sowie durch folgende Interpretation der Beziehung zwischen Bild und Text in den Medien (1968 ⫽ 1972: 166 ff): „Man stellt diese Erscheinung [des Sichloslösens der Signifikanten und der Signifikate] fest, wenn man beschreibt, wie irgendein Bild ⫺ zum Beispiel ein Photo
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 88.11: Die Geschichte des Telefons. Oben: Um die Jahrhundertwende sollte, wie diese Anzeige erläutert, ein „Sprachverdoppler“, bestehend aus zwei Telefonhörern, die Effizienz telefonischer Kommunikation mit einem Gesprächspartner steigern. Unten: Heute verwenden Börsenmakler zwei Telefone, um mit zwei Gesprächspartnern gleichzeitig zu kommunizieren (Quellen: Kuckucksuhr mit Wachtel, München 1967: 142 und: Das Jahr im Bild 1984, Reinbek 1984: 94).
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Abb. 88.12: Den Prozeß der Resemantisierung eines Gebrauchsgegenstandes illustriert diese Werbeanzeige: Aus einer Zigarettenschachtel aus Goldpapier neben einem goldgerahmten Kunstwerk wird ein „gilt edged asset“, d. h. ein ,mündelsicheres Wertpapier‘ (Quelle: Time, 18. 2. 1974).
⫺ mehrere Bedeutungen hat, die von der Sprache des Kommentators expliziert werden, der sich übrigens täuschen, zuviel oder zuwenig sagen und die ,eigentliche Bedeutung‘ verfehlen kann. Der Verfall der Referentiellen verallgemeinert dieses Sichloslösen. Aus Mangel an einem Referentiellen und einem Code, die die Gemeinplätze liefern (die ,Topoi‘ oder die ,Koina‘, die gesellschaftliche Topik), ist die Artikulation zwischen den beiden Seiten der Zeichen nicht mehr gesichert. Wir haben schon aufmerksam gemacht auf die Existenz dieser fließenden, sinnlosen Massen von Signifikanten (irrende Bilder in unserem Bewußtsein und in unserem Unbewußten). Früher waren die Kunstwerke signifikante, den Sinnen […] dargebotene, aber nicht fließende Massen. Die ,Zuschauer‘ oder die ,Zuhörer‘, die nicht
ausschließlich und nicht teilnahmslos Zuschauer und Zuhörer waren, brachten den Signifikanten das Signifikat bei […]. Jeder (der Beteiligten) wußte, wie man Signifikate im Signifikanten wiederfinden konnte, und umgekehrt […]. Da [heute] das Referentielle fehlt, kann man die Unsicherheitsspanne nur schwer füllen. Im Zeichenkonsum verbraucht man massiv, unterschiedslos, Signifikanten. Das Anheften geschieht irgendwie, irgendwo. Ein Teil-,System‘ kann auf diese Weise verfügbare Signifikanten auffangen. Zum Beispiel die Mode. Man sagt alles mit Kleidern, wie mit Blumen: die Natur, den Frühling und den Winter, den Morgen und den Abend, das Fest und die Trauer, den Wunsch und die Freiheit […]. Für dieses Anheften übernimmt die Autorität die Verantwortung. Sie kann alles, oder fast alles aufzwingen […]. Das Anheften, die Anpassung von Signifikaten und
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Abb. 88.13: Die Desemantisierung ästhetischer Zeichen aus der Tradition der christlichen Ikonographie durch den Kontext des Alltagslebens zeigt dieses Kalenderblatt „Angel of the Asphalt“ aus dem Jahr 1954 (Quelle: C. Olalquiaga, Megalopolis, Minneapolis 1992: 47).
Signifikanten vollzieht sich aber gemeinhin, eher schlecht als recht, im Alltagsleben […]. Man teilt die Signifikate, so gut es geht, den Signifikanten zu, wobei jeder behauptet, recht zu haben. Was den faszinierenden Charakter der Zeichen ziemlich gut erklären würde […]. Immer in unserer Reichweite, setzen sie sich an die Stelle der Handlungen, und das Interesse für die Werke wird auf die Zeichen transferiert.“ (5) Die serielle Äquivalenz der Zeichen und eine von den Kodes beherrschte simulierte Semiose sind nach der semiotischen Kulturkritik Baudrillards (z. B. 1976) die zwei dominierenden Schemata der Alltagssemiose seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Die erste Phase in dieser Entwicklung ist die Entstehung von Zeichen in der Rolle des industriellen Simulakrums (1976 ⫽ 1982: 87): „Mit der industriellen Revolution zieht eine neue Generation von Zeichen und Gegenständen herauf. Zeichen ohne die Tradition einer Kaste, Zeichen, die niemals Beschränkungen durch einen Status gekannt
haben ⫺ die also nicht imitiert werden müssen, weil sie von vornherein in gigantischem Ausmaß produziert werden. Bei ihnen stellt sich das Problem der Einzigartigkeit und des Ursprungs nicht mehr: die Technik ist ihr Ursprung und sie haben nur in der Dimension des industriellen Simulakrums einen Sinn. Ihre Voraussetzung ist die Serie, das heißt die Möglichkeit, zwei oder n identische Objekte zu produzieren. Zwischen ihnen besteht kein Verhältnis wie zwischen Original und Imitation, auch kein Verhältnis der Analogie oder Spiegelung, es herrscht die Äquivalenz, die Indifferenz.“ Die zweite Phase in der Genese von Zeichen als Simulakra beginnt nach Baudrillard im Zeitalter der Kybernetik. Ihr Paradigma ist nicht nur die Steuerung der Semiose im technisierten Alltagsleben, sondern sogar die Steuerung des Lebens durch den genetischen Kode. Da die von den Kodes produzierten Zeichen in ihrer Struktur im voraus festgelegt sind, ist die alltägliche Semiose in Baudrillards kulturpessimistischer Einschätzung zur bloßen Simulation degeneriert. Als para-
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
Abb. 88.14: Den Verfall des Referentiellen im ländlichen Alltagsleben veranschaulicht das Ölbild „Bauernbild (Industriebauern)“ des Dadakünstlers Georg Scholz aus dem Jahr 1920 (Wuppertal, Von-der-Heydt-Museum). Es zeigt den Verfall der traditionellen ländlichen Lebensformen im Prozeß der Maschinisierung der Landarbeit.
digmatisch für diesen Prozeß interpretiert Baudrillard (1976 ⫽ 1982: 97) die Praxis der Volksbefragungen: „Die Digitalität ist unter uns. Sie ist es, die in allen Mitteilungen, in allen Zeichen unserer Gesellschaft herumspukt. Die konkreteste Form, in der man sie festmachen kann, besteht im Test, in Frage/ Antwort, in Reiz/Reaktion. Alle Inhalte werden durch eine unaufhörliche Prozedur von gelenkten Befragungen, von zu decodierenden Verdikten und Ultimaten neutralisiert […]. Der Zyklus der Bedeutung wird dabei unendlich verkürzt zum Zyklus der Frage/ Antwort, des Bit, der kleinsten Einheit von Energie/Information, der auf seinen Ausgangspunkt zurückverweist und dabei nur die ständige Reaktualisierung desselben Modells darstellt […]. Wir leben nach dem Modus des Referendums, gerade weil es keine Referenz mehr gibt. Jedes Zeichen, jede Botschaft […] präsentiert sich uns als Frage/Ant-
wort. Das ganze Kommunikationssystem ist von einer komplexen syntaktischen Sprachstruktur zu einem binären, signalartigen System von Frage/Antwort ⫺ zum permanenten Test übergegangen. Test und Referendum sind aber bekanntlich perfekte Simulationsformen: die Antwort wird durch die Frage induziert, sie wird im voraus be-zeichnet. Das Referendum ist also immer nur ein Ultimatum […]. Das Simulakrum der Distanz (oder sogar des Widerspruchs) zwischen den beiden Polen ist, wie die Wirkung des Realen im Inneren des Zeichens selbst, nur eine taktische Halluzination“ (vgl. Abb. 88.16).
7.
Konstruierte Alltäglichkeit und Nichtalltäglichkeit
Die Bestimmung des Alltäglichen als des petitiven, Gegenwärtigen, Gewohnten und Gewöhnlichen (s. o. § 3.) lassen Objekte wie
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 88.15: Die Brechung der Einheit zwischen Signifikant und Signifikat vollzieht sich radikal in R. Magrittes „La table, l’oce´an, le fruit“ aus dem Jahr 1927 (Quelle: Ausstellungskatalog Lausanne 1987, Kat. Nr. 13).
Reißnägel, Briefumschläge, Plastikgabeln (vgl. Danto 1981: 149), Flaschentrockner, Seifenkartons oder Urinale (vgl. Nöth 1972: 136 und Keller 1977) und Handlungen wie Autofahren, Sichrasieren (s. o. Abb. 86.3), Schuhezubinden (Parret 1988: 17) oder Fensteröffnen und -schließen (vgl. Nöth 1972: 8) als Musterbeispiele des Alltäglichen erscheinen. Dennoch ist die Alltäglichkeit dieser Artefakte und Handlungen nur eine potentielle. Ihre Aktualisierung in tatsächlichen Wahrnehmungsakten hängt zusätzlich von dem ab, was die Phänomenologen „Einstellung“ oder die phänomenologischen Strukturalisten „Funktion“ genannt haben (s. o. § 3.2. und § 4.1.). Diese Ambivalenz zwischen einer potentiellen, in äußeren Merkmalen begründeten, und einer aktuellen, vom Subjekt konstruierten Alltäglichkeit ins Bewußtsein zu rufen, ist eine spezifische Tendenz der semiotischen Praxis des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt sich in zwei scheinbar diametral entgegengesetzten (vgl. Nöth 1987), aber dennoch partiell konvergierenden (vgl. Kloepfer und Landbeck 1991) Bereichen, einerseits der Kunstpraxis und andererseits der Medienrealität. In der Kunstpraxis begann der Dadaist Duchamp damit, Artefakte wie ein Urinal
oder einen Flaschentrockner aus ihrer Alltäglichkeit heraus in die Kategorie des Kunstwerkes zu überführen. Dem Pop-Art-Künstler Andy Warhol gelang Ähnliches mit seinen Brillo-Seifenkartons. Daneben erklärten die Erfinder der Kunstrichtungen Happening und Event auch höchstalltägliche Handlungen wie das bloße Öffnen und Schließen eines Fensters zum Kunstwerk (siehe Nöth 1972; vgl. auch Abb. 88.17). Die durch solche Aktionen ins Bewußtsein gerückte Ambiguität zwischen dem Ästhetischen und dem Alltäglichen, dem Sublimen (Parret 1988) und bloßer Reklame oder sogar Abfall (Thompson 1979) hat nicht nur die Semiotik der Kunst zu einer Neubestimmung des Ästhetischen aus dem Phänomen der „Verklärung des Gewöhnlichen“ (Danto 1981) durch ästhetische Wahrnehmung veranlaßt, sondern zugleich auch Spezifika der alltäglichen Semiose verdeutlicht (vgl. Abb. 88.18). Weniger beabsichtigt als in der Kunst ist die Einsicht in die Konstruiertheit des Unterschieds zwischen dem Alltäglichen und dem Nichtalltäglichen in den Massenmedien. Die hier relevanten Ambiguitäten zwischen den beiden Kategorien sind vielfältig. Eine von ihnen liegt darin, daß der Medienkonsum
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
Abb. 88.16: Test und Referendum als perfekte Simulationsformen: Die Antwort ist in der Frage enthalten. Hier das Beispiel eines Preisausschreibens aus einer Werbeanzeige in der Programmzeitschrift TV Spielfilm.
selbst aus der Kategorie des Nichtalltäglichen zur Kategorie der Alltäglichkeit übergewechselt ist (s. o. § 3.2.), so daß nun nicht mehr deutlich ist, ob der Konsum der Medien aus der Alltäglichkeit heraus oder in die Alltäglichkeit hinein führt. Eine andere relevante Ambiguität besteht zwischen dem Alltäglichen und dem Sensationellen, über das die Medien berichten. Die Opposition zwischen diesen Kategorien wird in zwei Richtungen durchbrochen. Zum einen wird das eigentlich Sensationelle, wie Krieg, Mord oder Hungersnöte, durch Wiederholung und Gewöhnung zum Alltäglichen: Nichts ist eben alltäglicher als die Sensationsnachricht von gestern (s. o. § 6.1.). Zum andern wird in der Praxis der Massenmedien das Alltägliche zum Sensationellen. Für den Prozeß der Transformation des Alltäglichen durch die Praxis der Berichterstattung gibt Lefebvre (1958 ⫽ 1987: 330⫺331) die folgende kritische Analyse:
„Funk und Fernsehen dringen in den Alltag nicht nur auf Seiten des Empfängers ein. Sie suchen ihn an der Quelle: personalisierte Anekdote (an der Oberfläche), vermischte Nachrichten, kleine Ereignisse aus Familie und Nachbarschaft. Ihre Grundlage ist das unausgesprochene Prinzip: Alles, d. h. jedes beliebige Geschehen kann interessant und sogar fesselnd werden, sofern es nur präsentiert, d. h. präsent gemacht wird. Die Kunst der Präsentation des Alltäglichen, die es aus seinem Kontext löst und herausstreicht, es als ungewöhnlich oder pittoresk einfärbt und mit Bedeutungen auflädt, hat einen hohen Grad an Perfektion erreicht. Dabei wird doch immer nur das Alltägliche präsentiert, auch wenn das Leben hoher oder glänzender Persönlichkeiten durch Vermittlung der Sprecher oder ,Moderatoren‘ in Presse und Rundfunk auf solche Art ,präsentierbar‘ gemacht wird […]. Im äußersten Fall
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X. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Abb. 88.17: Alltägliche Praxis als ästhetische Handlung: Events des Fluxus-Künstlers George Brecht (Quellen: H. Sohm (ed.), Happening & Fluxus, Katalog Kölnischer Kunstverein 1970 und Charles Dreyfus, Happening & Fluxus, Paris: Gale´rie du Ge´nie 1989: 34).
verlieren das Zeichen und die Bedeutungen […] jeden Sinn. An der äußersten Grenze taucht der Schatten dessen auf, was wir den ,großen Pleonasmus‘ nennen werden: […] das Alltägliche, das zu Protokoll genommen
wird, so wie es im Alltäglichen sich darstellt, […] die ständige Wiederholung des immer Gleichen, […] die ,aktuellen‘ Nachrichten, die doch nur immer das längst Bekannte bringen.“
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88. Zeichenkonzeptionen im Alltagsleben
Abb. 88.18: Die Verklärung des Alltäglichen: Geschirr und Speisereste als Kunst. Sogenanntes „Fallenbild“ (Objekte) des Eat-Art-Künstlers Daniel Spoerri (1972). Quelle: Charles Dreyfus, Happening & Fluxus, Paris: Gale´rie du Ge´nie 1989: 34.
8.
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Winfried Nöth, Kassel (Deutschland)
Abb. 89.1: Übersichtskarte zu Vorderasien.
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik History of Non-Western Semiotics 89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient 1. Einleitung 2. Das sprachliche Zeichen 2.1. Schrift 2.2. Lexikographie, Semantik, Grammatik 3. Das wissenschaftliche Zeichen 3.1. Mathematik 3.2. Astronomie und Kalender 3.3. Medizin 4. Das religiöse Zeichen 4.1. Kultische und magische Praktiken 4.2. Mythos und Ätiologie 5. Das künstlerische Zeichen 5.1. Kunst und Literatur 5.2. Musikalische Praxis 6. Das historische Zeichen 6.1. Historiographie 6.2. Zukunftsdeutungen 7. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
In vorliegendem Artikel wird der Begriff „Zeichenkonzeption“ im Sinne der expliziten Anerkennung des semiotischen Charakters (d. h. „A interpretiert B als Zeichen für C“; vgl. Art. 2⫺5) eines altorientalischen Kulturphänomens und dessen Einbindung in einen empirischen oder wissenschaftlichen Rahmen, also im Sinne eines intrakulturellen Bewußtseins interpretiert; denn die gleichzeitige Behandlung impliziter semantischer Beziehungen (vgl. die Diskussion in Eco 1983, 79 ff und in Art. 34), insbesondere unter Heranziehung interkultureller Erwägungen, würde einer Gesamtkulturgeschichte der altorientalischen Welt gleichkommen. Im folgenden werde ich auf einige Bereiche altorientalischen Denkens bzw. Handelns hinweisen, in denen sich das Bewußtsein einer Opposition zwischen Denotation und Konnotation(en) eines kulturellen Zeichens, zwischen dessen Grundbedeutung und dessen weiteren Interpretationsmöglichkeiten manifestiert. Ganz im Sinne einer „monumentalischen“ Historie der Semiotik (vgl. Trabant 1981, 41 ff) wurde hier der Berücksichtigung
der zwei größeren altorientalischen Bereiche, nämlich Ägypten und Mesopotamien, der Vorzug gegeben.
2.
Das sprachliche Zeichen
2.1. Schrift Die zwei wichtigsten altorientalischen Schriftsysteme (Gelb 1963, 60⫺205; Andre´-Leicknam und Ziegler 1982), das hieroglyphische in Ägypten und das keilschriftliche in Mesopotamien, kristallisierten sich in derselben historischen Phase heraus, und zwar der der Herausbildung einer staatlich organisierten „Hochkultur“ im Niltal bzw. in Sumer zwischen dem Ende des 4. und dem Beginn des 3. Jahrtausends v. Chr. Während jedoch das ägyptische System über seine ganze Geschichte hinweg am ikonischen Charakter der Schrift festhielt und sogar deren ikonisches Potential zu einem Mittel der Weltinterpretation ausbaute, schlug die Keilschrift sehr bald (um die Mitte des 3. Jahrtausends) den Weg der Loslösung des Schriftzeichens vom ursprünglichen piktographischen Gehalt und dessen Verselbständigung als semantisch oder phonologisch markierten Symbols ein. Die ägyptische Hieroglyphenschrift (Schenkel 1984, 713 ff) besteht aus einer zeitlich variierenden Zahl piktographischer Zeichen (ca. 1000 im Alten Reich, ca. 750 im klassischen System des 2. Jahrtausends, einige Tausend in ptolemäischer und römischer Zeit), von denen jedes ein Lebewesen oder einen Gegenstand repräsentiert. Prinzipiell bot dieses System zwei denotative und einen konnotativen Anwendungsbereich, wobei alle diese Bereiche in der Geschichte der ägyptischen Schrift unterschiedliche Verwendung fanden. Denotativ ließen sich mit diesem System beide sprachlichen Artikulationsebenen ansprechen: zum einen konnte in der Verwendung des Zeichens das semantische Moment, d. h. die Beziehung zwischen dem hierogly-
1786
Abb. 89.2: Übersichtskarte zu Ägypten.
phischen Zeichen und dessen ikonischem Gehalt („Semogramm“) privilegiert werden, in welchem Fall das Zeichen die direkt dargestellte oder eine metonymische Entität bezeichnete, zum anderen das phonologische Moment, d. h. die Beziehung zwischen dem hieroglyphischen Zeichen und der Lautstruktur der sprachlichen Bezeichnung des repräsentierten Objektes („Phonogramm“), in welchem Fall sich das Zeichen (nach dem RebusPrinzip) auch für gleichlautende Sequenzen eignete. Bei der Priorität des semantischen Moments unterscheidet man den „ideographischen“, in dem semantische Bedeutung
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
und lautliche Gestalt des betreffenden Wortes kombiniert erscheinen, vom „determinativischen“ Gebrauch des Zeichens, wenn es zur näheren Bestimmung des lexikalischen Bedeutungsfeldes dient; bei der Priorität der zweiten Artikulationsebene gilt ein Zeichen als selbständiges „Phonogramm“, wenn es eine neue Sequenz von einem, zwei oder drei Phonem(en), als „phonetisches Komplement“, wenn es bestimmte Phoneme eines vorangehenden (seltener: nachfolgenden) mehrkonsonantischen Phonogramms expliziert. Generell besteht ein klassisches ägyptisches Wort entweder aus einem Ideogramm (mit oder ohne phonetische Komplemente) oder aus einer Folge von Phonogrammen, denen zur näheren Bedeutungsbestimmung bzw. zur Unterscheidung zwischen Homophonen in der Regel ein Determinativ folgt. Beispiel 1: das hieroglyphische Zeichen , Darstellung des Grundrisses eines Hauses. I. Als SEMOGRAMM: (a) ideographisch (PR ⫹ ‘Einheit’) ⬅ /prw/ ‘Haus’; (b) determinativisch (/c/ ⫹ /t/ ⫹ PR) ⬅ /cwt/ ‘Kammer’. II. Als /Phonogramm/: (/pr/ ⫹ /r/ ⫹ ‘gehen’) ⬅ /prj/ ‘herausgehen’. Die Kombinierbarkeit der Funktionen eines Zeichens legt die graphische Konvention (ab 2000 v. Chr.) fest. Beispiel 2: in der folgenden Transkription des auf Seite 1787 oben wiedergegebenen klassischen Satzes werden zu integrierende phonologische Werte in Klammern wiedergegeben, morphologische Suffixe durch einen Punkt vom Grundlexem getrennt, und zu ein und demselben Wort gehörige Elemente durch ein Plus-Zeichen aneinandergeknüpft. 1 /dß (d)/ 2/md(ww)/ 3/j/⫹4/n/ 5/gb/⫹6/b/ 8 11 ⫹7‘GOTT’ /hø /⫹9/n/⫹10/c/ /psdß /⫹12/t/ 13-14-15 16 ⫹ ‘GÖTTER’⫹ /f/ ⫺ dß d mdw.w jn Gb hø nc Psdß .t.f ⫺ 2Worte 1zu rezitieren 3-4seitens 7(des Gottes) 5-6Geb 8-9-10mit 16seiner 13-14-15Götter11 Neun-12heit. Konnotativ bot sich innerhalb dieses Systems die Möglichkeit, die bestehende Konvention durch zweierlei Eingriffe zu brechen: (a) durch eine Markierung des Zeichens als Widerspiegelung einer weltanschaulichen Einstellung zu dessen ikonischer bzw. symbolischer Bedeutung: etwa Voranstellung eines religiös oder königlich markierten Zeichens aus Ehrfurcht in positiver, apotropäische Zeichenverstümmelung in negativer Richtung (vgl. van Peer 1994); (b) durch akrostische Reduktion des phonologischen Wertes eines Zeichens bzw. Verlagerung dessen primärer
89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
Funktion vom phonologischen auf den ikonisch-symbolischen Gehalt, wodurch neue sinnkonstitutive Assoziationen entstanden (Kryptographie). Von den Verfahren unter (a) wurde kontinuierlich, von denen unter (b) vornehmlich in ptolemäischer und römischer Zeit Gebrauch gemacht. In diesen konnotativen Möglichkeiten der Hieroglyphenschrift liegt auch der Grund, weshalb das Vorhandensein eines kompletten Satzes von 24 monokonsonantischen Zeichen (die mit Ausnahme des Phonems /l/ dem ägyptischen Phoneminventar entsprachen) nie zur Entwicklung einer alphabetischen Schrift führte und diese erst im Koptischen in der Form der griechischen Schrift Eingang fand: so wie in anderen Bereichen (Glück 1987, 113⫺118) läßt sich auch im Alten Orient eine enge Beziehung zwischen Schrift und herrschender religiöser Weltanschauung feststellen. Der Entstehung der Keilschrift (Edzard 1976⫺80, 544 ff) liegen ähnliche semiotische Prinzipien zugrunde, wobei aber ihre Entwicklung von zwei der Hieroglyphenschrift unbekannten Faktoren gekennzeichnet wurde: (a) die Adaptierung des ursprünglich sumerischen Systems für die Notation anderer Sprachen, insbesondere des Akkadischen, und (b) die De-Ikonisierung des figürlichen Gehalts des Zeichens. Die schon in der altsumerischen Stufe belegte Möglichkeit einer primären Berücksichtigung der zweiten Artikulationsebene eines Zeichens erfuhr durch die Adaptierung des Systems für die Notation des Akkadischen erweiterte Anwendung, wobei dann das keilschriftliche Zeichen folgende Funktionen erfüllen konnte: (a) als Ideogramm des Sumerischen bzw. des Akkadischen, in welchem Fall das sumerische Logogramm auch in dessen akkadischer Entsprechung gelesen (und transkribiert) werden kann: z. B. das Zeichen AN, de-ikonisierte Darstellung eines Sternes: (später ), sumerisch /anu/ ‘(der Himmelsgott) Anu’; metonymisch /anu/ ‘der Himmel’ bzw. /din-
1787
gir/ ‘Gott’; akkadisch /Sˇamu¯/ ‘der Himmel’ bzw. /ilu/ ‘Gott’; (b) als vorangestelltes Determinativ eines sumerischen bzw. akkadischen Wortes: DINGIRAMAR.UTU ⫽ akkadisch /marduk/ ‘(der Gott) Marduk’; (c) als sumerisches bzw. akkadisches Phonogramm, das eine Silbe der jeweiligen Sprache notiert: /an/ bzw. /il/ etc. Der Zeichensatz beträgt in klassischer Zeit (je nach Textgattung) von 100 bis 600 Zeichen. Die syllabische Natur der phonologisch gebrauchten Keilschrift sowie deren De-Ikonisierung haben deren Anwendung für die Notation anderer Sprachen (Eblaitisch, Elamisch etc.) begünstigt, wobei die extreme Reduzierung in Richtung auf den alphabetischen Gebrauch zur Entwicklung eines Zeichensatzes führt, der für jedes konsonantische Phonem der Sprache nur ein (vokalisch unmarkiertes) Zeichen bietet: den ersten dieser Versuche stellt das ugaritische Syllabar dar (Mitte des 2. Jahrtausends), dessen Zeichen keilschriftförmig sind, während die westsemitischen Alphabete des 1. Jahrtausends das Prinzip, nicht aber die äußere Gestalt der Schriftzeichen weiterführen, für die sie sich eher am hieroglyphischen Zeichensatz orientieren. Die schriftliche Privilegierung des konsonantischen Inventars wurde durch die grammatische Struktur der semitischen Sprachen nahegelegt, die rein konsonantische lexikalische Wurzeln mit einer im Vergleich zum Indogermanischen sehr festen syntaktischen Typologie kombinieren (Andre´-Leicknam und Ziegler 1982, 172 ff sowie Posner 1983, 315 ff). ⫺ Zu anderen frühen Schriftsystemen vgl. Art. 32 §§ 4. und 7., Art. 37 § 3., Art. 61, Art. 90 § 3., Art. 92 § 1.3., Art. 93 § 2., Art. 94 § 5. und Art. 95 § 2. 2.2. Lexikographie, Semantik, Grammatik Weit verbreitet ist in der altorientalischen Welt die listenförmige Aufzeichnung lexikalischer Kategorien. Ihnen liegt die abstrakte Auffassung der Welt als eines geordneten En-
1788 (Zeit)
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
⫺3300
⫺2800
⫺2400
⫺1800
⫺700
Stern
Erde
Mann Schamdreieck ⬎ Frau Frau ⫹ Berge ⬎ (fremde) Sklavin Vogel Fisch
Kuh
Gerste
Abb. 89.3: Beispiele diachronischer De-Ikonisierung keilschriftlicher Zeichen.
sembles zusammengehöriger „Nomina“ zugrunde, die den Inhalt der Schöpfung bezeichnen. Das idealistische Prinzip, nach dem der Name eines Lebewesens bzw. eines Gegenstands überhaupt das Merkmal seiner Existenz darstellt (vgl. das Bedeutungsfeld von ägyptisch mdt oder hebräisch da¯ba¯r zwischen ‘Wort’ und ‘Entität’), läßt sich sowohl in Ägypten (vgl. die Schöpfung der Götter und der Menschen durch “Herz” und “Wort” des Schöpfergottes in der memphitischen Theologie) als auch im vorderasiatischen Raum (man denke an Jahwes Auftrag an Adam, den Elementen der Schöpfung einen Namen zu verleihen; Gen. 2,19) nachweisen. In Ägypten (Grapow und Westendorf 1970) bilden Onomastika mit Bezeichnungen für Himmel und Gestirne, Gewässer, Personengruppen, Städte, Völker, Listen der Körperteile, geographische Listen ägyptischer
Gaue und vom König besiegter Völker sowie Götterlisten in topographischen Unterweltsbüchern den Hauptgegenstand lexikalischer Kategorisierung (vgl. Wiese 1994). Das Bewußtsein der Rolle des sprachlichen Zeichens für das Verständnis ideationaler Verhältnisse entnimmt man der kulturellen Relevanz des metonymischen „Wortspiels“ als Vehikel zur Erkennung semantischer Assoziationen bzw. zur Herausbildung einer „Wissenschaft der Etymologie“ (Junge 1984, 263⫺ 268). Das Verfahren der Übersetzung von einer älteren in eine jüngere Sprachstufe wurde sowohl im rituellen als auch im literarischen Diskurs angewendet (Roccati 1986, 833 ff). Zur ägyptischen „Linguistik des Zeichens“ gehören auch Ansätze einer strukturalen Trennung zwischen Zeichen und Bedeutung, wie sie etwa Kreuzworttexte religiösen Inhalts zum Ausdruck bringen (Stewart 1971, 87 ff).
1789
89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
In allen Keilschriftkulturen treten neben den lexikalischen Listen des beschriebenen Typs (Cavigneaux 1980⫺83) auch geordnete Listen von Verbalformen und Bilinguen auf (Krecher 1976⫺80), die Hilfsmittel zur Erlernung des Sumerischen sowie (von der altbabylonischen Zeit an) geordnete Listen grammatischer Formen boten. Somit kann man von einer mesopotamischen „Linguistik des Wortes“ sprechen, zumal in jüngeren Listen auch Erläuterungen von Synonymen und Homonymen und Auflistungen gleichartiger Satzaussagen vorgenommen werden. Für das Bewußtsein sprachlicher Oppositionen spricht das Vorhandensein eines hymnischen Dialektes des Sumerischen namens eme-sal, dem möglicherweise eine weibliche Sprachvariante zugrunde lag (Thomsen 1984, 285⫺294). Auch in den anderen Keilschriftkulturen des 2. Jahrtausends (Hethiterreich, Ugarit) entwickeln sich drei- bzw. viersprachige Listen, mit denen lexikalische Klassen der Kultursprache Sumerisch sowie der Handelssprache Akkadisch auf der Basis lokaler Sprachen erlernt werden konnten. Das Bewußtsein des alphabetischen Charakters des Schriftsystems sowie dessen konventionell festgesetzter Zeichenfolge vermitteln etwa ugaritische Tafeln mit der Sequenz des Alphabets (Andre´-Leicknam und Ziegler 1982, 178) bzw. der Gebrauch alphabetisch geordneter akrostischer Verfahren in der biblischen Poetik (vgl. Psalm 25).
3.
Das wissenschaftliche Zeichen
3.1. Mathematik Sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien ist eine Orientierung eines aus positiven rationalen Zahlen (d. h. natürlichen Zahlen von der 1 an sowie absteigenden Potenzen) bestehenden rechentechnischen Inventars an der Lösung praktischer, insbesondere geometrischer Aufgaben eher als an der Formulierung theoretischer Gesetze festzustellen (Neugebauer 1957). Noch unbekannt sind im Alten Orient die negativen Zahlen sowie die Null, die zum ersten Mal in Ptolemäus’ Almagest (2. Jh. n. Chr.) zur Darstellung der fehlenden Angabe von Minuten und Sekunden in der Winkelmessung (o, möglicherweise als Abkürzung des Wortes oyœde¬n ‘nichts’) gebraucht, aber erst in der indischen (um 500 n. Chr.) und dann in der arabischen Arithmetik in das Notationssystem integriert wird (vgl. Art. 51 § 2. sowie Art. 90 § 17. und Art. 92 § 5.2.).
Seit der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends liegen ägyptische mathematische Texte vor (Reinecke 1980, 1237 ff); schon im 3. Jahrtausend bezeugen jedoch die großen Bauten des Alten Reiches (etwa die Pyramiden) verfeinerte Rechentechniken. Das Rechensystem ist dezimal: jede der 100, …, 106-Potenzen wird durch ein spezifisches Schriftzeichen wiedergegeben, wobei diese vom höchsten bis zum niedrigsten additiv aneinandergefügt werden: 100 Ⳏ
1: senkrechter (ev. auch waagerechter) Strich t (w¤jw) 10: stehender (ev. auch waagerechter) Bügel ∩ (mdß w) 100: Strick (sˇ (n)t)
101 Ⳏ 102 Ⳏ 103 Ⳏ
1000: Lotuspflanze
104 Ⳏ 105 Ⳏ
(h˚ ’,)
10 000: stehender Finger 100 000: Kaulquappe
(dß b¤ )
(hø fn)
106 Ⳏ 1 000 000: sitzende Gottfigur
(hø hø )
Beispiel: ⫽ 142.357 Die Multiplikation erfolgt durch Anwendung des dyadischen Verfahrens bzw. durch Halbierung und Multiplikation mit 10, die Division durch Approximation des Dividenden mit dyadisch ermittelten Vielfachen oder mit Teilen des Divisors und Ausdruck des verbleibenden Restes in Bruchteilen des Divisors. Ein Merkstrich signalisiert die Kennziffern, deren Addition das Resultat der Multiplikation bzw. der Division ergibt. Beispiele: 14 ⫻ 80 1 \ 10 2 \ 4 Resultat:
80 800 160 320 1120
19 : 8 1 8 \ 2 16 ½ 4 \¼ 2 \⅛ 1 Resultat: 2⫹¼⫹⅛
Im Bereich rationaler Zahlen ist außerdem die Bruchrechnung bekannt, wobei 1⁄n-Stammbrüche und die Komplementbrüche 2⁄3 und 3⁄4 über ein eigenes Schriftzeichen verfügen. Entwickelt war auch die Vertafelung in Tabellen mit auswendig zu lernenden kanonischen Werten. Zu den mathematischen Kenntnissen (Arithmetik und Geometrie lassen sich im Alten Orient nicht ohne weiteres auseinan-
1790
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
derhalten) gehörten der pythagoreische Lehrsatz, die pythagoreischen Zahlen, der Proportionskanon der Raum- und Flächenaufteilung in der Kunst (vgl. § 5.1.), die Bestimmung des Flächeninhalts von Kreis, Rechtund Dreieck sowie des Volumens verschiedener Körper (z. B. der Pyramide und des Pyramidenstumpfes). Der Aufgabenbereich geschriebener Praxis deckte textlose Übungen, Flächenberechnungen und Erfassung von Abgaben und Verpflegungsrationen sowie Berechnungen im Bauwesen oder Schiffbau. Ein Unikum bildet eine Landkarte mit Darstellung und Erläuterungstext des Weges zu einem Goldminenbezirk (Gundlach 1980). Anders als in Ägypten basiert die mathematische Konzeption des Zweistromlands (von Soden 1985, 157⫺161) auf einem komplexen Dezimal- und Sexagesimalsystem, wobei nur zwei Schriftzeichen zum Ausdruck der Zahlenangaben gebraucht wurden, das eine (ein Keil: ) für die 600, …, 60n-Potenzen, das andere (ein Winkelhaken: ) für die 101, …, 10n-Potenzen. Der numerische Wert ergibt sich aus dem Positionssystem; Zeichen werden additiv, und zwar der Keil bis 9mal (9 ⫻ 600, …, 9 ⫻ 60n), der Winkel bis 5mal (5 ⫻ 101, …, 5 ⫻ 10n), aneinandergefügt; demselben Prinzip folgen auch die absteigenden Potenzen von 60 (1⁄601, …, 1⁄60n). Beispiel: *4 ⫻ Winkel, 4 ⫻ Keil, 2 ⫻ Winkel, 6 ⫻ Keil+ ⫽ 44(601) ⫹ 26(600) ⫽ 2.666, oder aber auch 44(600) ⫹ 26(60⫺1) ⫽ 44 ⫹ 26⁄60. Auf dem sexagesimalen Positionssystem (ohne die Null) beruhen alle babylonischen Maße und generell die Entwicklung einer Praxis der systematischen Anwendung des Positionsprinzips. So konnte eine unbegrenzte Vermehrung von Multiplikationstabellen durch den Gebrauch von sexagesimalen Reziprokentabellen vermieden werden, die Multiplikation und Division vereinfachten und vielseitig verwendbar waren (Neugebauer 1957, 29⫺48):
Zum theoretischen Instrumentarium der mesopotamischen Mathematik gehört eine Algebra mit Gleichungen höheren Grades, während die Geometrie primär auf die Lösung praktischer Verwaltungsprobleme wie Bauwesen oder Feldervermessungen angelegt war. ⫺ Zur altgriechischen Mathematik vgl. Art. 41 §§ 2. und 3.
2 3 4 5 6 8 9 10 12 15
30 20 15 12 10 7,30 6,40 6 5 4
16 18 20 24 25 27 30 32 36 40
3,45 3,20 3 2,30 2,24 2,13,20 2 1,52,30 1,40 1,30
45 48 50 54 1 1,4 1,12 1,15 1,20 1,21
1,20 1,15 1,12 1,6,40 1 56,15 50 48 45 44,26,40
3.2. Astronomie und Kalender Semiotische Verfahren altägyptischer Astronomie (Leitz 1991) lassen sich am besten am Prozeß der Fixierung eines Sonnenkalenders von 365 Tagen konstatieren (12 Monate ⫻ 30 Tage ⫹ 5 „Epagomenen“, d. h. konventionell festgelegte Schalttage), der der gesamten julianischen bzw. gregorianischen Entwicklung zugrunde liegt. Dabei läßt sich ein idealisierter bürgerlicher Kalender, der insbesondere für den religiösen Bereich maßgeblich war (etwa für die Bestimmung regelmäßiger Festdaten), einem tatsächlichen bürgerlichen Kalender gegenüberstellen, der das Zivilleben bestimmte und genauso wie der idealisierte Kalender 365 Tage umfaßte, jedes Jahr aber um ungefähr 6 Stunden vom astronomischen Jahr abwich. Die Festlegung des bürgerlichen Sonnenkalenders wurde von der Koinzidenz zweier Phänomene gekennzeichnet: Dies waren (1) der sogenannte „heliakische Frühaufgang“ des Sirius, des hellsten Himmelssternes, d. h. seine erneute Sichtbarkeit in der Zeit kurz vor dem Sonnenaufgang nach einer Periode 70tägiger Unsichtbarkeit, und (2) der Beginn der jährlichen Nilüberschwemmung. So ist der Zivilkalender in drei landwirtschaftliche Jahreszeiten („Überschwemmung“, „Aussaat“, „Hitze“) mit je 4 Monaten gegliedert, wobei der Jahresanfang durch das „Gebären der Sonne durch Sirius“ markiert ist. Der Fixierung dieses Kalenders um 2770 v. Chr. (dem frühesten Datum, in dem während der geschichtlichen Zeit idealisierter und tatsächlicher Kalender zusammenfielen) dürfte schon das Prinzip eines 365tägigen Jahres in Ägypten durch die astronomische Beobachtung der Kulmination des Sirius um Mitternacht vorausgegangen sein: die mythologische Festlegung der Unsichtbarkeitsperiode des Sterns auf 70 Tage läßt dafür das Jahr 3323/3322 in Frage kommen. Neben dem Sonnenkalender blieb, insbesondere im Bereich des Tempeldienstes, auch ein Mondkalender in Gebrauch. Die mesopotamische Zeitmessung (Neugebauer 1957, 80⫺144) basierte hingegen auf einem Mondkalender von 12 Monaten (bzw.
1791
89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
13 im Schaltjahr), der auch in den palästinensischen Kulturraum aufgenommen wurde. Die Ansetzung des Schaltmonats erfolgte durch Regierungsbeschluß und blieb bis ins 1. Jahrtausend durch den Versuch einer Abstimmung zwischen den astronomisch-meteorologischen Phänomenen (wie heliakischen Aufgängen von Fixsternen bzw. periodischer Wiederkehr der Jahreszeiten) und dem Wunsch nach festgelegtem Jahresanfang (ungefähr beim Frühlingsäquinoktium) nur empirisch geregelt. Erst seit der Mitte des 1. Jahrtausends läßt sich in Babylonien eine regelmäßige Folge 19jähriger Zyklen rekonstruieren, in deren 235 Mondmonaten die Abweichung von der entsprechenden Sequenz astronomischer Jahre faktisch neutralisiert wird (von Soden 1985, 161⫺164). So geht auch die astronomische Tradition des Zweistromlandes und deren Rezeption in der antiken Welt primär auf Erkenntnisse neuassyrischer bzw. chaldäischer Zeit zurück, insbesondere: tabellarische Ephemeriden von Sternen, Planeten und Mond, mathematische Einteilung der Ekliptik in 12 Sektoren von 30∞, Feststellung von Eklipsen. Aus dem babylonischen ist auch der noch heute gebrauchte israelitische (und jüdische) Kalender hervorgegangen (de Vaux 1964, 286⫺ 313), wobei der Jahresanfang in biblischer Zeit im Frühjahr (Monat Nıˆsa¯n) angesetzt, in jüdischer Zeit auf den Herbst (Monat Tisˇrıˆ) verschoben wurde. Gegen den Mondkalender und für die Einführung eines ägyptisch inspirierten Kalenders mit fixen Festdaten setzte sich die apokalyptische Bewegung ein, was auf die Relevanz der Opposition zwischen mesopotamischem und ägyptischem Gedankengut für die kleineren altorientalischen Kulturen hinweist (Loprieno 1986). ⫺ Vgl. zu Parallelen im keltischen Kalender Art. 36 § 9.2., im altamerikanischen Kalender Art. 99 § 4. 3.3. Medizin Für die medizinische Praxis standen in Ägypten (Grapow und Westendorf 1970, 212⫺ 219) sowie in Mesopotamien (von Soden 1985, 154⫺157) eine Reihe diagnostisch-prognostischer Texte über empirische Einzelfälle zur Verfügung, in denen die Beobachtung eines pathologischen Zustands und die Heilungsaussicht oder das passende Heilungsmittel in einem Protasis-Apodosis-Verhältnis stehen: „Wenn sich bei der Untersuchung der Mangel X feststellen läßt, dann soll das Mittel Y eingesetzt werden.“ Trotz des autono-
men Charakters des einschlägigen Wissens ist die medizinische Praxis in beiden Kulturräumen in den jeweiligen mythologisch-rituellen Hintergrund eingebunden, so daß oft die wissenschaftliche Untersuchung vom geeigneten Zauberspruch begleitet wird. ⫺ Zur altgriechischen und altindischen Medizin vgl. Art. 45 bzw. Art. 92 § 5.3. Siehe auch Art. 90 § 16. zur islamischen Medizin.
4.
Das religiöse Zeichen
4.1. Kultische und magische Praktiken Im Alten Orient sind im Kult verankertes Ritual und mit der magischen Praxis einhergehende Beschwörungen Hauptbestandteil religiösen Lebens, wobei in Ägypten keine als Alternative zur offiziellen „Religion“ aufgefaßte „Magie“, sondern eine öffentliche Sphäre religiöser Handlungen auf der einen Seite und deren Reduzierung auf den individuellen Anwendungsbereich auf der anderen identifiziert werden (Gutekunst 1986, 1319 ff), während in Mesopotamien eine Opposition zwischen „weißer“ und „schwarzer“ Magie vorhanden ist, was zur Entwicklung des Topos „chaldäischer“ Magie in der klassischen Antike beigetragen haben dürfte (Botte´ro 1988, 70 ff). Altägyptische Rituale betreffen primär die Sphäre des Königtums, des Tempels und des Totenkultes. Interessant ist dabei die Widerspiegelung des semiotischen Bewußtseins von Ritualen in der „Deutung“ von deren „Geheimnissen“: es handelt sich teils um deren Übersetzung in eine neuere Sprachform, teils um die Erklärung von deren symbolischem Gehalt (Schott 1954, 38⫺53). In der magischen Praxis aktualisiert der Zauberer in einem Zauberspruch den passenden mythischen Hintergrund, wobei die Überwindung des bestehenden Mangelzustandes durch die Einbindung der lebenden Aktanten in die Götterwelt bewirkt wird. Relevant sind für den mesopotamischen Bereich neben den Ritualen zum täglichen Lebensunterhalt des Gottes die möglicherweise anläßlich des Neujahrsfestes stattfindenden Königs- und Götterrituale wie der „hiero`s ga´mos“ zwischen dem König und der priesterlichen Vertreterin der Göttin Inanna, der der Übertragung göttlicher Legitimation auf den König diente, oder die „Götterreisen“ ihrer Statuen zu den Heiligtümern ihrer Väter, in denen alte Kultbeziehungen symbolisch erneuert wurden (für Beispiele in Über-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
setzung siehe Römer 1987 und Farber 1987). Im mesopotamischen, insbesondere aber im hethitischen Kulturraum wurden Identifikations- und Substitutionsriten praktiziert (Haas 1988, 246 ff), etwa das „Ersatzkönigsritual“ der Inthronisierung eines später zu tötenden ephemeren Ersatzkönigs, an dem sich die vom negativen Mondfinsternis-Omen vorhergesagte Gefährdung anstelle des eigentlichen Königs auswirken sollte, oder das „Sündenbockritual“ der Vertreibung eines Tieres, auf das durch Handauflegen das Unheil eines Menschen übertragen und damit von ihm entfernt werden sollte (vgl. die übersetzten Texte in Kümmel 1987). Von den Ritualen und Beschwörungen hebt sich die altorientalische Hymnik und Gebetspraxis dadurch ab, daß hier die (auch zu literarischer Form entwickelte) individuelle Gottesnähe zum Ausdruck kommt (Assmann 1984, 258⫺268). Während in Ägypten die Gebetsgestik relativ einheitlich bleibt (ausgestreckte Arme mit geöffneten Händen im Huldigungsgestus), ist in Mesopotamien eine differenzierte typologische Evolution zu beobachten (Falkner 1957⫺71). ⫺ Zur Religion im keltischen, germanischen und slavischen Altertum vgl. Art. 36 § 6. bzw. Art. 37 § 5. bzw. Art. 38 § 2.; zur Religion der griechischen und römischen Antike vgl. Art. 47 und 60; zu den religiösen Vorstellungen im Judentum vgl. Art. 61, im Islam Art. 90 § 2., im Hinduismus Art. 92 § 1. und im Buddhismus Art. 93 § 4.4. sowie Art. 95 § 3.
Sintflutmythos oder der israelitischen Gründungsmythen (des Auszugs aus Ägypten, der Eroberung des Gelobten Landes) in die Jahwe-Theologie (vgl. Art. 61). In Ägypten lassen sich folgende Bereiche mythologischer Narrativik identifizieren (Assmann 1984, 135⫺177): (a) kosmogonische Mythen, etwa die Vorstellung eines aus dem Urwasser als Urhügel selbstgeschaffenen Schöpfergottes, der durch Masturbation vier weitere Götterpaare (die Grundelemente der Welt und die mythologischen Urgötter Ägyptens) zeugt; ferner der Mythenkreis um die Achtheit von vier Götterpaaren, die die Urelemente als Manifestation eines Urzustands vor der Schöpfung repräsentieren; die „Schöpfung durch das Wort“, der zufolge der Schöpfergott durch Gedanken und Wort performativ Götter und Welt erschafft; (b) kosmographische Mythen, insbesondere der aus einer Einheit von Text und Bild bestehende „Mythos von der Himmelskuh“, d. h. die erzählerische und bildliche Darstellung der kuhgestaltigen Himmelsgöttin sowie deren kosmologischer Begleiterscheinungen (Sonnenbarken, Luftgott etc.); (c) der ebenfalls aus Texten und Bildern bestehende Mythos der „Zeugung des Sohnes“, in dem der Thronfolger durch den „hiero`s ga´mos“ der Königin mit dem dynastischen Gott gezeugt wird; (d) der „Osiris-Mythos“, in dem die durch den Tod des ersten Königs Osiris entstandene Mangelsituation durch die Postmortem-Zeugung und Geburt des Sohnes Horus von seiner Frau Isis beseitigt wird, dem Seth, der Bruder und Mörder des Osiris, im Kampf um die Machtübernahme unterliegt; (e) Kultmythen lokaler Kulte. Ägyptische mythologische Aussagen werden oft, insbesondere in Texten funerären oder kultischen Inhalts, von Ätiologien begleitet, die sich jeder der drei semiotischen Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichnetem bedienen, nämlich der symbolischen (z. B. bei der Ausdeutung von „gestern“ als Zeit des Totengottes Osiris und von „morgen“ als Zeit des Sonnengottes Re in der auf die Theologie des Sonnenlaufs bezogenen Glosse zur Aussage in den Sargtexten: „Mir gehört gestern, ich kenne morgen“), der metonymischen (z. B. bei der Schöpfung des Menschen ⫺ rmtß ⫺ aus den Tränen ⫺ rmjt ⫺ der Götter) und der ikonischen (z. B. bei der Entstehung des Namens „Großer Gott, Herr des Himmels“ für den Falken Horus, der im Horus-Mythos von Edfu als große Flügelsonne zum Horizont fliegt).
4.2. Mythos und Ätiologie Wird in der Ritual- und Kultpraxis die metaphorische Seite religiösen Lebens angesprochen, so manifestiert sich im Mythos dessen metonymischer Aspekt: hier wird die Gottesebene jenseits der Grenzen von Raum und Zeit in einer zeitlosen Gegenwart (Assmann 1984, 135 ff) begriffen. Besonders entwickelt war im Alten Orient das ätiologische Verfahren, d. h. der Versuch einer Semiotik des Ursprungs einer religiösen Erscheinung. Generell gilt, daß die Kulturen mit polytheistischer Grundeinstellung zum Religiösen (etwa Mesopotamien oder Kleinasien) einen günstigeren Rahmen für die Entwicklung narrativer Göttergeschichten bieten als die religiösen Traditionen (insbesondere Ägyptens und Israels), die monotheistische Ansätze ausgebaut haben. So werden in letzteren Kulturen mythische Erzählungen in die Theologie des alleinigen Gottes eingebettet: man denke etwa an die Einbindung des Sündenfalls, des
89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
Für das Zweistromland (von Soden 1985, 199⫺211) läßt sich, wie schon betont, ein höherer Anteil an literarischen Mythen feststellen, deren Prototyp, nämlich das GilgamesˇEpos, den semiotischen Unterschied zwischen „Naturzustand“ und „Kultur“ ⫺ ähnlich wie die biblische Paradiesgeschichte ⫺ durch das Eingreifen des Sexuellen kennzeichnet (siehe die Figur des Enkidu). Semiotisch markiert ist auch die Grenze zwischen Vor- und Urzeit, die durch die Erschaffung des Menschen aus Lehm und Blut des Gottes gekennzeichnet ist, sowie die Grenze zwischen Urzeit und menschlicher Geschichte, die in der Sintflut besteht. Den Sintflutmythos findet man auch im Atrah˚ asis-Mythos, der die dazugehörigen Ätiologien, nämlich die Begründung der Weltordnung und der kultischen Institutionen (Opfer, Priestertum), expliziert. Dieselbe Beziehung zwischen atemporaler mythischer Erzählung und historischem institutionellen Moment findet man in der „Höllenfahrt der Isˇtar“ und insbesondere im wichtigsten Schöpfungsmythos Enu¯ma elisˇ, durch den die Überlegenheit der dynastischen Götter Marduk (in Babylonien) bzw. Assur (in der assyrischen Variante) von der Erzählung des Götterkampfes im Schöpfungsepos abgeleitet wird. Dem Ritual des „hiero`s ga´mos“ (vgl. § 4.1.) stehen sumerische Mythen gegenüber, die die Schöpfung als Frucht einer kosmischen Hochzeit von Himmel und Erde darstellen. Ebenfalls sumerisch sind verschiedene ätiologische Mythen, die die Ordnung der Welt bzw. die Einführung verschiedener Kulturelemente in götterweltliche Konstellationen einbinden. Reich an mythologischem Material ist auch die westsemitische Literatur des 2. Jahrtausends, deren ideationale Ikone vielfach auch im Alten Testament (freilich in eine neue Theologie eingebettet) rezipiert wurden. ⫺ Vgl. auch die kosmogonischen Vorstellungen Altamerikas (Art. 99 § 6.).
5.
Das künstlerische Zeichen
5.1. Kunst und Literatur Wie „Kunst“ im engeren Sinne, d. h. auf der Anerkennung des fiktionalen Charakters des künstlerischen Objekts basierend, von epiphanischer Darstellung des Göttlichen bzw. des Königlichen im Alten Orient zu trennen ist, läßt sich auf der Basis expliziter Aussagen nicht feststellen: Ist die (meist lexikographisch aufgefaßte) sprachliche Sequenz ein
1793 Resultat der Reduktion außersprachlicher Assoziationen auf innersprachliche „Nomina“, so stellt die altorientalische Kunst deren kanonisch festgelegtes Wahrnehmungsvehikel dar. Exemplarisch sei hier Ägypten behandelt. Dort wird der Unterschied zwischen Sakral- und Profanarchitektur im Baumaterial durch die Opposition zwischen Steinen für erstere und Lehmziegeln für letztere äußerlich markiert. Dies hat die klassische und moderne, ägyptologisch jedoch zu revidierende Rezeption Ägyptens als jenseitsorientierter Kultur entschieden geprägt. Im ägyptischen Tempel (Assmann 1984, 35⫺50) verdichten sich die Dimensionen des religiösen Lebens: er ist zum einen die Darstellung der Schöpfung (vgl. die mit Sternen dekorierte Decke als Ikon des Kosmos), zum zweiten die symbolische Darstellung Ägyptens als Gottes eigenen Landes (vgl. die Papyrusbzw. Lotussäulen als Darstellung der Landesgrenzen), zum dritten das kultische Haus des Gottes, der die „Sancta sanctorum“ bewohnt (zur abgewandelten Fortsetzung dieser Traditionen im altgriechischen Tempelbau vgl. Art. 47 § 2.1.). So ist auch die Pyramide funktionell das Königsgrab des Alten Reiches, dem aber eine mindestens zweifache Symbolik anhaftet: ihre Höhe repräsentiert die Nord-Süd-Achse, die Erde und Himmel verbindet (vgl. auch die „Ziqqurat“ in Mesopotamien bzw. den Mythos des Turmbaus zu Babel in Gen. 11,1⫺9), ihre Form geometrisiert den Urhügel, der das „erste Mal“ der Schöpfung wiederholt. Dabei bot der immer aufrechterhaltene monumentale Charakter der ägyptischen Hieroglyphen die Möglichkeit einer Einbindung der Schrift und des narrativen Diskurses in das künstlerische Monument (Tefnin 1984). In der bildenden Kunst (James 1980), die schon seit ihren Anfängen einen strengen Proportionskanon entwickelte (vgl. Abb. 89.4), spiegeln sich sowohl gesellschaftliche Kohäsion bzw. Unterschiede (vgl. die Größe der Königsfigur im Vergleich mit der der Königin oder der Königskinder in der Plastik, die stereotype Darstellung der Arbeiter in der Grabdekoration) als auch zeichenorientierte Lektüren der Wirklichkeit wider ⫺ vgl. die für die ägyptische Kunst typische Alternanz zwischen Seiten- und Frontalansicht in der Darstellung des Menschen (Davis 1984). In der Literatur lassen sich „topische“, auf die Literarisierung sozialen Wissens angelegte Texte (etwa die Weisheitsliteratur), von „mimetischen“, an
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 89.4: Zwei stehende Figuren mit ihrem ursprünglichen Proportionsraster (aus Iversen 1975, 29).
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89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
der Hervorhebung eigener Leistung orientierten Erzählungen unterscheiden (Loprieno 1988, 10 ff). 5.2. Musikalische Praxis Eine schriftliche Fixierung musikalischer Praxis durch Notenschrift ist weder in Ägypten noch im mesopotamischen Raum belegt. Für Ägypten läßt jedoch die Genauigkeit figurativer Grabdarstellungen eine partielle Rekonstruktion der kulturellen Funktion von Musik und Gesang sowie der technischen Verfahren der Musizierpraxis zu: so kann man zum Beispiel an der abgebildeten Spielhaltung der Musiker bzw. an der Gestik der Cheironomen den isolierten Klang und den polyphonen Zusammenhang einer Musikszene rekonstruieren, wobei (a) eine Opposition zwischen dem anfänglichen Grundton und dem eine Quinte höher liegenden Rezitationston bildlich dargestellt wurde und in Skalen mit halben und ganzen Tönen bzw. Intervallgrößen gegliedert war und (b) die sprachliche Wiederholung bestimmter Einkonsonantenzeichen (etwa jjjj oder hhhh) als Wiedergabe des Klang- oder Gesangsrhythmus aufgefaßt werden kann (Hickmann 1982, 524⫺526). Die situationsbezogene Konnotation der Musik entnimmt man dem Verbot ihrer Anwendung bei bestimmten Ritualen und in Tempeln, die dem Kult des Totengottes Osiris dienten (Hickmann 1982, 230⫺243). Im mesopotamischen Kulturbereich (Stauder 1970, 233⫺239; Duchesne-Guillemin 1984) diente hingegen die musikalische Praxis primär der Begleitung kultischer Vorgänge. Der Zusammenhang, den man zwischen den sexagesimalen Zahlenverhältnissen (vgl. § 3.1.) und bestimmten musikalischen Intervallen erkannte, wurde auf die Teilwerte der Saiten von Musikinstrumenten übertragen: so war dem großen Himmelsgott An die Vollzahl 60 (⫽ die volle Saitenlänge), dem Gott Enlil die Zahl 50 (⫽ 5⁄6 der Saitenlänge), dem Gott Ea 40 (⫽ 2⁄3), dem Mondgott Sin 30 (⫽ 1⁄2), dem Sonnengott Schamasch 20 (⫽ 1⁄3), der Venusgöttin Inanna-Isˇtar 15 (⫽ 1⁄4 der Saitenlänge) zugeordnet. Auf diese Weise konnte ein Tonumfang von 21⁄2 Oktaven bei einem Aufbau in Oktaven, Quinten bzw. Quarten und der untersten kleinen Terz erreicht werden. Da auf der einen Seite Oktaven, Quinten und Quarten bekanntlich die harmonischsten Intervalle darstellen und auf der anderen erst durch die Einbindung der Musik in die Kosmologie Proportionen des
Typs „Sonne : Mond ⫽ 2 : 3 (⫽ die Quinte)“, „Venus : Sonne ⫽ 3 : 4 (⫽ die Quarte)“ oder „Venus : Mond ⫽ 1 : 2 (⫽ die Oktave)“ entstehen konnten, ist in den kosmologischen Bezügen mesopotamischer Musik die Herkunft der klassischen Lehre einer „Harmonie der Sphären“ zu sehen. Außerdem sind der Gebrauch von 7 bzw. 8 Modi sowie die genaue Gliederung der Saitenordnung im Rahmen eines heptatonischen Systems (vgl. die sieben im Altertum bekannten Planeten) durch keilschriftliche Texte philologisch dokumentiert (Stauder 1970, 220⫺239). Ein ausgebautes Notenzeichensystem mit ungefähr 27 Neumen stellen im semitischen Bereich die sogenannten „Akzente“ des Alten Testaments dar (tøa¤a¯mıˆm ‘Sinnzeichen’; vgl. Kahle 1922, 136⫺162); allerdings ist ihre Entstehung erst in masoretische Zeit, d. h. in die zweite Hälfte des 1. Jahrtausends n. Chr. zu datieren. Sie dienen der Bestimmung des Tonvokals, primär aber der kantillierenden Rezitation des heiligen Textes und bezeichnen den musikalischen Ton, mit dem jede akzentuelle Einheit (grundsätzlich ein Wort) vorgelesen wird, wobei sie graphisch der betreffenden Tonsilbe angeschlossen sind. Sie bilden ein einheitliches System von Tonoppositionen, deren musikalische Realisierung im Laufe der jüdischen Geschichte sowohl diachronischer als auch diatopischer Variation unterworfen war. ⫺ Zu den Konzeptionen der Musik in anderen Kulturen vgl. Art. 43 § 1.: griechische und römische Antike, Art. 92 § 4.4.: Indien, Art. 93 § 10.1.: China, Art. 95 § 4.3.: Japan und Art. 96 § 7.: Indonesien.
6.
Das historische Zeichen
6.1. Historiographie Es lassen sich im Alten Orient drei Geschichtsauffassungen identifizieren, von denen jede eine bestimmte Auswirkung auf die jeweilige Historiographie gehabt hat: die ägyptische „Geschichte als Fest“, die mesopotamische „Geschichte als Rhythmus“, die israelitische „Geschichte als Verheißung“. In der unterschiedlichen Konzeption der Rolle des Menschen in der Geschichte liegt wahrscheinlich auch der Grund für den höheren Umfang praxisorientierter (siehe die Einsetzung des Ordals, das Talionsprinzip) Rechtsbücher in Mesopotamien (ab 2000 v. Chr.; vgl. von Soden 1985, 125⫺137), denen in Ägypten nur Dokumente einzelner Gesetze, Dekrete und Gerichtsverhandlungen gegenüberstehen (Allam 1984, 182⫺187).
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
In der Formel „Geschichte als Fest“ (Hornung 1966) kristallisiert sich das ägyptische Verständnis von Geschichte als ständiger Bestätigung eines „ersten Males“ bzw. als Wiederholung der Neueinsetzung der „Maat“ (der Weltordnung als des sozialen Zusammenhalts ägyptischer Institutionen; vgl. Assmann 1990) an die Stelle der „Izfet“ (deren Gegenteil) seitens des Königs: als Repräsentant des Gottes Horus, der die ewige Mangelsituation des Todes des Osiris, d. h. der weiblichen dß t-Ewigkeit beseitigt und durch seine Thronbesteigung den ersten „geschichtlichen“ Akt bis in die männliche nhø hø -Ewigkeit vollzieht, ist er der alleinige Handelnde der Geschichte, während der Mensch außerhalb ihrer bleibt. So tritt auch die eher ritualistisch orientierte Annalistik gegenüber der schriftlichen oder bildlichen Darstellung vergangener Bestätigungen des Ideologumenons deutlich in den Hintergrund. So sind auch jene mythischen Erzählungen nicht vorhanden, in denen sich der historisch-kulturelle Fortschritt an einer menschlichen Heldenfigur ankristallisiert (Enkidu im Gilgamesˇ-Epos, Atrah˚ asis, Utnapisˇtim bzw. Noah in den Sintflut-Mythen etc.). So enden „chaotische“ Ereignisse der Geschichte (wie Königsmord oder soziale Unruhen) bzw. individuelle Lebensgeschichten (aufgezeichnet in Biographien) in der literarischen Fiktionalisierung (z. B. Sinuhe, Weisheitstexte) (Wildung 1977). Anders in der mesopotamischen Welt (Speiser 1957⫺71): hier bezeugen ausführliche Königslisten, Chroniken sowie Annalen und Jahreseponymen ein ausgeprägteres Interesse an der Vergangenheit, deren Kenntnis sich auf die Entscheidungen der Gegenwart unmittelbar, und zwar durch die korrekte Interpretation des Willens der Götter (siehe die Relevanz von Omina) niederschlagen kann; dem theokratisch bestimmten Geschichtsablauf ist der sterbliche Herrscher genauso unterzogen wie die Menschen, für die er vor den Göttern Verantwortung trägt. Die Geschichte stellt sich als rhythmische Sequenz positiv bzw. negativ markierter Ereignisse dar. Eine „rhythmische“ Geschichtsauffassung liegt auch der biblischen Historiographie zugrunde (Loprieno 1986, 215⫺217; 222⫺223), wobei hier aber Jahwes Geschichtsplan vorgegeben ist und in der Heilsgeschichte des Volkes Israel besteht; Ereignisse und Figuren der Vergangenheit werden deshalb in der sogenannten „deuteronomistischen“ Geschichtsschreibung (Josua, Könige, Chronik)
an ihrer positiv bzw. negativ geladenen Mitwirkung bei diesem festgelegten geschichtlichen Programm gemessen. Hingegen orientieren sich unter diesem Aspekt apokalyptische Bewegungen am ägyptischen Modell eines geschichtlichen Ablaufs, an dem der Mensch keinen direkten Anteil hat, sondern dessen endgültigem Ziel er sich fügen muß. ⫺ Zur Historiographie in anderen Kulturen vgl. u. a. Art. 60 § 3., Art. 90 § 9., Art. 92 § 4. und Art. 93 § 7. 6.2. Zukunftsdeutungen Die Zukunftsschau stellt in den altorientalischen Kulturen den Bereich dar, in dem Ansätze einer „Wissenschaft des Zeichens“ im engeren Sinne zum Vorschein treten (Manetti 1987, 9⫺26): in Prophetien, Traumdeutungen, Orakeln, Eingeweide- und Leberschau, Omina sowie astronomischen und hemerologischen Beobachtungen lassen sich in Ägypten und Vorderasien explizite semantische Beziehungen des Typs „A interpretiert B als Zeichen für C“ (vgl. Art. 2⫺5) erkennen, in denen das Verfahren der Medizin auf andere Bereiche menschlichen Wissens übertragen wird. Neben der Literarisierung vergangener Ereignisse als Prophezeiung ex eventu und dem sich durch die Bewegungen des Kultbildes manifestierenden Orakel des Gottes als Moment privater und politischer Entscheidungsfindung (Ka´kosy 1982) exemplifizieren in Ägypten Traumdeutung (Vernus 1986) und Tagewählerei (Brunner-Traut 1986; Leitz 1994) am besten dieses semiotische Verfahren: einem Traum bzw. einem Tag wird ein besonderes Prädikat („gut“/„schlecht“ bzw. „günstig“/„ungünstig“) verliehen, das von der Ikonik des Traumes bzw. dem mythischen Präzedenzfall des betreffenden Tages im idealisierten Kalender abhängt. Beispiel: „1. Monat der Aussaat, Tag 14: Ungünstig, ungünstig, ungünstig: Weinen der Isis und Nephthys. An diesem Tage trauerten sie um Osiris in Busiris, zur Erinnerung an die Zeit, da er noch gesehen wurde. Du sollst an diesem Tag weder Gesang noch Musik hören.“ Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der ägyptischen Traumdeutung, die gegen Ende des 2. Jahrtausends und später in demotischer Zeit eine schriftliche Fixierung erfahren hatte, die Rolle der individuellen psychologischen Veranlagung bei der Konstitution der Träume durch eine Einteilung der Menschen in „Horus“- vs. „Seth“-Gefolgsleute schon hervorgehoben erscheint; außerdem läßt sich in der Vielfalt gebotener Erklärungen Peirces tri-
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89. Zeichenkonzeptionen im Alten Orient
chotomische Beziehung des Zeichens zum Bezeichneten aufdecken: (a) das ikonische Deutungsverfahren schließt an die Figur des Traumes, um sie gegebenenfalls e contrario auszulegen; (b) die metonymische Interpretation geht meistens von der lautlichen Gestalt eines Haupterlebnisses im Traum aus, wobei der betreffende Terminus den Schlüssel zur Auslegung bildet; (c) im symbolischen Deutungsverfahren stellt der Traum eine Metapher des von ihm vermittelten zukünftigen Ereignisses dar. Danach wird die ägyptische Traumdeutung durch die auf Artemidorus (2. Jh. n. Chr.) zurückgehende Opposition zwischen „theorematischen“ (d. h. ikonischen) und „allegorischen“ (d. h. symbolhaltigen) Träumen ersetzt, von der die mittelalterliche, die jüdische und die islamische Traumdeutung ausgegangen sind. Auch im vorderasiatischen Kulturraum (Botte´ro 1974, 70 ff) erkennt man in Eingeweideschau, Orakeln, Omina und onirischen bzw. astronomischen Zukunftsdeutungen Ansätze einer „Wissenschaft von den Zeichen“. Der semiotische Charakter dieser Textgattungen (Beispiele in Übersetzung bei Römer 1986 und Hecker 1986) ergibt sich aus dem häufigen Vorhandensein einer festgelegten metaphorisch-metonymischen Entsprechung zwischen Zeichen (Interpretandum: vgl. Art. 5 § 1.2.3.) und Gegenstand, für den es steht (Interpretatum: Art. 5 § 1.2.7.), gegebenenfalls mit Varianten (Manetti 1987, 21 ff). Vgl. etwa die „Palastpforte“ (die incisura umbilicalis der Leber, d. h. die Falte, die den rechten vom linken Lappen der Leber trennt) als symbolisches Repräsentamen für das babylonische Königtum in Texten der Leberschau: „Wenn die Palastpforte zweifach vorhanden ist [d. h. wenn in der Leber zwei Falten zu beobachten sind]: Streit, ein Thron wird dem anderen gleichkommen.“ Variante: „Ein dir nicht Ebenbürtiger wird sich gegen dich erheben und dich töten […].“ Vgl. die indexale Beziehung zwischen dem Namen des Sternbildes „Feld“ (a⫺g Pegasus ⫹ a Andromedae) und der landwirtschaftlichen Größe in den astronomischen Omina: „Wenn das Sternbild ‘Feld’ im Monat Nıˆsa¯n heliakisch aufgeht, aber der südliche Stern nicht sichtbar ist, wird im Lande Akkad das bestellte Feld nicht gedeihen […]. Wenn das ‘Feld’ im Monat Nıˆsa¯n heliakisch aufgeht, aber der nördliche Stern nicht sichtbar ist, wird im Lande Subartu das bestellte Feld nicht gedeihen […]. Wenn das ‘Feld’ im Monat Nıˆsa¯n heliakisch aufgeht, aber der östliche Stern
nicht sichtbar ist, im Lande Elam dito. Wenn das ‘Feld’ im Monat Nıˆsa¯n heliakisch aufgeht, aber der westliche Stern nicht sichtbar ist, im Lande Ammun dito“; wobei die vier genannten Länder die vier geographischen Bezüge des betreffenden Kulturraums darstellen. Nach ähnlichem Muster verfahren auch die mesopotamische Traumdeutung und die literarische Ex-eventu-Prophezeiung (Hecker 1986, 56⫺82). In der Bibel erfolgt die Omen- und Traumdeutung nach ähnlichen Mustern: vgl. Joseph und dessen späteren Nachahmer Daniel, etwa dessen metonymische Deutung der geheimnisvollen Schrift (Dan. 5,1⫺6,1), wobei die Anlehnung an Ägyptens Kulturgut jüdische apokalyptische Literatur generell kennzeichnet (vgl. Loprieno 1986). Die „klassische“ prophetische Tradition schließt sich indes an die mesopotamische Prophezeiung an (Weippert, Seybold und Weippert 1985).⫺ Weitere Ausführungen zur Zukunftsdeutung in den verschiedenen Kulturen finden sich in Art. 36 § 6. (Kelten), Art. 37 § 5. (Germanen), Art. 46 § 5.5. und 7. sowie Art. 47 § 6. (Griechen und Römer), Art. 61 (Judentum), Art. 90 § 14. (Islam), Art. 93 § 5.3. (China), Art. 99 § 8. (Altamerika) sowie in Art. 160.
7.
Literatur (in Auswahl)
Es wurde versucht, so viel wie möglich auf die zwei orientalistischen Nachschlagewerke zu verweisen, die in der Regel auch dem fachexternen Publikum leicht zugänglich sind und die außerdem weiterführende Literaturangaben bieten: (a) das Lexikon der Ägyptologie (LÄ) in 6 Bänden, Wiesbaden 1975⫺1986 und (b) das Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie (RlA), bisher erschienen Bd. I bis Bd. VIII, Lieferung 7/8 (A-Mythologie), Berlin und Leipzig bzw. Berlin und New York 1932 ff. Viele neuere Übersetzungen finden sich in der von Otto Kaiser herausgegebenen Reihe Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT), bisher erschienen Bd. I, Lieferung 1⫺6, Bd. II, Lieferung 1⫺6 und Band III, Lieferung 1⫺5, Gütersloh 1982⫺1995. Auf Stichwörter bzw. Übersetzungen in diesen Werken wird im folgenden in abgekürzter Form verwiesen. Andre´-Leicknam, Be´atrice und Christiane Ziegler (eds.) (1982), Naissance de l’e´criture. Cune´iformes et hie´roglyphes. Paris. Allam, Schafik (1984), „Recht“. In LÄ V: 182⫺ 187.
1798
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
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Antonio Loprieno, Los Angeles CA (USA)
90. Sign conceptions in the Islamic World 1. Introduction 2. QurÅaˆn and H ø adıˆth 2.1. QurÅaˆn and QurÅaˆnic verse as sign 2.2. The speech of God 2.3. H ø adıˆth 2.4. Commentary 2.5. QurÅaˆnic recitation 3. Arabic language 3.1. The Arabic alphabet 3.2. Grapheme vs. phoneme 3.3. Written vs. oral 3.4. Diglossia 3.5. The Arabic alphabet and other languages 4. Poetry 4.1. Poetic indices 4.2. Symbolic codes in poetry 5. Grammar and linguistics 5.1. Grammatical schools: usage vs. analogy 5.2. The nature of language 5.3. Adø daˆd 6. Adab 7. Rhetoric 7.1. Isti¤aˆra 7.2. The truth value of poetic signs 8. Onomastics 8.1. Multiplicity of names 8.2. The onomastic chain 8.3. The onomastic sign between name and attribute 8.4. Linked onomastic codes 9. Biography 10. Art 10.1. Licitness of visual representation
11. 12. 13. 14.
15. 16. 17. 18. 19.
10.2. Religious visual representation 10.3. Public decoration and calligraphy 10.4. The ‘graphemic icon’ Rational theology/kalaˆm Islamic philosophy and philosophical allegories Mysticism and Sø uˆfıˆ symbolic codes Mantic systems 14.1. Islamic onirocriticism 14.2. Geomancy 14.3. Physiognomy Alchemy Medicine 16.1. Greek and Islamic medicine 16.2. Prophetic medicine Mathematics 17.1. Numeral systems 17.2. Algorithms and mathematics Contemporary developments Selected references
1. Introduction In the rich and multi-faceted civilization that resulted from the birth of Islam in the seventh century, signs played a role in disciplines ranging from lexicography and medicine to onomastics, onirocritics, and physiognomy. The wealth of Arabic terminology is a witness to this, a sign being referred to as “aˆya”, “ ¤alaˆma”, “ishaˆra”, etc. Islam has often been called a civilization of the word, and sign sys-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
tems based on language, specifically the Arabic language, have accordingly predominated, leading to a parallel and striking deemphasis of icons. ⫺ For similar developments in other cultures, see Art. 32 § 4. as well as Art. 61 § 2.2.
bias in the sign systems of the culture is towards the linguistic, or to second or third order systems based on the linguistic sign system.
2.
QurÅaˆn and H ø adıˆth
2.1. QurÅaˆn and QurÅaˆnic verse as sign The word of God as revealed to the Prophet Muhø ammad was codified in what came to be known as the QurÅaˆn, the holy book of Muslims. The “qurÅaˆn”, an Arabic word meaning ‘recitation’, is arranged in chapters (suˆras) in ˆ ya” turn composed of aˆyaˆt (sing. “aˆya”). “A means both ‘a sign’ and ‘a verse’. As a sign, aˆya is something which directs the believer onto the right path. The lexicographer alZabıˆdıˆ (died 1791) in his Taˆj al-¤Aruˆs cites the explanation that the aˆya is a clear (or exoteric) sign which indicates that which is not perceptible. As a verse, aˆya represents the basic unit of meaning in the religious book. Literature and religion are brought together in a relationship that proved important in the development of later Arabic sciences. 2.2. The speech of God Not simply the aˆya but the entirety of the QurÅaˆn, the word of God, is a preeminent sign in Islamic civilization. The speech of God is not normal speech, and what is considered its inimitability (i¤jaˆz) becomes a topic of central concern for later theorists. Since the Arabic QurÅaˆn is the speech of God, the Arabic language (al-¤Arabiyya) correctly understood is the language of God, in the sense of a divine semiosic system. Hence, it exists on another cultural plane from ⫺ and can also be taken as a model and point of reference for ⫺ all other sign systems. Mastery of the Arabic language is a religious duty. The eighth-century governor of Iraq, ¤Umar ibn Hubayra, went so far as to assert that a man who could speak Arabic correctly would be preferred in Paradise over one who could not. Not only that, but the Arabic linguistic sign system is the only sign system whose legitimacy can never be questioned. In contrast to Christianity, where the word becomes flesh, in Islam the word retains its superiority as just that, a word, a combination of letters. The central sign in Islamic culture is composed of language, of linguistic signs; and the
2.3. H ø adıˆth The growth of the Muslim community and its concern to abide by the rules and example of the Prophet led to the codification of the hø adıˆth. The hø adıˆths were a collection of the sayings and actions of the Prophet, covering an innumerable variety of subjects, and transmitted through a chain of authorities going back to Muhø ammad himself. The two most important collections are those of alBukhaˆrıˆ (died 870) and Muslim (died 875). Each unit of hø adıˆth is composed of two parts: the chain of transmitters, the isnaˆd, and the text presenting the act or saying itself, the matn. Muslim hø adıˆth criticism was greatly concerned with the reliability of transmitters, and these were subsequently classified according to the soundness of their transmission. It is predominantly the matn, however, that projects a semiosic system. H ø adıˆths tended to be either prescriptive or more simply normative. For example, according to a hø adıˆth, the Prophet said: “You should not swear by your fathers. He who wishes to swear, let him swear by God.” Or the prescription may be more implicit, as in the Prophet’s statement that he who fasts in good faith will be forgiven his sins. In the simplest case, the Prophet acts only as exemplar. For example, we are told that when he ate and drank, he would say: “Praise be to God who has fed us and given us to drink.” In this last case, his action enters the conceptual system as something at once symbolic (if Muhø ammad did something in a certain way, the believer should as well) and iconic (since the implied prescription itself works on resemblance). Clearly, then, the hø adıˆths themselves function as signs, but predominantly mimetic ones. 2.4. Commentary The centrality of the QurÅaˆn in turn gave birth to a science of commentary on the text, tafsıˆr and taÅwıˆl, both referring literally to explanation or interpretation. Sacred texts in general became the subject of elaboration, normally called “sharhø ”, more an explanation than an interpretation; this interpretation could be either exoteric and literal (zø aˆhir) or esoteric and hidden (baˆtøin).
90. Sign conceptions in the Islamic World
We have already noted that the most sacred of all Islamic texts is written in the Arabic language. Due to the doctrine of i¤jaˆz, it has generally not been considered translatable, and translations of the holy book have only played a modest role in Islamic countries. Hence, even in non-Arabophone Muslim countries, the classical Arabic language generally remains the most prestigious sign system. 2.5. QurÅaˆnic recitation The artistic oral rendering of the holy book became a skill in and of itself, and various Arabic words, some general (e. g., “tilaˆwa”, “qiraˆÅa”) and some more specific (e. g., “tajwıˆd”, “tartıˆl”) are used to express this allimportant activity. Since such QurÅaˆnic recitation is as much, if not more, performance than transmission, the text can be provided with a system of paramusical notation, indicating such things as places to stop and begin, points of extended duration, and the consonants that should be elided. Curiously, though musical performance and QurÅaˆnic recitation clearly influenced each other, no notational system was used for music, and the musical arts and QurÅaˆnic recitation were generally kept theoretically separate in Islamic cultures.
3.
Arabic language
3.1. The Arabic alphabet But Arabic as a linguistic medium poses problems of its own. The Arabic alphabet developed in gradual stages of greater and greater equivalence between grapheme and phoneme (see Fig. 90.1). Initially, the script did not include diacritical marks, dots distinguishing several pairs of consonants from each other which otherwise possessed identical graphemes. Like Hebrew, its Semitic relative (cf. Art. 61), Arabic was also written without vowels. Systematic use of long vowels is a later development, and they became part of the graphemes, frequently though not easily permitting the identification of the vowels in question. Small marks above and below the letters were also developed to indicate short vowels, the absence of a vowel, the doubling of a consonant, and nunnation, a linguistic marker for grammatical indefinition. Such short vowel markers and similar marks for final vowels serving as inflection markers were known as vocalization; they
1801 were not considered essential graphemes, and were omitted from the majority of written texts. 3.2. Grapheme vs. phoneme The implications of this are broad both linguistically and culturally. A grapheme does not reliably represent the true phonemic state of a word. And, subsequently, an individual reading an unvocalized Arabic text is prone to making mistakes. In order to ascertain that the holy book is never mangled by anyone, its text is always vocalized. Many of the hø adıˆth collections (and much of the poetry) are also vocalized to avert the same problem. With most written texts, the difficulties remain, and the writing system functions as a kind of shorthand, with the result that the oral transmission of a word or phrase carries considerably more information and is more reliable, than its written sign (see Fig. 90.2). 3.3. Written vs. oral The implications of this are manifold. Firstly, high marks are placed on oral performance. The QurÅaˆn is memorized, and he who commits it all to memory earns the honorific of hø aˆfizø (‘wise person’). Its recitation is a sacred activity. To this very day, young children are trained to recite the holy text, using age-old time-proven methods. In addition, education in pre-modern Islam was largely oral. Oral transmission of knowledge led to the institution of a system whereby a teacher would give a student a license to teach (ijaˆza). In works known as mashyakhas, scholars made repertories of the teachers from whom they received the ijaˆza. Oral transmission consequently became the subject of a lively debate in Islamic texts, giving rise to philosophical and theological discussions over the superiority of the senses: which was better, hearing or vision? Adducing linguistic and philosophical arguments, Khalıˆl ibn Aybak al-Sø afadıˆ (died 1363) concluded that hearing was superior to seeing. The word was conceived as more than the sum of its graphemes. As a full carrier of meaning, it has not only to be read but to be heard as well. 3.4. Diglossia The parallel codes of written and spoken language are thus, in an Arabic context, extremely complex. The diglossia between the literary formal language (al-fusøhø aˆ, ‘the most eloquent’) and the dialects (which differ from
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 90.1: The Arabic alphabet (from Mohamed and Haron 1989: 90).
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90. Sign conceptions in the Islamic World
4.
Poetry
The orality of Islamic civilization is related to a similar phenomenon in the pre-Islamic period, when recited poetry played an important role in cultural creation. This is where the tradition of the raˆwıˆ, the poetic transmitter, comes in. The raˆwıˆ listened, memorized, and transmitted, sometimes with some invention of his own, the poet’s verse. Fig. 90.2: Two samples of Arabic writing, both of the same phrase, the Basmala, one vocalized (above) and one unvocalized (below). Text in Transcription: “Bism Allaˆh al-Rahø maˆn al-Rahø ˆım”.
one Arab country to another and even within regions or cities in one country) aggravates the problems of coding even further. One might better speak of formal and dialectal codes. The absence of short vowels in the graphemes of the written language actually supports the existence of the diglossia, facilitating the coexistence of variant dialectal pronunciations with one another and with the fusøhø aˆ. 3.5. The Arabic alphabet and other languages Islamic culture is not monolingually restricted to Arabic (concerning Arabic influences in the languages of the Islamic population in South East Asia, see Art. 96 § 5. and Art. 97 § 3.2.). Although Muslims all over the globe learn the QurÅaˆn in its original language, the Arabic alphabet is ill-suited to the two most important classical Islamic non-Arabic (and non-Semitic) languages written in the Arabic script, notably Persian and Ottoman Turkish. Persian belongs to the IndoEuropean family and Ottoman Turkish to the Altaic. Both contain many borrowings from Arabic. For Ottoman Turkish, the Arabic graphemic system is incapable of transmitting the complex vowel harmony so essential to the phonemic system. Although Persian adapted more easily than did Ottoman Turkish to the orthographic imperialism of the Arabic alphabet, its linguistic structure is still not well suited to it. The result is that Persian (to a lesser degree) and Ottoman Turkish (to a greater degree) display considerable inconsistencies in their orthography. ⫺ For comparable problems in the transliteration of East Asian languages in the Chinese script, see Art. 94 § 3., Art. 95 § 2., Art. 96 § 6., and Art. 97 §§ 5. and 6.
4.1. Poetic indices Semiotically speaking, many of the pre-Islamic cultural products, poetic in nature, functioned along an indexical system. This is certainly the case for the much-prized qasøˆıda, or ode. Traditionally, the poet was said to be inspired to compose a qasøˆıda by the sight of animal droppings, which signified to him the presence of an abandoned encampment. The litte´rateur Ibn Qutayba (died 889) links the creation of the qasøˆıda to the vestiges and remnants of the encampment. Whether or not one credits Ibn Qutayba’s idealized descriptions of the ode, he is conveying the presence of indices in the creation of poetry. The association of sign and language appears again: the sign is present but is subordinated, functioning as an incentive to oral production. The index in the pre-Islamic and early Islamic setting went beyond the literary. The barking of a dog signalled to the weary traveler the presence of someone who could provide him with hospitality, a semiosic convention that found its way into anecdotal literature. 4.2. Symbolic codes in poetry Animals also had semiosic importance, mostly symbolic, in the pre-Islamic and later poetic and literary corpus. Thus, animals used for riding (camels, horses, etc.) had a significance which even extended to their gender differentiation. An interesting sexual inversion takes place: the female camel with the male poet in one particular part of the ode, the male camel with the woman rider in another. Cultural symbolism extended to other animals as well, such as the crow, which as ghuraˆb al-bayn (the crow of separation) in poetry signals departure.
5.
Grammar and linguistics
5.1. Grammatical schools: usage vs. analogy The importance of poetry lies in the fact that, along with the sacred texts, it formed the basis of linguistic and grammatical discussions
1804
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
and the eventual codification of the Arabic language (for similar developments in Judaic and Indian thought, see Art. 61 § 3. and Art. 92 § 1.2.). The grammatical schools of Basra and Kuˆfa in Iraq, for example, based their argumentation on the poetic corpus and the sacred texts. Both schools collected diverse materials, such as poems, proverbs, etc., from the Bedouin, considered the repositories of pure and correct Arabic usage. Both schools also exploited qiyaˆs, or analogical reasoning (important in law as well), based on the elaborate systems of word patterning that can be constructed in the Arabic language, organized as it is on systematic permutations of a relatively restricted number of triliteral (and less commonly quadriliteral) roots. But the school of Basra went further in its systematization, relying heavily on qiyaˆs, which perhaps led to its ultimate victory. The resulting system of Arabic grammar is essentially the way in which the language is still understood today.
them as single words with opposite meanings. Numerous medieval grammarians and lexicographers discussed and listed these adø daˆd (Qutørub, died 821; Ibn al-Sikkıˆt, died 858; alAnbaˆrıˆ, died 1181; etc.). However, many of these paired significations are only superficially opposites. For example: “basøˆır” is considered a dø idd, meaning at once an individual who is sighted and one who is blind. But, on closer examination, it becomes clear that the primary meaning of ‘sighted’ is actually the one that prevails and that when basøˆır is used with reference to a blind individual, its meaning is some other, often figurative, sense in which the individual can be understood as sighted.
5.2. The nature of language Medieval Arabic theorists debated two related issues concerning the nature of language (al-lugha). The first was the relationship between what we would call the signifier and the signified: Was it conventional? Was it man-made or divine? The second was the nature of language as free or fixed. Al-Suyuˆtøˆı (died 1505) in his Muzhir details the differences, even resorting to semiotic terms, such as “al-daˆll” (“the signifier”, lit. ‘the indicator’) and “al-madluˆl” (“the signified”, lit. ‘the indicated’). (This is the terminology still used in contemporary Arabic semiotics.) But it was the Andalusian lexicographer Ibn Sıˆda (died 1066) who brought the two positions together in his compendium al-Mukhasøsøasø. Language, he says, is “necessary even though the conventions of its words are made by choice”. 5.3. Adø daˆd Perhaps the semiotically most interesting area in Arabic lexicography is the codification of a category of nouns called “adø daˆd” (sing. “dø idd”). Similar to homonyms in Western languages, the dø idd is an Arabic signifier with two opposite signifieds. Rather than treating these as different words which happen to have the same pronunciation (graphemic variation with identical pronunciation would be impossible with the Arabic script), Arabic grammarians insisted on treating
6.
Adab
The ambiguity or ambivalence in the nature of the sign, its ability to refer at once to something and its opposite, and the mental structure resulting therefrom, proved an important construct in the Islamic cultural sphere. This strictly linguistic principle was extended to non-linguistic domains, including the philosophical and the theological, to give birth to a literary genre in which the positive and negative aspects of an object, a concept, a category of people, etc. are presented in tandem. The genre, al-mahø aˆsin wal-masaˆwıˆ, even paired the positive and negative aspects of poetry and literature. These al-mahø aˆsin wal-masaˆwıˆ works (sometimes entitled “al-Mahø aˆsin wal-Adø daˆd ”, indirectly revealing the affinity of their mental structure with that of their linguistic cousins) formed part of what is known as adab literature, a largely anecdotal literature designed to be at once edifying and entertaining. Among the most important texts in the adab corpus were the encyclopedias, collections of varied materials with no apparent principle of external organization. The organization of chapters within an encyclopedia is dominantly syntactic but with syntagmatic elements added. The most common organization of an adab encyclopedia reflected a socially determined and descending semiosis of placement. Religion and the State began the sequence, with women, animals, or the handicapped bringing up the rear. The adab anecdotal work was rich in intertextuality. QurÅaˆnic verses, hø adıˆth, poetry were integral parts of its discourse.
1805
90. Sign conceptions in the Islamic World
7.
Rhetoric
Poetry is, however, the medium of which the Arabs have always been most proud. It is not surprising, therefore, that the Middle Ages already saw the development of a rhetorical tradition that was complex, sophisticated, and heavily concerned with problems of signs. Rhetoric (balaˆgha) was a predominantly Arabic science, and Hellenistic influences remained marginal in its intellectual constructs. Its main impetus was a desire to elucidate the poetic corpus, but it also served to explicate the theological principle of the inimitability of the QurÅaˆn (i¤jaˆz al-qurÅaˆn). Names that stand out in this domain include the afore-mentioned Ibn Qutayba, the poet and critic Ibn al-Mu¤tazz (died 908), Qudaˆma ibn Ja¤far (died 932⫺948?), Abuˆ Hilaˆl al¤Askarıˆ (died ca. 1010), and last but not least, the master codifier of the metaphor, the simile, and the analogy, ¤Abd al-Qaˆhir al-Jurjaˆnıˆ (died 1078). The full systematization of balaˆgha, however, takes place with al-Sakkaˆkıˆ’s (died 1229) division of the science into three areas, one of which, the badıˆ¤ (the beautification of literary style) dealt predominantly with tropes. But rhetorical discussions were so important that they were indulged in by critics writing on the science of language, such as al-Tha¤aˆlibıˆ (died 1038) in his Fiqh alLugha (cf. the history of rhetoric in medieval and Renaissance Europe: Art. 53 and Art. 67 § 3.). 7.1. Isti¤aˆra One of the figures that most fascinated medieval critics was the isti¤aˆra, normally translated as “metaphor”. The codification of the isti¤aˆra was not a simple matter and alJurjaˆnıˆ gave it its most effective analysis. The Arabic term is derived from the concept of borrowing, and much discussion is devoted to how far the process of transference (naql) or substitution should go. Put in semiotic terms, it is the substitution of one signifier for another that is in question. Is the signified then still the original one, and if not, how close does it come to the second? Does the second signified retain elements or borrow from the first meaning? The isti¤aˆra becomes, in effect, a linking of two semantic fields. 7.2. The truth value of poetic signs The ambiguity in the nature of poetic signs comes up in another lively topic, that of whether or not poetry is a lie. “The best po-
etry is the most mendacious” was a proposition debated by rhetoricians and philosophers alike. This notion was based on the idea that since the best poetry was that which made the greatest use of figurative language, and figurative language enunciated propositions which were untrue if understood literally, then the best poetry was that richest in lies. At stake, of course, was the nature of the poetic sign and the true signifieds of the words in poetic discourse. The discussion was as much theological as poetic. What was the nature of poetry? Was it truthful or a lie? Cultural (and theological) arguments for these questions were adduced: e. g., Muhø ammad’s complex and ambivalent relationship with the poets of his own day. Though medieval critics defended both sides of the question, the moral and ethical implications of the saying were eventually set aside. The veracity of poetic signs was still open to question. ⫺ Concerning grammar, rhetoric and poetics in Ancient Greece and Rome cf. Art. 42, in India cf. Art. 92 §§ 3. and 4.
8.
Onomastics
Another area in which Islamic civilization singled itself out was that of onomastics. 8.1. Multiplicity of names The multiplicity of names for one individual has always struck outsiders. In 1302, a Mongol dignitary told a Mamluˆk ambassador: “You each have three names to make others believe that you are more numerous.” The onomastic complexity might be linked to the fact that the deity himself possesses ninetynine names, each referring to one of his characteristics. The names of God can be used with the prefix “ ¤abd” (‘servant’) by believers as first names, such as “ ¤Abd al-Rahø maˆn”, ‘Servant of the Merciful’. This at once links a name to a specific individual and to an aspect of the deity, the name implying specificity and non-specificity at the same time. 8.2. The onomastic chain A medieval Muslim can have numerous onomastic elements, normally linked in a chain, which identify him personally. The chain is an ingenious and sophisticated sign system which defines an individual in the fullest possible way, beginning with his biological paternity, going through his patronymic, his tribal affiliation, his occupation, nicknames, and a
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
variety of appellations that place him socially. A later development is the creation of a name appended to the suffix “religion” or “state”, such as “the Beauty of Religion” (“Jamaˆl al-Dıˆn”), “the Sword of the State” (“Sayf al-Dawla”), etc. The elimination of one element, such as an honorific, could have disastrous effects, as when the famous litte´rateur and historian of Baghdad, al-Khatøˆıb alBaghdaˆdıˆ (died 1071), slighted the founder of the conservative H ø anbalıˆ legal school, Ahø mad ibn H ø anbal, by omitting one of his appellations. This continues to infuriate religious scholars.
dividual’s ism and the patronymics of “Abuˆ Bakr Ahø mad ibn ¤Alıˆ” do not really identify him.
8.3. The onomastic sign between name and attribute This virtually infinitely expandable system has interesting semiosic effects. At first sight, it might appear that only the ism or first name, in form equivalent to a Christian given name, is a true name, and that the other terms in the chain are really descriptives or attributives. Closer examination, however, shows that this is not the case. Later items, be they patronymics (e. g., “Abuˆ ”, ‘Father of’; “Ibn”, ‘Son of’) or titles, function virtually as metaphors, since their signification always embodies a tension between the meaning normally associated with the words (for example, “al-H ø anbalıˆ ”, ‘the H ø anbalıˆ’, or “alDimashqıˆ ”, ‘the Damascene’) and their function as a name element; for these other onomastic elements can be used, even without the ism, to refer to the individual. Even the kunya, a name element based on “Abuˆ ” (‘Father of’), often functions in this manner, since it need not provide the name of an offspring, but may constitute either a semantic link with the ism or a nickname based on the character of the individual. This tendency can be seen most clearly in what is called a “shuhra”. The shuhra, normally signalled in the onomastic chain by the expression “al-ma¤ruˆf bi” (‘known by’), is not really a nickname but rather an onomastic syntagm of varied length, which tended to become the predominant sign used to refer to the individual in question. Semiotically speaking, therefore, it is much more a name than the individual’s ism, which may have completely dropped out of use except in an onomastic chain. Almost any group of name elements can form a shuhra. The shuhra “alKhatøˆıb al-Baghdaˆdıˆ”, for example, translates as ‘the Baghdaˆdıˆ preacher’, but this same in-
8.4. Linked onomastic codes Elements in the onomastic chain were semiosically linked. For example: the ism “Yuˆsuf” (‘Joseph’) was a popular name that ultimately calls up the twelfth suˆra in the QurÅaˆn, named after the Biblical (and QurÅaˆnic) prophet, considered a paragon of beauty in Islam. Joseph’s link to beauty then affects other onomastic elements attached to individuals bearing that first name: the patronymic, “Abuˆ al-Mahø aˆsin”, ‘Father of the Beautiful Things’, and the name with “religion”, “Jamaˆl al-Dıˆn”, ‘Beauty of Religion’. All three onomastic elements operate around the same subtext. ⫺ Concerning the role of names and marks in other cultures cf. Art. 37 § 4., Art. 47 § 5.1., Art. 61 §§ 1. and 3.1., Art. 89 § 2.2., Art. 92 § 6.2., Art. 93 §§ 3.1. and 6.
9.
Biography
The onomastic chain appears most clearly in the biographical compendium, an indigenous literary form unknown in the medieval West. Biographical dictionaries were a favored historical and literary form which emerged fairly early from a concern with the classification of hø adıˆth transmitters and religious authorities, but reached its greatest heights during the Mamluˆk period (ca. 1250⫺1500). Biographical compendia could be defined either chronologically (by century, for example), geographically (by city or country), by occupation (e. g., QurÅaˆn reciters, judges, physicians) or by physical type (e. g., the blind, the one-eyed). Internally, the notices in a dictionary might be in alphabetical order (by isms) or by a classification system known as “tøabaqaˆt” (‘classes’) which could represent generations (especially when these took on extrachronological significance). Within the notices themselves, information is coded by arrangement, using both paradigmatic and syntagmatic principles (cf. Art. 2 § 3.).
10. Art 10.1. Licitness of visual representation The disciplines hitherto discussed are all linguistically based and show a fascination with the Arabic language: hence the predominance of the word as a sign should come as no sur-
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prise. What effect did this have on traditionally non-linguistic areas of cultural production, such as art? The debate over the nature of visual art in the Islamic world is a lively one, and a great deal of misconception has arisen over the question of visual representation. The hostile attitude to representation appears predominantly in the hø adıˆth literature, where, among other things, it is said that the artist will be confronted on Judgment Day by being challenged to bring his work to life. His failure will then justify his punishment. One of the names of God is “alMusøawwir”, ‘He who creates form but also gives form to creation’. Hence, any artist (and even more so the sculptor) is seen as a competitor with the deity. Clearly, the interdiction is based on the fact that visual representation is seen as the creation of forms and not as their iconic signification. ⫺ Concerning iconoclastic tendencies in other cultures, see Art. 47 § 3., Art. 60 § 4.7., Art. 61 § 2.2.5., and Art. 72 § 11. 10.2. Religious visual representation Complex civilizations, like that of Islam, are never so simple, however. Illuminated manuscripts were commonplace in the medieval period, and the Prophet and other holy figures from the Islamic religious pantheon quite often found their way into these illustrations. This tendency became greater in the later medieval and early modern periods in the Persian, Ottoman Turkish, and Mughal cultural spheres. Representations of religious figures were also regularly provided with halos of light, much as in Christian traditions. But in contrast to these pictorial traditions, the faces of the Muslim holy figures were often replaced by a radiant whiteness signifying brilliance and an essential unrepresentability. Of course, the deity himself is never represented in any form. 10.3. Public decoration and calligraphy A distinction seems to have operated, however, between the more intimate and private world of the book and the more public, even official, domain of architectural decoration. Here, if one excepts a few early and marginal cases, like Umayyad hunting lodges, visual representation is absent. One result is well known: the emphasis on the arabesque and other purely abstract forms of decoration. Otherwise, mosque and other public decoration (e. g., hospitals, mosque-college complexes and even palaces) was restricted pre-
1807 dominantly to calligraphy, which is, after all, the word made art. In certain cases, plants and non-living objects could be seen (as in the Umayyad Mosque in Damascus, for example, built under Byzantine influence). Hence, in what we might call Islamic public decoration, the artistic presence of calligraphy means that verbal systems replace visually iconic ones. The name of God (“Allaˆh”) even made an ideal link between the decorative and the symbolic, since its Arabic graphism, with its strong rhythm of parallel vertical strokes, easily creates a visual pattern. In some Central Asian mosques, for example, what appears at first as a purely decorative design turns out upon closer examination to be a set of highly stylized representations using the word “Allaˆh” (see Fig. 90.3). ⫺ For a comparison with Chinese calligraphy, see Art. 93 § 8.2. 10.4. The ‘graphemic icon’ More importantly, the verbal material utilized in architectural decoration includes certain suˆras of the QurÅaˆn, repetition of the word “Allaˆh” (‘God’), the name of the Prophet Muhø ammad, the names of other ø asan, and H ø uholy figures, such as ¤Alıˆ, H sayn. In these cases, the verbal language functions like an icon. Where the Christian church has an icon, Muslims have the verbal sign. Further, when a Muslim in a mosque reads or sees the Prophet’s name (or the name of any other sacred figure), this evokes the presence and spiritual power of that figure in the same way that an icon does in a Christian holy setting. One can, therefore, speak of a graphemic icon in the sacred art of Islam, and this graphemic icon proves to be important in other cultural areas, such as popular piety. The graphemic icon here can possess the same magical or talismanic power that the visual icon would have in a religion that exploits iconographic systems. One has to think only of a practice still extant in North Africa today: verses of the QurÅaˆn are written on a plate, water is poured over them, and the resulting product given to a sick person to drink. On a more day to day level, where a Catholic driver might place a statue of St. Christopher on the dashboard of his car, a Muslim will have verses of the QurÅaˆn or an entire QurÅaˆn. Again, the word is supreme, this time as a functional icon.
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Fig. 90.3: Mosaic tile-work in the shrine of the poet and Sø uˆfıˆ saint ¤Abd Allaˆh Ansøaˆrıˆ, near Herat, early 15th century. It includes relatively clear (on the outside) and highly stylized (on the inside) calligraphic designs (from Safadi 1979: 108).
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11. Rational theology/kalaˆm The perception that their scripture is the speech of God raised problems for Muslim theologians and philosophers in the Middle Ages. The word applied to rational theology was “kalaˆm”, literally ‘speech’ and subsequently ‘the speech of God’. In the heyday of these discussions, Greek philosophical conceptions (reflecting the enormous translation movement from Greek to Arabic) had already permeated Islamic theological and philosophical thinking. The Mu¤tazilıˆs were the earliest to view theological questions through the lens of Greek philosophical notions. The most important issues, semiotically speaking, were related to the doctrine of tawhø ˆıd (‘the essential unity of God’) which brings with it, on the one hand, the possibility of God’s possessing attributes and, on the other hand, the question whether the QurÅaˆn was created or uncreated. The Mu¤tazilıˆ arguments advocating the created QurÅaˆn also brought into focus the nature of utterance (lafzø ). A believer’s recitation of the holy book is not uncreated, they argued. The entire discussion hinged on the understanding of the spoken word and its relation to its speaker. More fascinating for the nature of the sign is the debate over the attributes of God. How were the references in the holy text referring to the deity’s physical attributes, such as his face, his hands, and his sitting on a throne, to be understood? The Mu¤tazilıˆs decided that no attributes were separate from God’s essence, and hence his physical characteristics had a metaphorical status, the references being understood not literally but figuratively (majaˆz) and metonymically. As a result, the QurÅaˆnic word loses some of its referential specificity. Not happy with this alternative, the founder of the conservative Hanbalıˆ legal school, Ahø mad ibn H ø anbal (died 855), argued that God’s attributes had to be understood “without how” (bi-laˆ kayf). Later, the Ash¤arıˆ school used rational methods to refute the Mu¤tazilıˆs. ⫺ Concerning similar discussions in the Christian and Judaic contexts, see Art. 60 § 4.3. and Art. 61 § 7. A case has been made (Stetkevych 1981) that Mu¤tazilıˆ discussions of figurative language in the QurÅaˆn and related issues contributed to the development of the new poetic style of badıˆ¤, characterized by bolder and intellectually more sophisticated tropes.
12. Islamic philosophy and philosophical allegories Philosophers like al-Kindıˆ (died 866?) flirted with the Mu¤tazilıˆs. Islamic philosophy was a fully developed science that grew out of an active translation movement not only from the Greek but also from the Syriac. While ancient Greek texts involving semiotic issues, such as Aristotle’s logical works (commented by al-Faˆraˆbıˆ; died 950), were available to the Arabs, they had little influence on the development of semiotic theory in the Islamic world. The first stage in Islamic philosophy was an Eastern one, largely synthesizing NeoPlatonic natural science, metaphysics, and mysticism. Its major proponents were alKindıˆ, al-Faˆraˆbıˆ, and Ibn Sıˆnaˆ (Avicenna, died 1037). After the famous reconciliation of orthodoxy and mysticism by al-Ghazaˆlıˆ (died 1111), a second stage ensued which witnessed the development of a Western (Andalusian and North African) school, represented by Ibn Baˆjja (Avempace, died 1139), Ibn Tø ufayl (died 1185), and Ibn Rushd (Averroes, died 1198). Building upon the increasing distinction between the worlds of the philosophers and ordinary believers in the thought of Ibn Baˆjja and Ibn Tø ufayl, Ibn Rushd combined a consistent Aristotelianism with a kind of reader response theory, explaining the QurÅaˆn as using a symbolic and imaginative discourse which was designed to convince those incapable of understanding rational demonstration. Meanwhile, in the Eastern Islamic world, a school developed which was referred to as the “new wisdom”, best represented by al-Suhrawardıˆ (died 1191). What most characterized this development is the new relationship it created between philosophy and mystical insight. Using the metaphors of “light” and “darkness” (of QurÅaˆnic origin) to refer to the ideas of being and non-being, al-Suhrawardıˆ developed a system of emanation and gradations which explained different levels of being according to the strength or perfection of the light in them. Ibn al-¤Arabıˆ (died 1240), better known as a mystic than as a philosopher, carried the exploitation of metaphorical explanatory systems even further: e. g., nature is bukhaˆr (‘mist’) but also the “breath” of God. Of interest within a larger semiotic context are the allegorical philosophical works, of which the most famous is that of the Andalusian Ibn Tø ufayl. H ø ayy ibn Yaqzø aˆn (‘Alive Son of Awake’), a title pregnant with meaning but
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borrowed from an Avicennian allegory, is an extended philosophical narrative about a male infant abandoned on an isolated island who grows up independent of any contact with human civilization. Aided only by his rational intellect, H ø ayy learns the sciences and philosophy, attaining finally to mystical truths and the knowledge of God. Other individuals symbolize other paths to knowledge. On a different island, Asaˆl and Salaˆmaˆn represent respectively esoteric and exoteric approaches to religion. When Asaˆl enø ayy, he brings him in touch with counters H institutionalized, revealed religion. An attempt by the two to lead the inhabitants of Asaˆl’s island on the right path is unsuccessful, and the two live out the end of their days on H ø ayy’s island. This story, rich in philosophical and literary meaning, is a clear allegory showing the proper union between philosophy and mysticism. In addition to such obvious allegorical procedures, Ibn Tø ufayl also gives religio-philosophical meanings to events in his narrative through intertextual allusions to the QurÅaˆn and even the application of animal symbolism derived ultimately from preIslamic Arabic poetry.
is an allegory of the mystic’s ascent towards the deity. But it is perhaps the symbolic system more than anything else which calls attention to the encoded language of the Sø uˆfıˆ text. Mystical poetry exploited much of the same imagery as its more profane cousin. This went considerably further than the common semantic confusion of profane and mystical love. In effect, two parallel codes were set up, one mystical, the other profane, and linked by the idea of metaphorical substitution. The detailed description of the body of the beloved, for example, provides both an erotic and a mystical code. The mole on the beloved’s face, the khaˆl, refers to the point of Unity, concealed, and hence black. The result of this elaborate symbolism, of course, is to make the body of the beloved a sign of the Godhead. The other important set of mystic symbols comes from wine drinking and intoxication. The symbol of the saˆqıˆ (‘cupbearer’) partakes of both the erotic and the wine/intoxication systems. The resulting ambiguity in signification has meant that scholars still debate whether many a famous lyric (like those of H ø aˆfizø ; died 1390) should be understood in profane or mystical terms.
13. Mysticism and Sø uˆfıˆ symbolic codes Mysticism, much more than philosophy, is the area in Islamic culture rich in sign systems. After an initial period of strict asceticism, mysticism (tasøawwuf or Sufism) developed into a highly rigorous path, with its own set of rules and disciplines which permit the soul to separate itself from things of this world and eventually to attain direct communication or communion with the Godhead, sometimes in a perfect state of annihilation. Mysticism was not initially approved of by the more legally-minded, because of what was perceived as its heterodox, antiestablishment nature. Al-Ghazaˆlıˆ has received credit for having worked out an intellectual compromise between the two. In order to describe both the conditions of the ascent of the soul and the process of communion itself, the Sø uˆfıˆs made heavy use of figurative language, and it is no coincidence that many of their most important texts are poems. It is in the Persian linguistic sphere that one finds the fullest development of this tradition, as in the Mathnawıˆ of Ruˆmıˆ (died 1273) or the Mantøiq al-Tø ayr of Farıˆd alDıˆn ¤Atøtøaˆr (died 1190⫺1230?). ¤Atøtøaˆr’s work
14. Mantic systems 14.1. Islamic onirocriticism The Greek influences in Arabo-Islamic culture went beyond philosophy. And, as in the case of philosophy, the resulting disciplines became a mixture of the foreign and the autochthonous. This was as much the case for medicine and science as it was for onirocriticism and physiognomy. The onirocritical literature functioned along a set of codes, and, of all forms of divination of non-Islamic origin, oniromancy was the most acceptable to the orthodox. In the Greco-Islamic onirocritical tradition, best seen in H ø unayn ibn Ishø aˆq’s (died 873) translation of the Oneirocritica´ of Artemidorus, dreams are signs to the dreamer analyzed with reference to a code possessing its own syntax (the identical dream dreamed by different individuals has different significance). In the resulting hybrid Greco-Islamic system, both internal and external factors affected the nature of the dream as sign. Dreams received at dawn were more likely to be truthful, since earlier ones may have resulted from indigestion. Also, if the Prophet appeared in a dream then it was
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necessarily truthful. Subsequently, a hierarchy was instituted which placed individuals appearing in dreams in an order of preference. Thus, seeing one’s teacher (shaykh) also indicated truthfulness, but to a lesser degree. The appearance of a holy individual in a dream (and this act testifying to a dream’s veracity) raises an interesting problem in the nature of the sign. If the Prophet is really there (and the hø adıˆth and medieval sources argued that this was unequivocally the case), then the oniric experience functions as a direct vision of a real person, rather than as an iconic sign. The same is true in the very common cases in which the dreamer communicates with a dead individual. This flight from the icon does not mean however that the individual himself is not a sign of some other culturally important datum. But dreams also needed to be interpreted when they were not clear. And for this, one had dream interpreters and onirocritical works, which serve, in effect, as dictionaries of symbols. In one of the most popular compendia, that of ¤Abd al-Ghanıˆ al-Naˆbulusıˆ (died 1731), sandals signify women, or especially slave-girls, while the soles of sandals indicate men who take care of women. The major works of dream interpretation are still popular and new guides are constantly being printed, interpreting the same symbols in much the same way, but updated to include airplanes and other innovations of the modern age. 14.2. Geomancy One of the most interesting mantic systems, in being apparently indigenous to Islam and exported later to Byzantium and the West, is geomancy. ¤Ilm al-raml (‘The Science of Sand’) is a system of divination that revolves around the interpretation of a design consisting of a line of dots. The dots could be made either by the individual seeking help or by the interpreter of the system. A geomantic tableau is created by reading the lines of dots as odd or even and interpolating the resulting figures (in which even is represented by a pair of dots, odd by a single dot) through systems of addition and rearrangement. The resulting patterns of dots then signify the answer to the question posed to the geomancer. ⫺ Concerning techniques of divination in other cultures, see Art. 36 § 6. (Celtic), Art. 37 § 5. (Germanic), Art. 46 §§ 5.5. and 7. and Art. 47 § 6. (Greek and Roman), Art. 61 (Judaic),
Art. 89 § 6.2. (Ancient Oriental), Art. 93 § 5.3. (Chinese), and Art. 99 § 8. (Ancient American) as well as Art. 160. 14.3. Physiognomy The Arabic term “firaˆsa”, which covered a variety of forms of perspicacity and discovery of the internal from external traits, also signified the Greek science of physiognomy, the analysis of character from the form of facial features (cf. Art. 69 § 3.2.). In this case, also, similar pre-Islamic Arab practices were integrated into the largely Greek system (e. g., al-Raˆzıˆ, Kitaˆb al-Firaˆsa).
15. Alchemy A Greek ‘science’, alchemy (al-kıˆmiyaˆÅ ) under the Arabs was specifically associated with the manufacture of gold and silver. It later came to exist in a religious, specifically mystical, context. Its discourse had a touch of the esoteric, if not of the hidden, to it. Whether one wishes to view this as a result of rivalry between alchemists is open to interpretation. One thing is clear: the language of this pseudo-science was encoded in an often inconsistent manner. Names of planets and animals, for example, were used to refer to the metals, such as “al-shams” (‘the sun’) for gold, or “al-¤uqaˆb” (‘the eagle’) for sal-ammoniac. Anecdotal evidence suggests that recipes were frequently misread, leading often to humorous results.
16. Medicine 16.1. Greek and Islamic medicine It is perhaps in medicine that the Greco-Islamic marriage worked in the most interesting fashion. The Arabs are credited with having translated (and hence preserved) the Greek medical heritage (cf. Art. 45; see also Art. 83 § 1.). The names of the Greek physicians became part of everyday parlance in the Islamic medical tradition, and accounts of their lives found their way into the cherished Islamic biographical compendia. Islamic medicine also added Indian developments (cf. Art. 92 § 5.3.) and its own new contributions. Such physicians as al-Raˆzi and Ibn Sıˆnaˆ were well known in the West, and the latter’s alQaˆnuˆn fıˆ al-Tø ibb was a standard reference work in the medieval West as it was in the East. Sign conceptions followed the Greek system. Medical signs or symptoms were discussed using the term “¤alaˆma”, ‘sign’.
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16.2. Prophetic medicine There was, however, a tension in Islamic medicine between the Greek scientific tradition and an indigenous folk one, called “al-tøibb alnabawıˆ ”, literally ‘prophetic medicine’. Since the procedures of al-tøibb al-nabawıˆ were supposedly based upon the practices of the Prophet, its system of validation is explicitly religious rather than scientific. The works themselves combine scientific descriptive passages with the citations of hø adıˆths, whose semiosis follows that of other non-medical hø adıˆths. Prophetic medicine is alive and possibly growing in influence in the Muslim world today. Works like al-Tø ibb al-Nabawıˆ of ø anbalıˆ theologian and legist Ibn Qaythe H yim al-Jawziyya (died 1350) are sold in the streets at a very affordable price.
17. Mathematics 17.1. Numeral systems Mathematics was also a domain in which medieval Muslims excelled. Both their adoption of the Indian reckoning system, with its use of zero and decimal numerical place values, and much of their work in algebra came to the West through translations of the works of al-Khwaˆrizmıˆ (died ca. 847). Medieval Muslims used several numeral systems. The abjad, based on the letters of the Arabic alphabet (which begins alif, baˆÅ, jıˆm, daˆl, hence “abjad”), assigned numerical value according to the position of the letter in the alphabet (cf. the practices based on the Greek alphabet, Art. 41, and on the Gothic alphabet, Art. 37 § 3.1.). It was widely used with the sexagesimal system employed by the astronomers. Two specific sets of graphemes were also used for numerals: in the East, a set known as “Indian” numerals (see Fig. 90.4); and in the Islamic West, another set of graphemes which are apparently the ancestors of the present European numerals (see Fig. 90.5). 17.2. Algorithms and mathematics The decimal system of notation and arithmetic, along with the principal arithmetic algorithms (the Western term being derived from a corruption of “al-Khwaˆrizmıˆ”) were known from at least the ninth century and referred to as “al-hø isaˆb al-hindıˆ” (‘Indian reckoning’). The zero (søifr) was not strictly conceived as a numerical sign but as a marker that a place was empty or had no value in it. The algebra of the medieval Muslims (“al-jabr”, the origin
Fig. 90.4: Eastern or Standard Numerals.
of the Western term) was derived from both Greek and Indian sources. Terms were developed for second, third, and fourth powers of quantities, as well as corresponding roots. Important advances in this area were made both by al-Khwaˆrizmıˆ and ¤Umar Khayyaˆm (died 1131). Advances in trigonometry are credited to Abuˆ al-WafaˆÅ (died 998). ⫺ See Art. 41, Art. 89 § 3.1., Art. 92 §§ 5.1. and 5.2. for early mathematical practices in other cultures.
18. Contemporary developments The preeminent characteristic of contemporary semiosis in the Islamic world is the tension between indigenous Islamic sign systems and imported Western ones. For comparable developments in other cultures, see Art. 91 § 5., Art. 94 § 8., and Art. 97 § 8. The dominance of the word, a legacy from the classical period, is being modified by the intrusion of visual language. The oral QurÅaˆn still dominates the auditory landscape through mosque loudspeakers, radios, tape recorders, etc. But this oral presence is beginning to be doubled
90. Sign conceptions in the Islamic World
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Fig. 90.5: Western or Maghribi Numerals with European derivatives (from the Encyclopedia of Islam 1960 ff: III, 468).
visually on television screens, when the regular presentation of a handsomely calligraphed text (QurÅaˆnic verse or hø adıˆth) is presented visually as a voice-over pronounces it. While the sounds of contemporary Muslim societies are still largely non-Western (e. g., popular music), the universe of images has been heavily westernized. Though cinema and television (the latter heavily imported) have made enormous inroads, printed and painted advertisements in newspapers, storefronts, and billboards have introduced a ubiquitous iconic language of largely Western origin. Traditional calligraphic forms are usually reserved for religious products, effectively signifying tradition. The coexistence of visual codes associated with the direction of Western alphabets (Arabic is read from right to left), like the Golden Section of the cinema screen or the order of comic strip frames, has created considerable semiosic confusion. In which direction does a contemporary Arab ‘read’ the cinema screen, especially when one considers that the individual may be at home in both a Western and the Arabic alphabet?
19. Selected references Abu Deeb, Kamal (1979), Al-Jurjaˆnıˆ’s Theory of Poetic Imagery. Warminster: Aris and Phillips. Aziza, Mohamed (1978), L’image et l’islam. Paris: Albin Michel.
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91. Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika 1. 2. 3. 4.
Nichtislamisches und subsaharisches Afrika Zeichensorten und Zeichenterminologie Statisch-räumliche Zeichen Bewegungen als Zeichen 4.1. Zeichenprozesse zur Gliederung des sozialen und individuellen Lebens 4.2. Zeichenprozesse im Verhalten zu Natur und Kultur 4.3. Besessenheit als Text 5. Zur Spezifik von Zeichenprozessen in subsaharischen Gesellschaften 6. Literatur (in Auswahl)
1.
Nichtislamisches und subsaharisches Afrika
Die gesonderte Diskussion von Zeichenprozessen in einem „islamisierten“ und einem „nichtislamischen“ Afrika ist territorial und gesamtkulturell gesehen sinnvoll und notwendig. Sie entspricht der für andere Bereiche getrennt geführten Behandlung des nördlichen und des subsaharischen Afrika. Dabei
ist aber die Verbreitung des Islam zum Süden, über die Sahara hinaus in Vergangenheit und Gegenwart zu berücksichtigen. Abgesehen von einigen größeren Gebieten im zentralen und südlichen Afrika gibt es keine Kulturen, die nicht zumindest teilweise vom Islam berührt sind (zu den Zeichenkonzeptionen der islamischen Welt vgl. Art. 90, zum islamischen Einfluß in Südostasien vgl. Art. 96 § 5. und Art. 97 § 3.2.). Obwohl über die Spezifik der Wirksamkeit des Islam im subsaharischen Afrika Erkenntnisse vorliegen, erlauben die Vielfalt der Kulturen und die Unterschiedlichkeit der Berührung durch den Islam vorerst kaum, allgemeine, übergreifende Aussagen über die Modifizierung der Zeichenbehandlung durch den Islam in subsaharischen Kulturen mit hinreichender Genauigkeit zu treffen. Einzelne Beobachtungen zeigen teilweise Abweichungen von der Situation im Norden, der seit mehreren Jahrhunderten dominant bzw. völlig islamisiert ist. Für das westliche Ghana und angrenzende Gebiete
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91. Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika
Abb. 91.1: Politische Gliederung des subsaharischen Afrika Anfang 1997.
(vgl. Abb. 91.1) stellte zum Beispiel Bravmann (1974) fest, daß Maskenaufführungen ⫺ von konservativer Islamdeutung abgelehnte hochfigurativ besetzte Darstellungen ⫺ als periodische bzw. häufig durchgeführte symbolische Aktionen zentrale Bedeutung für islamisierte Gruppen im Umgang mit Krisensituationen haben. Darunter sind sowohl Maskeraden, deren Ursprünge deutlich in nichtislamischen Kulturtraditionen liegen (zu Umzügen und Maskeraden in der griechischen und römischen Antike vgl. Art. 47 §§ 2.2. und 4.3., in Altamerika vgl. Art. 99 § 5.), als auch solche, die ausdrücklich aus spezifisch islamisch begründeten Interessen bzw. Vorstellungen hervorgegangen sind.
2.
Zeichensorten und Zeichenterminologie
Es gibt noch keine nennenswerten Untersuchungen, die eine Klärung von Zeichen-Vor-
stellungen oder -Konzeptionen bzw. -Begrifflichkeiten im subsaharischen Afrika erlaubten. Auch entsprechende Analysen der Sprachen und Terminologien stehen noch aus. In Anbetracht der äußerst vielfältigen Sprachen wird es selbst bei verstärkter gezielter Forschung schwierig werden, kulturelle Spezifika der einzelnen Regionen und Gesellschaften in ihrer jeweiligen Haltung zu Zeichen und ihrer sprachlichen Fassung hinreichend zu ermitteln. Auch sind mögliche geschichtliche Bewegungen von Konzeptionen und Termini hinter das späte 19. Jahrhundert zurück mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr exakt zu verfolgen. Im folgenden wird versucht, einige charakteristische Zeichenprozesse darzustellen. Das geschieht aus der Perspektive eines Europäers (insbesondere mit der Wahrnehmungsart und mit den Begriffen, die diese konditionieren) sowie mit den afrikanischen Erfahrungen, die ihm zur Verfügung stehen. Beim Gebrauch
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
von Termini wie „bezeichnen“, „konnotieren“ und „bedeuten“ wird nicht beabsichtigt, eine spezifische westliche Zeichentheorie ausdrücklich zu nutzen oder zu diskutieren. Mit „bezeichnen“ und „bedeuten“ sind hier allgemein Beziehungen zwischen Zeichen und Sachverhalten bzw. Vorstellungskomplexen gemeint (vgl. Art. 3 § 2. und Art. 4 § 1.). In speziellen Fällen soll mit „bezeichnen“ das gleichsam manifeste, z. B. „ikonische“ Bezugnehmen auf einen Sachverhalt bzw. Vorstellungskomplex im Sinne von „denotieren“ benannt werden. Mit „bedeuten“ (oder eben „konnotieren“) wird verwiesen auf die nichtsinnlich gegebene, z. B. „symbolische“ Beziehung zwischen einer Darstellung und den sich zu ihr in der Kommunikation (möglicherweise) entfaltenden Interpretationen (im Sinne von „Konnotationen“; vgl. Art. 117 § 5.). Diese sich nicht streng definierende Verwendung nimmt u. a. Bezug auf Ecos Diskussion semiotischer Theorien und die Problematisierung von Denotieren und Konnotieren in seiner Einführung in den Zeichenbegriff (Eco 1977, 99⫺102, 181 ff; vgl. auch Art. 120). Subsaharische Gesellschaften waren mit zu vernachlässigenden Ausnahmen, z. B. den islamisierten Swahili der Ostküste, oral. Artefakte sind nur bedingt erhalten. Das hängt einerseits mit den Materialien (Holz) und den klimatischen Bedingungen (Tropen, hohe Luftfeuchtigkeit) zusammen, ist aber andererseits auch ein signifikantes Merkmal vieler, vielleicht der meisten traditionellen Kulturen selbst. Es betrifft somit auch Arten und Umfang ihrer wichtigsten Zeichenprozesse. Das entscheidende Charakteristikum subsaharischer Gesellschaften, zumindest in der vorkolonialen Zeit, war, soweit beobachtbar, die Kommunikation der sich bewegenden Körper, anders formuliert: die symbolische Tätigkeit. Das schloß die teilweise einschneidende Rolle „ruhender“, unbeweglicher Zeichenkomplexe (Architektur bzw. Raumordnung von Dörfern und Städten) und des ObjektZeichens als solchen (Fliegenwedel, Kostüm, Thron) nicht aus. Königreiche der Akan (Ghana) nahmen ⫺ bzw. nehmen, soweit überkommene Herrschaftsstrukturen partiell weitergeführt werden ⫺ einen zumeist schwarzen Hocker als entscheidendes Zeichen für die legitime Ausübung der Königsfunktion, der jeweiligen Inthronisierung oder Absetzung („enstoolment“ oder „destoolment“). In welchem Maße symbolische Tätigkeiten als Zeichenprozesse herausragend wa-
ren, ist von Thompson (1974) in seiner Untersuchung zu Kunst- bzw. Ritual-Artefakten (daher auch zu Masken als Kostüm) in Nigeria auffällig gemacht worden. Seine Arbeit resultierte in der übergreifenden Charakterisierung entsprechender Phänomene als „art in motion“ (vgl. auch Duerden 1975). Maskenartefakte und andere Objekte, in europäischen Museen als Symbole und als „bildende Kunstwerke“ in der puren statischen Räumlichkeit ausgestellt und so definiert, sind ⫺ bzw. waren ⫺ in den afrikanischen Kontexten in der Regel funktionale oder Teil-Elemente von übergreifenden zeremonialen, festlich-ritualen und künstlerischen Vorgängen, also von Zeichenbewegungen (vgl. Abb. 91.2). Im folgenden werden einerseits Beispiele statisch-räumlicher Zeichen (Objekte, Raumordnungen bzw. Vorstellungen) gegeben, andererseits Strukturen und Kontexte der Kodierung von Bewegungen (Tätigkeiten) als hervorstechende und besonders charakteristische übergreifende Zeichenpraktiken skizzenhaft beschrieben und gedeutet.
3.
Statisch-räumliche Zeichen
Generell war das Leopardenfell, als Kopfbedeckung oder als Kostüm und Requisitenelement verarbeitet und demonstrativ getragen bzw. auffällig vorgewiesen, gleichsam statisch (dauerhaft) präsentes Zeichen für die Führungsrolle einer Person bzw. einer sozial-politischen Funktion (etablierter Chef, Fürst, König). Zaires Präsident Mobutu knüpfte an diese Traditionen mit der Leopardenkappe an, die er in den 70er und 80er Jahren ständig in der Öffentlichkeit trug. Ähnlich demonstrierte Jomo Kenyatta eine mit Federn besetzte Leopardenfellkappe und eine Art Schulterbedeckung aus Leopardenfell als Zeichen seiner Führungsrolle, nachdem er der erste Präsident des unabhängigen Kenia in den 60er Jahren geworden war. Im Regenwaldgürtel Westafrikas (bis Kamerun) kennzeichnet eine in verschiedenen Variationen (bis hin zur Gesichtsverhüllung) geformte Kopfbedeckung mit bzw. aus aufgereihten Muscheln oder aus glasperlenähnlichem Material vor allem Königsrang (zu weiteren afrikanischen Herrschaftszeichen s. u. § 4.1.; vgl. auch Fraser und Cole 1972 sowie Eyo und Willett 1982). Es dürfte instruktiv sein, diese Herrschaftszeichen denen anderer Kulturen gegenüberzustellen; vgl. etwa die Zeichen-
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91. Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika
Abb. 91.2: Zwei Kore` in der Rolle von Hyänen (nach Zahan 1960, 40).
sprache der Kaisermacht in Byzanz: Art. 60 § 3.2., und in China: Art. 93 §§ 5. und 6. Die Anlage von Dörfern und Städten weist � nach bisherigen Kenntnissen in allen Regionen � auf verschiedene verwandtschaftliche bzw. soziale Gliederungen (eigenständige Großfamilien bzw. Liniengruppierungen, Teilungen bzw. Differenzierungen in Kasten oder Berufsgruppen, in „untere“ und „obere“, daher herrschende, privilegierte bzw. aristokratische Linien, Clans). Raumanordnung und -besetzung versinnbildlicht übergreifende Wertgefüge und moralische Vorstellungen bzw. Praktiken, Ansichten von Natur und Kultur sowie deren Verhältnis zueinander, Konzepte sozialer Beziehungen und politisch relevanter Haltungen. Die Mende (Sierra Leone) strukturieren ihre Siedlungen offen-
sichtlich als Zeichen ihrer komplexen Widerspruchs- und Balancevorstellung von grundlegenden Lebensprozessen und von entsprechenden Regelungen ihrer sozio-kulturellen Praxis. Besonders deutlich werden diese in ihren Darstellungen von Geschichten (orale Geschichtenerzählung), wie sie Cosentino (1982, 33 f) beobachtete. Die Erzählungen geben so auch Aufschlüsse über die Signifikanz der Raumgestaltung. Die gleichsam polare Anordnung von Häusern und Institutionen der kleinen Stadt Matruu zeigt die kulturelle Multivokalität, die Praxis und das Konzept einer pragmatischen Balancierung bzw. eines prinzipiellen Aufeinandereinwirkens widersprüchlicher und gegensätzlicher Kräfte (vgl. ähnliche Zeichenvorstellungen im Städtebau der europäischen Antike: Art. 44 § 3.3., des
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
europäischen Mittelalters: Art. 55 §§ 5. und 7. sowie des heutigen Asien: Art. 93 § 9.2. und Art. 97 §§ 5.2. und 8.4.). Die Haine, in denen der Sande-Bund (Frauen-Assoziation) und der Poro-Bund (Männer-Assoziation) spezielle Aktivitäten durchführen, liegen sich an den östlichen und westlichen Siedlungsrändern gegenüber, die Spannungen der Geschlechter vermittelnd. Der „Geburtshain“ und die Begräbnisstelle der Stadt befinden sich jeweils am nördlichen bzw. südlichen Ende. In der gleichen Weise versinnbildlichen christliche und islamische Missionierung diese tradierte Haltung. Katholiken und Adventisten errichteten ihre Missionshäuser an auffällig entgegengesetzten Stellen der Stadt, während sich die Moschee direkt in der Mitte zwischen diesen befindet. Die Haltung zur Kaya, einem Waldstück im Gebiet der Giriama an der Küste Kenias, ist ein besonderes Beispiel für die semiotische Besetzung von Raum (Parkin 1991). Offensichtlich diente die Kaya bis 1860 einer größeren Bevölkerungsgruppe inmitten von Handelsrouten pragmatisch-instrumental als eine militärisch befestigte Siedlung. Lediglich ein magischer Schutzstein, „ngiriam“ genannt, der im Zentrum stand, hatte wohl eine akzentuierte sakrale Bedeutung. Im Verlauf der Kolonialisierung und der damit verbundenen Kapitalisierung der Lebensverhältnisse löste sich die Kaya als Siedlung weitgehend auf. Die Giriama leben heute geteilt unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Die weitgehend leere Kaya ist zu ihrem zentralen Raum, d. h. Bezugspunkt für grundlegende Vorstellungen über die Behandlung von Gefahren bzw. Krisen, über Reinheit und Abwehr von Tod und Verfall geworden. Der „leere Raum“ erscheint als ein Komplex unterschiedlicher, veränderbarer Vorstellungen und Praktiken zur Existenzsicherung in prekären Lebensumständen, d. h. er bedeutet diese. Die Giriama leben heute in zwei Gebieten unter ungleichen Umständen ⫺ in übervölkerten Ost- und Küstenstrichen (Handel) und in einem dünn besiedelten Weststreifen, in dem Viehzucht vorherrscht. Die Verhältnisse im Osten und besonders an der Küste bedrohen die Identität, den ethnisch-kulturellen Zusammenhalt der Giriama im Unterschied zu den Verhältnissen im Westgebiet. Die Kaya, der fast leere Raum, liegt hier. So wird die Kaya unter anderem konzipiert, gesehen und behandelt als Raum der Autonomie, der Selbständigkeit und des entsprechenden tradierten kulturellen Wissens, als Raum
der erworbenen Weisheit aus der Vergangenheit und als Bewahrer der Giriama-Identität für die Zukunft, aber auch als zentraler politischer Sammlungspunkt und als Quelle für erworbenes Wissen von Natur, (Wald-)Medizin und Rechtsverhältnissen (vgl. Parkin 1991).
4.
Bewegungen als Zeichen
4.1. Zeichenprozesse zur Gliederung des sozialen und individuellen Lebens Der öffentliche Verkehr der vorkolonialen Gesellschaften unterschiedlicher Typen (von acephalen bzw. staatenlosen, in Großfamilien bzw. Dorfgemeinschaften relativ egalitär strukturierten bis zu sozial antagonistischen, in „Kasten“ und Klassen gespaltenen und staatlich organisierten) war, soweit Beobachtungen ausweisen, im überwiegenden Maße durch das Zusammenspiel von Bewegung, Raumanordnung, Objektausstellung und/ oder -handhabung auffällig kodiert. Arbeitsprozesse, politische Begegnungen, alltägliche Tätigkeiten vollzogen sich im bezeichnenden Arrangement der teilnehmenden Personen (räumlicher Abstand, körperliche Haltung, Teilnahme bzw. Fehlen von Frauen oder Männern), durch gestisch-sprachliches Ausstellen von Verhalten (Begrüßungsformeln), rhythmisierte Bewegung (wie eingeschobene Tanzpartien bestimmter Funktionsträger) und den Gebrauch ikonisch-mimetischer Zeichenbündel (wie Niederwerfen und Niederknien; vgl. damit die byzantinischen Unterwerfungsgesten: Art. 60 § 3.2.2.). Die Khoisan-Völker (Buschmänner) des südlichen Afrika, wandernde Sammler und Jäger, kodierten ihre entscheidende Lebenssicherung, die Jagd, insbesondere durch Verteilungspraktiken. Gejagt wurde mit vergifteten Pfeilen; die angeschossenen Tiere wurden verfolgt, bis sie verendeten. An der Bergung nahm die ganze jeweilige Gruppe (Verbund mehrerer Familien in einem Lager) teil. Die verschiedenen Teile des erlegten Tieres aber wurden unterschiedlich verteilt. Sie durften nur von bestimmten Personen (wie dem erfolgreichen Jäger, Frauen, Kindern/Jugendlichen, dem Vorstand der Gruppierung) gegessen werden. Das verwies auf unterschiedliche Rollen in der Jagd. Darüber hinaus deutete es differente Rollen im sozialen Leben der Gruppe an. Dabei waren teilweise weltanschaulich-magische Kausal-Vorstellungen im Spiel. Frauen durften u. a. in einer Busch-
91. Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika
mann-Gruppierung nur bestimmte Teile des Fleisches essen, weil sonst nach herrschender Vorstellung das Pfeilgift bei nächsten Jagdhandlungen nicht mehr voll wirksam werden würde (vgl. Schapera 1965, 98 ff). Wie Ruel (1969, 49 ff) nachweist, ist im westlichen Kamerun (am Nigerdelta) das Erlegen eines Leoparden, des stärksten Tieres, komplex kodiert worden. Es konnte die besonders herausgehobene Rolle des jeweiligen Vorstandes einer Siedlung unterstreichen und damit auch die der gesamten Gemeinschaft, die der Vorstand nicht als besonderes Individuum, sondern in seiner Funktion (Chef, Vorstand) als Repräsentant vertritt. Der Vorstand gab gleichsam die Beute zum kollektiven Verzehr für alle frei, seine herausgehobene Position bezeichnend als erster entscheidender Empfänger des erlegten Tieres und die spezifische nicht-autoritäre Funktion des Chefs (nur Repräsentant der Gemeinschaft) durch das Überlassen des Fleisches an alle unterstreichend. In vielen Fällen erweiterte sich die rituelle Behandlung der Jagdbeute durch Bezug zu den Vorfahren (Toten) als Garanten der Sicherung der Linien bzw. Großfamilien der Siedlungsgemeinschaft. Der Dorfvorstand saß z. B. auf einem besonderen Hocker und zog mit einem besonderen „Leopardenmesser“ über das Fell. Danach berührte er den Boden als eine Nachricht für die Toten, von denen angenommen wurde, sie existierten unter der Erde. Dann nahm er das Messer in die andere Hand und hob es nach mehreren Strichen über das Fell zum Himmel, als eine Botschaft für den Gott, der als verbunden mit dem Himmel und damit dem Wohlergehen der Gemeinschaft vorgestellt wurde. In westafrikanischen Königreichen zeigt sich die herausgehobene, besondere, vielfach gleichsam sakralisierte Funktion des Königtums u. a. in dem Auftreten eines Sprechers. Der Herrscher kommuniziert bzw. verkehrt in der Öffentlichkeit mit anderen nur durch die Stimme des Sprechers. Das versinnbildlicht die Tatsache, daß er ein anderes Wesen ist als der normale Mensch. Nur durch die Vermittlung, durch die besondere Sprecherfunktion kann er mit den anderen in sinnhafte Berührung kommen. (Siehe Sembe`ne Ousmanes Film Ceddo; vgl. Rattray 1923.) Soziale, familiäre und politische Differenz wurde ständig (und wird heute in Resten) durch formelhaftes Niederknien und teilweise durch Niederwerfen (in einigen Fällen Kriechen) artikuliert. In Cheftümern und König-
1819 reichen, in denen Hierarchisierungen in sozialer und biologisch-verwandtschaftlicher Hinsicht absolut verfestigt sind, bezeichnet das Verhalten der jeweils kommunizierenden Personen deutlich ihre Position. Die jüngeren, verwandtschaftlich bzw. geschlechtlich „unbedeutenden“ Personen, vor allem die sozial und politisch jeweils Niedrigstehenden zeigen ihren Rang durch Niederknien oder Niederwerfen vor den „Bedeutenderen“ bzw. Höherstehenden am Beginn einer jeweiligen Begegnung oder auch während der gesamten Kommunikation an. Auch in sozial nichtantagonistisch gegliederten und staatenlosen Gesellschaften ist z. B., zumindest bis in die sechziger Jahre, die Differenz zwischen den Geschlechtern oft durch Knien und teilweise Das-den-Mann-nicht-Anschauen beim Entgegennehmen von Aufträgen und beim Servieren von Mahlzeiten bedeutet worden (vgl. die Kodierung des Geschlechtsunterschieds im Sprachgebrauch der Südostasiaten, Art. 97 § 2.3.). Auffällig sind verschiedenste massive Kodierungen wesentlicher Momente, Bewegungen und Sprünge im biologisch-agrarischen sowie individuellen (Geburt, Tod) und sozialen (Initiation) Lebenszyklus oder allgemein aller für eine jeweilige Kultur wichtigen „kritischen Übergänge“ und Brüche bzw. „Passagen“ (van Gennep 1909, Griaule 1938 und Zahan 1960). Feste und Rituale sind Bewegungs- und somit auch Zeichenkomplexe, die in unterschiedlichen Zeichenarten Verhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Großfamilien und innerhalb der Großfamilien, zwischen sozialen Schichten, Personen, und sozialen Funktionen sowie bestimmende Wertesysteme und Ethiken, ökonomische Relationen, Vorstellungen über bzw. Beziehungen zur Natur (Weltanschauung, Kosmologie usw.) bedeuten. Feste bzw. Rituale selbst sind so auch Texte (vgl. Posner 1992, 21ff), die von den unterschiedlichen Vorstellungen, Verhältnissen, Praktiken sprechen: Geburt, Übergang in andere Lebensalter (Initiation), Aufnahme in Assoziationen (Bünde) und deren demonstrative Wirksamkeit, Heiraten, Tod, Beziehungen von Großfamilien bzw. Linien, von sozialen Gruppen, Schichten, Staaten zueinander und zu sozial-natürlichen Lebensbedingungen (Krisen, biologisch-agrarischer Kalender, Krieg). Gelede-Feste der westlichen Yoruba (Nigeria und Benin) sind reichhaltige Schauspiele bzw. spektakuläre Ereignisse mit dem zentralen Element der Maskenauftritte und Mas-
1820
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
kentänze. Die Maskenträger bzw. -tänzer bewegen und balancieren teilweise riesige Kopfaufsätze. Ihre Aktionen sind unterstrichen bzw. teilweise kontrapunktisch begleitet durch Gesänge und Musik (Trommeln). Gelede-Feste werden jährlich zu Beginn der Regenzeit (Frühjahr) veranstaltet, können aber auch zu anderen Zeiten bzw. Anlässen durchgeführt werden ⫺ bei Krisen im Leben von Gemeinschaften wie Hungersnöten, zu Gedenkzeiten für Tote (Vorfahren), zu Begräbnissen und zur öffentlichen Reflektion über Kräfte, die nach Yoruba-Vorstellungen wesentlich die Welt- bzw. Lebensstrukturen bestimmen. „Ge“ bedeutet ‘besänftigen, beruhigen’, „ele“ bezieht sich auf die weiblichen Genitalien, die die weiblichen Geheimnisse und die lebensspendende Kraft der Frau symbolisieren. „de“ konnotiert Ausführungen bzw. Vorführungen, die konzipiert und realisiert werden zur Ehrung der Frauen mit dem Ziel (der Erwartung), daß die sie veranstaltende Gemeinschaft aus den der Frau innewohnenden Wirkungsmöglichkeiten Nutzen ziehen kann. Die Vor/Ausführungen erzählen von der Vorstellung, daß Frauen, besonders ältere, außerordentliche Kräfte besitzen, die denen der Götter gleich oder sogar überlegen sind. Sie konnotieren allgemein und verbalisieren direkt, daß Frauen „unsere Mütter“ und „die Eigentümer der Welt“ seien und sowohl nutzbringende, produktive wie zerstörerische Wirksamkeit für Land und Menschen haben. Die Tänze bzw. Masken (Maskeraden) selbst werden inszeniert und ausgeführt von Männern (zu Parallelen in den Tanztraditionen Asiens vgl. Art. 92 § 4.4., Art. 93 § 10.2., Art. 95 § 4.5. und Art. 96 § 6.). Dieses Moment verweist bereits als solches auf eine entscheidende komplexe, widersprüchliche soziale Struktur. Die dominante Rolle, die der Mann in wesentlichen öffentlichen Bereichen gegenüber der Frau effektiv hat, realisiert sich hier in einer Art Inversion ⫺ sie vermittelt das überlegene Wesen der Frau. Der Tanz als dynamisches Prinzip, als Bewegung bringt innere unsichtbare Kräfte zum Vorschein (externalisiert sie). Er produziert sie in Zeichen, bestätigt damit diese Kräfte und sichert sie zugleich (vgl. Drewal und Drewal 1983). In Krisenmomenten wie denen, an denen Gelede gleichsam instrumental zur Überwindung der Krise veranstaltet wird, ist es wesentlich, das Prinzip des Lebens zu bestätigen bzw. hervorzuheben. Das geschieht vor allem in den Kopfmaskenteilen (Aufbauten). Sie stellen Menschen(gesichter) oder Tiere dar. Auf bzw.
in die Aufbauten sind vielfach ikonische Artefakte montiert. Im 20. Jahrhundert stellen sie u. a. Fahrräder, Nähmaschinen und Waffen dar, wiederum von der Komplexität und Kompliziertheit des Lebens erzählend. Das Produktive und das Zerstörerische sind ineinander verschlungen. Zugleich können solche Maskenaufbauten, in Bewegung durch den Tanz gebracht, satirisch-ablehnende und, vielleicht sogar zugleich als unauflösbare Dialektik, affirmative Bedeutungen produzieren. Das ikonische Artefakt eines Maskenkopfes, das einen Afrikaner mit Tropenhelm auf einem Fahrrad darstellt, dient sowohl dem Lächerlichmachen des den Europäer nachäffenden Mannes als auch der Anerkennung derjenigen, die sich vorteilhaft und für sich selber nutzbringend der von außen kommenden Technik und ihrer Instrumente bedienen. Die Einsetzung (Inthronisierung) von Königen und/oder Chefs in etablierte, verfestigte Herrschaftsfunktionen ist eine der wichtigsten Perioden für die Produktion von Texten, die Wesen und Merkmal der jeweiligen Herrscherfunktion, soziale und politische Beziehungen der betreffenden Staaten oder Gemeinschaften, Auffassungen von der Welt bzw. von der eigenen Kultur vermitteln (zu den Ritualen der Herrscherinthronisierung in anderen Kulturen vgl. Art. 37 § 6., Art. 60 § 3.2. und Art. 89 § 4.). Die Krönung bzw. das „Machen“ des Kabaka, des traditionellen Königs der ostafrikanischen Baganda (im Buganda-Staat), versinnbildlichte Eigenheiten der Beziehungen zwischen dem König, den Chefs („Fürsten“), dem Herrschaftsapparat und der übrigen Bevölkerung. Man legte dem Königskandidaten öffentlich, „vor dem Volk“, 2 Kleidungsstücke aus Rinde an. Sie waren Zeichen der Herrscherfunktion. Ohne die spektakuläre Bekleidung wäre er niemals als König anerkannt worden. Wer die Rindenstücke anlegte, schlüpfte in ein anderes bzw. neues Sein; er erhielt eine andere soziale Stellung. Vor diesem Akt mußten im 19. Jahrhundert, vor einschneidenden Veränderungen durch die Kolonialisierung, mehrere symbolische Aktionen durchgeführt werden, so das Besteigen eines Hügels, auf dem später das Einkleidungsritual des Königs, die Investitur, stattfand. Wer den Hügel erklomm, wurde Herrscher. Wenn der Kandidat mit seinem Gefolge am Fuß des Hügels ankam, wurde er von einem Priester und einer zu ihm gehörenden Gruppe angehalten. Sie waren mit Zuckerrohr und Kochbana-
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nenblättern (Kochbananen sind das Hauptnahrungsmittel) bewaffnet. Zwischen beiden Lagern fand ein Scheinkampf statt, in dem der Priester und sein Gefolge besiegt wurden. Sie mußten sich zurückziehen, und der Königskandidat konnte mit seinen Leuten als Zeichen seiner Qualifikation für die neue Funktion den Hügel besteigen. Die Investitur im engen Sinne bestand unter anderem in der Bekleidung mit den Rindenstücken und der Übergabe von zwei Speeren und einem Schild. Einen Speer ausstreckend, schwor der neue König, seinem Lande die Treue zu halten. Dann hatte er vor der öffentlichen Ansammlung seines Volkes Fragen zu beantworten. Dabei streute er Kaffeebohnen, Zeichen seiner Fruchtbarkeit und seiner Freigiebigkeit, unter die Menge. Sie wurden eifrig aufgefangen bzw. aufgelesen. Der neue Funktionsträger zeigte, daß er das Bild von seiner Rolle als Ernährer aller Baganda erfüllt. Später wurde er vom Vorsteher (dem „Ältesten“) einer Linie (eines Clans) und zwei starken Männern umhergetragen, und die Menge mußte ihm huldigen als Bestätigung des Königs in seinem Reich (vgl. Roscoe 1911). 4.2. Zeichenprozesse im Verhalten zu Natur und Kultur Krisen und Drehpunkte im Leben unterschiedlich organisierter Gesellschaften werden zu ihrer Bewältigung in komplizierten Zeichenvorgängen behandelt. Für kürzere Zeiträume werden dabei dominante soziale und politische Verhältnisse und kulturelle Haltungen umgekehrt. Krisen und wesentlichen Einschnitten im gesellschaftlichen bzw. staatlichen Leben wird punktuell-unregelmäßig oder auch periodisch institutionalisiert begegnet mit dem verkehrenden Vorführen, daher dem Offenlegen von Spannungs- und Konfliktherden widersprüchlicher Beziehungen und Gegebenheiten (vgl. Rattray 1923, Gluckman 1963 und Babcock 1978). Auf europäische Kulturgeschichte bezogen, können solche Vorgänge mit saturnalisch-karnevalesken Tätigkeiten verglichen werden. Die ostafrikanischen Gogo (Tansania) verkehren grundlegende „normale“ sozio-ökonomische Beziehungen und kulturelle Haltungen, wenn die Existenz einer oder mehrerer Familien bedroht scheint, u. a. durch Viehkrankheiten oder extreme Dürre. „Normal“ waren die Gogo traditionell in weitgehend unabhängig voneinander lebende Großfamilien strukturiert (staatenlos, keine etablierte autoritäre Machtinstitution außerhalb
1821 der Großfamilie bzw. deren Ältestem oder Vorsteher). In dieser relativ weitgehend egalitären Gesellschaft gab es soziale Differenzen und somit Widersprüche und Spannungen zwischen den Geschlechtern. In der Tendenz war die Frau das unterlegene, „minder bedeutsame“ Element, ausgedrückt u. a. in den Tätigkeitsbereichen. Frauen betreuten traditionell das Haus und arbeiteten auf dem Feld, während die Männer das im Wertgefüge besonders hochstehende Vieh warteten. In Krisenzeiten wurden solche Rollen verkehrt als Zeichen der bedrohlichen Situation. Das war ein praktisch-instrumentaler und zugleich textproduzierend-kommunikativer Vorgang, der die Krise durch eine Krise (Unordnung durch Unordnung) überwinden, normale Produktivität in der Demonstration des „Unnormalen“ sichern bzw. wiederherstellen sollte. Die Vorführung des Un-Ordentlichen selbst bedeutete den Zeitraum einer Ordnung und Existenz bedrohenden Situation. Die Frauen übernahmen die Wartung des Viehs. Sie hatten jetzt die Lizenz, Vieh zu „rauben“ von Familien bzw. Gehöften, die nicht von der Krise bedroht schienen, und sie attackierten Männer, die über sie wegen ihrer Unfähigkeit, das Vieh zu warten, spotteten. Das militant-aggressive Verhalten des weiblichen Geschlechts war absolut unnormal, ungeheuerlich krisenhaft, „verkehrt“. Ferner verzehrten die Frauen Gerichte, die besonders für sie gekocht wurden, außerhalb der Gehöfte, während normal nur innerhalb der Behausungen gegessen wurde. Zusammen mit mannhafter Militanz (Viehraub, Angriffe auf Männer) kehrten sie Sexualität heraus und brachten sie satirisch-höhnisch gegenüber Männern zur Sprache ⫺ ein absolut un-normales, nicht-alltägliches, Ordnung verkehrendes Verhalten. Der inszenierte, daher bewußt hergestellte Zustand der Unordnung wurde mit einer entsprechenden Verkehrung kultureller Haltungen verabschiedet. Die Frauen tanzten und sangen den Krisenzustand in einen Sumpf an der Westseite der Gehöfte. Der Westen hat dort die Konnotation von Tod, Dunkelheit, Hexerei und bösen Geistern, also von Unproduktivität, Bedrohlichem und Krisenhaftem. Im westafrikanischen Ashanti-Staat (Ghana) waren, relativ genau beobachtet zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Verkehrungen institutionalisiert in dem jährlich stattfindenden Odwira-Fest, das anläßlich der Ernte der Yam-Wurzeln und damit des agrarisch strukturierten Jahresendes bzw. -beginns durchge-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 91.3: Apo-Fest bei den Ashanti in Ghana, ein Verkehrungsritual (nach Rattray 1923, 154).
führt wurde. Das Odwira-Fest war eine komplexe Vorführung unterschiedlichster Vorgänge, sich über mehrere Tage erstreckend. Demonstrativ versammelten sich in öffentlichen, zeichenbildenden Prozessionen Herrscher und Unterherrscher des Ashanti-Reiches in der urbanen Zentrale Kumasi zur Beratung politischer Fragen. Das ist verknüpft worden einerseits mit der Ausstellung der Größe und der Natürlichkeit, daher der ewigen Dauer des Königtums in der Feier des Gründers des Reiches im 18. Jahrhundert, und andererseits mit zwei unterschiedlichen Verkehrungen, in denen Mechanismen historisch vergangener bzw. präsenter Vorstellungen von Machtbefugnissen des Königs und soziale Antagonismen, Konfliktpotentiale und deren Spannungen sich zeigen. An den ersten zwei Tagen schufen der Einzug der Chefs und Vasallen-Herrscher in die Stadt, das Ausstellen des Reichtums und ihre öffentlichen Tributabgaben an den König grandiose Schauspiele sozialer, ökonomischer und politischer Herrschaft und spezifischer staatlicher Machtstrukturen samt zugehöriger Ideologie.
Am dritten Tag vollzogen sich die zwei Verkehrungen zeitgleich. Auf den Straßen von Kumasi demonstrierten die untergeordneten Freien und die Sklaven des Reiches bzw. der Zentrale Kumasi weitgehende Freiheiten bis hin zum Zeigen von eigener, also rollenverkehrter Herrschaftsausübung (pompöse Ansprachen und Austragung von Debatten, wie sie sonst bei den herrschenden Chefs zu beobachten waren; vgl. Abb. 91.3). In den besten Gewändern, die sie besaßen, beherrschten die Unteren für einige Stunden die Stadt mit Musik, mit enormem Alkoholkonsum (die Herrscher hatten große Pfannen mit Alkohol öffentlich bereitgestellt), mit sehr obszönen, unnormalen Gesten und Reden (un-normale sexuelle Lizenz). In einem von der Menge abgeschirmten Raum verkehrte der König seine normale Rolle als mächtiger Herrscher. Er warf seine prächtigen Kleider ab, legte ein Gewand aus Rinde an, der Kleidung der ärmsten Sklaven des Reiches, und sprach „unterwürfige“ Sätze zu dem Vorfahren aller Könige von Kumasi, daher der königlichen Linie, als dem teilweise mythisierten Gründer
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Abb. 91.4: Ein Ashanti-Priester während des Apo-Festes. Er trägt in Besessenheit seinen Schrein auf dem Kopf (nach Rattray 1923, 162).
des Ashanti-Reiches. Der König gab sich so als Diener der Vorfahren der mythisierten Tradition, die er in der Normalität als Herrscher realisierte und repräsentierte und so zu einem deutlich lesbaren Text machte. Eine dienende Haltung zeigend, vermittelte er zugleich den anwesenden Chefs („Fürsten“), darunter möglichen Rivalen für die oberste Machtstellung, daß die Vorfahren ihn zum König bestimmt hätten. Am Abend des Verkehrungstages bedeutete eine öffentliche Prozession vor dem König den Zustand der Normalität bzw. stellte ihn wieder her. Das karnevaleske rebellische Beherrschen der Straßen von Kumasi durch die Beherrschten, das deren untergeordnete Situation in der Verkehrung paradox vermittelte, war zu Ende, ebenso wie die verkehrte Erniedrigung des Königs, die von den Konfliktherden und tatsächlichen Spannungen innerhalb der herrschenden Großfamilien und ihrer Funktionsträger sprach.
4.3. Besessenheit als Text Die Fähigkeit, sich durch verschiedenste Techniken in Besessenheit, Trance oder tranceähnliches Verhalten zu bringen, und vor allem die Aktionen, die im Zustande der Besessenheit ausgeführt werden, sprachen und sprechen teilweise immer noch in großen Teilen des subsaharischen Afrika über wesentliche soziale und kulturelle Verhältnisse, über spezifisch religiös-mythische Beziehungen zur Welt, über individuelle Absichten, Pläne und nicht zuletzt, sofern es um traditionelle Medizin und Schamanismus geht, über Heil- und Reinigungskräfte und deren aktuelle Wirksamkeit (vgl. Tremearne 1912, Beattie und Middleton 1969, Lewis 1971, Besmer 1983 und Kramer 1987; siehe auch Abb. 91.4). Hier werden nur einige Typen skizziert, vor allem Tätigkeiten, die Spannungen und tiefgreifende Konflikte (Antagonismen) im familiären Bereich bzw. zwischen den Geschlechtern bedeuten.
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Ein gleichsam permanenter Problemkomplex ist gegeben bzw. verursacht durch die untergeordnete Stellung der Frau. Besonders Frauen zeigen in ihrer Besessenheit durch Dämonen und spezielle Geister, die „in sie gefahren sind“, scharfe familiäre Konflikte an und suchen ihre Interessen in der symbolischen Aktion als Träger „ihrer Geister“ (im westafrikanischen Bori-Kult als „Pferde“) durchzusetzen. Solche Praxis erscheint in unterschiedlichen Kulturen, in hochislamisierten Ländern wie im Sudan (Zar-Kult) und in Somalia sowie bei den Haussa im nördlichen Nigeria (Besessenheits-Vorstellungen im Bori-Kult) ebenso wie in stark oder fast durchgängig christianisierten. Unter den ostafrikanischen nichtislamischen Kamba (Beobachtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts) wurde scharf unterschieden zwischen den lokalen Vorfahrengeistern, die das tradierte Moralgefüge und die Interessen ihrer Abkömmlinge repräsentieren, und anderen, sogenannten launischen Geistern. Letztere stellen in der Kamba-Kulturtradition typisch fremde Geister dar, gebildet bzw. vorgestellt nach den Bildern, die man von Nachbarvölkern wie den Masai und Galla und von Europäern hatte. Die fremden Geister „plagten“ regelmäßig Kamba-Frauen. Die betroffenen Frauen sprachen „mit Zungen“ in einem fremden Dialekt, der übereinstimmte mit dem des in sie eingedrungenen Geistes. Die Forderungen der Geister waren deutlich ⫺ es ging um Geschenke und mehr Aufmerksamkeit von seiten der Männer. Geister aus der fremden Swahili-Kultur, daher die in der Besessenheit agierenden Frauen, forderten z. B. reich bestickte Hüte im arabischen Stil, wie sie von den Swahili an der Küste getragen wurden, und „europäische Geister“ verlangten Gegenstände, die die Kamba als typisch für Europäer ansahen. Die Luo (Uganda) fassen fremde Geister, die nicht mit den Vorfahren verbunden sind, als schädliche und gefährliche Kräfte auf, die eine Vielfalt von Schäden anrichten können, angefangen von einer eher harmlosen Verstopfung bis zu ernsten organischen Krankheiten. Die vor allem in Frauen gefahrenen Geister werden gewöhnlich durch einen weiblichen Schamanen mit Tänzen und einer festlichen Zeremonie behandelt. Nicht selten wird die Patientin für längere Zeit in das Haus der Schamanin geholt. Sie kann sich auf diese Weise von den sehr harten Pflichten der Luo-Ehefrau erholen. Da nach der herrschenden Vorstellung die Behandlung den Geist nicht endgültig
vertreiben kann, sondern ihn „nur unter Kontrolle“ bringt, muß der befallenen, also der besonders geister-anfälligen Frau in ihrer Familie künftig mit mehr Rücksicht und Aufmerksamkeit begegnet werden. Die Aktionen des in Besessenheit dargestellten Geistes ermöglichen so eine reale Verbesserung der Situation der Frau im Alltagsleben, und zwar auf längere Dauer (Lewis 1971, 80 f). Das bisher wohl am meisten studierte und dokumentierte Phänomen ist der Bori-Kult unter den Haussa im Norden Nigerias und in Niger (vgl. u. a. Tremearne zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Was die Situation in Nigeria betrifft, ist die Bori-Besessenheit historisch von den Maguzawa tradiert worden, und zwar vor ihrer nur oberflächlichen Islamisierung im 19. Jahrhundert. Islamische Führer und Gelehrte verurteilen Bori, der aber auch bei den voll islamisierten Haussa-Massen sehr beliebt ist. Eine Bori-Besessenheit ist eines der wichtigen spektakulären oder theatralen Ereignisse in den urbanen Zentren des nördlichen Nigeria. Besonders die BoriGeister-Vorführungen bei den Maguzawa sind verbunden bzw. werden praktiziert mit der Absicht, verschiedene Krisen sozialer Gruppen und einzelner Individuen, speziell weiblicher, zu bestehen und zu lösen. Die Bori-Tätigkeit (Darstellung der in ihre Träger oder Medien bzw. „Pferde“ gefahrenen Geister) bedeutet generell Krisenzustände und Probleme der jeweils als Medien fungierenden Personen. Sie bezeichnet normkritisches oder normverletzendes Verhalten. Die Darstellung des Geistes (Besessenheit durch den Geist) soll praktische Lösungen bringen. Sie bedeutet, daß sich der in den Träger oder die Trägerin gefahrene Geist fordernd äußert. Im Tanz, in den Bewegungen, im Sprechen des Mediums handelt er. Die Besessenheit bzw. der tranceähnliche Zustand ist an sich ein starkes, dominantes Symbol. Es bezeichnet die Anwesenheit eines Geistes. Entsprechend verhalten sich die Teilnehmer eines Bori-Ereignisses. Sie benehmen sich dem Medium gegenüber anders als in einer alltäglichen Situation, in der es nicht vom Geist bestiegen ist. Besessenheit symbolisiert auch das Eingeweihtsein in den Kult selbst und das richtige, angemessene Verhalten, das zu einer erhofften Heilung, zur erwarteten Lösung einer Krise oder zur Realisierung der Pläne oder Wünsche des oder der Betroffenen führt (vgl. Besmer 1983; zum Geisterglauben in anderen Kulturen vgl. Art. 32 § 5., Art. 36 § 4.3., Art.
1825
91. Zeichenkonzeptionen im nichtislamischen Afrika
37 § 5., Art. 38 § 2., Art. 89 § 4.1., Art. 93 § 6.3.2., Art. 95 § 3., Art. 97 §§ 4.2. und 4.5., Art. 98 § 2. und Art. 99 § 5.2.).
5.
Zur Spezifik von Zeichenprozessen in subsaharischen Gesellschaften
Die vorgelegte Skizze soll auf semiotische Phänomene aufmerksam machen, die für kulturelle Traditionen des subsaharischen Afrika charakteristisch oder auffällig sind. Die umrissene Spezifik darf nicht Fragen unterbinden nach dem Grad der Konstanz (Statik) der Traditionen selbst und nach möglichen Parallelen mit Zeichenprozessen in anderen Regionen, nicht zuletzt in Europa. Von der oben gemachten Einschränkung ausgehend, daß leider nicht auf relevante linguistische und/oder kultursemiotische Untersuchungen in Afrika selbst zurückgegriffen werden kann, wäre folgendes anzumerken: Wie das GeledeBeispiel andeutete, sind, zumindest in der Tendenz, bestimmte Aspekte tradierter Zeichenprozesse in der Zeit beweglich oder veränderbar. Wie die Kopfmaskenaufsätze Elemente technischer Neuerungen in sich aufnahmen und aufnehmen, hat der allgemeine demonstrative Zeichengebrauch gleichsam seine konkreten Inhalte im buchstäblichen Sinne verändert. Das Auto ist ⫺ ein wichtiges Beispiel ⫺ in der Gegenwart zu einem hochrangigen, wenn nicht zu dem erstrangigen Zeichen von Macht, Wohlhabenheit, persönlicher und sozialer Größe und Potenz geworden. Der Besitz eines Mercedes-Wagens (vgl. z. B. den Roman Mein Mercedes ist größer als deiner von Nkem Nwankwo, 1978), also die Beziehung zu einem modernen Zeichen-Objekt, ist faktisch weitaus wichtiger, um die eben aufgezählten Merkmale einer Person oder Personengruppe zu bedeuten, als das tradierte Leopardenfell und der Fliegenwedel. Das Auto nimmt neben anderen zeitgenössischen technologischen Gebrauchsgütern wie Hifi-Geräten auf dieser Abstraktionsebene eine ähnliche, wenn nicht die gleiche Stellung ein wie in Europa, ungeachtet seiner unvergleichlich geringeren Verbreitung. Ohne an diese Tatsache zu viele Interpretationen anzuknüpfen, sei damit angedeutet, daß mit der Ausbildung ähnlicher Lebensverhältnisse, die seit der Kolonialisierung und der Einbeziehung Afrikas in das ihr zugrunde liegende kapitalistische Weltwirtschaftssystem massiv begonnen hat, auch der Umgang mit Zeichen sich immer ähnlicher (nicht identisch) zu wer-
den scheint. Für die historisch orientierte kultursemiotische Komparatistik und für eine auf dieser aufbauende Theorie dürfte das ein Anlaß sein, in vergleichbaren konkreten historischen Kontexten (oder, anders gesehen, in ökonomisch-technologisch und sozial ähnlich strukturierten Ordnungen) nach, zumindest partiell, ähnlichen oder vergleichbaren Zeichenvorgängen zu suchen bzw. solche Korrespondenzen zu erwarten. Das kann für eine Antwort auf die Frage nach Parallelen in europäischen und afrikanischen Zeichenvorgängen wichtig werden (vgl. etwa Art. 59, Art. 73 und Art. 88). Es wäre zu überlegen und zu prüfen, ob es in Kulturen des vorkapitalistischen und vorindustriellen Europa, auch des zeitgenössischen Westens überhaupt (vgl. u. a. Balandier 1980 sowie Turner 1974 und 1986), nicht eine Reihe vergleichbarer Haltungen zu Zeichen gab, z. B. in Hinsicht auf Bewegung und Beweglichkeit symbolischer Aktivitäten oder Erscheinungen generell, und ob diese nicht funktionell-strukturell ähnliche Zeichen-Objekte wie die im subsaharischen Afrika gebrauchten (und gebrauchen, siehe das Auto-Beispiel). Der bewußte Bezug auf die Konzepte „saturnalisch“ und „karnevalesk“, die ursprünglich mit dem Blick auf europäische Phänomene formuliert wurden, für hochsymbolische Verkehrungsvorgänge im subsaharischen Afrika ist ein Fingerzeig, in welcher Richtung zu suchen wäre (vgl. Babcock 1978).
6.
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92. Sign conceptions in India 1. The origins of Indic semiotics 1.1. Va¯c and sam ø jn˜a¯nam ø 1.2. Hymns as offerings to the gods and the four branches of linguistic studies 1.3. S´iksøa¯ and the development of a phonemic script 1.4. Grammatical terms and their use in other fields 1.5. The concept of lin˙ga 2. Semiotic conceptions in Indian logic and theory of argumentation 2.1. Debate and logic 2.2. The structure of logical reasoning 2.3. Inference as a connection between the sign and the signified 2.4. The triple nature of the sign 2.5. Din˙na¯ga’s wheel of reason 2.6. The development of the wheel by Udyotakara 2.7. Concomitance or the relation of invariability
3. Grammar and semantics 3.1. Basic tenets of Pa¯nø ini’s “science of language” 3.2. The sphotøa theory 3.3. Learning the word and its meaning 3.4. The classification of words 3.5. Synonymy, polysemy, and metaphor 3.6. The basis of word meaning 3.7. Sentence meaning 3.8. Meaning as potentiality of use 4. Poetics and aesthetics 4.1. The performing arts 4.2. Articulation and decoration of the plot 4.3. Poetic verbal style 4.4. Music 5. Signs in the sciences 5.1. Geometry 5.2. Arithmetic 5.3. Medicine 6. Common features of Indian sign conceptions 7. Selected references
92. Sign conceptions in India
Treating the sign conceptions developed in India is a task of similar complexity as treating those developed in Europe (cf. Art. 33⫺ 88) or China (cf. Art. 93). Since most of what is typical for Indian sign conceptions even today goes back to Vedic literature and classical texts from the time before 1000 A. D., the present article focuses on these texts, selecting those parts of their doctrine which have been passed on to the twentieth century and are embodied in the everyday practices of today.
1.
The origins of Indic semiotics
The earliest reference, in Indian thinking, to signs as cognitive and communicative tools is found in the syllogistic formulations of the Loka¯yata school of philosophy, represented by and almost synonymous with Ca¯rva¯ka (ca. 6th century B. C.). Ca¯rva¯ka’s fame (or notoriety?) rests on the theory that inference (induction) is not a valid means of knowledge. A sign (lin˙ga ⫽ whatever stands out from an object in direct observation) was, for the materialistically oriented world-view of this school, only a perceptual means (cf. similar views in classical Greece: Art. 46 §§ 1. and 2.). In refuting the validity of inference and the use of signs for knowing the unknown (unseen), this school of thought was reacting to earlier propositions (probably in oral tradition) that posited lin˙ga as a means of knowledge. Ca¯rva¯ka did not invent the word “lin˙ga”, nor did he invent the concept of sign, for the concept and the uses of signs in cognitive and communicative activities were as old as the earliest hymns of the Vedic literature. 1.1. Va¯c and sam ø jn˜a¯nam ø Speculations about the nature and function of signs in speech, cognition and perception in the early Vedic period are found in certain concepts and words suggestive of sign-processes and sign-functions. Two of the minor divinities of the Vedic pantheon ⫺ va¯c and sam ø jn˜a¯nam ø ⫺ have distinct semiotic implicaø gveda, tions. “Va¯c”, which appears in the R and is usually translated and interpreted as ‘speech’, implies a far greater consciousness than speech (as an utterance). Of the four stages or states of va¯c, speech is the fourth part, the other (earlier) three states are hidden in the caves of primordial potency (RV 164,45). Va¯c is a psychic faculty associated with manas (primordial will), caksøus (eye,
1827 sight) and s´rotra (ear, hearing). The creator is described as Va¯caspati ⫺ lord of the faculty of va¯c. In all references to creation of the universe, va¯c is either the creative medium or the creative matter. The structure and function of va¯c suggest its association with sensorium, memory and communication. It is more a faculty of semiosis and poesis, rather than of speech alone, its fourth part. Sam ø jn˜a¯nam ø (universal concord and harmony), elevated to the status of a divinity in the Atharva Veda, represents the faculty of universal agreement in the definition of an object, percept or concept. Sam ø jn˜a¯ in later Vedic literature came to mean ‘nomination’ and ‘definition’. Other terms for signs found in the Mantra period are “cihna” (‘mark’), “pratı¯ka” (‘abstraction’) and “laksøma” (‘characteristics’). Cihna was a physical mark of identification and recognition. “Pratı¯ka” meant an exterior, a surface, a face, especially the abstraction of the exterior face or surface. In later Vedic literature, “pratı¯ka” came to mean an image or a symbol. “Laksøma” originally meant bodily marks indicative of omens. In later Vedic literature, it came to mean specific characteristics, marks and indications, and helped form the word “laksøanø a”. One important aspect of the early period of semiotic thinking is the application of semiotic means and methods in the equation, substitution and disjunction of speech-sounds as demonstrated in the hymns of the Sa¯maveda. 1.2. Hymns as offerings to the gods and the four branches of linguistic studies In later Vedic literature, we encounter a variety of semiotic experience. The primary motive and theme of the body of literature was ritualistic, ritual with the verbal text (the Vedic mantras) being the artifact of communication with the supernatural powers, and realization of the significance of life in this world. Rituals themselves began as substitutes for words ⫺ the hymns of praise to the gods. The primary offering to the gods were hymns of praise, and when the sacrificer had no new hymns to his credit, he used the earlier texts with offerings of the sacred soma juice. The offerings of materials (soma, vegetables, meat) and of poetry (mantras) could substitute each other (cf. the later term “a¯des´a” ‘substitution’, used in ritual and grammar). Actually, the complicated system of rituals and the framework-like structure of each one of them presuppose this kind of substitution, working at various levels of the ritual,
1828
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 92.1: The Indo-Iranian fire offering. Before they built altars, the Indo-Iranian nomads installed fire on a flat piece of ground, after loosening the soil and demarcating it ritually. The priest pours butter into the fire from his juhu¯ ladle (after Staal 1983: I, 126 f).
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Fig. 92.2: Three chanters chant five mantras. In front of the chanters are visøtøuti sticks, arranged in a configuration that marks the progress of the chant. On the photo, the first round has already been completed, and the last chant of the second round is about to begin (cf. Staal 1983: I, 628 f).
already in vogue in the immediate postR ø gvedic period. It is found in its fully developed form by the time of the Yajurveda Samhita¯s. At this time, the practice of u¯ha (‘move-ø ment’, i. e., substitution of grammatical forms) of one form of a word for another was developed in the context of mantra usage. The act of communication between humans and gods (cf. Art. 32 § 5.), with Brahmin priests as intermediaries, is said to be using the three quarters of speech usually unknown to men (RV 1. 164). In diachrony, the articles of offerings changed, but the texts � the Vedic hymns � remained fixed. The text as mantra served the dual purpose of an incantatory code and a verbal base for musical innovations. It is in the context of the text that participation in semiotic awareness found diverse expressions. To preserve the life and sanctity (of the correct pronunciation) of the texts, systems of recitation were devised, and this led to an enquiry into the nature of production of the sounds of speech. “Aksøara” (‘the syllable, the
unmoving part of the flow of speech’) came to denote the smallest element of speech. The alphabet consisted of vowels (svara), stops (spars´a), semi-vowels (antastha) and spirants (u¯søman). In the Brahmanø as, words of sacrificial importance were explained by relating them morphophonemically to some verbs, e. g., the offering called “isøtøi” was explained as being related to the verb “isø” (‘to desire’). Such etymologies proved to be ‘false’ as the word “isøtøi” was historically derived from the verb “yaj” (‘worship’), but the conviction that a word relates itself historically to the verbal root was later developed in the special science of nirukta (etymology). Grammar likewise developed from the modes of sophistication of the ritual process. In the punara¯dheya (repeated ignition of fire) ceremony, a rice-cake was offered to the god Agni, accompanied by the chanting of six R ø gvedic verses. The word “Agni” in each of the six verses was to be expressed in a different form, in a new morphemic ‘affirmation’, which in time served as a grammatical case-form. The sanc-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
tity of the texts was of course to be maintained in their metrical forms and imports. Thus, towards the end of the Vedic period, we encounter four branches of linguistic studies: s´iksøa¯ (phonetics), nirukta (etymology), vya¯karanø a (grammar) and chandas (metrics). The ritual necessity generated two more branches of learning: kalpa (ritual practices) and jyotisøa (astronomy). The ritual practices included sacred geometry (s´ulba su¯tras) for the proper construction of sacrificial grounds and elevations. Jyotisøa helped draw a ritual calendar to fix the proper time for the sacrifices, and the calendar in turn necessitated observation of the celestial phenomena and identification of periods of time with astrological signs (for similar developments in Mesopotamia and Egypt, see Art. 89 § 3.2.). In the Cha¯ndogya Upanisøad another set of signs, those of the portents (daivam ø ), was incorporated into the total semiotic conception. The portents were environmental signs that informed of the impending changes in the earth and atmosphere (e. g., earthquakes and storms; cf. the mantic procedures used in China: Art. 93 § 5.3., as well as in the Celtic: Art. 36 § 6., Germanic: Art. 37 § 5., and Ancient Greek and Roman cultures: Art. 46 § 7. and Art. 47 § 6.).
and the opposing schools of thought that debated on the primacy of the verb over the noun and the rules of derivation. The theory underlying Ya¯ska’s view that nouns are derived from verbs is that words in a language are feelings and reactions of the communicator to the phenomena of the real world; hence in the derivational process, the semantic contents of the words are of far greater importance than the phonetic and formal nature of the linguistic unit. The derivational modifications of roots and suffixes are further qualified by the contexts of discourse. The phonetic principles of the s´iksøa¯ (Pra¯tis´a¯khya), which began as a guide to the proper pronunciation of the Vedic mantras, helped fashion both the phonemic alphabet of the Brahmı¯ and its subsequent development of the Devana¯garı¯ script, where a separate letter denotes each phoneme and even the short and long vowels are differentiated by separate letters. Phonetics was taught in six chapters: varnø a (sound), svara (accent), ma¯tra¯ (quantity), bala (articulation), sa¯man (recital) and sam ø ta¯na (connection). The phonetic observations of the texts include places of articulation, organs of articulation and the accompanying features (aspiration, voicing, nasalization, opening, closure, constriction, etc.). The texts also contain information on quantity and vocal lengthening, tone, syllabification, doubling and sandhi. Modern phonetics emerged as a science largely under the influence of these texts. The importance of Indian thought in modern Western phonetics and phonology is well-documented. In the words of W. S. Allen, “our phonetic categories and terminology owe more than is generally realized to the influence of the Sanskrit phoneticians” (Allen 1953: 3).
1.3. S´iksøa¯ and the development of a phonemic script Of the four branches of linguistics ⫺ grammar, etymology, phonetics and metrics ⫺ grammar continued to attract scholars who either commented on or formulated theories of linguistic function and grammatical processes (cf. § 3.), whereas the study of etymology, metrics and phonetics became academically static (for the development of grammatical studies in Ancient Greece, see Art. 42, in Islamic cultures see Art. 90 § 5.). The only text on etymology that survives is the Nirukta of Ya¯ska. The Nirukta is a commentary on the Nighanø tøu, a Vedic glossary in five chapters. The most interesting part of the work is a detailed introduction where Ya¯ska discusses the nature of language and communicative preferences and constraints. He formulates a grammatical division of words into noun, verb, prefix and particle. The first two are established by definition and the last two by enumeration. The core of the theoretical section of the work is the theory that all substantives (sattva ‘entities’) are derived from verbs (a¯khya¯ta), which has feelings and reactions (bha¯va) as its basic notion. In this connection, Ya¯ska mentions earlier controversies
1.4. Grammatical terms and their use in other fields “Kalpa” literally means ‘form’, and it is with forms (ru¯pa) and names (na¯ma) that early philosophical speculations (and semiotic realizations) were chiefly concerned. Concepts and names fuse into each other at this early period and very often the same word signifies several entities and concepts. Such complexities, however, open up the levels of meaning and the modes of significations. “Varnø a” means ‘color’, ‘alphabet’, ‘an uncertain mathematical entity’, and ‘complexion’ (hence the later division of classes or tribes). This fusion also helps explain the semiotic process through which information was controlled and used to categorize new information ⫺
92. Sign conceptions in India
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Transcript: (Line 1) De-va¯-nam ø -pi-ye Pi-ya-da-si la¯-ja he-vam ø a¯-ha sa-dø u-vı¯-sa-ti-va-sa¯-bhi-si-te-na me i-yam ø (2) dham ø -ma-li-pi li-kha¯-pi-ta. Hi-da-ta-pa¯-la-te du-sam ø -pa-tøi-pa¯-da-ye am ø -na-ta a-ga¯-ya dham ø -ma-ka¯ma-ta¯-ya (3) a-ga¯-ya pa-lı¯-kha¯-ya a-ga¯-ya su-su¯-sa¯-ya a-ge-na bha-ye-na a-ge-na u-sa¯-he-na. E-sa cu kho ma-ma (4) a-nu-sa-thi-ya dham ø -ma¯-pe-kha dham ø -ma-ka¯-ma-ta¯ ca su-ve su-ve va-dø hi-ta va-dø hi-sa-ti ce-va. Pu-lisa¯ pi me (5) u-ka-sa¯ ca ge-va-ya¯ ca ma-jhi-ma¯ ca a-nu-vi-dhı¯-yam ø -ti sam ø -pa-tøi-pa¯-da-yam ø -ti ca a-lam ø ca-pa-lam ø sama¯-da¯-pa-yi-ta-ve, (6) he-me-va am ø -ta-ma-ha¯-ma¯-ta¯ pi. E-sa¯ hi vi-dhi ya¯ i-yam ø dham ø -me-na pa¯-la-na dham ø -me-na vi-dha¯-ne dham ø -me-na su-khı¯-ya-na (7) dham ø -me-na go-tı¯ ti. Translation: Thus speaks the King, Dear to the Gods, of Gracious Mien. When I had been consecrated twenty-six years I ordered this inscription of the Law [Dharma] to be engraved. Both this world and the other are hard to reach, except by great Love of the Law, great self-examination, great obedience [to the Law], great respect [for the Law], great energy. But through my leadership respect for the Law and love of the Law have grown and will grow from day to day. Moreover my officers, of high, low and medium grades, follow it and apply it, sufficiently to make the waverer accept it; the officers on the frontiers do likewise. For this is [my] rule: government by the Law, administration according to the Law, gratification [of my subjects] by the Law, protection by the Law. Fig. 92.3: King As´oka’s First Pillar Edict, Lauriya¯ Nandangarh, ca. 242 B. C. The As´okan inscriptions, which are the earliest important written documents of India, are engraved in Bra¯hmı¯ scripts, which are almost perfectly adapted to the expression of Indian sounds. It is generally thought that the scripts underwent many years, perhaps many centuries of development before the days of As´oka. The Indians expressed their vowels by the modification of the basic letters, which were looked on as representing an inherent short /a/ in addition does not stand for /k/, but /ka/. Other vowels were indicated by to a consonant. Thus the Bra¯hmı¯ letter ticks attached to the top or bottom of the letter, thus: /ka¯/, /ki/, /kı¯/, /ku/, /ku¯/, /ke/, /ko/. /ya/ combined Two consonants together were expressed by placing one under the other, thus /ka/ and to form /kya/ (after Basham 1954 ⫽ 1967: 394⫺397).
the basis of semiotic freedom. A typical example is the use of identical terminologies in grammar and geometry. “Sama¯sa” and “vya¯sa” in grammar signify the composite word and the verbal base of word derivation. In the language of the s´ulba, the terms signify the measured, equated, as well as the base of a geometrical figure. The concept of Na¯maru¯pa (the name-form) duality, a core-concern of the Bra¯hmanø as and the Upanisøads, gener-
ated the concept of lin˙ga, the grammatical category of gender and the physical and epistemological sign of the early physicians. 1.5. The concept of lin˙ga The concept of lin˙ga as an instrument of cognition was first developed in the medical sciences. The Kaus´ika Su¯tra describes a disease as a lin˙gin (that which has signs and symptoms). Earlier in the Atharva Veda, which in-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 92.4: Miniature Shiva lin˙ga and yoni (height 8.2 cm, 9th and 12th century, Cambodia). Joined together, even in miniature form, the lin˙ga and yoni represent the most potent symbols of creation in Indian philosophy. The lin˙ga is a symbol of the Hindu god Shiva in the form of a stylized phallus, while the yoni represents the female generative organ. Here the yoni doubles as both a pedestal for the lin˙ga and a receptacle to collect and channel away the libations poured over it during the rituals of worship. In this example, the lin˙ga, imbedded in a twelfth-century yoni, dates from approximately the ninth century, and it is not known exactly when these two objects were brought together (after Brand and Phoeurn 1992: 40 f).
cludes charms against diseases, diagnosis and differentiations of ailments were based on the symptoms. Thus fever was that which produced shivering, cold, burning sensations, and the like. By the sixth century B. C. lin˙ga was fairly established as a term of cognition and perception, so that Ca¯rva¯ka (ca. 6th century B. C.), in refusing to accept inference as a valid means of cognition, refers to lin˙ga as only a perceptual means and not a tool for
inferential judgement. The concept of lin˙ga was adopted by the Sa¯n˙khya school of philosophy and was further developed as being both avyakta (pre-expressed) and vyakta (expressed). According to early Buddhist writings (e. g., the Majjhima Nika¯ya), knowledge or consciousness (san¯n¯a¯ ) is attained through signs and symbols (abhijn˜a¯nena). Early Jaina epistemology includes signs as a means for valid cognition.
92. Sign conceptions in India
2.
Semiotic conceptions in Indian logic and theory of argumentation
2.1. Debate and logic Logic developed in ancient India from the tradition of va¯davidya¯, a discipline dealing with the categories of debate over various religious, philosophical, moral and doctrinal issues. There were several va¯da manuals available around the beginning of the Christian era. They taught the students how to conduct debates successfully, what tricks to learn, how to find loopholes in the opponent’s position, and what pit-falls there are. Of these manuals, the one found in the Nya¯yasutras of Aksøapa¯da Gautama (ca. 150 A. D.) was perhaps the most systematic. We shall follow it in this exposition. Debates, in Aksøapa¯da’s view, can be of three types: (i) an honest debate (called “va¯da”) where both sides, proponent and opponent, are seeking after truth, i. e., wanting to establish the right view, (ii) a tricky debate (called “jalpa”) where the goal is to win by fair means or foul, and (iii) a destructive debate (called “vitanø dø a¯”) where the goal is to defeat or demolish the opponent, no matter how. This is almost like the cliche´ in English: the good, the bad and the ugly. The first kind signals the employment of logical arguments, the use of rational means and proper evidence to establish a thesis. It is said that the participants in this kind of debate were the teacher and the student, or the students themselves belonging to the same school. The second was, in fact, a “winner-takesall” situation. The name of the game was wit or intelligence. Tricks, false moves, and unfair means were allowed according to the rules of the game. But if both the debaters were equally clever and competent, this could be kept within the bounds of logic and reasoning. Usually two teachers of different schools would be participants. This used to take place before a board of jurors called the “madhyastha” (‘the mediators or adjudicators’) and a chairman, usually a king or a man with power and money, who would organize the debate. The winner would be declared at the end by the consensus of the adjudicators. The third type was a variety of the second type, where the winner is not supposed to establish his own position (he may not even have a position) but only to defeat the opponent using logical arguments, or as the case
1833 may be, tricks or clever devices. It was explicitly destructive and negative. Hence philosophers like Va¯tsya¯yana (ca. 350 A. D.) denounced this form of debate in unambiguous language. Again, a clever and competent opponent might force the other side into admitting a counterposition (“If you refute my thesis p, then you must admit the thesis not-p, therefore, please establish your thesis”) and if the other side yields, the debate is declared in favor of the former, or it turns into the second form of debate. The notoriety of the third type was universal, although some philosophers (cf. Na¯ga¯rjuna, S´rı¯harsøa) argued that if the refutations of the opponent were done on the basis of good reason and evidence (in other words, if they followed the models of the first type and the second type) then lack of a counter-thesis, or non-establishment of a counter-thesis would not be a great draw-back. In fact, it could be made acceptable and even philosophically respectable. That is why Gaudø a Sa¯na¯tani (quoted by Udayana, see Matilal 1977: 86) divided the debates into four types: (a) the honest one (va¯da), (b) the tricky one (jalpa), (c) the one modeled after the tricky one but only where refutation is needed, (d) the one modeled after the honest one where only the refutation of a thesis is needed. Apart from developing a theory of evidence (prama¯nø a) and argument (tarka) needed for the first type of debate, the manuals go on to list a number of cases or situation-types where the debate counts as concluded and one side would be declared as “defeated” (of nigraha-stha¯na, the defeat situation or the clinchers). The Nya¯yasu¯tras list twenty-two of them. For example, (a) if the opponent cannot understand the proponent’s argument, or (b) if he is confused, or (c) if he cannot reply within a reasonable time limit ⫺ all these will be cases of defeat. Besides, these manuals identify several standard false rejoinders (ja¯ti; twenty-four of them are listed in the Nya¯yasu¯tras), as well as some underhanded tricks (chala) like equivocation and the confusion of metaphor with the literal. 2.2. The structure of logical reasoning Aksøapa¯da defines a method of philosophical argumentation, called “the nya¯ya method” or “the nya¯ya model”. This was the symbol for an ideally organized philosophical disputation (for similar ideas in Greek philosophy,
1834
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
see Art. 40 § 2.1.). Seven categories are identified as constituting the “prior stage” of the nya¯ya. It starts with an initial doubt whether p or not-p, and ends with a decision p (or not-p as the case may be). The seven categories are: doubt, purpose, example, basic tenets, the ‘limbs’ of the formulated reasoning, supportive argument, and decision. The first two categories are self-explanatory. The example is needed to ensure that the arguments would not be just empty talk. Some of the basic tenets supply the ground rules for the argumentation. The ‘limbs’ were the most important formulation of the structure of a logical reasoning. It was a landmark in the history of Indian logic. According to the Nya¯yasu¯tras, there are five ‘limbs’ or ‘steps’ in a structured reasoning. They should all be articulated in language. The first step is the statement of the thesis, the second the statement of reason or evidence, the third is the citation of an example, a particular case (well recognized and acceptable to both sides), which is to illustrate the underlying (general) principle and thereby support the reason or evidence. The fourth is the showing of the present thesis as a case that belongs to the general case, since it is essentially similar to the example cited. The fifth is the assertion of the thesis again as proven or established. Here is the time-honored illustration:
these questions. After the supportive argument comes the decision one way or another. Another seven categories were identified as constituting the “posterior stage” of the nya¯ya method. They consist of three types of debate (already mentioned) and the group of trickery, the false rejoinders and the clinchers (also noted already), and contain another important logical category, that of pseudoreason or pseudo-evidence. A pseudo-evidence is similar to an evidence or reason, but it lacks adequacy or the logical force to prove the thesis adduced. It is in fact an ‘imposter’. The Nya¯yasu¯tras note five such varieties. Although these five varieties were mentioned throughout the history of the Nya¯ya tradition (with occasional disagreements, e. g., in Bha¯sarvajn˜a, who had six), they were constantly redefined to fit the developing logical theories of individual authors. The five were: the deviating, the contradictory, the unestablished or unproven, the counter-balanced, and the untimely. Since there can be fire (as in a red-hot iron-ring) without smoke, if somebody wants to infer presence of smoke in the kitchen on the basis of the presence of fire there, his evidence would be pseudo-evidence called “the deviating”. Where the evidence (say, a pool of water) is usually the sign for the absence of fire, rather than its presence, it is called “the contradictory”. An evidence-reason must itself be established or proven to exist, if it is to establish something else. Hence, an “unestablished” evidence-reason is pseudoevidence or a pseudo-sign. A purported evidence-reason may be countered by purported counter-evidence showing the opposite possibility. This will be a case of “a counter-balanced”. “An untimely” is one where the thesis itself precludes the possibility of adducing some sign as being the evidence-reason by virtue of its incompatibility with the sign in question. It is called “untimely” because as soon as the thesis is stated, the evidence will no longer be valid as evidence.
step 1. There is fire on the hill. step 2. For there is smoke. step 3. (Wherever there is smoke, there is fire) as in the kitchen. step 4. This is such a case (smoke on the hill). step 5. Therefore there is fire on the hill.
The Buddhists and others argued that this was too elaborate for the essential structure. All we need would be the first two or the first three. The rest would be redundant. But the Nya¯ya school asserted all along that this nya¯ya method is used by the arguer to convince the others, and hence to completely satisfy the expectation of the other, you need all the five ‘limbs’ or steps. This is in fact a fullfledged articulation of an inference schema. The supportive argument is needed when doubts are raised about the implication of the middle part of the above inference schema. Is the example right? Does it support the evidence? Is the general principle right? Is it adequate? Supportive arguments examine the alternative possibilities, and try to resolve all
2.3. Inference as a connection between the sign and the signified All this implicitly spells out a theory of adequate sign use. What we have been calling “evidence”, “reason” and sometimes “evidence-reason” may just be taken to be an adequate or “logical” sign. The Sanskrit word for it is “lin˙ga”, ‘a sign’ or ‘a mark’, and what it is a sign for is called “lin˙gin”, ‘the
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signified’, ‘the marked entity’. This is finally tied to the theory of sound inference, that is, inference of the signified from the observation of the logical sign. We have here a pretheoretical notion of the sign-signified connection. A sign is adequate or “logical” if it is not pseudo-evidence, that is, a pseudo-sign. And the five types of pseudo-sign have already been identified. They supply negative criteria for the adequacy of a sign. A little later in the tradition a positive formulation was found. The fully articulated formulation occurs in the writings of the well-known Buddhist logician Din˙na¯ga (in his theory of the “triple character” of reason, see below). In fact, an adequate sign is non-deviating, that is, it should not be present somewhere when the signified is absent. If it were present in that location, it would be “deviating”. Thus, the identification of the first pseudo-sign captured this intuition, although it took a long time for this to be fully articulated in the tradition. A sign may be called “logical” in this sense if it ensures the correctness of the resulting inference. Thus, we have to say: if the sign is there, can the signified be far behind? ⫺ See parallel considerations in Ancient Greece: Art. 46 §§ 1. and 2. 2.4. The triple nature of the sign Din˙na¯ga (ca. 500 A. D.) formulated the following three conditions which a logical sign must fulfil. 1. It should be present in the case under consideration. 2. It should be present in a similar case or a homologue. 3. It should not be present in any dissimilar case, any heterologue. Three interrelated technical terms are used here. The case under consideration is called “a paksøa”, ‘the subject-locus’. The similar case is called “a sapaksøa”, ‘the homologue’. The dissimilar case is called “a vipaksøa”, ‘the heterologue’. These three concepts are also defined by the theory. The context is that of inferring a property A (“the signified” in our new terminology) from the property B (“the sign”) in a location S. Here the S is the paksøa, the subject-locus. The sapaksøa is one which already possesses A, and is known to do so. And the vipaksøa is one which does not possess A.
1835 The similarity between the paksøa and the sapaksøa is variously explained. One explanation is that they share tentatively the signified A by sharing the sign B. An example makes it clear: Smoke is a sign of fire on a hill, because it is present on that hill, and it is also present in a kitchen and it is absent from any non-locus of fire. The third condition is easily explained. The sign must not be present when the signified is not present. For otherwise, as we have already noted, the sign will be deviating, and would be “a pseudo-sign”. But why is the second condition needed? Did Din˙na¯ga overshoot his mark? Is not the second condition redundant, since the first and the third seem to be sufficient to guarantee adequacy? These questions were raised in the tradition by both the Naiya¯yikas like Udyotakara (ca. 550 A. D.), and the Buddhists like Dharmakı¯rti (ca. 650 A. D.). Some, such as Dharmakı¯rti maintained that it was slightly repetitious, but not exactly redundant. The second condition states positively what the third, for the sake of emphasis, states negatively. The second is here rephrased as: The sign should be present in all sapaksøas. The contraposed version can then be formulated with a little ingenuity as: the sign should be absent from all vipaksøas. For sapaksøa and vipaksøa, along with the paksøa exhaust the universe of discourse. Other interpreters try to find additional justification for the second condition to argue against the redundancy charge. The interpretation becomes complicated, and we cannot go into the details here (see various papers plus the introduction to Matilal and Evans 1986). Logically speaking, it seems that the second is redundant, but epistemologically speaking, this, i. e., a case of the copresence of A and B, may be needed to suggest the possibility, at least, that the one may be a sign for the other. Perhaps Din˙na¯ga’s concern here was epistemological. 2.5. Din˙na¯ga’s wheel of reason When a sign is identified, it has three possibilities. It may be present in all, some or none of the sapaksøas. And likewise, it may be present in all, some or none of the vipaksøas. To identify a sign, we have to assume that it is present in the paksøa, however (i. e., the first condition must already be satisfied). Combining these, Din˙na¯ga constructed his “wheel of reason” with nine distinct possibilities, which may be tabulated as follows:
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
2
3
⫹ vipaksøa ⫺ vipaksøa ⫾ vipaksøa ⫹ sapaksøa ⫹ sapaksøa ⫹ sapaksøa 4
5
6
⫹ vipaksøa ⫺ vipaksøa ⫾ vipaksøa ⫺ sapaksøa ⫺ sapaksøa ⫺ sapaksøa 7
8
9
⫹ vipaksøa ⫺ vipaksøa ⫾ vipaksøa ⫾ sapaksøa ⫾ sapaksøa ⫾ sapaksøa (all ⫽ ⫹, some ⫽ ⫾, none ⫽ ⫺) Of these nine possibilities, Din˙na¯ga asserted that only two are illustrative of sound inference, for only they meet the three conditions. They are nos. 2 and 8. Notice that either ⫺ vipaksøa and ⫹ sapaksøa, or ⫺ vipaksøa and ⫾ sapaksøa would fulfil the required conditions. Din˙na¯ga is insistent that at least one sapaksøa must have the sign. As against that, No. 5 is not a case of sound inference. A sign of this type is a pseudo-sign, for although it satisfies the two conditions 1 and 3, it does not satisfy condition 2. So one can argue that as far as Din˙na¯ga was concerned all three were necessary conditions. The second row does not satisfy condition 2 and hence none of nos. 4, 5 and 6 are logical signs. They are pseudo-signs. Nos. 4 and 6 are called “contradictory pseudo-signs” ⫺ an improvement upon the old Nya¯yasu¯tra definition of the contradictory. The middle one, no. 5, is called “uniquely deviating” (“asa¯dha¯ranø a”), perhaps for the reason that this sign becomes a unique sign of the paksøa itself, and is not found anywhere else. In Din˙na¯ga’s system, this sign cannot be a sign for anything else, it can only point to itself reflexively or to its own locus. Nos. 1, 3, 7 and 9 are also pseudosigns. They are called “deviating signs”, for in each case the sign occurs in some vipaksøa or other, although each fulfils the second condition. 2.6. The development of the wheel by Udyotakara Din˙na¯ga’s system of nine reason-types or sign-types was criticized by Udyotakara, the Naiya¯yika who argued that it was incomplete because he did not consider at least two further alternatives: (a) a situation-type where there is no sapaksøa, (b) a situation-type where there is no vipaksøa. The sign’s absence from all sapaksøas (or all vipaksøas) should be distinguished from these two situations. Let
us use “0” for the situation-type which lacks any sapaksøa or vipaksøa and “⫺” for the situation-type where the sign is present in no sapaksøa or no vipaksøa (as before). Hence combining the four possibilities, ⫹ sapaksøa, ⫾ sapaksøa, ⫺ sapaksøa, 0 sapaksøa (no sapaksøa) with the other four (⫹, ⫾, ⫺, 0) vipaksøa, we get sixteen in our wheel of reason, and the new wheel contains more sound inferences, i. e., adequate signs. Take the example “This is nameable, because this is knowable”. Here knowability is the sign, adequate and logical for showing the nameability of an entity, for (in the Nya¯ya system) whatever is knowable is also nameable (i. e., expressible in language). Now we cannot have a heterologue or vipaksøa here, for (again, according to the Nya¯ya system) there is nothing that cannot be named (or expressed in language). Within the Buddhist system, another example of the same argument-type would be: “This is impermanent because it is a product”. For in Buddhism, everything is impermanent and a product. Later Naiya¯yikas called this type of sign “kevala¯nvayin”, the universally positive-sign, that is characteristic of every entity. Udyotakara captured another adequate reason or logical sign, but he formulated the reasoning or inference negatively, i. e., in terms of a counter-factual. This was done probably to avoid the doctrinal quandary of the Nya¯ya (to which he belonged), in which explanation of analytical or a priori knowledge always presents a problem. His typical example was: “The living body cannot be without a soul, for if it were it would have been without life.” This is the generalized inference called “kevala vyatirekin” ⫺ ‘universally negative’ ⫺ in the tradition: The subject S which has a unique property B cannot be without A, for then it would have been without B. Since B is a unique property of S, and since presence of A and B mutually imply each other, there is no sapaksøa. But it is a correct inference. Bha¯sarvajn˜a (950 A. D.) did not like this rather round-about way of formulating the inference-type. He said, “The living body has a soul, for it has life.” But this would verge on unorthodoxy in Nya¯ya, for a) the statement of the thesis includes the sign already, and b) there seems to
92. Sign conceptions in India
be a necessary connection between having life and having a soul. The later Nya¯ya went back to negative formulation, but removed the reflex of the counterfactual that Udyotakara had. If A and B are two properties mutually implying each other such that B can be the definiens (laksøanø a) and the class of those possessing the A can be the definiendum, then the following inference is correct: The subject S differs from those that are without A, for it has B. This seems to be equivalent to: S has A, for it has B. The verbal statement “S has A because it has B”, however, does not expose fully the structure of this type of inference. For one thing, in this version it becomes indistinguishable from any other type of correct inference discussed before. In fact, the special feature of this type of inference is that the inferrable property A is uniquely present in S only, and nowhere else, and hence our knowledge of the concomitance or pervasion between A and B cannot be derived from an example (where their co-presence will be instantiated) which will be a different case from the S, the case under consideration. In fact, S here is a generic term and it is proper to say: all S’s have A, for they have B, and a supporting example would need to be an S, i. e., an instance of S. To avoid this anomaly, a negative example is cited to cover these cases. Thus we can say, a non-S is a case where neither A nor B are present. This will allow one to infer, for example, absence of B from absence of A and also (since A and B are co-present in all cases) absence of A from absence of B. But the evidence here is B. Hence by seeing B in all S’s we can infer absence of absence of A. Such a roundabout formulation was dictated by the peculiar nature of the Din˙na¯ga-Udyotakara theory of inference. To explain: In this theory, what legitimizes inference of A from the sign B is the knowledge that B is a logical sign of A, and to have that knowledge we must have the further knowledge that B has concomitance, i. e., an invariable connection with A, and the second piece of knowledge must be derived empirically, i. e., from an example where it is certain that A as well as B is present. Without such an example, we would not recognize B to be a logical sign of A. This limitation precluded the possibility of inferring A from B, where the case is such that all that have A are in-
1837 cluded in paksøa, i. e., the subject-locus of the inference. For the convention is that the said example cannot be chosen from the members of the paksøa, i. e., of the set of S’s. Hence the difficulty. Udyotakara saw this problem and extended the scope of the theory by saying that in these cases, a negative example, a non-S having neither A nor B, and absence of any counter-example (the sign’s absence from all vipaksøas) will be enough to legitimize the inference. Udayana (ca. 1050 A. D.) later defined this type of inference as legitimate. For, he said, if we do not admit such inferences as valid then our search for a defining property of some concepts could not be justified. Suppose we wish to define cowhood: what is the unique property of a cow? Now, suppose having dewlap is a unique property of a cow; it exists in all and only cows. Then ‘having dewlap’ would give the defining property of a cow. What is the purpose of such a ‘definition’, if we can call it a definition (laksøanø a)? We can differentiate all cows from non-cows. How? We do it by the inference: Cows are distinct from non-cows, for cows have dewlaps. Of course, “Cows are distinct from noncows” is equivalent to “Cows are cows”, but when it is negatively put, the purpose of such an inference becomes clearer. 2.7. Concomitance or the relation of invariability Din˙na¯ga defined the invariable relation or concomitance of B with A, which legitimizes the inference of the signified from the sign B, as follows (in Prama¯nø a Samuccaya): “When the sign (lin˙ga) occurs there, the signified, that of which it is a sign, also has to occur there. And if the sign occurs elsewhere, this has to occur only when the signified is occurrent.” Lin˙ge lin˙gi bhavaty eva lin˙giny eva itarat punah: this has been quoted frequently by the Naiya¯yikas, Jainas and other logicians. It actually amounts to saying that all cases of B are cases of A, and only cases of A could be cases of B. Dharmakı¯rti (ca. 630 A. D.) described the invariable connection in two ways. A sign could be the “own-nature” or essential mark of B. That amounts to saying that B is either omnitemporal or a necessary sign of A. Thus, we infer that something is a tree from the fact that it is a beech tree, for a beech tree cannot be a beech tree without being a tree. This only defines omnitemporality or necessary connection. The second type of sign is one
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
where we infer the natural causal factor from the effect, just as we infer fire from smoke. It is also the nature or the essence of smoke that it cannot originate without originating from fire. Hence an invariable relation involves (i) an essential or necessary property of the class, and (ii) a necessary causal relation between an effect and its invariable cause. The later Naiya¯yikas said that the absence of a counter-example is what is ultimately needed to legitimize an inference-giving relation between A and B. If B is the sign then B would be a logical sign if and only if there is no case where B occurs but A does not occur. If B occurred when A did not, that would be a counter-example to the tacitly assumed rule of inference: If B then A. As we know from the truth-table of propositional logic, “If B then A” is falsified only under the condition that there is not-A but B. Thus Gan˙ges´a (13th century A. D.) defines this relation (one of the fourteen definitions): “B’s non-occurrence in any location characterized by the absence of A”. Alternatively, another definition is given: “B’s occurrence with such an A as is never absent from the location of B”. The first is a rephrasing of the first definition of vya¯pti in the Vya¯pti-pan˜caka of Gan˙ges´a. The second is an abbreviation of what is called his “siddha¯ntalaksøanø a”.
The ancient texts on grammar and semantics dealt with the following topics, among other things: analysis of sentences and words into significant components, the relationship between word and meaning, classification of words according to their semantic contribution, and division of words with reference to ontological categories. The traditional name for grammar is “vya¯karanø a”. Its foremost author was Pa¯nø ini (4th century B. C.). The early development of this “science of language” led to many interesting results. They are as follows: (a) the close relationship between logical and grammatical categories was noticed; (b) the distinction between language and metalanguage, or rather, use and mention, was noticed; and c) metalinguistic notions were formulated. For example, in grammatical rules by the use of a word (say “cow”) one refers to the word itself (its own form) while in ordinary language by using such a word (“cow”) one refers to the object, a cow. This led to the formation of the view that a word in fact refers first to itself, then to the object in the intellect of the speaker (for it is intended by the speaker) and then to the external object (a cow). This view is found in Bhartrøhari (Va¯kyapadı¯ya, ka¯nø dø a III). It seems to accord with the general view that a sign can even be a sign of itself (self-signification is sometimes a fact), besides being a sign for other things. In ordinary speech, when a word refers to itself, i. e., to its own form, we need a mark to separate its use in the other sense. In Sanskrit we use “iti” after that word as its mark. But Pa¯nø ini (1. 1. 68) reverses this convention for formulating the rules of grammar more efficiently. In rules of grammar, words used will generally refer to their forms, very seldom will they have their ordinary meanings. Hence Pa¯nø ini says that we need to mark those special uses of words where they refer to objects, not their forms, by the particle “iti”. In short, unmarked words in grammar refer to their forms (but in ordinary speech they refer to their ordinary meanings, objects), while words marked with “iti” will refer to their ordinary meanings (but in ordinary speech such marked words refer to their forms).
3.
Grammar and semantics
3.1. Basic tenets of Pa¯nø ini’s “science of language” The word “Veda”, which was used to denote the oldest ‘revealed’ sacred texts of the Hindus in ancient India, refers to a body of knowledge, indeed to one of the means of gaining knowledge. But the scriptures are in fact a body of statements, a collection of sentences. The linguistic nature of the sacred knowledge points to the fact that language or valid testimony is an important source of cognition, much like perception and inference. This led to the general enquiry about how language, as a word or a sentence, imparts knowledge to the hearer (see the treatment of this question in other ancient cultures such as classical Greece: Art. 40 § 3. and Art. 42, Judaism: Art. 61, and the Islamic World: Art. 90 §§ 3.⫺7.). The question raised in this connection was: How does a linguistic utterance, through the communication of its meaning, convey knowledge to the hearer? In other words, how does language become a sign of knowledge for the recipient?
3.2. The sphotøa theory Vya¯karanø a may be taken to be the process of analyzing languages, and in such a process the first element we encounter is a sentence. A sentence is denotative or signifier of a com-
92. Sign conceptions in India
plete thought which the speaker wishes to communicate to the hearer in a linguistic community. In Bhartrøhari’s view, the sentence is a sequenceless, partless, indivisible unit much as is the thought signified by it. In this view, the sentence and the thought it represents are in fact regarded as two sides of the same coin. It is called “the va¯kyasphotøa”. The conveyor and the conveyed, the medium and the message are in reality identical. Sphotøa is originally posited as “the meaning-bearing-element”. Etymologically it has been explained as “wherefrom the meaning (artha) bursts forth” (cf. similar ideas in early Japanese linguistics: Art. 95 §§ 1. and 3.). This is primarily applicable to a sentence, and then to a word, called “the padasphotøa” or ‘word-sphotøa’ (the substratum of the meaning of words), but Bhartrøhari also talks about “varnø a-sphotøa” or ‘syllable-sphotøa’. It is not clear whether the syllables also could be regarded as the substratum of meaning. It appears that sphotøa was posited as constituting a separate realm of realities comprising the letters, words and sentences, as distinct from the temporarily-produced sound-particulars or their clusters or sequences merely representing the wholes, the sphotøas, in communication; what is represented is not to be taken as identical with the representations. The latter are made up of bits and pieces and hence divisible while the former are indivisible wholes. Language or sphotøa has a non-verbal and a pre-verbal as well as a verbal stage. At the non-verbal stage, according to Bhartrøhari, the sentence and what it denotes (thought?) lie identified together and latent, but at the preverbal stage, the speaker sees them as capable of being differentiated as meaning and meaning-bearer, though not actually differentiated. At the verbal stage the two are distinctly differentiated. 3.3. Learning the word and its meaning L. Bloomfield has described Pa¯nø ini’s grammar as “one of the greatest monuments of human intelligence” (Bloomfield 1933: 11). P. Thieme has said that Pa¯nø ini’s grammar is on the whole a single argument to show that speech units (s´abda) are built up from simpler elements in a way that can be captured by formulating grammatical rules (Thieme 1971: 617). Pa¯nø ini postulated the theory of ka¯raka relations in order to deal with semantic and syntactic features ⫺ a linguistic no-
1839 tion of what is nowadays called “the deep structure”. The analysis of words into meaningful segments is the most ingenious feature in the grammar of Pa¯nø ini. For this purpose, he devised a series of suffixes and affixes. Most of these suffixes are elided in the final construction of the word, but they form an essential part in the analysis of the word, establishing symmetry between the syntactic and semantic units. A famous couplet from the Nya¯yasiddha¯ntamukta¯vali (which summarizes the observations of Gan˙ges´a) is often quoted to identify and explain eight different sources (of which grammar is one) from which the meaning of a word may be learnt. a) Grammar: The meaning of all yaugika words (i. e., words normally derived from roots and suffixes and other ‘atomic words’) are learnt through grammar, for it supplies the roots as well as their meanings, and the significance of the suffixes and the prefixes. b) Analogy: An unfamiliar word denoting an unfamiliar object is sometimes learnt through analogy, i. e., on the basis of its familiarity with the familiar objects meant by familiar words. E. g., “a kangaroo”. c) Lexicon: It is an obvious source from which knowledge of the meaning of many words is derived. d) Statement of trusted person: Parents, among others, teach the child the relationships between words and their objects (i. e., their meanings) on many occasions. e) Speech behavior of the elders: By the observations of the speech patterns and the courses of action that follow, the child learns much about the meaning of many words. The elder man commands, the adult obeys, and the child learns what the elder man means, by observation. f) Context: Specific meanings of some words are derived from the larger context, the whole sentence or the passage. g) Explanation: Some meanings are learnt from commentaries or explanations or definitions given by others. h) Syntax: The meanings of some unfamiliar words are learnt from their syntactic connections with other familiar words in the sentence. 3.4. The classification of words Ya¯ska organized words into four categories: na¯ma (nouns), a¯khya¯ta (verbs), upasarga (pre-verbs or prefixes) and nipa¯ta (particles or invariant words). The first two are con-
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cerned with the two main ontological categories: a process or an action (denoted by a verb) and a being or a thing (denoted by a noun). This was perhaps the beginning of two rival schools of ontologists, the event-ontologists and the thing-ontologists. According to the majority of the grammarians, all words are derived from some verbal root. This would accord a primacy to the verbs and thereby to events. Others believe that there are words (nouns) which are underived (avyutpanna). The second view would acknowledge primacy of the things or substances. The pre-verbs are not considered to be independently meaningful. Their significance lies in the contribution they make to the meaning of the main verb to which they are attached. A well-known and oft-quoted verse tells us that pre-verbs forcibly change and modify the original (natural) meanings of the verbs, just as the ocean-water contaminates the (natural) sweetness of the water of the river Ganges. Some believe that the pre-verbs are not “denotative“ of any meaning but only “indicative” of a meaning already lying dormant in the verb. In fact, they say further that all verbal roots are of multiple meaning, i. e., they do not have any fixed meaning. The pre-verbs therefore can sometimes illuminate a meaning already lying latent in the root. A pre-verb is like a lamp, only functional in illuminating any meaning of the root. The particles (nipa¯ta) do not have any fixed meaning either. They are capable of having a variety of meanings, and only the suitable contextual factor fixes their meanings. In Pa¯nø ini’s grammar, the nipa¯tas have been defined as signifying a-sattva (‘nonthings’) (Pa¯nø ini 1. 4. 57). What non-things are, is, however, not clear (concerning the classification of the parts of speech in the Greek tradition, see Art. 42 § 2.1.).
sound forms (ru¯pa) of these words are identical, we mistake them as one, a single word. Contextual factors identify each different word. The latter view maintains that it is the same word that has different meanings in different contexts. Some words do not have a fixed original meaning. This will be in accord with the view that gives primacy to sentences or contexts. Again, some words may have fixed original meanings but through a sustained and constant use of such words as metaphors, they acquire a multiplicity of meanings. What is metaphorical today may be literal tomorrow. The Mı¯ma¯m ø sa¯ philosophers were greatly in favor of monosemy, presuming that this is more natural and normal in a language in its uncorrupted form. The phenomena of synonymy and polysemy were regarded as corruption and distortion due to the ‘bad’ speech-habits of some regions as well as due to confusion and fusion with words from other dialects, etc. (gradual acceptance of ‘corrupt’ forms of words and so on). This is compatible with the Mı¯ma¯m ø sa¯ view of language, which asserts that the word-object connection is ‘natural’, i. e., non-derived, and constant, i. e., fixed. Most Indian philosophers maintain that there are two kinds of word power: its denotative power and its indicatory power. Usually the primary meaning (found in the lexicon, etc.) is given by the first, and all the words must have this power. But some words are used in different contexts to mean something else. These secondary meanings are somehow connected with the former, primary meanings, and given by the second power called “laksøanø a¯”. In English we generally call it a metaphor or metaphorical use. One view is that (1) the primary meaning becomes first a ‘misfit’ in the context of the given sentence, and (2) hence the metaphorical or secondary meaning is given in its place, to ‘fit’ the context, but (3) the secondary meaning must maintain some relation with the original, primary meaning. These are usually the three conditions comprising the general theory of metaphor in Sanskrit. ⫺ For similar views about synonymy, polysemy and metaphor, see the linguistic considerations in Ancient Greece: Art. 42 § 2. and in the Islamic tradition: Art. 90 §§ 5.⫺8.
3.5. Synonymy, polysemy, and metaphor Some words are synonymous. In Sanskrit grammar, they are often explained as co-referential. Words in apposition are also said to be co-referential (“sa¯ma¯na¯dhikaranø ya”, ‘having the same locus as their meaning’). Words with multiple meanings seem to present a philosophical problem, however. There were two different views on the problem. One is called the multiple-word view, and the other the single-word view. The former maintains that a word with multiple meaning is actually a dummy for many other words, each of which will have a single meaning. Since the
3.6. The basis of word meaning What does a word mean? Ka¯tya¯yana, who wrote the Va¯rttika¯s on the rules of Pa¯nø ini, developed the nucleus of a theory in answer to
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Fig. 92.5: Woman writing with a stylus (Bhuvanes´vara or Khajura¯ho, 11th century A. D.; cf. Zimmer 1956: II, plate 345). Fig. 92.5: Woman writing with a stylus (Bhuvanes´vara or Khajura¯ho, 11th century A. D.; cf. Zimmer 1956: II, plate 345).
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this question: “A word applies to (literally ‘lies in’) a thing on the basis of a quality and such a quality is expressed by adding the (abstract) suffix tal and tva to the word itself” (Ka¯tya¯yana under Pa¯nø ini su¯tra 5. 1. 119). This may be taken to imply that since there is a particular quality in a thing, a particular word becomes suitable for referring to that thing. The word “quality”, however, should be explained in the most general way in this context. Ka¯tya¯yana does not explain it. It must mean any attribute, generic property or even any particular feature or a part of the object. Later on, this quality was described as the basis or ground for application or designation of any word. This might have been a primitive way of capturing the intuition that a word picks out its referent by virtue of a quality or action. Something is called “blue” because it has the color blue, and something is called “cow” because it has cowhood in it. The Nya¯ya Su¯tra (2.2.66) raised and answered an allied question. How many items can be meant by a word? The Nya¯ya answer is that a word can convey three meanings: the thing or the individual (vyakti), the form of the thing (a¯krøti), and the universal (ja¯ti). Thus the word “cow” would denote the cowindividual, and in some contexts it would mean the form or image of a cow (as in “the golden cow”) and it can also mean cowhood as a universal (as in “the cow is sacred”). The latter Nya¯ya view was then modified, and it now said: the word usually denotes an individual as qualified by the corresponding universal. Thus the word “cow” denotes the object qualified or distinguished by cowhood. The Naiya¯yikas admit that some universals, such as natural kinds, are ontologically real entities. The Buddhists opposed this realism about universals. For them, the universals are only negations of the alternative possibilities (cf. tad-anya¯poha). To comprehend the meaning of such a word as “cow” we have to differentiate the thing (the particular) meant from anything that is not a cow. Such distinguishing could be done on the basis of the exclusion of all alternative possibilities, i. e., being a horse, being a tree, etc. But since being an animal is not an alternative possibility to being a cow (for they are compatible), the word “cow” cannot serve to distinguish its object from an animal. For the Buddhists, such words as “cow” cannot designate a particular (for particulars are always unique and ever fluctuating), but can point to a particu-
lar by excluding all such contrary possibilities as being a horse, being a tree, and being a dog. 3.7. Sentence meaning How and what does a sentence mean? Bhartrøhari claims that the sentence is a whole which is grasped by a flash of intuition (pratibha¯ ). The Pra¯bha¯karas hold that a sentence means a related entity (a complex fact), and the constituent words contribute to generate the knowledge of this related entity. Whatever a word means, its meaning must form part of the whole complex; the word-meanings are related entities. The meaning of a word cannot stand in isolation. The Bha¯tøtøa Mı¯ma¯m ø sakas say that words have their separate meanings and the hearer combines them (the meanings) in his awareness to obtain the complex, related entity meant by the sentence. The Nya¯ya school says that knowledge of the constituent words is instrumental to generating the knowledge of what the sentence means through the intermediacy of the cognition of the individual word-meanings. The connection between two isolated wordmeanings (in a sentence) is derived from what is called “syntactic expectancy”. The syntax of the language makes one word (say a noun) syntactically expect another word (that is a verb or an adjective). Such syntactic expectancy supplies the connection between their meanings, and thus the meaning of a sentence is known by the hearer. 3.8. Meaning as potentiality of use Gan˙ges´a developed a theory of semantics in which he termed the primary or denotative meaning as the potentiality of the word. By potentiality he meant the arbitrary (or conventional) use associated with a word. Words possessing potentiality were specified as follows: a) An etymological word (yaugika) is one which is understood by the potentiality of its component parts alone (the root, prefixes, infixes and suffixes); e. g., the word “karta¯” refers to the doer or the agent of the action. b) A conventional word (ru¯dø ha) is one which is understood by the potentiality of its entirety independent of the parts; e. g., the word “gau-” signifies ‘cow’ (and not ‘agent of going’ which is the meaning of its parts, according to traditional etymology). c) An etymo-conventional word (yogaru¯dø ha) is one which is understood by the potentiality of the whole symmetrically with the
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potentiality of its parts; e. g., the word “pan˙kaja” signifies ‘lotus, which is born in the mud’. d) An etymological-conventional word (yaugika-ru¯dø ha) is one which is understood either by the power of its entirety or by that of its parts; e. g., the word “udbhid ” signifies ‘germ’, ‘sprouting’ or ‘(the name of) a sacrifice’. Jagadı¯s´a (16th century A. D.) in his S´abdas´aktipraka¯s´ika adds anvayabodha (syntactic cognition) as one of the features of the potentiality theory. Gada¯dhara (17th century A. D.) in his S´aktiva¯da develops the theory of contextuality in relation to the potentiality of a word. Gada¯dhara also speaks of the semantics of deixis. In Vyutpattiva¯da Gada¯dhara gives a detailed account of indexicality and its implication in verbal cognition.
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Poetics and aesthetics
The Na¯tøyas´a¯stra of Bharata (ca. 100 B. C.) is the earliest available work which deals systematically with the theory and practice of aesthetic communication. Earlier works that have some incidental notes on figures of speech and meaning are the Nirukta of Ya¯ska and the Arthas´a¯stra of Kautøilya. Ya¯ska speaks of several kinds of upama¯ (simile), one of which is luptopama¯ (metaphor). Kautøilya (ca. 300 B. C.) speaks of qualities and defects of style in the composition of royal (administrative) edicts. The encyclopaedic nature of the Na¯tøyas´a¯stra covers all aspects of dramatic presentation: the structure and construction of different kinds of stages, the religious ceremonies observed in the inauguration of a stage, different kinds of physical movements and gestures, the sentiments and the emotions of the characters, prosody and figures of speech, the different languages and dialects to be used in the drama, the types of dramatic poetry, the development of actions in the play, costumes and props, the types of dramatic characters, the training of actors, music and songs in the drama, and the time, place and occasions for a performance. The basic assumption in the Na¯tøyas´a¯stra is that all the arts are mutually related and that the fundamental purpose of all art is to communicate rasa (taste, aesthetic experience). ⫺ Concerning the role of the performing arts in other cultures, see Art. 93 § 10. (China), Art. 95 § 4. (Japan), Art. 96 § 6. (Indonesia), and Art. 97 §§ 6. and 7. (South East Asian mainland).
1843 4.1. The performing arts Drama, according to Bharata, is a “representational statement (anukı¯rtana) of the emotional states” (NS´ I.107), an imitation (anukaranø a) of the actions and behavior of the people (lokavrøtta), consisting of the various conditions of human life and various emotional states (NS´ I.112⫺3). Presentation and communication of situations and the emotional states of people in different situations depend on three ways of understanding the psychological process, which Bharata calls “bha¯vas” (‘feelings’). The intention of the dramatic presentation is to produce the three emotional states vibha¯va (stimulus), anubha¯va (physical reactions to the stimulus) and vyabhica¯ribha¯va (transient states of the body and mind of the characters in such situations). The meaning of the dramatic presentation follows from all the three aspects of drama: the pa¯tøhya (verbal text), the drøs´ya (spectacle) and the abhinaya (acting, histrionic representation). A dramatic performance (prayoga) consists of three basic modes of representation: bha¯rati (the verbal), sa¯ttvati (the somatic) and a¯rabhati (the artifactual, e. g., the use of supernatural elements) (NS´ I.41). Abhinaya (acting, histrionic representation) is the act of carrying the performances of a play to the ascertainment of its meaning. The representation takes place in four ways: through a¯n˙gika (gestures), va¯cika (verbal modulations and modifications), a¯ha¯rya (costumes and artifacts), and sa¯ttvika (representation of the different sentiments). Of the two basic practices in the presentation of a play ⫺ conventional (na¯tøyadharmı¯ ) and popular (lokadharmı¯ ) (NS´ VI.24) ⫺ the Na¯tøyas´a¯stra obviously follows (or formulates) the rules of conventional dramatic presentation. The conventions are realized in a series of verbal and non-verbal signs. Gestures, according to Bharata, are of three kinds: those of the limbs (s˙a¯rı¯ra), and those of the face (mukhaja), and those of the entire body (cestøa¯krøta). Bharata lists thirteen kinds of ges-ø tures of the head, thirty-six types of glances, nine kinds of gestures (movements) of the eyeball, eight kinds of supplementary glances, ten ways of moving the eyelids, seven types of eyebrow movements, six kinds of movements of the nostrils, six kinds of movements of the cheeks, six kinds of gestures of the upper lip, six of the lower lip, eight movements of the chin, six ways to open the mouth, and nine ways to move the
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
neck. For all the gestures, names and descriptive commentaries are supplied as well as the meaning they convey to the audience. Gestures are seen as iconic representations of the different emotions of the characters in the play. The list continues with the enumeration of sixty-seven gestures of the hand, five kinds of modulation of the breast, five ways to move the sides of the body, three ways to move the belly, five ways to move the waist, five ways to move the thighs, and five ways to move the feet. Movements of the feet, ways of walking and different postures are minutely described and defined. In addition to these gestures, we have thirty-two postures (an˙gaha¯ras, synchronization of hands and feet) used in dances. The an˙gaha¯ras consist of one hundred and eight karanø as (‘doings’, combined movements of hands and feet) depicting different moods and emotions. The representation of different expressive emotions (sattva) also follows a pattern of conventional modes for expressing emotions through bodily signs. These un-expressed (avyakta) temperaments are presented by acting out paralysis, perspiration, horripilation, trembling, change of colors, tears and fainting. Feelings (bha¯va), emotions (ha¯va) and passions (hela¯ ) are different kinds of expressive emotions (cf. Fig. 92.6 on plate XVI⫺ XVIII). The several gestures and kinesic actions follow the theory and practice of the rasa (the chemical experience of taste or the aesthetic experience). The aesthetic experience enjoyed from the theatre is classified as of eight kinds corresponding to the eight basic emotions (stha¯yibha¯va). They are: s´røn˙ga¯ra (sensitive, corresponding to love), ha¯sya (comic, corresponding to humor), karunø a (corresponding to grief), raudra (furious, corresponding to anger), vı¯ra (heroic, corresponding to energy), bhaya¯naka (apprehensive, corresponding to fear), bibhatsa (horrific, corresponding to disgust) and adbhu¯ta (marvellous, corresponding to astonishment). The basic emotions are realized and communicated through the three kinds of bha¯vas. In connection with the verbal aspects of acting, Bharata discusses meter and prosody, figures of speech, excellences and deficiencies of poetic compositions, diction and style; and he observes the importance of correct articulation and modulation of voice by the actors. Modulation of voice (ka¯ku) can convey assertion, negation, or particular states of mind. Different types of voice registers (stha¯na) and voice-pitches carry different im-
ports: the lofty tone (ucca) conveys the sense of distance, and also states of astonishment, distress and fear; a blazing tone (dipta) conveys arguments, quarrels, disputes, indignation and pride; the flat tone (mandra) conveys dejection, languor, anxiety, distress and secrecy; a very low tone (nı¯ca, mandratara) conveys physical ailment, fatigue and distress; a quickened tone (druta) conveys excitement and grace; a tone in a low tempo (vilam ø bita) conveys love-passion, sorrow, doubt and shame. The artifacts in the dramatic presentation include pusøta or model work, alan˙ka¯ra (ornaments), an˙ga-racana¯ (make-up and cosmetic work) and sajjiva or san˜jiva (use of live animals and other props). 4.2. Articulation and decoration of the plot The ten types of play (ru¯paka) enumerated in the Na¯tøyas´a¯stra and recognized by later writers are bha¯na (satirical monologue), vitøhı¯ (street play), prahasana (comedy), vya¯yoga (one-act heroic play), utsrisøtøika¯n˙ka (tragic or pathetic play), samavaka¯ra (three-act religious plays), dø ima (a play depicting strife in four acts), iha¯mrøga (four-act play depicting rape), prakaranø a (fictional play with five acts) and na¯taka (historical play in five acts). Each type of play follows its individual characteristics and is constructed according to a system of formal rules. The most important element of all types of plays is the objective (ka¯rya), the realization of which brings the actions of the dramatis personae to a state of rest and fulfilment of the purpose of the principal plot (a¯dhika¯rika itivrøtta). Subsidiary to the main plot, there could be several sub-plots (pra¯san˙gika). The Na¯tøyas´a¯stra mentions two types of sub-plots, the pata¯ka¯ (a subsidiary action that deals with the actions of a friend of the main hero) and the prakarı¯ (a subsidiary action restricted to a single incident). At the beginning of the play, there must be a seed (bı¯ja), the potential of the objective that will be developed in the course of the play. Continuity (bindu) is required to ensure that the seed is not lost in the ramifications of all actions and characters in the play. The continuity of the main plot could be preserved with the help of intervening scenes (arthopaksøepaka, indicating the meaning of the matter) between the acts (an˙ka) of the play. The Na¯tøyas´a¯stra gives five varieties of indicative scenes: praves´aka (the introductory scene), visøkambhaka (supporting scene), cu¯lika (the crest, the prime indication, usually in the
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form of a voice from off stage), an˙ka¯vata¯ra (introduction to the following act) and an˙kamukha (opening to the act). The action of the play has five stages (avastha¯), which are based on real life and may not correspond to the division of acts in the play. They are: pra¯rambha (the commencement containing the seed of the action), prayatna (undertaking, when the actual action towards the fulfilment of the purpose is introduced), pra¯ptisambhava (possibility of attainment, indicative of some success towards fulfilment), niyata¯ phalapra¯pti (certainty of attaining the result) and phalayoga (attainment of the fruit, the completion of the purpose of the bı¯ja). Independent of the avastha¯s, there would be five conjunctions (sandhi) in the development of the actions in the play; the mukha (opening of the action containing the ‘seed’ of the action), pratimukha (re-opening, described as the udgha¯tana, sprouting of the seed), garbha (‘embryo’, the udbheda, germination of the seed), vimars´a (or avamars´a, pause or disaster causing obstacles for the certainty of attainment) and nirvahanø a (conclusion or accomplishment of the action). There are twenty-one other conjunctions (sandhyantara) to be used in appropriate places in the play: sa¯man (conciliation), bheda (split), prada¯na (gift), danø dø a (coercion), vadha (slaying), pratyupannamati (presence of mind), gotraskhalita (confusion of names), sa¯hasa (boldness), bhaya (fear), dhı¯ (understanding), ma¯ya¯ (illusion), krodha (anger), ojas (strength), sam ø varanø a (concealment), bhra¯nti (error), hetvavadha¯ranø a (ascertainment of the cause), du¯ta (envoy), lekha¯ (letter), svapna (dream), citra (painting), and mada (intoxication). The Na¯tøyas´a¯stra prescribes for each of the conjunctions certain limbs (an˙ga) to make them complete. There are sixty-four limbs in a play (actually sixty-five limbs are described and defined). Bharata describes the specific language of poetic discourse in terms of its laksøanø as (characteristics). These characteristics include figures of speech, and features of rhetoric, sometimes resembling the limbs of the conjunctures of dramatic construction. These are characteristics of dramatic expression. The poetic form becomes an ingredient of a global act of communication. Its object is to persuade, instruct and delight. The characteristics are a mode defining poetic discourse with the logical considerations of appropriateness. Among the characteristics we have uda¯haranø a (illustration), drøsøtøa¯nta (example),
1845 pra¯pti (attainment, an inference from the part to the whole), hetu (cause) and sam ø s´aya (doubt) ⫺ all terms of logical discourse. Along with the special characteristics of poetic discourse, Bharata enumerates specific figures of speech called alan˙ka¯ras (ornaments): upama¯ (simile), ru¯paka (metaphor), dı¯paka (lamp, illumination), anupra¯sa and yamaka (alliteration and rhyme). There are ten gunø as (qualities) in poetic compositions according to the Na¯tøyas´a¯stra. These are s´lesøa (union, closeness of words producing the desired meaning), prasa¯da (clarity of words and meanings), samata¯ (evenness), sama¯dhi (concentration), ma¯dhurya (sweetness), ojas (strength), saukuma¯rya (delicacy), arthavyakti (manifestation of meaning), uda¯rata¯ (exaltation) and ka¯nti (grace). 4.3. Poetic verbal style Theoretical poetics after Bharata incorporates many of the tenets of the Na¯tøyas´a¯stra. The emphasis in poetic discourse was however soon limited to the figures of speech, the alan˙ka¯ra (beautification of speech). Bha¯maha (ca. 400 A. D.) concentrates on the study of figurative language in his Ka¯vya¯lan˙ka¯ra. According to him, the essence of ka¯vya (poetic composition) is s´abda¯rthau sahitau (speech and meaning combined), and so he prescribes the use of beautiful speech and beautiful meaning in poetry. There must be in poetry, according to him, verisimilitude, probability as well as agreement with reason and everyday experience. He proposes the composition of ka¯vya to be in the form of logical argumentation. As in logic, there should be pratijn˜a¯ (statement of a thesis), hetu (the middle terms of agreement and difference; in poetry these should be the enumerations of naturally beautiful objects which may prove fallacious) and drøsøtøa¯nta (examples). Bha¯maha also reviews the theories of the nature of language. He maintains that the relationship between words and meanings is conventional (hence arbitrary). Words, he says, refer to the four kinds of things, namely substances, actions, classes and qualities. Va¯mana also maintains that ca¯ruta¯ (beauty) cannot be achieved simply with the use of beautiful words; the beauty of speech must be vakra (indirect, oblique). Danø dø in (ca. 700 A. D.) and Va¯mana (ca. 800 A. D.) are the chief theorists of style in poetry. Danø dø in in his Ka¯vyalaksøanø a calls it “ma¯rga” and Va¯mana in his Ka¯vya¯lan˙ka¯ra-
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su¯tra calls it “rı¯ti”. Danø dø in differentiates between poetry as spectacle (preksøa¯rtham, dramatic poetry) and aural poetry (s´ra¯vyam ø ). He holds that the beauty of poetry rests on the ten gunø as enumerated in the Na¯tøyas´a¯stra. Va¯mana considers style the soul of poetry (ritira¯tma¯ ka¯vyasya). He, too, maintains the ten qualities of poetry with slight variations. Both Danø dø in and Va¯mana enumerate the figures of speech with very slight variations. Udbhatøa (ca. 800 A. D.) continues the study of the figures of speech, but seems to have been aware of the theory of two meanings of words as proposed by the Mı¯ma¯m ø sa¯ philosopher Kuma¯rila Bhatøtøa. According to the latter, words have two semantic powers, e. g., the abhidha¯ (denotative, primary meaning) and laksøanø a¯ (secondary or implied meaning). He distinguishes between an explicit meaning (s˙rutya¯ ) and an implicit meaning (arthena). Thus, according to him, ru¯paka (metaphor) differs from upama¯ (simile) by the fact that in metaphor the imposed object is understood from the context rather than by the use of explicit words (such as “like”, “as”). Rudratøa (ca. 900 A. D.) in his Ka¯vya¯lan˙ka¯ra classified the figures into figures of sound and figures of meaning and propounded the theory of aucitya (appropriateness or harmony) between the form and the meaning of poetry. It is in the Sahrødaya¯loka (popularly known ¯ nanda (ca. 900 as the Dhvanya¯loka) of A A. D.) that poetic expressions are discussed with their complete semantic implications. Along with abhidha¯ and laksøanø a¯, there was a third semantic function of words, called ø sa¯ lit“ta¯tparyas´akti”, recognized in Mı¯ma¯m erature. Probably inspired by Va¯mana’s idea ¯ nanda of vakra (indirect, figurative) speech, A modified the third semantic function of words to designate not the “final meaning” (ta¯tparyas´akti as understood in Mı¯ma¯m ø sa¯), but vyan˜jakatva (suggestiveness). “Dhvani” (‘sound’), as the term for the vehicle of poetic meaning, acquires a new sense in the termi¯ nanda; it is the essence of poetic nology of A communication. “Dhvani” comes to mean the power which underlies suggestion and predominates over literal meaning. Dhvani is of two main types: avivaksøitava¯cya (suggestion where the literal sense is not intended) and vivaksøita¯nyaparava¯cya (suggestion where the literal sense is intended but which leads on to something further). In order to be able to convey the aesthetic experience, the poetic text should also have aucitya (appropriate¯ nanda distinguishes between an˙gi ness). A
artha (total meaning of the text) and an˙ga¯s´rita artha (meaning related to the textual components). Abhinavagupta, in Locana (his ¯ nanda’s work) explains the commentary on A an˙gi artha in the context of the theory of rasa, the aesthetic experience. For him, rasa does not lie in the poetic text or in the presentation of the textual matter by the actors in a drama, but in the perception of the reader/audience. Around 1100 A. D., we find an increasing concern for linguistic and epistemological problems in poetics. Kuntaka (ca. 1100 A. D.) in his Vakroktijivita returned to the theory of figurativeness in poetry and maintained that vaicitrya (variegatedness) was the essence of poetry. The figurativeness of poetry is of six kinds at six levels of expression: phonetic (of the varnø a, the phoneme), lexical (padapu¯rva¯rdha, the lexical unit), grammatical (pratyaya, the formation of the word), sentential (of the va¯kya), contextual (of the prakaranø a, section of the work) and the composition as a whole (of the prabandhana). Kuntaka incorporates much of Bhartrøhari’s conception of language as indivisible utterances and maintains that a poetic text is likewise indivisible and any analysis of poetry into its component parts is merely a theoretical abstraction. Mahima Bhatøtøa (ca. 1100 A. D.) in his Vyaktiviveka enquires into the nature of vyakti (exposition) of linguistic text. Much of his argument is directed against the Dhvani school of thought. According to Mahima, words have only denotative power; other semantic imports and functions are merely inferential and depend on the speaker’s and hearer’s knowledge and training. The aesthetic experience and the rasa (flavor) of literary works are realized within the scope of anuma¯na (inference). A large portion of Ka¯vyapraka¯s´a of Mammatøa (ca. 1100 A. D.) is devoted to the discussion of word and meaning. Mammatøa incorporates all existing views on word and meaning and devises a scheme of text and meaning. His views may be summarized as follows: There are three modes of textual significations, the va¯caka (the denotative), the la¯ksøanø ika (the metaphorical) and the vyan˜jaka (the suggestive). What is apprehended in direct perception is the denotation of a word. Denotation is of two types: vastudharmi (objectrelated denotation) and vaktrøyadrøccha¯sannives´ita (denotation related to accidental references, proper names). Object-related denotations are of two types: siddha and sa¯dhya. Siddha is of two types: referring to a class or
92. Sign conceptions in India
to individuals and qualities. Sa¯dhya refers to actions and verbs. This primary meaning is called abhidha¯. The secondary semantic power of words, laksøanø a¯, follows a similar scheme of classification. Laksøanø a¯ is of two main types: s´uddha¯ and gaunø ¯ı. S´uddha¯ is further divided into two types: upa¯da¯na and laksøanø a. All three types of secondary significations, upa¯da¯na, laksøanø a and gaunø ¯ı, have two sub-types: sa¯ropa¯ and sa¯dhyavasa¯na¯. Thus we have six types of secondary meanings. The tertiary semantic power of words, vyan˜jana¯, again has many subdivisions. The first occurs when the denotative sense is not intended (avivaksøitava¯cya). The second occurs when the denotative sense is intended as inherent in a suggestion (vivaksøita¯nyaparava¯cya). The first is of two kinds: one where the denotative sense has continued into some other sense (artha¯ntarasam ø kramita), and the other, where it has been disregarded (atyantatiraskø rita). The second also is of two types: one where the process of transfer is not visible (asam ølaksøyakrama) and the other where it is visible (laksøyakrama). The explanation of suggestiveness in poetic communication takes into account extralinguistic features such as gestures and other non-verbal modes of signifying. 4.4. Music Theory and practice of music in India begins with the Sa¯maveda. Most of the text of the Sa¯maveda consists of the hymns of the R ø gveda, altering and expanding the actual words so as to make them suitable for chanting; and much of the grammatical and prosodical determinations have been given a musical meaning. The Sa¯maveda recognizes three tones: uda¯tta (rising), anuda¯tta (not rising) and svarita (sounded, grace). The svarita is a falling tone, the first segment of which is higher, called “pracaya”, the second segment lower, called “sannatara”. These tones are frequently mistaken as accents; they are in fact marks of musical pitch or musical notes. There are seven notes in the ga¯na according to the Sa¯mavidha¯na Brahmanø a: krusøtøa (high), prathama (first), dvitı¯ya (second), trøtiya (third), caturtha (fourth), mandra (low) and atisva¯rya (extremity of the cadence). In the Pusøpa Su¯tra, these seven notes are ascribed two sets of subordinate notes of four each, such as: pratyutkrama (initial measure), atyutkrama (passing over) karsøanø a (friction) and sva¯ra (voiced); and vinata (depressed), pranø ata (inclined), utsvarita (voiced upward) and
1847 abhigı¯ta (voiced forward). These notes are qualified by five smrøtis (tones) such as m ø rdu, madhya¯, a¯ya¯ta¯, dipta¯ and karunø a¯. The sa¯man melodies formed on the basic verses are construed by means of six devices known as vika¯ras (transformations). They are vika¯ra (simple transformation), vis´lesøanø a (elongation), vikarsøanø a (diphthongization), abhya¯sa (carrying forward), vira¯ma (pause) and stobha (insertion). In the Na¯tøyas´a¯stra we see various innovations on the nature of musical sounds. The NS´ gives a detailed picture of the svaras (musical notes), of the s´rutis (microtonal intervals between the successive degrees of the scale), of the two gra¯mas (parent scales) and of the murchana¯s (scales obtained by transposition). In this period we have two parent scales and eighteen ja¯tis (classes). In the Brøhatdes´¯ı of Ma¯tan˙ga (ca. 900 A. D.), the ja¯tis are replaced by melody-types (ra¯gas), and new melodies are incorporated into the musical nomenclature, mostly from des´¯ı (folk) music. The aboriginal and folk tunes were formalized with ten classical characteristics, called das´a laksøanø a. During the period that followed we find observations on music and musicology in several Pura¯nø as such as the musical supplements of Va¯yu Pura¯nø a, Visønø udharmottara Pura¯nø a and the Ma¯rkanø dø eya Pura¯nø a. The terminology and the descriptions of music are varied, and give a larger picture of musical thoughts. These texts describe seven notes (svaras), three scales (gra¯mas), twenty-one modes (murcchana¯s) and forty-nine melodic figurations (ta¯nas). “Gra¯ma” (literally: ‘village’) means a civilized as opposed to an unsophisticated scale (aranø ya). Three gra¯mas are recognized; the ga¯ndha¯ra gra¯ma, the madhyama gra¯ma and the søadø ja gra¯ma. Svara is also a degree of the scale or a diatonic tone. It may be natural (s´uddha) or chromatic (vikrøta). The natural degree is the degree proper to the scale. The chromatic notes are sharp (tı¯vra) or flat (komala), very sharp (atitı¯vra) or very flat (atikomala). A set of seven notes form a saptaka (a set of seven). There are three saptakas: ta¯ra (higher), madhya (middle) and the mandra (lower). The San˙gı¯ta Ratna¯kara of S´a¯rn˙gadeva (ca. 13th century A. D.) adds new varieties of ra¯gas and describes the norms and practices of prabandha (compositions). The prabandha consists of four parts: udgra¯ha, mela¯paka, dhruva¯ and a¯bhoga. The forms of musical compositions mentioned and explained by him are Dhrupada, Tarana¯, Thumri, Tappa¯
1848
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 92.7: Teaching the tones of the R ø gveda. The R ø gveda has three tones: uda¯tta ‘raised’, anuda¯tta ‘not raised’ and svarita ‘sounded’. These simple terms give no indication of the complexities that characterize the rendering of the accent by the brahmins. The movements, however, which accompany the teaching of the tones, are simple: the pupil’s head is kept straight for the uda¯tta, is bent down for the anuda¯tta and lifted and bent to the pupil’s right for the svarita (see below). These movements are intended for teaching purposes only. An adept reciter should not move his head (after Staal 1983: I, 180 f).
92. Sign conceptions in India
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Fig. 92.8: The renowned celestial dancers Alambusha¯, Mis´rakes´i, Padmavatı¯ and Subhadra¯ dancing to the accompaniment of orchestral music in Sudharma¯devasabha¯; S´unø ga, 2nd century B. C. (Bha¯rhut, Indian Museum, Calcutta).
and Khya¯l. � Cf. the ideas about music in Ancient Greece: Art. 43 and Art. 60 § 6.5., in China: Art. 93 § 10.1., in South East Asia: Art. 96 § 7., and in Japan: Art. 95 § 4.3. It has been observed that in the whole of the classical Indian music literature there is no mathematical discussion of the size of intervals. One explanation for the lack of mathematical discussion is that the Indian musicians laid more emphasis on the relative merit of the intervals in inducing certain emotions. The system of notation for the seven svaras, namely sa¯, re, ga¯, ma¯, pa¯, dha¯, ni, is based on theoretical considerations of pitch.
5.
Signs in the sciences
5.1. Geometry The S´ulba (or S´ulva) S´u¯tras are manuals for the construction of altars for Vedic sacrifices.
They are sections of the Kalpa S´u¯tras or S´rauta S´u¯tras which deal with rituals and ceremonies. Each S´rauta S´u¯tra seems to have its own s´ulba section. At the present time we have seven S´ulba S´u¯tras, those belonging to ¯ pasthe S´rauta S´u¯tras of Baudha¯yana, A tamba, Ka¯tya¯yana, Ma¯nava, Maitra¯yanø a, Va¯ra¯ha and Va¯dhula. It was in connection with the construction of sacrificial altars of proper size and shape that the problems of geometry and also of arithmetic presented themselves. The manuals instruct the altar-maker in the methods to be adopted in drawing the graphic outlines of the altars (for survey on the development of Hindu and Buddhist temple architecture, see Art. 97 § 5.2.). The geometrical functions described are complex, and presuppose the knowledge of geometrical postulates (the fact that the Pythagorean theorem existed in ancient India has been observed and universally accepted). But no pos-
1850
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 92.9: Buddhist sacred architecture in Sa¯n˜cı¯: Stupa No. 3, early 1st century B. C. Gate early 1st century A. D. (Zimmer 1956: II, plate 25).
tulates are stated and explained in these texts; instead of theorems, we have assumptions of the geometrical process. Measurement being the proof (prama¯nø a) of existences, the emphasis was on the measured surface. The underlying principles of the construction were that (a) whatever is measured is a model for further transformations, (b) transformation is a process of substitution and symmetrical (and asymmetrical) progression, and (c) the constructed graph symbolizes harmony and conservation. In the final constructed stage, the graph is both an abstraction of geometrical facts and a sign (evidence) of symmetrical existence. � Concerning geometrical knowledge in other ancient cultures, see Art. 89 § 3.1. (the Ancient Orient) and Art. 41 § 3. (Greece).
5.2. Arithmetic Besides the idea of spatial extension, the idea of numerical quantity and the concept of abstract number was known in ancient India. The identification of numerical quantity with definite symbols and the notation of mathematical functions are found in mathematical texts. The name of the mathematician who devised the simplified system of writing numbers is unknown, but the earliest surviving mathematical texts � the anonymous “Baks´a¯li Manuscript” (ca. 4th century A. D.) and ¯ ryabhatøa (5th century ¯ ryabhatø¯ıya of A the A A. D.) presuppose it. The mathematicians use abbreviations and initials for symbols, and a ¯ ryadot to distinguish negative quantities. A bhatøa mentions mathematical progressions and algebraic identities and devises his fa-
92. Sign conceptions in India
1851
Fig. 92.10: Hindu sacred architecture at Bhuvanes´vara: the Pras´ura¯mes´vara Temple, ca. 870 A. D. (Zimmer 1956: II, plate 327).
mous numerical notation. His notation is unique; it uses the consonants “ka” to “ma” (of the Devana¯garı¯ script) for 1 to 25, the rest, “ya” to “ha” for 30 to 100, while the vowels denote multiplication by powers of 100, a being 100∞ and au 10010. The symbols of unknown quantity extend over a great variety of denominations. The characters used are initial syllables of the names of colors. Color (varnø a) refers to unknown quantity. � Concerning arithmetic sign conceptions in other ancient cultures cf. Art. 89 § 3.1. (the Ancient Orient), Art. 41 § 2. (Greece), and Art. 90 § 17. (the Islamic World).
5.3. Medicine “A¯yurveda” (literally: ‘the revealed knowledge of longevity’) is the term for the Indian system of medicine which includes interesting observations on the nature and classification of symptoms. The basic presuppositions of the medical texts are that the human body is a system of organs which has three basic gross elements: dosøa (morbific entities), dha¯tu (elements � minerals) and mala (impurities); and that the human body has has three aspects of existence: the physical, the psychological and the spiritual. When the elements of the body and the aspects of existence are in perfect coordination and harmony, a state
1852
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
of health prevails. Disharmony, even in a small measure, causes ill-being and disease. The type of the disease and the cause of illbeing are discerned through a series of characteristic indications. It is, however, necessary for the physician to have a thorough knowledge of the physiognomy (of the signs of a state of health) in different types of persons. According to A¯yurveda, the physical constitution of a person is determined by the proportion of the gross elements, and most important, of the morbific entities. The strategic situation of the morbific entities at the time of the union of s´ukra (male seed, spermatozoa) and s´onø ita (female ‘seed’, ovum) in the womb of the mother determines the physical constitution of the future child, and its growth and development. There are three morbific entities: va¯ta (wind), pitta (bile) and kapha (phlegm). A person can be va¯taja, pittaja or kaphaja with specific signs and typical features. These may be arranged in the following schema:
immediate. If the organism neglects the primary information, the semantic vacuum (dislocation) manifests itself in subsequent stages of penal severity which are read as symptoms of ill-being. In the earliest texts on A¯yurveda, those by Caraka and S´us´ruta (both ascribed to ca. 100 B. C.), symptoms are explained as indications of the cause (hetu) and characteristics of diseases. Different types of ailments are read as specific transformations (vika¯ra) in the organs. Each and every ailment is described as having its peculiar transformational manifestations, visual (changes in the color of the body and face of the patient), auditory (the voice of the patient) and chemical (smell of the patient’s urine). The Asøtøa¯n˙gahrødayasam øhita¯ of Va¯gbhatøa (ca. 600 A. D.) and the Ma¯dhavanida¯na of Ma¯dhava (ca. 800 A. D.) summarize the views of earlier writers and comment on five-fold characteristics of ill-being. A syndrome is said to have five stages: the origins, the prodrome, the symptoms, therapeutic diagnosis and the onset. But in fact four stages (levels) of symptoms are enumerated. They are: the prodrome (pra¯gru¯pa), the symptom (laksøanø a), the onset (sam ø pra¯pti) and upadrava (sympatho-mimetic complications). A prodrome is an undeveloped symptom while a symptom (which is itself a presignifier of an illness) has particular shape (ru¯pa) and manifestation (vyan˜jana) with characteristic marks (cihna) and confirmation (a¯krøti). The onset of the disease has all the signs of the particular disease, and it is at this stage that all the information about a disease is obtained. Certain symptoms, however, are manifestations of a sympathetic reaction to idiopathic entities (primary signs) on the patient’s body. ⫺ Concerning Islamic medicine as a synthesis of Greek and Indian traditions, see Art. 90 § 16.
va¯taja tall, thin stature; dull and ugly; black or brownblack skin auditory quick and signs: hoarse voice visual signs:
tactual signs:
cold, rough skin
chemical no distinct signs: body odor
pittaja medium height; yellowish, coppercolored skin
kaphaja short, tender and handsome; red or redwhite skin
highpitched moderate voice warm, soft skin
deep, pleasant voice
bad body smell
tepid, soft and smooth skin pleasant smell
The accomplished physician discerns the body-type through knowledge, practical experience and training from a good preceptor. Knowledge of the normal signs helps him ascertain the symptoms of illness at an early stage. The physician reads the body as a text and a field of meaning. Meaning in A¯yurveda is not located at the levels of symptoms but at the level of concepts and values. The meaning of the organism is its proper function. All the physical (gross) elements derive their meaning from their functioning. A symptom, in this context, is the message of a temporary loss of meaningfulness. The fact of the semantic dislocation is transmitted across the network of the organism. The message is obvious and stark, the penal action is
6.
Common features of Indian sign conceptions
Categorization, classification and systematization of knowledge of all sorts are a peculiar feature of ancient Indian thinkers. The practice of categorization and the theoretical bases of such classifications yield notions of semiotic awareness. The Ka¯masu¯tra of Va¯tsya¯yana divides men and women into four categories each, with their peculiar features, visual and chemical signs. Signs were also used in divination and in predicting actions and behavior of people from their phys-
1853
92. Sign conceptions in India
Fig. 92.11: Ceremonial bath performed at the end of the Agni ritual (after Staal 1983: I, 692 f).
ical features (cf. Brøhatsam ø hita¯ of Vara¯hamihira). In legal literature, evidences are classified as firstness, secondness and thirdness of proof (cf. Manusmrøti). In the literature on architecture (Va¯stus´a¯stra) and icon-making, types of forms and categories of measurement are dealt with. Measurement as an act of semiotic realization is a presupposition of the image-maker. It is surprising that there is no text which deals with the (abstract) theory of signs. Instead we have a plurality of views and terminologies. Most probably the phenomenon of sign was too obvious a topic to be treated in a separate discipline. To the Indian thinkers, the world itself was a sign for other worlds; every object of this (physical) world was a sign for the metaphysical (cf. similar approaches in China: Art. 93 §§ 4. and 5., and Europe: Art. 57 § 2.).
7.
Selected references
7.1. Primary sources 7.1.1. Logic and philosophy Nya¯ya Dars´ana of Gautama with the Commentary of Va¯tsya¯yana and the gloss of Vis´vana¯tha Nya¯ya
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1854
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
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Asøtøa¯n˙gahrødayasam ø hita¯ of Va¯gbhatøa, ed. Paradkar Harisastri. Bombay: Nirnay Sagar Press. 6th edition 1939.
Vyutpattiva¯da of Gada¯dhara, ed. D ø hunø dø hira¯ja S´a¯stri. Varanasi. 1886.
7.1.3. Poetics and aesthetics
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The Na¯tøyas´a¯stra of Bharata, eds. Batuk Nath Sharma and Baldev Upadhyaya. Varanasi: Chowkhamba Sanskrit Series. 1929.
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1856
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
93. Sign conceptions in China 1. Introduction 2. Language 2.1. The sound system and phonetics 2.2. The transformations of the graphic forms of Chinese characters 2.3. Structure and formation of the characters 2.4. Grammar 3. Logic 3.1. Debates on the relationship between names and reality 3.2. Argumentation and inference 4. Philosophy 4.1. Cosmological schematism 4.2. Basic categories of cosmic ontology 4.3. Ethical noumenal categories 4.4. The epistemology of Chinese Buddhism 5. Myths and religions 5.1. Myths, natural gods and worship 5.2. Totem worship 5.3. Sorcery and divination 5.4. Some social effects of the native religions 6. Society and politics 6.1. The significance of appellatives 6.2. Political effects of auspicious symbols 6.3. Social strata and symbols 6.4. Rituals and customs in daily life 7. Literature and historiography 7.1. Literature 7.2. Historiography 8. The fine arts 8.1. Painting 8.2. Calligraphy 8.3. The theory of homological relations between poetry and painting 8.4. Sculpture and frescos 9. Architecture and gardens 9.1. The typology of Chinese architecture 9.2. Buildings as symbols of social hierarchies 9.3. Temples as synthetical symbol systems 9.4. Artistic gardens 9.5. The symbolism of old city walls 10. The performing arts 10.1. Music 10.2. Dance 10.3. Martial arts 10.4. Traditional Chinese Opera 11. Selected references 11.1. Source books in Chinese 11.2. Translations from Chinese sources 11.3. Books in Western Languages
1.
Introduction
The title “Sign conceptions in China” may touch on the following possible topics: (1) traditional ways of thinking in China and ac-
tions with semiotic implications; (2) traditional Chinese discussions on 1; (3) the present-day descriptions of 1 and 2; (4) presentday discussions on 1, 2 and 3 in terms of modern semiotic knowledge. While 4 is important it is not the object of the present discussion. Compared with Western intellectual history, 2 was mostly given in an unsystematic and fractured way using pre-scientific terminology, so it is difficult to present 2 directly. However 1 is indeed an unparalleled source of sign conceptions, and China thus qualifies as an empire of signs in human history. This article is therefore intended to fall into category 3. Briefly, this is a topographical description of what traditional Chinese culture has contributed, both directly and indirectly, in connection with signs and sign systems. Unfortunately, such important subjects as traditional Chinese sciences and technology, the cultural histories of the frontier areas and contemporary Chinese society and culture cannot be handled here.
2.
Language
2.1. The sound system and phonetics The phonetic evolution of the Chinese language can be broadly divided into four periods: the ancient (before 581 A. D.), the medieval (581⫺1271 A. D.), the early modern (1271⫺1911 A. D.) and the modern (from 1911 onward). The phonetic structures have changed from one period to another. The traditional Chinese phonology established 1500 years ago remains applicable in analyzing modern Chinese phonetic systems. It takes a special system consisting of three kinds of components called respectively “sheng” (almost equivalent to the initial consonant), “yun” (approximately equivalent to the simple or compound vowel) and “diao” (similar to the tone). Thus the sound of a Chinese character consists of an initial consonant, a vowel and a tone. The tone system has four types called “four tones” (high and level; rising; falling-rising; falling). The three components function in differentiating the parts of speech and meanings. Therefore, the sound of a character is the acoustic form of its morpheme, and its meaning is determined by a compound of three phonological components. Furthermore, one character represents one syllable rather than one phoneme,
93. Sign conceptions in China Hsia (Xia) dynasty 2100⫺1500 B. C. Shang dynasty 1500⫺1030 Chou (Zhou) dynasty Western Chou 1030⫺771 Eastern Chou 770⫺256 Spring and Autumn period 770⫺476 Warring States period 475⫺221 Ch’in (Qin) dynasty 221⫺207 Han dynasty Western Han 206 B.C.⫺24 A.D. Eastern Han 25⫺220 Wei Kingdom 220⫺265 Chin (Jin) dynasty Western Chin 265⫺316 Eastern Chin 317⫺420 Northern and Southern 420⫺581 dynasties Sui dynasty 581⫺618 Tang dynasty 618⫺907 Five dynasties 907⫺960 Sung (Song) dynasty Northern Sung 960⫺1127 Southern Sung 1127⫺1279 Yuan dynasty 1271⫺1368 Ming dynasty 1368⫺1644 Ching (Qing) dynasty 1644⫺1911 Fig. 93.1: A brief chronology of China.
and one syllable with a tone represents one or more morphemes. Modern Chinese contains more than four hundred syllables; with tones added, the number of all syllables rises to about 1300. There are 21 consonants and 39 vowels, the numbers of both being less than they were in ancient China. The earliest Chinese phonological lexicons are Qie Yun (written by Lu Fa Yan during the Sui dynasty) and Guang Yun (written during the N. Sung dynasty). They classified all the then available characters into 206 sections according to 206 phonological types. ⫺ For short descriptions of other tone languages, see Art. 97 §§ 2.1. and 2.2. 2.2. The transformations of the graphic forms of Chinese characters The history of the vocabulary systems of Chinese characters can be traced back 3000 years. The modern system of characters was established two thousand years ago in the Ch’in (Qin) dynasty. A history of the transformation of graphic forms of Chinese characters can be divided into three periods: (1) the period of Jiaguwen (the oracle bones and tortoise scripts in the Shang period) and Jinwen (scripts on bronze objects in the Chou period); (2) the period of Lishu (official
1857 scripts current in the Han dynasty); (3) the period of Kaishu (more regular scripts originated in the Northern dynasties; this system has been transmitted through to our times). The Jiaguwen and the Jinwen are already well-formed characters but their forms are still close to pictures. For example,
2.3. Structure and formation of the characters A character is a compound of form, sound and meaning. The form of a character consists of a few related strokes and a structure formed through them. Five basic stroke types combine to give over twenty main stroke types, which in turn form about 60,000 characters through their various possible combinations (concerning the syntactic description of line drawings and characters by means of graph grammars, see Art. 2 § 5.4.). Due to the radical differences between spoken and written language, the traditional Chinese written material has kept its independent identity and value. A classical theory of motivating principles for character construction called “Six Shu” was firstly raised under the Han dynasty. Later, Six Shu was reduced to four principles for the structure of characters, namely (1) imitating the form of the represented object; (2) pointing at the nature of or at the relations between objects (most items of this category are abstract words); (3) combining a meaningful part of one old character with that of another; (4) a picto-phonetic principle, according to which the newly formed character consists of an old ideogram and an old phonogram. Generally speaking, in the course of transformations the Chinese characters tended to become less pictographic and more ideographic at first, and later less ideographic and more phonographic. Nevertheless, in Han times most Chinese characters became picto-phonetic. ⫺ On adaptations of the Chinese characters for writing the languages of the surrounding countries, see Art. 94 § 3. (Korea), Art. 95 § 2. (Japan), Art. 97 §§ 5. and 6. (South East Asia). On other non-alphabetic writing systems, see especially Art. 89 § 2. (the Egyptian Hieroglyphs).
1858
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 93.2: Ritual bronze vessel from the Shang period (1500�1030 B. C.). Those vessels represent the animistic world conception of archaic mythology, often in the shape of animal symbols. In the Shang period the basic system of Chinese characters was developed (cf. Hentze 1955: LIX).
2.4. Grammar There are five linguistic levels in the Chinese linguistic hierarchy. Word order and empty (function) words are the means by which the lower linguistic units can form the higher units. They are: morpheme, word, word group, sentence and composite sentence. The number of empty words, i. e., of words serving as function units, is about 400. It should be pointed out that most set phrases are fourcharacter groups. They not only signify com-
pound meanings but also imply rich poetic and musical connotations. Semantically, the Chinese set phrases abound with graphic beauty, rhythmic charms and historical associations, considerably enriching the expressive potential of Chinese as a literary language.
3.
Logic
In ancient China, a discipline of logic in its modern sense did not exist; nevertheless there
93. Sign conceptions in China
were lively discussions on the relations between name, concept and referent and the proper ways of reasoning among philosophers, Buddhist scholars and literary critics (for an outline of such discussions in India, see Art. 92 §§ 1.⫺3.). On the whole, most of these discussions were connected with ethical and political considerations. After Indian Buddhism entered China, the Indian classical logic “Yin-Ming” was also introduced, but its influence was limited to the field of Buddhist scholarship. 3.1.
Debates on the relationship between names and reality
3.1.1. The theory of name-rectification in the Confucian School The principle of name-rectification was raised earlier than other logical problems in China. The major representatives of this trend of thought were Confucius (551⫺479 B. C.), Mencius (late 4th century B. C.) and Hsun Tzu (298⫺235 B. C.). In this ethically semantic discussion the first principle was “conformity between name and reality”. Confucius’ two maxims were: “to rectify errors and incorrectness in factual judgments” and to “rectify improper names and claims in social and ethical orders”. As a great summarizer of ethic-semantic thoughts, Hsun Tzu raised the important principle that “names are made in order to denote real things”. He particularly emphasized relations between the individual and the universal and distinctions between such concepts as “similarity”, “difference”, “single” and “common”. His most important contribution is the doctrine on the classification of names. ⫺ Cf. the nearly simultaneous discussions on the natural vs. conventional meanings of words in Ancient Greece: Art. 40 §§ 3.1.3.⫺3.2.4. 3.1.2. The School of Names (dialecticians) The Chinese dialecticians played a considerable role in Chinese intellectual life between the fifth and the third centuries B. C. The most famous among them were Hui-Shi (370⫺310 B. C.) and Kung-Sun Lung (325⫺ 250 B. C.). They changed the earlier topic of name rectification to more serious semantic analysis. Hui-Shi’s central claim was that “equality of similarity and difference” (“mountain is on the same level with marsh”) proves the relativity of difference in space and time of things. Analogously, “dog is similar to sheep”, for each of them is an animal
1859 with four feet. Besides, he pointed out that the perceptual fire and heat are different from the conceptual ones, for the former is individual and the latter is general (“names are disconnected from physical shapes”). Kung-Sun was famous for claiming that “property is different from its substance” (or “hardness and whiteness of a stone can be separated”). His discussions cover the wide range from the concept of class, the difference between intension and extension, the norms of judging to the forms of reasoning. 3.1.3. The Mohist School of dialecticians The logic of Mohist and the later Mohist schools was the most systematic, influential and important one among various ancient systems of Chinese logical thought, and it paid attention to the practical aspects of logical reflection as well. The classic Mohist Canon by Motzu (480⫺390 B. C.) raised six tasks of logic: distinguishing between right and wrong, social order and disorder, similarity and difference, name and reality, benefit and harm, and removing doubts. 3.1.4. The Taoist logic of unnamableness The Taoist school and its original founder Lao Tzu (about 600 B. C.) said that “Tao” (‘the great way’) is unnamable since the namable involves physical things. Another founder of this school, Chung Tzu (369⫺286 B. C.) applied the Tao principle to political ethics, sharply criticizing the Confucian name-rectification theory and advocating the do-nothing principle of Tao. 3.1.5. The relations between word and meaning Ou-Yang Jian (died 300 A. D.) raised the proposition that words can completely express the meanings which correspond to things that exist in their own right, while the great Neo-Taoist scholar Wang Bi (226⫺249 A. D.) of the same period took the opposite position, namely that words cannot completely express ideas. He developed an extensive doctrine of the relations between words, ideas and symbols, concluding that “once symbols have been grasped, words can be forgotten […], and once meanings have been grasped, symbols can be forgotten”. So words and meanings are of a closely related nature. 3.2. Argumentation and inference The study of logical inference was the weak point in traditional Chinese philosophy (cf. the parallel discussions in Indic philosophy:
1860
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Art. 92 § 2., and in Greek philosophy: Art. 40 § 2. and Art. 46 § 2.). However, the Mohists did present some elementary forms of deduction and induction. Not interested in logical inferences as such, the Confucian school focused on the debating skills of moral discussions, which were qualified by analogical inferences in terms of metaphors and fables. The Neo-Confucian master Chu Hsi (1130⫺ 1200 A. D.) later raised a more epistemological inference principle, namely that “Li” (‘the principle’) is single while things are multiple, but Li is known through examining things; truth is thus reached by understanding phenomena. A more subjective way of reasoning was maintained by another Neo-Confucian master, Wang Yang Ming (1472⫺1528 A. D.). He insisted that Li or the essence of things existed only in our mind; Li is expressed in millions of things but only contained in one’s mind. Thus one must “disclose one’s own mind to reach truth”, and the practical way to reach this aim is to cultivate one’s consciousness and to increase one’s potential.
ments conception in Korean phonetics: Art. 94 § 5. as well as in Indonesian politics: Art. 96 § 9.).
4.
Philosophy
The language of traditional Chinese philosophy abounds with symbolic expressions. Many important concepts are compounds of concrete images and abstract notions, which are liable to lead to logical ambiguities as well as to produce emotional and volitional effects. 4.1.
Cosmological schematism
4.1.1. The conception of five elements As early as the 11th century B. C. there existed a primitive cosmological view that the universe or the world consisted of five basic elements (metal, wood, water, fire and earth). Parallel to these five elements, many other five-component orders were invented for, say, almanacs, medicine, astrology and ethics. The number 5 played a key role in the Chinese intellectual history of classification. During the Warring States period, Tsou Yan (305⫺240 B. C.) began to combine the fiveelements conception with the Yin-Yang notion, maintaining that the five elements produce each other and also overcome each other in a fixed sequence. Based on this theory, he built up a philosophy of history, claiming that there were five basic powers which determined the pattern of transformation of dynasties (cf. the use of the five-ele-
4.1.2. The Yin-Yang School and the system of divinatory symbols in the I King (Yi Jing) Recourse to bipolarity was a fundamental method of ancient Chinese reasoning. The two poles were regularly called “Yin” (as expressed by the female, the moon) and “Yang” (as expressed by the male, the sun). It was said that all things in the universe were produced or derived from a mixture or combination of the two origins. The I King (or Book of Change) evolved from the primitive YinYang notion and ancient divinatory practices. It contains a philosophical, cosmological and social schematism which was later extrapolated to almost all areas of human life. Yin and Yang are represented by the lines “⫺” and “⫺⫺” respectively and called “yao” (‘change’). The two kinds of Yaos can form eight basic symbols called “trigrams”, signifying the change of things (cf. Fig. 93.3). For each trigram there are: a name, a picture (symbol), a basic property and many (up to over 1000) symbolic images (emblems) with corresponding connotations (for a similar system of symbolic images in another ancient culture, see Art. 99 § 8.). Furthermore, by combining any two of these eight trigrams into diagrams consisting of six (divided and undivided) lines, a total of sixty-four hexagrams (called “Da-Cheng diagrams”) can be obtained. Arranged in this way, the text of the Book of Change contains 64 hexagrams, 64 sentences of hexagrams and 384 sentences of Yaos. Only later were some hermeneutical appendices added to the original text of the book with the aim of using it to interpret political and ethical phenomena. 4.1.3. The Diagram of the Supreme Ultimate (Tai-Ji), emblemology and numerology The Neo-Confucians of the Northern Sung dynasty established other systematic cosmological doctrines based on the Book of Change, two chief scholars of which are Shao Yung (1011⫺1077) and Zhou Dun Yi (1017⫺ 1073). In The Diagram of What Antedates Heaven, Shao built up an emblemological and numerological system according to which all things are both produced and undergo change. He combined Yin-Yao and Yang-Yao
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93. Sign conceptions in China symbols
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names
Chien
Tui
Li
Chen
Sun
Kan
Ken
Kun
emblems
heaven
marsh
fire
thunder
wind
water
mountain
earth
horse
sheep
pheasant
dragon
hen
pig
dog
cow
head
mouth
eye
feet
thigh
ear
hand
belly
Fig. 93.3: The Eight Trigram Scheme from the Book of Change.
according to a numerological scheme in order to form a complete emblemological system and consequently show the processes of change in things regardless of the specific meaning of the original emblems of hexagrams. Zhou also composed his own cosmic diagram called “the Supreme Ultimate” without the numerological explanations added. His cosmic evolution scheme follows this order: the Ultimateless ⫺ the Supreme Ultimate movement ⫺ Yang ⫺ heaven ⫺ the five ⫺ quiescence ⫺ Yin ⫺ earth elements ⫺ the four seasons. ⫺ For cosmological ideas in other ancient cultures, see Art. 36 § 4.3., Art. 37 § 5., Art. 38 § 2., Art. 89 § 6.1., Art. 93 § 4.1., Art. 94 § 1., Art. 98 § 2., and Art. 99 § 6.
4.2.2. “Li” (‘the principle’) and “Qi” (‘air’) Li and Qi are two central categories that were first raised by early Neo-Confucianism in the Sung dynasty, under the influence of Zen and Hua-Yan Buddhism, and were later systematically developed by Chu Hsi. For him Li is not much different from Tao as an abiding noumenon. Li as oneness antedates Qi as the root of things, while Li as plurality is reflected in everything, just as one moon can be reflected in thousands of rivers. Li was furthermore combined with heaven, and a new term “Heaven-Li” was coined with the stronger senses of ‘source’ and ‘supervision’.
4.2. Basic categories of cosmic ontology 4.2.1. “Tao” “Tao” as an ultimate ontological category has the literal meaning of ‘road toward the final truth’. It is also understood to be the source or origin of the universe and the law of cosmic circular change. Lao-Thu said that “Tao” implies two senses: ‘being’ and ‘nonbeing’. “Non” here means ‘namelessness’ and ‘shapelessness’ rather than ‘voidness’. It can also be understood as ‘unlimited and eternal motion’. However, the Neo-Taoist Wang Bi took “non-being” instead as ‘nothingness’, in which he saw the ultimate root of all beings. Tao as non-being cannot be described by any emblem ⫺ the word “road” included ⫺ because it is shapeless, nameless, uncertain, and equivalent to zero. Unlike his Taoist contemporaries, the Neo-Confucianist Chu Hsi had a more substantial conception of Tao, taking it as both the origin and the basis of cosmological and ethical laws. In his system, Tao is tantamount to Li (‘the principle’) and Tai-Ji as the final root of the universe and society. ⫺ Concerning the Japanese version of Taoism, see Art. 95 § 3.
4.3.1. “Ren” (‘benevolence’) and “Yi” (‘righteousness’) These two basic concepts, introduced by Confucius and Mencius respectively, are the highest virtues of Confucian ethics, being more important and influential than all other ethical concepts. Their meanings have been greatly enriched by innumerable historical tales as moral types and models.
4.3.
Ethical noumenal categories
4.3.2. “Hsing” (‘human nature’) and the mind Another school of Neo-Confucianism was represented by Lu Jiu-Yun (1139⫺1193) and Wang Yang Ming, who considered the concepts of mind and human nature the highest ethical and cosmological categories. In fact, the mind was said to be the very source and origin of all natural and moral phenomena. Therefore cultivation of one’s mind was naturally a way to reach Li or truth. Wang further maintained that the mind is Li and action is knowledge; in the psychological world conduct and knowledge are united and become one.
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
ter this period. Chinese Buddhism experienced its prime under the Tang dynasty. Among the many schools were several with philosophical contributions, such as the Tian-Tai sect, the San-Lun sect, the Wei-Shi sect, the Hua-Yan sect and Zen. Among them Tian-Tai, Hua-Yan and Zen are three Buddhist sects native to China. 4.4.1. The Tian-Tai sect This sect was established by Chih-Kai (538⫺ 597) in the Tian-Tai mountains, maintaining two central doctrines: (1) One mind can see three genuine aspects of things (the void, the illusory and the neutral) at once. These three aspects are three truths merged together. (2) The whole universe exists in one mind and its intentional activity. The philosophical argumentation of this sect was full of analogies. 4.4.2. The Hua-Yan sect (‘flowery splendor’) Fa Zhang (643⫺712) established this sect, attempting to unify all Buddhist teachings into one theoretical and practical system. He raised the principle of unhindered interpenetration of the universal into the particular and of the particular into other particulars. These ideas were further developed by the followers of this sect, who thus produced the most elaborate doctrine in Chinese Buddhism. 4.4.2.1. The Treatise of the Golden Lion Fa Tsang summarized the Hua-Yan philosophy in his Treatise of the Golden Lion. Using the golden statue of a lion in a royal courtyard as a symbol, he expounds the relations between Li (universal principle) and Shih (particular appearance), pointing out ten problems through analogical explanations and concluding that all phenomena, despite their diversity, interpenetrate each other. His approach can be briefly exemplified in the following scheme of Fig. 93.5, which is based on the image of a lion. Fig. 93.4: The Tai-Ji or Diagram of the Supreme Ultimate by Zhou Dun Yi (1017⫺1073), representing the creative interrelation of the Yin and Yang (cf. Fung You-lan 1952⫺53).
4.4. The epistemology of Chinese Buddhism Indian Buddhism was first introduced into China under the Han dynasty, and many Chinese Buddhist schools were established af-
4.4.2.2. The mirror as a metaphor for “Zhenru” (‘final truth’) The mirror was the Hua-Yan sect’s favorite metaphor for truth. A mirror is clean and immutable, so it can reflect the images of things. Because it can reflect the images of things, the mirror is clean and immutable. Similarly, Zhenru as substance is immutable, producing a variety of particular phenomena. And because it produces a variety of things, one can infer that Zhenru is clean and immutable.
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93. Sign conceptions in China name of phase
meaning
metaphor
general particular common
totality parts common things constituted by different parts parts of one body are different from each other all parts constitute one totality each part keeps its own identity
golden lion eyes, ears, … one lion made of different parts eye is different from ear
different constituting destructing
parts constitute one lion ear is independent from eye
Fig. 93.5: Meanings connected with the image of the Golden Lion according to Fa Zhang (643⫺ 712).
ters gave up or even destroyed all reasonable communication with people. They also stressed the value of sudden enlightenment rather than the conscious self-cultivation taught by earlier masters. According to their fresh ideas, religious communication could only be reached through one’s daily deeds. Zen teaching was typically performed through a special dialogue between a master and his pupil without any normal semantic content. Irrelevant utterances, gestures (including the beating with a stick) and even silence became the means to help pupils grasp the “zen”. The reason was that masters tried to destroy the pupils’ natural belief in physical laws and their pretension of knowledge. Considered semiotically, Zen created many unusual ways of signification and communication.
5. 4.4.2.3. The metaphor of dust and the pearl This is another of Hua-Yan’s famous metaphors for Buddhist truth. A particle of dust contains a great number of worlds which differ from each other in various ways. Analogically, in the Indian fable “Network of the Heaven-Empire” (the palace adorned with pearl nets) each pearl reflects all other pearls, and each image in a pearl again reflects all other pearls, so the resulting number of images of pearls is limitless. By extension, time is divided into its own past, present and future, and each of them is again divided into its own past, present and future. These nine mutually interpenetrating phases finally form one general time phase. 4.4.3. Zen Buddhism “Zen”, or “Dhyana”, stands for calm meditation. The Northern and the Southern sects of Chinese Zen Buddhism were established by two famous disciples of the Indian Zen patriarch in China, Shen Hsiu (600⫺706) and Hui-Neng (638⫺710) respectively. And Zen with its various local sects became the most popular and characteristic Buddhist religion in China for more than one thousand years (concerning Japan, see Art. 95 § 3.). Moreover, no other Chinese religion is of greater semiotic interest than Zen, due to the many illogical and seemingly absurd ways of reasoning and persuading of the latter. The first principle of the Southern sect is that of the inexpressibility of truth. Thus Buddhist mas-
Myths and religions
5.1. Myths, natural gods and worship The relics of primitive Chinese worship can be traced to the time of the Upper-Cave-Man living twenty or thirty thousand years ago. The oldest objects of worship were the sun and the moon, and many legends about them have been transmitted to modern times from remote antiquity. Other important natural gods were rain, wind and thunder; related legends have existed in all parts of China and worship based on them had become an important tradition until just decades ago (cf. similar developments in Korea: Art. 94 § 2., Japan: Art. 95 § 3., and South East Asia: Art. 97 § 4.3.). In the Jia-Gu-Wen material we find records of ceremonies for calling up rain storms and ways to offer sacrifices, including burning men alive and crying up to heaven. The worship of mountains and rivers was very popular, showing a strong practical concern about living conditions. The rites of offering sacrifices to rivers (mainly the Yellow River) in ancient times had been extremely solemn and serious, frequently with the planned sinking of a ship and drowning of girls. Worship of the gods of the mountains (mainly the Tai and the Sung) was, however, more popular. According to the records, many other objects like stars, tides, wood, storm, fire, earth, birds, wells and roads also had their own corresponding gods and were worshipped in less serious ways. In people’s daily life, the more popularly worshipped gods were those of heaven, earth, marriage, doors, ovens and work.
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 93.6: “Intercourse of Dragon and Tiger”. In Taoist alchemy the Yin and the Yang (the moon and the sun, the female and the male, etc.) were represented by the White Tiger and the Green Dragon, who unite their magic powers in the sacred vessel to create the Pill of Immortality (Blockprint of the Ming period, reproduced from van Gulik 1961: 85).
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93. Sign conceptions in China
Fig. 93.7: One page from a classical Chinese text printed in traditional style. The Chinese written language is a unique and highly sophisticated system of merely visual word signs, virtually independent of spoken sounds (Chapter 5 of Lao Tzu, Tao Te Jing, ed. Sibubeiyao).
5.2. Totem worship Many records of totem worship have been attested in historical documents. There existed three categories of totems: (1) the earliest found totems, e. g., snakes, birds, bears and tigers; (2) the totems with half-man-half-animal images (those described in the earliest Chinese mythological classic, the Mount and Sea Classic); (3) many purely imaginative totems, such as the dragon, phoenix and the
mixture of a dragon and a snake. The totems were worshipped and their names were taken as family names in the early times of China. 5.3. Sorcery and divination The divination arts in ancient China had a name consisting of the two characters “bu” and “zhan”, meaning ‘reading the omens through burning tortoise bones’ and then ‘watching the emblems of the omens’, respec-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
tively. There were six ways to foretell good and ill: astrology, almanac, the Five Hsing, playing with a specific herb and observing burnt tortoise bones. The above arts of sorcery and divination were a very influential profession in ancient times with close connections to performing symbolic semioses of various types. ⫺ Cf. the practices of divination in the Ancient Middle East: Art. 89 § 6.2., in Ancient Greece and Rome: Art. 47 § 6., as well as in the Islamic World: Art. 90 § 14.
much earlier. Confucians compiled the moral classic Book of Rites, which became the basic code to be respected by following generations. Accordingly, a great number of literary expressions were produced to form the corresponding systems of signification. In this way, China developed into a country full of ritual sign systems.
5.4. Some social effects of the native religions In ancient times there had been many native and local religions with less elaborate doctrines and numerous superstitious elements. The most widespread of these was Taoism (to be distinguished from Taoism as a philosophy), which exercised strong social (if not religious) effects. Its classical base was the Tai-Ping Classic (in the Eastern Han dynasty) consisting of Taoist philosophy, sorcery and necromancy. The Taoist religion and its many local sects had two considerable social effects: it nourished belief in immortality and was the spiritual source of rebellions. With respect to the former, even ancient emperors indulged in Taoist cultivations, such as taking special pills and performing religious rites. As for the latter, the famous farmer rebellions towards the close of the Eastern Han dynasty became the archetype of the rebellious farmer armies to follow, with religion as the driving force. On the other hand, culturally the Taoist efforts contributed much to literary, artistic and primitive scientific and even tourist achievements. Like Chinese Buddhism (concerning Buddhist temple architecture, see Art. 92 § 5.1. and Art. 97 § 5.2.), the Taoist religion had its special type of temples, called “Guan”, which were maintained by Taoist priests who practised rites and chanted scriptures there every day.
6.
Society and politics
After the Ch’in and Han dynasties, China became more totalitarian in her social and political constitution. The difference between various estates was not only shown in many social and family systems, but also embodied in relations between men, norms of conduct as well as a great number of rites and rules of courtesy. Yet the strict systems of protocol, morality and politics had been established
6.1.
The significance of appellatives
6.1.1. Family names In ancient China, family names were the signs of a clan and, after the Warrior period, the titles of fiefs, living places, positions and the names of ancestors could be used as family names. Beside the family name, a person could also have two possible surnames, called “zi” and “hao”. Surnames were the designations of a definite person. “Zi” is given by parents to show one’s seniority among his (her) brothers and sisters, while “hao” is to express one’s own aspirations and style. In the social etiquette, the three kinds of names are used in different situations demonstrating people’s relations and positions in the social hierarchy. 6.1.2. Names of emperors Since Ch’in Shih Huang-Ti (259⫺210 B. C.), “Huang-Ti” (emperor) became the title of all rulers of the following Chinese dynasties. Many other titles with laudatory meaning could be added. Among them the most important is the title of ‘reigning’, which can intensify the impression of the monarch’s legitimacy. The complicated title system of the Chinese royal family shows a delicate political-psychological implication. According to this system, when an emperor died he would be given two further titles: “shi-hao” in connection with his deeds and contributions and “ming-hao” in connection with his ritual position in the royal family. “Shi-hao” can mean praise, criticism or moral neutrality. It is tantamount to a procedure of changing names: replacing the old (valid when he lived) with the new (when he died). There was a strict taboo forcing to avoid the names of emperors and of certain of their relatives in ancient China. When writing, people had to avoid using characters which happened to occur as constituents of emperors’ names. This taboo (called “bihui”) forced people to change those characters or at least to leave out some strokes of them; transgressions were severely punished. ⫺ Concerning the
93. Sign conceptions in China
role of names and marks in other cultures, see Art. 37 § 4., Art. 47 § 5.1., Art. 61 § 2., Art. 89 § 2.2., and Art. 92 § 6.2. 6.2.
Political effects of auspicious symbols
6.2.1. Regimes and names In ancient China, people thought regimes and rites had a close tie with natural gods and their names. Under the Han dynasty, a systematic theory about the problem was raised by the great Confucian scholar Dong Zhong Shu (175⫺105 B. C.), who declared that a mutual correspondence existed between the will of heaven and the fortune of a regime. This correspondence relation could be disclosed by some specific natural signs. This doctrine was based on Zhong Shu’s metaphysical principles of “the Five Xing” (‘five elements’) and the Yin-Yang. He suggested that we “always carefully examine the problems of names and titles”, for they were prescribed by the sages and reflect the will of heaven, signifying what is right (cf. Fig. 93.8). 6.2.2. Regimes and symbolic figures Under the Eastern Han dynasty, a special augury called “Chen-wei” prevailed, which studied the relations of symbolic texts to political faith. The instrument of the augury was a “chen”, which was a green text decorated with figures. It was said to have come from heaven and could be used to foretell the fortune of states and persons. When Wang Mang, an official under the late Western Han dynasty, seized power, he declared he had been offered a “chen” from heaven. He was then defeated by Liu Xiou who claimed the same and handled political affairs according to the play of “chen” augury. 6.2.3. The role of names in rebellions In Chinese history, a dynasty was often replaced by another through rebellious activities organized by generals originally belonging to the former dynasty, or by oppressed farmers and formerly subordinated minorities. The rebellious armies always took a careful account of the names and related symbols representing their powers in order to prove their activities had been motivated by the will of heaven. For example, Zhang Jao, the leader of the rebellious army in the final years of the Eastern Han dynasty, used the following slogan to encourage his people at each battle: “the old Heaven died, the new yellow Heaven has been ascending” (his sol-
1867 diers wore yellow scarfs). The intertwining relations between political powers, religious faith and names and symbols can be most clearly shown by the history of the rebellion of Tai-Ping-Tian-Guo in the last century. Its initiator Hong Xio-Quan (1813⫺1864) took Jehovah as the Father of the Heaven and claimed to be his envoy in this world. In their military activities ⫺ which were quite successful ⫺, Hong Xio-Quan and his followers made frequent use of symbolic articles, political names and religious rites. 6.3. Social strata and symbols In ancient China there had been strictly organized bureaucratic hierarchies consisting of dozens of administrative and aristocratic ranks. Corresponding to their respective ranks, the officials and nobles had to wear prescribed clothes with different colors, figures and qualities. The codes for clothing were highly significant phenomena. For example, under the Tang dynasty, the fifth ranked official used purple, the sixth red, the seventh green and the ninth black. In the Ming and Ching dynasties, the embroidered designs and the animal figures on the official dress were more strictly stipulated. The same is the case for the material, pearls on hats, shoes and other pieces of clothing. ⫺ Cf. the similarly elaborate code of administrative ranks in Byzantium: Art. 60 § 3.3., and in early modern Spain and France: Art. 73 §§ 4. and 6. 6.3.1. Standards of burial and guards of honor These are two very crucial symbolic systems in ancient China. The standards of the burial system recorded in the Chou dynasty reflected the hierarchical ranks of the living. The difference of status was first shown through the number of inner and outer coffins, burial articles and the shape of the grave. Before the Ch’in and the Han dynasties, for example, the shape of graves of emperors and loyal family members was square while that of premiers and generals was round. In addition, the difference was also shown in the size of tombs and number of stone steps in front of mausoleums as well as in the quality of wood, color and paint of coffins. The same was the case with the guards of honor. The processional activities of guards of honor were very significant in the political and social life of ancient China, and there were strict specifications as to the
1868
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 93.8: One hundred talismanic versions of the character “fu” ‘happiness’. In the Taoist tradition calligraphy was used to produce visual charms or talismans (cf. Legeza 1975, 74).
number of guards and to the symbolic decoration of their uniforms, in accordance with the political status of the officials involved. 6.3.2. The Feng-Chen ritual and the worship of ancestors The “Feng-Chen” was a symbolic ritual to offer sacrifices to heaven and earth, showing the emperor’s gratitude for his regime’s
earthly success, and appealing for further divine blessing. This was typically done by holding a solemn and grandiose ceremony on the top of the Tai Mountain, with detailed stipulations as to the color of the participants’ clothing, the sacrificial articles and the way to kneel during the whole process. The dramatic performance was also a demonstration that a new dynasty had been firmly
93. Sign conceptions in China
1869
Fig. 93.9. The sole example, handed down through the ages, of a secret Taoist script called “The Brilliant Jade Character Script”. It is said to give a version of the first 48 (or 64) hexagrams of the Book of Change (cf. Legeza 1975, 68).
established under heaven’s authorization. The worship of ancestors had a close link with the functioning of the social system, too. The elaborate rites involving a memorial ceremony to ancestors can be traced to the Shang dynasty. The further-developed models formed under the Chou dynasty were followed for the next three millennia, and their
complex rules were similarly determined by the ranks of both the deceased and the living (cf. Art. 94 § 2.). 6.3.3. Forms of official documents The earliest well-developed systems of official documentation can be traced to the Yin or the Shang dynasties. The Book of History
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
stipulated six different genres of official correspondence with regard to regulations, projects, instructions, notices, oaths and orders. Under the Tang and the Sung dynasties, the systems of official documents underwent considerable development. There were around eight types of documents used among the various institutions. The elaborate classification system of official documents in China reflected and maintained the hierarchical relations and grades of power. The specifications concerned touch upon the literary style, forms, specific appelatives, the size of the stationery paper, signatures, seals, and even the serial numbers of documents.
however, simplified gradually after the Chou dynasty, particularly among the wider populace.
6.4. Rituals and customs in daily life Ancient China abounded with intricate rituals and over-elaborate formalities, all reflecting Chinese beliefs, social stratifications and a great number of symbolizations (for comparison with European everyday life, see Art. 48, Art. 59, Art. 73, and Art. 88). Thousands of symbolic systems involving ornaments, actions, gestures and customs have existed in the various domains. The following are some examples. 6.4.1. The ritual of birth and the hatwearing ceremony The ritual of birth was a grand ceremony with different standards in line with the social grades of the participants, and exhibited through the degree of intricacy, the total number of participants and the value of the ceremonial utensils. The hat ceremony was held on the day when a son reached 19 years of age. It was performed in the ancestral temples or halls, under the direction of his father. It contains a 15 step process in which, for example, the boy is offered the choice from three kinds of hats. 6.4.2. Marriage systems and the wedding ceremony In ancient China a man could have one legal wife and several concubines, constituting, in other words, patriarchal monogamy combined with sexual polygamy. In fact, women belonged to three levels: that of a wife, that of a “ying” (often the wife’s sister or maid) or that of a concubine (bought). Since the Chou dynasty, a system called “the six rites” was stipulated for the wedding ceremony. The standards of the wedding ceremony were furthermore determined according to the social position of the fiance´. The process was,
6.4.3. Etiquette of social intercourse Very complicated specifications of etiquette were given for when people were to meet each other, in line with their status, relations and situation. There were over nine types of meeting etiquette, and several ways of squatting, kneeling and sitting. The seating order around a banquet table was also strictly stipulated. The order of superiority around the table was east, south, north and west in turn. Furthermore, the specifications for the sequence of serving dishes, making toasts and the content of the drinker’s wager game also reflected the relations between the superior and the inferior, older and younger, male and female. The forms of address in various situations were sophisticatedly fixed to maintain the social superiority of officials over common people.
7.
Literature and historiography
7.1. Literature China is a country whose unparalleled written literature stretches continuously over three thousand years. In ancient China, literary activities were performed in almost every aspect of intellectual and social life. Before the end of the Ching dynasty, every intellectual was more or less a poet, and almost all written documents of various types contained some literary traits. China was also a country ceaselessly and strenuously ensuring the writing of its own history (in an unmatched abundance of historical documents) and also laying high emphasis on the political role of historical writings. Furthermore, literature and historiography have always been regarded as two closely connected fields. 7.1.1. The literary functions of Chinese characters Chinese characters have pictographical origins and still retain their pictographical elements in their structure. The graphical parts of characters can help arouse emotional, volitional and intellectual associations through the directly visual stimulus, thus producing rich denotations and connotations. In addition, the characters have multiple phonetical structures consisting of phoneme, sound and tones, producing a special musical dimension
93. Sign conceptions in China
1871 of literature, scholarship and documents were drawn up and the entire writing material was divided into 39 types accordingly. In the meantime the first book of Chinese criticism appeared; this work, Dragon Carvings of a Literary Mind, presented a theory to further divide Chinese writing into 33 types. Until quite recently, the widely accepted classical typology was that compiled by Yao Nai (1731⫺1815), which included only 13 categories of functions: debate, preface, memorial to the throne, correspondence, taking leave, orders by emperors, biography, inscriptions on a tablet, miscellaneous, admonition, eulogy, poetical prose and funeral orations. The modern classification of classical Chinese rhythmic writing covers four major sections: Shi (poem), Ci (lyric metres), Qu (dramatic verse) and Fu (rhythmic exposition), each of which has differently stipulated forms and rules.
Fig. 93.10: Tsang Jie, the legendary inventor of writing. He is represented with two pairs of eyes, so that he can see heaven and earth at the same time, thus symbolizing his creation to connect the two of them (cf. Zheng 1990: 43).
in literary communication. Moreover, because different characters share the same size, the shapes and forms of sequences of characters are conducive to the rhythmic beauty of regularity in poetic texts, being suited to the arrangements of “duizhang” (matching of sounds and senses in a couple of sentences) and reiterative locutions. 7.1.2. The typology of writing Generally, the traditional Chinese typology of writing is practical in character. The Book of History as the earliest compilation of official documents contains various types of writing but its principle of classification is not concerned with rhetoric and functional problems. Instead, it tries to distinguish between the grades of relations of superiority and intimacy between addressers and addressees. Later in the Han dynasty a new classification of writings, covering 12 types, appeared in the History of the Han: Records of Literature and Arts, and accepted the principle of uses and practical functions. The first literary typology appeared in the Anthology of Zhao-Ming Prince (in the Liang), in which the demarcation lines between the categories
7.1.3. Stylistics Classical stylistics played an important role in traditional Chinese criticism. Stylistic classification was also the first consideration which actually combined literary, philosophical and religious aspects together with Confucianism, Taoism and Buddhism as the main theoretical foundations. Such basic notions as “will and spirit”, “spiritual flavor”, “imposing manners”, “implicit poetic domains”, “spiritual void”, originating in Taoism and Buddhism, had become the major aesthetic concepts since the Wei and the Chin (Jin) dynasties. All of these concepts put emphasis on the impressiveness of the subjective mind, emotional upheaval and connotative implications, rather than on the exterior shapes and images of objects depicted. Obviously disregarding advice to be realistic, men of letters preferred the following form of expression: the part signifies the whole, the explicit signifies the implicit and the cause signifies the effect. In short, indirect ways of expression were more highly valued than direct ones. Moreover, in the Chinese aesthetic tradition the following axiological order of artistic beauty was generally recognized: the fixed image ⫺ its denotation ⫺ its connotation ⫺ the corresponding spiritual beauty of voidness ⫺ the untouchable charms of spirit; the disclosure of the last was taken as the highest artistic domain. Later, under the influence of Buddhism, stylistic aesthetics was elaborated even further. The poet Wang Chang-Ling
1872
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
(died 755 A. D.) in his Patterns of Verse raised a “three domain theory” of the material, the emotional and the spiritual, and his follower Jiao Ran (also in the Tang dynasty) developed this theory in The Forms of Verse. In the Ming and the Ching dynasties, due to the furthering of comparative studies between verse and painting, the notion of the spiritual domain attained its apex. Apart from this, one of the well known classifications of stylistic expressions was raised by SiKung Tu under the Tang dynasty. He described 24 poetic qualities representative of different poetic tastes and imaginary ambiances in Chinese poetry, showing a sophisticated insight into stylistic differentiation. 7.1.4. Poetical structure Chinese verse in a broad sense covers all kinds of rhythmic writings, while in a narrow sense it merely covers the special forms referring to two general categories: the ancient style of poetry (poems having five or seven characters for each line but without definite length or strict constraints in tonal patterns and rhymes) and the modern style of poetry (poems having a definite number of lines, namely four or eight lines for two different sub-classes, with strict tonal patterns and rhyming schemes). The Chinese poetry in the latter form attained its artistic peak under the Tang dynasty. This structurally more regular poetry, which consists of two sub-classes called “lü” (literally ‘regulated’) and “jue ju” (a kind of ‘four-sentence poem’), was partly based on the classical phonology of the Four Tone Scheme by Shen Yue (441⫺513). Shen divided the four tones into two classes: the light and the heavy, creating a scheme of strictly matching tones. 7.1.5. The typology of “Ci” Poetry (lyrical verse) “Ci” as a late form of poetry has a closer link with music than “shi”. The apparent discrepancy between Ci, as a typical form of poetry of Sung times, and Shi, as a typical form of poetry of the Tang period, lies in that the latter has a definite number of lines for a piece and of characters for a line, while for the former the related numbers are varied but no less regular. In contrast to Shi, which covers merely a few types, Ci has over 1000 types (originating from melodies), several hundred of which were frequently used. Generally, each type of Ci with its special name is struc-
Fig. 93.11: A Taoist calligraphic charm representing the Heavenly Messenger, who wards off evil influences and establishes law and order among the spirits (Tao Tsang, 12th century; cf. Legeza 1975, 114).
turally suitable to express a corresponding emotional tone. The possible number of characters in a Ci poem ranges from 14 to 240. 7.2.
Historiography
7.2.1. The typology of historiographical writings The officials specializing in keeping written historical records first appeared in the Chou period (concerning the Chinese calendar, see Art. 97 § 5.3.). The first Chinese historical classic, Spring and Autumn, was written by Confucius. Historiographical activities were further developed unter the Han dynasty with many important publications, and in Tang and Sung times the activities were more steadily institutionalized. Only since the Sung dynasty did the typology of historical writings become more diversified, including the annals type, the biographical type, the eventrecording type, the “Qi-Jü-Zhu” (records of emperors’ deeds and speeches), the “Shi-Lu”
93. Sign conceptions in China
(actual documents of emperors’ political activities), “Ri-Li” (documents made on a day-to-day basis), the “Yu-Die” (chronology of emperors’ families), the “Hui-Dian” (documents of institutions) and the “Fang-Zhi” (documents of local governments). Other branches of studies to emerge since the Sung dynasty deal with bronze and stone scripts, stone tablets, money coins, jade articles and tablet scripts in general. 7.2.2. Appreciative historiography Traditional Chinese historiography is stylistically literary in nature and functionally political, with an evident intention to help strengthen the regimes or dynasties of the time. The historical language was therefore full of terms of praise and criticism (for approaches to historiography in other cultures, see Art. 60 § 3., Art. 89 § 6., Art. 90 § 9., and Art. 92 § 4.). The texts of the millions of historical works contain intricate mixtures of factual records and expressions of values. For example, a great number of key words like “war”, “regime”, “death”, etc. have many alternatives with different positive or negative overtones. The multiple moral implications of Chinese historical discourse make the scientific descriptions of modern historical research all the more difficult. At the same time, however, these very traits considerably enrich their literary attraction for scholars. 7.2.3. Traditional textual criticism During the past two thousand years there have been two general scholarly tendencies concerning the investigation of classics, both literary and historical: the philosophical orientation and the philological orientation. If the former was representative of Sung times, then the latter was typical of the Ching dynasty. In fact, under the Ching the latter reached its apex with a well-established discipline called “textual criticism”, which showed more of a philologically technical rather than a hermeneutical character. The later development of this philological technique was in part due to the terror of suppression of free thinking during the Ching period.
8.
The fine arts
8.1. Painting The fine arts play one of the most important parts in Chinese cultural history. As early as six or seven thousand years ago painted pot-
1873 tery appeared. During the Warring States period, silk painting became the main form of Chinese art; this was in turn followed by fresco painting in the Han and Buddhist fresco painting in the Wei and Jin periods, while the Tang dynasty saw the refinement of painting on drawing paper, which was to become the most exquisite Chinese art form. 8.1.1. The typology of paintings The scholars of ancient China had only a fairly weak conception of the typology of paintings. Paintings were in fact classified merely according to the categories of objects depicted. A Ming scholar Tao Zong Yi in his Notes after the Ploughing (1366) classified all paintings into 13 types, including “the person”, “the house”, “the scene”, “the flower and bird” and others. Ancient Chinese painters tended not to depict many kinds of objects, as their interest did not lie in an exhaustive description of the world. Instead, the emphasis was laid on stylistic arrangement within a confined space and under strict constraints, showing a strong structural interest as determined by artistic heritage and traditional models. Therefore Chinese painting is weak in its representation but rich in its purely spiritual expression. Another kind of classification is based on the media, e. g., a wall surface, screen, scroll, a fan or an album of paper. ⫺ For Japanese painting traditions, see Art. 95 § 4.4.; for European ones, see Art. 55 § 3.2. 8.1.2. Stylistics In ancient China the critics always were painters themselves, whose main critical interest was to judge the quality of paintings and explain the technique and skill involved, thus showing an obvious practical interest. A crucial development of Chinese painting in the Chin dynasty was due to the emergence of a new category, “the mountain and water” (landscape), which was quite different in purpose from the earlier more practical as well as religious arts. A famous painting critic, Xie He (479⫺502), raised a theory called “the six methods”, advocating that the loftiest objective of a painter is to express the spirit through depicting images and shapes. Another critic, Lu Ji, at the same time inquired about the difference between the literary and the drawing media, while Zhu Jing-Xuan in the Tang dynasty presented the “four basic criteria”: spiritual charms, wonderfulness, potentiality and natural grace. During the
1874
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
the traditional technical analysis he even discussed problems of artistic signification, presenting a theory called “three different feelings of remoteness”: high-remoteness (looking at the top of a mountain from its foot), deep-remoteness (looking at the utmost inside of a mountain from outside) and obscure-remoteness (images disappearing on the horizon), consequently refining the aesthetic subtleties of ‘feeling’ landscape. Viewed historically, Chinese landscape painting was at its most developed in Yuan times. The painters successfully escaped from the period of Mongolian occupation into the spiritual domain of drawing. 8.1.3. Landscape painting and poetical meditation The aesthetics of classical Chinese landscape painting was more Taoist than Confucian. The painters preferred black and white to the old rich colors, with a view to more effectively expressing spatial as well as spiritual remoteness. They also took more freedom in arranging the composition of figures and blanks, making the latter play the same important and complementary role as the former. The key figure of this genre is the mountain as a special signifying complex which had constantly and strongly drawn the attention of painters and poets alike. In fact, the ancient painters and poets in their respective media of representation viewed the depicted mountains of their imagination as their eternal dreamlands.
Fig. 93.12: Taoist charm representing the Heavenly Messenger riding on a dragon (Tao Tsang, 12th century; cf. Legeza 1975, 115).
same period, Zhang Yan-Yuan more evidently maintained the principle that the spirit is always prior to drawing and explored the relations between skill (density of ink) and style. In the Five dynasties, Jing Hao further studied the skills of implementing ink and brush, summarizing “four drives” in brush strokes. But aesthetically speaking, a step forward in the history of Chinese painting was concluded by Guo Xuan in the Sung period in his Meditations by a Brook in the Woods. He declared that genuine art could only be made in the category of what he called “the literary man’s paintings”. Beyond
8.1.4. Symbolic functions of depicted objects Due to the emphasis on the freehand sketching skill and style, interest in representative details was further reduced to a minimum. The painters were content with a limited number of image types fixed on their drawing paper. The traditionally most favored images were the plum blossom, cymbidium, chrysanthemum and bamboo in the “still life” category. These four plants were considered symbols of a fine personality. Within these figures, painters could search for abstract beauty by means of a formalist treatment of lines and curves. Of these four, the one with the greatest potential for abstraction was bamboo, its plain form (consisting of stems, twings, leaves and joints) being considered the purest. The Yuan period is famous for its numerous bamboo painters. The contemporary painter Li Heng in his Models of Bamboo
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93. Sign conceptions in China
Paintings described various rules and norms concerning the proper ways of drawing bamboo joints and leaves. The Ching is another dynasty noted for bamboo painting; the most well known painter of the period, Zheng Ban-Qiao (1693⫺1765), liked to depict the bamboo images in combination with stones, which also belonged to the plainest category of objects. 8.2. Calligraphy Chinese calligraphy is a special synthetic art form, incorporating both painting and literary aspects (cf. the different bases of European and Arabic calligraphy in Art. 36 § 10.2. and Art. 90 § 10.3.). The earliest calligraphical examples with some aesthetic effects appeared on the oracle bone scripts. The artistic elements of calligraphy manifested themselves through graphic structures caused by particular brush strokes. Calligraphy emerged as an artistic discipline in Han times, when there were about five alternative systems of graphic scripts available for drawing. Since the Wei and Chin dynasties, this half-painting-half-poem genre had been further developed in combination with the main schools of painting and accepted the same principle as the latter. Wang Xi-Zhi (307⫺365) was called the sage of Chinese calligraphy, but its heyday came during the Tang period, when this art became a part of “state learning”. In ancient China, every writer was also a calligraphist, and this art has survived to the present. Its aesthetic signifiers consist in the structure of the stroke lines within individual characters and their combinations in short texts, expressing proportional rhythm and inner drive at once. Although the contents of calligraphical works must be poetical, the literary part is in fact only secondary in its aesthetic function. As a formalist or abstract form of art, calligraphy had often been regarded as similar to and comparable with dance and music in terms of dynamic structure, for in all three arts, rhythmic movement is an element of the work. By replacing the brush with a knife and paper with stone, calligraphy is turned into the arts of signet and stone script, another popular genre. 8.3. The theory of homological relations between poetry and painting Following the rise of the “literary painting” school, comparative studies between poetry and painting were established, emphasizing the similarity in spirit and objective of the
two arts. Firstly, the sentences of landscape poems then contained more words for concrete objects and images which have their obvious parallels in paintings, i. e., the visual media. At the Royal Academy of Fine Arts of the Sung dynasty, poetical sentences were often used as titles for the subjects of paintings. It was widely accepted that poetry and painting were directly communicable to each other. This implies that the two sign systems are equivalent in their signification function. Secondly, in the corner of the paper used for painting poetic sentences were be inscribed, the content of which was complementary to the theme of the painting, enriching the poetical associations of the pictures concerned. In fact, an individual painting was a combination of picture, poem, calligraphy and signet. ⫺ For European theorizing on the homology of poetry and painting, see Art. 63 § 3.3., Art. 67 § 4., and Art. 75 § 2. 8.4. Sculpture and frescos In Chou times the materials used for sculpture were bronze, stone, jade and wood. The arts of sculpture were further developed in Ch’in and Han times, but remained practical in character, and only during the Wei-Chin period were the Buddhist cave stone sculpture and fresco developed to the highest level of this art. Classical Chinese sculpture and fresco are two art forms of a representative nature and full of historical and religious references.
9.
Architecture and gardens
9.1. The typology of Chinese architecture Traditional Chinese architecture has had a long and continuous history and retained a coherent stylistics. Under the Shang dynasty, houses were built with an earthen and wooden stucture. The main body of a building was its wooden skeleton, surrounded by upright walls and sloped roofs. The types of buildings ranged over palaces, civil houses, street networks, city walls, tombs, temples, gardens, towers, pavilions and bridges. Compared with other cultural manifestations, Chinese architecture more apparently exhibits a symbolic character reflecting political, social, ethical and religious hierarchies. 9.2. Buildings as symbols of social hierarchies Following the totalitarianization of the Ch’in and Han dynasties, the patterns of architecture changed. Palaces, for example, more
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
flauntingly displayed worldly dignity. The stipulations of design and techniques of palace building put forward in the ancient technical classic Kao-Gong-Ji (in the fifth century B. C.) were followed in the successive dynasties. The palace was sited in the center (or the northern part of the center) of the capital city; it was square in form and surrounded by city walls with three gates for each point of the compass. All buildings stood in symmetry and the street network resembled a large chessboard. A substantial private house could consist of several connected courtyards enclosed by walls. This structure made each house look like a secluded molecular family world. Inside the courtyards stood the main houses and the side buildings in their ordained positions. Difference concerning the size, direction and height of rooms obviously reflected the positions the various residents had in the family hierarchy. ⫺ On settlement structure in other cultures, cf. Art. 44 § 2.3.2., Art. 55 § 3.1., Art. 91 § 3., Art. 96 § 8., and Art. 97 §§ 5.2. and 8.4.
increase in garden building due in part to the flourishing construction of temples. Later, under the influence of the idea of “literary painting”, the architectural aesthetics of Chinese gardens became more sophisticated and independent. During Ming and Ching times private gardens appeared everywhere, constituting a significant part of a literary man’s daily life. In practical terms, the gardens in towns helped the official-scholars harmonize the tension between their Confucian and Taoist philosophies, being capable of enjoying political as well as natural life at the same time. The so-called “spiritual-taste garden” is a symbolic whole, consisting of surrounding walls (which make the garden an autonomous spot), rooms, pavilions, bridges, corridors, ponds, rockeries, flowers and trees as well as paintings and calligraphical works inside the rooms. The garden designers tried to give the impression and feeling of remoteness, depth and continuity of the scenes within a narrow space. Flowers, trees, rockeries and walls were specially arranged in order to “obstruct” the visitor’s view; zig-zag corridors, paths, bridges and net-shaped windows were designed to make visitors only see part of the scenes, and accordingly to create false impressions of space. They also made contrast between brightness and darkness and between emptiness and fullness in garden designs. Finally, a special skill was called “borrowing scenes” from natural scenes (such as mountains) outside garden walls. The garden aesthetics of China manifested a keen knowledge of artistic modes of signifying.
9.3. Temples as synthetical symbolic systems The Chinese Buddhist temples first appeared at the end of the East Han dynasty and were built on a large scale since the Wei and Chin dynasties. The temples accepting the traditional Chinese architectural traditions also consisted of several courtyards. Each yard with a main hall and side halls contained Buddhist figures. Most temples were built at the foot of a mountain or on its slope, and afforded spectacular views. Beside religious functions, temples also became socially important, providing visitors with various kinds of symbolism, such as scenic beauty, Buddhist buildings and figures, paintings and calligraphical works made by earlier men of letters and the living symbols of monks and nuns connected with the beyond. Many old temples have indeed become religious and artistic sign systems of their own, with rich cultural and historical dimensions. ⫺ Cf. temple architecture in Indonesia: Art. 96 § 8., in Kampuchea: Art. 97 § 5.2., in classical Greece: Art. 47 § 2.1., and in Byzantium: Art. 60 §§ 4.4.⫺4.6. 9.4. Artistic gardens Chinese gardens appeared as early as the 12th century B. C. In Han times the number of gardens of emperors and officials was already over 300. The Wei dynasty saw a rapid
9.5. The symbolism of old city walls City walls have long been an important cultural phenomenon in Chinese history. Beside their architectural function, city walls, especially broken ones, were one of the favorite objects to be depicted by poets. The desolate aspects of old city walls became strong historical signifiers. For example, the city walls of Nanking, which was once the capital city of six successive dynasties, serves to the present day as a poetic and historical reminder of vanished glories and sorrows. The “Great Wall” of China ⫺ a state rather than a city wall, became the traditional symbol of China proper, physically signifying the rise and the fall of past dynasties. As the unique physical signifier of a historical and geographical body, it has been used to refer to the survival
93. Sign conceptions in China
and failure of a nation, strong will and cruel slavery, glory and shamelessness in numerous ancient Chinese literary works.
10. The performing arts 10.1. Music Chinese music was remarkably developed as early as in Chou times, and was called one of the six great teachings by Confucius, who advocated that music play a great role in both education and enjoyment alike. Musical instruments belonged to four categories: wind, percussion, string and pluck instruments, with over 70 and 300 kinds of instruments existing in the Chou and Tang periods respectively. Music was generally divided into courtly and folk music. In the Tang court, music covered 10 classes. Since remote antiquity there had existed a five-tone scale consisting of the tones called “gong”, “shang”, “jiao”, “zhi”, “yu”, which are equivalent to 1, 2, 3, 5, 6 in numbered musical notation. Around the 2nd century B. C. this scale evolved into a seven-tone scale with the name “Ya-Yue”. All semi-tones in the scale formed a system of 12 pitch-pipes, each of which has a proper name. But Chinese music notation was never fully developed. In early times there was a “finger score” which indicated the pitches according to the positions in the hole-order of a wind instrument. Later, scores marked with the strokes of some characters appeared. And a standard “Gon-Che” score was formed under the Sung dynasty, using ten characters to indicate 12 pitches. It is noteworthy that, compared with the Western music of modern times (see Art. 68, Art. 81 and Art. 152), music as an independent art form has not been highly developed in China. Since the Tang dynasty, musical activities have mostly been connected with dance and later with opera. ⫺ Concerning the performing arts in other Asian cultures, see Art. 92 § 4.1., Art. 95 § 4.2., and Art. 96 § 6. 10.2. Dance In ancient China, dance stemmed from witchcraft. In Hsia times dancing girls called “nüyue” appeared, who danced at banquets and ceremonies. The art of Chinese dance reached its peak in Tang times with the appearance of a special type of courtly dance. The Tang dance was developed further in combination with musical and dramatical elements, and gained more stylization and
1877 fixed patterns (see Fig. 93.12). This synthetic tendency of dance was strengthened under the Sung dynasty, until the times of opera. Recording of methods and skills of dancing was initially made through figures and special written dance scores in Wei times. In these brief scores each movement was indicated by one character, and so it could be only used by contemporary performers. In Sung times the much improved “dance score of De-Shaou Palace” appeared, which could describe movements of hands, eyes, and body in more detail, presenting 36 types of gestures belonging to 9 classes. In particular the description of hand movement was more detailed than in any other system. After Yuan times, dance as an independent art was on the wane, but it did develop further in connection with opera. 10.3. Martial arts The Chinese martial arts were in part formed after dance models. In antiquity the two arts were in fact combined. Since the Tang dynasty, many sets of stylized movements have been developed. Apart from being an exercise for self defence, the martial arts were also regarded as a way of cultivating the self, of striving for an ideal personality. Some famous cycles in boxing like “Xing-Yi”, “TaiJi” and “Eight Trigrams” were partly based on conceptions in the Book of Changes. Performing with weapons was the most important part of martial arts. The codes of Chinese martial arts became a body language with several practical and symbolic functions. ⫺ Cf. the tradition of Hindu martial dances, as depicted in Fig. 96.4. 10.4. Traditional Chinese Opera Traditional Chinese Opera represents the highest achievement in the history of Chinese art. It is a synthetic art consisting of various elements from music, dance, martial arts, dramatic plots, poetry and acrobatics. The history of traditional opera can be traced back to early ancient times, but it was formally established as late as Yuan and Ming times. Among a variety of traditional operas, “Kunque” and “Peking Opera” are the most developed. 10.4.1. Opera as a synthetic sign system Traditional opera of various types can be regarded as a three-dimensional dynamic sign
1878
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 93.13: Tang dance.
system including three categories of signs: (1) the spatial-static elements (all visual images on the stage); (2) the temporal-dynamic elements (musical and vocal parts); (3) the spatio-temporal dynamic elements (processes for performing within the elements from category 1). Each element in the above categories has its signifying functions, and the “role” undertaken by the actor realizes those functions. 10.4.2. Stylization as a typical way of performing All patterns of signifying performances are completely prescribed, showing a strong structural character. The creativity of the ac-
tors is limited to how they follow this strictly formed syntax of performance. 10.4.3. Sign sub-systems in Opera An operatic work as a synthetic dynamic system consists of many constitutive sub-systems, such as the types of facial make-up, the dramatic costumes, the stage props, the forms of movement, etc. The make-up is stylized to represent the background, character, sex, age, moral state, rank and biographical story of a particular role. All other sub-systems have their own strictly prescribed repertoire of elements and grammar. This indicates that traditional Chinese Opera as a language of performance does indeed have its own vocabulary and syntax.
93. Sign conceptions in China
10.4.4. “Qü-Pai” or aria-types The most important sign sub-system is that of the melody-patterns called “Qü-Pai”, which is similar to “Ci-Pai” in poetry. One aria-type is a pattern of musical sequences to be filled in with lyrics when used in an opera piece. A piece consists of hundreds of wordfilled aria types which are arranged in a special combination. The aria types in all pieces stay unchanged while the words used and the arrangement of connected aria-types may differ for each piece. The reservoir of aria-types numbered several thousand in total, although only a few hundred have been used frequently from generation to generation. Chinese opera, particularly Kunqu Opera, is typical of the structure-oriented art in Chinese cultural history.
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94. Sign conceptions in Korea 1. Altaic descent and Chinese influx ⫺ The historical background 2. Local and Chinese elements in the mosaic of Korean culture ⫺ On the essence of cultural fusion 3. The quandaries of literacy in Korea and trends of early literature 4. Literacy and the alphabetic principle ⫺ The Korean deviation from Chinese standards 5. The onmun script and the ‘Koreanness’ of its properties 6. The problem of cultural continuity of the onmun script and of Korean as a written means 7. The emancipation of onmun (hangul) in modern times 8. The constitutive elements of Korean ethnic identity and their reflection in cultural symbolism 8.1. Descent (ancestry or paternity) 8.2. Cultural patterns (patrimony) 8.3. Phenomenology 9. Selected references
The view of Korean civilization presented here is likely to challenge those concepts of culture which imply the homogeneity of ethnically specific features and the uniformity of their transmission in time. Korean civilization, in its historical dimension, is the product of cultural fusion, the sources of which will be specified and categorized in the following. The analysis will focus on the interpretation of selective features that have, in the historical ethnic process, proven basic for the shaping of Korean culture. Following traditional terminology in literacy research, I use the term “civilization” in the sense of ‘high culture’ (Haarmann 1990 a ⫽ 1992, 13 ff). Since literacy has been a prominent marker of Korean culture for more than one and a half thousand years, its evolutive state has long been that of a civilization. I prefer to understand the term “culture” in its wide sense as comprising the realm of artifacts
1882
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
(material culture), the patterns of social institutions (social culture), the interactive patterns valid for the bearers of a culture (i. e., the functioning of sign systems such as language, writing, religious rituals, etc.), and the mental processes underlying the functioning of social institutions and interactive patterns (i. e., ideas, religious rituals, etc.). Similarly wide conceptions of “culture” may be found in Lotman (1970⫺73 and 1989) and Posner (1989, particularly 251 ff). As for the transmission of culture in its totality from one generation to the next, this will be termed “tradition” (see also Lotman and Uspensky 1971). As regards the use of other key terms, the expression “sign” will be used as an overall term, and “symbol” as a specific term which implies arbitrariness. This distinction was first elaborated by Peirce (see Peirce 1985, 7 ff for a synopsis, Wells 1977 for Peirce’s notion of the symbol, Krampen et al. 1987 for a view on Peirce among the classics of semiotics). Signs may be icons (referring to an object merely by virtue of properties of its own; e. g., a pencil streak representing a geometrical line), indices (referring to an object by virtue of being really affected by that object; e. g., smoke as an index of fire) or symbols. Linguistic signs of the spoken code are predominantly arbitrary. Whether signs of the written code are symbols or icons depends on the organizational principles of the writing system. In Haarmann (1990 b, 35 ff), I elaborate on the relativity of sign systems in general, and on the duality of motivation and arbitrariness in writing systems in particular. There are systems which include icons (e. g., ancient Chinese writing of the Shang period, determinatives in the system of Egyptian hieroglyphics) and others which exclude them, at least on the micro-level (e. g., almost all varieties of alphabetic writing). Korean writing (see § 5.) is the only alphabet to my knowledge which, in its repertory of letters, includes icons and symbols. The writing system thus characterized is among the patterns which make Korean culture unique in a world comparison.
comparison, an amalgam is, alongside incorporation and conglomeration, a basic variant in processes of ethnic fusion (see Haarmann 1986, 41 ff for the categorization of ethnic fusion). In the molds of Korean civilization, essential elements of Chinese civilization and local features have intermingled to form a unique mosaic of interactive, language-oriented and religious symbolism. The fusion process had its own evolutive dynamics and followed a specific direction in Korea which was different from the development in Japan. Japan, the island archipelago, and Korea, the mainland extension of China to the East, are situated in fairly different geopolitical areas, and the history of the two countries followed different paths. While Korea either stood, during most of its history, directly under Chinese rule or depended on China’s political supremacy, Japan has always retained political independence. Therefore, it is not surprising to learn that the way in which Chinese culture was received and assimilated differs in the two countries. And yet, despite specific differences in the course of history and in the degree of amalgamating Chinese features, these local cultures belong to the same sphere of Chinese cultural heritage, as does Vietnam, another country neighboring China where Chinese influence has shaped the patterns of the local culture decisively (cf. Art. 97). Of all the areas where Chinese language and culture have manifested themselves outside the mainland of Chinese settlement, Korea is the one with the longest tradition of contact with Chinese people, and here Chinese political dominance was the strongest. The Chinese influence may already have been noticeable two and a half thousand years ago. However, the first historical records of a direct political dominance of Chinese rule date from the second century B. C. During that early period, the Korean people’s ethnic identity, as we know it from historical times, was still in the making. One could therefore say that the old Chinese cultural heritage of Korea is as much a part of the core of Korean identity as are the local features. Comparative linguistics has presented some evidence that Korean (Korean: “Hanguk mal”) as well as Japanese may belong to the Altaic family of languages (Miller 1971), and “it appears likely that there is a core of common elements in Korean, Japanese, and the Altaic languages” (Martin 1983, 291). Although disputed by some scholars, this as-
1.
Altaic descent and Chinese influx ⫺ The historical background
Like Japanese civilization (cf. Art. 95), Korean civilization is a cultural amalgam. In the framework of a comprehensive intercultural
94. Sign conceptions in Korea
sumption would corroborate archaeological findings about an early infiltration of people of Altaic stock into the Korean peninsula around 3000 B. C., where they came into contact with a population of Palaeo-Siberian origin. This original population was assimilated or driven to remote areas. According to the Altaic hypothesis, the descendants of the early Altaic settlers have preserved the language of their ancestors to such a degree that its Altaic roots are still recognizable in modern Korean. Certain basic mythological symbols which have been preserved in Korean myths and folk traditions are also thought to be of Altaic origin. Among them are components of a shamanistic belief about the descent of the Koreans. The Altaic heritage of Korean mythology becomes apparent in the association of the creator divinity with the sun, in the mythical descent of human beings from the bear (bear totem) and in the prominent role of the tiger in myths and legends. Archaeological evidence from the early times of Altaic migration into Korea are burials with skeletons precisely directed toward the rising sun, comb ceramic pottery, and megalithic structures which have been interpreted as the tombs of members of the aristocratic elite. An alternative explanation for the functions of these structures is their identification as altars in connection with the worship of the sun. The tiger is a popular feature of Tungus mythology. This animal is the companion of Sansin, the spirit of the mountains, who is believed to live in spruce trees and who is the most popular of the divinities worshipped by the Koreans. Members of the Tungus branch of the Altaic ethnic stock came to Korea as nomadic horsemen in the fourth century B. C. Another symbol of the Altaic heritage, which is at the same time widespread in the Eurasian cultures (cf., e. g., Art. 55 § 1.4.), is the tree of life, the axis of the three-fold world of heaven, the air and earth. The tree of life, as transmitted through Korean folk tradition, is the Paktal tree, a subspecies of the sandalwood or birch-tree. This latter symbol plays a prominent role in the Korean shamanistic beliefs. Korean identity is firmly rooted in the preChinese past, and it also includes elements of a mythical period in Korean prehistory. There is the belief of a time when Tangun, the hero of early Korean culture, founded the legendary kingdom of Old Choson, the land of the ‘morning calm’, in the northern part
1883 of the country. The legend has it that this happened in 2333 B. C. Tangun is said to be the son of Hwanung, who is himself the son of Hwanin (or Hananim), the master of heavens. According to the mythical genealogy, Tangun was born to a woman who had been created by divine metamorphosis from a female bear. A reminder of this mythical descent can be found in old Japanese historical chronicles, where Korea is referred to as the country of bears (“Koma”). After a reign of 1500 years, Tangun ascends to heaven. The Tangun myth is not a relic of atavistic times which might have left some cryptic traces in Korean folk beliefs. On the contrary, its memory has remained popular up to the present (for the cosmological narratives of other cultures, see Art. 36 § 4.3., Art. 37 § 5., Art. 38 § 2., Art. 89 § 6.1., Art. 93 § 4.1., Art. 98 § 2., and Art. 99 § 6.). Every year, on October 3, the Koreans symbolically commemorize the day of the legendary founding of Old Choson, and this is celebrated as the day of the founding of their state. Altogether three kingdoms were founded in Korea before the times of a direct dominance by imperial China. Besides Old Choson, the oldest state, shrouded in mythical darkness, there is the Tungus state of Choson, which existed from the fourth to the third century B. C. and which is the oldest political institution among the Tungus tribes. The third kingdom is linked to its powerful southern neighbor in a specific way. In 194 B. C. Wiman, a warlord from the Chinese state of Yen, founded the state of Wi-ssi-Choson, which he and his successors ruled until 108 B. C. Wiman is the first historical figure in the political history of Korea. Through Wiman, the first cultural ties were established between Korea and China, opening a period of a long-term and intensive acculturation. Imperial China took hold of Korean territory in 108 B. C. when the Han emperor Wu subdued the “eastern barbars” or “eastern archers” (Chinese: “Tung-i”, “Tung-hu”) and established military colonies. Of these, Lolang (Korean: “Nangnang”) flourished the longest and lasted until 313 A. D. Despite the Chinese political impact in the military zone, the Tungus tribes managed to retain their independence in Manchuria (among the Puyo), in the North (among the Okcho), in the East (among the Tong-Ye) and in the South (among the Han tribes Mahan, Pyonhan and Chinhan). In the course of the first century B. C., local kingdoms emerged
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in these tribal territories (cf. Nelson 1993, 206 f), namely Koguryo in the North (37 B. C.⫺668 A. D.), Paekche in the Southwest (18 B. C.⫺660 A. D.) and Old Silla in the Southeast (57 B. C.⫺668 A. D.). The Chinese influence was the strongest in the North, especially after the king of Koguryo had extended his territory by conquering the Chinese colony of Lolang in 313 A. D. The rulers of Old Silla, Tungus shamans, were the most conservative and adhered to Tungus lifestyle and folk traditions until the sixth century A. D. Buddhism became a prominent motor for the spread of Chinese culture. In Koguryo, it was officially adopted in 372 A. D. by king Sosurim, in Paekche in 384 A. D. From the latter territory, Buddhism also spread into neighboring Old Silla and into Japan. The end of the period of the three kingdoms (Korean: “Samguk”) came about when king Muyol of Old Silla, supported by Chinese troops, subdued the other kingdoms in the 660’s and founded the unified kingdom of Silla, which lasted until 918. Although politically independent, Silla assimilated Chinese customs, Chinese bureaucracy, the Chinese tradition of Buddhism and Chinese education. The eighth century saw the flourishing of Chinese culture in Korea, and Silla’s capital Kumsong, which followed the model of the Tang metropolis Changan (Sian) in China, ranked among the most magnificent cities of East Asia. Internal struggles led to the decline of the Silla reign until it was replaced by the Koryo kingdom in 918, which lasted until 1392. The Koryo period was also characterized by the adherence to Chinese cultural patterns in the public life of Korea. In the thirteenth and fourteenth centuries, Koryo shared the fate of neighboring China in that the two countries were ruled by Mongolians. The founding of the Confucian state of Choson in 1392 reinforced Chinese acculturational influence in Korea, and Koreans also followed the well-known Chinese ways of life in the centuries to come, for “during much of Korea’s history, the aim of Korean education was quite explicitly to make Korea a Sohwa, a ‘Small China’ ” (Sampson 1985, 121). Among the activities of the first king of the Yi dynasty, Yi Taejo, was the establishment of the new capital, Seoul. His successor, king Taejong (ruled 1400⫺1418), abolished Buddhism in public life and degraded it as a form of superstition. However, among the lower
classes and women, Buddhist traditions lived on. The reign of king Sejong (ruled 1418⫺ 1450) is known as the era of “Confucian Humanism” and as the last of the “Golden Ages” in Korean history. This age saw the development of a genuinely Korean writing system (see § 4.) and the promotion of literature and arts. Since the second half of the fifteenth century, however, the former creative spirit which had governed the restoration of Korean culture vanished to give way to a rigid formalism and dependence on Chinese formal patterns (cf. Art. 93).
2.
Local and Chinese elements in the mosaic of Korean culture ⫺ On the essence of cultural fusion
Korean culture is a blend of non-Chinese and purely Chinese elements, whereby the former belong to the Altaic layer and the latter to practically all spheres of acculturational influence which Chinese culture and language have exerted over a period of more than two thousand years. Illustrative of this blend is the fact that about half of the Korean vocabulary is of Chinese origin. These elements are called “Sino-Korean” and have been adapted to Korean phonology and syllable structure in order to reduce their “foreign” impression (for comparable developments toward SinoVietnamese in Vietnam, see Art. 97 § 3.2.). Chinese influence is noticeable in many other patterns of Korean life, for example in mythology, religion, festivities, eating habits, fashion, etc. Among the spiritual movements which have played an important part in the formation of Korean folk culture are shamanism, Buddhism and Taoism. According to the statistics, Buddhism is still the leading religion among Koreans today, followed by Christianity, which ranks second. Taoism, which had originated in China in the fifth century B. C. as a reaction to the older rational Confucianism, became popular among the Koreans soon after Chinese influence started to shape Korean culture significantly. The popularity of Taoistic beliefs among modern Koreans, as an additional facet to Buddhist or Christian ways of life alike, can hardly be expressed in statistical terms. The Tangun myth has formed a firm part of Korean identity since ancient times, and Koreans are fully aware that the origin of this myth belongs to the pre-Chinese era. And yet, in the course of acculturation, the es-
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94. Sign conceptions in Korea
sence of the myth was subject to a transformation which meant a sinicization of its basic relations. In the sinicized world view of the Koreans, Hananim was identified with the Taoistic emperors Sokche and Tangun, and in the Neo-Confucian tradition, with the Chinese aristocrat Kija. This sinicized transformation of the Tangun myth is historical, and its original Korean version was revived in modern times. In 1909, the doctrine of the Great Ancestor of the Koreans was elaborated to make him appear in a threefold way: as the creator divinity (Hananim), as the cultural hero (Hwanung) and as the founder of the kingdom (Tangun). Besides this particular myth, which is central to Korean identity, there are other popular traditions among the Koreans which were subjected to similar transformations and which have partly kept their sinicized essence and partly reorganized their original structures, as in the case of the Tangun myth. Taking the wealth of Korean mythology as a whole, it is not possible to separate its constitutive elements according to a categorization of “Korean” versus “Sino-Korean” without distorting its nature as a cultural blend. Shamanism has been an ingredient of Korean culture since ancient times, and its roots may be found in the spiritual world of Tungus tribesmen who brought the tradition to Korea. The term “shaman” itself is of ultimately Tungus origin. There are several aspects of shamanism in Korea which may strike the Westerner. Firstly, it is still widely practised and appreciated even amidst the milieu of a modernizing industrialized society. Secondly, throughout Korean history shamanistic rituals have been performed in Korea by women whose name is “mudang” (or “mansin” ‘ten thousand spirits’). This custom stands in sharp contrast to the Shintoist tradition in Japan where rituals and cult practices have been controlled and performed by men. Among the Koreans, where shamanism is especially popular in the countryside, but also in urban surroundings, many shamanistic rituals are regularly celebrated. The mudang is assisted by male aides who wear cock feathers, this being a reminder of this animal’s status as a totem among the Tungus. The shaman herself is clad in long garments which “capture the spirits”, and among her requisites are a fan and magical mirrors (Covell 1986). Astonishingly enough, among the most important of the shamanistic ceremonies
Fig. 94.1: An inscribed shamanistic amulet.
(“kut”) is the cult of the ancestors. This is not typical of shamanistic traditions as known from other cultural milieus. Although respecting the ancestors is a widespread custom among Altaic peoples, the high esteem of the ancestors, the significance of their regular worship and their remembrance in everyday life is a heritage of Chinese origin (cf. Art. 93 § 6.3.2.), which the Koreans have readily assimilated. According to ancient Chinese beliefs, the body soul dies but the spiritual or dream soul (Chinese: “hun”) lives on in heaven or moves into a natural body. At regular intervals, the spirits of the ancestors are offered votive gifts, including meals and drinks, and their worship is performed in shamanistic ceremonies, including dance and music. In the cult of the ancestors, Chinese influx and local traditions have heavily intermingled to form an inseparable pattern. An external symbol of cultural fusion may be seen in the use of writing in rituals, for example in the female shaman’s habit of adorning patients with inscribed amulets or stickers, which as sources of magical power can “drive out” their illness. These sources of magical power are inscribed with Chinese characters (see Fig. 94.1).
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Another pattern where Korean and SinoKorean elements are intrinsically interwoven is the Korean language, which in the earliest historical recordings of the eighth century already showed a remarkable degree of sinicization. Modern Korean is saturated with Chinese elements, and it would not function properly without them. Linguistic sinicization is noticeable in practically every aspect of the language, including many domains where foreign influence can only be explained by the working of acculturation. The system of numerals in Korean is one such domain which is illustrative of the amalgam of indigenous and borrowed elements. There are two sets of numerals: an inventory of genuinely Korean terms, and another which is comprised of borrowed Chinese numerals. It is noteworthy that the inventory of genuinely Korean terms has been preserved up to 99. When comparing the development in Japanese, one finds that Chinese influence on the numeral system of that language has been more extensive (Haarmann 1986, 165 ff). Chinese acculturational influence in the domain of Korean numerology is thus weaker than in the case of Japanese (see Haarmann 1990 c, 80 ff for a grading of acculturational influence in numerology). The overview in Table 94.1 may illustrate that Korean and Sino-Korean terms for numbers have, etymologically, nothing in common. The two sets of numerals are used interdependently, with specific functions for each. Korean numerals serve for counting the hours when telling time (e. g., “ne-si” ‘four o’clock’) and, in connection with time duration, for indicating hours (e. g., “han-sigan” ‘one hour’) and months (e. g., “tu-dal ” ‘two months’). The functions of the Sino-Korean numerals deviate from the above pattern in that they are exclusively used in the following contexts: counting the minutes when telling time (e. g., “sip-pun” ‘ten minutes’), marking days in dates (e. g., “sam-il ” ‘third day’), indicating years in time duration (e. g., “onyon” ‘five years’). As a natural consequence of these neighboring functions, in expressions for time relations, there often occurs a duality of Korean and Sino-Korean numerals; e. g., “yodol-ssi isibo-bun” ‘8.25’, with the hours expressed by a Korean numeral, and the minutes by a Sino-Korean numeral. In Korean, as in all East Asian languages, there is the grammatical category of numeral classifiers which specify counted objects (cf. Art. 97 § 2.3.). These classifiers are used with
Table 94.1: Numerals in Korean Number
Korean Numeral
Sino-Korean Numeral
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 20 24 30 40 50 60 70 80 90 99 100 1000 10 000
han(a) tu(l) se(t) ne(t) tasot yosot ilgop yodol ahop yol yor-han(a) sumul sumul-ne(t) sorun mahun suin yesun irhun yodun ahun ahun-ahop ⫺ ⫺ ⫺
il i sam sa o yuk ch’il p’al ku sip sibil isip isipsa samsip sasip osip yuksip ch’ilssip p’alssip kusip kusipku paek ch’on man
either Korean (e. g., “-pun” for people, “-tae” for vehicles and machines) or Sino-Korean numerals (e. g., “-yon” for years, “-won” for money), thus also reflecting the duality in the numeral system (see an overview in Lewin and Kim 1978, 247; for a similar treatment of the numerals in South East Asia, see Art. 97 § 3.1.).
3.
The quandaries of literacy in Korea and trends of early literature
Writing was introduced to Korea from China, simply because there was no alternative to that Far-Eastern tradition, which goes back as far as 1200 B. C. (Keightley 1985). Chinese literacy (cf. Art. 93 § 2.2. and Art. 95 § 2.) dominated all those areas where people had no direct access to the tradition of alphabetic writing in India and Central Asia. Although being the only historical option for Korea at the time, it may be considered the most complex to be handled by a hitherto illiterate speech community. The Chinese writing system was transferred to Korea as a consequence of cultural exchange with China. So was the Chinese attitude towards writing, which began to take root in the Korean peo-
94. Sign conceptions in Korea
ple’s mentality. Using characters for writing has, for the Chinese, always been more than just recording information for re-use. Besides the practical function of writing, which seems to be the main focus of concern for Westerners of the modern age, there has been the awareness among the Chinese that the local culture, its historical heritage, and people’s mentality are manifested in writing (Lindqvist 1990, Haarmann 1990 b, 134 ff). Thus, writing in China is more than a cultural pattern with a specific social function; it is a readily transparent and self-contained way of looking at life. When the Koreans became acquainted with the cumbersome Chinese writing system, they also learned the ingredients of the Chinese self-identification with writing, and the almost solemn respect paid to the written word which is so typical in the Far East. During the times of the Silla kingdom, Confucian and Buddhist texts were introduced from Tang China, and Chinese became the usual means of written communication. With the spread of Buddhism, the interest in mastering Chinese writing and the proficiency in handling characters increased among the Korean elite. Already in the fourth century A. D., Korean scribes used hanmun (from Chinese: “hanwen” ‘Chinese writing’). In the same century, Korean missionaries brought Buddhism and Chinese writing to Japan, where these cultural goods were readily accepted. For a long time, literacy in Korea and Japan remained Chinese-oriented, and the local languages were not used in written form. The transfer of the Chinese bureaucracy to Korea and its implementation as a social institution was a natural consequence of the increasing political influence of imperial China. The introduction of Chinese characters in public life was not simple, because applying them to write Korean names, both personal and geographical, posed serious problems. The Chinese characters (called “hanja” in Korean) are ideographs which, in ancient Chinese, render individual concepts. Since ancient Chinese was a genuinely isolating language, an ideograph corresponded to a monosyllabic word structure (cf. Art. 93 § 2.). Adapting these characters to an agglutinative language such as Korean (with words consisting of various syllables and including inflectional endings) required a creative spirit to make writing work. The way in which Chinese writing was adapted to render Korean, a hybrid variety of writing and reading, is
1887 called the “ido system” (“ido” ‘clerk reading’), and it has been termed “a genuine Korean invention” (Coulmas 1989, 116). Korean scribes tried to surmount the difficulties of the Chinese ideographic system by utilizing Chinese characters for rendering individual phonetic values, mostly syllabic, of Korean. This method consisted in giving priority to the sound equivalent of a character and, at the same time, diverging from the meaning of the original lexical item in Chinese. As a result, the Korean scribes created a way of applying the Chinese iconic inventory by fundamentally deviating from the Chinese principle of writing. The ido system, which is actually “a mixture of hanmun and Korean in which hanmun sentences are more or less integrated into Korean syntax, and Korean grammatical markers, sometimes even adverbs, are supplied” (Lee 1975, 22), was perfected by Solch-ong, one of king Sinmun’s officials, in the latter half of the seventh century. An even closer adaptation of Chinese characters to the structures of Korean was elaborated in a subvariety of the ido system, called “hangch’al ”. The lexical stems of Korean words were written in hanja and read according to Korean phonetics. On the other hand, inflectional endings which were also written in hanja were pronounced in the Sino-Korean manner. This subvariety of a koreanized use of Chinese characters was confined to poetry and quite rare. The Korean way of adapting Chinese writing was also “exported” to Japan where, from experimenting with an older version of syllabic writing, called “Man’yogana”, the two syllabaries Hiragana and Katakana emerged (Haarmann 1990 a, 396 ff; cf. Art. 95 § 2.). In the end, the Japanese refinement of the phonetic adaptation of Chinese characters became more successful than the original Korean invention. Thus, out of the practical need of a phonetic rendering of their mother tongue, the Korean scribes created a new concept of the written linguistic sign for which there was neither a motivation nor a prototype in the Chinese scribal society itself. The Korean case is of special interest for the history of the sphere of Chinese literacy since it is the earliest instance of adaptation of Chinese characters to a language other than Chinese. The elaboration of the ido system in medieval Korea clearly illustrates the limits of cultural fusion in certain domains. Despite the abundance of iconic material the Korean scribes
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
did not succeed in standardizing the set of Chinese signs used for rendering the syllabic structures of Korean, which may be partly due to the fact that the phonology of Korean is fairly complicated, much more so than, for example, that of Japanese. The ido system always remained inconsistent and insufficient. The easier way of responding to the overforming of Korean culture by the Chinese way of looking at life was to abandon Korean as a written means altogether and adhere exclusively to the high culture language of Chinese. This choice was made by many learned Koreans, and it was true for the ruling elite in the Choson kingdom of the Yi dynasty. Notwithstanding the shortcomings of the ido system and its lack of standardization, its application is closely associated with the emergence of an early literature in the mother tongue. At the same time, the early literary works reflect a spirit of revolt against the supremacy of Chinese culture. For instance, national self-awareness and concern for the cultivation of the local culture predominates in the hyangga (‘verse with a theme of the fatherland’), the earliest form of Korean poetry. Toward the end of the seventh century, the classical form of the hyangga (two verses of four lines, followed by a verse of two lines) was elaborated. During the Koryo period, Chinese influence increased to saturate the vocabulary of the new Korean genre, the changga (long or chain poetry), which was popular among members of the royal court. The popular themes of Korean literature are apparent also in the sokyo (popular songs), of which only a dozen have survived the Confucian era. There are also rare instances of the use of Korean in prose, as in the Samguk Sagi (‘History of the Three Kingdoms’) by the scholar Kim Pusik (middle of the twelfth century) and in the Samguk Yusa (‘Chronicle of the Three Kingdoms’) by the Zen Buddhist monk Iryon (thirteenth century). Chinese literacy in Korea was widespread, and the bulk of the literature which originated there was written in Chinese. Among the works of Chinese prose is one which is not only an outstanding piece of literature but which has become a national monument. This is the Tripitaka Koreana, the oldest and most comprehensive collection of Chinese translations of Buddhist writings to have been preserved in the Far East. In Pali, the language of the original Buddhist texts, “tri-
pitaka” means ‘three baskets’, a term referring to the habit of storing the palmleaf books in baskets. This historical document of the thirteenth century is in fact the second version of a Tripitaka Koreana which dated from the first half of the eleventh century, but was destroyed by the Mongol invaders in 1232. The second and most voluminous version of the Tripitaka Koreana was ordered by king Kojong of the Koryo Kingdom, who had fled to the island of Kanghwa; the completion of this collection lasted almost twenty years, until 1251. The texts are written on 81,258 wooden plates of a specially treated birch-tree subspecies, and they are stored in one of the biggest monasteries of Korea, Haein-sa (province of South Kyongsang) in the vicinity of the southern coast.
4.
Literacy and the alphabetic principle ⫺ The Korean deviation from Chinese standards
Although the ido system meant a breaking away from classical Chinese standards, the writing of Korean was still difficult. Most members of the Korean learned elite made use of this system only for rendering Korean names and specific local terms in Chinese texts, without writing entire texts in Korean. For them, the ido system had the value of an additional, though inconsistent technique to facilitate the use of Chinese writing in their home country. For many centuries, writing in the mother tongue was a matter of private inclination and, given the imperfection of the ido system, a laborious exercise. During the first decades of the reign of the Yi dynasty, that is at the end of the fourteenth and the beginning of the fifteenth centuries, proficiency in writing, either Chinese or Korean, seemed to have remained low. The proper handling of state affairs in Korea lay in the hands of a small group of literati while the great majority of the Korean people had no access to literacy. At the same time, the literati were predominantly interested in the study of Chinese classics, rather than in the profane use of Chinese or Korean. The fact that ordinary people did not share the privilege of literacy with the elite had always been a typical feature of society in both Korea and China. But this was considered a factor of alienation by the fourth ruler in succession of the Yi dynasty, king
94. Sign conceptions in Korea
Sejong (ruled 1418⫺50), who was interested in promoting popular education. In an edict of 1434, he encouraged his subjects to look for instruction, especially in the fields of agriculture and medicine. In the edict, girls and women too were specifically addressed, this being the first encouragement of female education in the Far East. The king soon noticed that his plans of popular education could not be carried out effectively because there were too few literati interested in such an enterprise. Moreover, it was felt that the instruction of Chinese writing would be too difficult a task to achieve for the benefit of a broader public. The radical reform of writing which eventually came about has to be evaluated against this “deadlock” in cultural affairs in Korea during Sejong’s reign. He took over the role of the revolting spirit against the alienation caused by the Chinese cultural dominance. In fact, the revolt against the inconveniences of Chinese writing and the Korean variety of the ido system in the fifteenth century did not originate from circles of educated Korean aristocrats but was initiated by one single person; in other words, it came about “through the stubborn insistence of a monarch” (DeFrancis 1989, 188). Striving for a simplification and standardization of writing for rendering the mother tongue was due to the ruler’s far-sightedness, which the aristocratic elite seemed to lack altogether. Finding a solution to the problem of literacy which could meet the educational intentions was a difficult task, and the alternative chosen by Sejong, based on the alphabetic principle, was radical and revolutionary because it deviated fundamentally from the Chinese way of writing, which had by that time been practised for more than a thousand years in Korea. The name given to this new system of writing was “hunmin chong’um” (see below). The derogatory term for it used by the aristocratic elite was “onmun” (‘vulgar script’) which was later changed into “han’gul ” ‘great script’ (in a simplified rendering “hangul ”). It has been claimed that the new system of writing Korean was Sejong’s brainchild, and there is some historical evidence that this is true and not merely a consequence of the deferential attitude among Koreans toward their celebrated former ruler. In the early 1440s, king Sejong assembled a group of literati in a “Bureau of Standard Sounds”. They were members of the king’s school for translators and interpreters, who
1889
Fig. 94.2: An excerpt from the Royal Rescript of 1446.
seem to have followed Sejong’s instructions as to how to implement his plans of a script reform, rather than to produce original ideas of their own. Most of the work on the new writing system was completed during the years 1443⫺44, and its results were publicized in a document two years later. The title of the Royal Rescript of 1446 was “Hunmin Chong’um” (‘The Correct Sounds for the Instruction of the People’; see Fig. 94.2). Following the standards of literacy in Korea, the text of the Rescript is written in classical Chinese, this being considered the appropriate way of making people acquainted with the new script. The king felt the need to rectify his deviation from the classical tradition, and he argues in the following way: “The sounds of our country’s language are different from those of the Middle Kingdom and are not confluent with the sounds of our characters. Therefore, among the ignorant people, there have been many who, having something they want to put into words, have in the end been unable to express their feelings. I have been distressed because of this, and have newly designed twenty-eight letters, which I wish to have everyone practice at
1890
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Fig. 94.3: The system of hangul signs, following the system of McCune and Reischauer (1961).
their ease and make convenient for their daily use” (quoted after Ledyard 1975, 124). In its original version, the onmun script was comprised of 28 letters, of which four were later dropped in the modern hangul alphabet. These simple letters, however, are inadequate for writing Korean properly. Out of the simple signs additional complex signs were formed so as to produce a system of altogether 44 letters, 40 of which are used today (see Fig. 94.3). Modern evaluations emphasize the exceptional properties of the hangul script. Reischauer and Fairbank (1960, 435) view hangul as “perhaps the most scientific system of writing in general use in any country”, and Watanabe and Suzuki (1981, 137) consider it “the most rational of all writing systems”. The onmun (hangul) script shares basic features with other alphabetic systems, in that one letter stands for an individual sound of the language; this, in the case of hangul, mostly corresponds to a phoneme of Korean (Sampson 1985, 120 ff). On the other hand, there are several features which
make this writing system a genuinely Korean pattern, and not only because it was devised by a Korean in Korea.
5.
The onmun script and the ‘Koreanness’ of its properties
The modern observer, and especially someone from the West, has become accustomed to the idea that the letters of the alphabet are arbitrary in a multiple sense. Firstly, the shapes of the letters in the Latin alphabet, for instance, do not resemble any items in the cultural milieu of their users. Secondly, the arbitrary shape of each letter is associated, arbitrarily, with an individual sound. Thirdly, arbitrariness is also present in the etymological reminiscence of some modern orthographies, as in the case of the English, French or Irish spelling (cf. Art. 101 § 2.3.). At first sight, the hangul letters also seem to share the features of arbitrariness outlined above. And yet there is a fundamental difference between
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94. Sign conceptions in Korea
hangul as an artificially created system and alphabetic scripts with a historical affiliation. The horizontal and vertical strokes of which the hangul letters are composed are not combined arbitrarily. A closer inspection reveals that, in the signs, the place of articulation of the corresponding sounds is depicted. Take, for example, the sign for /k’/, which depicts the position of the tongue as it touches the palate. Those signs of the Korean alphabet in which the place of articulation is depicted are therefore equal to icons, not arbitrary symbols. With good reason, one could consider the hangul system an early result of experimental phonetics. Taking into consideration the sociocultural background of the dominant Chinese pattern of writing and the minimal practical experience with alphabetic writing in Korea at the time of Sejong’s reign, the final result of the hunmin chong’um achieved, from the standpoint of its technical perfection, a remarkable degree of success. One has to bear in mind that the sound system of Korean was and is fairly complicated. This is the reason why it was so difficult to compromise, in our century, on a standard system of romanization of the hangul script, something that was easily achieved for Japanese. There are several competing systems of romanization which have been in use for transliterating Korean into Latin letters, such as the Yale, the McCune/Reischauer, the Lukoff, the South Korean, and the North Korean spellings. “Controversies over spelling are usually concerned with the extent to which morphophonemic spellings should be used and with specific details of the grammatical analysis” (cf. Martin 1983, 289, where an overview of systems of romanization is given). However, the aspect of experimental phonetics in the elaboration of the onmun script has to be evaluated as a consequence of the diligence with which the Korean sounds were studied, rather than as a pragmatic attitude toward writing as a means for practical communication. The mythical manner in which the origin of Chinese writing was shrouded is also reflected in the explanatory text of the Royal Rescript. In his explanations of the new script, King Sejong makes explicit reference to the Chinese tradition by claiming that the magical Principle of Five was kept up in the design of the onmun system. According to Chinese cosmogony (cf. Art. 93 § 4.1.1.), basic categories in nature appear in sets of five, this being true for the directions (i. e., East,
Table 94.2: The reflection of the magical principles of three and five in the graphic structures of the onmun script a) The Principle of Three in vocalism 쎲 the round sky; round form of the tongue; deep sound (no longer used in hangul, sometimes substituted by a short auxiliary stroke) ⫺ the flat earth; broad form of the tongue; central sound | upright walking man; no backward movement of the tongue; flat sound b) The association of five basic consonants with the Five Elements /k/ with “wood” /t/ with “fire” /p/ with “earth” /ch/ with “metal” /h’/ with “water” c) The Principle of Five in consonantism sounds of the tongue; the tongue touches the upper palate; example: /n/ sounds of the back teeth; the root of the tongue closes the throat; example: /g, k/ sounds of the lips; form of the mouth; example: /m/ sounds of the front teeth; form of the front teeth; example: /s/ sounds of the throat; form of the throat; example: /ng/ (silent consonant)
South, West, North and Center), for the elements (i. e., water, fire, wood, metal, clay), for the basic virtues, moral qualities, holy trees and books, etc. (Haarmann 1992, 273 f). As a secondary principle, the magical Principle of Three (e. g., sky, earth, man) is also relevant (see Table 94.2). The latter principle is apparent in the choice of the basic constitutive elements of the sign inventory: the horizontal and the vertical strokes, and the small circle. As for the Principle of Five, Sejong argues that, given the basicness of this principle, the vowels of the Korean language also reflect the basis of five (i. e., a, e, i, o, u), and they are written with basic vertical and horizontal strokes. As for consonantism, the Principle of Five is respected by associating five basic consonants with the five elements. Further-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
more, the choice of the basic articulatory positions of the throat, the tongue and the lips is five. The distinction of the articulatory bases is illustrated in the iconic material of the sign inventory. The association of the sound structure of the mother tongue with the magical world view, and with the magical Principle of Five in particular, is illustrative of the deference toward the Chinese cultural heritage which, despite the experimental character in the elaboration of the script, could not be neglected altogether. Obviously, the Korean mentality had assimilated the idea of the magical principles to the degree that it formed a firm aspect of Korean people’s identity. There is another basic property of the onmun system by which it distinguishes itself clearly from other alphabetic systems, and that is its lack of linearity. The usual way of using the letters of an alphabet in writing is to align them in a linear sequence, as in this text. Korean writing does not follow this principle, and one does not “spell” Korean words in an alphabetic sequence. Instead, the letters are organized according to the syllabic structure of lexical items and inflectional elements. In order to achieve the syllabic structuring in writing, a number of specific rules as regards the positioning of vowels and consonants must be observed (see Lewin and Kim 1978, 9 for details). The vowel signs dominate the syllabic complex, and they are written larger than the consonant signs. In the case of vertical strokes, consonants may be placed on the left or right side; with horizontal strokes, there is the alternative of positioning the consonant above or below it. The signs “are grouped into syllable blocks that resemble the equidimensional frame of Chinese characters” (Martin 1983, 289). In fact, hangul is the only script in the world which makes a clear distinction between the paradigmatic aspect of alphabetic writing and the syntagmatic aspect of a grouping of letters in syllable blocks. Since the alphabetic principle dominates the whole system, one may wonder how this idea became known in Korea. Most probably, the knowledge of alphabetic writing was introduced to the country after the Koreans had experienced, with the Chinese, foreign supremacy, that is the Mongolian reign of the Yuan dynasty between 1231 and 1356. Mongolian was then the official language of Korea. The Uighur alphabet, which the Mongols had adopted from this Turkic people in the
thirteenth century, was in use for writing Mongolian until the fifteenth century. An earlier writing system among the Mongols was the Passeba script, which was derived from the Tibetan alphabet and no longer used after the fall of the Yuan dynasty in 1368. At the time of Sejong’s reign, the Galik script was in use in Mongolia, this also being affiliated to the Tibetan alphabet (see Haarmann 1990 a, 509 ff for the Mongolian varieties of the alphabet). When comparing the Mongolian writing systems with the hangul script, no sign convergences can be established. Thus, although the alphabetic principle became known to the Koreans via the Mongolian varieties of writing, the shapes of the hangul letters are of genuinely Korean design. From the standpoint of the evolution of writing, the introduction of hangul meant radical progress, leading from the logographic principle of Chinese writing to the alphabet, with only the syntagmatic aspect of a syllabic alignment of letters reminding of the intermediate stage of syllabic writing known from Mesopotamian and European antiquity (e. g., Akkadian cuneiform writing: see Art. 89 § 2.1.; and Cretan Linear B: see Art. 32 § 4.). In this respect, hangul was a much more progressive writing system than the contemporary Japanese syllabaries. In addition, the high degree of distinction and the specific features make hangul a typically Korean script. As regards cultural identity, hangul fulfills all the requirements of a “national” pattern, it being unequivocal, and unique.
6.
The problem of cultural continuity of the onmun script and of Korean as a written means
How much of a radical reform the new script was for the tradition of literacy may be learned from the sharp reaction among the members of the yangban (‘two groups’), the ruling civil and military elite of Confucian society. In a protest submitted to the king, they warned of the dangers which the neglect of the Chinese standards might involve. The yangban were above all interested in safeguarding their privileged status in Korean society, and they disapproved of the new script “as a trivialization of the serious and difficult task of writing in Chinese” (Sampson 1985, 123). They argued that exchanging the “flavor of balsam of the exquisite culture” of
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94. Sign conceptions in Korea
the Middle Kingdom for the “grass-hoppers” of this vulgar script would irreversibly damage the prestige of the educated elite. The king showed himself as unimpressed by the concern of the aristocrats as they were by the new script. Unfortunately, the members of the Korean elite did not take advantage of the new horizons of literacy, and they adhered to the pattern of writing in a foreign language (i. e., Chinese) in the traditional way. The four years that remained of Sejong’s reign after the attempt to promulgate the “vulgar script” in his Royal Rescript were insufficient to pave the way for a favorable acceptance and acknowledgment of this standardized tool of writing. Obviously, the fear of losing their privileged status as literati and of being compelled to share literacy with ordinary people dominated the attitude among the members of the yangban. Those who became the guarantors of onmun as a feature of Korean culture were the women who had hitherto been excluded from the benefits of Chinese education. Korean women favored the Korean language and its writing in the onmun system, and they adhered to Buddhism. Thanks to their positive inclination toward the mother tongue and to their spirit of maintenance, the mentioned items of Korean culture and identity did not vanish from the cultural scene. As regards Sejong’s script, it took many centuries until its public reappraisal in the twentieth century acknowledged it as one of the most original cultural patterns ever to emerge out of the Far Eastern context. Alphabetic writing continued in Korea as a constitutive element in the complex sociocultural balance of a literary diglossia. As a high variety, Chinese language and writing dominated literacy in public life, while the Korean language and its onmun script were limited to the status of a low variety. In fact, literary diglossia in Korea also included the aspect of digraphia, since it did not only involve two languages, but also two completely different writing systems. Under the auspices of the Confucian society with its rigid formalism, sinicization was the non plus ultra for the ruling class (yangban), and proficiency in Chinese writing continued to be a cornerstone of the civilized Korean lifestyle. Literature in Chinese, and works of philosophical and historical prose in particular, abounded and outweighed by far the production in Korean. The use of the onmun script remained a
matter of sentimental inclination and, above all, a matter of private concern. Korean literature written in the onmun script continued older traditions which had manifested themselves in ido writing. The genres for which the Korean language and its writing system were favored before and after the introduction of the onmun script were lyrical poetry, popular songs and popular prose. With the facilitation of writing the mother tongue, also new literary genres originated, such as the akchang (lyrical song with instrumental accompaniment) and the kasa (versed prose). The most popular of all genres was the sijo verse which is particularly known from the works of its great masters, Kim Ku, I Yulgok and Yun Sondo, in the sixteenth and seventeenth centuries. The activities among women who, in the beginning, were the main guarantors of the home culture and of Korean literacy remained within private circles. As for the Korean men who participated in this cultural trend because of their sentimental inclination, they were confident individuals with an explicit interest in the home culture. Confidence was indeed required by those educated aristocrats who conveyed their ideas in Korean and did not fear to be ridiculed by members of the elite as a result. An outstanding example of this is the collection of versed prose under the title “Songgang kasa” (‘Songs from the spruce river’), which was written by the minister Chong Ch’ol in the sixteenth century.
7.
The emancipation of onmun (hangul) in modern times
It took a long time before the onmun script enjoyed public reappraisal. In the 1880s, the awareness of national identity grew stronger among the Korean public, and the memory of the onmun script was freed of the burden of its low prestige (see Tanaka and Lee 1986, 124 ff). At the beginning of our century, the name was changed to “hangul ” (‘great script’). The modern success of hangul was not primarily the result of the technical adjustment of an older writing system (in the process of which four letters of the onmun script were abandoned), but rather a consequence of the restoration of its prestige, in the sense to which King Sejong had aspired in the fifteenth century. The century-old literary diglossia in Korea was remodelled by merging sinicization into an innovatively uni-
1894
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
fied pattern of cultural identity. Writing was no longer a matter of choosing between Chinese characters and the Korean script. Korean was written using elements of both systems, with certain lexical stems being rendered in Chinese characters (hanja), while inflectional endings and syntactical elements such as adverbs, pronouns and postpositions were written in hangul letters. The modern national movement in Korea, including the restoration of hangul, was in full progress when the Japanese annexated Korea as a colony in 1910. Among the colonial patterns which were implanted was the Japanese language and its Chinese-oriented writing in school education and in Korea’s bureaucracy. By re-establishing the prestige of sinicization, the Japanese reinforced an older cultural pattern. However, sinicization then influenced public life in Korea through colonial institutions, and the compulsory use of the Japanese syllabaries alongside Chinese characters in light of the suppression of hangul caused great alienation among the Koreans. During colonial times in Korea, only the Soviet Koreans living in the area of Vladivostok in the Soviet Far East had free access to hangul, and this script has been exclusively used for the printing of Soviet Korean literature since the 1920’s. Even after the deportation of most members of the Korean minority from the Far East to Central Asia in 1937, hangul continued to be used, although the amount of literature printed in it has remained modest (Kho 1987, 129 ff). Among the organs of the press is the Korean newspaper Lenin Kichi (‘Lenin’s flag’) which has been published exclusively in hangul since 1938. Many Soviet Koreans have either assimilated to Russian, or use it frequently as a second language in everyday interaction (see Haarmann 1981 for differential structures of bilingualism). The situation of the Koreans in the Asian republics (i. e., in Kazakhstan and Uzbekistan, in particular) resembles that of the Soviet Germans in many respects, and they both share basic ecological conditions of demographic dispersal and cultural diaspora. As for the nationalizing of writing as a consequence of the national revival after 1945, the only common achievement in both North and South Korea was the change from vertical to horizontal writing. Otherwise, the language reforms yielded different results in the South and in the North. In the southern part of the country, hanja and hangul are
used in clearly defined functions (see above) while, in the North, hangul was given priority by means of a language reform in 1949, which resulted in the abandonment of Chinese characters. The North Korean solution to the problem of a unified writing system thus follows the Soviet model. In the South there is also an increasingly marked trend toward the neglect of Chinese characters. Since the beginning of the 1970’s, all official documents in South Korea have been published in hangul only, and in Korean schools, not more than 1,800 (!) Chinese characters are taught. Every year, on October 9, Hangul Day is celebrated, as an anniversary in commemoration of King Sejong’s visionary cultural achievement. With or without a reunification of the two Koreas, it can be expected that, in the near future, the writing system will be reconciled in all of Korea on the basis of hangul.
8.
The constitutive elements of Korean ethnic identity and their reflection in cultural symbolism
Identity has been highlighted by ethnologists as the most fundamental capacity of mankind to adapt to natural surroundings (see Müller 1987). Ethnic identity (ethnicity) for its part has been termed the nucleus of the general capacity of identification, and it is found, as a culturally overformed mechanism of verbal and non-verbal behavior, in every individual (see Haarmann 1991, 11 ff). As a psychological phenomenon, ethnic identity cannot be observed directly, but has to be studied in the forms in which it expresses itself in a community, that is in its culturally specific signs and symbols, and in their interactive syntax. As regards the nature of ethnic identity, this concept is comprised of objective and subjective criteria (see Haarmann 1986, 37 ff, 215 for a specification). Anthropological descent (or ancestry) is an objective marker of ethnicity, as is the variety of cultural patterns associated with membership in a speech community, in a religious group, in the social network of a nation, etc. And yet, individuals do not orientate themselves in their environment in objective terms, but evaluate the objective criteria of their membership as well as their own and other persons’ interactive behavior. The structural elements of ethnic identity are called “paternity”, “patrimony” and “phenomenology”, respectively, in Fishman’s (1977) terminology.
94. Sign conceptions in Korea
The third component of which ethnic identity is comprised ⫺ namely the sphere of subjective categorizations and evaluations ⫺ is the most complex. Among the categories which belong to this sphere are: a) self-identification (or self-awareness), including all kinds of sentimental and/or patriotic attitudes toward the home culture, b) the categorization of foreign people and their cultures in the individual’s value system and, c) the reflection of outsiders’ views about the national culture and the individual’s behavior in the own value system. Thus, the subjective categories of Korean ethnic identity include features of Korean patriotism and nationalism, views which the Koreans hold about foreign people (e. g., about the Chinese, Japanese or Westerners), and the essence of what foreigners think about Koreans and their culture. Values related to ethnic identity tend to express themselves in terms of cultural stereotypes, including various evaluations of cultural patterns (e. g., language, religion, popular customs), familiar and foreign. As in the case of the objective criteria, also the subjective criteria of ethnicity are manifested in a dual way, that is, as an aspect of individual identity and of collective identity. The two aspects together form a whole which makes up the essence of ethnic identity. The wholeness of Korean ethnicity is not only multifaceted because of the multiplicity of its subcomponents (see above), but also because, within the Korean speech community, there are significant differences as to the individuals’ ethnic markers. In the following overview, basic markers of Korean ethnic identity are summarized, particularly concentrating on the collective features. 8.1. Descent (ancestry or paternity) In the northern part of Korea, Sinid and Siberid racial features prevail (i. e., tallness and slimness, oval face); in the southern part, palaeo-Siberian and Altaic features predominate (i. e., stocky, flat face with a broad nose). 8.2. Cultural patterns (patrimony) 8.2.1. Language A probable genetic relationship with the Altaic family of languages can be established; Chinese linguistic influence has heavily interfered with most sections of the Korean lexicon, including many domains of acculturation such as numerology, color and bodypart terminology.
1895 Writing depended on Chinese characters for centuries (i. e., the ido system), with the genuinely Korean pattern, hangul, being elaborated at a relatively late stage (fifteenth century). 8.2.2. Religious beliefs Shamanism, particularly in its Tungus variety, has been a vital factor in the spiritual orientation of ordinary people since ancient times. Taoism, a cultural import from imperial China, has become equally popular. As a feature of not only Korean, but generally Far-Eastern everyday life, magical beliefs and practices of all kinds have survived in the Korean community, including the belief in tokens of good and bad luck, or in the power of good and evil spirits. Magical rituals (e. g., geomantics) are performed when choosing the site for a building, a grave, and deciding about the favorable time for construction. For this purpose, people put their trust in the help of geomantic experts (Korean: “chikwang”). All religious mainstreams in the history of Korea which are more highly developed than the early animistic heritage and profess specific ethic principles, are imported as foreign cultural patterns. This is true for Confucianism, which played the role of a more refined counterpart to Taoistic folk traditions and particularly influenced ethic standards and moral conceptions among the Korean aristocratic elite. Buddhism, the most typical Far-Eastern religious tradition, was also mediated to Korea by the Chinese. At times, Buddhist rituals and ceremonies were banned from public life, but later reinstituted. Christianity is the most modern of the widespread religious beliefs among Koreans. Almost a quarter of South Korea’s population are Christians (predominantly Protestants), a much higher proportion as compared with Japan. 8.2.3. Social structure The emphasis given to authoritarian structures in the leadership is characteristic of the early society of Altaic nomadic tribes. This aspect has been reinforced by the Chinese concepts of a hierarchically structured society. The members of the ruling elite in Korea always found their ideological background in the class distinctions of imperial China. Ideological polarity is the marker of postwar Korean society, with the North adhering to socialist-internationalistic principles of
1896
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
mainly Stalinist coinage and with the South having assimilated the American variety of a Western-type democracy. The ideological-political contrasts of the home country are strongly reflected among the members of the Korean minority in Japan (in the area of Osaka and in Tokyo). The Koreans who came to Japan in the pre- and post-war periods as migrant workers have organized themselves into two almost separate communities, with the cultural activities and lifestyle of one group being oriented toward South Korea, and the other group promoting cultural policies of the North (Gohl 1976).
spread among the Koreans as they have among the Japanese (see Haarmann 1989: 9 ff for the situation in Japan).
8.3.
Phenomenology
8.3.1. Self-awareness Despite the multiplicity of patrimony patterns among the Koreans, there is unanimity as regards the popularity of the mythical origin of Korean ancestry and its significance as a symbol of national identity (Tangun myth). The commemoration of the ancestors can also be considered a widespread general marker of Korean self-identification. The most visible marker of an all-Korean unified identity is the writing system, hangul, which is used in the two Koreas, and among the Korean minorities in Japan, China, the (former) Soviet Union, the USA, etc. 8.3.2. Categorization of foreign cultures The impact of Chinese culture on Korean patrimony, and mentality, is readily appreciated, although its significance is considered historical by many. The attitude toward modern Chinese culture follows the ideological patterns of the home country. Southern Koreans sympathize with Taiwan China while, in the North as well as in the socialist orientated minority of Koreans in Japan, solidarity is directed toward communist China. There is a considerable amount of antiJapanese sentiment, especially among the members of the older generations who have experienced Japanese colonial rule. Mainly because of trade relations and tourism, a balanced and more positive attitude toward the Japanese has become a stronger facet of Korean mentality in recent decades. Western cultures enjoy prestige because of their organizational level of modernity. In addition, cultural stereotypes, such as the American lifestyle, French feminine chic or German reliability and gemütlichkeit have
8.3.3. The reflection of foreigners’ views about the Koreans in Korean identity The feeling of superiority over the Koreans which is held by many Japanese is experienced by the Koreans as a source of conflict, especially by those Koreans living in Japan. There, life among the members of the Korean minority is subject to the working of a mostly covert discrimination in public life and in the business world. Educated Korean and Japanese people are aware of the historical paradox which is involved in the relativity of cultural superiority. In the early centuries of our era, the Koreans brought cultural goods such as Buddhism, Chinese customs and writing to Japan, and the Korean masters were then much appreciated. The memory of those events, however, does not seem to influence Japanese attitudes among a broader public today. Still widespread among the Japanese is an attitude toward Korean culture as one of low prestige, an attitude which resembles that among Germans toward Turkish migrant workers and their culture. Korean ethnic identity, and the related world of signs and symbols by which it expresses itself, forms a unique macropattern where Far-Eastern and Western features are intrinsically interwoven to form a multifaceted whole. Korean culture is a fascinating object of study for Western semioticians because of the uniqueness of its fusion character, and those experts who are concerned with the elaboration of a general culture theory will find in it a challenge for their categorizations (on cultural fusion in South-East Asia, see Art. 96 and Art. 97).
9.
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Harald Haarmann, Helsinki (Finland)
95. Sign conceptions in Japan 1. 2. 3. 4.
The general semiotic mechanism Language and writing: general characteristics The notion of the sign: a historical perspective Specific cultural genres 4.1. Literature 4.2. Drama 4.3. Music 4.4. Painting 4.5. Dancing 5. Concluding remarks 6. Appendix: periodization of the history of Japan 7. Selected references
1.
The general semiotic mechanism
From ancient times, when the oldest anthology of Japanese poems, Manyoshu (8th century A. D.), described the country as a land where “word spirits flourished” and the oldest history book, Nihonsho-ki (early 9th century A. D.), referred to “grasses and trees (and in fact, all things that existed) as speaking their languages”, down to modern times, when the French critic Roland Barthes, visiting the same country, described it as “the Empire of Signs”, where “the empire of signi-
fiers is so immense, so in excess of speech, that the exchange of signs remains of a fascinating richness, mobility, and subtlety, despite the opacity of the language […]” (Barthes 1970 ⫽ 1982, 9), Japan has continued to be an extremely interesting locus of semiosis. The semiotic history of the country is marked by a series of influxes, at different times, of a variety of foreign cultures and thoughts. What is remarkable, however, is the way they were responded to. These foreign elements were rarely rejected on a matter of principle. On the contrary, they were in general eagerly sought for and actively taken in rather than passively received or forcibly imposed. They were introduced and allowed to exist side by side with the native elements. In time, they underwent modification (or even refinement and improvement in quite a number of cases) until they really fitted, were integrated into, and became part of, the indigenous stock. (And in some cases, they were then exported back to their country of origin.) The whole semiotic process, recurrent in the history of the nation, can best be charac-
95. Sign conceptions in Japan
terized in terms of the notion of ‘the empty center’ and homologization (Ikegami 1986; 1989; 1991). The empty center accepts, like “a polite host” in Barthes’ terms (or better, like a polite hostess, as the Japanese will more readily associate with this notion). But the empty center homologizes; it assigns complementary roles and values to those elements which would conflict with each other if the whole semiotic system were operating in terms of a fixed center, and moreover, it does so arbitrarily, i. e., with a specific view to producing complementarity ⫺ which would again be impossible if the system had a fixed center operating. The result is a marked orientation toward relativization and a strong focus on the concrete and the practical. Any abstract claim to absoluteness is suspicious. Rather, there is nothing which cannot be integrated: everything can have its own place in the whole system. The whole system is thus always open to further change. There is then no such thing as complete perfection, a state “that leaves no room for further improvement” (Singer 1973; Posner 1991). What one finds is a constant process (or ‘an endless way’ in terms of the native imagery) toward hopefully ever higher perfection. And this journey is characterized by constant labor and effort (in short, praxis) and not by mere theorizing (cf. Art. 97 § 8. about similar attitudes in South East Asia).
2.
Language and writing: general characteristics
The Japanese language is one of the few wellknown languages in the world whose genealogy is not known with certainty (but cf. Art. 94 § 1.). On the basis of some scattered phonological and lexical similarities plus certain typological considerations, scholars generally agree that the language arose both out of the linguistic stocks from the south (the southern Pacific islands) and from the north (the Eurasian continent). There is no certain evidence that the speakers of Japanese had any written language before the introduction of Chinese characters (cf. Art. 93 § 2.) in the latter half of the fourth century A. D. Thus the first linguistic problem that the speakers of ancient Japanese had to face was how to transcribe their own language with the writing system of a language which was typologically totally different from, and genetically totally unre-
1899 lated to it. On similar problems with the adaptation of the Chinese characters to other languages, see Art. 94 § 3. (Korea), and Art. 97 §§ 5. and 6. (South East Asia). The Chinese characters are ideograms, i. e., they have a concept as well as a pronunciation associated with them. There were three different kinds of transcription which came to be used. In the first type of transcription, the meaning was disregarded and the pronunciation of the character in Chinese was used to represent the equivalent syllabic sound in Japanese. Ideograms were thus turned into phonograms. In the second type of transcription, the Chinese pronunciation of the character was disregarded and the character was used to represent a Japanese word whose meaning was approximately equivalent to that of the Chinese character. Thus the Chinese character was given the pronunciation of the semantically corresponding Japanese word. The pronunciation assigned to the Chinese character could either be monosyllabic or polysyllabic, corresponding to the pronunciation of the Japanese word it represented. The third type of transcription was a hybrid. What happened was essentially the same as in the second type: the Chinese character was assigned the pronunciation of the Japanese word which semantically corresponded to it. But the Chinese character so pronounced was used, not to represent the semantically corresponding word, but a word or a syllable homophonous with (and therefore, semantically totally unrelated to) this word. Of these three types of adaptation, only the second has survived to the present day. The first, together with the third, was supplanted by the development of the kana letters, a writing system for the fifty-odd different syllables that serve to constitute the Japanese words. The kana letters were developed by simplifying the written forms of the Chinese characters used as phonograms (typically, the first type of adaptation mentioned above). Two types of simplification were developed side by side: either by adopting the written form in cursive style (typically, written with a brush) or by omitting part of the whole written character. The simplified forms were called “kana” (‘tentative name’) to distinguish them from the original fully-fledged forms which were called “mana” (‘real name’). The first type of simplified forms (called “hiragana”) originated with female writers, while the second type (called “katakana”) appeared in the
1900
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
writings of monks and scholars. Eventually, however, both types spread to general use. There is one more factor to further complicate the situation. We have seen that the Chinese characters were assigned the readings of the Japanese words to which they corresponded semantically (type 2 above). Over the centuries, however, there was a huge amount of direct borrowing from Chinese with minimal modification of the original Chinese pronunciation. As a result, most of the Chinese characters taken into Japanese and in current use have two different pronunciations, one deriving from their original Chinese phonological values (called “on-reading”) and the other deriving from the pronunciation of the native Japanese word they have come to represent (called “kunreading”). As a legacy deriving from all these developments, modern Japanese has two different writing systems: Chinese characters (used as ideograms) and kana-letters (used as phonograms). The Chinese characters, as a rule, have two different pronunciatons (on-reading and kun-reading) assigned to them. In writing, the Chinese characters and the kana-letters are in mixed use ⫺ the former generally used to represent content words (or the stems of content words) and the latter principally used to represent function words. It is, however, always possible to use kana-letters for Chinese characters: the choice often depends on the extent of knowledge the individual writer has of Chinese characters. Of the two kinds of kana-letters the hiragana is in general use. The katakana is a marked form of writing, characteristically used to transcribe words borrowed from Western languages. In the course of the ever-increasing contact with the West, romanization also entered the linguistic scene and is now widely applied whenever there is specific need for it (e. g., transcribing place names for the convenience of foreign tourists). A visitor to Japan will find himself surrounded by four different kinds of writing: Chinese characters, hiragana, katakana, and the Roman alphabet (cf. the situation in Korea: Art. 94 § 8., and South East Asia: Art. 97 §§ 6. and 7.). The contact with Chinese characters over centuries has greatly affected the way Japanese speakers feel about the relative status of written and spoken language. One and the same character, as has already been mentioned, can have two totally unrelated pronunciations ⫺ on-reading and kun-reading ⫺
in Japanese. Thus the only linguistic tie that associates the two different pronunciations with one and the same word is the written character to which they both refer. Also note that illiteracy is virtually non-existent among modern Japanese speakers. Consequently, it will hardly enter their heads to conceive of a native speaker of any language who can speak, and yet cannot write his or her language. To the average modern speaker of Japanese, language in its serious sense is written language. If one may talk of any analogue of lo´gos being embodied in the words spoken by God, such will certainly be associated with written (and not spoken) language in Japanese. Spoken language is ephemeral; written language is solid. ⫺ Concerning the attitudes towards oral and written language in Judaism cf. Art. 61 § 6., in Christianity cf. Art. 33 § 3. and Art. 72 § 1.2., in the Islamic World cf. Art. 90 § 3. In terms of some of the widely-used typological parameters, the Japanese language can be characterized as basically agglutinative, topic-prominent, and with SOV wordorder. These parameters, however, do not sufficiently characterize the semiotically interesting holistic features of the language. As a very relevant parameter for our present concern, I suggest a scalar contrast between context-independent and context-dependent language use. While it is true that any language functions more or less dependently upon context, there is a sense in which one can say that this is particulary the case with Japanese. By Western standards, the Japanese text tends to be underdetermined in its signifying function. Primarily, this derives from the fact that the Japanese language lacks some of the characteristically important grammatical distinctions of Western languages. To cite a few concrete features whose lack has struck the Western observer as peculiar, “Japanese nouns have no gender or number, Japanese adjectives no degree of comparison, Japanese verbs no person” (Chamberlain 1902, 275). Apparently even more peculiar is the common suppression of the subject of a sentence, supposedly the most important constituent of the sentence in Western languages: the subject (or more precisely, what corresponds to the grammatical subject in Western languages ⫺ since Japanese has far more of the characteristics of a topic-prominent, rather than a subject-prominent, language) can quite freely be suppressed, inasmuch as it is recoverable
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from the context (and the notion of the context here can be stretched far more than is the case with Western languages). One may wonder how the Japanese text can function with such unspecified grammatical features. It is able to function because of the active participation of the text’s receiver in the interpretive act. In fact, the notion of the text as not simply consisting of linguistic items, but as “something being created, via operational procedures of human interactants” (Beaugrande and Dressler 1981, 3), with the result that “the words and sentences on the page are reliable clues, but they cannot be the total picture”, applies nowhere better than to texts in Japanese. Notice the similarity between the way in which the Japanese text functions (as described above) and the way in which a poetic text functions. In either case, the proper functioning of the text depends on the maximal willing involvement on the part of the text’s receiver. In fact, haiku poetry, a traditional and still very popular poetic genre in Japanese literature, represents an artistically elevated epitomization of what happens with Japanese text on a daily basis. A haiku poem consists only of three lines with 5⫺7⫺5 syllables each (syntactically being constituted, in most cases, by no more than two noun phrases in juxtaposition). If, in spite of its brevity, it attains effects expected of a work of art, it is because the haiku poem behaves like ‘a polite host’ who invites and even entices you to an interpretive feast (cf. poststructuralist theory of interpretation: Art. 122). It is to be emphasized that while the Japanese language tends to be relatively underdetermined in its referential function, leaving much of the detailed specification to context, it tends to be relatively specific in its interpersonal function. A notable example is the highly developed and rather elaborate system of honorific language. The status of the text producer relative to the text receiver, and even the relationship of the text producer or the text receiver to the person being talked about can affect the kind of linguistic forms to be selected (so much so that it is often possible to unmistakably guess the supposed subject from the way the predicate is phrased). The by now almost legendary statement that Japanese has a dozen different words to refer to the ego testifies simply to the sensitivity of the language to interpersonal relationships (for a similar differentia-
tion of forms of speaker-reference in the Khmer language and of forms of address in Vietnamese, see Art. 97 § 2.3.). The language also reacts sensitively to the implication of whether the event talked about affects the text producer, the text receiver, or the person involved in the event in a way that is either beneficial or adverse. A very important role is also played by a set of particles, which are placed at the end of a sentence (almost obligatory in colloquial speech) and serve to convey quite a variety of interpersonal relationships (such as when the speaker tries to attract the hearer’s attention to something the latter is not aware of, to solicit the hearer’s assent and so forth). Thus it is no exaggeration to say that there are a dozen Japanese sentences to translate such an innocentlooking English sentence as “I am a boy” and that there is no truly neutral Japanese sentence corresponding to the latter.
3.
The notion of the sign: a historical perspective
The term for a sign that crops up in the earliest writings in Japan (8th and 9th centuries A. D.) is “kotodama” (literally, ‘word-spirit’). This is a kind of notion which is not unfamiliar in other lands, especially in their earliest stages (cf. Art. 47 § 5.1.). Essentially, it is a notion that the word has the power of giving rise to an event associated with it ⫺ in other words, the word is inseparable from what it refers to. In fact, “koto” in ancient Japanese meant at once ‘word’, ‘language’ and ‘thing’, ‘event’. The notion of kotodama (or ‘word-spirit’) is part of an overall animistic belief (again commonly found in other lands; cf. Art. 32 § 5.1., Art. 36 § 5., Art. 37 § 3.1., Art. 38 § 2., Art. 47 § 2.5., Art. 58 § 2., Art. 89 § 4., Art. 90 § 2., Art. 91 § 4.3., Art. 93 § 5.2., Art. 97 § 4.5., Art. 98 § 2. and Art. 99 § 5.) that everything in the universe contains, represents, or is itself a spirit. One of the earliest history books states that trees, grasses, and in fact, all things in the world ‘spoke’. Human beings spoke, of course, and as they spoke, the spirits lodged in the uttered words worked to make themselves manifest in the world. All these ideas were embodied in Shintoism. Unlike Buddhism, Confucianism, Taoism and, much later, Christianity, which were all brought into Japan from other countries, Shintoism is a native religion. It has, how-
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ever, more of the characteristics of animism and nature-worship than of a religion in the modern sense of the word. Nothing like a single absolute God is posited. Instead, it speaks of yaoyorozu no kami, i. e., ‘eight million gods’ (where ‘eight million’ is meant to convey the sense of ‘infinitely many’) pervading the whole universe. Persons, when dead, are transformed into gods. Thus the basic office of the Shinto priest is to worship the gods, imploring benevolent deities to promote good causes and to trying to pacify malevolent deities. A set of texts for ritual prayer which the priest (as mediator between man and the gods) is entitled to recite is called “norito” (presumed to mean, literally, ‘stated words’), a locus where the word-spirits prosper. It may be added that the emperor, as supreme ruler of the land, also had the function of the archpriest who, through his mediating office, was ultimately responsible for the welfare of his people. Interestingly, one and the same word (“matsuru”) was applied to the political office of ruling the country and to the religious office of performing a ritual prayer (cf. Fig. 95.1).
Rather, efforts were made to integrate or even merge the two. The attempt was called “shin-butsushugo” (‘doctrinal merger of gods and Buddha’). One of the factors which facilitated this line of development is that the Buddhist priests reciprocated the Emperor’s protection with their own prayers for the welfare of the land and the nation. But a semiotically much more interesting point can be found in the way in which language was viewed by certain sects of Buddhism and the ease with which the Buddhist conception merged itself with the traditional Shinto belief in kotodama (or ‘the word spirit’). This is especially the case with sutrachanting. By chanting (especially in groups) the sutra, the magical power inhering in the words of the sutra is called into action. Again, several centuries later (in the 12th and 13th centuries), when Buddhism spread to the masses, one finds the same belief in the power of the word in the priest Dogen’s advice that the preaching priests should be able to use aigo (‘loving word(s)’) which can move the hearts of those who hear or in the priest Shinran’s constant encouragement to the effect that anyone (even a bad person) will be saved by simply repeating “Namuamidabutsu!” (‘O Amitabha!’). Buddhism, however, introduced another conception of language which was to play an important role in the cultural tradition of the country. This applies to the sects of Esoteric Buddhism, especially one initiated by Kukai (early 9th century), namely Shingon-mikkyo (the Shingon sect of Esoteric Buddhism). The word “shingon” (literally, ‘true word(s)’) comes from the Sanskrit word “mantra” which above all referred to the words of the Veda which were as presumed to have sacred, magical power. It is the shingon which this particular Buddhist sect pursues. Contrasted with shingon (‘true word(s)’) is mogo (‘illusory word(s)’). The latter is the language people use in their daily life, but this language represents the world in its illusory aspects. The world in its real and true aspects lies beyond, and one can hope to reach it only by escaping from the world defined in terms of mogo (‘illusory word(s)’), which is possible through transcendental meditation and enlightenment. The language one uses daily is at best an unreliable instrument, and the way to enlightenment is to extricate oneself from the snares it sets. This was later to be established as one of the basic tenets of Zen Buddhism, Furyumonji (literally, ‘not letting the
Fig. 95.1: The main house of Kotaijingu (the Ise Interior Shrine).
Buddhism was introduced into Japan from China (cf. Art. 93 § 4.4.) in the mid-sixth century. It very soon found favor with the ruling imperial family, and numerous Japanese priests went to China to study and started new Buddhist sects on their return to Japan. Under the protection of the emperors, Buddhism quickly spread throughout the country. Surprisingly, the introduction of a new, foreign religion did not give rise to a conflict with the already existing native Shintoism.
95. Sign conceptions in Japan
words stand’). This conception of language, coupled with others coming from different sources but converging with it, had an immense impact on the way language is viewed in the Japanese tradition. Thus language (kotoba) is contrasted with the mind-heart-soul (kokoro) and a reminder is constantly given that while language is only superficial, all that is really important is to be sought in the mind-heart-soul. Shintoism and Buddhism have left enduring marks on the notion of the sign in Japanese culture. There are at least three other religious doctrines ⫺ Confucianism and Taoism coming from China and Kokugaku, an indigenous development ⫺ which also had bearings on the sign notion, but the scope of their influences was much more limited. The first introduction of Confucianism (cf. Art. 93 §§ 3.1.1. and 4.1.3.) into Japan is said to have been as early as in the fifth century A. D. ⫺ almost simultaneously with the introduction of Chinese characters. But unlike in Korea, where the same doctrine was also introduced (cf. Art. 94 § 3.), Confucianism did not settle firmly in the soil of the country, its influence generally being limited to a section of the upper class ⫺ as part of the educational background for statesmen and scholars. Perhaps the period in which it was able to exert its maximal influence was the late 17th and the 18th centuries, when, on the one hand, the ruling Shogunate favored the rigid ethical orientation of Confucianism and used it as ideological support for the feudalistic hierarchy on which the political system was based and, on the other, some scholars of Kokugaku (ancient Japanese studies) tried to give it a nationalist slant and to incorporate it into their doctrine. The Confucian view of language is said to be based on the full recognition of the essentially dual nature of language: words ought to faithfully represent what the speaker has in mind, but in actuality, there is often a discrepancy between what the words mean and what the speaker has in mind. Thus rhetoric was, on the one hand, encouraged as helping to convey in a more effective way what the speaker had in mind; it was, on the other hand, cautioned against because it might distract the hearer’s attention from what the speaker really had to say and even mislead the hearer. Whether there is a discrepancy between what a person says and what he really thinks can be judged by observing the way he behaves. In an ideal man
1903 of virtue, there is perfect agreement between saying, thinking, and doing. Coupled with the emphasis in the native tradition on what is behind the words rather than in the words themselves, this resulted in an emphasis on the ethical importance of making one’s words agree to what one has in mind. Here again the focus is on the mind-heart-soul rather than on language itself. The exact extent of the influence of Taoism (cf. Art. 93 §§ 3.1.4. and 4.2.1.) is hard to identify. This is partly because Taoism is not characterized by a systematic doctrine and partly because it has a clear animistic orientation which is shares with Shintoism. It is now understood, however, that its influence was greater than formerly assumed. It has recently been pointed out, for example, that the description of the creation of the land in Kojiki, the oldest history book in Japan, compiled in the early 8th century A. D., closely follows the traditional Taoist account of the same theme. Taoist ideology left two important impressions in Japanese thought: the notion of mu (‘nothingness’) and the notion of shizen (‘nature’ and ‘spontaneity’). The concept “mu” in Taoism refers to the elementary state of things that was found before any existence emerged from it ⫺ a phase of existence which preceded any semiotic articulation. In the sense that no articulation has ever been applied to it, it contains nothing that might be called an entity. No entity is located in it; it is, therefore, itself nothing. ‘Mu’ (‘nothingness’) in the Taoist sense ⫺ often merged with the Buddhist notion of ‘ku’ (‘emptiness’) ⫺ assumes a transcendental value representing an ideal and enlightened state where a person is freed from, and is no longer encumbered with, all sorts of semiotic articulation introduced by mankind and perpetuated through the agency of language. Also in the sense that mu represents the elementary state preceding the application of any human agency, it is a natural state ⫺ a state which things naturally assume. The consequences drawn from this have been manifested in various ways, ranging from deliberate defiance of the establishment to the glorification of hermit-like life. With some scholars of the Kokugaku (ancient Japanese studies) school, this notion of ‘naturalness’ (shizen) became almost an obsession. The term “kokugaku” refers to the study by a school of scholars that flourished in the late 17th and the 18th centuries. The term literally means ‘national studies’, which was a
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native way of saying ‘Japanese studies’. In fact, the concern of the Kokugaku scholars was the study of ancient Japan, the main motive behind this being that through a philological study of the earliest period of Japanese culture one might expect to be able to clarify the identity of the Japanese people, especially in contrast to China, to which Japan owed so much. It is no wonder then that the whole research by the Kokugaku scholars was more or less tinged with a nationalist slant. One of the notions in ancient Japanese literature which the Kokugaku scholars seized upon was the idea of kotodama (‘wordspirit’). The interest was cultivated because quite a proportion of these scholars were educated in Shintoism, with which the notion of kotodama was closely associated. The engagement with kotodama by the Kokugaku scholars resulted both in a negative and a positive orientation. In its negative extreme, it ended up with a wild speculation called “ongisetsu” (‘the sound-sense doctrine’), which posited a one-to-one correspondence between some fifty constituent syllables of the Japanese language (each represented by a single kana letter) and a set of vaguely defined meanings. Quite expectedly, most of the speculation was far-fetched. A more positive contribution, on the other hand, was found in the idea of mono no aware by Motoori Nobunaga (1730⫺1801), which was to become an influential doctrine characterizing the essence of traditional Japanese poetry. What Motoori Nobunaga refers to by “mono no aware” (literally, ‘moving of the heart at a thing’) seems to be the following: everything around us, by its very nature, can evoke in us a certain naturally arising feeling, and the essence of poetry consists in representing this natural emanation of feeling in a natural way. The repetition of the related words, “nature”, “natural”, and “naturally” here is deliberate. By emphasizing ‘naturalness’, Motoori Nobunaga was trying to emphasize what he believed to be the Japanese characteristic. The essence of Japanese poetry is its naturalness, quite unlike its Chinese counterpart, which is excessively ‘reasoned’ (and therefore ‘unnatural’ or artificial, by implication). The same term, “mono no aware”, was sometimes applied more specifically to the awareness of the essential transitoriness of all things and the feeling evoked by this awareness. It is not difficult to see that this feeling may come close to the religious ⫺ a feeling
of quiet resignation to the Absolute which works its way irresistibly. Here the notion of mono no aware assumes a Shintoistic tinge.
4.
Specific cultural genres
4.1. Literature Apart from the oral tradition, the earliest genres of Japanese literature were kanshi (‘Chinese poetry’) and waka (‘Japanese poetry’). The first anthologies of these respective genres, Kaifuso and Manyoshu, both appeared in the mid-eighth century. The former is a collection of about one-hundred and twenty poems in Chinese composed by educated aristocrats, while the latter is an impressive twenty-volume collection of over four thousand and five hundred poems of various forms and genres of the native tradition, whose authors range from emperors to the common people. The development of kana letters (cf. § 2) as an indigenous writing system, which began soon afterwards and was virtually completed in the course of the tenth century, served to expand the scope of literary production, and this century saw a number of narrative stories and diaries written by ladies of the court. The most notable of these is Genjimonogatari by Murasakishikibu (ca. 973⫺ca. 1014), a story of love and death covering the life histories of the hero and the hero’s son, and ranging over the seventy-year reign of four emperors. In the meantime, waka, especially in the form of tanka (‘short poem’), which consists of 5-7-5-7-7 syllables, established itself as the representative poetic form, made official when the custom of editing a series of anthologies “by the Emperor’s commission” began in the early tenth century. An important genre to develop still later is renga, or ‘linked poetry’, in which two or more participants jointly compose a series of waka by contributing in turn either the first half (5-7-5 syllables) or the second (7-7 syllables). This was established as a recognized artistic genre in the fifteenth century, and a set of complex rules evolved, specifying the semantic conditions to be fulfilled in order to ensure that the two or more succeeding lines could be judged as coherent. From renga developed further a popular generic variant of it called “haikairenga” (or simply, “haikai”), which, in contrast to serious renga, was characterized by humorous intent and colloquial expressions. At first, this new genre was
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meant to be a mere diversion, but the emphasis on refined wit and humor gradually raised it to the level of a literary art. Incidentally, the opening line of haikairenga was called “hokku” (‘starting verse’). Since hokku enjoyed a privileged status in the whole chain of linked verses by setting the theme and tone for the ensuing verses, it became common to compose it independently of what might follow. It was ⫺ among others ⫺ Basho (1644⫺ 1694) who contributed most to elevating hokku to a recognized literary art, which two centuries later came to be christened “haiku”. Haiku, so defined, is the shortest poetic form in the world, consisting of 5-7-5 syllables. Together with waka, it represents one of the most popular traditional poetic genres in Japan. By the time hokku established itself as a literary genre, the range of the literary audience had spread to the common people, and a number of stories and novels were produced for popular appreciation and entertainment. It was about this time (the late Edo period) that indigenous genres of drama like kabuki and bunraku flourished (cf. § 4.2.). After the country was opened to European culture in the late nineteenth century, it became exposed to a whole array of Western literary ideas, introduced either directly by those who visited the West or indirectly through a large number of translations of Western literary works. It is naturally extremely difficult to pinpoint the characteristic features of Japanese literature which have endured or evolved in the course of its long history, and which were marked, above all, by the influence of Chinese literature (in the earlier periods) and of Western literature (in the modern period). Nonetheless, some relatively salient characteristics can be cited (for comparison with the conceptions of poetry in other cultures, see Art. 42, Art. 53, and Art. 67 as well as Art. 89 § 5.1., Art. 90 §§ 4. and 5., Art. 92 §§ 3. and 4., Art. 93 §§ 2. and 7., and Art. 94 §§ 4.⫺6.). Thus in terms of its form, Japanese literature has shown a strong proclivity for compactness, such as is characteristically manifested in haiku and waka (or tanka). On the other hand, a long river-roman type of work has rarely been attempted; whenever anything like a long novel is produced (as in the case of Genjimonogatari), it tends to be a collection of loosely-linked anecdotes rather than a closely knit, well-organized whole. In terms of their descriptive and narrative techniques,
1905 Japanese literary works tend to blur contrastive polarities, such as between man and nature, individual and group, author and audience, author and dramatis personae. This, often coupled with the predilection for brief forms, results in a relatively high degree of dependence on intertextuality: a text completes its own meaning by referring to other, not immediately present texts, so that the reader’s active involvement in the process of making sense of the text is taken for granted. In other words, as much a creative role is expected of the reader as of the author (see above, § 2.). 4.2. Drama Noh and kabuki are the two most representative genres of the traditional theatrical art of Japan. The establishment of the two as recognized theatrical genres was fairly recent, but their roots go back to the ancient popular performing arts associated with ritualistic prayers. Noh derives from dengaku (literally, ‘field music’) and sarugaku (literally, ‘monkey-music’). The former represents ancient riceplanting and harvest rituals, comprising music and dancing, while the latter is a comic and farcical performing art (such as acrobatics or a magic show) originally imported from China by the 8th century. Both kinds of performing art were presented by professional troupes under the patronage of Shinto shrines and Buddhist temples in their respective precincts. It was Kan’ami (1333⫺1384) and his son Zeami (1363⫺1443) who transformed the popular performing art into the artistic form which noh is today, and under the patronage of the Shogunate and the feudal lords it flourished through the war-torn period of the late 14th and the 15th centuries and further through the two hundred years of national isolation beginning in 1635. The essence of noh lies in the presentation of characteristically human emotions in maximally purified forms. The player is masked (cf. Fig. 95.2). His movements are generally slow, coordinated with chanting (utai) by a male chorus and the musical accompaniment (hayashi) of a flute and drums (all made of wood). The stage is always open to the audience on three sides and, except for the wooden wall with painted pine-trees in the background, there is virtually no stage-setting. Thus the noh play is often characterized as abstract (typically by Western scholars), but the play does in fact represent an untiring
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Fig. 95.2: A noh mask of a young female (property of the Kongo family, Kyoto).
and unhesitating effort, stretched to the extreme, to divest itself of all irrelevant realistic details and to pursue only the essential. Even the temporal sequence of the underlying events can characteristically be manipulated. In one of the main noh genres called “mugennoh” (‘dream-noh’), the traveler meets a person who recounts an old story associated with the place and who finally disappears with the words that he himself was the main character of the story he has recounted, and that he is the ghost of the person in question. Another person approaches the traveler and confirms what the ghost has just recounted. Then the ghost returns, this time in the appearance which he (or she) once had, and reenacts, before the wondering traveler, what he (or she) did when alive. When the morning comes, the ghost disappears and the traveler wakes up to find that he has been dreaming. The beginning of kabuki is said to have been the performance given in Kyoto in 1603 by a company led by Okuni, a female attendant at the Izumo Shrine (one of the most important places of Shinto worship). As is implied in the term “kabuki” (derived from
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the verb “kabuku”, which means ‘to tilt, to deviate’), the performance was characterized by sensual dances and erotic scenes (which were seen as deviating from the traditional decorum). Because of its deviating character, kabuki at once enjoyed eager support on the part of the common people and suffered oppression by the ruling Shogunate. By the mid-17th century, however, kabuki was able to establish itself as a recognized major dramatic genre and has remained so until today. Two sub-genres are distinguished for kabuki plays: sewamono (realistic plays based on contemporary topics) and jidaimono (classic plays on historical topics). It is the latter which more faithfully represents the traditional features of the genre. In contrast to noh, characterized by suppressed beauty and abstract sublimity, kabuki concentrates openly on sensuous (especially, visual) appeal. This is apparent in the player’s makeup, costume, acting style, and the stage setting. For example, there is a make-up style called “kumadori”, which consists of thick lines in either blue or red drawn on a whitepainted face. Also characteristic are acting styles called “mie” (‘striking a pose’) and “roppo” (‘all directions’). In mie, the actor momentarily pauses at a high point in the scene assuming a mighty and defiant pose. Roppo refers to the boldly exaggerated arm and leg movement which the actor makes as he leaves the stage. Either acting style is greeted by eager applause from the audience. On the other hand, kabuki and noh share a number of highly stylized features. Thus different costumes and make-up are prescribed for different roles. In kumadori (referred to above) for example, blue represents evil and bad qualities such as jealousy and fear, while red symbolizes passion, virtue, and strength, and there are nearly a hundred sub-types. The stylized gestures of the actor are called “kata” (‘form’) and successive generations of major actors are evaluated in terms of the masterful way they enact the traditional kata(s), especially in comparison with their famous predecessors. The actor’s speech is often couched in seven-five syllable meter. The accompanying music, played by shamisen (three-stringed lute), taiko (drum) and hyoshigi (wooden choppers), is also stylized. Different drum patterns, for example, serve to distinguish between the sound of rain, wind, water and so forth. There is one more important theatrical art to be mentioned, i. e., bunraku, the tradi-
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tional puppet theater. It is presumed to have its origin in (1) ritual prayer, in which the player spoke through the mouth of a doll, impersonating the voice of a legendary priest who was known once to have acted as an intermediary between fishermen and their patron god, and (2) in the chanting (with musical accompaniment on the lute by itinerary blind priest-bards) of the feats and romances of famous warriors of the past. The name of the theater is properly “ayatsurijoruni”, where “ayatsuri” means ‘(puppet-)operating’ and “joruni” refers to a particular style of chanting with shamisen accompaniment (derived from the minstrel music mentioned above). The name “bunraku” comes from the name of a successful puppeteer in the early 19th century ⫺ quite late in the history of the art. The theater was popular by the mid-17th century. It was in the late 17th and the 18th century that it reached the height of its popularity, thanks to the emergence of a highly gifted chanter, Takemoto Gidayu (1651⫺ 1714) and of a talented playwright, Chikamatsu Monzaemon (1653⫺1724). After this period, the bunraku theater has generally been on the decline and its audience is much more restricted than kabuki. The bunraku performance involves four types of participants: the puppets, their operators, the chanter, and the shamisen player. A puppet is between one-half and two-thirds of life size and is operated by a principal operator and two assistants (who are hooded). The chanter speaks on behalf of the puppets to the accompaniment of the shamisen music. As a theatrical entertainment, bunraku thus combines the optical and the auditory effects. The audience can watch the masterful manipulation of the puppets by the operators who animate them or listen to the chanting speech of the master chanter who demonstrates a remarkably wide range of voices, depending on the character he represents, and to the deeptoned shamisen music, which serves to heighten the mood of the play. In spite of the stylized presentation, the audience are thus easily drawn into the fictional reality of the play and weep and delight with the characters (on the performing arts in other Asian cultures, cf. Art. 92 § 4.1., Art. 93 § 10., and Art. 96 §§ 6. and 7.). 4.3. Music The earliest form of indigenous music is presumed to have been ritual songs. Through archeological finds it is known that certain
1907 kinds of string, wind, and drum instruments were used as musical accompaniment. From the fifth century A. D. onward, dancing music was introduced from Korea and China (cf. Art. 93 § 10.), and in the beginning of the 8th century a special court section in charge of ceremonial dancing music was inaugurated. In the following centuries, imported music was gradually integrated and by the 10th century a genre called “gagaku” was established. Gagaku has survived to this day as courtly music. It is played predominantly on flutes and drums of various types and is sometimes accompanied by singing and dancing. Another important and long-established musical genre is shomyo, the stylized vocal chanting of monks in Buddhist rituals. This was also originally imported from China together with Buddhism. In the ninth and the following centuries, when Buddhism was naturalized and native sects were newly established, new works of shomyo based on the native language were added to the repertoire. Various types of native vocal music, which emerged during the ensuing centuries, are presumed to have been more or less affected by shomyo. Between the 13th and the 16th century, a number of different musical genres emerged at the popular level. Among the most important of these genres are heikyoku, the musical accompaniment on the lute to the narration of an epic poem, and sarugaku and joruri, which were later to become associated with noh and bunraku respectively. In the latter 16th century, shamisen (a stringed instrument played by plucking) was introduced via the Ryukyu Islands and, after having some modification, quickly became the most widely used instrument in native musical genres (including those associated with such theatrical arts as kabuki and bunraku). After the Meiji Restoration in the late 19th century, Western music ranging from classical to popular was actively introduced. At present, it is even the case that quite a large proportion of the Japanese find Western musical genres more congenial than their own indigenous ones. 4.4. Painting Apart from the scattered examples of painting found in archeological objects, the earliest painting in Japan again owed much to China (cf. Art. 93 § 8.1.) and was associated with Buddhism. The earliest works decorating the walls of the main halls of the temples
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and the tombs of the sixth and seventh centuries were followed by the production of elaborated mandala works which culminated in the ninth century in association with the then flourishing sects of Esoteric Buddhism. When, in the ensuing centuries, Buddhism became secularized, the favorite themes of painting were ferocious deities threatening evil demons, on the one hand, and raigozu, depicting Amida descending from the heavens with his retinue to receive the deceased person’s soul, on the other (cf. Fig. 95.3). On
out interruption. The genre flourished in the 12th and 13th centuries. In the late 13th century, a new style of painting called “suibokuga” (‘ink wash painting’) was introduced by Chinese monks and was much practiced by Zen monks through the first half of the 16th century. Favorite objects for painting were Zen hermits, symbolic animals and plants, and austere landscapes. Toward the end of the 16th century, powerful feudal lords became patrons to able painters, who in turn worked for them by lavishly decorating their castles. The application of gold to the painting started around this period. In the 17th century, a genre of painting and wood-print called “ukiyoe” (literally, ‘floating world painting’) emerged and became very popular. Famous actors, courtesans, or sumo-wrestlers were favorite objects for painting, but there were also pieces depicting well-known landscapes. The late 16th century also saw the first introduction of Western painting (cf. Art. 69) to the country by missionaries and traders. The style of painting was called “nanban-e” (literally, ‘south-barbarian-painting’). However, it mainly remained an exotic curiosity at the time, and a full encounter and engagement with Western painting did not begin until after the Meiji Restoration (1868), the end of the reign of the Shogunate.
Fig. 95.3: Amida, followed by twenty-five bosatsu, descending to receive the soul of a dead pious Buddhist (National treasure, the Chionin Temple, Kyoto).
the secular side, a notable development was a genre called “emakimono” (scroll painting), a pictorial narration of a story given on a long handscroll (cf. Fig. 95.4). There is no frame for the painting in the handscroll, so the temporal progression of the story is mapped onto the unrolling scroll-paper with-
Fig. 95.4: Part of the painted scroll showing thirtysix classical poets with their poems written with a brush.
4.5. Dancing The traditional Japanese word for “dancing” is “buyo”, which consists of two characters, “bu” and “yo”, representing the two traditional types of Japanese dancing. “Bu”, or “mai”, literally means ‘turning around’ and refers to the kind of dance performed in noh plays, while “yo”, or “odori”, literally means ‘hopping, leaping’ and refers to the kind of dance carried out in kabuki plays. The oldest indigenous dancing is known to have been associated with rituals (cf. Fig. 95.5) or with group festivities by young people before having sex. Between the sixth and the eighth century, various forms of music and dancing were introduced from China (cf. Art. 93 §§ 10.1. and 10.2.) and Korea. These included bugaku, which constituted part of gagaku (cf. § 4.3.) and was soon to be established as courtly music (which it remains until this day), and sarugaku, which, after having been transformed, came to be associated with noh plays several centuries later (cf. § 4.2.). In the heyday of kabuki in the 17th and 18th centuries, various already existing
1909
95. Sign conceptions in Japan
6.
Appendix: periodization of the history of Japan
The Jomon Period (ca. 10 000 B. C.⫺ca. 300 B. C.): Characterized by the production of ceramics with a decorative pattern called “jomon” (‘rope-pattern’). The Yayoi Period (ca. 300 B. C.⫺ca. 300 A. D.): Characterized by the production of ceramics with a decorative pattern called “Yayoi style” (“Yayoi” being the name of the place where the pottery of this style was first excavated). Introduction of metal wares and rice cultivation. Fig. 95.5: The main house of the Itsukushima Shrine with its sacred dancing floor in front.
The Kofun Period (ca. 300 A. D.⫺mid-6th century; possibly going back to the Jomon Period): Characterized by the construction of huge tomb mounds (kofun) and the unification of the whole land by the rulers in the Yamato region (currently the Nara Prefecture).
forms of dancing were incorporated into the play in order to heighten the stage effects. Thus it was only in the late 19th century, when an active interest began to be taken in Western dancing, that dancing attained its independent status as an artistic genre.
The Asuka Period (mid-6th century⫺710): Establishment of the Imperial Court in Asuka (currently part of the Nara Prefecture). Introduction of Buddhism and Chinese characters.
5.
The Heian Period (794⫺1185): The Imperial Court located in Heiankyo (now Kyoto). Development of the kana syllabary and flourishing of court literature, especially by ladies of the court, including Genjimonogatari by Murasakishikibu.
Concluding remarks
One can find certain features recurring across different areas of Japanese culture. Such features are the focus on complementarity (rather than a focus on contrast), subject-object fusion (rather than subject-object opposition) and metonymic orientation either in terms of focus on the concrete (rather than focus on the abstract) or in terms of focus on the small (rather than focus on the large). One has the impression that all these features in culture are prototypically found in the way in which the Japanese language functions. Think, for example, of the relatively high dependence of the text on the context (with the result that the boundary between the two is blurred) and the active involvement of the text’s receiver in the process of making sense of the text (so that the text’s receiver duplicates the role of the text’s producer). A natural consequence to derive from all these orientations is harmony and continuity. Thus in its creative aspect of semiosis, this cultural-semiotic milieu has understandably not so much favored revolutionary innovations which break with the past as it has the constant process of improving on what preceded (for a similar cultural mentality, see Art. 99 § 9.2.).
The Nara Period (710⫺794): The Imperial Court located in Nara. Editing of Kojiki and Nihonshoki, the oldest history books, and of Manyoshu, the oldest anthology of poems.
The Kamakura Period (1185⫺1333): Establishment of the Shogunate (warrior government) in Kamakura, with the Shogun as the virtual ruler of the country. Spread of Buddhism at the popular level. The Muromachi Period (1333⫺1568): Establishment of a new Shogunate in Muromachi (a northern district of Kyoto). Characterized by a profound influence of Zen Buddhism. Rise of the noh play and renga (‘linked poetry’). The Azuchi-Momoyama Period (1568⫺1600): A period of civil war among the feudal lords followed by the unification of the country by two successive powerful lords who built their castles in Azuchi (now in the Shiga Prefecture) and in Momoyama (now in southern Kyoto). The first encounter with Western civilization and Christianity. The Edo Period (1600⫺1868): Establishment of the Shogunate in Edo (now Tokyo) and consolidation of the feudal social structure. A policy of keeping the country closed to foreigners for two centuries beginning 1639. Rise of haiku, bunraku, and kabuki. Confucianism promoted and Kokugaku (ancient Japanese studies) pursued. The Meiji Period (1868⫺1912): Restoration of the Emperor’s rule in 1868 and end of the Shogunate. Westernization vigorously pursued. Sino-Japanese War (1894⫺95) and Russo-Japanese War (1904⫺
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
05) and the country’s subsequent rise to the status of a major power. The Taisho Period (1912⫺1926), the Showa Period (1926⫺1989), and the Heisei Period (1989⫺): The rise of the military. The Sino-Japanese War (1937⫺ 45) and the Pacific War (1941⫺45). Defeat and post-war economic recovery.
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Yoshihiko Ikegami, Tokyo (Japan)
96. Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen 1. 2. 3. 4.
Die Entwicklung seit 1945 Nationale und übernationale Zeichensysteme Die Länderbezeichnungen Die Sprache 4.1. Die Bahasa Indonesia (BI) 4.2. Das Filipino 5. Die Schrift 6. Der klassische Tanz und das Volkstheater 7. Die Musik
8. Die Architektur 9. Religion und Weltanschauung 10. Literatur (in Auswahl)
1.
Die Entwicklung seit 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben im südostasiatischen Archipel bedeutende Veränderungen stattgefunden: 1. Die Bildung von
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96. Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen
fünf unabhängigen Staaten und die Entstehung neuer nationaler Identitäten, 2. die Herausbildung einer neuen Sprachsituation, 3. die Umwertung kultureller Werte, 4. die Schaffung neuer Sozialstrukturen und neuer Wirtschaftsstrukturen mit internationaler Verflechtung. Neue Ideen, Begriffe und Termini entstanden und gaben dem Archipel ein neues Antlitz. Seit Jahrhunderten war dieser Archipel durch eine Vielfalt von Kulturen gekennzeichnet. Eine umfangreiche Literatur zeugt von den Ergebnissen der Forschungen auf den Gebieten der Völkerkunde, Anthropologie, Geschichte, Sprache, Literatur, Architektur, Religion und Musik. Neben den Beschreibungen gab es theoretische Überlegungen über die Stellung dieser Kulturen im Verlaufe der Menschheitsgeschichte. Eine diffizile Arbeit steht noch bevor: die Untersuchung der gewonnenen Fakten nach ihrem Wert als Zeichen innerhalb von Zeichensystemen und ein Verständnis der für Südostasien typischen Arten von Semiosen.
2.
Nationale und übernationale Zeichensysteme
Die einzelnen Staaten des Archipels verfügen über eine Reihe von eigenen Zeichensystemen. Trotzdem gibt es auch gemeinsame organisatorische und kulturell-traditionelle Züge: auf dem politischen Felde besteht die ASEAN (Association of South East Asian Nations); auf dem Gebiete der Kunst wird als gemeinsame Tradition das Epos Rama¯yana mit vielerlei einheimischen Nachdichtungen gepflegt. Sanskrit- und Pali-Wörter sowie neuerdings Wörter der englischen Sprache werden von den verschiedenen Staaten in paralleler Weise für die Bereiche Verwaltung, Wissenschaft und Technik aufgenommen (vgl. Art. 97 § 8.3.). Auch gibt es zwischen einzelnen Staaten neue Gemeinsamkeiten wie die 1972 eingeführte einheitliche Orthographie für die Bahasa Indonesia (indonesische Sprache) und die Bahasa Malaysia (malaysische Sprache). Alle Staaten des Archipels sind zur lateinischen Schrift übergegangen, was angesichts der Beibehaltung der traditionellen Silbenschriften in den meisten anderen Ländern Südostasiens bemerkenswert ist (vgl. Art. 97 § 8.2.). Die Entwicklung der Zusammenarbeit in Südostasien wird diese Ansätze zur Vereinheitlichung verstärken.
Der Zugang zu den Zeichensystemen der einzelnen Länder läßt sich am besten durch die Untersuchung einzelner Segmente des kulturellen Lebens erreichen; solche Segmente sind die Staats- und Länderbezeichnungen, die Sprache, die Schrift, der klassische Tanz und das Volkstheater, die Musik, die Architektur und die Religion.
3.
Die Länderbezeichnungen
An die Stelle der früheren Staats- und Länderbezeichnungen sind neue Bezeichnungen getreten (vgl. die Entwicklung in den Festlandkulturen Südostasiens, Art. 97 § 1.1.): aus Niederländisch-Indien ist die Republik Indonesien („Republik Indonesia“) geworden; die Republik Philippinen („Republika ng Pilipinas“) wurde 1946 selbständig; aus den britischen Besitzungen gingen hervor: der Staat Malaya („Negara Malaya“) seit 1957 und, zusammen mit Sarawak und Sabah, die Föderation Malaysia („Persekutuan Malaysia“) ab 1963, die Republik Singapur („Republik Singapura“), die zunächst Teil der Föderation Malaysia war und 1965 wieder selbständig wurde, und der Staat Brunei ⫺ Heimstätte des Friedens („Negara Brunei ⫺ Darussalam“) seit 1984 (vgl. Abb. 96.1).
Abb. 96.1: Die geographische und politische Gliederung Südostasiens.
Die neuen Bezeichnungen entsprachen teils einer längeren Tradition, wie im Falle von Singapur und Brunei, teils waren sie das Ergebnis von Überlegungen und langandauernden Kämpfen einheimischer Kräfte, wie im Falle von Indonesien. Der Ausdruck „Indonesien“ weist heute auf ein bestimmtes, durch internationale Ver-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
träge festgelegtes Territorium hin; er hat aber bereits eine beinahe anderthalb Jahrhunderte lange Vergangenheit. Bis zur Gründung der Republik Indonesien war er das Zeichen der einheimischen nationalen Kräfte für das offiziell „Niederländisch-Indien“ genannte Gebiet. Als konkurrierende Zeichen waren „Nusantara“ und „Insulinde“ im Gebrauch. Justus van der Kroef (1951, 166 ff) berichtet von zwei britischen Völkerkundlern, G. W. Earl und J. C. Logan, die als erste im Jahre 1850 in ein und derselben Nummer der wissenschaftlichen Zeitschrift Journal of Indian Archipelago and Eastern Asia die Ausdrücke „Indonesians” (Earl) und „Indonesia“ (Logan) verwendeten. Nach den Berichten von Zeitzeugen hat das fünfteilige Werk Indonesien des Berliner Völkerkundlers Adolf Bastian (1884⫺94) den Terminus „Indonesien“ bei der in den Niederlanden studierenden Jugend aus „Niederländisch-Indien“ populär gemacht. Von der Gabelentz schreibt (1887, 296) von einer „indonesischen Sprachfamilie“; P. W. Schmidt (1926, 141) unterteilt die „austronesischen“ Sprachen in „indonesische“ und „oceanische“ Sprachen. Für Earl, Logan und Bastian ist der Terminus „Indonesien“ ein völkerkundlicher, für von der Gabelentz und Schmidt ein sprachwissenschaftlicher; in beiden Fällen war dies keine Bezeichnung für eine Nation (zur Verwendung des Terminus „Indochina“ vgl. Art. 97 § 5.1.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat „Indonesien“ dann deutlich als politisch-staatlicher Terminus hervor. Im Jahre 1918 erschien ein Erinnerungsband anläßlich des 10jährigen Bestehens der javanischen Organisation „Budi Utomo“ (‘Edles Streben’), in dem der Publizist Soewardi Soeryaningrat ein Kapitel seines Beitrages mit „Indonesische Solidarität“ überschrieb. Noto Soeroto, der vorher eine dominante Stellung der Javanen verteidigt hatte, schrieb nun in einem anderen Beitrag: „In der letzten Zeit werden immer wieder Wörter gebraucht, die nicht schlecht klingen und die gegenüber den Bevölkerungsgruppen der Javanen, der Sumatraner, der Minahassaer usw. neutral sind. Sprechen wir im weiteren von ‘Indonesien’ und ‘Indonesiern’.“ Entsprechend nannte S. Soeryaningrat 1919 sein Pressebureau in Den Haag: „Indonesisch Persbureau“. In den 1920er Jahren setzte sich der Terminus „Indonesien“ endgültig durch. Als erste Organisation benannte sich die seit 1908 bestehende Organisation „Indische Vereniging“, ein Zusammenschluß indonesischer Studenten in den Nie-
derlanden, 1922 in „Indonesische Vereniging“ um; 1925 bezeichnete sie sich dann auf Malaiisch-Indonesisch: „Perhimpunan Indonesia“. Diese Perhimpunan gab jedoch ihre Zeitschrift Indonesia Merdeka (‘Unabhängiges Indonesien’) trotz des indonesischen Titels weiterhin, so wie die Vorläuferin Hindia Poetra (‘Söhne Indiens’), in niederländischer Sprache heraus. Der 2. Jugendkongreß der einheimischen Jugendorganisationen (1928) führte dann eine Einigung aller nationalen Kräfte auf den Terminus „Indonesia“ herbei und drückte dies im „Sumpah Pemuda“ (‘Schwur der Jugend’) aus: „Wir, Söhne und Töchter Indonesiens, haben ein Vaterland, das indonesische Vaterland; wir sind eine Nation, die indonesische Nation; wir haben eine Sprache, die indonesische Sprache [Bahasa Indonesia].“ ⫺ Am 17. August 1945 proklamierten Sukarno und Hatta die „Republik Indonesia“, die jedoch nicht seitens der niederländischen Regierung anerkannt wurde; erst im Abkommen vom „Runden Tisch“ 1949 stimmte die niederländische Regierung offiziell dem Terminus „Indonesia“ zu. Was die Philippinen betrifft, so ist bereits seit vielen Jahren eine Diskussion über einen anderen Ländernamen im Gange; das Land, und zugleich die Nation, ist nach dem Herrscher der früheren spanischen Kolonialmacht, Philipp II., benannt. In der Diskussion sind mehrere Namen, sowohl Namen früherer Staaten auf diesem Gebiet als auch solche, die bisher keine Tradition haben.
4.
Die Sprache
Die neue Sprachsituation nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die folgenden Züge: 1. An die Stelle der offiziellen Sprache der früheren Kolonialmacht trat nun eine der einheimischen Sprachen. In Indonesien war dies die Bahasa Indonesia (BI); in den Philippinen neben dem Englischen das Pilipino. Beide Sprachgemeinschaften betrachteten ihre Sprachen bereits vor der Erreichung der staatlichen Unabhängigkeit als Nationalsprachen. Diese waren in einer längeren Periode aus einer der einheimischen Sprachen entstanden: Die BI hatte die Bahasa Malayu (malaiische Sprache), das Pilipino Tagalog als Basissprache. 2. Die Auswahl dieser Sprachen erfolgte durch dominante politische Kräfte schon vor der staatlichen Selbständigkeit; die Auswahlkriterien waren verschieden. Die zahlenmä-
96. Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen
ßige Größe einer ethnischen Gruppe bot sich als eines dieser Auswahlkriterien an. Dem stand die Befürchtung der anderen und kleineren ethnischen Gruppen gegenüber, benachteiligt zu werden; ein Kompromiß war angezeigt. 3. Nach ihrer Erklärung zur Staatssprache entwickelten sich die Bahasa Indonesia (BI) und das Pilipino bzw. Filipino in Lexik und Grammatik schnell weiter. Staatliche Institutionen beschleunigten diese Entwicklung und gaben ihr eine Richtung. 4. Durch die Stellung einer der einheimischen Sprachen als National- und Staatssprachen wurden die anderen einheimischen Sprachen zu „Regionalsprachen“; das Englische erhielt eine Sonderstellung. 5. Die soziale Funktion und die Geltungsbereiche der Sprachen veränderten sich; die Staatssprache zeigte Tendenzen zur zunehmenden Einbeziehung aller Lebensbereiche. 4.1. Die Bahasa Indonesia (BI) Wie bereits ausgeführt, gab es zahlreiche Gründe für die Auswahl des Malaiischen als Basissprache für eine neue Nationalsprache der zukünftigen Indonesier. Das Malaiische war im Archipel bekannt und gesprochen, auch geschrieben. Jene politischen Kräfte, die für die Unabhängigkeit und damit auch für die Lostrennung von den Niederlanden waren, siegten in der nationalen Bewegung. Das Javanische, die Sprache der stärksten ethnischen Gruppe, schied vor allem deshalb als zukünftige Nationalsprache aus, da sie als „Rangsprache“, wie Wilhelm von Humboldt sie im Kawi-Werk nannte, nicht den demokratischen Intentionen der neuen politischen und sozialen Kräfte entsprach. Bei den etwa 500 meist gebräuchlichen Wörtern hat das Javanische mehrere „Ränge“ entwickelt, „höhere“, „mittlere“ und „niedere“; im allgemeinen mußte jeder Sprecher zwei solcher „Ränge“ beherrschen: Krama (gesprochen „kromo“) und Ngoko. Sehr hochgestellte Personen waren mit Krama Inggil anzusprechen, wobei bemerkenswert ist, daß der Niedrigstehende, z. B. ein Dorfbewohner ohne höheren sozialen Status, das höher stehende Dorfoberhaupt im höheren Rang, also in Krama, anzusprechen hatte, während dieser den Dorfbewohner in Ngoko ansprach. Dasselbe gilt für das Verhältnis Eltern/Kinder, Lehrer/Schüler, Meister/Lehrling. Dieses sprachliche Zeichensystem war Ausdruck einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, wie sie im javanischen Dorfe bestand. Ein
1913
solches Sozialsystem entsprach nicht den Interessen der neuen Kaufmanns- und Händlerschicht, der Journalisten, Beamten und des Mittelstands, die meist in den Städten lebten oder dort ihr Zentrum hatten. Für sie war das Javanische deshalb nicht die geeignete Sprache. Das Malaiische kannte solche „Ränge“ nicht, wenngleich auch diese Sprache besondere Zeichen für Respektbezeugungen aufweist. Als Diplomaten- und Urkundensprache war das „klassische Malaiisch“ seit Jahrhunderten im Archipel verbreitet; die Fürstenhöfe verkehrten auf malaiisch miteinander; es war die lingua franca des Archipels und wurde vielfach mit der Stellung des Lateinischen im mittelalterlichen Europa verglichen, wenn dieser Vergleich auch überzogen ist. In den Häfen sprachen auch die Kulis verschiedener ethnischer Gruppen in einem vereinfachten Malaiisch, „Malayu Pasar“ (‘Basar-Malaiisch’) genannt. Von der allgemeinen Verbreitung des Malaiischen zeugen auch die Tagebuchaufzeichnungen von Pigafetta, der an der Magelhan-Expedition 1519⫺22 teilnahm. Er notierte 1521 in Tidore auf den Molukken etwa 200 Wörter, alles malaiische Wörter, und stellte jene Wörter daneben, die er in Malakka, also im Westen des Archipels hörte; dies waren ebenfalls alles malaiische Wörter. Mit dem „Schwur der Jugend“ von 1928 und dem Erscheinen der Zeitschrift Poedjangga Baroe (‘Neuer Schriftsteller’) 1933 in Jakarta (vor der Orthographie-Reform 1972: „Djakarta“) war die Stellung der BI endgültig gefestigt. Die Monatsschrift Poedjangga Baroe verstand sich als „Führer zu einem neuen dynamischen Geiste der Bildung einer neuen einheitlichen indonesischen Kultur“; sie wurde in BI von bekannten Wissenschaftlern und Schriftstellern wie Ng. Poerbatjaraka, Soetan Takdir Alisjahbana, Armijn Pane herausgegeben. Da Anfang der 1920er Jahre indonesische Schriftsteller in dem niederländisch geleiteten Verlag „Balai Poestaka“ (‘Haus der Literatur’) Werke herausgaben, ist auch die Einwirkung dieses Verlages auf die Entwicklung der BI zu berücksichtigen; der Verlag hatte erst 1919 eine malaiischsprachige Abteilung eingerichtet und ließ bei Veröffentlichungen nur das Riauw-Malaiische zu. Die entscheidende Förderung erhielt die BI nach der Gründung der Republik Indonesia. Zunächst wurde die Lexik durch die staatlich eingesetzte Komisi Istilah (Termino-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
logie-Kommission) erheblich erweitert. Es hatte zwar bereits vorher eine Erweiterung des Wortschatzes gegeben: das Maleisch Woordenboek von Ph. S. van Ronkel, erschienen 1938, enthält 9864 Stichwörter, während es das Kamus Umum (‘Allgemeines Wörterbuch’) von W. J. S. Poerwadarminta, erschienen 1953, auf 14 955 Stichwörter bringt. Die Komisi Istilah jedoch hat von 1950 bis 1964, nach Schätzung des Verfassers, die auf der Grundlage der jährlich herausgegebenen Listen neuer Termini beruht, etwa 200 000 solche Termini geschaffen. Dabei handelt es sich meist um wissenschaftlich-technische Termini; in geringerer Zahl sind auch Termini für den Bereich der Umgangssprache sowie Politik- und Wirtschafts-Termini aufgeführt. Einen Einblick in die Verteilung der Termini auf die verschiedenen Lebensbereiche gibt die folgende Statistik: Die Komisi Istilah hat in der Zeit von Juni 1957 bis Juni 1958 in der Beilage „Istilah-Istilah“ (‘Termini’) der Zeitschrift Bahasa dan Budaja (‘Sprache und Kultur’), nach Zählung des Verfassers, 13 639 Termini veröffentlicht, davon für die Bereiche Verwaltung 2285, Frauen-Handarbeit 1634, Militärwesen 1473, Naturwissenschaften/exakte Wissenschaften 1297, Schiffahrt 1197, Technik 824, Wirtschaft 735 usw. Die Termini wurden in der Regel aus dem Wortbestand der BI bzw. des klassischen Malaiisch gewonnen sowie, gezielt, aus dem der Regionalsprachen, wie des Javanischen, des Sanskrit und der Weltsprachen, meist des Englischen. In den 1950er Jahren gab es die Tendenz, Internationalismen aus dem Lateinischen und Griechischen durch Sanskritwörter (vgl. Art. 92 §§ 1.3. und 1.4.) zu ersetzen. Damit sollte die Jahrhunderte währende Verbindung der hochentwickelten Kulturen von Süd- und Südostasien betont werden. Es war aber auch ein politisches Signal zur Vereinigung der Kräfte der beiden Regionen in der Gegenwart. Doch gab es Opposition gegen diese Sprachpolitik, da eine Schwächung der Beziehungen zur Weltwissenschaft befürchtet wurde. Im Unterschied zur Lexik entwickelten sich die morphologischen Elemente langsamer. Ein Vergleich in einer längeren Periode zeigt diese Veränderungen deutlich. Von 15 wortbildenden Affixen, die der Verfasser für die Zeitabschnitte von 1860⫺90, 1891⫺1912, 1913⫺28 und danach an einem Textkorpus von jeweils 10 000 Wörtern untersuchte, trat die Verb-Aktivform me- in den Zeitabschnitten 1860⫺90, 1891⫺1912 und 1913⫺28 3-, 5-
und 147mal auf, die Kausativform me- … -kan 5-, 10- und 91mal. Insgesamt haben von 15 Affixen in der Zeit von 1860⫺1928 zehn zahlenmäßig zugenommen, vier abgenommen und ein Affix hat sich zahlenmäßig nicht verändert. An den höheren Schulen und Hochschulen trat seit 1950 als Unterrichtssprache nach und nach das Englische an die Stelle des Niederländischen. In einem Beschluß des Ministeriums für Erziehung und Kultur von 1967 ist das Englische neben der BI als Unterrichtssprache in den genannten Schultypen zugelassen. Alle drei Sprachen: die Regionalsprache, die BI und das Englische, haben somit ihren eigenen Geltungsbereich; die Regionalsprache, z. B. das Javanische, wird lokal, meist in den Dörfern, verwendet; sie ist in den ersten beiden Jahren der Grundschule Unterrichtssprache. In der sprachlichen Kommunikation der Indonesier sind somit drei semiotische Systeme nebeneinander in Gebrauch, jedoch zumindest zwei, wenn der Sprecher die BI bereits als Muttersprache spricht, wie dies in den malaiisch-sprechenden Teilen Sumatras und in den Großstädten der Fall ist. Viele Indonesier sind also bi- und trilingual. Verwenden sie nur eines dieser Systeme, so kann dies als Zeichen eines gewissen sozialen Status oder einer politischen Intention gewertet werden, z. B. als Kundgabe der Förderung der Nationalsprache. Die BI wird durch ein breites Spektrum von Kommunikationsträgern gefördert, durch Verwaltung, Schule, Armee und Massenmedien (vgl. die Situation im heutigen Vietnam: Art. 97 § 7.). 4.2. Das Filipino In den Philippinen wird dasselbe Ziel verfolgt wie in Indonesien: die Herausbildung einer National- und Staatssprache aus einer der einheimischen Sprachen; doch Wege und Methoden dazu differieren. In der Bezeichnung für die Nationalsprache gab es drei Entwicklungsphasen: sie wurde zunächst „Tagalog“, dann „Pilipino“ genannt und heißt seit einigen Jahren „Filipino“. Bereits lange vor der Selbständigkeit des philippinischen Staates 1946 war die Diskussion über eine Nationalsprache, die auch Staatssprache werden sollte, im Gange. Anläßlich der Gründung einer sehr kurzlebigen Republik Philippinen zu Ende des vorigen Jahrhunderts wurde ein Vorschlag eingebracht, das Tagalog zur Nationalsprache zu proklamieren; doch nach der Niederschla-
1915
96. Zeichenkonzeptionen in Indonesien und den Philippinen
gung dieser Republik verstummten die Diskussionen zunächst. Als im Jahre 1898 die USA in den Philippinen die Macht übernahmen, setzten sie an die Stelle des Spanischen das Englische als offizielle Sprache. Zwar sprach das Volk in den Philippinen kein Spanisch, doch waren die Vertreter der einheimischen Oberschichten infolge ihrer engen Verbindung zur spanischen Macht an das Spanische gewöhnt. Die USA ließen deshalb in einer Übergangszeit die Verwendung des Spanischen zu; einen Maßstab für diese Entwicklung mögen die Daten über die Verwendung des Spanischen im Zivildienst auf den Philippinen sein: im Jahre 1905 legten 80% der philippinischen Bewerber die Prüfung dazu in Spanisch ab, 1925 war es nur noch ein Prozent. Am längsten hielt sich die spanische Sprache im Justizwesen, wo erst die in den USA ausgebildete philippinische Jugend eine Wende vollzog. Im allgemeinen war in Intellektuellen- und Händlerkreisen zunächst der Hang zur Annahme des Englischen stark. Doch traten bereits in den 1920er Jahren unter den Philippinos wieder Tendenzen auf, eine eigene „Nationalsprache“ zu entwickeln. Dies fand auch auf der Seite der USA ein lebhaftes Interesse. USA-Linguisten hatten bereits sehr früh Studien zu den philippinischen Sprachen begonnen. Einen besonderen Anstoß erhielt die Nationalsprachenbewegung der Philippinos durch die Abhandlung des philippinischen Linguisten Eulogio B. Rodriguez What Should Be the National Language of the Filipinos, in welchem das Tagalog als zukünftige Nationalsprache vorgeschlagen wurde. Ihm folgten von wissenschaftlicher Seite Cecilio Lopez (1931) und Trinidad A. Rojo (1937). Alle sprachen sich für das Tagalog aus. Die Verfassunggebende Versammlung (Constitutional Convention) von 1934, die an einer Verfassung eines Philippine Commonwealth arbeitete, und die auch eine folgende Republik Philippinen vorsah, beschäftigte sich auch mit der Sprachenfrage. Am 12. Januar 1937 gab der Präsident des Commonwealth dem neu gebildeten Institute of National Language den Auftrag, Vorschläge für eine Nationalsprache und deren Aufbau auszuarbeiten; das Institut unterbreitete am 9. November 1937 dem Präsidenten den Vorschlag, Tagalog als Nationalsprache anzunehmen. Präsident Quezon legte daraufhin am 30. Dezember 1937 fest, daß Tagalog als Nationalsprache zu gelten habe, ab Juni 1940 Tagalog als Unterrichtssprache einzuführen
sei und daß diese Sprache ab Juli 1946 in der Republik Philippinen, deren Gründung bereits vorgesehen war, den Status der Staatssprache erhalte. Um anzuzeigen, daß es sich bei der Nationalsprache nicht einfach um das alte Tagalog handle, sondern um eine Weiterentwicklung, wurde die Nationalsprache 1959 durch Verwaltungsakt in „Pilipino“ umbenannt. Die Verfassung von 1973 sieht vor, daß Pilipino, zusammen mit Englisch, „die offizielle Sprache sein soll […] bis zu einer anderweitigen Festlegung durch Gesetze“. Ziel solle die Entwicklung des Filipino sein, das schließlich vor einigen Jahren vom Parlament in dieser Rolle bestätigt wurde.
5.
Die Schrift
In der Schriftgeschichte der südostasiatischen Inselkulturen sind keine originären Schriftarten der ansässigen ethnischen Gruppen bekannt. Die bisher festgestellten vier Schriftarten sind die sogenannten indischen Schriften (vgl. Art. 92 § 1.3.), die arabische (vgl. Art. 90 § 3.5.), die chinesische (vgl. Art. 93 § 2.) und die lateinische Schrift; alle vier Schriftarten sind heute noch koexistent, wenn auch jeweils auf bestimmte Funktionen und Lebensbereiche festgelegt. Es läßt sich deshalb schwerlich eine exakte Periodisierung im Sinne einer Aufeinanderfolge des ausschließlichen Gebrauchs einer der Schriftarten vornehmen. Nur die indischen Schriften blieben vor dem Eindringen der arabischen Schrift ohne Konkurrenten. Unter „indischen Schriften“ ist in diesem Zusammenhang keine spezielle in Indien vorkommende Schrift gemeint, es ist damit nur die folgende Eigenheit vieler Schriften in Indien gekennzeichnet: die Konsonantenzeichen bezeichnen ein silbenauslautendes /a/ mit; soll ein anderer Vokal oder keiner folgen, stehen Hilfszeichen und Ligaturen; ein silbenanlautender Vokal hat ein eigenes Zeichen; einige Zeichenformen sind denen der Brahmi-Schrift ähnlich (siehe Abb. 92.3). Keine Schrift Indiens wurde für eine der im Archipel einheimischen Sprachen verwendet (vgl. Abb. 96.2). Aufgrund der Koexistenz der Schriftarten entsteht ein semiotisches Feld mit Zeichen, die auf verschiedene Schriftarten hinweisen. Die Eigenart der Schrift brachte es mit sich, daß keine Fusion stattfand. Als die ältesten epigraphischen Dokumente des Archipels sind die vier in der Nähe von
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 96.2: Die indischen Schriften auf den Philippinen und ihre Vorläufer. Es handelt sich um drei Varianten des Bisaya zwischen 1550 und 1750, um zwei Varianten des Tagalog aus dem 16. und 17. Jahrhundert und um das Tagbanuwa und Mangyan aus dem 20. Jahrhundert (nach Francisco 1973, 91).
Bogor und Jakarta gefundenen Steininschriften des Herrschers Purnavarman von Westjava bekannt, die aus paläographischen Gründen der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. zugerechnet werden. Nach Meinung von K. A. Nilakantha Sastri (1936⫺37) sind diese Schriften, wie auch alle anderen „indischen“ Schriften des Archipels und der südostasiatischen Halbinsel (siehe Art. 97) aus der südindischen Pallava-Schrift abgeleitet. Diese älteren Schriften finden heute keine Verwendung mehr; zu den rezenten Schriften dieser Art gehören die javanische Schrift und das Batak. Auf dem Gebiet der Philippinen entstanden, wie Francisco (1973) vermutet, einheimische indische Schriften um 1000⫺1200 n. Chr.; doch erst seit dem 16. und 17. Jahrhundert wurden
diese den Europäern bekannt: die Schriften der Tagalog, Visaya, Ilocano, Pampango, Pangasinan, der Tagbanuwa in Mittel-Palawan und der Mangyan in Ost-Mindoro. Das erste arabische Schriftdokument im Archipel ist die aus dem Jahre 1304 stammende Steininschrift von Trengganu auf Sumatra; die arabische Schrift verbreitete sich von Malaya und Sumatra aus bis in den Süden der Philippinen, zu den „Moro“. Europäische Seeleute, Händler und Missionare zeichneten bei ihren ersten Kontakten mit den Einheimischen deren Sprache in lateinischer Schrift auf, wobei eine Vielfalt von Orthographien entstand (vgl. Art. 97 § 7.2.). Ein Reformvorschlag von Chr. A. van Ophuysen wurde 1901 zur Grundlage einer
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einheitlichen Orthographie für das Indonesisch-Malaiische; wegen der großen Bedeutung der in arabischer Schrift verfaßten klassischen malaiischen Literatur hatte van Ophuysen auch Probleme der Transkription aus dem Arabischen zu berücksichtigen; weitere Orthographiereformen folgten 1947 (Soewandi) und 1972, als eine gemeinsame Orthographie für die Bahasa Indonesia und die Bahasa Malaysia rechtskräftig wurde.
6.
Der klassische Tanz und das Volkstheater
Klassischer Tanz und lokales Volkstheater bestimmen das gegenwärtige Bild der darstellenden Kunst in Indonesien. Das „europäische“ Theater gewinnt langsam an Boden. Das javanisch-balinesische Wayang-Spiel und die Tänze sind dabei am besten erfaßt, beschrieben und erforscht (vgl. Rebling 1989). Die im Laufe von Jahrhunderten erfolgte Typisierung der einzelnen Komponenten ermöglicht die Synthese von Zeichenfeldern für die einzelnen Figuren, die Musik, das „Lakon“ (‘Theaterstück’), das Genre und die Gattung. Wie die anderen Gattungen, so hat auch die Gattung des Wayang mehrere Genres von verschiedener historischer Herkunft und lokaler Prägung. Je nach Genre haben die Wayang-Spiele verschiedene Szenen aus den indischen Epen des Mahabha¯rata und Rama¯yana sowie aus den Erzählungen vom Helden Panji des javanischen Panji-Zyklus zur Vorlage. Bei den Heldengedichten aus dem Mahabha¯rata und dem Rama¯yana handelt es sich nicht um eine mehr oder minder wörtliche Übersetzung des Urtextes, sondern um freie Nachdichtung in altjavanischer Dichtersprache (Kawi). Im Wayang verschmelzen indische Elemente mit autochthonen javanischen. So sind die in indischen Lehrwerken zum Ausdruck einer ganz bestimmten Stimmung und Bedeutung festgelegten 108 Bein-, Fuß- und Körperhaltungen, die neun Gesichtsausdrücke, die 28 einhändigen und die 32 beidhändigen Handhaltungen beim Wayang zwar vorhanden, haben hier jedoch meist nur einen ästhetischen Wert (vgl. Rebling 1989: 21 ff; siehe auch Govindarajan 1991 sowie Fig. 92.6 auf Tafel XVI⫺XVIII). Die Körperbewegungen gehen auf ältere einheimische Tänze zurück, wie Kriegstänze und Dämonenbeschwörungen. Die das Wayang begleitende Musik und
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die Musikinstrumente stammen jedoch aus anderen Quellen. Das javanische Gamelanorchester hat einen eigenen Charakter. Das Wayang kennt mehrere Genres (vgl. Departemen Pendidikan …, Ungkapan …, o. J.): das Wayang Kulit (kulit: ‘Leder, Haut’), das Wayang Topeng (topeng: ‘Maske’), das Wayang Wong (wong: ‘Mensch’), das Wayang Beber (beber: ‘ausgebreitet, auf einer Rolle’), das Wayang Golek (golek: ‘Puppenfigur’), das Wayang Gambuh (von Bali), das Wayang Susak (von Lombok). Das Wayang Kulit, das im Ausland bekannteste Wayang, wird als Schattenspiel aufgeführt. Ein Teil dieser Wayang entnimmt das Repertoire dem altjavanischen Mahabha¯rataZyklus und dem Rama¯yana, ein anderer Teil dem Panji-Zyklus. Text und Ablauf der Handlung eines Lakon sind schriftlich festgelegt; eine Abweichung ist dem Dalang (Schauspielführer bei Schatten- und Puppenspielen) nur für die stets auftretenden Spaßmacher, wie etwa Semar, erlaubt: solche Improvisationen werden zu Anspielungen auf Personen und Ereignisse benutzt. Da die Figuren typisiert sind, kann sie der Kenner unterscheiden. Wichtig sind der Körperbau, die Gesichtsform, besonders die Form der Augen und der Nase; auch Haartracht, Kopfbedeckung, Hals-, Brust-, Arm- und Beinschmuck entsprechen der Figur; edle Gestalten sind schmal und gefällig, die „bösen“ dicklich und grobschlächtig dargestellt. Helden haben eine lange, spitze Nase, wie Kresna und Bhima; der vulgäre Semar, immer etwas durchtrieben, hat eine starke, wulstige Nase und einen Schmerbauch; die Helden Rama, Bhima, Kresna und der balinesische Arjuna tragen Armschmuck, der javanische Arjuna jedoch nicht; verschieden geschwungene Haartrachten, Haarknoten und Kopfbedeckungen wie große und kleine Kronen, sind Unterscheidungsmerkmale (vgl. Abb. 96.3). Die Wahl eines Lakon hängt auch von der Gelegenheit der Aufführung ab. So wird das Lakon über die Hochzeit des Helden Rama mit Sita zur Aufführung bei Hochzeiten bevorzugt; wichtige Lebensabschnitte, wie Geburt, Tod, Bau eines Hauses, Umzug des jungen Ehepaars in ein eigenes Haus werden mit bestimmten Lakon begangen; das gilt aber auch für die Einweihung von Schulen, öffentlichen Gebäuden, Brükken u. ä. Tänze sind sowohl Begleittänze zu den Texten als auch selbständige Schöpfungen,
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Abb. 96.3: Figuren des Schattenspiels Wayang Kulit: Arjuna Java, Arjuna Bali, Krieger, Kresna. Diese Schatten werden von perforierten Puppen aus Rinder- oder Büffelhaut geworfen, die der Spielführer zwischen einer Öllampe und einer Leinwand bewegt. Die Puppen werden an einem Stiel aus Bambus oder Horn festgehalten, die Arme sind im Schulter- und Ellenbogengelenk beweglich und werden mit schmalen, an den Händen befestigten Stäben auf und ab geführt (nach Rebling 1989, vorderer Umschlag, Innenseite).
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Abb. 96.4: Ostjavanische Statuette Vajparani aus dem 8./9. Jahrhundert n. Chr. Sie stellt Vajparani, einen der Begleiter Buddhas dar, nach hinduistischen Traditionen mit vier Gesichtern, einem fünften Dämonengesicht auf dem Kopf, einem dritten Auge und acht Armen. Die Haltung der nach außen gedrehten Beine, das rechte gestreckt, das linke im Knie rechtwinklig gebeugt, ist mit der Abwehrhaltung eines tanzenden Kriegers in den Reliefs des buddhistischen Tempels von Barabudur vergleichbar. Bemerkenswert ist die Verschmelzung buddhistischer und hinduistischer Elemente mit autochthonen animistischen Vorstellungen in dieser Figur (nach Rebling 1989, 23, Abb. 18).
die zwischen den Handlungen eine Stimmung erzeugen sollen; erfahrene Tänzer haben dabei die Gelegenheit zu eigener Kreation. Klassische Tänze werden von einem Tänzer (im Monolog) oder zwei und mehr Tänzern (in Dialogen) dargeboten.
Die nicht zum Wayang gehörenden Volkstänze sind in allen Regionen Indonesiens und der Philippinen bekannt. Einzeltänze, wie im allgemeinen die Kriegstänze, haben eine sehr lange Tradition (vgl. Abb. 96.4). Solche Einzeltänze können, wie der Kriegstanz, aber
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Abb. 96.5: Kecak-Tanz auf Bali, in der Mitte der Priester (vgl. Rebling 1989, Abb. 29 und 31). Abb. 96.5: Kecak-Tanz auf Bali, in der Mitte der Priester (vgl. Rebling 1989, Abb. 29 und 31).
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auch in Schauspiele aufgenommen werden, wie dies im Barong auf Bali der Fall ist, einem Schauspiel, das wie der Le`gong-Tanz heute zu den Programmpunkten des BaliTourismus gehört. Speertanz, Reistanz, Webertanz, Schirmtanz werden meist in Tanzgruppen vorgetragen. Sie sind auch auf den Philippinen verbreitet. Die Stämme und Regionen haben einheimische Tänze mit eigenem Repertoire. Diese Tänze dienen der Belehrung wie der Unterhaltung, und ihre Vorführung hat starken Zulauf. In den Volkstheatern Indonesiens und der Philippinen wird ein Drama häufig von einem einzelnen Rezitator gestaltet. Durch abwechselnde Imitation von Männer- und Frauenstimmen, Verwendung verschiedener Dialekte und Sprachebenen gewinnt der Rezitator die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Begleitung durch wenige Musikinstrumente ist die Regel. Im Pantun Sunda trägt ein solcher Erzähler eine Geschichte in PantunForm vor. Das malaiische Pantun ist ein Vierzeiler besonderer Art, bei dem eine Person die ersten zwei Zeilen vorträgt und eine andere eine passende Ergänzung gibt. Im Dindong-Theater in der Region Aceh (Nord-Sumatra) spielen zwei Gruppen zu je 15⫺25 Personen ein Stück, wobei die Gruppen aus verschiedenen Dörfern kommen; sie treten jede halbe Stunde abwechselnd in Aktion. Diesem Genre gehören viele andere lokale Theaterformen an: das Bakaba in WestSumatra, das Dalang Jemblung in Banyumas, Mittel-Java, das Cepung auf Lombok, das Sinrilli in West-Sulawesi (Celebes). Ein anderes Genre ist das lokale „traditionelle Theater“, wie das bekanntere Randai aus Minangkabau (Sumatra), bei dem mehrere Personen ein Drama vortragen, das aus dem Alltagsleben genommen ist und das auch ohne besondere feierliche Gelegenheit aufgeführt wird. Zu dieser Form gehören das Bangsawan in Nord-Sumatra und das Mendu von Riau (Sumatra) und West-Kalimantan (Borneo). Während die meisten Tänze in Indonesien und den Philippinen heute nicht mehr ohne Elemente des klassischen höfischen Tanzes und der Gamelan-Musik (vgl. § 7.) denkbar sind, haben sich, besonders im rituellen Bereich der Geisterbeschwörung, einige ältere, volksnähere Formen gehalten. Ein Beispiel ist das nächtliche Kecak-Zeremoniell, bei dem ein Priester auf einer Pferde-Attrappe aus Bambus in wilden Sprüngen reitet und von einer Gruppe von Männern umgeben ist, die
in konzentrischen Kreisen um ihn herum sitzen. Sie sind nur mit einem Hüfttuch bekleidet und von einer flackernden Fackel beleuchtet: „Die Männer richten die Oberkörper langsam empor, die Spannung wächst. Durch kurzes rhythmisches Hecheln erklingen unartikulierte Laute, erst leise, dann immer stärker. […] Die Männer schwenken die Oberkörper nach rechts und links, die Bewegungen werden heftiger, bis plötzlich alle mit einem wilden Schrei die Arme hochwerfen“ (Rebling 1989, 48). Das wiederholt sich einige Male, jedesmal mit erhöhter Intensität, bis die höchste ekstatische Erregung erreicht ist (vgl. Abb. 96.5). In derartigen Ritualen verbindet sich die Handlung der Teilnehmer mit der der Priester und zeigt den westlichen Zuschauern so die Wurzeln einer sozialen Praxis, die sonst auch in Südostasien vielfach durch eine strikte Rollentrennung von Spieler und Zuschauer gekennzeichnet ist. Zu den darstellenden Künsten in anderen asiatischen Kulturen siehe Art. 92 § 4.1., Art. 93 § 10.2. und Art. 95 § 4.5.
7.
Die Musik
Vier Phänomene prägen die gegenwärtige Musik der südostasiatischen Inselkulturen: 1. die Verwendung von zwei Tonsystemen in der javanisch-balinesischen klassischen Musik, 2. das Gamelan-Orchester, 3. die große Anzahl noch verwendeter älterer Musik-Instrumentarten für die Volksmusik mit ihrer regionalen Vielfalt, 4. der zunehmende Einfluß der „westlichen“ Musik, bei bestimmten Genres besonders unter der Jugend. Von diesen Phänomenen sind die beiden erstgenannten eng miteinander verbunden, was vor allem auf das Wayang zurückzuführen ist. Das Pelog, ein siebenstufiges Tonsystem, und das Slendro, ein fünfstufiges, begleiten das Wayang-Spiel und wechseln einander auch in einem Lakon ab. Die Veränderung einer Stimmung im Lakon, oder auch des Publikums, kann eine Änderung des Tonsystems veranlassen. Zur Notation gab es bei den Balinesen ein Aufzeichnungssystem, das für das Slendro aus einem Kreis, zwei geraden horizontalen Strichen und vier geschwungenen Zeichen bestand; heute ist die Notation in arabischen Ziffern für jede Stufe und Halbstufe üblich. Die Tonsysteme können auch eine Auswirkung auf den Bau der Musik-Instrumente haben: eine Pelog-Flöte hat sechs Tonlöcher,
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Abb. 96.6: Wesentliche Instrumente des Gamelan (nach Rebling 1989, 83).
eine Slendro-Flöte vier. Unter den Musik-Instrumenten haben viele eine lange Tradition; bereits auf den Reliefs des buddhistischen Tempels von Barabudur (um 800 n. Chr.) finden sich Darstellungen von Einzelspielern und von Musik-Gruppen mit verschiedenen Instrumenten. Die etwa 45 Musik-Instrumentarten in Indonesien, und etwa ebenso viele in den Philippinen, gehören allen Hauptgruppen von Instrumenten an; es gibt 18 Blas-, 8
Schlag-, 18 Streich- und Zupf-Instrumenttypen usw., von denen einige nur in bestimmten Regionen gespielt werden. Die erste Erwähnung des Wortes „Gamelan“ stammt aus dem Jahre 1365, also aus der Blütezeit des javanisch-indonesischen Reiches Majapahit. Das Gamelan war das Orchester der hohen zentralen und lokalen Würdenträger. Entsprechend verschieden war auch die Besetzung des Orchesters; bedeut-
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Abb. 96.7: Ein Gamelan Pele`gongan begleitet einen Le`gong-Tanz in einer balinesischen Tempelanlage (nach Collaer 1979, 110 f). Abb. 96.7: Ein Gamelan Pele`gongan begleitet einen Le`gong-Tanz in einer balinesischen Tempelanlage (nach Collaer 1979, 110 f).
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Abb. 96.8: Grundriß und Schnitt durch den Terrassentempel von Borobudur auf Java (entstanden um 800 n. Chr.). Ein aus der fruchtbaren Kedu-Ebene aufsteigender Hügel ist, indem er mit dunklem Lavagestein eingehüllt und verkleidet wurde, in einen Terrassenbau verwandelt. Über sechs quadratischen Terrassenstufen, auf jeder Seite zweifach abgetreppt, erhebt sich ein kreisrunder, mit Stupas besetzter Oberbau mit dem bekrönenden großen Hauptstupa. In der Mittelachse führen auf allen Seiten Freitreppen nach oben. Die unterste Terrasse hat eine Seitenlänge von etwa 150 Metern. Darüber folgen fünf quadratisch verlaufende und vier runde Geschosse (wenn man den obersten Stupa nicht mitzählt, drei runde Geschosse). Zwischen den reich dekorierten quadratischen Terrassen, deren Wände mit Reliefs und Ornamentik bedeckt und deren Nischen mit Buddha-Bildern und Kleinstupas ausgefüllt sind, und den runden Terrassen, die ohne allen Schmuck gehalten sind und nur die 72 Stupas tragen, besteht ein auffallender Unterschied (nach Franz 1967, 124 f).
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same Fürsten besaßen bedeutsame Orchester, wie die Mangkunegoro-Fürsten in Solo (Mittel-Java) das Orchester „Kyahi Kanyut Mesem“. Das Gamelan kann bis zu 70 Instrumente umfassen; die Grundausstattung eines balinesischen Gamelan besteht aus 20 Instrumenten von 13 verschiedenen Arten: Der Spieler des Gendang (javanisch: kendang, balinesisch: gupak), einer mit den Fingern zweiseitig bespielten konischen Faßtrommel, folgt den Bewegungen der Puppen im Wayang Kulit und der Tänzer im Wayang Wong und gibt das Tempo an. Die Grundmelodie wird von der Saron-Gruppe gespielt, wobei das Saron aus gerundeten Metallplatten unterschiedlicher Tonhöhe besteht, die mit einem Metallstift auf einem verzierten Holzgestell befestigt sind. Zwei Saron (Barung und Demung) lassen die Melodie im Abstand einer Oktave erklingen, während ein drittes (das Saron Peking) die Melodie synkopiert. Drei weitere Instrumentengruppen umspielen und paraphrasieren die Melodie: die Bonang-Metallophone mit der doppelten Reihe von je fünf (im Pelog) oder sieben (im Slendro) gongartigen kupfernen Klangkesseln und die Gende´rInstrumente, die aus dünnen mit wattierten Schlegeln bespielten Bronzeplatten bestehen, welche an Schnüren über Bambusröhren als Resonanzkörpern aufgehängt sind, sowie die „Gambang“ genannten Xylophone. Diese Instrumentengruppen verleihen dem Gamelan einen eigenartig differenzierten, schwebenden Orchesterklang. Hinzu kommen einige Gongs (vgl. Rebling 1989, 81 ff; siehe auch Abb. 96.6 und 96.7). Am Gamelan sind neben den Idiophonen wenig andere Instrumente beteiligt. Für das javanische Gamelan ist aber das Rebab, ein Streichinstrument, von Bedeutung; sein Spieler, beim Wayang in der ersten Reihe hinter dem Dalang sitzend, leitet zugleich das Orchester. Viele der Instrumente werden nur in einer Region gespielt; meist aber treten sie dort im Verbund mit anderen auf. So wird das Serunai, eine Art Trompete, vor allem bei den Toba-Batak (Nord-Sumatra) bekannt, zusammen mit Genderangs, einseitig bezogenen Trommeln, und Gongs zu dem Orchester Tataganing verbunden. Einige Instrumente werden im ganzen Land gespielt. Dadurch ergibt sich bei einer umfassenden Zusammenstellung ein verzweigtes, das ganze Land erfassendes Feld von Instrumenten und Musikformen. ⫺ Zur Musik anderer asiatischer Kulturen vgl. Art. 92 § 4.4., Art. 93 § 10.1. und Art. 95 § 4.3.
8.
Die Architektur
In Indonesien und in den Philippinen sind die sakralen und die profanen Bauten und deren plastische Ausstattung, wie überall, bestimmten Baunormen und Proportionskanons unterworfen. Noch immer steht das Interesse für die Monumentalbauten und die kleineren Profanbauten der vergangenen Epochen im Vordergrund, da gerade ihnen Elemente eines nationalen Kolorits für die modernen Gegenwartsbauten wie Wohnhochhäuser, Bankund Geschäftshäuser entnommen werden (vgl. Art. 97 § 4.3.). Das indische Silpas´a¯stra wurde auch in Indonesien zur Grundnorm für die hinduistischen und buddhistischen Sakralbauten, während die Moscheen den islamischen Normen folgen; die wesentlichen Normen für den Bau der römisch-katholischen Kirchen auf den Philippinen folgen denen in Spanien. In beiden Ländern sind autochthone Bauprinzipien mit diesen Normen verschmolzen. Indikatoren dafür sind bei den Skulpturen zum Beispiel die Körperstellung einer Statue und der Gesichtsausdruck (s. o. Abb. 96.4). Fügen sich solche Kodes, in hierarchischer Ordnung, zu umfassenderen Zeichenfeldern zusammen, wie in den Tempelbauten und deren Kunstformen, so gewinnen diese einen nationalen, historischen, religions- und kunstgeschichtlichen Aussagewert (zur hinduistisch-buddhistischen Sakralarchitektur in den Festlandkulturen Süd- und Südostasiens vgl. Art. 92 § 5.1. und Art. 97 § 5.2.). Wenn man die Opposition als Ordnungsprinzip verwendet, so lassen sich die hinduistisch-buddhistischen Tempel (Stupas) auf Java folgendermaßen einteilen: a. für den Grundriß eines Tempels: Kreis, wie in Indien (Sanchi, Amrawati, Karli, Ajanta) oder Quadrat, wie in Indonesien (Borobudur; vgl. Abb. 96.8); b. für die Gestaltung des Innenraumes eines Tempels: geräumig, da für die Versammlung von Gläubigen gedacht, wie in Indien, oder sehr klein, da nur für eine Kultfigur bestimmt, wie in Indonesien; c. Buddha-Darstellungen durch Symbole, z. B. Fußstapfen wie in der älteren Ikonographie, oder in figürlicher Art wie in den jüngeren Perioden; d. strenge Einhaltung des Silpas´a¯stra-Kanons, wie bei den mitteljavanischen Tempeln bis etwa zum 10. Jahrhundert, oder Abweichungen davon, wie in den Reichen Kediri, Singhasari und Majapahit, wobei den Göttergestalten Köpfe der Herrscher aufgesetzt sind
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und reichlicher Figurenschmuck eingeführt wurde. Symbole sind auch bei profanen Bauten, wie Residenzen der Herrscher und bäuerlichen Wohnstätten, stark verbreitet, so die Gestalt des Wasserbüffels für Fruchtbarkeit, das Horn des Banteng-Stiers für Stärke. Solche Symbole können auch als Grundlage für Ornamente angesehen werden.
In der katholischen Kirche auf den Philippinen hängt, bedingt durch die innere Organisation, eine Veränderung von der Haltung der Kurie und des einheimischen Episkopats, und weniger von „Volkskirchen“-Bewegungen ab. Gleichwohl kann es zur Bildung von christlichen Sekten auf lokaler Ebene kommen. Auch sind in Indonesien und auf den Philippinen die Beziehungen der Moslems zu ihren Glaubensbrüdern in den Stammländern des Islams, den arabischen Ländern, von Bedeutung. Die beiden im sunnitischen Indonesien bestehenden islamischen Rechtsschulen, die überwiegende schafiitische sowie die hanafiitische, tragen zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen bei, wenn auch die islamischen Tugenden der Duldung, des Entgegenkommens und des Konsenses die Wege zu praktischen Lösungen offen halten. Ein drittes Spannungsverhältnis war und ist für das Staatsleben von Bedeutung: das zwischen den säkularistischen und islamischen Staatsauffassungen. Die von den national orientierten Politikern und den Staatsmännern geförderte Idee des „Pancasila“ (panca: ‘fünf’, sila: ‘Säule’; die fünf Prinzipien), bestehend aus dem Glauben an den Einen Gott, Demokratie usw., entspricht weitgehend den Neigungen zum Konsens und zum Ausgleich. Die Zahlenmystik, wie sie in Indonesien so beliebt und verbreitet ist, ist eine beliebte Quelle für Symbolisierungen, und die Assoziationen sind leicht hergestellt: der Islam kennt die fünf Grundpflichten, der Buddhismus die fünf Gebote (besser: Verbote) der ethisch-asketischen Zucht (sila) für den Weg der Reinigung, die Bhakti-Mystik des Hinduismus die fünf esoterischen Sakramente (vgl. das magische Fünferprinzip und seine Geltung in China: Art. 93 § 4.1.1. und in Korea: Art. 94 § 5.). Letztere sind aus mnemotechnischen Gründen aus alliterierenden Wörtern mit „m“ als Anfangslaut zusammengestellt, wie mada (‘Rausch’): „du sollst dich nicht berauschen“); diese fünf „m“ (gesprochen /mo/) sind auch heute noch den Javanern geläufig. Das erste Prinzip des Pancasila: „Glaube an den Einen Gott“ (in einer anderen Variante: „Glaube an Gott“) soll symbolisch die Übereinstimmung mit der allen Moslems vertrauten 112. Koran-Sure, der Reinigungs- oder Verehrungs-Sure („Es ist der Eine Gott“) und der christlichen Auffassung herstellen. In dieser Weise ist dieses eine Wort, „Pancasila“, zum Instrument des Ausgleichs zwischen religiösen und säkularisti-
9.
Religion und Weltanschauung
Die Inselkulturen Südostasiens kennen einen Pluralismus von Glaubensgemeinschaften, wobei in jedem Land eine Gemeinschaft dominiert, in Indonesien der Islam, auf den Philippinen der Katholizismus. Die kleineren Gemeinschaften sind in Indonesien die territorial verstreuten Christen, die Bali-Hindu und animistische Richtungen in abgelegenen Gebieten; auf den Philippinen sind es die Moslems, die im Süden des Landes territorial vereint sind, sowie animistische Richtungen. Nach innen und nach außen treten zwischen diesen Religionsgemeinschaften verschiedenartige Spannungsverhältnisse auf, die das staatliche und gesellschaftliche Leben fördern oder behindern. Der Kampf der Moro auf den Philippinen um stärkere Autonomie hatte internationale Auswirkungen. Neuere Entwicklungen, wie das langjährige Auslandsstudium der Jugend vermögender Schichten, die Arbeitsbeziehungen von Kaufleuten und Technikern im „westlichen“ Ausland sowie der Massentourismus im Lande, tragen zur näheren Bekanntschaft mit den europäischen und nordamerikanischen Verhältnissen bei und fördern den Vergleich der Kulturen; der „Kulturschock“ ist auch bei den Indonesiern und den Philippinos bekannt. Die Folge ist, daß in beiden Ländern die nominelle (oder statistische) Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft noch keine religiöse Hingabe bedeutet. In allen Verbreitungsgebieten des Islam besteht gegenwärtig ein Spannungsverhältnis zwischen Reformbewegungen und traditionalistischen Strömungen, darunter den „Fundamentalisten“. Reformer, tief im Glauben verwurzelte Männer, unternehmen den Versuch, den Islam durch neue Deutungen des Koran, der Gesetzestexte und der Scharia an die neue Zeit anzupassen und damit den Islam verständlicher und erfolgreicher zu gestalten; das geht nicht ohne heftige Auseinandersetzungen ab.
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens 1. Ethnische Vielfalt versus staatliche Gliederung: Bausteine einer komplexen Identität 2. Genetische und strukturtypische Aspekte der Sprachenwelt Südostasiens 3. Strukturelle und visuelle Aspekte des Repertoires sprachlicher Zeichen 4. Elemente kultureller Kontinuität: die animistische Tradition 5. Zur Transformation von Basiselementen indischer und chinesischer Akkulturation 6. Das Experiment der chinesischen Kolonisation in Vietnam und der nachkoloniale Prozeß der Sinisierung 7. Zur Rolle des europäisch-kolonialen Kulturadstrats in Südostasien 8. Zeichenprozesse in der nachkolonialen Gesellschaft: moderne Trends in den Mosaikkulturen Südostasiens 9. Literatur (in Auswahl)
1.
Ethnische Vielfalt versus staatliche Gliederung: Bausteine einer komplexen Identität
1.1. Das südostasiatische Festland, das historische Indochina, ist ein geographischer Großraum, dessen enorme ethnisch-sprachliche Zersplitterung (vgl. Bruk und Apencˇenko 1964, 58 f; Price 1990, 65) im auffälligen Kontrast zur Ähnlichkeit der kulturellen Trends steht, die in diesem Areal in historischer Zeit wirksam geworden sind (vgl. §§ 4.⫺6.; für eine Parallele in Europa siehe die Kultur der Kelten: Art. 36). Der Animismus mit seinen prähistorischen Wurzeln (vgl. § 4.) und der Buddhismus (vgl. §§ 5. und 6.) sind entscheidende gemeinschaftsbildende Faktoren in Südostasien. Lediglich Malaysia im äußersten Süden mit seiner überwiegend islamischen Bevölkerung (53% sunnitische Muslime) weicht von dem Gesamtbild ab. Unabhängig davon, ob man die ethnische Vielfalt vom synchronen Standpunkt der Verteilung moderner Regionalkulturen betrachtet, oder sich die chronologische Abfolge von Kulturdrifts und deren Auswirkungen vergegenwärtigt, die Gesellschaften des südostasiatischen Festlands haben den Charakter eigentlicher Mosaikkulturen. Streng genommen gibt es keine neuzeitliche Kultur auf der Welt, die nicht irgendwelche Fremdeinflüsse aufweist. Bei vielen Kulturen aber wirken die Fremdkomponenten wie den einheimischen Kern ergänzende Facetten. Demgegenüber ist das Maß der kulturellen Fusion in Südost-
asien so groß, daß sich das Bild eines Mosaiks aufdrängt, in dem sich einheimische und adaptierte Elemente aus den verschiedensten kulturellen Sphären wie bunte Mosaiksteine zu einem Gesamtbild fügen. 1.2. Nach der heutigen politischen Gliederung (vgl. die Entwicklung in den Inselkulturen Südostasiens: Art. 96 § 3. und Ozeaniens: Art. 98 § 1.) ist das südostasiatische Festland in sieben Staaten aufgeteilt: Myanmar (bis Mai 1989 Burma bzw. Birma), Thailand, Kampuchea (Kambodscha), Laos, Vietnam, Malaysia und Singapur. Alle Staaten Südostasiens haben eine multinationale Bevölkerung mit unterschiedlicher proportionaler Verteilung. Die ethnische Differenzierung der Staaten Südostasiens ist in Tabelle 97.1 veranschaulicht. Die Proportionen von Mehrheiten und Minderheiten in den Staaten Südostasiens sind nicht außergewöhnlich oder etwa typisch „südostasiatisch“. Um sich die Verhältnisse besser vorstellen zu können, sei hier auf einige Vergleichsfälle in Europa verwiesen (vgl. Haarmann 1993, 36 ff zur Ethnostatistik Europas). Kampuchea mit seiner sprachlichen Khmer-Mehrheit von 87% ähnelt Ungarn mit seiner 88-prozentigen ungarisch-sprachigen Mehrheit. Die Mehrheitsverhältnisse in Singapur (76,6% Chinesen) sind vergleichbar mit
Tab. 97.1: Die Sprachgemeinschaften in den Staaten Südostasiens (nach Narody mira 1988, 551 ff) Myanmar (Burma) (Fläche: 676 552 qkm, Bev.: 40,796 Mio./1989 ⫺ 38,5 Mio./1986) Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Burmesen (Birmanen) Karen Schan Tschin Mon Katschin Chinesen Palaung Va Berg-Tay u. a.
29 000 000
75,3 %
3 100 000 2 500 000 750 000 600 000 580 000 350 000 250 000 200 000 135 000
8,1 % 6,5 % 1,9 % 1,6 % 1,5 %
1929
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens Thailand (Fläche: 513 115 qkm, Bev.: 54,536 Mio./ 1988 ⫺ 51,3 Mio./1986)
Vietnam (Fläche: 331 689 qkm, Bev.: 64,412 Mio./1989 ⫺ 59,713 Mio./1986)
Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Thai (Siamesen) Laoten Chinesen Malaien Khmer Berg-Khmer (davon Kui Berg-Tay (davon Putai Karen Miao (Meo) u. a.
27 000 000 13 800 000 6 200 000 1 900 000 650 000 620 000 550 000) 300 000 100 000) 190 000 100 000
52,6 % 26,9 % 12,1 % 3,7 % 1,3 % 1,2 %
Vietnamesen Thai Chinesen Berg-Tay Khmer Myong Nung Miao (Meo) Jao Siarai Ede Banar u. a.
52 300 000 1 020 000 950 000 880 000 820 000 750 000 640 000 470 000 400 000 210 000 160 000 120 000
87,6 % 1,7 % 1,6 % 1,5 % 1,4 % 1,3 % 1,1 %
Kampuchea (Fläche: 181 035 qkm, Bev.: 7,869 Mio./1988 ⫺ 7,284 Mio./1986) Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Khmer Vietnamesen Chinesen Berg-Khmer (davon Kui Tiam u. a.
6 340 000 320 000 320 000 120 000 70 000) 100 000
87,0 % 4,4 % 4,4 % 1,6 % 1,4 %
Laos (Fläche: 236 800 qkm, Bev.: 3,875 Mio./1988 ⫺ 3,61 Mio./1986) Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Laoten Berg-Tay (davon Tai Khmu Berg-Khmer (davon Sui Miao Puteng u. a.
2 400 000 240 000 150 000) 220 000 190 000 80 000) 160 000 100 000
66,5 % 6,7 % 6,1 % 5,3 % 4,4 % 2,8 %
denen in Weißrußland (79,4% Weißrussen). Die Proportionen der ethnischen Mehrheit in Myanmar/Burma (75,3% Burmesen) können mit denen in Spanien (73% Spanisch-Sprachige) verglichen werden, und die Verhältnisse in Laos (66,5% Laoten) ähneln denen in der Schweiz (65% Deutsch-Schweizer).
Malaysia (Westmalaysia, d. h. Festland ohne die Bundesstaaten Sarawak und Sabah auf Borneo) (Fläche: 131 587 qkm, Bev.: 12,927 Mio./1986) Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Malaien Chinesen Inder (überwiegend Sprecher des Tamilischen) Javaner Bandschar u. a.
6 400 000 4 450 000 1 350 000
49,5 % 34,4 % 10,4 %
400 000 140 000
3,1 % 1,1 %
Singapur (Fläche: 618 qkm, Bev.: 2,647 Mio./1988 ⫺ 2,558 Mio./1986) Ethnische Gruppen
Sprecherzahl
Anteil an der Gesamtbev.
Chinesen Malaien Tamilen Javaner u. a.
1 960 000 285 000 115 000 50 000
76,6 % 11,1 % 4,5 % 1,9 %
Thailand schließlich weist mit 52,6% ThaiBevölkerung eine ähnlich knappe Mehrheit aus wie Lettland (51,8% Letten). Die Mehrheitsverhältnisse in den beiden Ländern sind noch knapper als in Belgien (57,6% Flamen), das mit Vorliebe als Vergleichsfall für einen multinationalen Staat ohne klare Mehrheits-
1930
Karte 97.1: Wohngebiete der Nicht-Malaien auf der malaiischen Halbinsel (nach Rolf 1989: 25).
verhältnisse genannt wird. Ein Sonderfall ist Malaysia, ein Staat, in dem das namengebende Volk, die Malaien, kaum die Hälfte der Bevölkerung ausmachen (siehe Karte 97.1 zur Verteilung der Nicht-Malaien auf der malaiischen Halbinsel). Diese Proportionen sind nur mit einem Staatsgebilde in Europa vergleichbar, dem historischen Konstrukt der ehemaligen Sowjetunion. Nach der letzten sowjetischen Ethnostatistik des Jahres 1989 machten die Russen nur noch knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung (50,8%) des Sowjetstaates aus. Vietnam ist das mit Abstand bevölkerungsstärkste Land Indochinas, und gleichzeitig die Region mit den meisten sprachlichen Minderheiten. Außer den Vietnamesen leben dort die Angehörigen von 54 (nach anderen Quellen mehr als 60) ethnischen Minderheiten. Diese sind über das gesamte Land verteilt, wobei der Norden die größte ethnische Vielfalt zeigt (Karte 97.2). Die Bevölkerungszahl der Minderheiten Vietnams entspricht in ihrer Größenordnung der Gesamtbevölkerung eines Staates wie Kampuchea. Aufgrund der zahlenmäßigen Stärke der vietnamesischen Bevölkerung sind die Proportionen von sprachlicher Mehrheit und den Minderheiten so verteilt, daß Vietnam mit seiner vietnamesischen Mehrheit von 87,6% homogener wirkt als andere Staaten Südostasiens.
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
1.3. Die Vielfalt der ethnischen Gruppierungen tritt vordergründig in Form der erheblichen sprachlichen Unterschiede in Erscheinung. Die Sprachbarrieren zwischen den Regionalkulturen überdecken andererseits Konvergenzen anderer anthropologischer Merkmale wie der biologisch-genetischen Abstammung. Nach Baker (1989, 384 f) gehören die heutigen Völker des südostasiatischen Festlandes einer Hauptrasse an, den Mongoliden, wobei im besonderen zwei Unterrassen vertreten sind. Die Vietnamesen repräsentieren den palämongoliden (bzw. südmongolischen) Zweig, die Thai und Mon die sinide Untergruppe. Die anthropologischen Merkmale der postulierten Unterrassen waren bestenfalls zur Zeit der Erstbesiedlung Südostasiens durch Sinide und Palämongolide deutlich unterschieden. Im Verlauf der historischen interethnischen Kontakte haben sich ursprüngliche Unterschiede zunehmend verwischt (Bellwood 1992, 73 f). Der südostasiatische Raum gehört zu den ältesten Habitaten des Menschen. Die ältesten Spuren menschlicher Präsenz, und zwar des Homo erectus, wurden auf Java gefunden. Der moderne Mensch (Homo sapiens sapiens) ist ebenfalls früh dokumentiert, nämlich mit rund 35 000 Jahre alten fossilen Resten aus der Großen Höhle von Niah auf Sarawak, die ⫺ nach Steinwerkzeugen zu urteilen ⫺ bereits vor 100 000 Jahren bewohnt war (Whitehouse und Whitehouse 1990, 26 f). Auf dem Festland sind verschiedene Siedlungen des Mesolithikums erschlossen worden. Diese Kulturstufe wird in Südostasien als Hoabinhien bezeichnet, nach einem typischen Siedlungsplatz südwestlich von Hanoi (Gorman 1971). Die Träger des Hoabinhien waren Proto-Australide, die vor der Überflutung des Sunda-Schelfs nach Neuguinea und Australien abgewandert sind (siehe Art. 98 § 1.). Die heutige Siedlungsverteilung der ethnischen Gruppen Südostasiens bildete sich im wesentlichen während der großen Migrationsbewegungen im Neolithikum heraus. Wichtigster archäologischer Index für die Gerichtetheit der Migrationen ist die Leitform des Rechteckbeils mit Vierkantklinge (Rolf 1989, 19 f). Auch die Verbreitung des Reisanbaus, dessen Anfänge in Südchina ins 6. Jahrtausend v. Chr. zurückgehen, läßt sich als Folge der Migrationen aus nördlichen Regionen in die südostasiatischen Wirtschaftsräume erklären (Garanger 1991, 144 f). Neolithische Siedlungsspuren lassen sich in Thailand bis ins 4. vorchristliche Jahrtausend
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
1931
Karte 97.2: Die ethnischen Minderheiten Vietnams (nach Wulf 1991: 41).
zurückverfolgen. Bei Ban Chieng im Nordosten Thailands sind die Reste einer bronzezeitlichen Kultur entdeckt worden, die auf 3600 v. Chr. datiert wird (Dittmar 1989, 76 f). Deren Träger waren nicht die Vorfahren der aus Südchina eingewanderten Thai, sondern sie gehörten zur Urbevölkerung, deren anthropologische Merkmale nicht näher bekannt sind. Dafür, daß die Urbevölkerung Südostasiens andere als mongolide Merkmale aufwies, spricht die biologisch-genetische Beziehung der Südostasiaten zur australasiden Rasse, speziell zur melanesiden Unterrasse. Mittelbare Hinweise auf diese prähistorischen ethnischen Beziehungen finden sich in Konvergenzen der genetischen Sprachverwandtschaft der austronesischen Sprachen (siehe § 2.) und vermutlich auch in einigen Eigentümlichkeiten der materiellen Kultur
(z. B. in der traditionellen Giebelform thailändischer und melanesischer Gebäude). Die Thai treten als ethnische Gruppe erst im 13. Jahrhundert in Erscheinung, als sich verschiedene regionale Stämme südchinesischer Einwanderer im Königreich von Sukhothai zusammenschlossen.
2.
Genetische und strukturtypische Aspekte der Sprachenwelt Südostasiens
2.1. Die Sprachen des südostasiatischen Festlandes lassen sich zwei Sprachfamilien zuordnen, den austroasiatischen Sprachen und den sinotibetischen Sprachen (Moseley und Asher 1994: Karten 49⫺51). Die wichtigsten Repräsentanten des Austroasiatischen sind die
1932
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Mon-Khmer-Sprachen (Voegelin und Voegelin 1977, 33, 235 ff). Die beiden namengebenden Idiome sind das Mon (andere Bezeichnungen: „Peguanisch“, „Talaing“) in Burma (östliches Deltagebiet des Irrawaddy) und das Khmer, das moderne Kambodschanisch. Ebenfalls genetisch eine Mon-Khmer-Sprache ist das Vietnamesische. Weiterhin gehören die Malacca-Sprachen in Malaysia zur austroasiatischen Familie. Zahlreicher verbreitet in Südostasien sind die sinotibetischen Sprachen (Voegelin und Voegelin 1977, 193 ff, 307 ff, 328). Diese untergliedern sich in die sinitische Gruppe, wozu das Thai, die Kam-Tai-Sprachen (z. B. Laotisch), außerdem das Miao (in Thailand „Meo“ genannt) und andere Minderheitensprachen gehören, und in die tibetisch-birmanische Gruppe mit dem Birmanischen als deren Hauptvertreter in Südostasien. Was die Gruppe der Kam-Tai-Sprachen betrifft, so sind die Beziehungen zu den austronesischen (d. h. malayo-polynesischen) Sprachen nach Benedict (1967) enger als zum Chinesischen (Gruppierung als Austro-Thai). Aufgrund dieser Querverbindungen schlägt Benedict (1973) die Zusammenfassung der austroasiatischen und austronesischen Sprachen in eine größere austrische Sprachfamilie (austric phylum) vor. Peiros (1988, 323 ff) hat die lexikalischen Parallelen zwischen den sinotibetischen und austronesischen Sprachen inventarisiert. Die genetische Affiliation des Vietnamesischen war lange umstritten. In früheren Klassifikationen wurde es als sinotibetische Sprache eingeordnet. Dabei stützte man sich auf die Beobachtungen zum starken chinesischen Element im Wortschatz und auf die Existenz der Tonhöhenkorrelation, eine Erscheinung, die das Vietnamesische mit dem Thai und anderen sinitischen Sprachen teilt. Allerdings stellte sich heraus, daß die chinesischen Elemente im vietnamesischen Lexikon auf teilweise sehr alte Entlehnung zurückgehen, also keine Sprachverwandtschaft anzeigen, und daß sich das System der Toneme erst im Verlauf des 1. Jahrtausends unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich unter chinesischem Einfluß, entwickelt hat (Haudricourt 1954; Campbell 1991, 1435).
durch die Differenzierung von fünf oder sechs Tonemen. Obwohl genetisch eine MonKhmer-Sprache, ist auch das Vietnamesische eine Tonsprache. Das Vietnamesische (Solncev et al. 1960) unterscheidet sechs Töne, von denen fünf in der lateinischen Graphie der Sprache durch diakritische Zeichen gekennzeichnet werden (Tab. 97.2a). Das System der Vokalphoneme differenziert sich in insgesamt zwölf Vokalqualitäten. Weiterhin werden mehr als zwanzig Diphthonge und zwölf Triphthonge unterschieden. Aus der Kombination der Toneme mit den Vokalqualitäten entsteht eine variantenreiche Vielfalt von Silbenstrukturen (Tab. 97.2b). Allerdings werden nicht alle theoretischen Möglichkeiten dieser Kombinatorik sprachlich genutzt. So tritt nicht jede Silbe im Vietnamesischen in allen sechs Tonhöhen auf (z. B. kommt khuya ‘Mitternacht’ nur im Normalton vor). Im Thai werden fünf Töne unterschieden. Das phonologische System dieser Sprache stellt sich komplexer dar als das des Vietnamesischen, da die Unterscheidung von Kürze und Länge der neun Vokalqualitäten phonematisch ist. Ein illustratives Beispiel für die Kombination der Toneme mit kurzen und langen Vokalen im Thai bietet das Paradigma der Kardinalzahlen (Tab. 97.3). Das Laotische (Morev et al. 1972) kennt sechs Toneme bei zwölf Vokalqualitäten, die ihrerseits kurz und lang auftreten können. Das sich aus dieser Kombinatorik ergebende System der Silbenstrukturen ist zwar theoretisch komplexer als in den anderen erwähnten Tonsprachen, nicht jede Silbe aber kann alle Töne assoziieren, und außerdem gibt es bestimmte Präferenzen in der Assoziation einzelner Toneme mit kurzen oder langen Vokalen. Das Khmer ist keine Tonsprache. Mit anderen südostasiatischen Festlandsprachen teilt es die Eigenschaft eines hochdifferenzierten Vokalsystems. Unterschieden werden zehn Basisvokale, deren Quantitätenunterschiede (kurz versus lang) phonematisch sind. Das Vokalsystem erweitert sich unter Einschluß von drei kurzen und zehn langen Diphthongen zu einem komplexen System (Sacher und Phan 1985, 13 ff, 28 ff). Traditionell wird das Vietnamesische als monosyllabische Sprache klassifiziert. Tatsächlich ist eine solche generalisierende Feststellung irreführend, denn das moderne Vietnamesisch kennt nicht nur einsilbige, sondern auch mehrsilbige Wörter. Die invariablen Sinnträger im Wortschatz sind alle monosyllabisch. Ohne Berücksichtigung der Tonhö-
2.2. Durch ihr sehr komplexes Phonemsystem, insbesondere ihr variantenreiches Vokalsystem, fallen die südostasiatischen Sprachen jedem Sprecher einer europäischen Sprache auf. Die Komplexität von phonematischen Vokalqualitäten und -quantitäten erweitert sich in den sinotibetischen Sprachen
1933
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens Tab. 97.2: Tonhöhen und Silbenstrukturen im Vietnamesischen a: Die Tonhöhenunterschiede und ihre diakritische Kennzeichnung deutsche Bezeichnung
vietnamesische Bezeichnung
Zeichen
Beispiele
Normalton fallender Ton steigender Ton tiefer Ton fallend-steigender Ton unterbrochen-steigender Ton
thanh thanh thanh thanh thanh thanh
khoˆng huye`n sa¨ c
ˆ ` ´
naa˘ø ng hoÅi nga˜
· Å
mai ‘morgen’ ma`i ‘schleifen’ ma´i ‘Dach’ maø i, in thuong maø ˙i ‘Handel’ maÅ i ‘sich bemühen’ ma˜i ‘lange’, ‘immer’
˜
b: Die Kombination von Tonhöhen mit vokalischen Silbenträgern fallender Ton steigender Ton tiefer Ton fallend-steigender Ton
a` a´
a˙ a¨
aˆ` aˆ´
e` e´
eˆ` eˆ´
`ı ´ı
o` o´
oˆ` oˆ´
aø aÅ
eø eÅ e˜
øi Åi ˜ı
oø oÅ o˜
oøˆ oň
a˜
aˆø aň aˆ˜
eøˆ eň
unterbrochen-steigender Ton
aˇø aÅˇ aˇ˜
Tab. 97.3: Kardinalzahlen von 1⫺10 im Thai (Silben mit Langvokalen sind fettgedruckt; nach Delagnau o. J., 56) 0
//soun/
1
/ nugn/
2
//sögn/
3
//sam/
4
/ si/
5
/\ha/
6
/ hok/
7
/ dje´d/
8
/ pe`d/
9
/\kao/
10
/ sib/
henunterschiede kommen zwischen 800 und 900 verschiedene Silbenstrukturen vor (DeFrancis 1977, 7). Es gibt aber auch Kompo-
eˆ˜
oˆ˜
o`· o´· oø ·
u` u´ uø
u`· u´· uø ø·
y` y´ y
o· Å o˜·
uÅ u˜
u· Å u˜·
yÅ y˜
nenten, die als selbständige Elemente nicht sinntragend sind, sondern nur mit anderen Wörtern zusammen eine Sinneinheit bilden. Dies gilt beispielsweise für Komponenten wie kha´n (z. B. in kha´n gia ‘Zuschauer’) oder huru (z. B. in huru nghi ‘Freundschaft’). Viele Ausdrücke bestehen aus mehreren Silben. Die Strukturen dieser Sinnträger entsprechen also mehrsilbigen Zusammensetzungen. Der Trend der Sprachentwicklung geht vom historisch monosyllabischen zum polysyllabischen Charakter (Haudricourt 1961, 59). Das Vietnamesische macht damit eine Entwicklung durch, die dem des Chinesischen von der klassischen zur modernen Sprachperiode ähnlich ist. 2.3. Zu den sprachtypologischen Eigenschaften, die die südostasiatischen mit den ostasiatischen Sprachen (z. B. Chinesisch, Koreanisch, Japanisch) teilen, gehört der Gebrauch von Numeralklassifikatoren (vgl. auch Art. 94 § 2.). Die Zählweise mit Numeralklassifikatoren besteht darin, daß gezählte Objekte mit den Zahlwörtern durch semantische Klassifikatoren assoziiert werden. Die Differenzierung der Nomina nach semantischen Klassen ist jeweils sprachspezifisch. Was die Beschaffenheit von Objekten betrifft, so kennt beispielsweise das Thai folgende minutiöse Differenzierung (Tab. 97.4).
1934
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Tab. 97.4: Numeralklassifikation für Objekte im Thai Objekt im allgemeinen
/an/
Objekt mit Dach
//lagn/
z. B. Haus
Objekt mit Enden
/khan/
z. B. Regenschirm
Objekt mit Arm- und Beinstücken
/toua/
z. B. Möbel, Kleidungsstück
Sphärisches Objekt
/\louk/
z. B. Ball, Frucht
Hohles, sphärisches Objekt
/bai/
z. B. hohler Kürbis, Behälter
Zylindrisches Objekt
/\ton/
z. B. Baum, Topf
Hohles, zylindrisches Objekt
/lam/
z. B. Flugzeug, Bambusrohr
Dünnes, flaches Objekt
/ phe`n/
z. B. Blatt, Schallplatte
Eckiges Objekt
/\le´m/
z. B. Buch, Messer
Langes, schmales Objekt (konkrete Bedeutung)
/\se´n/
z. B. Haar, Nadel
Langes, schmales Objekt (abstrakte Bedeutung)
//sai/
z. B. Linie, Flugroute
Winziges Objekt
/ me´d/
z. B. Tablette, Knopf
Objekt aus Textil
//phun/
z. B. Teppich, Handtuch
Objekt in Rollenform
/ mouan/
z. B. Filmrolle, Folie
Eingewickeltes Objekt
/ ho¯/
z. B. Paket, Schachtel
Ein weiteres Charakteristikum der südostasiatischen Sprachen ist die Unterscheidung von Kategorien der sozialen Statusdifferenzierung, d. h. verschiedener Grade höflicher Sprache. Das betreffende Kategoriensystem strukturiert das Nominal-, Pronominal- und Verbalsystem, differenziert die Syntax und verursacht lexikalische Variation. Ein Beispiel für soziale Statusdifferenzierung in einem Zusammenhang, wo ein Europäer dies nicht erwartet, ist die Varianz des Pronomens ‘ich’ im Khmer: Äquivalent im Khmer
Deiktische Varianz des Grundsozialen Status funktion
/khMom/
‘ich’
historische Bezeichnung für den Haussklaven; gebraucht gegenüber Außenstehenden
/khMomkaruna:/
‘ich’
sehr höflich, insbesondere gegenüber Mönchen
/khMomba:t/
‘ich’
nur von Mönchen gebraucht
khMommcah/
‘ich’
gegenüber sozial Höherstehenden, besonders von Frauen gebraucht
/aM/
‘ich’
familiäre Sprache; vom Älteren gegenüber dem Jüngeren
/kni:e/
‘ich’
Ausdruck der Zugehörigkeit einer Person zu einer Gemeinschaft
/je:U khMom/
‘ich’
offizieller Sprachgebrauch; gebraucht, wenn eine
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens Person als Repräsentant auftritt /khlu:en khMom/
‘ich’
Ausdruck der Individualität ohne Gruppenbindung (‘ich selbst’)
Entsprechend der komplexen Strukturierung höflicher Sprache ist auch das System der Anredeformen in Hinblick auf familiäre und respektuelle Kategorien differenzierter als vergleichsweise in westeuropäischen Sprachen. Im Vietnamesischen zum Beispiel sind folgende Anredeformen in der Alltagssprache gebräuchlich: con ⫺ Anrede für ein Kind von den Eltern und Großeltern; diese Form der Anrede bleibt für dieselbe Person auch im Erwachsenenstadium in Gebrauch; co ⫺ Anrede für ein Mädchen und eine unverheiratete Frau; chi ⫺ Anrede für eine Frau ab 30 (auch unter Geschwistern verwendet); ba ⫺ Anrede für eine Frau ab 50, außerdem ein weiblicher Ehrentitel (z. B. für die vietnamesischen Freiheitskämpferinnen, die Ba Trung, die im 1. Jahrhundert n. Chr. gegen die chinesische Fremdherrschaft rebellierten); ong ⫺ Anrede für einen Mann ab 50, außerdem ein männlicher Ehrentitel; em ⫺ Anrede für die jüngeren Geschwister durch die älteren; anh ⫺ Anrede für die älteren Geschwister durch die jüngeren.
Im System der vietnamesischen Anredeformen werden deutlich Kategorien des weiblichen und männlichen Sozialstatus (vgl. die Kodierung von Unterschieden im Sozialstatus durch Körperbewegungen in Afrika: Art. 91 § 4.1.) unterschieden. Dies ist typisch für die südostasiatischen Sprachen, in deren grammatischen und lexikalischen Strukturen sich die sprachliche Differenzierung des Sozialstatus ganz allgemein zur Dualität von Frauen- und Männersprache erweitert (z. B. Khmer /cah/ ‘ja’ in der Frauensprache versus /ba:t/ ‘ja’ in der Männersprache).
3.
Strukturelle und visuelle Aspekte des Repertoires sprachlicher Zeichen
3.1. Die Weltsicht der Völker Südostasiens war animistisch geprägt, bevor mit den großen Kulturdrifts das Gedankengut der Hochreligionen und damit assoziierte Lebensauffassungen aus Indien und China kamen (vgl. Art. 93 § 4.4.). Die Einbindung der Inter-
1935
aktion in die schicksalhafte Ausdeutung des von guten und bösen Geistern bestimmten Kulturmilieus ist in der alten einheimischen Terminologie der Lebensdeutung erhalten geblieben und noch heute ⫺ zusammen mit animistischen Riten ⫺ in Gebrauch. Das Khmer kennt beispielsweise folgende Ausdrücke, die sich aus den animistischen Traditionen herleiten: /baUciek/ ‘erklären; verdeutlichen; nachweisen; festlegen’; /bankak/ ‘Glück bringen’; ältere Bedeutung: ‘wunscherfüllende Kräfte verleihen, segnen’ (z. B. durch eine rituelle Waschung oder das Schneiden der Haare); /te:ey/ ‘vorhersagen, wahrsagen’, /bo:l/ ‘prophezeien’; /praphno:l/ ‘Vorzeichen’. Die indische Kulturdrift brachte eine andere Weltsicht insbesondere buddhistischer Prägung. Die Lebensdeutung bekam einen neuen Rahmen, wobei sich jedoch die alten Vorstellungen (s. o.) nicht überlebten, sondern als Facette der einheimischen Kultur weiter tradiert wurden. Die Welt des Buddhismus hat sich auch sprachlich verankert, indem die einheimische Terminologie erweitert wurde. Die folgenden Basisausdrücke des Khmer spiegeln diese Erweiterung wider: /nimit/ (⬍ Pali) ‘(sichtbares) Zeichen; Vorzeichen, Omen; Erscheinung, Bild’, sekundär auch ‘Grund, Ursache’ (also ein Vorzeichen als Ursache einer Entwicklung), davon abgeleitet /nimitaru:p/ ‘Symbol (in abstrakter Bedeutung)’, /nimitaha:et/ ‘Symptom’; /neø :em/ (⬍ Sanskrit) ‘Name; Benennung, Bezeichnung; Wort (auch grammatisches Nomen)’; /nikhcandasah/ (⬍ Sanskrit) ‘Semantik’. Die symbiotische Verflechtung alter und neuer Vorstellungen zeigt sich im gleichen Funktionsbereich. Im Khmer beispielsweise gibt es die Ausdrücke /ci:/ und /keø :etha:/, die beide ‘Amulett’ bedeuten. /ci:/ ist ein einheimischer Ausdruck und bezeichnet ein von Kindern getragenes Metallplättchen, das manchmal mit Edelsteinen besetzt ist. /keø :etha:/ stammt aus der Welt der Schriftlichkeit, es ist ein Amulett aus Gold oder Silber, das mit religiösen Sprüchen beschriftet ist (siehe auch die Bedeutungsdifferenzierung von eigenen und fremden Bezeichnungen für Gleichartiges im Japanischen: vgl. Art. 95 und Ikegami 1986). Spätestens mit der Verbreitung buddhistischer Schriften in Sanskrit, Pali und Chinesisch stand die Entwicklung der Gelehrsamkeit der südostasiatischen Regionalkulturen in Abhängigkeit von der Schrifttradition der großen Kultursprachen. Nicht nur die Adap-
1936
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
tation indischer Alphabete in Burma, Thailand, Kampuchea und Laos oder die Annahme der chinesischen Schrift in Vietnam, sondern auch die gleichgerichtete Ausbildung des Kulturwortschatzes in den Regionalsprachen sind ein konkreter Ausdruck dieses Trends zu kultureller Konvergenz in Indochina. Die lexikalischen Strukturen der Sprachen Südostasiens sind seit zwei Jahrtausenden vom Chinesischen und von den Sprachen des Buddhismus (Sanskrit, Pali) beeinflußt worden. Die Welt der indischen Schriftlichkeit hat nachhaltige Spuren in den Kulturen Südostasiens hinterlassen. Die kulturellen Innovationen drückten sich unter anderem in der terminologischen Ausformung von Erfahrungen aus, die entweder für die Einheimischen vorher ganz unbekannt oder sehr begrenzt waren. Im Bereich der Informationsverarbeitung beispielsweise gab es vor der Zeit der Schriftlichkeit nur ein rudimentäres System von Kerbzeichen (vgl. auch die Funktion der Runen in Europa: Art. 37 § 3.1. sowie der schriftähnlichen Notationsmittel in Altamerika: Art. 99 §§ 2.4.1. und 2.4.2.). Die alte Tradition hat sich im Ausdruck des Khmer für ‘Kerbholz’, /khnac/, erhalten. Die Adaptation der Schriftlichkeit brachte eine Fülle von Erweiterungen des Zeichengebrauchs und seiner visuellen Kodierung. Die folgenden Ausdrücke aus dem Khmer illustrieren diesen Sachverhalt: /kat/ (⬍ Pali) ‘schriftlich festhalten’, /kcantha/ (⬍ Pali) ‘Buch’, /kumpi:/ (⬍ Pali) ‘heiliger Traktat‘, /ncpcn/ (⬍ Pali) ‘Ziffer’, /banci:/ (⬍ Sanskrit) ‘Liste’, /chan/ (⬍ Sanskrit) ‘Poesie, Vers’, /bat/ (⬍ Sanskrit) ‘Text’. Darunter sind auch solche Wörter, die im heutigen Sprachgebrauch wegen ihrer breiten Bedeutungspalette eine hohe Frequenz haben; z. B.: /ban/ (⬍ Pali) ‘Zettel, Schein; Bon, Ticket; Karte; Ausweis’. Von /ban/ sind viele Ableitungen gebildet worden, die alles bezeichnen, was wie eine Karte oder ein Schein aussieht (z. B. Kassenzettel, Postkarte, Speisekarte, Fahrschein). Die Beeinflussung durch die Sprachen Indiens und/oder das Chinesische hat sich sehr unterschiedlich ausgewirkt. In manchen Bereichen wurde der einheimische Wortschatz überformt und ersetzt (s. u.), in anderen Bereichen blieben alte lexikalische Elemente erhalten, wobei Neologismen bestimmte Bezeichnungsfunktionen von diesen übernahmen. Auf diese Weise bildete sich im Zuge der terminologischen Innovationen eine viel-
schichtige Synonymik heraus. Ein Beispiel hierfür ist die Dualität der Grundzahlwörter im Khmer. Neben der einheimischen Reihe gibt es eine solche, deren Bezeichnungen aus dem Sanskrit und Pali entlehnt sind. Die letzteren Zahlwörter sind auf ihre Verwendung im Zusammenhang mit buddhistischen Texten oder Gebeten festgelegt; vgl.: Einheimisches Zahlwert Zahlwort
Entlehntes Zahlwort
/pi:/ /bei/ /bu:en/ /pram/
‘zwei’ ‘drei’ ‘vier’ ‘fünf’
/pram mu:ej/
‘sechs’ (wörtl. ‘5 ⫹ 1’)
/to:u/ (⬍ Sanskrit) /teka/ (⬍ Pali) /cato/ (⬍ Pali) /pan(ca)/ (⬍ Sanskrit) /cha:/ (⬍ Sanskrit)
usw.
Während der europäischen Kolonialzeit wurde die Welt der Zeichen erneut erweitert, und zwar durch einige spezifisch profane Zeichentypen. Das moderne Verkehrswesen wurde von den Franzosen und Briten organisiert, und die Terminologie der einheimischen Sprachen paßte sich den importierten Innovationen an; z. B. Khmer (/sanal/ ‘Verkehrszeichen’ (⬍ franz. signal). Auch die europäische Schriftlichkeit brachte Gepflogenheiten mit sich, wobei die Handlungsformen ebenso wie die Ausdrucksweisen adaptiert wurden; z. B. Khmer (si:ne:/ ‘unterschreiben, unterzeichnen; signieren’ (⬍ franz. signer), /si:na:tu:o/ ‘Unterschrift, Signatur’ (⬍ franz. signature). Die Sprachen Südostasiens waren seit jeher dem Wirkungsradius lokaler und überregionaler Faktoren ausgesetzt, die ihre Strukturen und ihre Zeichenrepertoires gestaltet haben. Aus dem dynamischen Zusammenwirken sprachökologischer Faktoren können die unterschiedlichsten Muster entstehen. Obwohl sich Sprache sowohl aufgrund evolutiver Fortentwicklung als auch durch Fremdeinwirkung beständig wandelt, gibt es dennoch solche Bereiche, die lange Bestand haben und von einem Entwicklungsstadium zum nächsten tradiert werden. Solche Bereiche sind nicht „präkulturell“ festgelegt, sondern jeweils kulturspezifisch eingebettet. Gleichsam fossile Elemente der kulturellen Kontinuität in Südostasien sind die einheimischen Bestandteile im Wortschatz der modernen Sprachen, in denen sich die alte Terminologie der frühen Agrargesellschaft erhalten hat. Die zentralen Termini des traditionellen Ackerbaus sind im Khmer, Thai oder Burme-
1937
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens Tab. 97.5: Bezeichnungsdubletten für die Himmelsrichtungen im Thai Umgangssprache
Schriftsprache ⬍
Süden
/ta`ai/
/thak sı´n/
Osten
/ta van ook/
⬎ ⬎
Südosten
/ta van ook tsˇ´ıang ta`ai/
Nordosten
/ta van ook tsˇ´ıang ny´ä/
Südwesten Nordwesten
⬎
⬎
/ta van tok tsˇ´ıang ta´ai/ ⬎
/ta van tok tsˇ´ıang ny´ä/ ⬎
/buu ra paa/ /aa kha nee/ /i sa´an/ /ho´o ra dii/ /paa jap/
Westen
/ta van tok/
/pra dsim/
Norden
/ny´ä/
/u doon/
sischen autochthon, d. h. nicht indisch oder chinesisch beeinflußt. Von den durch die Sprachen des Buddhismus bewirkten Umstrukturierungen des Lexikons (s. u.) abgesehen, traten auch interne Wandlungen im Zeichenrepertoire ein. Ein Beispiel dafür sind die Benennungen der Himmelsrichtungen im Thai (Tab. 97.5). Die lokale Orientierung war ursprünglich sehr differenziert. Es wurden acht Hauptrichtungen unterschieden, die jeweils durch spezifische Termini benannt waren. Eine Vergleichssprache, in deren lexikalischen Strukturen eine solche hochgradige Differenzierung ebenfalls aufscheint, ist das Finnische. Das komplexe Bezeichnungsraster des Thai wird noch in der Schriftsprache aufrecht erhalten. Im mündlichen Sprachgebrauch der Thailänder dagegen hat sich bereits früher eine Tendenz zur Vereinfachung des Zeichenspektrums durchgesetzt, wonach nurmehr vier Hauptrichtungen unterschieden werden. Die Nebenrichtungen werden jeweils durch Zeichenkombinationen (z. B. Norden : Osten ‘Nord-Ost’) benannt. 3.2. Aufgrund der langen Kontakte mit China ist der chinesische Spracheinfluß im Vietnamesischen ⫺ verglichen mit anderen südostasiatischen Sprachen (vgl. allerdings das Koreanische: Art. 94 § 2.) ⫺ am stärksten. Die Kontakte der Vietnamesen zu den Chinesen gehen auf das 3. Jahrhundert v. Chr. zurück. Im Zuge der militärischen Expansion des Reichs der Mitte gelangte ein chinesischer General, Chao To (vietnam. Trieu Da), mit seinen Truppenkontingenten in das Tal des Roten Flusses. Nach erfolgreichen Kämpfen gegen die Viet- und Thay-Stämme nutzte
⬎
Chao To die politische Schwäche der QinDynastie und gründete das unabhängige Königreich Nam Viet (208⫺111 v. Chr.). Hierzu gehörten die südchinesischen Provinzen Quangdong und Quangxi, das Delta des Roten Flusses und die Provinzen Thanh Hoa und Nghe Tinh in Nordvietnam. Chao To versuchte nicht, chinesische Kultur in Nordvietnam zu verbreiten, sondern es heißt, er habe selbst vietnamesische Traditionen angenommen (Wulf 1991, 48). Nach der Annexion Nordvietnams durch Han-China (111 v. Chr.) waren jedoch alle höheren Kulturfunktionen an das Chinesische, insbesondere an seine geschriebene Form, gebunden. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß das moderne Vietnamesisch ohne die chinesische (sino-vietnamesische) Komponente seines Wortschatzes nicht funktionsfähig wäre, und dies ungeachtet der Anstrengungen, die von den Vertretern der nationalen Sprachplanung gemacht worden sind, die ältere chinesische Terminologie durch vietnamesische Neologismen zu ersetzen (vgl. §§ 6. und 8.). Bis in die Zeit der französischen Kolonialherrschaft blieb das Chinesische das wichtigste Medium terminologischer Innovationen im Vietnamesischen. Damals war selbst die Rolle der französischen Sprache sekundär (DeFrancis 1977, 247). Mit Bezug auf das gesamte Korpus des vietnamesischen Lexikons hat man den Anteil chinesischer Wörter auf rund ein Drittel geschätzt (Nguyen Van Huyen 1944, 250). Der Anteil chinesischer Elemente an vietnamesischen Texten steht in Abhängigkeit zu deren Funktion und Stilebene. In formalen Sprachfunktionen kann der Wortschatz chinesischer Herkunft bis zu sechzig Prozent ausmachen (Nguyen Dinh Hoa 1961, 15).
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Entsprechend seinen historischen Funktionen manifestiert sich der chinesische Einfluß nicht nur im Wortschatz der Alltagssprache, sondern insbesondere auch in vielen fachterminologischen Bereichen (z. B. soziale Verhältnisse, ethisch-moralische Terminologie, Philosophie, politischer Wortschatz). Bis in die jüngste Zeit gab es auch eine ausgedehnte moderne technische Nomenklatur auf der Basis sino-vietnamesischer Elemente (z. B. der heute veraltete Ausdruck für ,Flugzeug‘, phi co). Auch in den anderen Sprachen Indochinas, im Laotischen, Khmer und Thai, ist der chinesische Spracheinfluß nicht unbedeutend gewesen. Interkulturelle Kontakte zwischen den Thai und Chinesen gab es bis ins 13. Jahrhundert, als die Truppen Kublai Khans das thailändische Königreich in Yünnan zerstörten. Der mongolisch-chinesische Einfluß wurde auch im entfernten Burma spürbar, erschöpfte sich aber in gelegentlichen Kriegszügen. Allerdings ist das Ausmaß der Beeinflussung nicht mit den Verhältnissen im Vietnamesischen vergleichbar. Beispiele für chinesische Lehnwörter im Khmer sind /cek/ ‘Onkel (jüngerer Bruder des Vaters)’ ⫺ was auch als Anrede an persönlich bekannte Personen chinesischer Nationalität verwendet wird ⫺, /sa:e/ ‘Familienname’, /ta:e/ ‘Tee’, /kha:o/ ‘Hose’, /pa:y/ ‘grüßen’, /tha:ovka:e/ ‘Ladenbesitzer’ oder /li:/ ‘Millimeter’. Die Sprache der Mon in Südburma ist wahrscheinlich am frühesten mit den Sprachen Indiens, insbesondere mit dem Sanskrit und Pali, in Berührung gekommen. Es wird angenommen, daß solche Kontakte bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. einsetzten und im Zusammenhang mit der buddhistischen Mission nach Suvannabhumi stehen, die von König Asoka (Regierungszeit: 272⫺231 v. Chr.), dem bedeutendsten Herrscher der indischen Maurya-Dynastie, initiiert wurde (U Tin Htway 1983, 371). Die Mon beeinflußten die Kultur der Burmesen, die erst im Verlauf des 9. Jahrhunderts n. Chr. in ihrer neuen Heimat seßhaft wurden. Die ältesten Elemente des Kultursuperstrats im burmesischen Wortschatz, die Entlehnungen indischer Herkunft, sind vielleicht vom Mon vermittelt worden. Seit dem Mittelalter sind Tausende von Lehnwörtern aus dem Sanskrit und Pali in den Wortschatz des Burmesischen, wie auch in andere Sprachen Indochinas, übernommen worden. Nach ihrer Semantik gehören diese Entlehnungen zu den verschiedensten Bereichen, vom Religiösen
über die sozialen Verhältnisse bis hin zur modernen Technik (z. B. burmes. /sattva/ ‘Person’ ⬍ Sanskrit /sattva/, /samuddara/ ‘Meer’ ⬍ Sanskrit /samudra/, /yantara/ ‘Maschine’ ⬍ Sanskrit /yantra/). Auch die Elemente des Pali, das dem Burmesischen seit Jahrhunderten Lehnwörter vermittelt hat (z. B. burmes. /ratana/ ‘irgendetwas Wertvolles’ ⬍ Pali /ratana/, /loka/ ‘Menschheit; Universum’ ⬍ Pali /loka/, /suriya/ ‘Sonne’ ⬍ Pali /suriya/), sind bis in den modernen Wortschatz tradiert worden (zu ähnlichen Tendenzen in den Sprachen Indonesiens vgl. Art. 96 § 4.1.). Die Adstrat- und Superstrateinflüsse der Kultursprachen haben zu einer prestigebedingten Überformung ganzer Bezeichnungsinventare geführt, so daß die ursprünglichen Strukturen des Erbwortschatzes teilweise nurmehr fragmentarisch erhalten sind. Als Beispiel für die vielfältigen, vom Einfluß der Kultursprachen bedingten Phänomene von Überlagerung und Synonymie sei auf die Strukturierung des Grundwortschatzes im Khmer hingewiesen (vgl. Haarmann 1991, 234 ff). Von den insgesamt hundert dort ausgewählten Begriffen (nach Swadesh 1971, 283) werden sechzig mit Hilfe von Lehnwörtern bezeichnet. Die meisten Entlehnungen (entsprechend 44 Positionen im Inventar) stammen aus dem Sanskrit. Bezogen auf das Inventar an Bezeichnungen für Grundbegriffe, die von den Vertretern der Glottochronologie irrtümlich als „präkulturell“ aufgefaßt werden (vgl. Haarmann 1990 b zur Kritik am glottochronologischen Kategoriensystem), zeigt sich exemplarisch der hohe Grad an Akkulturation im Khmer, dessen Strukturen noch stärker von Fremdelementen geprägt sind als vergleichsweise die des Englischen. Zum Kulturwortschatz einiger Sprachen Indochinas gehören auch arabische Elemente. Lange bevor sich der Islam bis nach Südostasien ausbreitete, wo er sich nachhaltig in Malaysia und Indonesien auswirkte, waren arabische Kaufleute an den Küsten entlanggesegelt und hatten, wie später die europäischen Seefahrer, Handelsstützpunkte angelegt. Eine eigentliche kulturelle und sprachliche Beeinflussung setzte aber erst mit der islamischen (vgl. Art. 90) Missionsbewegung ein. Dies betrifft in erster Linie die malaiische Bevölkerung und ihre Sprache im Süden des Festlands und die Indonesier im Inselarchipel (vgl. auch Art. 96 § 5.). Auch in die Sprachen des Festlandes, die von Nicht-Muslimen gesprochen werden, sind arabische Entlehnun-
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
gen übernommen worden, und zwar hauptsächlich als Folge der Handelsbeziehungen (z. B. burmes. /a rak/ ‘hochprozentiger Alkohol’ ⬍ arab. /arak/, /ka lon/ ‘Schreibstift’ ⬍ arab. /kalam/, /kappali/ ‘Farbiger’ ⬍ arab. /kafir/ ‘heidnischer Neger’). Verglichen mit der Langzeitbeeinflussung der südostasiatischen Sprachen durch das Chinesische und die indischen Sprachen nimmt sich die Ausstrahlung der ersteren auf Sprachen außerhalb Indochinas minimal aus. Allerdings haben einige Kulturwörter ihren Weg nach Indien und sogar Europa genommen. Ein Beispiel dafür ist die Bezeichnung für das Gewürz, das im Deutschen mit Ingwer bezeichnet wird (vgl. Haarmann 1991, 223 f). Der Ursprung dieses Wortes, das über die Vermittlung dravidischer und indischer Sprachen ins Altgriechische (/dzingı´bheris/) übernommen wurde, ist in Protoformen südostasiatischer Sprachen zu suchen (Ross 1958, 148): burmes. /khyan/ (gesprochen: [dzˇin]), Thai /khin´/, Khmer /khn˜i/, vietnam. gu`’ng usw. Auch der Ausdruck für Zimt, der dem Altgriechischen (/kı´nnamon/) über das Phönizische vermittelt wurde, stammt vermutlich aus Südostasien. Ungeklärt ist, ob die lexikalischen Affiliationen dieses Kulturwortes auf das Malaiische zurückgehen (Hofmann 1966, 144). 3.3. Die Verbreitung der religiösen Lehren Indiens brachte es mit sich, daß die einheimische Bevölkerung im westlichen Indochina seit dem Beginn unserer Zeitrechnung mit der Schriftlichkeit durch die hinduistischen und buddhistischen Texte vertraut wurde. In diesen Regionen Indochinas dominierten von Anbeginn indische Schriftsysteme, und zwar Varianten der älteren Brahmi-Schrift (vgl. Art. 92 § 1.3.). Der Westen Indochinas wurde auf diese Weise nicht nur mit dem alphabetischen Prinzip der Schreibung bekannt gemacht, sondern aufgrund der kulturellen Entwicklung auch darauf festgelegt. Als man in Indochina zu schreiben anfing, bedeutete dies keinen bewußten Bruch mit der oralen Tradition der Mythen, Märchen und mündlich überlieferten rituellen Texte früherer Zeit. Ganz im Gegenteil: das verbale Memorieren von Ritualtexten und Gebeten wurde weiterhin hoch geschätzt und zusätzlich durch den Einfluß der buddhistischen Klöster gefördert. Dem gesprochenen Wort wird noch heute ebenso vertraut wie dem geschriebenen (vgl. das Verhältnis von mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch im arabi-
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schen Kulturkreis: Art. 90 § 3.). Reflektionen dieser Ambivalenz von verbalem und visuellem Memorieren finden sich im sprachlichen Bezeichnungsinventar; z. B. Khmer /peø :ek/ (⬍ Sanskrit) 1. ‘Wort; Ausdruck; Terminus; Rede’; 2. ‘(kurzes) Schreiben, (kurzer) Brief’; /pheø :eviene:e/ (⬍ Pali) 1. ‘Meditation, Betrachtung, Nachdenken’; 2. ‘Auswendiglernen; (lautloses) Aufsagen (religiöser Texte)’. Die aus Indien importierte Alphabetschrift geht auf eine Grundform zurück, die BrahmiSchrift. Deren mittelalterliche Adaptationen in Indochina faßt man unter der Sammelbezeichnung „Pali-Schriften“ zusammen. Vom Standpunkt ihrer chronologischen Einordnung sind die regionalen Schriftvarianten indischer Herkunft in Südostasien im Verlauf des Hoch- und Spätmittelalters entstanden. Dies bedeutet, daß die Periode der Nationalisierung der Schriftsysteme im Westen (Thailand usw.) in etwa gleichzeitig mit der NomTradition im Osten (Vietnam) Indochinas einsetzt (s. u.), und zwar im Verlauf des 11. bis 13. Jahrhunderts. In den meisten Staaten des südostasiatischen Festlandes werden bis heute Adaptationen der älteren Pali-Schrift verwendet (vgl. Haarmann 1990 a, 534 f). Während in Nordvietnam keine der indischen Schriften jemals mit der chinesischen Schrift oder dem lateinischen Alphabet zur Schreibung des Vietnamesischen rivalisiert hat, waren im Süden des Landes indische Schriften in Gebrauch. Aus dem Frühmittelalter stammen Sanskrit-Inschriften. Die Cham (bzw. Lin Yi), die seit den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im südöstlichen Indochina verschiedene Reiche gründeten (Reich der Lin Yi, ca. 1.⫺6. Jh.; Reich Amaravati, 4.⫺10. Jh.; Reich Panduranga, 8. Jh.⫺1693; Reich Vijaya, ca. 1000⫺1471), waren in Kunst, Religion und Schrifttradition stark indisch beeinflußt (Wulf 1991, 261 ff). Die Cham sind ein austroasiatisches Volk, das eine malaiische Sprache spricht. In den historischen Reichen Champa wurde eine indische Alphabetvariante verwendet, die in Steininschriften und in späten Manuskripten erhalten ist. Noch heute wird diese südindische Schriftvariante von den Cham verwendet. In Südvietnam ist auch die thailändische Schriftvariante zur Schreibung der Sprache der Thai-Minderheit bis heute in Gebrauch (DeFrancis 1977, 252; vgl. auch Art. 96 § 5.). Einen regional geprägten Schreibstil findet man schon in den Sanskrit-Inschriften Kampucheas (z. B. aus Phra-Pathom) aus dem 8. Jahrhundert. Damals bereits stand das alte
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Reich der Khmer in kultureller Blüte, in Religion und Kunst beeinflußt vom Hinduismus. Zentrum war seit dem 9. Jahrhundert Angkor, wobei die politische Verwaltung des Reiches von Angkorthomin ausging, die religiöse Ausstrahlung vom Kultzentrum Angkor Wat, das später buddhistisch wurde. Die älteste Schriftvariante zur Aufzeichnung buddhistischer Texte in Pali ist die /kyok tsˇa/ genannte ‘Steinschrift’ aus Burma, deren älteste Inschrift auf dem Pfeiler von Myazedi (zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts) überliefert ist. Kursive Varianten im mittelalterlichen Burma waren die Bücherschrift und die /tsa lonh/ genannte ‘Rundschrift’, die auf Palmblättern eingeritzt wurde. Eine ebenfalls alte Abzweigung ist das peguanische Alphabet zur Schreibung der Sprache der Mon in Südburma (altpeguanische Schrift). Die alte Schrift Thailands (überliefert unter anderem im Boromat-Manuskript und im Patimokkha-Manuskript), deren Einführung auf König Ram Kamheng aus Sukhothai (älteste Inschrift auf einer Stele von 1292) zurückgeht, ist von dem älteren Schriftstil der /kyok tsˇa/ abgeleitet. In engem Zusammenhang mit der mittelalterlichen Schrift Thailands stehen die Schriftvarianten von Laos und Kampuchea. Die /aksar mul/ genannte Schrift wurde in Kampuchea zur Schreibung des Pali verwendet, die Kursivform (/aksar cˇrieng/) dient zur Schreibung des Khmer. Die modernen Schriftvarianten in Burma, Thailand, Kampuchea und Laos weichen von ihren mittelalterlichen Vorläufern ab, indem sie sich den lauthistorischen Veränderungen der Landessprachen angepaßt haben.
durch deistische Konzepte ersetzt, die sich als historisches Kulturmuster in polytheistischer Form (z. B. antikes Griechenland) oder in monotheistischer Form (z. B. historischer Judaismus) festigen. Das Postulat, der Animismus sei charakteristisch für traditionelle Kulturen, trifft zwar zu, nicht aber die Schlußfolgerung, der Geisterglaube würde sich in einer agrarischen Gesellschaft überleben. Die Mosaikkulturen Südostasiens sind ein illustratives Beispiel dafür, daß animistische Traditionen nicht nur in der Privatsphäre, sondern als öffentlicher Kult bis ins elektronische Zeitalter vital geblieben sind (vgl. Parallelen in China: Art. 93 §§ 5. und 6., sowie in Japan: Art. 95 § 3.). Die Sensibilität, mit der die Menschen Südostasiens Vorstellungen vom Übernatürlichen in ihre Lebenserfahrungen und -erwartungen hineinprojizieren, hat ihre Mentalität schon seit langer Zeit geprägt. Im interkulturellen Kontakt haben sich vielerorts ethnische Stereotypen gefestigt, deren Pauschalwertungen in eben dieser Vorstellungswelt wurzeln. Auf der malaiischen Halbinsel sind Stereotypen, die aus einer magisch-mythischen Zeit stammen, noch heute in Anspielungen erhalten. Als die Malaien in ihre heutigen Siedlungsgebiete einwanderten, trafen sie dort auf die von ihnen „Orang Asli“ ‘ursprüngliche (⫽ einheimische) Menschen‘ genannten Ureinwohner. Die Fremdheit der Dschungelbewohner, besonders der negrid-australiden Bevölkerung (Semang), erschreckte die Malaien, die an den Flußläufen siedelten, und den „wilden Ungeheuern des Waldes“ wurden allerlei übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen. Angeblich kämen sie aus der Erde, könnten durch magische Riten Menschen verzaubern, die Macht des Tigers bändigen und sich sogar in einen solchen verwandeln (Rolf 1989, 25 f). Später wurden die „übernatürlichen“ Fabelwesen, da sie keine Muslime waren, von den Malaien als „ungläubige Primitive“ angesehen und entsprechend behandelt. Rassistische Vorurteile sind bis heute verbreitet. In prähistorischer Zeit sind animistische Vorstellungen der einzige Ausdruck der Weltanschauung bei den Völkern Südostasiens gewesen. Der Glaube an das Wirken von Natur- und Totengeistern gehört zu den kulturellen Konvergenzen im südostasiatischen Großraum. Trotz der intensiven Einflußnahme indischer Religionen (Hinduismus, Buddhismus u. a.; vgl. Art. 92 § 1. und Art. 95 § 3.) sowie chinesischer Traditionen (Kon-
4.
Elemente kultureller Kontinuität: die animistische Tradition
4.1. Von seiten der Religionsgeschichte und der Anthropologie wird immer wieder behauptet, animistische Traditionen mit ihrer vom Wirken magischer Kräfte dominierten Vorstellungswelt seien ein Charakteristikum ausschließlich traditioneller Gemeinschaften, speziell in Jägerkulturen, und somit Ausdruck des Religiösen bei schriftlosen Völkern (Heiler 1982, 49 f). Dieser älteren Auffassung zufolge wird mit dem Übergang zu einer höheren sozialen Evolutionsstufe (z. B. Entwicklung zu agrarischen Gesellschaftsformen) der Animismus (d. h. Glaubensvorstellungen vom Wirken guter und böser Geister)
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
fuzianismus, Taoismus u. a.; vgl. Art. 93 §§ 4. und 5.) hat sich die einheimische Religiosität ungebrochen als wichtiges Strukturelement durch alle Epochen gesellschaftlichen Wandels hindurch erhalten. Wesentlich verzweigter als in den entwickelten Religionen ist das Netz visueller Sinnträger im Animismus. In einer magisch-mystisch orientierten Welt verschwimmen die Grenzen zwischen dem Diesseits und Jenseits, und es baut sich in der Vorstellungswelt der Menschen kein Widerspruch auf zwischen den Wirkungsbereichen natürlicher und übersinnlicher Kräfte. Geister und Ahnen greifen direkt in den Lebensrhythmus der Menschen ein (vgl. Art. 32 § 5. ebenso wie Art. 99 § 5.). 4.2. Deren wirkende Präsenz deutet man aus im schicksalbestimmten Weg des Individuums, und dessen Interaktion mit den übersinnlichen Mächten drückt sich in ritualistischen Handlungen aus. Die Kommunikation (im eigentlichen Sinn des Wortes!) zwischen Geistern und Menschen läuft über das Medium visueller Sinnträger. Dies können Objekte sein wie ein heiliger Baum oder Berg (s. u.), in denen die Präsenz eines Geistes angenommen wird, oder Artefakte, in die diese Funktion hineinprojiziert wird. Ein Beispiel dafür sind die Steinsetzungen der Megalithkultur in Südostasien, die Menhire, von denen die meisten in Malaya zu finden sind, und zwar in der Region von Alor Gajah und Tampin (nördlich von Malakka) sowie in der Umgebung von Kuala Pilah (östlich von Seremban). Die Bewohner der Gegend, und zwar sowohl die christlichen Kadazan als auch die islamischen Bajau, betrachten diese Menhire als Verkörperungen ihrer Ahnen und verehren sie als Heiligtum (mal. keramat). Die Großsteinsetzungen von Malaya stammen aus vorislamischer Zeit. In einer langen Periode vom Neolithikum bis ins Mittelalter sind solche Steine gesetzt worden. In Ost-Malaysia (Ost-Sarawak, Mount Murud) wurden von den dort lebenden Kelabit noch in den fünfziger Jahren Großsteine gesetzt. Die Steine sind nicht behauen, sondern nach natürlichen Formen ausgewählt. Es bleibt spekulativ, ob die hohen, langgestreckten Steine männliche Ahnen, rundliche Steine weibliche Ahnen verkörpern sollen (Rolf 1989, 21 f). Auch im Süden Vietnams gibt es Zeugen der Megalithkultur. In der Zeit vor der Infiltration der Vietnamesen nach Süden waren die Menhire im Siedlungsgebiet der Cham
1941
(von ihnen /kut/ genannt) wichtige Symbole im Ahnenkult. Während es in Malaya nur wenige behauene und reliefierte Großsteine gibt, ist bei den Menhiren Südvietnams im oberen Teil häufig ein Gesichtsprofil ausgemeißelt, bildhafter Ausdruck der Ahnenpräsenz. Die Ahnen waren mehr als nur Vorfahren im chronologischen Sinn, sie hatten den lokalen Klan gegründet und beschützten ihn. In der Verehrung der Kut-Steine kristallisierten sich alte Vorstellungen vom Gottkönigtum, und im Material der Steinstelen manifestierte sich symbolisch damit auch die Ewigkeit dieser Beziehung. Zur Ahnenverehrung in anderen Kulturen vgl. Art. 32 § 5.1., Art. 36 § 5.2., Art. 37 § 3.1., Art. 38 § 2., Art. 47 § 2.5., Art. 89 § 4.1., Art. 91 § 4.3., Art. 93 § 6.3.2., Art. 94 § 2., Art. 95 § 3. und Art. 98 § 2.; s. u. § 4.5. Die frühe, animistisch geprägte Agrargesellschaft Südostasiens kennt nicht den Besitzanspruch der seßhaften Ackerbauern anderer Kulturen auf den von ihnen bearbeiteten Boden. Typisch südostasiatisch ist die Sitte des „heimlichen“ Pflügens, die im indischen Kulturkreis unbekannt ist. Weitere Handlungsmuster tragen diesem Fehlen eines Bodenrechts Rechnung. Nach der Vorstellung der Cham gehört alles Land den Göttern, und daher darf der Mensch diese nicht dadurch erzürnen, daß er sich wie ein Bodenbesitzer geriert. Gleichsam als ritualistische Bestätigung des Nichtbesitzens wird der eigene Acker heimlich, d. h. ohne Wissen des besitznegierenden Besitzers, vom Nachbarn gepflügt, dessen Bindung an den bestellten Boden damit ebenso intensiv ist. Intensive Nachbarschaftsbeziehungen und ein enger Zusammenhalt des Gemeinwesens im Klanverband sind die Konsequenz dieser animistischen Vorstellungswelt. Bei den Cham ist auch der Kult einer Erdund Muttergöttin verbreitet, die „Uroja“ (wörtl. ‘Mutterbrust’) genannt wird. Die Mutterbrust ist ein beliebtes dekoratives Element, und dieses Motiv fungiert auch auf Amuletten. In der Rolle der Erschafferin der Welt heißt die Muttergöttin auch „Yan Pu Nagara“ (bzw. „Po Nagar“), und ihre Erscheinungsform ist die Schlange (/naga/). In der südvietnamesischen Provinzstadt Nha Trang wird die Schlangengöttin, die lokale Herrin des Hochplateaus und der Berge, von Cham und Vietnamesen in einem eigenen Heiligtum verehrt (Wulf 1991, 270). 4.3. In südostasiatischen Kulturen findet man bis heute Ausdrucksformen von ursprüngli-
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Abb. 97.1: Ein junger Burmese mit einer Geistertätowierung.
chem und entwickeltem Animismus. In der Animismus-Forschung ist eine solche begriffliche Kategorisierung nicht üblich, im Fall Südostasiens jedoch sinnvoll. Ursprüngliche animistische Ausdrucksformen sind solche, wie sie auch in den archaischen Jägerkulturen Eurasiens verbreitet sind (Serov 1988). Hierzu gehören Kulte lokaler Geister, deren Wirken autoritativ undifferenziert ist (z. B. in der Vorstellungswelt der Karen in Burma und Thailand). Im entwickelten Animismus bildet sich eine Geisterhierarchie heraus, wobei sich das Autoritätsgefälle im höheren bzw. niedrigeren Status einzelner personifizierter Geister spiegelt (z. B. im Animismus der Cham). In der animistischen Tradition Burmas beispielsweise, wo die Geister ebenso respektiert und verehrt werden wie Buddha, findet man ursprüngliche und entwickelte Formen. Die Geister selbst, als männlich oder weiblich personifiziert, sind ihrem Wesen nach neutral (Thierry 1993, 144 ff). Ihr Wirken ist negativ für die Menschen, die ihren Kult vernachlässigen, und positiv für diejenigen, die sie mit Blumen-, Geld- und Essengaben an den ihnen gewidmeten Altären verehren. Jedes Dorf hat seine speziellen Schutzgeister, solche die in Bäumen und auf den Feldern wohnen, solche des Windes, des Regens und der Ernte (Dittmar 1989, 331 f). In der Geisterhierarchie gibt es 37 oberste Geister (burm. /nats/), von denen 22 auf die vorbud-
dhistische Zeit zurückgehen. Die übrigen 15 Nats sind seit der Regierungszeit (1044⫺ 1077) von König Anawrahta bezeugt. In der figurativen Darstellung der Nats fällt die Sitte auf, daß junge Männer Tätowierungen (ethnologisch exakter: Tatauierungen; abgeleitet von tahitisch tatau ‘malen’) mit den Bildern verschiedener bevorzugter Geister tragen (vgl. Abb. 97.1; zur Funktion der Tätowierungen vgl. Posner 1994). Die Nats spielen auch in der nationalen Geschichte Burmas eine besondere Rolle. Der einheimischen Überlieferung zufolge wählten die Burmesen, die im 7. Jahrhundert, aus einer Region im Nordosten Tibets kommend, nach Nordburma gelangten und im 9. Jahrhundert in Zentral-Burma ihr erstes Reich mit der Hauptstadt Pagan etablierten, den Nat des Mount Popa, eines alten Vulkans, zum Schutzpatron ihres Königreichs. Dieser Nat war einer von insgesamt neunzehn Schutzgeistern, die damals zur Auswahl standen. Vielleicht noch stärker als in Burma kristallisiert sich der Geisterglaube in Thailand augenfällig in der Tradition der /phra phi/ genannten ‘Geisterhäuser ’. Auf dem Gelände eines jeden Bauernhofes oder städtischen Eigenheims, auf den Balkons von Miethäusern, an den Eingängen von Geschäftshäusern und Banken, oder von öffentlichen Gebäuden (Schulen, Ämtern oder Ministerien) gibt es ein Haus für die Schutzgeister
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
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Abb. 97.2: Ein Geisterhaus vor einem Hotel in Bangkok (mit dem Tagesmenü für die Schutzgeister).
(/phil/), die den Platz bewohnen, und von denen die Menschen ihr Wohnrecht nur „geliehen“ haben. Dieser Grundidee entsprechend findet man ein /phra phi/ auch auf dem Gelände internationaler Hotels. Meist auf Säulen gesetzt, haben die Miniaturhäuser die Form von kleinen Tempeln oder Behausungen im traditionellen thailändischen Baustil. Sind sie einmal errichtet, übernehmen die Anwohner die Verpflichtung, das Geisterhaus ständig zu pflegen, es mit Girlanden zu schmücken, den Geistern Essen zu servieren
und auf diese Weise die Schutzgeister günstig zu stimmen. In Restaurants und Hotels werden die menschlichen Gäste ebenso bedient wie die Geister, denen man das Tagesmenü anbietet (vgl. Abb. 97.2). Die Geister haben auch ihre großen Bergheiligtümer. In Burma stellt man sich den Hauptwohnsitz der Totengeister auf dem Mount Popa (etwa 50 km östlich von Pagan) vor. Am Mount Popa wird auch jedes Jahr ein beliebtes Geisterfest veranstaltet, ein anderes in Taungpyon in der Nähe von Manda-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
lay. Der Wohnsitz des großen Schutzgeistes in Nordvietnam ist der Tan Vien (1296 m), der höchste Berg der Ba Vi (‘drei Berge’) im Nordwesten der Region Hanoi. Der Schutzgeist, der von den Bauern im Delta des Roten Flusses verehrt wird, „Son Tinh“ genannt, ist die Personifizierung des Widerstandes der Ackerbauern gegen die Stürme und Regenmassen, die jedes Jahr die Gefahr von Flutkatastrophen mit sich bringen (Wulf 1991, 343).
§ 5.), auch der Einfluß der Khmer-Musik geltend. Die Kunstmusik Thailands ist von besonderem Interesse wegen ihrer regionalen Eigentümlichkeit, eines besonderen Tonsystems (Isotonie), in dem die Oktave in jeweils gleich großen Schritten durchmessen wird (Morton 1976). In der thematischen Auswahl der volkstümlichen Literatur besteht eine weitgehende Übereinstimmung in den Traditionen der südostasiatischen Schriftkulturen darin, daß die Autoren sich seit jeher beliebten Themen der mythischen Vergangenheit des eigenen Landes gewidmet haben und daß diejenigen literarischen Genres, die nach europäischen Vorstellungen als „Nationalliteratur“ bezeichnet werden, in Südostasien auch in der Moderne mythisches Lokalkolorit aufweisen (Belova et al. 1988).
4.4. Die sozialen Funktionen des Animismus haben nicht nur ritualistisches Verhalten in Form von Geisterverehrung hervorgebracht, sondern sie manifestieren sich auch in der Entwicklung bestimmter Kulturmuster, die ein westlicher Betrachter eher getrennt von religiösen Vorstellungen betrachtet. Die südostasiatischen Traditionen von Tanz, Musik und volkstümlicher Literatur sind vielerorts an die animistische Tradition gebunden, sei es in der mythischen Erinnerung an vergangene Zeiten, sei es in enger Assoziation mit schamanistischen Ritualen (vgl. Art. 91 § 4.3., Art. 94 § 2., Art. 96 § 6. und Art. 99 § 8.). Das wegen seines Gestenreichtums bekannte Tanzwesen in Thailand geht auf eine himmlische Nymphe namens Apsara zurück, die aus dem Meer der Milch aufgestiegen ist und in den Wandgemälden von Tempeln häufig als im Himmel schwebend dargestellt wird. In der mythischen Überlieferung heißt es, daß diese Nymphe, vielleicht wegen ihrer Schönheit, von den Göttern verzaubert wurde, damit sie auf ewig für sie tanze und ihnen zu Willen sei (zum Tanz in den asiatischen Kulturen vgl. Art. 92 § 4.4., Art. 93 § 10.2., Art. 95 § 4.5. und Art. 96 § 6.). Bei den Bergstämmen Südostasiens ist die Musik bis heute an animistische Rituale gebunden. Das wichtigste Instrument ist etwa bei den Karen, Yao und Miao die Mundorgel, mit der musiziert wird, die aber auch „sprechen“ kann, was soviel bedeutet, als daß damit auch Nachrichten übermittelt werden (Stephan 1977, 42). Die Mundorgel ist auch bei anderen Völkern bekannt, so etwa bei den Khmer, wo sie /ki:n/ ‘Mundorgel (aus Bambus)’ heißt. Die Musiktradition Südostasiens verfügt über kein einheimisches Notationssystem. Die Kunstmusik der Neuzeit geht auf mündliche Überlieferungen und auf mittelalterliche Adaptationen chinesischer und indischer Einflüsse zurück (zur Musik Indonesiens vgl. Art. 96 § 7.). In Thailand machte sich, ähnlich wie in der bildenden Kunst (vgl.
4.5. Formen animistischer Weltanschauung haben überall in Südostasien bis ins moderne Zeitalter überlebt, und zwar nicht nur in ländlichen Regionen, sondern ebenso im städtischen Milieu. Für das Weiterbestehen dieser einheimischen Tradition neben den importierten Hochreligionen (Hinduismus, Buddhismus, Islam, Christentum) ist sicherlich ein Faktor ausschlaggebend, der die südostasiatische Religiosität von der Indiens unterscheidet. Es ist dies eine bestimmte Mentalität, die in der religiösen Vielfalt keinen Kristallisationspunkt für Widersprüche sieht, und die im Pluralismus der Weltanschauungen auch keinen Auslöser für konfessionelle Auseinandersetzungen oder elitäre Abkapselung sucht. Das Miteinander der religiös motivierten Weltanschauungen bietet einen breiten Spielraum für Alternativorientierungen im Alltagsleben. Wenn es um das Sichern eines glücklichen Schicksals geht, ist es naheliegend, sich der Gunst vieler Geister, Götter und ihrer Vertreter zu versichern. Diese Form der zwanglosen Koexistenz religiöser Trends findet man in allen Sozialschichten und auf allen Kulturebenen (vgl. Art. 96 § 9.; siehe auch Art. 99 § 9.2.). Während der Zeit des Khmer-Königreichs von Angkor beispielsweise hatte keine Religion Priorität. Brahmanismus in zwei Varianten (Shivanismus, Vishnuismus), Buddhismus und die Verehrung bestimmter Schutzgeister nach animistischem Ritus gehörten gleichermaßen zum Hofzeremoniell (Jelen und Hegyi 1991, 35 f). Dieser Mentalität begegnet man auch in Japan, wo es nicht als Widerspruch empfunden wird, in derselben Familie bestimmte festliche Anlässe nach dem shintoi-
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
stischen Ritus (z. B. Geburt), andere (z. B. Beerdigung) nach dem buddhistischen Ritus zu organisieren (vgl. Ikegami 1991). In Südostasien gibt es viele äußere Zeichen dieser symbiotischen Verflechtung weltanschaulicher Traditionen. Beispielsweise verehren vietnamesische Buddhisten wie die Generationen ihrer nichtbuddhistischen Ahnen lokale Schutzgeister (vietn. thanh hoang), denen in jedem Dorf ein eigener Tempel (vietn. nghe) errichtet wird. Wahrscheinlich alte Schutzgeisttempel sind auch die dinh, in denen später auch Buddha-Statuen aufgestellt wurden. Die dinh haben eine wichtige soziale Funktion für die lokale Gemeinschaft, ähnlich den Männerhäusern der Papua auf Neuguinea und der Melanesier in Ozeanien (vgl. Art. 98). Sie sind Zentren für Beratung, Initiation und andere Feierlichkeiten. Unter chinesischem Einfluß hat sich die Bauweise des vietnamesischen dinh, der ursprünglich als Pfahlbau mit hochgeschwungenem Dach (vietn. nha san) ausgeführt wurde, entscheidend geändert. Er wird direkt auf den flachen Boden aufgesetzt. Die ursprüngliche Bauweise ist noch bei einigen Bergvölkern im Innern Vietnams erhalten geblieben. Viele wichtige Feste Südostasiens gehen auf die Zeit vor der Verbreitung indischer oder chinesischer Einflüsse zurück. Typisch für diese Kultfeste sind bis heute deren animistische Bräuche. In historischer Zeit sind die ursprünglichen Zeremonien buddhistisch überformt oder für buddhistische Feste adaptiert worden. Die Kultfeste der frühen Agrargesellschaften konzentrierten sich hauptsächlich auf die kultische Begleitung und magische Beeinflussung der Aussaat (gefeiert zum Frühlingsvollmond) und auf Opferzeremonien zum Herbstvollmond (vgl. die Parallelen in Altamerika: Art. 99 § 5.). Das vietnamesische Tet Nguyen Dan (auch einfach „TetFest“ genannt) ist nicht nur ein Fest der Lebenden, sondern auch der toten Seelen. Vor dem Festtag werden in einer als ngay ba muoi bezeichneten Zeremonie die Gräber der Angehörigen gepflegt und die Ahnen zur rituellen Teilnahme am Tet nach Hause eingeladen. In einer Heimzeremonie am Hausaltar bittet man die Ahnen um Schutz im neuen Jahr, und es wird ihren Seelen ein Essen bereitet, ein gekochter Hahn, den man auf den Altar legt (Wulf 1991, 124 f). Die Begegnungen zu Neujahr werden als Omina ausgedeutet. Die Begegnung mit einem jüngeren Mann bedeutet Glück, die mit einem alten Mann,
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einer Frau oder einer werdenden Mutter dagegen Unglück. Das wichtigste Frühlingsfest in Thailand ist das Songkran (Neujahrsfest am 13. April), dessen Zeremonien des Wassersprengens von den Buddhisten übernommen wurden. Im Mai findet in Thailand das Fest des Pflügens statt. Dann wird ein Reisfeld rituell gepflügt, und man setzt speziell gesegnete Reisschößlinge. Die Segnung wird von einem Brahmanenpriester vorgenommen. Die Symbiose, die die einheimische animistische Tradition mit den importierten Weltanschauungen eingegangen ist, trägt exotische Züge. Beispielsweise hat die Symbolik des vietnamesischen Drachenmotivs durch alle Zeiten des Wandels hindurch Bestand gehabt (zum Drachen als Totemtier in China vgl. Art. 93 § 5.2.). Nach der Legende ist der Drache das heilige Symbol des kosmischen Wassers, und er verkörpert den Urahnen der Vietnamesen, also deren Totem. Das Drachenmotiv ist seit alters her ein Nationalsymbol der Vietnamesen. Bis 1945 war der Drache das Symbol des vietnamesischen Königshauses. Man findet das Motiv auf dem Königsthron, auf den königlichen Gewändern, und bis ins 13. Jahrhundert trugen die Könige Vietnams ein tätowiertes Drachenmotiv auf ihren Oberschenkeln. Die Altäre Buddhas sind mit Drachenbildern und -skulpturen geschmückt, selbst seine Bildnisse sind damit dekoriert (vgl. Abb. 97.3). Das Motiv ist im vietnamesischen Alltag allgegenwärtig, auf volkstümlichen Neujahrsbildern, Spielkarten oder Streichholzschachteln. Buddhist sein und an das Totemtier glauben, ist in Vietnam kein Widerspruch.
5.
Zur Transformation von Basiselementen chinesischer und indischer Akkulturation
5.1. Seit der Zeit, die in Europa als „klassische Antike“ bezeichnet wird, sind in Südostasien kulturelle Einflüsse von außen wirksam gewesen. Vom Norden her wurden chinesische Kulturmuster importiert, vom Westen her breitete sich, zeitlich etwas später, indischer Einfluß aus. Der Name „Indochina“ für den südostasiatischen Großraum spiegelt diese historischen Verhältnisse wider (zum Gebrauch des verwandten Terminus „Indonesien“ vgl. Art. 96 § 3.). Die beiden großen Kulturdrifts, deren Elemente in Südostasien zu einem untrennbaren kulturellen Amalgam
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 97.3: Das Drachenmotiv an einer vietnamesischen Buddha-Statue (11. Jahrhundert, Phat-Tich-Pagode).
verschmolzen sind, waren sehr unterschiedlich motiviert. Politische Interessen bestimmten die chinesische Einflußnahme in Nordvietnam, das im Jahre 111 v. Chr. als Kolonie Chiao Chi dem „Reich der Mitte“ (dem China der Han-Dynastie) angegliedert wurde. Tausend Jahre lang (bis 939 n. Chr.) stand Vietnam unter dem direkten Einfluß der chinesischen Bürokratie, Schriftkultur und der chinesischen Variante des Buddhismus. Der Einfluß Indiens, der sich in Burma und Thailand bereits in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, im Frühmittelalter auch in Kampuchea und Südvietnam bemerkbar machte, war im Unterschied zu den chinesischen Machtansprüchen in Indochina weder politisch motiviert, noch haben die Machthaber Indiens je versucht, ihre Herrschaft bis nach Südostasien militärisch auszudehnen. Der indische Einfluß im Westen unterschied sich vom chinesischen im Osten nicht nur aufgrund seiner andersartigen Motivation, sondern auch in der Qualität der vermittelten Kulturmuster. Die ältesten Kontakte zu Indien gehen auf den antiken indischen Fernhandel zurück. Indische Kaufleute überquerten mit den Winterwinden den Golf von Bengalen und segelten bis in die Meerenge von Malakka. Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. bestanden Handelskontakte zwischen Indien und der malaiischen Halbinsel (Harris und Zainal 1990, 8). In Häfen entlang der Festlandküste warteten die Händler auf die Änderung der Windrichtung bis zum Einsetzen des Sommermonsuns. Über diese Handelsstützpunkte (z. B. Moulmein und Thaton im Reich der Mon in Südburma) gelangten
Waren und andere Kulturgüter Indiens (z. B. Hinduismus, Buddhismus, Schriftlichkeit) in die damaligen städtischen Zentren Indochinas. Vom 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr. bestand das indisierte Königreich Fu Nan, das sich vom Süden Vietnams bis in die zentrale Bergregion und in das Gebiet der kambodschanischen Stadt Phnom Penh erstreckte und dessen Hauptstadt Oc Eo im Mekongdelta lag. Dort wurden chinesische, indische und westasiatische Waren gefunden, was darauf hindeutet, daß damals bereits die Fernhandelsrouten regelmäßig befahren wurden (Whitehouse und Whitehouse 1990, 204 f). Die Fu Nan waren wahrscheinlich ein Zusammenschluß malayo-indonesischer Stämme, deren Kultur vom Hinduismus geprägt war. Kürzlich sind auch Schriftdokumente gefunden worden, die den frühen Gebrauch des Sanskrit und der indischen Alphabetschrift in Südostasien beweisen (Wulf 1991, 257). In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung hatten die Pyu eine staatliche Organisation gebildet, zunächst in Zentralburma, nach der Eroberung ihres Reiches durch die im 8. Jahrhundert aus Thailand vordringenden Mon in Nordburma. Durch ihr Gebiet führte eine Handelsstraße von Indien nach Südchina. Der Fernhandel, dessen Wege sich in Südostasien kreuzten, ergänzte und verstärkte den lokalen Handel der alteingesessenen Bevölkerung. Handel in Südostasien ist seit alter Zeit mehr gewesen als Güterumschlag oder der Besitzerwechsel von Waren. Zwar liegen die materiellen Aspekte in der Natur
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
1947
Abb. 97.4: Mittelalterliches Metallgeld der Pyu.
dieser Form zwischenmenschlicher Interaktion begründet, Handel ist aber zugleich Lebensauffassung. In einer Welt, in der irdischer Reichtum aufgefaßt wird als Gunstbezeigung der für den Handel zuständigen Geister oder, im Taoismus, als günstige Fügung des Feng-shui, des Schicksals, ist der Handel eine Domäne des Sozialkontakts, wo die Menschen, Käufer wie Verkäufer, ihr Geschick im Umgang miteinander messen können. Das überall in Südostasien übliche Feilschen ist ein ritualistischer Ausdruck dieses Sozialkontakts, bei dem Geduld, Kompromißbereitschaft wie überhaupt die Stimmungslage der Verhandlungspartner sondiert werden. Wichtig beim Geschäft ist es, den beiderseitigen Spielraum auszuloten und eine Entscheidung zu treffen, die den Interessen sowohl des Käufers als auch des Verkäufers gerecht wird. Der Verzicht auf Feilschen ebenso wie ein kompromißloses Herabdrükken des Preises wird als Beleidigung des Partners empfunden. Europäische oder amerikanische Touristen beleidigen nicht selten einheimische Händler auf die eine oder andere Weise. Ursprüngliche Formen der Naturalienwirtschaft wurden schon in prähistorischer Zeit durch die Verwendung von eigentlichen Zahlungsmitteln in eine Geldwirtschaft umgewandelt. Zu den ältesten Wertmaßstäben der Region gehört die Kaurimuschel, die in China möglicherweise schon um die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. als „Valuta“ in Gebrauch war. Darauf deutet unter anderem ein frühes chinesisches Schriftzeichen aus der Zeit der Shang-Dynastie, das Bild einer Kaurimuschel, das ‘Reichtum; Wohlergehen’ bedeutet. Ursprünglich auf den Malediven, den Philippinen und auf den Tonga-Inseln gesammelt, avancierte die Kaurimuschel über den
chinesischen und indischen Fernhandel zum wichtigsten Zahlungsmittel Südostasiens. Ihr Gebrauch wurde durch arabische Kaufleute, die von Indien her die alten Seerouten befuhren, noch verstärkt. Noch im Reich der indischen Großmogulen und im Königreich von Gujarat hatte die Kaurimuschel den Wert einer Währung, sie war eine Untereinheit der Rupie (Sedillot 1992, 41). Schon früh war aber auch Metallgeld im Umlauf. Auch diesbezüglich lieferten China und Indien die Vorbilder. Eine interessante Frühform einer Transformation der Metallgeldidee in Südostasien sind die frühmittelalterlichen Silbermünzen der Pyu, die im gesamten Irrawaddy-Tal und im östlichen Burma gefunden wurden (vgl. Abb. 97.4). Während die importierten chinesischen und indischen Münzen beschriftet waren, tragen die Münzen der Pyu nur ikonische Symbole. Der wichtigste Typ ist die Abbildung eines von Mondsymbolen umgebenen Thrones auf der einen Seite, während auf der anderen Seite Glückssymbole figurieren (z. B. Swastika, Muschel, Sonne). 5.2. Die Fernwirkungen des indischen Kultureinflusses reichten viel weiter als die Einflußnahme Chinas. Hinduistische und buddhistische Traditionen verbreiteten sich bis in die indonesische Inselwelt, und in Indochina kreuzten sich die beiden großen Strömungen des Buddhismus, des älteren Hinayana (‘kleines Rad’) ⫺ beispielsweise in Thailand, wo er „Theravada“ genannt wird ⫺ und des jüngeren Mahayana (‘großes Rad’), der heute in den meisten Ländern Südostasiens dominiert. Der Mahayana-Buddhismus war bereits vor der Zeitenwende über Zentralasien nach China gelangt, so daß diese Richtung die Kulturen Indochinas sowohl in indischer als
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
auch chinesischer Ausdrucksform geprägt hat (z. B. in Vietnam). Die Annahme des Buddhismus durch die lokalen Herrscher in Südostasien und ihre Untertanen bedeutete nicht nur die Einflußnahme eines fremden Kulturmusters auf die Religiosität der Menschen im engeren Sinn oder ihre Lebensweise im weiteren Sinn. Der Buddhismus verkörpert mehr als religiöse Ideen, er ist eine Wertordnung. Im Bedeutungsspektrum einiger zentraler Termini kann man diesen Charakter erkennen. Zu den Entlehnungen des Khmer aus dem Pali gehört unter anderem der Ausdruck /th c am/ mit folgenden semantischen Nuancierungen: ‘Gesetz, Recht; Tugend; (religiöse) Lehre; Natur, Art und Weise; Gebet’. Von dieser Basis sind zahlreiche Ableitungen gebildet worden, worunter Bezeichnungen für zentrale Begriffe wie „Pflicht“, „Moralität“, „Charakter“, „Norm“, „Gesetz“, „Verfassung“, „Rechtswissenschaft“ u. a. sind (Gaudes 1985, 546 ff). Die Einwirkung des Buddhismus manifestiert sich ganz konkret in der sakralen und profanen Architektur, in den stilistischen Trends der bildenden Kunst, in der Gebrauchskeramik usw. (Dittmar 1989, 74 ff; Wulf 1991, 136 ff). Vor der Zeit der Kulturdrift, die Einflüsse aus Indien und China vermittelte, gab es in Südostasien keine Sakralarchitektur. Die animistische Tradition kennt Kultplätze an Orten, die durch ihre natürliche Gestalt beeindrucken (z. B. Mount Popa in Zentralburma). Nach der Art und Weise, wie die ausländische Architektur als Fremdimport adaptiert und transformiert wurde, stellt sich das südostasiatische Kulturareal als eigentlicher Schmelztiegel architektonischer Formen und Kunststile heraus. Ein illustratives Beispiel hierfür ist die Sakralarchitektur der indischen Stupa, der buddhistischen Kultmonumente, und ihre Transformation in Südostasien (Santoro 1981, 164 ff). Die südostasiatischen Tempelbauten teilen mit den indischen Vorbildern (vgl. Art. 92 § 5.1.) deren Funktionen, nicht aber deren äußere Form. Die ursprüngliche Zweckbestimmung der indischen Stupa war die einer heiligen Stätte, die über einer Buddha-Reliquie errichtet wurde (vgl. Art. 96 § 8.). Die ältesten thailändischen Stupa („Chedi“ genannt) im Sukhothai-Stil (s. u.) sollen noch Buddha-Reliquien beherbergt haben. Später wurden Stupa von hochgestellten Persönlichkeiten gestiftet und auch für solche als Grabmonumente gebaut. Auch diese Tendenz In-
diens zur „Entheiligung“ findet in Südostasien ihre Parallele. Das Vorbild des Stupa Südostasiens stammt aus Ceylon, wo dieser Bautyp mit seiner quadratischen Basis, seinem Anda oder Garbha (halbkugeliger Rundbau) und den Schmuckelementen Chattra (Mast mit Ehrenschirmen) und Harmika (würfelförmiger Schrein) als „Dagoba“ bezeichnet wird. Der Dagoba in Ceylon hat ihren Charakter als heilige Stätte in Funktion und gleicher Gestalt über Jahrhunderte erhalten und wurde damit zum klassischen Vorbild. Erstaunlicherweise gibt es keinen Stupa in Südostasien, in dem diese klassische Form genau kopiert worden wäre. Von Anbeginn der einheimischen Tradition treten eigene Stilabwandlungen in Erscheinung. Die ältesten Varianten Thailands sind die Stupa-Bauten im Mon-Stil (8.⫺11. Jahrhundert), die bereits extreme Variationen zeigen. Zu klassischer Eleganz haben sich die späteren thailändischen Chedi entwickelt, so die im Sukhothai-Stil (13.⫺15. Jahrhundert) und die im Ayuthia-Stil (14.⫺18. Jahrhundert) gebauten Tempel (vgl. Abb. 97.5). Das gemeinsame Merkmal aller thailändischen Chedi ist die Säulenreihe der Harmika auf dem Scheitel des Rundbaus (Dittmar 1989, 57). Die andere einheimische Transformation der Sakralarchitektur sind die thailändischen Prang, die äußerlich als Varianten des Tempelturmes im Khmer-Stil zu erkennen sind (vgl. Abb. 97.6). Die klassischen Vorbilder der Tempeltürme stehen in Angkor, wo der älteste Tempelturm im Jahre 881 geweiht wurde. Der Name „Angkor“ ist die Adaptation eines Sanskrit-Ausdrucks, der ‘Hauptstadt’ bedeutet. Das Königreich der Khmer mit ihrer Hauptstadt Angkor war eines der einflußreichsten politischen Gebilde Südostasiens. Bereits im 6. Jahrhundert hatte sich eine städtische Kultur herausgebildet, als deren Zentrum seit dem 9. Jahrhundert Angkor fungierte. Das Königreich der Khmer erstarkte politisch während der Regierungszeit von Dschajavarman II. (802⫺850). Seit dem 12. Jahrhundert trieben die Khmer-Herrscher eine aggressive Expansionspolitik. Das 14. Jahrhundert brachte den Niedergang des Reiches (Briggs 1941). Vom politischen Zentrum Angkor ging auch ein bedeutender kultureller Einfluß aus. Die Architektur und die Dokumente der bildenden Kunst im historischen Angkor sprechen für sich (vgl. Abb. 97.7 auf Tafel X). Im Text einer Inschriftentafel von Phnom Sadak
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
Abb. 97.5: Stilvarianten des klassischen ceylonesischen Stupa in Thailand.
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Abb. 97.6: Varianten des Tempelturms der Khmer in Kampuchea und Thailand.
aus dem Jahre 967 steht zu lesen: „Als der Schöpfer diese erhabene Schönheit vollendet hatte, sagte er zu sich selbst: Wenn dieses Werk verglichen werden soll, was in der Welt würde einem Vergleich standhalten?“ Die Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben. Viele Details des künstlerischen Schaffens und des Hoflebens im mittelalterlichen Angkor (vgl. Abb. 97.8 auf Tafel XI) sind in einem sorgsam verfaßten Bericht enthalten, den Chou Ta-kuan im Jahre 1296 an den chinesischen Kaiser sandte (Text bei Jelen und Hegyi 1991, 7 ff). Die Kunstrichtungen der angkorianischen Zeit in Kambodscha strahlten nach Thailand aus, und zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert dominierte der Khmer-Stil in der Architektur. Der Tempelturm ist eine symbolische Ausdrucksform des Berges Meru der indischen Kosmologie. Im Wat Arun (/wat/ ‘Kloster’) am Ufer des Menam im Stadtbezirk von Bangkok steht der am reichsten ausgeschmückte Prang als Mittelpunkt des Klosterbezirks. Im Grunde handelt es sich um ein ganzes Ensemble von Prang, mit dem zentralen Bauwerk, das den Berg Meru symbolisiert, umgeben von vier kleineren Tempeltürmen, d. h. vier kleineren Bergen. In diesem heiligen Bezirk ist ein ausgedehntes Pantheon von Geistern und göttlichen Wesen beheimatet. Transformationen hat auch das beständigste Symbol der buddhistischen Frömmigkeit in Südostasien erlebt, das Buddha-Bildnis.
Anders als im Fall der Sakralarchitektur war für die Gestalt der Buddha-Skulpturen ein fester Kanon ästhetisch-stilistischer Details vorgegeben, die es zu beachten galt. Dennoch entwickelte sich eine einheimische ikonographische Tradition, die von der indischen und ceylonesischen abweicht. Während die idealen Körperproportionen (breite Schultern, schmale Hüften, lange Ohrläppchen, Arme gerundet, Beine schlank usw.) im allgemeinen berücksichtigt werden, weicht die Kopfpartie häufig ab von indischen Vorbildern. In den Gesichtszügen sind die anthropologischen Merkmale der bodenständigen Bevölkerung zu erkennen, d. h. eine Buddha-Plastik in Burma sieht aus sie ein Burmese, eine in Thailand wie ein Thai und eine in Vietnam wie ein Vietnamese. Statt des typischen Haarbüschels zwischen den Augen (/urna/) findet man in Burma und Thailand nicht selten einen Schnurrbart. Der strahlende Charakter des Buddha, der in Indien durch Requisiten wie den Nimbus oder die Mandorla zum Ausdruck gebracht wird, fehlt in Thailand zumeist. Durch Vergoldung und glatte Gewänder versucht man hier, das Strahlen der Skulptur zu erreichen. Am beständigsten ist in der Ikonographie das Repertoire der Gesten (/mudra/) und Posen (/aˆsana/) bewahrt worden. Besonders die zahlreichen Positionen der Handhaltung in den Buddha-Bildnissen Südostasiens sind streng festgelegt und bieten einen nur geringen Spielraum für stilistische Variation. Dies
97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens
1951
Abb. 97.9: Gesten und Posen der Buddha-Figuren in Südostasien.
hängt unter anderem damit zusammen, daß bestimmte Körper- und Handhaltungen mit bestimmten Ereignissen im Leben des Buddha assoziiert sind. Eine für eine Buddha-Plastik gewählte Geste oder Pose legt damit das Bildnis auf einen speziellen Handlungsakt fest, der im Figurativen koaguliert (Abb. 97.9). Für einen buddhistischen Betrachter liegt weit mehr hinter der ästhetischen Austrahlung eines Buddha-Bildnisses als die Sinngebung, die sich mit dem Kernsymbol seines Glaubens assoziiert; das Bildnis ist zugleich eine mnemotechnische Einstimmung auf Teile der buddhistischen Lehre (zu den Gesten des
indischen Kunsttanzes vgl. Fig. 92.6. auf Tafel XVI⫺XVIII). 5.3. Die Beeinflussung der Völker Südostasiens durch die Strömungen der indischen und chinesischen Kulturdrift wurde spürbar in allen Bereichen, im privaten Sektor (z. B. Kleidung, Hausbau, Familienfeste) ebenso wie im öffentlichen Bereich (z. B. sakrale Architektur, buddhistische Feste, Schriftlichkeit). Mit dem Buddhismus kam auch die religiöse Ordnung der Feste und Feierlichkeiten nach Südostasien, der buddhistische Kalender und seine Terminologie. In den einheimi-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
schen Sprachen wurde die Terminologie der Zeitbestimmungen durch indische Sprachen umstrukturiert (z. B. mittelalterliche Entlehnungen des Khmer wie /ka:l/ ‘Zeitraum’ oder /pra(kra)tetin/ ‘Kalender’ aus dem Sanskrit). Auch im zivilen Bereich wurde die Zeitmessung internationalisiert. Diesbezüglich ging ein besonderer verwaltungstechnischer Einfluß von der chinesischen Kolonisation Vietnams aus (vgl. § 6.), wohin eine chinesische Institution exportiert wurde, die vorher schon von den nördlichen Nachbarstaaten Chinas übernommen worden war: der chinesische Kalender mit seiner kombinierten Berechnung des Mond- und Sonnenjahres. Wahrscheinlich gab es bereits vor der Übernahme des chinesischen Kalenders in Vietnam, wie auch anderswo in Südostasien, einen rudimentären Mondkalender. Auf der Basis der einheimischen alten Zeitrechnung konnte sich der chinesische Mondkalender mit seiner Terminologie zwanglos durchsetzen, die Einführung des Sonnenjahres aber bedeutete eine eigentliche kulturelle Innovation. Zeitrechnungen nach dem Mondkalender sind zwar durch einfache Beobachtung erfahrbar, dabei aber relativ ungenau, wenn man bedenkt, daß das Mondjahr (d. h. die Dauer von zwölf vollen Mondwechseln) mit 353 Tagen wesentlich kürzer als das Sonnenjahr mit 365 Tagen ist. Das chinesische Mondjahr wurde mit zwölf Monaten gerechnet. Die Erweiterung um einen weiteren, dreizehnten Monat hätte die Zahl der Tage auf 383 erhöht, was ein noch größeres Ungleichgewicht bedeutet hätte. Um die Verschiebungen des Mondjahres gegenüber dem natürlichen, vom Sonnenrhythmus bestimmten Jahreszyklus auszugleichen, wurde alle paar Jahre ein dreizehnter Monat eingeschoben. Für eine genauere Einteilung der Jahreszeiten ⫺ ein Erfordernis jeder Agrargesellschaft zur Bestimmung der Zeit für die Bepflanzung der Felder ⫺ brauchte man die Berechnung nach dem Sonnenzyklus mit seinen beiden Hauptpunkten, der Sommer- und der Wintersonnenwende. Der alte chinesische Sonnenkalender, der als Ergänzung zum Mondkalender diente, enthält detaillierte Hinweise zu den Jahreszeiten, die sich spezifisch an Wetterbedingungen und Veränderungen im Vegetationszyklus orientieren (vgl. Tab. 97.6). Die Halbjahreszeiträume zwischen den Sonnenwenden werden jeweils in zwölf Unterabschnitte aufgeteilt, wobei auf jeden vierzehn Tage entfallen. Jede Jahreszeit glie-
dert sich in sechs Unterabschnitte (⫽ Doppelwochen). In den vierten Abschnitt der Sommerzeit fällt die Sommersonnenwende, in den vierten Abschnitt der Winterzeit die Wintersonnenwende. Mit diesem Instrumentarium konnten die periodische Bearbeitung der Reisfelder, ihre Bepflanzung und das Einbringen der Ernten exakter gesteuert werden als mit Hilfe des Mondkalenders. Der Tagesund Nachtrhythmus wurde nach zwölf Einheiten (⫽ Doppelstunden) bestimmt, von denen jede ihren eigenen Namen hatte: ‘Ratte’, ‘Ochse’, ‘Tiger’, ‘Hase’, ‘Drache’, ‘Schlange’, ‘Pferd’, ‘Widder’, ‘Affe’, ‘Hahn’, ‘Hund’, ‘Wildschwein’. Die Jahres- wie die Tageseinteilung im alten chinesischen Sonnenkalender beruhen somit auf einem Duodezimalsystem. Bedenkt man, daß die Zahl Zwölf vier Divisoren hat, die Zehn nur zwei, stellt sich das Rechnen mit dem Zwölfersystem als flexibler dar (Ifrah 1987, 58 f). Das Kalenderwesen im chinesischen Kulturkreis ist, ebenso wie das indische, babylonische (vgl. Art. 89 § 3.2.) oder abendländische (vgl. Art. 36 § 9.2. und Art. 60 § 4.4.3.), durch astrologische Vorstellungen über die Bedeutung der Tierkreiszeichen überformt. Im Gegensatz zu diesen Auffassungen wird im chinesischen Kulturkreis die Tierkreisverteilung nicht auf den Jahresrhythmus bezogen, d. h. vom Jahresanfang bis zum Jahresende, sondern auf Zyklen von jeweils zwölf Jahren. Man lebt also im Jahr der Ratte, des Drachen oder des Affen. Während es für einen Europäer wichtig ist zu wissen, in welchem Tierkreismonat er geboren ist, assoziiert ein Chinese (und Vietnamese) sein Geburtsjahr mit einem bestimmten Tierkreiszeichen. Jemand, der nach abendländischer astrologischer Tradition ein „Wassermann“ ist, steht nach chinesischer Vorstellung vielleicht im Zeichen des Tigers.
6.
Das Experiment der chinesischen Kolonisation in Vietnam und der nachkoloniale Prozeß der Sinisierung
6.1. Die Völker Südostasiens sind nicht erst dadurch in die Geschichtlichkeit eingetreten, daß sie die Schrift als Fremdimport aus China bzw. Indien zur Schreibung ihrer Muttersprachen übernommen haben. Bereits die Periode, als sie diese Schriftsysteme kennenlernten, ohne sie selbst zu benutzen, kann als Übergang zum historischen Zeitalter gewertet werden. Im Nordosten des Kulturareals,
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97. Zeichenkonzeptionen in den Festlandkulturen Südostasiens Tab.97.6: Die Jahreseinteilung nach dem chinesischen Sonnenkalender Chin. Namen
Bedeutung
Assoziationen
Frühlingsanfang
Das Sonnenjahr beginnt.
4. oder 5. 2.
‘Regenwasser’
Schnee verwandelt sich in Regen.
19. oder 20. 2.
‘Ende der Insektenüberwinterung’
Insekten bewegen sich.
5. oder 6. 3.
Tagesnachtgleiche (Frühling)
Daten des gregorianischen Kalenders
21. oder 22. 3.
‘rein und klar’
Südöstliche Winde bringen angenehmes Wetter.
5. oder 6. 4.
‘Regen für das Getreide’
Das Getreide keimt im Frühlingsregen.
20. oder 21. 4.
Sommeranfang
5. oder 6. 5.
‘das kleinere Wachstum’
Alles wächst.
21. oder 22. 5.
‘das Getreide setzt Samen an’
Die Reispflanzen sind zu setzen.
6. oder 7. 6.
Sommersonnenwende
21. oder 22. 6.
‘die kleinere Hitze’
Es wird heißer.
7. oder 8. 7.
‘die größere Hitze’
Die Sommerhitze ist am größten.
23. oder 24. 7.
Herbstanfang
7. oder 8. 8.
‘erträgliche Hitze’
Die Herbstwinde bringen eine Linderung der Hitze.
23. oder 24. 8.
‘weißer Tau’
Herbstwetter; die Zugvögel beginnen ihre Wanderung.
8. oder 9. 9.
Tagesnachtgleiche (Herbst)
23. oder 24. 9.
‘kalter Tau’
Die Blätter färben sich.
8. oder 9. 10.
‘es gibt Frost’
Herbstende; der erste Frost tritt auf.
23. oder 24. 10.
Winteranfang
7. oder 8. 11.
‘weniger Schnee’
Der Schneefall ist leicht.
22. oder 23. 11.
‘mehr Schnee’
Der Schneefall ist stark.
7. oder 8. 12.
‘die kleinere Kälte’
Es wird kälter.
5. oder 6. 1.
‘die größere Kälte’
Die Winterkälte ist am stärksten.
20. oder 21. 1.
Wintersonnenwende
21. oder 22. 12.
in Nordvietnam, wurde die Schrift bekannt im Zuge der chinesischen Expansion in das Tal des Roten Flusses im 3. Jahrhundert v. Chr. Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. dominierte dort die Schriftsprache der Han-Bürokratie. In Vietnam gab es ⫺ ähnlich wie im frühmittelalterlichen Korea ⫺ zur chinesischen Schrift keine Alternative, und die weitere Entwicklung der Schriftlichkeit dort steht bis in die europäische Kolonialzeit unter dem Patronat der chinesischen Schriftkultur. Wenn von der Schrift als Fremdimport in In-
dochina die Rede ist, und davon, daß die chinesische bzw. indische Schrift zur Schreibung der Regionalsprachen verwendet wurde, so ist dies eine starke Vereinfachung. Dahinter steht ein teilweise äußerst komplizierter Prozeß der graduellen Anpassung eines fremden (d. h. für eine Fremdsprache geschaffenen) Schriftsystems an die einheimischen Sprachstrukturen. Besonders langwierig war dieser Prozeß in Vietnam, dessen Schriftevolution hier im besonderen beschrieben wird. Das Verhältnis der Chinesen zu den Vietnamesen war während der Zeit der chinesi-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
schen Kolonialherrschaft (111 v. Chr.⫺939 n. Chr.) geprägt durch eine klare soziale Distanz. Die Vietnamesen waren nach Ansicht der Chinesen „Barbaren“, die es nicht wert waren, in den Genuß einer höheren Erziehung zu kommen. Länger als ein Jahrhundert lang beschränkte sich die chinesische Administration in Vietnam auf eine indirekte Kontrolle, indem sie sich auf die Dienste lokaler Aristokraten stützte. Während dieser Zeit war es Vietnamesen nicht erlaubt, eine chinesische Schule zu besuchen oder ein öffentliches Amt zu bekleiden (Le Thanh Khoi 1955, 106). Änderungen traten erst nach der mißglückten Rebellion der Trung-Schwestern (39⫺43 n. Chr.) ein, als Vietnam der direkten Kontrolle eines chinesischen Gouverneurs unterstellt wurde. Der einheimischen Aristokratie blieb die Wahl, sich durch Einheirat in chinesische Familien zu sinisieren, oder in Gebiete außerhalb der chinesischen Reichshoheit zu emigrieren (d. h. nach Südvietnam). Der einheimischen vietnamesischen Kultur wurden die Grundlagen entzogen. Die unmittelbaren Folgen der Niederschlagung der Trung-Rebellion waren somit das Ende der bronzezeitlichen Dong-Son-Kultur im Norden Vietnams, aber ihre gleichzeitige Ausbreitung nach Süden, wohin sie von vietnamesischen Emigranten gebracht wurde. Im Norden wurde durch die Einführung des Buddhismus im 2. Jahrhundert n. Chr. ein zusätzlicher Faktor zur Schaffung einer kulturellen Distanz zum Süden mit seinen animistischen Traditionen wirksam. Durch die Alternative der Sinisierung der vietnamesischen Aristokratie war Vietnamesen seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. der Zugang zur chinesischen Schriftkultur und zu öffentlichen Ämtern möglich. Allerdings sind nur wenige Einheimische namentlich bekannt, die in Vietnam ein höheres Amt bekleideten (so Ly Tien im 2. Jh. n. Chr., der einzige einheimische Gouverneur des Landes), oder die am chinesischen Kaiserhof Dienst taten (Dang Thai Mai 1961, 76). Das Chinesische war die einzige Schriftsprache des Landes, und zwar in allen relevanten Funktionen. Der chinesische Kultureinfluß wirkte in Vietnam über die wenigen gebildeten Vietnamesen, die die chinesische Sprache und Schrift beherrschten. Ob diese Vertreter der einheimischen Bildungselite selbst chinesisch-sprachige Literatur produzierten, ist nicht bekannt, denn es sind keine Texte von Nichtchinesen aus jener Zeit er-
halten geblieben. Bis ins 10. Jahrhundert herrschte in Vietnam ein klassisches Diglossieverhältnis vor, wobei das Chinesische alle Funktionen einer hochsprachlichen Variante mit einer entsprechenden prestigemäßigen Aufwertung, das Vietnamesische die praktischen Funktionen einer nichtgeschriebenen Sprache in der Alltagskommunikation übernahm. Aufgrund der erheblichen sozialen Distanz zu den Chinesen und des geringen Interesses auf Seiten der Vietnamesen an der Fremdkultur aus dem Norden brachte das Jahrtausend der chinesischen Kolonialherrschaft keinen Durchbruch für die Sinisierung des Landes. Die entscheidenden Impulse dafür, nämlich für eine Sinisierung breiterer Bevölkerungsschichten, kamen erst mit der nominellen politischen Selbständigkeit Vietnams, die im Jahre 939 n. Chr. erreicht wurde. Als das Reich der Mitte seine ehemalige Südkolonie verlor, begnügte es sich damit, die Unabhängigkeit dieser Region als Vasallenstaat zu dulden. Bis 1885, als der Regent in Hue´ von den Franzosen gezwungen wurde, das Vasallenverhältnis mit China offiziell aufzukündigen, blieben diese politischen Verhältnisse intakt. Die Folge der politischen Selbständigkeit Vietnams war keine Abkehr von der Hochkultur des Nachbarlandes, sondern im Gegenteil eine verstärkte freiwillige Hinwendung zu dessen Traditionen (vgl. die Romanisierung Britanniens nach dem Abzug der Römer: Art. 36 § 8.). Allerdings gehörte die Übernahme eines bestimmten Kulturmusters, nämlich des chinesischen Kalenders (vgl. § 5.), als Zeitmessung im öffentlichen Leben zu den Verpflichtungen, die die vietnamesische Monarchie als Gegenleistung für die Anerkennung ihres Landes durch China übernommen hatte. Zu den kulturellen Neuerungen im unabhängigen Vietnam gehörte auch die Emanzipation der Muttersprache gegenüber der Dominanz der Hochkultursprache Chinesisch. Dies drückte sich augenfällig in der Adaptation der chinesischen Schrift für das bis dahin schriftlose Vietnamesisch aus (s. u.). Ein Vergleich mit ähnlichen Kulturprozessen in den ehemaligen Provinzen des römischen Reiches drängt sich auf (Haarmann 1993, 149 ff). 6.2. Die beiden großen zeitgenössischen Kulturströmungen Chinas, der Buddhismus und der Konfuzianismus, beeinflußten das geistige Leben in Vietnam. Der buddhistische Einfluß zeitigte wegen seiner Volkstümlich-
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keit eine große Breitenwirkung, jedoch reichte er nicht so weit, daß der Buddhismus Staatsreligion geworden wäre. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts allerdings nahm die Bedeutung des Konfuzianismus zu, und mit der Tran-Dynastie (seit 1225) verlor der Buddhismus an Boden (Le Thanh Khoi 1955, 174). Die Vertreter der gebildeten Elite Vietnams, ob Buddhisten oder Konfuzianer, verwendeten das Chinesische als Bildungssprache. Ein äußeres Zeichen seiner offiziellen Rolle war die Anerkennung des Chinesischen als Staatssprache Vietnams im Jahre 1174. Von den frühen Dokumenten dieses von Vietnamesen verwendeten Chinesisch (Sino-Vietnamesisch) sind einige erhalten, wie beispielsweise das königliche Dekret, in dem der Gründer der Ly-Dynastie im Jahre 1010 die Verlegung der Hauptstadt seines Reiches nach Hanoi bestimmte. Formal ist den sino-vietnamesischen Texten nicht anzusehen, daß ihr Chinesisch von Vietnamesen geschrieben wurde. Die chinesische Schriftkultur gelangte mit der Ausdehnung des vietnamesischen Machtbereichs unter der Le-Dynastie (1428⫺1786) bis in den äußersten Süden des Landes, und die Kenntnis der chinesischen Schrift muß weite Verbreitung gefunden haben, wenn sogar einfache Rechnungen oder Kaufbelege in chinesischen Charakteren aufgezeichnet wurden (He Legeng 1957, 2). Die literarische und gelehrte Tradition Chinas dominierte das literarische Schaffen in Vietnam, so daß man in jener Zeit den Süden des chinesischen Schriftkulturkreises als „externe Provinz der chinesischen Literatur“ (Gaspardone 1950, 213) bezeichnen kann. Neben den konservativen Literaten gab es aber auch solche, die sich speziell um die Pflege der Kulturtraditionen ihres Heimatlandes bemühten. Diese sammelten unter anderem die Texte der oralen Literatur (Mythen, Legenden, Märchen und Schwänke) und zeichneten sie in Chinesisch auf. Auf diese Weise entstand eine sino-vietnamesische Literatur, deren Inhalte vietnamesisch und deren sprachliche Form chinesisch waren. Diesem Phänomen einer bikulturellen, aber einsprachigen Literatur begegnet man unter anderem in der jüngsten Geschichte der russischen Schriftkultur, wo das Russische von nichtrussischen sowjetischen Literaten, d. h. von Vertretern der nichtrussischen Völker in der ehemaligen Sowjetunion, als Ausdrucksmittel nationaler Thematik verwendet wurde (vgl. Khalilova 1986 zur bikulturellen Literatur in aserbaidschanischer Sprache).
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Es war nur eine Frage der Zeit, wann die chinesische Schrift übernommen werden würde, um auch das Vietnamesische zu schreiben. Die Schriftadaptation folgte in Vietnam der gleichen Technik, die auch in Korea (vgl. Art. 94 § 3.) und Japan (vgl. Art. 95 § 2.) angewandt wurde, nämlich der phonetischen Schreibung einheimischer Laute mittels chinesischer Schriftzeichen. Diese Technik war ursprünglich in China selbst entwickelt worden, als es notwendig wurde, spezielle Termini und Namen aus der in Sanskrit verfaßten buddhistischen Literatur ins Chinesische zu übertragen. Die ersten Belege für die Schreibung vietnamesischer Namen in chinesischer Schrift nach dem phonetischen Prinzip stammen noch aus der Kolonialzeit (Ende des 8. Jahrhunderts), seit der Zeit der staatlichen Unabhängigkeit gehörte die phonetische Umschreibung zur Alltagspraxis der sino-vietnamesischen Literaten. Der erste vollständige Text in Vietnamesisch und chinesischer Schrift stammt erst aus dem 13. Jahrhundert. Die Anfänge des vietnamesischen Schrifttums sind legendär verklärt. Danach soll der damalige Justizminister Vietnams, Nguyen Thuyen, im Jahre 1282 eine Beschwörungsformel in Versform und in seiner Muttersprache aufgeschrieben haben, und das Papier wurde in den Roten Fluß geworfen, um ein blutrünstiges Krokodil zu besänftigen und zu „überreden“, die Gegend zu verlassen (Durand und Nguyen Tran Huan 1969, 187). Nguyen Thuyen soll nach der mittelalterlichen Überlieferung selbst Gedichte in Vietnamesisch geschrieben und andere dazu ermuntert haben. Aus dem 14. Jahrhundert wird überliefert, daß das Vietnamesische mit Vorliebe für satirische Gedichte verwendet wurde. Die Schriftadaptation wurde „Chu˜· Nom“ genannt, oder einfach „Nom“. chu˜· bedeutet ‘Schreibweise, Schrift’ und nom als Ableitung von nam ‘Süden’. Der Wortfolge des Vietnamesischen entsprechend, wonach das modifizierende Element dem modifizierten folgt, bedeutet chu˜· nom ‘Schrift des Südens’. Das System zur Schreibung des Vietnamesischen unterschied sich von der Chinesischen Schrift zur Schreibung des Chinesischen (chu˜· han ‘Schrift Chinas’ oder chu˜· nho ‘Schrift konfuzianischer Gelehrter’ genannt). Obwohl ein Text in Nom äußerlich aus chinesischen Schriftzeichen besteht, mutet ein solcher einem Chinesen wie Kauderwelsch an, weil ihm nur die chinesischen Lehnwörter im Vietnamesischen verständlich sind. Der Zeichenge-
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brauch des Nom weicht in vielen Fällen vom Chinesischen ab, weil Kombinationen verwendet werden, die das Chinesische nicht kennt. Je nachdem, ob man die äußere Gestalt der Schrift oder die Assoziation ihrer Zeichen mit Lautung und Bedeutung vietnamesischer Wörter betonen will, ist das NomSystem als „ideophonetisch“ (Truong Vinh Ky 1888, 7), „phonetisch-semantisch“ (Cordier 1935, 121) oder als „ideographisch“ (DeFrancis 1977, 20) bezeichnet worden. Das Nom-Zeichenrepertoire setzt sich aus zwei Kategorien zusammen (DeFrancis 1977, 24 ff). Zur ersten Kategorie gehören solche Zeichen, deren chinesische Lautung mit lautähnlichen Wörtern des Vietnamesischen identifiziert wird. Dies schließt die große Zahl chinesischer Lehnwörter ein. Die andere Kategorie sind Zeichenkombinationen, wobei zwei Unterkategorien zu unterscheiden sind. Die häufigste Kombination besteht aus einem Zeichen, das die Lautung eines Wortes, und einem anderen, das seine Bedeutung angibt (Abb. 97.10). Die andere Unterkategorie
nung für eine Sprache, die nach ihrer phonetischen Struktur und ihrem grammatischen Bau (isolierend, überwiegend monothetisch) ⫺ ganz anders als das Koreanische oder Japanische ⫺ dem Chinesischen ähnelt. Es heißt, das Nom-System wurde von vietnamesischen Literaten in Freizeitbeschäftigung geschaffen (Chesneaux 1955, 31), nicht etwa, um der nationalen Schriftkultur zum Durchbruch zu verhelfen. Insofern waren die Bedingungen für die Schaffung eines nationalen Schriftsystems wesentlich andere als im Fall von Hangul für das Koreanische (vgl. Art. 94 § 7.). Ähnlich wie in Korea allerdings widersetzten sich die meisten Vertreter der Bildungselite auch in Vietnam dem neuen Schriftsystem und dem Schriftgebrauch der Muttersprache. Der Standard der chinesischen Schriftkultur war das non plus ultra der aristokratischen Oberschicht. Nom wurde allerdings gerade in solchen Perioden stärker befürwortet und verwendet, in denen die politische Führung Vietnams ihre Unabhängigkeit von China betonte, wie während der Zeit der Tran-Dynastie (1225⫺1400). Obwohl im Lauf der Zeit eine nicht unbedeutende Literatur in Nom entstand, fehlten der vietnamesischen Literatur spracheinigende Persönlichkeiten wie Dante in Italien, Chaucer in England oder Luther in Deutschland. Die Rolle des bedeutendsten Nom-Literaten der älteren Zeit, des Grafen Nguyen Trai (1380⫺1442), entspricht nicht der der europäischen Sprachreformer. Eine frühe klassische Blüte erlebte Nom unter König Ho Quy Ly (Regierungszeit: 1400⫺1407), der sogar die Abschaffung des Chinesischen zugunsten des Vietnamesischen im öffentlichen Leben vorschlug. Die Intervention von Truppen der Ming-Dynastie machte diesem Versuch einer nationalen Spracheinigung ein Ende.
a:
⫽ de´n ‘kommen’: , chin. /dia`n/, markiert die Aussprache. , chin. /zhi/ ‘ankommen, erreichen’, kennzeichnet die Bedeutung.
b:
⫽ troi ‘Himmel’: , chin. /tia¯n/ ‘Himmel’, markiert die Aussprache. , chin. /sha`ng/ ‘über, oben’, kennzeichnet die Bedeutung.
Abb. 97.10: Zeichenkombinatorik im Nom-System: a. Grundzeichen mit phonetischem Komplement; b. Grundzeichen mit semantischem Komplement (nach Campbell 1991, 1436).
von Kombinationen umfaßt solche Doppelzeichen, die beide semantische Schattierungen eines Begriffs wiedergeben (Abb. 97.10). Die Verwendung von Zeichenkombinationen ist chinesischen Ursprungs und gehört zu den Grundtechniken dieser Sprache (vgl. Haarmann 1990 a, 179 ff). Die Art und Weise der Zeichenkombinationen ist aber im Vietnamesischen eine andere. Aus stilistischen Gründen haben vietnamesische Schreiber verschiedentlich die Zeichenkombinationen chinesischer Wörter geändert, wie beispielsweise um einen im Chinesischen pejorativen Ausdruck aufzuwerten. Ein wichtiger Grund dafür, daß sich das Nom-System bis in unser Jahrhundert in Vietnam gehalten hat, ist seine Eig-
7.
Zur Rolle des europäischkolonialen Kulturadstrats in Südostasien
7.1. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts kreuzten europäische Seefahrer an den Küsten Südostasiens, zunächst Portugiesen, später auch Spanier, Holländer, Franzosen und Engländer. Sprachliche Spuren aus der Zeit der frühen Kontakte zu Europäern sind im Indonesischen (Bahasa Indonesia; vgl. Art. 96 § 4.), im Malaiischen der Halbinsel (Bahasa Malaysia) und in anderen malaiischen Sprachen (z. B. im Iban auf Borneo) erhalten,
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und zwar in Gestalt portugiesischer Lehnwörter (z. B. mal. minggu ‘Woche’ mit semantischer Umdeutung aus port. domingo ‘Sonntag’, janela ‘Fenster’ ⬍ port. janela; Iban kerita ‘Wagen mit zwei oder mehr Rädern’ ⬍ port. carrita). Die Franzosen erweiterten ihren Einfluß im Osten (Südvietnam) seit dem 17. Jahrhundert. Die politische Macht Frankreichs wurde ausgedehnt nach Kambodscha, das 1867 französisches Protektorat wurde. Das benachbarte Laos war im 19. Jahrhundert von Thailand besetzt. Im Jahre 1893 erzwang Frankreich von Thailand die Abtretung, und Laos wurde dem Gouverneur von Indochina unterstellt. Thailand selbst blieb, von der japanischen Intervention im Zweiten Weltkrieg abgesehen, unabhängig und fungierte gleichsam wie eine Pufferzone zwischen der französischen Domäne im Osten und der britischen Einflußsphäre in Burma, wohin die Briten von Indien her vordrangen. 1824 annektiert, stand Burma bis 1948 unter britischer Herrschaft. Entsprechend der geographischen Verteilung der europäischen Einflußzonen finden sich sprachliche Fremdeinwirkungen des Französischen im Vietnamesischen, im Khmer und im Laotischen, während das Englische seinerseits das Burmesische beeinflußt hat. Nach seiner Gesamtwirkung war der europäische Einfluß am stärksten in Vietnam, wo nicht nur das moderne Ausbildungswesen und die Verwaltungsapparate des Landes umstrukturiert wurden, sondern wo sich grundlegende Wandlungen in kulturellen Institutionen vollzogen. Eines der „augenfälligsten“ Kulturmuster europäischer Prägung ist die Lateinschrift des Vietnamesischen, die alle früheren Schriftsysteme verdrängt hat (vgl. § 6.). Nach der Rolle der Schrift zu urteilen, war der französische Einfluß in Kampuchea und Laos sowie der britische in Burma nicht so nachhaltig, denn in diesen Ländern sind bis heute die indischen Schriftadaptionen in Gebrauch (vgl. § 3.). Wenn auch die Kulturpolitik der Vietnamesen seit Jahrzehnten einem antikolonialistischen Kurs folgt, der sich in einer puristischen Orientierung der modernen Sprachplanung Vietnams manifestiert (vgl. § 8.), sind zahlreiche Kernelemente des französischen Kultureinflusses bis heute fest im Lehnwortschatz des Vietnamesischen verankert. Mehr als einhundertfünfzig Ausdrücke französischer Herkunft gehören zum modernen vietnamesischen Gebrauchswortschatz (Haarmann 1986). Darüber hinaus ist der Fach-
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wortschatz des Vietnamesischen bis heute durch spezielle Termini geprägt, denn „Entlehnungen aus dem Französischen in entweder übersetzter oder transliterierter Form sind häufig in den empirischen Wissenschaftsdisziplinen, in der Physik, Chemie, in den Naturwissenschaften, im Bereich der historischen Eigennamen und geographischen Termini“ (DeFrancis 1977, 243). Selbst wenn das Französische nicht mehr als Quelle für terminologische Innovationen dient, werden doch viele ältere Entlehnungen tradiert und nicht durch neue ersetzt (Nguyen Phu Phong 1983, 15 f). Durch seine französischen Elemente hat das Vietnamesische auch Zugang zur internationalen Terminologie, wohingegen die nationale Tendenz der modernen Sprachplanung einer terminologischen Selbstisolation gleichkommt. Der französische Anteil am modernen Alltagswortschatz sowie am technischen Vokabular des Vietnamesischen verteilt sich wie folgt: 1) Bezeichnungen im Bereich der Konstruktionsund Gebrauchstechnik (z. B. bo·m ‘Pumpe’ ⬍ franz. pompe, bu gi ‘Zündkerze’ ⬍ bougie, phim ‘Film’ ⬍ film); 2) Bezeichnungen im Bereich des Baustoffwesens, der Metallurgie, chemischer Stoffe u. ä. (z. B. beˆ-toˆng ‘Beton’ ⬍ be´ton, phoˆt pha´t ‘Phosphat’ ⬍ phosphate, xi mang ‘Zement’ ⬍ ciment); 3) Bezeichnungen im Bereich des Transportwesens und der Automechanik (z. B. ga ‘Bahnhof’ ⬍ gare, oˆ toˆ ‘Auto’ ⬍ auto, voˆ lang ‘Lenkrad’ ⬍ volant); 4) Bezeichnungen für Maßeinheiten (z. B. gam ‘Gramm’ ⬍ gramme, lı´t ‘Liter’ ⬍ litre, ki-loˆme´t ‘Kilometer’ ⬍ kilome`tre); 5) Bezeichnungen im Bereich des Geld- und Postwesens (z. B. bang ‘Bank’ ⬍ banque, tem ‘Briefmarke’ ⬍ timbre, se´c ‘Scheck’ ⬍ che`que); 6) Bezeichnungen im Bereich der staatlichen Organisation (z. B. doan ‘Zollamt (alt)’ ⬍ douane, xa` lim ‘Gefängniszelle’ ⬍ chalit, sen dam ‘Polizist’ ⬍ gendarme); 7) Bezeichnungen im Bereich Mode (Bekleidung, Accessoires, Textilien usw.) (z. B. ba`nh toˆ ‘Mantel’ ⬍ manteau, moˆt ‘Mode’ ⬍ mode, xu´ chieˆng ‘BH’ ⬍ soutien-gorge); 8) Bezeichnungen im Bereich der Gastronomie (z. B. bia ‘Bier’ ⬍ bie`re, giam-bong ‘Schinken’ ⬍ jambon, bo ‘Butter’ ⬍ beurre); 9) Bezeichnungen im Militärwesen (z. B. bom ‘Bombe’ ⬍ bombe, boˆt ‘Posten, befestigte Stellung’ ⬍ poste, mı`n ‘Mine’ ⬍ mine); 10) Politischer Wortschatz (z. B. ca´n ‘Funktionär’ ⬍ commissaire, pha´t xı´t ‘Faschist’ ⬍ fasciste, soˆ-vanh ‘chauvinistisch’ ⬍ chauviniste); 11) Bezeichnungen in anderen Bereichen (z. B. sa˘m ‘Zimmer’ ⬍ chambre, ta´ch ‘Tasse’ ⬍ tasse, xa` pho`ng ‘Seife’ ⬍ savon).
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Von seiten der modernen Sprachplanung werden solche französischen Elemente bevorzugt, die sich phonetisch und in abgekürzter einsilbiger Form den lautlichen und morphologischen Strukturen des Vietnamesischen anpassen (z. B. vietnam. xa˘ng ‘Brennstoff’ ⬍ franz. essence, loˆp ‘Radmantel (vom Autooder Fahrradreifen)’ ⬍ enveloppe, bop ‘Brieftasche’ ⬍ porte-feuille). Der französische Kulturwortschatz, der vom Vietnamesischen adaptiert worden ist, enthält auch verschiedene Internationalismen, die ihrerseits nichtfranzösischer Herkunft sind, für deren Verbreitung aber das Französische eine wichtige Mittlerrolle gespielt hat. Hierzu gehören unter anderem vietnam. ba leˆ ‘Ballett’ (ursprünglich italienisch), ca`-phe ‘Kaffee’ (ursprünglich arabisch) und ca-cao ‘Kakao’ (ursprünglich mexikanisch, d. h. aus dem Nahuatl, der Sprache der Azteken). In Kampuchea, wo der französische Spracheinfluß nur wenig länger als sechs Jahrzehnte direkt wirkte, ist der französische Kulturwortschatz der Hauptlandessprache (Khmer) zwar weniger umfangreich als im Vietnamesischen, dafür aber besser erhalten. Denn mit Bezug auf die Modernisierung des Khmer sind in Kampuchea keine mit den Verhältnissen in Vietnam vergleichbaren Anstrengungen im Sinn einer nationalen Sprachplanung unternommen worden (vgl. § 2.). Als Beispiele für französische Entlehnungen des Khmer seien die folgenden erwähnt: /ta:em/ ‘Briefmarke’ ⬍ franz. timbre, /kra:vat/ ‘Krawatte’ ⬍ cravate, /mo:t/ ‘Mode’ ⬍ mode, /ka:poyra:to:/ ‘Vergaser’ ⬍ carburateur, /si:man/ ‘Zement’ ⬍ ciment, /sup/ ‘Suppe’ ⬍ soupe, /prike:/ ‘Feuerzeug’ ⬍ briquet.
den ersten Jahren waren französische, italienische, spanische und portugiesische Priester in Vietnam aktiv, später dominierte die französische Kirche das Terrain. Die besondere Aufmerksamkeit, die Vietnam in der Missionsbewegung genoß, beruht eigentlich auf einem Wechselfall der Geschichte. Ursprünglich und vorrangig galt das Interesse der europäischen Kirchen, insbesondere der Jesuitenbewegung, Japan, wo man sich einen wichtigen Durchbruch für die Missionsarbeit erhoffte. Angesichts der antichristlichen Pogrome in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und der Schließung Japans gegenüber allen Europäern ⫺ ausgenommen waren nur die Holländer mit ihren Handelsstützpunkten in Kyushu ⫺ blieb der Missionsbewegung als Alternative nur die Missionierungsarbeit auf dem Festland, in China und in den südlichen Regionen. Nach Vietnam gelangten auf diese Weise zahlreiche Missionare, die eigentlich nach Japan wollten, ihre Pläne jedoch wegen der aussichtslosen Lage ändern mußten. Den Vertretern der Kirche folgten Kaufleute, und von Anbeginn standen diese in nationaler Konkurrenz. Es gab holländische, portugiesische, englische und französische Niederlassungen. Die älteste französische Handelsgesellschaft in Vietnam wurde 1665 gegründet. Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Handel der Franzosen aktiver. Die Handelskontakte dienten ebenso wie die Missionsarbeit einem praktischen Zweck, dem der europäischen Einflußnahme in Fernost. Die herrschende Elite in Vietnam zeigte sich weder den geistigen noch den kommerziellen Innovationen gegenüber abgeneigt. Andererseits fand die Mission unter den Vertretern der konfuzianisch orientierten Elite kaum Anhänger. In erster Linie angesprochen von der christlichen Erlösungslehre fühlten sich die einfachen Menschen, an deren sozialem Wohlergehen die einheimische Oberschicht kaum interessiert war. In Vietnam nahmen sich die Bestrebungen, die Europäer auf Distanz zu halten, viel schwächer aus als in Japan. Allerdings erlebte auch Vietnam Versuche einer Einmischung des katholischen Klerus in die politischen Angelegenheiten des Landes, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dachte man daran, einen vietnamesischen Staat mit katholischer Staatsreligion zu schaffen. Berechtigterweise spricht man hierbei vom „christlichen Separatismus“ (Phan Thien Long Chau 1965, 22).
7.2. Vietnam erlebte im 17. Jahrhundert die ersten Impulse der alphabetischen Schriftlichkeit. Die Anwendung der alphabetischen Schreibweise nach europäischem (nicht indischem) Vorbild für die Nationalsprache sollte zum dominierenden Prinzip in der Moderne werden. Der Weg bis dahin war langwierig. Die Anfänge sind verknüpft mit der Missionsbewegung. Die ersten Europäer, die nach Vietnam kamen, waren Missionare, die bald nach 1600 von ihrem ostasiatischen Stützpunkt, der portugiesischen Kolonie Macao, nach Südostasien geschickt wurden. Die erste Missionsstation wurde 1615 von einem Portugiesen und einem Italiener in Hoi An (von den Europäern „Fai Fo“ genannt; 20 km südlich von Da Nang) gegründet. In
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Die Missionsbewegung in Vietnam konnte auf frühere Erfahrungen mit der Christianisierung in China und Japan zurückgreifen. Aus praktischen Erwägungen waren die Missionare der ersten Stunde in jenen Ländern sehr bald daran gegangen, die einheimischen Sprachen zu lernen und sie in ihren Predigten zu verwenden. Gleichzeitig bestand für die Europäer die Notwendigkeit, das Japanische und Chinesische zu schreiben. Hier ging man nicht den langwierigen Weg der Erlernung der einheimischen Schrift, sondern man versuchte sich in der Transliteration mit Hilfe des lateinischen Alphabets. Diese ersten Ansätze einer Romanisierung (d. h. der Anwendung des lateinischen Alphabets in der Tradition der romanischen Sprachen, insbesondere der portugiesischen und französischen Orthographie) der fernöstlichen Schriftkulturen waren vom Standpunkt der Missionare sehr erfolgreich, und auch die asiatischen „Neuchristen“ bedienten sich dieses Schriftsystems mit Vorliebe. In Vietnam verlief die Entwicklung ähnlich. Vor allem die Jesuiten bemühten sich darum, ein brauchbares Notationssystem zur Schreibung des Vietnamesischen zu schaffen (DeFrancis 1950, 14 ff). Einer dieser Jesuiten war der Franzose Alexandre de Rhodes, ein sprachgewandter Mann, der 1624 nach Thang Long in Südvietnam geschickt wurde. Seine Missionstätigkeit war von Anbeginn sehr erfolgreich, und binnen kurzem hatte er über sechstausend Vietnamesen getauft. Die Rasanz dieser Entwicklung erweckte den Argwohn des Herrschers der Trinh-Dynastie, und de Rhodes wurde mehrmals (und zwar 1630, 1640, 1645) kurzfristig des Landes verwiesen, konnte aber immer wieder zurückkommen. Nach seiner letzten Ausweisung reiste er allerdings von Macao aus nach Italien, wurde später nach Persien gesandt und kehrte nicht wieder nach Vietnam zurück. Bahnbrechend für die Tradition der Lateinschrift in Vietnam sollte das vietnamesischportugiesisch-lateinische Wörterbuch (Dictionarium annamiticum) von de Rhodes werden, das im Jahre 1651 veröffentlicht wurde. Diesem Wörterbuch ist ein kurzer grammatischer Abriß angeschlossen. Im selben Jahr erschien auch ein Katechismus in Lateinschrift. In dem Notationssystem dieser Schriften sind bereits die wesentlichen Grundlagen der lateinischen Graphie des Vietnamesischen (u. a. die Verwendung diakritischer Zeichen) festgelegt (DeFrancis 1977, 54). Einige Beispiele ausgewählter Ausdrücke in der Translitera-
Tab. 97.7: Die Schreibweise von de Rhodes im Vergleich zur modernen Graphie des Vietnamesischen (nach DeFrancis 1977, 58) Graphie von de Rhodes
Moderne Graphie
beˇa`o deˇa deˆy hoˇa` Vao uuÅo´ng uu´ chuien
va`o d’aø daˆy hoa` Vong vuÅo´ng vuÅ chuyeˆn
tion von de Rhodes im Vergleich zur modernen Orthographie des Vietnamesischen sollen die Aktualität des de Rhodesschen Notationssystems veranschaulichen (Tab. 97.7). Obwohl das Wörterbuch von de Rhodes das erste Werk ist, in dem die Tonhöhenunterschiede des Vietnamesischen im Druck diakritisch gekennzeichnet werden (Dinh Xuan Nguyen 1961, 25), hat es bereits vorher Ansätze zu einem solchen Notationssystem in den Handschriften anderer Missionare gegeben (DeFrancis 1977, 57). Nach dem Eindruck, den de Rhodes Schriften auf den kritischen Beobachter machen, beherrschte dieser Missionar das Vietnamesische mit beneidenswerter stilistischer Flexibilität (Nguyen Van To 1941, 9). Dabei muß es angesichts des Fehlens von Unterrichtsmitteln für Europäer besonders schwierig gewesen sein, diese Sprache zu lernen, von der de Rhodes einmal sagte, daß sie ihm anfangs wie „das Zwitschern von Vögeln“ vorkam (Rhodes 1681, 69). Die religiösen Schriften, die einerseits aus Übersetzungen von Teilen der Bibel, andererseits aus Predigttexten bestanden, hatten sowohl für die europäischen Priester als auch für die Einheimischen praktische Bedeutung. Die Europäer machten sich besser vertraut mit der Sprache, die Vietnamesen erhielten Zugang zur neuen Lehre. Angeblich soll de Rhodes bereits um 1630 eine vietnamesische Übersetzung des Katechismus, dessen Autor unbekannt ist, einem Staatsbeamten in Vietnam übergeben haben (Marillier 1961, xlvi). Da die christliche Lehre die in wirtschaftlicher Armut und ohne Aussicht auf sozialen Aufstieg lebende Bevölkerungsschicht leicht zu beeindrucken vermochte, gewann die Missionsbewegung rasch an Boden. Die soziale
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Schichtenspezifik der christlichen Gemeinden in Vietnam wie auch deren unmittelbare soziale Isolation von der Lebensweise der vietnamesischen Buddhisten und Konfuzianer führte dazu, daß der christliche Teil der Bevölkerung wie in „einer Art Ghetto“ (Krowolski 1973, 132) lebte. Die konfuzianische Elite des Landes hielt wie früher am Chinesischen als Bildungssprache fest, und ihre Vertreter fühlten sich den Traditionen der chinesischen Klassik verpflichtet. Die buddhistisch orientierten Aristokraten pflegten zwar auch das Chinesische (sino-vietnamesische Schriftsprache), verwendeten aber auch ihre Muttersprache, die sie nach dem Nom-System schrieben. Ein kleiner Kreis der vietnamesischen Christen lernte die Lateinschrift und schrieb die Muttersprache in dem Notationssystem der Missionare. Die Angehörigen dieser drei schriftkundigen Eliten des Landes nahmen sich allerdings wie eine Minderheit gegenüber der Masse der Analphabeten aus. Gegen Ende der französischen Kolonialherrschaft waren noch 80% der Vietnamesen Analphabeten. Der Gebrauch der Lateinschrift blieb lange Zeit auf den engen Kreis der vietnamesischen Christen beschränkt. Noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts berichtete ein Missionar, daß sich Buddhisten in Vietnam wunderten, wie man denn mit ausländischen Schriftzeichen ihre Muttersprache aufzeichnen könne. Im Verhältnis zur buddhistischen Mehrheit des Landes sind die Christen immer eine Minderheit geblieben, sowohl innerhalb der Bildungselite als auch bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Nach den heutigen Verhältnissen leben rund vier Millionen Christen (ca. 6% der Gesamtbevölkerung) in Vietnam, etwa zwei Drittel davon im Südteil des Landes. Das Christentum war allerdings ein entscheidender Faktor für die Vorbereitung der französischen Kolonialherrschaft und später einer ihrer tragenden Pfeiler. Exemplarisch kommt dies bereits in der Rolle von de Rhodes zum Ausdruck, den ein Biograph „einen der Architekten für die französische Einflußnahme in diesem Land“ (Durand 1957, 21) genannt hat.
wohn gegenüber den Christen im Lande, die immer mehr Rechte forderten, ja sogar gegen den Herrscher rebellierten, wie in den dreißiger Jahren, als ein französischer Missionar in den Südprovinzen eine Rebellion anführte. Unter König Minh Mang (Regierungszeit: 1820⫺1840) begann eine antichristliche Kampagne, der viele vietnamesische Christen und französische Missionare zum Opfer fielen. Napoleon III. versuchte im Jahre 1855 vergeblich, auf diplomatischem Weg Handelskonzessionen und religiöse Freiheit für die Christen zu erreichen. Mit der Beschießung Da Nangs und der Eroberung der Festung Gia Dinh (Saigon) 1858/59 begann der langwierige Krieg um Indochina. Bereits 1863 hatten die Franzosen das westliche Mekong-Delta erobert, das als Cochinchina zum südlichen Kerngebiet des französischen Kolonialreichs in Südostasien wurde. Im 1. Vertrag von Hue´ (1862) mußte Vietnam diese Region als französisches Territorium anerkennen. Von Süden nach Norden ging die Stoßrichtung der Eroberung, und im 2. Vertrag von Hue´ (1884) wurde ganz Vietnam (Süden: Cochinchina, Zentrum: Annam, Norden: Tongking) französisches Protektorat. Damit wurde der Weg frei für Versuche, das Land zu europäisieren. Dem Kulturchauvinismus der europäischen Kolonialherren waren keine Grenzen gesetzt, und so gab es auch Pläne, das Französische als offizielle Landessprache einzuführen, beispielsweise im Bildungsprogramm von Aymonier (1890). Besonders in Cochinchina hegten die Franzosen lange Zeit den Gedanken einer totalen Assimilationspolitik als Ausdruck eines „assimilierenden Imperialismus“ (Ennis 1936, 95 ff). Die intakten, zumeist von China ererbten kulturellen Institutionen waren den Franzosen als potentieller Kristallisationspunkt für nationale Opposition von Anfang an suspekt. In den ersten Jahrzehnten der französischen Kolonialherrschaft waren die Sprachverhältnisse in Vietnam geradezu unerträglich kompliziert. Die überzeugten Konfuzianer verwendeten weiterhin das Chinesische als Bildungssprache. Auch die Beamtenschaft des vietnamesischen Königshofes erledigte die schriftliche Korrespondenz in Chinesisch. Die Buddhisten bevorzugten das in Nom geschriebene Vietnamesisch. Die einheimischen Christen schrieben ihre Muttersprache in Lateinschrift, und für alle Vertreter der Bildungselite wurde die Vertrautheit mit dem
7.3. Bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts machte sich französischer politischer Einfluß in Vietnam geltend. Gia Long (Regierungszeit: 1802⫺1819), Begründer der nominell bis 1945 herrschenden Nguyen-Dynastie, kam mit Hilfe der Franzosen auf den Thron. Seine Nachfolger jedoch entwickelten großen Arg-
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Französischen zur kulturpolitischen Notwendigkeit (vgl. Abb. 97.11). Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Rolle des Französischen und Vietnamesischen als Schriftsprachen wurde der Alternative der lateinischen Graphie für das letztere auf Seiten der Vietnamesen immer größere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Vietnamesen nannten das Notationssystem der französischen Missionare tay cuoc ngu ‘nationale Sprache, die mit europäischen Buchstaben geschrieben wird’, chu˜· quoc ngu ‘(westliche) Schreibart der Nationalsprache’ oder einfach quoc ngu. Die letztere, abge-
kürzte Form setzte sich als Bezeichnung für die lateinische Graphie durch. Ein Franzose mit Weitblick äußerte damals die gleichsam prophetische Sentenz, daß Quoc Ngu „die gefährlichste Waffe in den Händen patriotischer Vietnamesen“ (Aymonier 1890, 30) werden könnte. Einer derjenigen, die das Quoc Ngu mit Vorliebe verwendeten, und entscheidend zur Popularisierung der lateinischen Graphie ihrer Muttersprache beitrugen, war der Katholik Truong Vinh Ky, der seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in französischen Diensten stand und sich auch für eine allgemeine Schulbildung
Abb. 97.11a
Abb. 97.11b
Abb. 97.11: Die drei Schriftsprachen und vier Schriftsysteme Vietnams: a. chinesischer Text, b. vietnamesische Fassung im Nom-System, c. vietnamesische Fassung im System Quoc Ngu, d. französische Fassung. (De Francis 1977, 156 ff)
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik Dans les temps ou` s’e´le`ve une tourmente de sable, Combien d’e´preuves atteignent les jeunes femmes! O bleu profond des cieux supe´rieurs, Qui donc est cause d’une telle infortune? Les tambours de Tra`ng-an e´branlent le clair de lune, Les feux de Cam-tuyeˆn empourprent les nuages. Du haut des Neuf Degre´s, l’Empereur, s’appuyant sur son e´pe´e, Au milieu de la nuit rend l’e´dit qui fixe le de´part. Trois cents anne´es durant, le pays a joui de la paix; A partir de ce jour, il faut reveˆtir la cuirasse. De`s l’aube, l’envoye´ impe´rial presse les combattants; Devant le bien public, que comptent les sentiments prive´s! Sur la route, ils se haˆtent, l’arc et les fle`ches au dos; Au moment des adieux, leur cœur s’attache a` leur famille … Les silhouettes de bannie`res et le bruit des tambours diminuent: Vers la frontie`re monte la tristesse, le chagrin demeure sur les seuils …
Abb. 97.11c
Abb. 97.11 d
auf der Basis des Quoc Ngu aussprach (DeFrancis 1977, 87 ff). Gleichzeitig setzte sich Truong Vinh Ky mit konfuzianischem Verantwortungsbewußtsein für die Bewahrung der Grundzüge des chinesischen Kulturerbes ein, womit er allerdings nicht die Beibehaltung des Chinesischen als Bildungssprache oder das Nom-System des Vietnamesischen, sondern die Pflege chinesischer Geistestraditionen und des Kulturwortschatzes meinte. Diese von Truong Vinh Ky vehement vertretene kulturelle Innovation ist als „äußerst feinsinnige Art, mit der Vergangenheit zu brechen“ (Osborne 1969, 264) bezeichnet worden. Die Propagierung des Quoc Ngu im Schulwesen war ein „unverdientes“ Verdienst der französischen Bildungsadministration. Da man sich in der Bildungspolitik letztlich keinen Erfolg von einem kompromißlosen französisch-sprachigen Zwangsunterricht versprach, wollte man den Weg einer zweisprachigen Ausbildung gehen, wodurch die einheimische Bevölkerung sich an das Französische gewöhnen sollte. An den freien Schulen wurde weiterhin Chinesisch unterrichtet. Die französische Administration erreichte es mit ihrer organisatorischen Reichweite, den zweisprachigen Unterricht in ihren „e´coles franco-annamites“ unter weitgehender Vernachlässigung des Chinesischen durchzusetzen. Als Folge der rigorosen Förderung der Lateinschrift für die Landessprache und die Kolonialsprache konnte die jüngere Generation der Vietnamesen schon in den zwanziger
Jahren dieses Jahrhunderts nicht mehr Chinesisch oder Nom schreiben. In den dreißiger Jahren waren die sino-vietnamesischen Bildungsvertreter eine verschwindende Minderheit im Lande. Anachronistisch mutet die Aufrechterhaltung der chinesischen Schriftkultur am Königshof bis 1945 und des NomSystems im religiösen Schrifttum sowie in Kaufverträgen Nordvietnams an (DeFrancis 1977, 204).
8.
Zeichenprozesse in der nachkolonialen Gesellschaft: moderne Trends in den Mosaikkulturen Südostasiens
8.1. Die Kulturlandschaften Südostasiens sind durch die Jahrhunderte immer vielschichtiger und komplexer geworden. Der indische und chinesische Einfluß hat die Kulturmuster und die Alltagsinteraktion in der gesamten Region entscheidend geprägt, der Islam hat nachhaltige Spuren in den Lebensgewohnheiten der Völker des Südens, auf der malaiischen Halbinsel, hinterlassen. All die Fremdeinflüsse jedoch haben nicht die kulturellen Wurzeln der ethnischen Gruppen in ihren prähistorischen Traditionen verschüttet. Die erstaunliche Kapazität, althergebrachte Kulturmuster mit neuen zivilisatorischen Errungenschaften in einem komplexen kulturellen Rahmen zu integrieren, schwächte sich auch während der europäischen Kolonialzeit nicht ab. Vergleicht man den Lebensstil der
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Thailänder, deren Land selbständig blieb und nicht zum Kolonialreich irgendeines europäischen Staates gehörte, heutzutage mit dem von Vietnamesen, Kambodschanern, Burmesen oder Malaien, so kann man kaum erkennen, in wessen Kultur mehr europäische Fremdeinflüsse zu finden sind. Die ehemaligen Kolonien haben während der Zeit der Fremdherrschaft ihre ethnische Identität nicht verloren, im Gegenteil, ihr kulturelles Spektrum hat sich erweitert. Unter dem Eindruck ihrer multikulturellen Entwicklung stellen sich die größeren ethnischen Gemeinschaften in Südostasien heute als eigentliche Mosaikkulturen dar (innerhalb Europas vgl. die Entwicklung in Britannien, siehe Art. 36 § 10.). Ihre Flexibilität, Althergebrachtes und Fremdimportiertes in unverwechselbaren Kulturmustern zu verschmelzen, deutet auf das hohe Maß an Anpassungsfähigkeit hin, das den Menschen verschiedener Herkunft und Sprache einen dynamischen Übergang in das Computerzeitalter ermöglichte. Die alten Kulturvölker der Region haben diesen Übergang zur Moderne durchlebt, ohne daß dies auf Kosten der Integrität der Heimkultur geschehen wäre. Anders ist die Situation der zahlreichen Minderheiten, deren Angehörige in ländlichen Gebieten, in unzugänglichen Bergregionen oder im Regenwald der malaiischen Halbinsel leben und ihre althergebrachten Lebensgewohnheiten beibehalten haben. Wenn diese Menschen, die allgemein von den Vertretern der Majoritätsbevölkerung als unkultiviert eingestuft und vielerorts diskriminiert werden, mit den Institutionen der modernen Zivilisation in Berührung kommen, führt der Kulturschock meist zu einer irreparablen Schädigung ihrer Identität. Den abseits vom zivilisatorischen Hauptstrom lebenden Minderheiten fehlt die Kapazität, ihre sozialen Verhältnisse den Gegebenheiten der Moderne flexibel anzupassen. Der ihnen vertraute archaische Animismus stellt nicht, wie die entwickelten Religionen (z. B. Hinduismus, Buddhismus, Taoismus oder Islam), ethisch-moralische Kategorien bereit, die eine konfliktfreie weltanschauliche Orientierung im heutigen urbanen Milieu ermöglicht. Vom Standpunkt der allgemeinkulturellen Evolution und der sozialen Anpassungsfähigkeit läßt sich der Begriff „Mosaikkulturen“ prägnant auf die Verhältnisse der alten Kulturvölker anwenden, jedoch nicht auf die Lebensbedingungen der meisten autochthonen Minderheiten, die an den kulturellen Fu-
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sionsprozessen der historischen Zeit nur mittelbar teilhatten. Noch heute haben einige Gruppen Kulturmuster bewahrt, die typisch sind für archaische Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft. Die Stämme der dunkelhäutigen Ureinwohner des Regenwaldes auf der malaiischen Halbinsel, beispielsweise die Semang, leben vollständig nomadisch, und ihre Wirtschaftsform ist das Wildbeuterstadium. Wenig verbindet ihre Lebensweise mit den seßhaften Malaien der Umgebung. Sie treiben mit den Dorfbewohnern am Rande des Urwalds einen „stummen Handel“. In Dorfnähe plazieren sie Früchte (z. B. des Durian-Baums) und andere eßbare Produkte des Dschungels. Einige Tage später holen sie von demselben Platz Tauschwaren der Dörfler ab (z. B. Salz, Messer, Zierperlen). Die meisten der Dschungelbewohner sehen in ihrem ganzen Leben keine Stadt. In den lexikalischen Strukturen vieler Minderheitensprachen, deren Sprecher abseits der Einrichtungen der modernen Welt leben, spiegeln sich die Fusionsprozesse der Kultursprachen nicht. Diese haben sich modernisiert und dabei ein unverwechselbares Eigengepräge entwickelt. Anders als in verschiedenen afrikanischen Regionen, wo die alten kulturellen Wurzeln der bodenständigen Bevölkerung von den Kolonialmächten zerstört wurden, und wo es zu einer entscheidenden Verdrängung einheimischer Sprachen durch ehemalige Kolonialsprachen in der überregionalen Kommunikation kam, haben weder das Englische noch das Französische ⫺ von weniger bedeutenden Kontaktsprachen wie dem Portugiesischen, Niederländischen oder Arabischen ganz abgesehen ⫺ die einheimischen Muttersprachen auf Dauer überfremdet. Im Amtsverkehr haben die südostasiatischen Sprachen Priorität. Einzig in Singapur hat sich eine Kolonialsprache, das Englische, im Kreis der wichtigen Kommunikationsmedien des öffentlichen Lebens gehalten. Öffentliche Bekanntmachungen und Verkehrshinweise werden in vier Sprachen (Englisch, Chinesisch, Malaiisch, Tamilisch) und in drei Schriftsystemen (Lateinschrift, chinesische Charaktere, indisches Alphabet) gegeben (Abb. 97.12). In solchen multimedialen „Informationsblocks“ spiegeln sich die Kulturschichten der Region wie in einem semiotischen Kaleidoskop. 8.2. Durch ihre Schriftsysteme dokumentieren die Sprachen Südostasiens ihre kulturellen Bindungen mit der übrigen Welt, genauer
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Abb. 97.12: Mehrsprachige Hinweistafel im Hafen von Singapur.
gesagt, mit der Welt der alphabetischen Schriftlichkeit. Die Tatsache, daß in allen Ländern der Region mit dem Alphabet geschrieben wird, sollte aber nicht im Sinn eines „Alphabetimperialismus“ mißverstanden werden. Die Einführung von alphabetischen Schriftsystemen nach Südostasien war keine politische Machtdemonstration auswärtiger Herrscher, sondern erklärt sich aus einer Konsolidierung kultureller Trends, die aus Westen (Indien) und Süden (arabische Welt, Europa) einwirkten. Von den indischen Schriften abgesehen hat sich auch die Lateinschrift zwanglos in Südostasien heimisch gemacht. Die Wurzeln der alphabetischen Tradition in Vietnam greifen tief, und das lateinische Alphabet ist ja dort bereits eine vorkoloniale Institution (vgl. § 7.). In Malaysia wurde das lateinische Alphabet („Rumi“) im vergangenen Jahrhundert zur Schreibung der malaiischen Schriftsprache adaptiert, deren Standardform (Bahasa Malaysia) von wenigen regionalen Besonderheiten abgesehen mit der indonesischen Standardsprache (Bahasa Indonesia) identisch ist (vgl. Art. 96 § 4.). Die Schreibung der Nationalsprache in lateinischen Buchstaben wird aber von den Ma-
laien nicht als Ausdruck des europäischen Kolonialismus empfunden, denn auch im unabhängigen malaysischen Staatsverband wird die Lateinschrift als nationales Symbol tradiert. Die arabische Schrift ist neben der Lateinschrift ein wichtiges Medium der Schriftkultur in Südostasien, allerdings in weniger öffentlichen Funktionen. Die arabische Sprache des Koran und die arabische Schrift sind wie überall in islamischen Ländern auch bei den Muslimen in Südostasien die Eckpfeiler religiöser Weltanschauung. In den Koranschulen Malaysias wird das Malaiische nach alter Tradition in arabischer Schrift („Jawi“) geschrieben, im öffentlichen Leben des Staates allerdings in Lateinschrift. Die Modernisierung der Schriftkulturen Südostasiens hat auch mit den Umwälzungen der Informationsverarbeitung im Computerzeitalter Schritt gehalten. Für die Schriftsysteme der Kultursprachen sind SoftwareProgramme entwickelt worden, so daß der In- und Output an digitalisierten Informationen in den landesüblichen Schriften erfolgt. Noch in den siebziger Jahren besaßen japanische Firmen das Monopol für diese Software, seit den achtziger Jahren bieten auch euro-
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päische Firmen Programme für die indischen Alphabetschriften Südostasiens an. Nachdem es japanischen Computeringenieuren gelungen war, die drei in Japan üblichen Schriftsysteme (Kanji, Hiragana, Katakana) zu programmieren, war der Weg frei für eine Software der chinesischen Schrift. In der chinesischen Geschäftswelt Singapurs basiert das Computerwesen im wesentlichen auf solcher Programmierung. Auf den ersten Blick würde man vermuten, daß die Tradierung der indischen Schriftsysteme in Burma, Thailand, Kampuchea und Laos den betreffenden Völkern einen unmittelbareren Zugang zur Identitätsfindung vermittelt als die von den Europäern nach Vietnam exportierte Lateinschrift, da doch die kulturellen Verflechtungen zwischen Indien und Südostasien besonders eng sind. Bemerkenswerterweise hat sich aber gerade in einem Land, wo das moderne Gesellschaftsleben unter dem Vorzeichen einer antikolonialistischen Kampagne steht, die Lateinschrift als zwangloses Symbol einer gesamtvietnamesischen Identität entfaltet. Jedenfalls beruht jegliche Diskussion über Sprachplanung im modernen Vietnam, soweit es um Fragen der Graphiereform geht, auf der stillschweigenden Anerkennung des alphabetischen Prinzips (zu einer ähnlichen Entwicklung in den Inselkulturen Südostasiens vgl. Art. 96 § 2.). Das Schriftsystem Quoc Ngu, das sich auf die von de Rhodes ausgearbeitete historische Graphie der französischen Missionare stützt, war zwar seit langem ein wichtiges Symbol nationaler Identität in allen Landesteilen; es ist aber bis heute uneinheitlich geblieben und hält teilweise inkonsequente historische Schreibungen aufrecht. Erst mit der politischen Unabhängigkeit des Landes (1945 des Nordens, 1975 des ganzen Landes) wurden günstigere Bedingungen für eine Reform geschaffen. Inzwischen aber hatten sich die älteren Schreibgewohnheiten soweit gefestigt und waren zum festen Bestandteil eines vietnamesischen kulturellen Bewußtseins geworden, daß der Konservativismus weitreichende Reformen verhinderte. Selbst Ho Chi Minh, der als politischer Führer der kommunistischen Bewegung bei deren Angehörigen großes Ansehen genoß, und der sich energisch für eine Schriftreform einsetzte (z. B. für die Ersetzung von ph durch f, von d durch z), hatte mit seinen Vorschlägen, die auch testamentarisch festgeschrieben wurden, keinen Erfolg (Nguyen
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Phu Phong 1983, 9 ff). Bemerkenswerterweise gingen aber wichtige Reformen ein in die Modernisierung der Schriftsysteme für verschiedene Minderheitensprachen (z. B. im TayNung-Schriftsystem; Thanh Ha 1967, 129 ff). Auf diese Weise entstand die paradoxe Situation, daß die Schriftsysteme für Minderheitensprachen moderner und praktischer zu handhaben sind als das der vietnamesischen Nationalsprache (Haudricourt 1961, 63). 8.3. Von den drei Hauptquellen für die lexikalische Modernisierung des Vietnamesischen, der Adaptation chinesischer Wörter, der Entlehnung von Ausdrücken aus europäischen Sprachen (insbesondere aus dem Französischen) und der Neuprägung unter Verwendung vietnamesischer Elemente, propagiert die moderne Sprachplanung Vietnams die letztere (Le Kha Ke 1968, 121 ff). Von den vielfältigen Möglichkeiten der einheimischen Sprachtechniken seien hier als Beispiel Zusammensetzungen mit dem Element ma´y ‘Maschine’ angeführt, die sich im modernen Sprachgebrauch durchgesetzt haben: ma´y anh ‘Kamera’ (wörtl. ‘Maschine des Bildes’), ma´y bay ‘Flugzeug’ (wörtl. ‘Maschine zum Fliegen’) als Ersatz für älteres sino-vietnamesisches phi co, ma´y e´p ‘Druckerpresse’ (wörtl. ‘Maschine zum Pressen’), ma´y ca´n ‘Walze (zur Blechverformung)’, ma´y che´p dang ‘Kopiergerät’, ma´y ghi am ‘Tonbandgerät’, ma´y ma`i ‘Schleifmaschine’, ma´y xuc ‘Bagger’ u. a. Solche zusammengesetzten Ausdrücke besitzen für vietnamesische Muttersprachler den Vorteil semantischer Transparenz ⫺ ein Vorzug, den die abstrakten Lautstrukturen europäischer Lehnwörter nicht bieten. Der englische Einfluß im Burmesischen hält bis heute an. Seit über hundert Jahren nimmt die Einwirkung dieser Sprache beständig zu und „jetzt haben englische Wörter, Redewendungen und Ideen die burmesische Sprache […] überschwemmt“ (U Tin Htway 1983, 373). In vielen Bezeichnungsbereichen hat das Englische bereits die Zahl der Entlehnungen aus dem Pali überflügelt und diese älteren Elemente teilweise ersetzt. Direkte Adaptationen aus dem Englischen sind beispielsweise burmes. /kumpani/ ‘Gesellschaft’ ⬍ engl. company, /moto ka/ ‘Auto’ ⬍ motor car, /di ga ri/ ‘Grad; Maß’ ⬍ degree, /fon tin/ ‘Springbrunnen’ ⬍ fountain, /re di yui/ ‘Radio’ ⬍ radio. Die moderne Sprachplanung in Burma verfolgt einen gemäßigten Kurs, indem lexikalische Innovationen häufig als Lehnübersetzung englischer Originaltermini
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konzipiert werden; z. B. burmes. /krok mi: swe:/ ‘Kohle, Steinkohle’, wörtl. ‘Stein-Holzkohle’ nach engl. coal, /jala beda/ (� Pali) ‘Ozeanographie’, wörtl. ‘Wissenschaft vom Wasser’ nach engl. oceanography. Im Fall des Khmer in Kampuchea scheint die Tradition der Neologismenbildung mit Hilfe von Elementen des indischen Kulturwortschatzes bis heute der entscheidende Motor für die Modernisierung der lexikalischen Strukturen zu sein. Die Zahl der technischen Termini, die aus dem Französischen entlehnt wurden, ist begrenzt (z. B. Khmer /tu:rnevih/ ‘Schraubenzieher’ � tournevis), und im modernen Alltagsleben dominieren Ausdrücke mit indischen Komponenten, d. h. aus dem Sanskrit oder Pali, den Sprachgebrauch; z. B. Khmer /tu:rietch/ ‘Fernsehen’, /tu:riele:k/ ‘Telegramm’, /tu:riesap/ ‘Telefon’, /rcthycn/ ‘Wagen, Auto’. Die Neologismenbildung im Thailändischen steht in einer nationalsprachlichen Tradition. Anders als im Fall des Burmesischen stützen sich lexikalische Innovationen auf einheimische Basislexeme oder auf entlehnte Elemente aus den indischen Bildungssprachen; z. B. thail. /sa na´am bin/ ‘Flugplatz’, / > thoo ra sap/ (ähnliche Bildung wie im < < Khmer, s. o.) ‘Telefon’, /rot/ oder /rot jon/ (ähnliche Bildung wie im Khmer, s. o.) ‘Auto’. Das englische Element in der thailändischen Neologismenbildung ist begrenzt. Nicht selten gibt es zu einer englischen Entlehnung eine einheimische Parallelbildung; z. B. /tee vee/ (� engl. TV) ‘Fernsehen’ neben < thail. /thoo ra that/.
nen Staaten ein breites Spektrum architektonischer Formen. Unter Umständen kann man alle Baustile, von prähistorischen Behausungen bis hin zu erdbebensicheren Wolkenkratzern, in ein und derselben Region vorfinden. Die malaiische Halbinsel sei hier als Beispiel für die Synchronität vielfältiger kulturhistorischer Trends und ihrer Manifestation im heutigen Bauwesen erwähnt. Nur wenige Kilometer trennen die Dschungelgebiete Malaysias von der modernsten urbanen Region Südostasiens, Singapur. Heute, wie seit Jahrtausenden, bauen die Dschungelwildbeuter ihre Windschirme auf (Abb. 97.13a), und nur eine gute Autostunde entfernt ragen die modernsten Gebäude der Welt in den Himmel (Abb. 97.13b). Die Wolkenkratzerlandschaft Singapurs ist nicht erdrückend wie die anderer Millionenstädte der Erde, vielmehr abwechslungsreich und „luftig“ angelegt. Die Großbauten bilden keine Kulisse für öde Straßenschluchten, sondern sie sind in kleineren oder größeren „Turminselgruppen“ verteilt. Es gibt keine zwei Großbauten, die gleich aussehen. Jedes Hochhaus hat seinen spezifischen Grundriß und ein individuelles Außenprofil. Die Großzügigkeit der architektonischen und stadtplanerischen Gestaltung harmonisiert mit dem kosmopolitischen Charakter dieses Ballungszentrums wirtschaftlicher und finanzieller Kraft. Singapur ist nicht nur die modernste und wirtschaftlich reichste Region Südostasiens, sie hat auch einige Weltrekorde zu verbuchen. Seit Ende der achtziger Jahre hält Singapur als Containerhafen die Weltspitze, und seit 1991 hat es nach Güterumschlag und Schiffsverkehr die großen Konkurrenten Hongkong und Rotterdam
8.4. Die Stratigraphie der Kulturschichten, die sich in den lexikalischen Strukturen der Regionalsprachen spiegelt, kann man auch in den anderen Zeichensystemen der modernen Mosaikkulturen Südostasiens erkennen. Beispielsweise bietet sich dem Betrachter in der Architektur der modernen Gesellschaften ein Querschnitt durch alle Kulturschichten dar. Während die Tradierung einheimischer Baustile charakteristisch ist für die Träger aller Kulturstufen, d. h. für Dschungelbewohner, für seßhafte Minderheiten im ländlichen Milieu sowie für die Angehörigen der alten Kulturnationen, gilt die Adaptation von architektonischen Fremdideen (vgl. §§ 5.�7.) nur für die letzteren. Stellt man sich die verschiedenartigen Stilformen, die in Südostasien vertreten sind, wie auf einem Kontinuum vor, so findet man in jedem der moder-
Abb. 97.13a
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Abb. 97.13b Abb. 97.13: Kontraste architektonischer Formen der Moderne: a. Windschirm der Semang im malaiischen Dschungel (nach Rolf 1989, 28); b. Silhouette der City von Singapur.
überrundet. Singapur ist zum wichtigsten Finanzzentrum des Pazifischen Wirtschaftsraums avanciert. In diesem Stadtstaat konzentriert sich mehr Finanzkraft als in Tokyo oder Hongkong. Während auch heute noch die Bauweisen im ländlichen Milieu der südostasiatischen Staaten jeweils die Traditionen lokaler Kulturen reflektieren (z. B. der Typ des mehrgiebligen Hauses in Nord-Thailand, des Langhauses in Malaysia, des Pfahlbaus bei den Bergvölkern Vietnams), finden wir im städtischen Milieu, insbesondere in den Metropolen, praktisch sämtliche Bautypen der Regionalkultur vom einheimischen Haustyp über buddhistisch inspirierte Bauwerke bis hin zu Zweckbauten in europäischem Stil. Die Vielfalt der architektonischen Formen erweitert sich, wenn auch die Baustile der Sakralbauten berücksichtigt werden. Hindutempel, buddhistische Schreine, chinesische Pagoden, Moscheen und christliche Kirchenbauten gehören zum Mosaik fast aller großen Städte. Die Spannbreite der Bauformen in den Städ-
ten Südostasiens ist insgesamt größer als in den Metropolen Europas, deren Architektur die Traditionen eurozentrischer Monokultur reflektieren. Ähnlich facettenreich wie das Wohnmilieu stellt sich auch die traditionsgebundene Welt der Sozialkontakte dar. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft, sei es Hausgemeinschaft, Großfamilienverband, Dorfgemeinschaft oder geschäftsorientierter Interessenverband, wird durch die besondere Pflege persönlicher Interaktion und ritualisierter Sozialkontakte (z. B. Teilnahme an privaten oder öffentlichen Festlichkeiten) beständig erneuert und vertieft. Auch im urbanen Alltagsleben bewegen sich etwa Thailänder, Malaien oder Chinesen auf einem Interaktionsniveau, das die zum Individualismus tendierenden Städter in Europa bestenfalls in der Atmosphäre einer Bürgerinitiative erleben. Festlichkeiten anläßlich von Geburt, Tod oder Hochzeit werden von den Vertretern aller Religionsgemeinschaften zumeist mit großem finanziellen Aufwand und farben-
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prächtiger Aufmachung begangen. Auf Europäer mag das Schaugepränge fremdartig wirken, für die Menschen in Südostasien ist das Ausleben der traditionsreichen Festrituale ein Medium der zwischenmenschlichen Solidarität und kulturellen Identität. Zu den Festritualen gehören eine Vielzahl von kulturellen Requisiten, vom Weihrauchstäbchen auf dem Hausaltar zu Ehren der Ahnen bis hin zum traditionellen Brautkleid (Abb. 97.14). Die Traditionsgebundenheit war auch ausschlaggebend dafür, daß die vorkolonialen Formen und Genres des Kunsthandwerks die koloniale Periode überdauert haben und bis heute fortbestehen. Erwähnenswert sind die kunstvolle Holzschnitzerei der Vietnamesen, die ursprünglich aus China importiert worden war, sich dann aber zur „eigentlichen, nationalen Kunst“ (Wulf 1991, 235) entfaltete, das burmesische Kunsthandwerk mit seinem zentralen Objekt, der Buddha-Statue, die malaiische Silberschmiedekunst und die
ornamentale Textilfärberei (Batik-Technik), sowie die chinesische Elfenbeinschnitzerei. Es gibt andere Bereiche der Kunst, wo europäischer Einfluß einheimische Traditionen überformt hat. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Malerei in Thailand mit ihren drei Hauptzweigen der Wandmalerei, der Malerei auf Stoffbahnen und der Manuskriptillustration. Die traditionellen Kunstformen sind nur in der klassischen thailändischen Malerei erhalten, die von 1767 bis etwa 1830 ihre Blüte erlebte (Dittmar 1989, 234 ff). Die klassischen Motive und Kultursymbole der Malerei findet man aber noch heute in der thailändischen Tanzkunst und in dem auf höfische Traditionen zurückgehenden Theater. Gesten, Posen und Bewegungen der Tänzer(innen) sind genau vorgeschrieben. Bei der Kostümierung fällt dem Europäer nur die Farbenpracht auf, dem einheimischen Beobachter erschließt sich zusätzlich die tiefe religiös-kultische Symbolik, die der thailändischen Tanztradition anhaftet. Zu den Hauptvarianten des Tanzes gehören der Maskentanz (/khon/), der Tanz mit Sprech- und Gesangsbegleitung (/lakhon/) und die burleske volkstümliche Form des klassischen Tanzes (/likay/). Die Tradition des Tanzes ist von zentraler Bedeutung für die Pflege anderer Formen des Kulturschaffens, die damit eng verknüpft sind, denn „im thailändischen klassischen ‘Tanz’ verbinden sich Sprechtheater, Tanz und Musik zu einem einheitlichen Ganzen“ (Dittmar 1989, 243). Eine andere Variante des klassischen Tanzes in Thailand wird heute nicht mehr gepflegt, und zwar das Schattenspiel (/nang/). Das früher am thailändischen Königshof beliebte Tanzspiel mit lebensgroßen Figuren in Schwarz-Weiß-Silhouetten stammte ursprünglich aus Java (vgl. Art. 96 § 6.), ist bei den Malaien auf dem Festland als Wayang Kulit bekannt und an der Ostküste West-Malaysias bis heute besonders in ländlichen Gegenden beliebt (Rolf 1989, 144 ff).
9.
Abb. 97.14: Junge Malaiin im Brautschmuck.
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98. Zeichenkonzeptionen in Ozeanien Ozeanien ⫺ Ein Überblick Australien ⫺ Die Kunst der Aborigines Polynesien ⫺ Kagobais Zeichensprache Mikronesien ⫺ „Stabkarten“ Melanesien ⫺ Knotenschnur der Iatmul und Zeichenkonzeptionen der Trobriander 6. Schlußbemerkung 7. Literatur (in Auswahl)
1. 2. 3. 4. 5.
1.
Ozeanien ⫺ Ein Überblick
„Ozeanien“ ⫺ das ist der treffende Sammelbegriff, unter dem man die Inselwelt Polynesiens (Vielinselgebiet), Mikronesiens (Kleininselgebiet) und Melanesiens (Schwarzinselgebiet, benannt nach der dunkelhäutigen Bevölkerung) und den Kontinent Australien zusammenfaßt. Die etwa 8,95 Mill.km2 umfassende Landfläche Ozeaniens, deren Hauptan-
teile natürlich auf Australien (7,7 Mill.km2) und dann auf Neuguinea (880 000 km2) und Neuseeland (27 000 km2) entfallen, verteilt sich auf weitere ca. 3000 Inseln im etwa 180 Mill.km2 großen Seegebiet des Pazifik (Stanley 1987, 43). Ozeanien erfaßt mit dem Pazifik ein Gebiet, das ca. ⅓ der Erdoberfläche ausmacht. Politisch gliedert man Ozeanien zum einen in unabhängige Staaten wie Tonga, West-Samoa, Tuvelau, Neuseeland (Polynesien), Fidschi, Vanuatu, Salomonen, Papua Neuguinea (Melanesien), Nauru, Kiribati (Mikronesien) und Australien, zum anderen in Gebiete mit Zugehörigkeit zu Frankreich (Wallis und Futuna, Ost-Polynesien, Neukaledonien), zu Großbritannien (Pitcairn), zu Chile (Osterinsel), zu Ecuador (Galapagos), zu Neuseeland (Cook-Inseln, Tokelau-Inseln, Niue), zu den USA (Amerika-
1972
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
nisch-Samoa, Marshall-Inseln, Föderation der Staaten von Mikronesien, Belau, Guam, Nördliche Marianen, Hawaii), zu Indonesien (Irian Jaya) und zu Australien (Norfolk-Inseln) (vgl. auch die Geschichte und politische Gliederung Südostasiens: Art. 96 § 3. und 97 § 1.). Man kann heute mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß die Bevölkerung Ozeaniens auf Migrationen aus Süd- bzw. Südostasien zurückzuführen ist. In den westlichen Teilen finden wir hauptsächlich dunkelhäutige, in Polynesien und Mikronesien eher hellhäutige Menschen. Mit Ausnahme wohl von Australien kann man davon ausgehen, daß man nirgendwo reinrassige Gruppen findet. Bei Polynesien und Mikronesien deutet vieles auf eine physische und kulturelle Verwandtschaft hin. Melanesien dagegen ist in eine Vielzahl von Einzelkulturen aufgesplittert. In Ozeanien unterscheidet man zwei große Sprachfamilien, die austronesischen (auch: malayo-polynesischen) Sprachen und die nicht-austronesischen (auch: Papua- oder voraustronesischen) Sprachen. Bei den austronesischen Sprachen unterscheidet man eine melanesisch/mikronesische und eine polynesische Gruppe; letztere wird geographisch in westliche und östliche Sprachgruppen unterteilt. Die melanesisch/mikronesische Gruppe erstreckt sich über Mikronesien und Melanesien; hier ist anzumerken, daß auf den Palau-Inseln und den Marianen Sprachen verbreitet sind, die zur indonesischen Sprachgruppe gehören. Die Untersuchung vieler dieser Sprachen hat gezeigt, daß sie zu dem ozeanischen Zweig der austronesischen Sprachfamilie gehören (Krupa 1982, 6). Die austronesische und die nicht-austronesische Sprachfamilie zerfallen in eine Fülle von Einzelsprachen, die selbst meist in Dialekte aufgesplittert sind. Allein in Neuguinea und im übrigen Melanesien werden ¼ aller bekannten Sprachen der Welt gesprochen. Man kann davon ausgehen, daß hier ca. 30% aller natürlichen Sprachen (nicht Dialekte!) existieren. Viele dieser Sprachen sind in der von Stephen Wurm und anderen an der Australian National University in Canberra edierten Reihe „Pacific Linguistics“ beschrieben. Die Sprachenvielfalt ist ein besonderer Aspekt der Zeichenvielfalt in Ozeanien. Mit ozeanischen Zeichenkonzeptionen haben sich nicht nur Linguisten und Ethnologen, sondern auch Vertreter vieler weiterer Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. Dieser Beitrag gibt einen Überblick; einige Fallbeispiele unterschiedlicher Zeichenkonzeptionen in Ozea-
nien werden angeführt, die Bibliographie ermöglicht dem Leser ein tieferes Eindringen in die nur kurz umrissenen Phänomene und in die Gesamtthematik.
2.
Australien ⫺ Die Kunst der Aborigines
Die Kunst der Ursiedler Australiens, die vor ca. 24 000 Jahren den Kontinent zu erschließen begannen, und die aufgespalten in etwa 500 Stämme als Jäger und Sammler lebten, ist fast ausnahmslos religiös motiviert. Robinson (1970, 511) definiert die Kunst der Australiden als „integral part of the pattern of religion, tradition and ritual which governs the tribal Aborigines’ whole existence“. Das religiöse System der Aborigines ist wie bei vielen Jägern und Sammlern charakterisiert durch die Vorstellung eines heiligen Eins-Seins mit der Natur (Tatz 1970, 28). In diesem System setzt sich eine anfangslose Urzeit, erschließbar durch Traum und Ekstase, in die Gegenwart fort: In der Vorzeit erscheinen, meist aus dem Erdinnern kommend, riesige mythische Traumwesen in der ungeordneten, formlosen Welt. Die menschen-, tieroder mischgestaltigen Wesen sind die Schöpfer der Natur mit all ihren Formen und ihrem Leben; sie sind Schöpfer der Geistkinder, die als Menschenkinder geboren werden können und so eine Verwandtschaft zwischen Menschen und Traumwesen begründen. Damit sind die Urzeitwesen auch die Begründer der totemistischen Vorstellungen der Aborigines und somit Schöpfer aller Kultur und Gesellschaftsordnung. Nachdem die Traumwesen auf ihren Wanderungen ihre Schöpfungsaufgabe erfüllt hatten, verwandelten sie sich in Felsen oder andere Naturformen. An allen Orten ihrer Wanderungen aber ließen sie Teile ihrer Kraft und Macht zurück, die durch Kult und Ritus der initiierten erwachsenen Männer immer wieder erneuert und reaktiviert werden können (zu derartigen animistischen Vorstellungen in anderen Kulturen vgl. Art. 32 § 5.1., Art. 36 § 5., Art. 37 § 3.1., Art. 38 § 2., Art. 47 § 2.5., Art. 58 § 2., Art. 89 § 4., Art. 90 § 2., Art. 91 § 4.3., Art. 93 § 5.2., Art. 97 § 4.5. und Art. 99 § 5.2.). Sowohl bei der Initiation als auch bei den Riten an den Kultstätten, aber auch im alltäglichen Leben spielt die Kunst, vor allem die graphische Kunst, in ihren offen-profanen und geheim-sakralen Kontexten eine entscheidende Rolle (Bühler, Barrow und
Abb. 98.1: Die geographische und politische Gliederung von Ozeanien.
1973
98. Zeichenkonzeptionen in Ozeanien
Mountford 1961, 211⫺231; Tatz 1970; Helfrich 1972). Durch Rezitation, Gesang, Tanz und darstellendes Spiel, durch Herstellung und Erneuerung von Höhlen-, Fels- und Rindenmalereien, durch Bodenzeichnungen, durch Schwirr- und Seelenhölzer („tjurunga“), durch steinerne „tjurunga“, flache gravierte Holztafeln, Pfosten, Pfähle, Holzfiguren, Kopfschmuck, Körperbemalung und andere Kultobjekte, aber auch in der Art der künstlerischen Verzierung selbst alltäglicher Gebrauchsgegenstände wird die mystische Verbindung zwischen Menschen und Traumwesen aufrechterhalten. Durch die tradierte künstlerische Vergegenwärtigung der Schöpfungstaten der mythischen Wesen kann deren Kraft konserviert und nutzbar gemacht werden (vgl. Abb. 98.2 auf Tafel XII). Von daher ist die Kunst der Aborigines Ausdruck einer spezifischen mythischen Zeichenkonzeption, die besonders dazu dient, die Verbindung zur Traumzeit und zu den Traumwesen aufrechtzuerhalten, die deren Macht begründet, die die Natur und die Regeln des sozialen Miteinanders erklärbar und verstehbar werden läßt und die auch durch die Einbeziehung kodierter praktischer Information über Topographie, Wegbeschreibungen und Ressourcen erst ein (Über-)Leben im Einklang mit der Natur ermöglicht (Bardon 1979; Leuzinger 1985, 182 ff). Adam (1954, 37, 59 f, 152 ff, 231 f), Bühler, Barrow und Mountford (1961, 211 ff) sowie Robinson (1970, 511 ff) geben ausführliche Darstellungen der einzelnen Formen, Stilrichtungen, Techniken, Materialien, Entwicklungen und Schulen der für die Aborigines charakteristischen Kunst in ihrem jeweiligen religiösen und sozialen Gesamtzusammenhang. Natürlich zeigt die Kunst der Aborigines nur eine, wenn auch stark ausgeprägte Art der Zeichenkonzeption. Zu anderen Konzeptionen, die sich in den Gebärdensprachen ausdifferenziert haben, wurde in jüngster Zeit erneut publiziert (Kendon 1988). Diese besonderen Zeichensysteme werden hier nicht am Beispiel der Aborigines, sondern an einem spektakulären Fall aus Polynesien diskutiert.
3.
Polynesien ⫺ Kagobais Zeichensprache
Ein außergewöhnliches, ja einzigartiges Beispiel für die vielfachen Zeichensysteme Polynesiens wurde von Kuschel (1973 und 1974) beschrieben. Es handelt sich dabei um die
vom etwa 1915 taubstumm geborenen Kagobai entwickelte Gebärdensprache. Kagobai ist der einzige Taubstumme der Insel Rennell, die mit der Nachbarinsel Bellona als „Polynesian Outliers“ zu den Salomonen gehört. Kuschel hat insgesamt 217 Zeichen Kagobais beschrieben, die ohne melanesische oder westliche Einflüsse allein als Ergebnis der persönlichen Kreativität des Taubstummen, als Kagobais eigene Strategie, um mit seinen Mitmenschen kommunizieren zu können, gelten müssen. Kuschel weist darauf hin, daß eine Vielzahl dieser Zeichen, wie z. B. das Zeichen für das Bruder-Schwester-Verhältnis, das das komplizierte Vermeidungsverhalten dieser Verwandten in der Rennell-Kultur ausdrückt (Kuschel 1973, 15, 17 f; 1974, 35, 52, 98), kulturell determiniert sind. Er schlägt deshalb zunächst eine Klassifikation der Gebärden nach dem Grad ihrer unmittelbaren bzw. mittelbaren Dekodierbarkeit vor. Im 1974 publizierten Lexikon gruppiert der Feldforscher noch plausibler Kagobais Zeicheninventar ⫺ „with due consideration for the principles of encoding, i. e., the relationship between the sign vehicle and its referent“ (Kuschel 1974, 23) ⫺ in indikative, imitative und symbolische Zeichen. Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen auf Kagobais Zeichen einzugehen ⫺ dem Leser seien Kuschels Arbeiten zur Lektüre empfohlen. Hier ist festzustellen, daß der vorgestellte Extremfall einer persönlich entwickelten Zeichensprache als Paradebeispiel dafür gelten kann, wie unterschiedliche Bedürfnisse, Bereitschaften, aber auch Zwänge zur Kommunikation, zur Informationsspeicherung und -weitergabe in ganz Ozeanien die Entwicklung verschiedenartiger Kodes ermöglicht haben. Zu anderen Zeichenpraktiken der Polynesier wie zu ihrer Kunst, besonders in ihrer wohl bekanntesten Ausformung als Tätowierung (Brain 1979, 56 ff; vgl. Art. 97 § 4.2.), aber auch zu ihren im Zusammenhang mit den seefahrerischen Fähigkeiten entwickelten Hilfsmitteln der Navigation muß ich auf die Bibliographie verweisen. Seefahrerische Zeichensysteme sind in Polynesien stark ausgeprägt; sie lassen in Verbindung mit Mythen Rückschlüsse auf die Glaubensvorstellungen der Polynesier über das Universum zu. Eine entsprechende Zeichenkonzeption wird an einem mikronesischen Beispiel vorgestellt.
4.
Mikronesien ⫺ „Stabkarten“
In Polynesien und in Mikronesien entwickelten die Seefahrtsspezialisten eine Reihe von Zeichen, die ihnen bis in die Anfänge des 20.
1974
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Jahrhunderts ⫺ zu einer Zeit, als man dort noch keine Atomtests durchführte, als auf dem Johnston-Atoll noch nicht chemische Waffen gelagert und „entsorgt“ wurden, und als das Rongelap-Atoll noch nicht für die vielen Fälle von Schilddrüsenkrebs berüchtigt war ⫺ vor ihren teilweise sehr weiten Reisen als Orientierungshilfe zum Navigieren dienten. Neben Franz (1971), Lewis (1978), Tho˚ kermas (1987) und anderen hat vor allem A blom (1968) die Methoden und Techniken polynesischer und mikronesischer Navigation ausführlich dargestellt. Hier wird nur eines dieser Hilfsmittel näher betrachtet, die sogenannten „Stabkarten“ der Marshall-Insulaner, die wohl nur für diese Inseln speziell entwickelt wurden. Ein komplexes Netzwerk von zusammengebundenen Palmblattrippen mit z. T. daran befestigten Schneckengehäusen und Korallen, die Atolle repräsentieren, stellen verschiedene Dünungen dar, die zur für Fernfahrten geeigneten Saison in verschiedenen Gebieten der Inselgruppe zu erwarten sind. Auf den Marshall-Inseln existiert ständig eine Dünung von Osten, die von einer Insel immer bogenförmig abgelenkt wird. Eine ebenfalls vorhandene schwächere Dünung von Westen wird ebenfalls von einer Insel abgelenkt. Das gleiche gilt für Dünungen aus dem Süden und Norden. Werden zwei entgegenstehende Dünungen durch eine Insel abgelenkt, ergeben sich auf beiden Seiten der Insel Kabbelungspunkte, in denen diese beiden Dünungen aufeinandertreffen. Die Kabbelungspunkte setzen sich immer schwächer werdend ins offene Meer fort. Konnte ein Bootsführer einen solchen Punkt ausmachen, dann diente ihm die Reihe der weiter zu erwartenden Kabbelungspunkte als eine Art Führungslinie hin zu der Insel, die diese Kabbelungen verursachte. Die verschiedenen Dünungen sind in den Rahmen der Stabkarten repräsentiert, in denen außerdem Kabbelungspunkte und die Art, in der die Dünungen abgeleitet werden, aber auch mögliche Routen zu einzelnen Inseln, durch Querstäbe symbolisiert werden. Bei den nach Süden ausgerichteten Karten unterscheidet man drei Typen: Übersichtskarten über eine Inselgruppe, Spezialkarten für bestimmte Teilgebiete einer Inselgruppe und Lehrkarten. Die Stabkarten waren Geheimbesitz von Häuptlingen und Navigationsspezialisten; nur derjenige, der eine solche Karte anfertigte, konnte sie auch lesen. Das Entscheidende ˚ kerblom (1968, 116 ff) illustrierdieser bei A ten Karten aber ist, daß sie nie an Bord eines
Kanus benutzt wurden, sondern vor dem Beginn einer Reise dem Schiffsführer als mnemotechnische Orientierungshilfe dienten. Mit den Stabkarten prägte er sich den einzuschlagenden Kurs seines Kanus genau ein. Die Stabkarten der Marshall-Insulaner sind ein Zeichensystem, das aus der genauen Beobachtung der maritimen Umwelt hervorgegangen ist. Zur Information über weitere solche Systeme verweise ich auf die Bibliographie; frühe Kartographie in Europa beschreiben Art. 46 § 6., Art. 55 § 7.2. und Art. 57 § 2.5.
5.
Melanesien ⫺ Knotenschnur der Iatmul und Zeichenkonzeptionen der Trobriander
Melanesiens mannigfaltige Zeichensysteme in angemessener Weise darzustellen, erforderte ein mehrbändiges Handbuch. Stellvertretend für die Vielzahl dieser Systeme werden hier zwei Fallbeispiele vorgestellt; ansonsten muß ich wieder auf die Bibliographie verweisen. In seiner 1982 erschienenen Arbeit Der Gesang an den fliegenden Hund ist es Wassmann gelungen, die „kÈrugu“-Knotenschnur der Einwohner des Dorfes KandÈngei am Mittelsepik als Ordnungssystem der innerkulturellen Beziehungen der Iatmul zu dokumentieren und zu analysieren (zur Verwendung von Knotenschnüren in Altamerika vgl. Art. 99 § 2.4.2.). Die Knotenschnur „‘ist’ die urzeitliche Wanderung des Clangründers und der weiteren Urzeitwesen, welche die heutige Welt-Ordnung begründet, und sie trägt den Namen des Wanderkrokodils, das dem Clangründer den Weg bahnte“ (Wassmann 1982, 315). Am Anfang einer solchen Knotenschnur repräsentieren kleine Knoten die Namen der weiblichen Schöpfungserde; große Knoten symbolisieren Orte und Stationen der urzeitlichen Wanderungen der jeweiligen Clangründer; kleine Knoten zwischen den größeren Verknüpfungen stehen für Namen von Urzeitfrauen, Kulturbringerinnen, die den Boden der Orte bilden oder Frauen der Orte oder der Männerhäuser sind. Das Verstehen einer Knotenschnur ist nur möglich, wenn man die in ihr implizierte Schöpfungsvorstellung der Iatmul kennt. Die in der Knotenschnur kodifizierten Daten bestimmen noch heute die Landbesitzverhältnisse und das Totemsystem der verschiedenen Clangruppen. Zusätzliches Wissen über Ereignisse während der Urzeit, für dessen Abrufen die Schnur nur mnemotechnische Hilfe leistet, begründet darüber hinaus
1975
98. Zeichenkonzeptionen in Ozeanien
verschiedene Rechte und Privilegien verschiedener Clanmitglieder. Die Knotenschnur in ihrer Gesamtheit ist nur wenigen „big men“ bekannt. Sie dient ihnen als Basis für politische Entscheidungen vor allem im Zusammenhang mit Namen und Landbesitz und für ihr Weltverständnis insgesamt. Obwohl demnach die Knotenschnur im Prinzip geheim ist, wird sie, allerdings durch Auslassungen „zensiert“, im Gesangszyklus öffentlich akustisch dargestellt, besonders um zu gewährleisten, daß die Clanmitglieder sich mit ihrem Clan weiter identifizieren und ihre Ansprüche auf bestimmte Dinge und Privilegien, begründet in ihrer Clanzugehörigkeit, aufrechterhalten. Die von Wassmann dokumentierten Knotenschnüre der Iatmul können als Beispiel dafür gelten, wie ein Zeichensystem und seine rituelle Anwendung in einer Ethnie zum Verstehen der Gesamtzusammenhänge führt, die die Kultur dieser Ethnie ausmachen. Auch auf den Trobriand-Inseln ist in unterschiedlichen Bereichen die soziale Konstruktion der gesellschaftlichen Realität in Zeichenkomplexen kodifiziert und reflektiert. So zeigt sich beim Erlernen des Kilivila, der Sprache der Trobriander, daß ein adäquater Sprachgebrauch nur möglich ist, wenn der aus einer anderen Kultur kommende Sprachlerner die auch im metasprachlichen Vokabular bezeichneten Konzepte ihrer „situationsintentionalen“ Varietäten erfassen kann. Nur so wird sich ihm erschließen, daß die Gemeinschaft über das sprachliche Mittel dieser Varietäten, die zur Ritualisierung von Kommunikation eingesetzt werden, ihre soziale Harmonie wahren und sich ihrer versichern kann (Senft 1986, 1989 und 1996). Daß diese Notwendigkeit besteht, läßt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Struktur auf Trobriand zu. Diese Ethnie ist in Clans aufgespalten; die Gesellschaft ist stark hierarchisch stratifiziert. Das zeigt sich auch in der Art und Weise, wie sich Angehörige von Clans unterschiedlichen Ranges anläßlich von Festlichkeiten und Feiern schmücken dürfen (vgl. Abb. 98.3 auf Tafel XIII), wie um wen getrauert wird oder wer von wem nach der Ernte wieviel Yams erhält (Malinowski 1935; Weiner 1987). Bei diesen Anlässen zeigen sich im Körperschmuck, im Komplexitätsgrad von Trauerritualen und in der Yamsverteilung sozial konstitutive Zeichenkonzeptionen der Trobriander, die das Verhältnis der Clanmitglieder, aber auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in ihrer Gesellschaft reflektieren und konservieren.
Ein weiteres Zeichensystem, das diesen funktionalen Aspekt einschließt, ist die Schnitzkunst. Bestimmte Motive und Schnitzwerke werden als Mittel zur Rangmarkierung eingesetzt. Mit seiner Schnitzarbeit kann sich insbesondere der Künstler selbst Rang erwerben. In den im Schnitzwerk kodifizierten Inhalten werden auch mythische gesellschaftsund welterklärende Ideen und Vorstellungen tradiert (Scoditti 1990; vgl. Abb. 98.4 auf Tafel XIV). In weniger künstlerisch verfremdeter Art findet man diese Ideen im Spiel; hier müssen vor allem Fadenspiele als besondere Form eines Zeichensystems genannt werden (Senft und Senft 1986). Auf den Trobriand-Inseln sind Zeichen in nahezu allen Bereichen des Alltagslebens präsent; sie erfüllen in ihren verbalen und nonverbalen Ausprägungen vor allem gesellschaftskonstituierende und -bewahrende Funktionen.
6.
Schlußbemerkung
Betrachten wir die ozeanischen Zeichen und Zeichenkonzeptionen, dann können wir folgendes festhalten: Alle behandelten Zeichensysteme sind in den jeweiligen Kulturen anerkannte Phänomene, über die geredet wird, über deren Funktionen man Auskunft geben kann (bei den meisten Ethnien ist auch die Struktur der Zeichen so präsent, daß darüber reflektiert wird). Sie können hier nur deshalb vermittelt werden, weil Angehörige dieser Ethnien Wissenschaftlern im Diskurs die den Zeichensystemen zugrunde liegenden Konzeptionen expliziert haben. So steht hinter der Kunst der Aborigines das Konzept der „Traumzeit“; hinter den „Stabkarten“ steht das Konzept der „Orientierung im Raum“; hinter der Tätowierung der Polynesier, der Schnitzkunst, dem Körperschmuck und der Komplexität der Rituale der Trobriander (vgl. Abb. 98.5 auf Tafel XV) steht primär das Konzept des „Ranges“; und hinter der Knotenschnur der Iatmul steht gar ein Konzept, aus dem diese Ethnie ihr Selbstverständnis insgesamt herleitet. Man kann die ozeanischen Zeichenkonzeptionen zurückführen auf einige dem Menschen wohl auch angeborene Bedürfnisse; sie sind Umsetzungen seiner Naturbetrachtung und abstrakter Ausdruck seiner im Gemeinwesen entwickelten Gesamtkultur. Mit der Entwicklung dieser Zeichenkonzeptionen hat sich der Mensch in Ozeanien ein wichtiges Hilfsmittel geschaf-
1976
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
fen, um sich sein (Über-)Leben zu ermöglichen und zu sichern (zur Funktion von Artefakten und Mentefakten für das Überleben einer Kultur vgl. Art. 99 § 9.2.).
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7.
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1977
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika 1. Einleitung 1.1. Die Motivation der Kultursemiotik 1.2. Die Auswahl des Gegenstandes 1.3. Zur Vorgehensweise 2. Altamerika: ein Überblick 2.1. Nordamerika 2.2. Südamerika 2.3. Mittelamerika 2.4. Kulturelle Zeugnisse 3. Das Ausgangsmaterial 3.1. Die Quellen und ihre Bearbeitung 3.2. Kontinuität und Wandel 4. Der Kalender der Maya 5. Beschreibung des Jahreserneuerungsrituals der Maya 5.1. Das Jahreserneuerungsritual in Yucata´n um 1550 n. Chr. 5.2. Das Jahreserneuerungsritual bei den Chortı´-Maya um 1960 n. Chr. 6. Kosmologie 7. Theologie 8. Zeichenkonzeptionen im Jahreserneuerungsritual der Maya 8.1. Zeichen und Wirklichkeit 8.2. Beziehungen von Zeichen und Typen von Bedeutung 8.3. Konstruktion der Bedeutungsbeziehungen 8.4. ‘Zeit’ in den Bedeutungsbeziehungen 8.5. Für eine Theorie des Zeichensystems der Maya 9. Perspektiven 9.1. Ausblick auf die semiotische Forschung 9.2. Rückblick 10. Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
1.1. Die Motivation der Kultursemiotik Eine semiotische Analyse anderer Kulturen bietet wenigstens dreierlei Nutzen. Zum ersten kann sie gerade mit ihren modellbezogenen Fragestellungen einen Blick auf die oft komplexen Wege fremden Denkens ermöglichen und diese damit nachvollziehbar sowie verständlicher und vergleichbarer machen. Zum zweiten erschließt sie damit unweigerlich den Reichtum und die Fülle kognitiver Leistungen, mit denen andere Kulturen ihre Welt geordnet und ihre ideologischen und symbolischen Probleme sowie ihre alltäglichen Bedürfnisse bewältigt haben. Zum dritten veranschaulicht die semiotische Analyse Wege möglicher Problemlösung und bewahrt sie als Teil des großen Schatzes kultureller Vielfalt. Von daher versteht sich dieser
Artikel auch als Anstoß zu weiteren kultursemiotischen Studien indianischer Gesellschaften. 1.2. Die Auswahl des Gegenstandes Angesichts der Fülle indianischer Kulturen auf dem amerikanischen Doppelkontinent muß deren Analyse sich hier auf einen exemplarischen Gegenstand beschränken. Ganz bewußt wird dabei das Alltagsleben der Menschen in den Vordergrund gestellt: seine Darstellung erfüllt am eindrucksvollsten die oben genannten Zielsetzungen (zur Semiotik des Alltagslebens in Europa vgl. Art. 48, Art. 59, Art. 73 und Art. 88). Demgegenüber wird die von so zahlreichen Arbeiten erforschte Kunst des amerikanischen Kontinents hier nur am Rande berücksichtigt (zur Kunst Nordamerikas siehe zum Beispiel Naylor 1975, Snow 1976, Hoffmann 1985 und 1988; zur Kunst Mittel- und Südamerikas siehe Covarrubias 1957, Appleton 1971, Reina und Hill 1978, Furst und Furst 1981, Nun˜o und Robles 1981, Kubler 1984, Schele und Miller 1986). Als zentraler Gegenstand wird das Jahreserneuerungsritual (vor-)kolumbianischer und zeitgenössischer Maya herausgegriffen. Unter „Ritual“ wird hier verstanden ein wiederholbarer, verkörperlichter Handlungsablauf mit sakralen bzw. transzendenten Aspekten und sozialer Relevanz. Die hierin liegende Verschränkung von Raum, Zeit, sozialer Handlung und theologischen sowie kosmologischen Aspekten ergibt ein ideales Betrachtungsfeld für Zeichenkonzeptionen im Leben der (altamerikanischen) Maya. Die semiotische Perspektive besteht darin, das Ritual als System signifikanter Elemente aufzufassen, die Beziehungen zwischen den Zeichen(-typen) zu erfassen und das Muster oder die Regelhaftigkeit dieser Beziehungen darzustellen. Die Ausführung des Rituals ermöglicht Semiosen zwischen Ausführenden und Zuschauern bzw. Adressaten. Das Ritual kodiert die genannten Wirklichkeitsaspekte; die Teilnehmer bzw. Adressaten können die in jenem System von Handlungselementen fixierten Bedeutungsbeziehungen dekodieren (zur Funktion des Rituals im europäischen Altertum vgl. Art. 36 §§ 5. und 6., Art. 37 § 5., Art. 38 § 4. sowie Art. 47 § 4.). Es mag nicht selbstverständlich sein, Rituale als Bestandteil des Alltagslebens anzusehen. Im Alltagsleben der Maya war eine sa-
1978 krale oder theologische Dimension stets implizit, worauf die gesellschaftliche Rolle der Priesterschaft, des Kalenderwesens allgemein und besonders die des divinatorischen Kalenders („Tzolkin“, s. u. § 4.) für Entscheidungen des persönlichen wie familiären, privaten wie öffentlichen Lebens hinweist. In diesem Sinne war die Gesellschaft der Maya ⫺ wie viele andere außereuropäische ⫺ eine „multifunktionale“ (Vivelo 1981, 193); d. h. in jeder gesellschaftlichen Institution waren mehrere Dimensionen (hier: mindestens immer auch eine sakrale Dimension) mitkodiert. Dies bedeutet, daß es kaum einen Aspekt alltäglichen Handelns gegeben hat, der nicht auch eine transzendente Dimension aufwies. Das zeigt sich in den Mythen der Indianer (vgl. deren semiotische Analyse bei Hunt 1977 und Ochiai 1986). Es trifft aber in besonderem Maße für den Kalender zu, der als Divinationsinstrument maßgebend für alles Entscheiden und Handeln war. Den in dieser Gesellschaft besonders bedeutungsgeladenen Beginn des neuen Jahres und seine ritualisierte gesellschaftliche Verarbeitung zum Gegenstand zu nehmen, eröffnet so nicht nur den Blick auf die komplexe Zeichenkonzeption der Maya, sondern zugleich auch auf ihre alltäglichen Bedürfnisse und Ängste. 1.3. Zur Vorgehensweise Der Artikel beginnt mit einer überblicksartigen Darstellung der kulturellen Vielfalt des Doppelkontinents, um eine Einordnung des exemplarischen Gegenstandes zu ermöglichen. Detailliertere Darstellungen müssen der anschließend kurz vorgestellten Fachliteratur vorbehalten bleiben. Danach wird der Wert der für die Ritualdarstellung benutzten Quellen erläutert. Um die Rituale in ihrem Ablauf referieren zu können, müssen einige grundlegende Informationen über das Kalendersystem vorausgeschickt werden. Die anschließenden Darstellungen des Rituals bei den (vor-)kolumbianischen Maya (nach Landa 1941) und den zeitgenössischen Maya (nach Girard o. J.) werden vor den Hintergrund der Weltsicht und Götterwelt der Maya gestellt. Zwischen diesen Ebenen der symbolischen Wirklichkeit werden Beziehungen deutlich, die dann (in § 8.) mit semiotischen Mitteln bearbeitet werden. Die Analyse gibt einen Einblick in die Zeichenkonzeptionen der Maya und weist damit auf Lücken in den gängigen Theorien der (westlichen) Semiotik hin. Die abschließende Literaturliste führt ne-
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Karte 99.1: Kulturareale Nordamerikas (nach Lindig und Münzel 1976, 14).
ben der zitierten Literatur solche auf, der Anregungen für mögliche weitere semiotische Studien zu entnehmen sind.
2.
Altamerika: ein Überblick
2.1. Nordamerika Die Besiedelung des Doppelkontinents Amerika begann schätzungsweise vor 30 000 Jahren über die Behringstraße (Snow 1976, 20 f), und bis die ersten Europäer nach Amerika gelangten, hatte sich dort eine Fülle unterschiedlichster Kulturen ausgeprägt (zur Siedlungsgeschichte in Asien vgl. insbesondere Art. 94 und Art. 97). Für die Zeit vor den ersten Kontakten mit Europäern läßt sich Nordamerika in mehrere große Kulturräume unterteilen (vgl. Karte 99.1). Seßhafte Kulturen befanden sich vor allem an der Nordwestküste und zum Teil im Südwesten, wobei erstere vorwiegend von Fischfang und Sammelwirtschaft, die zweiten von Ackerbau und Sammelwirtschaft lebten. Besonders eindrucksvolle künstlerische Artefakte sind von der Nordwestküste bekannt, während im Südwesten die aus Lehm gebauten CliffDwellings (Felsklippensiedlungen) noch heute Touristenattraktionen darstellen. In den anderen Arealen herrschte Jäger-, Sammlerund Wildbeutertum vor; die kontaktzeitliche Einführung des Pferdes erlaubte den Kulturen der Ebenen des zentralen Nordamerika, wandernden Viehherden über größere Entfernungen zu folgen, woraus sich bei den Völkern der Plains teilweise Nomadismus entwickelte. Insgesamt können wir davon ausge-
1979
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
hen, daß sich sogenannte „Hochkulturen“ ⫺ bemessen nach dem Stand der Ausprägung materieller Artefakte ⫺ hier nicht entwickelten. Einen näheren Überblick über den Halbkontinent geben für die prähistorische Zeit Snow (1976), allgemein über Geschichte und Kulturen vor allem Sturtevant (1978⫺88) sowie (für den deutschsprachigen Leser) Lindig und Münzel (1976), Läng (1989) und außerdem Smith (1983). Einzelnen Kulturarealen wie den Plains widmet sich Hartmann (1979); einen Überblick über die materielle Kultur gibt z. B. Hothem (1984). Die Beschreibungen alltäglicher Lebensbereiche wie z. B. bei Chapman (1975) für Literatur, Culin (1975) für das Spiel, Frisbie (1980) für Theater, Jett und Spencer (1981) für die Architektur sowie White (1979) für das Alltagsleben allgemein können erste Orientierungen für semiotische Analysen bieten. 2.2. Südamerika Der südamerikanische Kontinent bietet ein ebenso vielfältiges Bild wie der nordamerikanische, doch von völlig anderer Prägung. Östlich der Anden finden wir Kulturräume, die von verschiedenen Jäger-, Sammler- und zum Teil Nomadenkulturen bewohnt waren (vgl. Karte 99.2), zwischen denen es bezüglich materieller wie geistiger Kultur enorme Unterschiede gibt. Die sogenannten „Hochkulturen“ bildeten sich alle im andinen Raum aus. Die Karte 99.3 nennt einige Kulturen, die schon vor den Inkas in den Anden existierten, so vor allem die von Chavin, Chimu, Mochica und Tiahuanaco. Für das nordwestliche Südamerika (also etwa kongruent mit dem Territorium des heutigen Kolumbien) sind dies vor allem die Kulturen der Muisca, Quimbaya und Tolima. Alle hinterließen großartige architektonische, künstlerische und alltagspraktische Artefakte; dennoch ist über die Kulturen des Nordwestens viel weniger bekannt, als über die des zentralandinen Raumes. Einen Überblick über die Unterteilung der Sprachgruppen im süd- und mittelamerikanischen Raum gibt die Karte 99.4. Hinweise zur Archäologie des andinen Raumes finden sich u. a. bei Lumbreras 1981. 2.3. Mittelamerika Der vorliegende Artikel wendet sich speziell dem mittelamerikanischen Raum zu. Auch dort finden wir in der Zeit vor dem ersten Kontakt mit Europäern eine Vielzahl von Kulturen, über welche die Karte 99.5 Auskunft gibt. Hervorzuheben sind einerseits die
„Gründerkultur“ der Olmeken: ab etwa 1000 v. Chr. bis ca. 300 n. Chr. (Leonard 1973, 32) die erste als theokratisches Fürstentum organisierte Hochkultur an der mexikanischen Golfküste (Morley und Brainerd 1983, 52), andererseits die Kulturen der Azteken, Tolteken und Maya, zwischen denen viele migratorische, politische und ökonomische Beziehungen (Fernhandel) bestanden. Die letztgenannten Kulturen erreichten eine Zeittiefe bis ca. 1000 v. Chr.; erste Besiedlungen werden allerdings schon ca. 10 000 v. Chr. angenommen (näher dazu Morley und Brainerd 1983, 45⫺59). Diese Gesellschaften kannten eine soziale Arbeitsteilung, produzierten einen Überschuß, der die Entwicklung von Klassen ermöglichte, und wiesen zum Teil monumentale Steinkunstwerke und Architektur sowie großräumige Anlagen von Städten und Verkehrswegen auf. Ausbau und Nutzung von Straßen- und Verkehrsnetzen etwa für den Tausch religiöser Objekte sind für die mittelamerikanischen Regionen bei Flannery (1976, 329⫺369) sowie bei Lee und Navarrete (1978) beschrieben. Für den andinen Raum findet sich eine gute Darstellung bei Hyslop (1984). Besonders wichtig ist hier auch die parallele Ausprägung von geistigen Kulturgütern wie Kalender, Zahlen- und Schriftsystemen, bis hinein in Mythologie, Theologie und Kosmologie (deren Ähnlichkeit zwischen den mittelamerikanischen Kulturen Nicholson 1971, 403⫺408 ausführt). Die Verwandtschaft all dieser kulturellen Ausprägungen wird uns noch weiter unten beschäftigen (siehe § 2.4.). Die Karte 99.6 gibt einen Überblick über verschiedene Maya-Gruppen im Hochland von Guatemala etwa zu der Zeit, aus der auch die vorliegenden Quellen über Ritualbeschreibungen stammen (zu den Quellen vgl. § 3.). Die Verteilung der noch heute lebenden Maya-Gruppen zeigt die Karte 99.7. 2.4.
Kulturelle Zeugnisse
2.4.1. Schriften Altamerikas Für die indianischen Gruppen Nordamerikas sind nur Ansätze von Schriften belegt (zu frühen Schriftsystemen in anderen Kulturen vgl. Art. 32 §§ 4. und 7., Art. 37 § 3., Art. 61 § 1., Art. 90 § 3., Art. 92 § 1.3., Art. 93 § 2., Art. 94 § 5., Art. 95 § 2. und Art. 97 § 3.). Bilderschriften sollen die Irokesen und die Völker des Südostens (vgl. Karte 99.1) verwendet haben, die Ost-Sioux und Natchez benutzten
1980
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Karte 99.2: Kulturareale Mittel- und Südamerikas (nach Lindig und Münzel 1976, 170).
1981
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Karte 99.3: Hochkulturen in Südamerika (nach Leonard 1973, 76).
Hieroglyphen für Namen und einige Begriffe. Bekannt geworden sind weiter die Erzählungen in Bilderschriften und Malereien der Prärieindianer (vor allem der Dakota) auf Büffelfellen und Decken sowie der Völker im Nordosten auf Birkenrindenstücken (Lindig und Münzel 1976, 31). Im Zuge der kolonia-
len Expansion der Weißen übernahmen einige Völker, so die Cherokee, an das Lateinische angelehnte Alphabetschriften (Lindig 1972, 123⫺125; Lindig und Münzel 1976, 85). Insgesamt spielten Schriften für die Gesellschaften Nordamerikas eine viel geringere Rolle als für die Mittelamerikas. Auf diesem
1982
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Karte 99.4: Sprach- und Volksgruppen in Mittel- und Südamerika um 1500 n. Chr. (nach Schoen 1959, 16).
Subkontinent wurden bei mehreren Völkern einander verwandte Formen von Piktogrammschriften verwendet, in denen historische, genealogische, religiöse und wirtschaftliche (auf den überregionalen Handel sowie die Erstattung von Tributleistungen usw.) bezogene Daten erfaßt wurden. Einen herausragenden Gegenstand schriftlicher Dokumente in Mittelamerika stellte auch die Astronomie dar (hierzu Bricker und Bricker 1989, Justeson 1989, Tate 1989). Einen Überblick über
die graphischen Gestalten der Schriften gibt Nowotny (1961). Neben den Maya verwendeten die Azteken (oder Mexic’a) und Mixteken eine Bilderschrift (Nowotny 1961; Smith 1973) (vgl. Abb. 99.1 und 99.2). Schriftzeichen wurden auf Wänden, Altären, Friesen, Türstürzen, Stelen, Mauern von Ballplätzen angebracht und in Farbe, Holz, Stein oder Stuck modelliert (Thompson 1966, 189 f), ebenso natürlich auf Agavenfaserpapier oder Leder u. ä.
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Karte 99.5: Kulturen Mittelamerikas (nach Leonard 1973, 32 f).
Karte 99.6: Sprachenkarte des Hochlands von Guatemala um 1575 n. Chr. (nach Reina 1969, 102).
1983
Karte 99.7: Sprachenkarte der Maya-Region um 1950 n. Chr. (nach Morley 1947, 16 f).
1984 XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
1985
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Abb. 99.1: Beispiel aztekischer Schrift aus dem Codex Borgia (nach Nowotny 1961, Tafel 8).
gemalt und zu Buchform gefaltet. Die Schrift der Azteken war allerdings weniger an die gesprochene Sprache gebunden als die der Maya und konnte so auch von benachbarten Völkern leichter gelesen werden ⫺ eine durchaus wichtige Eigenschaft für die Schrift einer imperialistischen Großmacht, die die Azteken in ihrem Raum waren (vgl. Morley und Brainerd 1983, 512). Von den Azteken sind relativ viele Codices erhalten; stellvertretend seien hier nur einige Werke genannt wie die Codices Borbonicus, Borgia, Tro-Cortesianus und Florentinus. Wichtige Bilderhandschriften sind reproduziert und aufgearbeitet in Anderson und Dibble (1970), Galindo (1980) sowie Lehmann und Kutscher (1981). Von den vorkolumbianischen Codices der Maya sind uns nur drei erhalten: die Codices von Paris, Madrid und Dresden (Morley und Brainerd 1983, 519). Die Glyphen der Mayaschrift sind größtenteils von Bildern zoo-, an-
thropo- oder amorpher Gestalten abgeleitete Piktogramme (zur Schrift der Maya allgemein siehe Jones und Jones 1990). Eine Glyphe kann aus mehreren Teilen zusammengesetzt sein: dem Hauptteil und diversen Affixen (vgl. Abb. 99.3), die zugleich wieder verschiedene Wortarten einschließen können. Die Position der Teile zueinander ist dabei nicht festgelegt, d. h. Hauptteil und Affix können auch ihre Plätze tauschen. Die Texte in Bildlegenden, auf Stelen usw. (vgl. Abb. 99.4 und 99.5) hatten in der Regel eine festgelegte Leseweise in Spalten und von links nach rechts. Conquistadoren und Missionare haben die schriftlichen Zeugnisse vor allem der Mayakultur fast vollständig vernichtet. Daher sind die Dokumente, die noch in der Kolonialzeit von indianischen Schreibern und Fürsten angefertigt wurden ⫺ zum Teil auf Geheiß ihrer neuen Herrscher ⫺ für die Forschung von
1986
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 99.2: Beispiel mixtekischer Schrift, Darstellung zweier Opferszenen: a) „10-Hund Copal-Adler“ wird in einem Kampf geopfert; b) Pfeilopfer (nach Smith 1973, 227).
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Abb. 99.3: Schriftzeichen der Maya, schematische Darstellung der Struktur der Glyphe: c bzw. e ⫽ Hauptzeichen, restliche Komponenten ⫽ Affixe (nach Morley und Brainerd 1983, 521).
großem Wert (Beispiele solcher Codices bei Quezada 1975, Galindo 1980, Lehmann und Kutscher 1981). Adorno (1982) befaßt sich mit den frühen Chroniken der Kolonialzeit und dem Beginn der Verschriftlichung von lokaler Geschichte. Für den südamerikanischen Raum ist eine eigene Schrift nicht nachgewiesen. Umstritten ist noch, inwieweit die Zeichnungen von Nazca (vgl. Scholten 1984 und Hadingham 1987) oder auch dekorative Elemente etwa von Trinkbechern hierher gehören. Die Unterscheidung zwischen Schrift und Kalendersystemen sowie astronomischen oder mathematischen Aufzeichnungen ist nicht immer klar zu ziehen. Im folgenden werden daher kurz einige Systeme zur kalendarischen bzw. astronomischen Notation der amerikanischen Völker beschrieben. 2.4.2. Kalender Zum Umgang mit Zeit und Zeitabläufen wie jahreszeitlichen, landwirtschaftlichen, rituellen Zyklen sowie astronomischen Abläufen haben die Gesellschaften des amerikanischen Doppelkontinents vielerlei Arten der Rechnung und Notation entwickelt. Dabei sind die Übergänge zwischen Kalender, Zähl- und Rechenweisen bzw. Mathematik, Astronomie
1987 und Geomantie oft fließend (zum Kalender in anderen Kulturen vgl. Art. 36 § 9.2., Art. 38 § 3., Art. 60 § 4.4.3., Art. 89 § 3.2. und Art. 97 § 5.3.). In diesen Zusammenhang gehören zunächst Felsmalereien und -markierungen in Nordamerika (vgl. Murray 1986 und Zeilik 1989), die der Zeiterfassung, ebenso wie der kalendarischen Rechnung dienen konnten, indem etwa Geländemerkmale zu Markern für bestimmte zeitliche oder astronomische Abläufe wurden. Für den Südwesten der USA beschreiben dies Chamberlain (1989) und McCluskey (1989). Weiter sind hier Bodenzeichnungen und auch Straßenbauten zu nennen, die den gleichen Zweck erfüllen konnten (vgl. Sofaer u. a. 1989). Ähnliches kann für Mittelamerika gelten (Peschard u. a. 1989). Kalenderstöcke waren bei den Winnebago (Murray 1989) aber auch bei anderen Gruppen östlich des nordamerikanischen Felsengebirges (Marshack 1989, 308) in Gebrauch. Sie wurden auch bei den Zun˜i (UtoAztekisch), Hopi (vgl. Zeilik 1989, 160) und Ojibwa (Algonquin) gefunden (Marshack 1989, 313). Marshack (1989, 309) beschreibt die Notationsweise für einen Stab der Winnebago. Hier werden auf einem Holzstab genau zwei Mondjahre abgetragen, wobei verschiedene Einschnitte und Markierungen wie Löcher, Kerben usw. jeweils astronomische Gegebenheiten wie Vollmond usw. anzeigen (vgl. Abb. 99.6). Ebenfalls in Nordamerika haben die Nootka an der Nordwestküste ein spezielles Zählsystem entwickelt, doch funktioniert dies auf rein mündlicher Basis (vgl. Folan 1986). Weitere Beispiele nordamerikanischer Mathematik beschreibt Closs (1986a). Bezüglich der Bodenmarkierungen sind für Südamerika natürlich auch die immer noch rätselhaften und imposanten Zeichnungen der Nazca zu nennen (vgl. Scholten 1984 und Hadingham 1987). In Südamerika finden sich daneben auch andere elaborierte Formen der Zeitrechnung und -darstellung, so vor allem die Observatorien der Inka (vgl. Gasparini und Margolies 1980 sowie Dearborn und White 1989). Einen Überblick für den andinen Raum Südamerikas gibt diesbezüglich Donnan (1982) und in essayistischer Weise auch Stingl (1980). Allgemein zur Archäologie des Andenraumes ist Lumbreras (1981) heranzuziehen. Ebenfalls in den Grenzbereich von Schrift, Mathematik und Astronomie fallen zwei wei-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 99.4: Schriftprobe der Maya: Seite 103 aus dem Codex Madrid (nach Morley und Brainerd 1983, 540).
tere Kulturleistungen der Inka. Diese kannten neben den Knotenschnüren („Quipu“ genannt) auch Zählbretter (Ascher 1986, 265; Zuidema 1989). Ein Quipu besteht aus einer Hauptschnur, an die viele Nebenschnüre angeknotet sein können; von diesen können wieder weitere (Hilfsschnüre) abzweigen (vgl.
Abb. 99.7). Auf den einzelnen Schnüren sind an unterschiedlichen Positionen Knoten verschiedener Stärke angebracht. Die signifikanten Einheiten beim Quipu sind die Positionen der Schnüre relativ zueinander, ihre jeweilige Farbe sowie die Positionen und die Stärken der Knoten auf den Schnüren (vgl. Abb. 99.8;
1989
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Abb. 99.5: Beispiel für eine Stelenbeschriftung der Maya (nach Benson 1987, 198).
zur Verwendung von Knotenschnüren in Ozeanien vgl. Art. 98 § 2.4.2.). Quipu wie Zählbrett dürften wohl vorwiegend administrativen Zwecken wie Lagerhaltung und dergleichen gedient haben. Wenn Quipus in der Regel nur eine Rolle für die Verwaltung des Inkareiches (siehe Karte 99.3) spielten, so will Zuidema (1989, 341) doch den seltenen Fall der Verwendung von Knotenschnüren auch für eine kalendarische Funktion nachgewiesen sehen. Er führt aus, daß die einzelnen Schnüre der Quipus jeweils Blickrichtungen von einem bestimmten Aussichtspunkt darstellten, die Knoten darin
wieder bestimmte topographische Gegebenheiten. Dadurch waren erstens die Richtungen für astronomische Beobachtungen fixiert; zweitens war jeder dieser Richtungen ein Ritual, ein bestimmter Kalendertag oder Zeitpunkt zugeordnet, so daß die Schnüre zugleich wie ein „Festkalender“ gedeutet werden konnten. Ein anderes Beispiel kalendarischer Systeme stellen die verschiedenen steinernen Meßinstrumente und Observatorien dar, die für die Hochkulturen Amerikas typisch sind. So wurden natürliche Gegebenheiten, an denen oder von denen aus astronomische
1990
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 99.6: Kalenderstock der Winnebago (nach Marshack 1989, 314).
Abb. 99.8: Schematische Darstellung für einen Quipu als Recheninstrument: die oberen Knoten geben Hunderter-, die mittleren Zehner- und die unteren Einerstellen an (nach Ascher 1986, 272).
Abb. 99.7: Quipu der Inka (nach Ascher 1986, 277).
Beobachtungen zu machen waren, besonders markiert (Dearborn und White 1989) oder aber in die Architektur einzelner Gebäude oder gar ganzer Tempelstädte einbezogen (Aveni und Hartung 1986; zu den astronomischen Fähigkeiten der Maya vgl. Justeson 1989). Zahlreiche andere Hinweise auf kalendarische Systeme in den Amerikas finden sich bei Aveni (1989; darin besonders Chamberlain, McCluskey, Sofaer u. a., Young, Zeilik); zur Berechnung des Kalenders bei den Maya siehe unten § 4.
2.4.3. Ballspiel Das Ballspiel war in ganz Mittelamerika ⫺ und so auch bei den Maya ⫺ verbreitet und wurde auf den eigens dafür angelegten Spielplätzen veranstaltet. Diese waren in der Form eines gedruckten „I“ und die seitlichen (Längs-)Wände schräg mit geringer Neigung zur Platzmitte hin gebaut (Fox 1987, 244). In der Mitte der Längsachse befanden sich an den Wänden zwei Steinringe, durch die der Kautschukball getrieben werden mußte (vgl. Abb. 99.9). Allerdings durfte der Ball nicht mit Füßen oder Händen, sondern nur mit Schultern oder Gesäß berührt werden, wofür diese Körperpartien mit eigens dafür vorgesehenen Lederkleidern geschützt wurden (vgl. Abb. 99.10). Das stark symbolisch aufgeladene Zeremoniell des Spiels versinnbildlichte
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
1991
Abb. 99.9: Aufnahme eines Ballspielplatzes in Copa´n (nach Leyenaar 1991, 269).
Abb. 99.10: Montage der Bilder zweier Ballspieler aus zeitgenössischer (links) und kolonialer Zeit (rechts) mit ihrem Hüftschutz und bei der Kickbewegung im Spiel (nach de Vries 1991, 194).
1992
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
zugleich den Kampf der Sonne gegen die Finsternis und endete mit der sakralen Opferung der unterlegenen Partei (vgl. Schele und Miller 1986, 241⫺255). Wegen dieser Funktion lag der Platz meist in unmittelbarer Nähe der großen Tempelbauten (zur Funktion des Spiels im säkularisierten Sport von heute vgl. Art. 162). Für das Stadtbild war die Anlage des Platzes darüberhinaus auch insofern bestimmend, als sich seine Ausrichtung nach kosmologischen (Aveni und Hartung 1986, Schele und Miller 1986 sowie Ashmore 1989), soziopolitischen (Fox 1987) und astronomischen (Ashmore 1981) Gesichtspunkten richtete (allgemein zum Zusammenhang von Astronomie und Architektur auch Aveni und Hartung 1986 und 1989).
verwiesen. Auf die Vor- und Frühgeschichte des Kontinents gehen Jennings und Norbeck (1964) sowie Fiedel (1987) ein. Eine allgemeine Einführung in die Kulturen und ihre Geschichte geben Verrill und Verrill (1953), Schoen (1959), Trimborn (1959), Katz (1969), Deuel (1975) und Prem (1989). Auf Südamerika konzentrieren sich diesbezüglich Disselhoff (1974), Disselhoff und Zerries (1974) und Jennings (1983). Ausgewählte Kulturen behandeln Davies (1973), Hay (1977), Collier u. a. (1982) sowie Prem und Dyckerhoff (1986). Als Ausgangsmaterial für kultursemiotische Studien stehen auch vielerlei Primärquellen zur Verfügung. Ganz allgemein sind dabei drei Typen zu unterscheiden: zeitgenössische (biographische) Berichte sowohl einheimischer wie europäischer Autoren, schriftliche Dokumente aller Art (Briefe oder Verwaltungsakten wie die des Archivo de Indias in Sevilla) und die indianischen Bilderhandschriften (s. o. § 2.4.1.). An zeitgenössischen Berichten sind neben dem Landas (1941) vor allem für Beschreibungen der aztekischen Gesellschaft auch die Berichte von Sahagu´n (1946) und Casas (1965) relevant, ebenso die des Alvarado (1980) und Cortes (1963); als Sekundärquelle zu Sahagu´n siehe auch Klor u. a. (1988). Ein wichtiges Hilfsmittel zur Erschließung von Quellen aller Art bietet Cline (1972). Die Literaturangaben in § 10. weisen auch einige exemplarische Beschreibungen alltäglicher Lebensbereiche aus, die fruchtbare Grundlage für kultursemiotische Studien sein können (vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in Morley und Brainerd 1983). Dort finden sich Arbeiten zum Alltagsleben allgemein (Bray 1968) wie auch zu einzelnen Aspekten daraus: so zu Haushalt (Wilk und Ashmore 1988), Körper (Lo´pez 1988), Recht (Offner 1983), Medizin (Orellana 1987), Liebeszauber (Quezada 1975). Ein weiteres reich dokumentiertes Arbeitsgebiet ist die vorkolumbianische Architektur. Hinweise zu Bauweisen und Anlagen von Dörfern bzw. Siedlungen geben Flannery (1976) und Ashmore (1981 und 1989). Zu sakraler, profaner und militärischer Architektur speziell bei den Inkas siehe Gasparini und Margolies (1980).
2.4.4. Musik Musik spielte in vorkolumbianischer Zeit vermutlich in Südamerika eine größere Rolle als in Mittelamerika, soweit wir nach den Zeitdokumenten und dem Stand der Ausdifferenzierung der verwendeten Instrumente und ihrer Vielfalt urteilen können (zur Rolle der Musik in anderen Kulturen vgl. Art. 43, Art. 54, Art. 89 § 5.2., Art. 92 § 4.4., Art. 93 § 10.1., Art. 95 § 4.3. und Art. 96 § 7.). Das vorkolumbianische Südamerika kannte Flöten aus Schilfrohr, Holz und Knochen sowie Trommeln, Rasseln (auch aus Kupfer) und Muschelhorn. Nach der Kontaktzeit traten Saiteninstrumente wie Geige, Harfe, Mandoline oder Charango (Mandoline mit Klangkörper aus Gürteltierpanzer) hinzu (vgl. Lindig und Münzel 1976, 223). Es ist anzunehmen, daß die heute aus südamerikanischer Folklore bekannte Pentatonik in der Melodieführung durchaus auf vorkolumbianische Vorbilder zurückgeht. Für Mittelamerika finden sich weniger Belege einer musikalischen Tradition. Wir können vermuten, daß ein Ritual wie das hier noch zu beschreibende etwa von Musikergruppen begleitet wurde, wie sie das vorkolumbianische Tempelfresko in Bonampak anläßlich der Ehrung einiger Fürsten wiedergibt (vgl. Abb. 99.11) und wie sie heute noch bei anderen religiösen Zeremonien der Maya auftreten (vgl. Abb. 99.12 und 99.13). 2.4.5. Zur weiteren Lektüre Der folgende Text muß sich auf die gezielte Darstellung einzelner Probleme beschränken. Für ein besseres Hintergrundverständnis wie auch als Ausgangspunkt für kultursemiotische Analysen sei auf die folgende Literatur
3.
Das Ausgangsmaterial
3.1. Die Quellen und ihre Bearbeitung Im folgenden wird eine Aufarbeitung vorkolumbianischer Zeichensysteme am Beispiel bestimmer Rituale der mittelamerikanischen
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99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Abb. 99.11. Bild unten: Darstellung einer Gruppe von Musikern auf einem Tempelfresko in Bonampak, Yucata´n (nach Furst und Furst 1981, 77).
Maya versucht. Die zur Verfügung stehenden archäologischen Quellen haben für dieses Thema nur einen begrenzten Aussagewert; künstlerische Artefakte sollten für diese Arbeit bewußt nicht Gegenstand sein. Die erste schriftliche Quelle (Landa) läßt aus imma-
nenten Gründen manche Frage offen. Daher wurde eine zeitgenössische Quelle hinzugezogen (Girard), die in vielerlei Hinsicht erhellend für die erstgenannte ist. Tatsächlich läßt sich das Weltbild der antiken Maya zumindest teilweise rekonstruieren aus dem prakti-
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
lebendig; die Conquista hatte in dieser Region Genozid und Ethnozid nicht vollends entfaltet. Noch 200 Jahre nach Cortez war in Yucata´n das auch zu Divinationszwecken benutzte heilige Buch der Maya Chilam Balam in Gebrauch (Hunt 1977, 45). Als aktuelle Quelle ist eine Ethnographie von Rafael Girard herangezogen worden, der in den 1950er Jahren ausgedehnte Feldforschungen bei den Chortı´-Maya durchführte und sich dabei speziell Fragen des Glaubenssystems, der Weltsicht und ihrer Symbolik zuwandte.
Abb. 99.12: Musiker, die das Fest des Ortspatrons in Amatenango (Guatemala) begleiten (nach Morris 1987, 190).
zierten Erbe ihrer heute noch lebenden Nachfahren (Morley und Brainerd 1983, 459, 464; Girard o. J., 15⫺23). Die erste Quelle ist der Bericht des Franziskaners Diego de Landa Caldero´n, den dieser um 1566 abfaßte (Tozzer in Landa 1941, VII; Rinco´n in Landa 1990, 233). Landa war 1549 nach Yucata´n gekommen, das nach zwanzigjährigem Kampf immer noch nicht vollständig von den Spaniern erobert war (Madsen 1967, 384; Rinco´n in Landa 1990, 230⫺234). Landa blieb bis 1563 und war wieder von 1573 bis 1579 in Yucata´n, reiste viel und hatte als Provinzial des Franziskanerordens bzw. später Bischof von Yucata´n Kontakte zu Priestern und Kaziken (Fürsten) der Maya. Ihre Berichte, die Erkundungen der von ihm dazu beauftragten Mönche sowie seine eigenen Beobachtungen und Sprachkenntnisse (Madsen 1967, 384 f) verhalfen ihm zu Informationen, die die vollständigste Beschreibung von Ritual und Religion der damaligen Maya ergaben, die uns überkommen ist (Tozzer in Landa 1941, VII). Wir können davon ausgehen, daß Landas Beschreibung auch für die vorkolumbianischen Verhältnisse weitgehend Geltung beanspruchen darf: autochthone religiöse Anschauungen und Praktiken waren zu seiner Zeit noch
3.2. Kontinuität und Wandel Zu der Frage, inwieweit das Argument von Le´vi-Strauss hier trägt, daß die Zeit die Struktur (des Mythos) korrumpiere, sei auf die Argumentation von Hunt (1977, 33⫺7, 216, 246) verwiesen. Unter aller historischer Entdifferenzierung wird deutlich werden, wieviele strukturelle Merkmale in Ablauf und Bedeutung(ssystem) den alten und den aktuellen Riten noch gemeinsam sind (vgl. auch Morley und Brainerd 1983, 459). Archäologische Quellen wie Wandmalereien, Codices und Dokumente des 16. und 17. Jahrhunderts belegen, wieviele Elemente der Riten bereits in vorkolumbianischer Zeit vorhanden waren (Nicholson 1971, 396 f; Morley und Brainerd 1983, 469). Für die Bewertung der aktuellen Religion stellt sich die Frage, inwieweit hier ursprüngliche Strukturen durch synkretistische Phänomene korrumpiert oder verdeckt worden sind (zu Fehlerquellen bei der Interpretation späterer Quellen als Zeugen für frühes Verhalten vgl. Art. 36 § 3., Art. 37 § 2. und Art. 55 § 2.). Bei näherer Betrachtung ist festzustellen, daß hinter der Fassade christlicher Nomenklatur oft auch noch altes Brauchtum vorliegt. Untersuchungen bei heutigen Maya-Gruppen zeigen entscheidende strukturelle Ähnlichkeiten mit der (vor-)kolumbianischen Zeit (vgl. z. B. die Untersuchung von Sosa 1986 über die Kosmologie der Chamula; von Cook 1986 über die Mythologie der MomlostecanMaya, von Scotchmer 1986 über die Religion der Mam-Maya, von Storm 1988 über agrarische Götter; Morley und Brainerd (1983, 464) berichten, daß Lacandonen noch Opfer in den alten Tempeln von Yaxchilan bringen). So wissen wir auch, daß noch immer innerhalb der Abstammungslinien traditionelles Wissen weitergegeben und akribisch eingehalten bzw. umgesetzt wird (Cook 1986, 139). Tatsächlich haben die Maya, die durchaus historisch nicht jede fremde Religion über-
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99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Abb. 99.13: Musiker und Clowns bei einem Fest im zinancatekischen Paste´, Mexiko (nach Morris 1987, 197).
nahmen (vgl. Thompson 1966, 269 f), Teile der christlichen angenommen, wenn diese strukturelle Ähnlichkeiten mit ihren eigenen Glaubensformen aufwiesen (so auch Morley und Brainerd 1983, 462). So ließ sich, wie wir noch sehen werden, der Gedanke der Dreifaltigkeit ohne weiteres auf das Maya-Gedankensystem projizieren, ebenso bestimmte sakrale Figuren, denen in der christlichen Lehre Merkmale zukommen, die sie in der MayaTheologie an analoge Stellen zu setzen erlauben; hervorgehoben seien hier die Parallelen zwischen Jesus Christus und Itzamna, zwischen Ostern und den 5 leeren Tagen, zwischen den Schichtenmodellen des Kosmos und den Seelenvorstellungen (vgl. Cook 1986, 151; Earle 1986, 159, 168 f), zwischen dem christlichen und dem Maya-Kreuzsymbol (hier für die Erde und die 4 Himmelsrichtungen (Landa 1941, 207) bzw. für den „Lebensbaum“, der die Weltschichten verbindet (Morley und Brainerd 1983, 462)) sowie zwischen christlichen Heiligen und MayaGottheiten (Morley und Brainerd 1983, 465). Zumindest Teile dieser religiösen Vorstellungen und Praktiken sind nicht einmal im engen Sinne „synkretistisch“, da sie autochthone Strukturen nur mit neuen Namen
versehen, nicht aber inhaltlich abändern und zu einer neuen Form verschmelzen. Nicht verschwiegen werden soll indes, daß durch offensive Missionsversuche protestantischer Sekten neuerdings tatsächlich Überformungen der traditionellen Religion stattfinden (vgl. Scotchmer 1986); zur Auswirkung der Christianisierung in anderen Kulturen vgl. Art. 36 § 8., Art. 38 § 3., Art. 47 § 7., Art. 94 § 8., Art. 96 § 9. und Art. 97 §§ 7. und 8.
4.
Der Kalender der Maya
Die Maya benutzten zwei grundlegende Kalenderzyklen. Der eine umfaßte 13 mal 20 ⫽ 260 Tage, hieß „Tzolkin“ und diente als sakraler und divinatorischer Kalender. Die Bezeichnung einzelner Tage ergibt sich im Tzolkin-Kalender aus der Kombination der Reihen von 13 Ziffern und 20 Namen (so z. B.: „1 Imix“, „5 Ik“, „13 Akbal“, „18 Kan“). Der zweite Kalendertyp, genannt „Haab“, der solare und säkulare Kalender von 365 Tagen, weist 18 Monate („Uinal“) mit je 20 Tagen auf, die mit Ziffern differenziert werden. Ihnen folgen 5 „unglückliche Tage“, genannt „Uayeb“. Ihre „Ordnungszahlen“ sind die
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 99.14: Schematische Darstellung des Kalendermechanismus der Maya mit den ineinandergreifenden „Rädern“ des Tzolkin- (links) und Haab-Kalenders (rechts) (nach Thompson 1966, 176).
Ziffern 0 bis 4 (vgl. Abb. 99.14; siehe auch Riese 1990 b, 113). Tzolkin und Haab lassen sich so miteinander kombinieren, daß erst nach 52 Sonnenjahren eine gleiche Datumskonstellation auftritt (Riese 1990 b, 114; weiterführende Erläuterungen des Kalendersystems der Maya bei Thompson 1966, 162⫺ 183; zu den Mitteln der Memorierung des Kalenders siehe oben § 2.4.2.). Das System ist jedoch so angelegt, daß in allen möglichen Kombinationen nur 4 der 20 Tageszeichen die 4 letzten Uayeb-Tage ausmachen können, nämlich „Cauac“ (‘Sturm, Wind’), „Kan“
(‘Mais’), „Muluc“ (‘Regen’) und „Ix“ (‘Jaguar’) (vgl. Thompson 1966, 164). Jedes dieser 4 Tageszeichen kehrt also zyklisch wieder und erhält so die Rolle des „Patrons“ für das betreffende Jahr. Die Tageszeichen werden selbst als sakrale und transzendente Entitäten und Götter betrachtet (Thompson 1966, 163; Hunt 1977, 187; Closs 1986 b, 334⫺337); das gleiche gilt für die Zeichen der anderen Kalendereinheiten (Thompson 1966, 267 f; Morley und Brainerd 1983, 478 f). Jeder Tag und besonders diese vier stehen unter dem Namen und der Herrschaft des jeweiligen Gottes. Die
Tab. 99.1: Reihen symbolischer Entsprechungen im Jahreserneuerungsritual der Maya Sylvestertag
Neujahr
Farbe
Richtung
1. Statue
Bacab
Tun
Chac
2. Statue
Cauac
Kan
Gelb
Süden
Hobnil
Kanal
Kan Pauah
Kan Xib
Bolon Dzacab
Kan
Muluc
Rot
Osten
Can Tizu
Chacal
Chac Pauah
Chac Xib
Kinich Ahau
Muluc
Ix
Weiß
Norden
Sac Cimi
Sacal
Sac Pauah
Sac Xib
Itzamna
Ix
Cauac
Schwarz
Westen
Hosan Ek
Ekel
Ek Pauah
Ex Xib
Uacmitun Ahau
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Gottheiten dieser vier letzten Tage im Jahr erhalten insofern eine besondere Rolle, als einer von ihnen über den „Sylvestertag” herrscht und der nächste in der Viererreihe über das kommende neue Jahr. Auf diese Art endet etwa das Jahr des Gottes Cauac; das von Kan (der am Schluß des nächsten Jahres steht) beginnt; an Kan schließt sich Muluc, daran Ix und daran wieder Cauac an ⫺ ein Zyklus mit vier Stationen, deren jede einen Übergang bezeichnet. (Zur Abfolge der Jahrespatrone vgl. Spalten 1 und 2 von Tab. 99.1.) Für die von Landa beschriebenen Jahreserneuerungsrituale bedeutet dies, daß die Feste in einem vierjährigen Zyklus jeweils einem Gott als Schutzherr des neuen Jahres gewidmet sind und zugleich dem Gott des endenden Jahres huldigen.
5.
Beschreibung des Jahreserneuerungsrituals der Maya
5.1. Das Jahreserneuerungsritual in Yucata´n um 1550 n. Chr. Das Ritual für das kommende neue Jahr beginnt in den 5 Unglücklichen oder Namenlosen Tagen („Uayeb“) am Ende des vergehenden Jahres. Landa beschreibt den Beginn des Jahres (vgl. Landa 1941, 136⫺142; deckungsgleich bei Morley und Brainerd 1983, 488⫺ 492) des Bacabs Kan, als dessen „weitere Namen“ er „Hobnil“, „Kan Pauah Tun“ und „Kan Xib Chac“ angibt. Ihm ist die Himmelsrichtung Süden zugeordnet. Zunächst werden mit Weihrauchverbrennungen die bösen Geister vertrieben, bevor der Dienst für den Bacab beginnen kann. Jeweils zwei sich gegenüberliegende Steinhaufen werden an den Stadtausgängen im Norden und Süden, im Westen und Osten errichtet. In diesem Jahr wird eine Figur des Gottes Hobnil angefertigt, der ebenfalls im Süden regiert, und zum südlichen Steinhaufen gebracht. Dort wählen die anwesenden Einwohner einen Adligen aus, in dessen Haus die diesjährige Feier abgehalten werden soll. Eine zweite Statue von Bolon Dzacab wird angefertigt und ins Haus dieses Prinzipals gebracht. Adlige, Priester und Männer versammeln sich und ziehen gemeinsam zurück zum südlichen Steinhaufen, wo der Priester 49 (d. h. 7 mal 7) Maiskörner und Weihrauch (⫽ Copalharz oder Gummi) verbrennt. Eine Henne wird geopfert. Die Statue des südlichen Steinhaufens wird auf einer Standarte in das Haus des Prinzipals getragen und gegen-
1997 über der anderen Statue aufgestellt. Der Zug der Dorfleute wird unterwegs auf der Straße mit einem Getränk bewirtet. Im Haus des Prinzipals werden den beiden Statuen Opfer von Speisen und Getränken, Fisch und Fleisch sowie Blutopfer dargebracht. Die Priester formen ein Herz aus Brot als weiteres Opfer. Während der 5 Tage wird vor den Statuen Weihrauch verbrannt. Nach Ablauf dieser Zeit, also mit Beginn des neuen Jahres, werden die Statue des Bolon Dzacab zum Tempel und die des Hobnil zum östlichen Steinhaufen gebracht und dort aufgestellt. Landa teilt auch mit, daß für die Maya nur die genaue und korrekte Einhaltung des Ritualverlaufs ein gutes, ertragreiches neues Jahr und das Wohl der Gemeinde sicherstellt (1941, 142). Die Jahreserneuerungszeremonie ist damit abgeschlossen, alle können wieder ihrem Alltag nachgehen. Sollte während des Jahres dennoch Unglück die Gemeinde heimsuchen, ist sie gehalten, eine Statue von Itzamna zu fertigen, sie im Tempel aufzustellen und ihr ein Brandopfer von Gummi („kik“ ⫺ ein Homonym für Blut; Landa 1941, 142 und Fox 1987, 247) zu bringen und einen Menschen oder statt seiner einen Hund zu opfern. Das Ritual findet in dieser Form jährlich statt. Orte, Richtungen, Farben, Götternamen, Tageszeichen usw. variieren dabei im Viererzyklus nach einem festen Muster (eine Beschreibung der drei anderen Rituale geben Morley und Brainerd 1983, 488⫺492). Tab. 99.1 hält die dabei jeweils miteinander auftretenden Werte, also die symbolischen Entsprechungen, fest. 5.2. Das Jahreserneuerungsritual bei den Chortı´-Maya um 1960 n. Chr. Girard (o. J., 36⫺76) beschreibt in extenso dieses Ritual, wie es bei den Chortı´-Maya im östlichen Hochland des heutigen Guatemala praktiziert wird. Das Ritual beginnt, indem sieben Priester (7 für den Gott der Zahl 7 und der Fruchtbarkeit) nach vorangegangener ritueller Reinigung im Tempel Weihrauchopfer bringen. In der Tempelmitte befindet sich ein Tisch, an dem zwei Priester ein gemeinsames Frühstück einnehmen. Nach dem Essen schreitet der Oberpriester zum Altar, schwenkt das Rauchfaß vor dem Idol und bittet, sich mit dem Gefolge in westlicher Richtung des Universums entfernen zu dürfen (vgl. Abb. 99.15). Zwei Priester und drei „Sklaven“ genannte Helfer (5 Personen für die 5 kosmischen Wesen) ziehen aus dem Tempel nach Westen (dem Lauf
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XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Abb. 99.15: Der Oberpriester schwenkt das Weihrauchfaß vor dem Idol (Girard o. J., Abb. 12).
Abb. 99.16: Der für die 5 Götter gerichtete Opfertisch, kosmisches Ideogramm aus 5 Bechern, in dem von Girard beschriebenen Jahreserneuerungsritual (Girard o. J., Abb. 6).
der Sonne entsprechend) zu einem heiligen Teich, wobei der Oberpriester in hohem Tempo und mit Abstand zu den anderen vorauseilt, da er den ersten Tag und die erste Sonne (beide heißen „kin“) in ihrem unaufhaltsamen Lauf verkörpert. Am Schluß des Zuges geht eine Frau (Symbol des Mondes und Antipode zur Sonne), die einen Korb mit Eßwaren trägt. Die Topographie des Ortes weist einen zuckerhutförmigen Felsberg (einen Pfeiler des Kosmos) neben einer Lagune aus. Der Oberpriester wählt eine Position für den Tisch ⫺ ein ausgebreitetes Zeremonientuch ⫺ am Lagunenufer, auf den er 5 Bastringe als Unterlage für 5 Becher mit Chilate legt (vgl. Abb. 99.16). Die Objekte sind so plaziert, daß zwei nach Westen, zwei nach Osten zeigen und eines in der Mitte des Arrangements zu liegen kommt. Jeder Punkt entspricht einem im kosmischen Ideogramm. Um die Chilatebecher werden Speisen gehäuft. Die zwei Priester nehmen jeweils an der Süd- und Nordseite des Tisches Platz. In anschließenden Gebeten bitten die Priester auch bei den Toten um Regen, Nahrung und Gesundheit für die Gemeinde. Bevor die Gruppe aufbricht, sammeln die 2 Priester 5 gleichförmige Steine vom Lagunenufer auf, die wieder die Punkte des Ideogramms vertreten. Im Dorf erstehen die Priester 2 Tonkrüge. Dann ziehen sie in die Dorfkirche ein. Jeder Priester trägt fünf, die drei Sklaven je
eine Kerze in der Hand, die sie in der Kirchenmitte aufstellen. Hernach zieht die Gruppe zur Ceiba, dem Versammlungsbaum und heiligen Baum der Maya in der Dorfmitte, und trinkt Milch von 5 Kokosnüssen, wovon ein gebührender Teil der Mond-ErdeGöttin geopfert wird. Nun beginnt, unterbrochen von einer Mahlzeit auf dem Weg, der Rückweg zum Erdnabel, dem Tempel in Quetzaltepeque. Dessen Altar ist in diesem Jahr mit einem weißen Zeremonialtuch bedeckt; davor brennen zwei Kerzen in dreibeinigen Leuchtern. Nach der Rezitation von Bittgebeten holen die Helfer nun die Krüge aus der Transportverpackung. Die Priester hocken sich je an ein Ende des Altars und kippen Kakaobohnen aus zwei Schalen in die Krüge und verschließen diese schnell und mit großer Kraft: sie sperren die guten und bösen Winde ein, die sich 260 Tage lang (für die Dauer des rituellen Kalenderjahres, genannt „Tzolkin“) dort aufhalten und währenddessen von den Bohnen ernähren müssen (vgl. Abb. 99.17). Die Krüge werden zusammen mit zwei weiteren in der Ordnung: 2 im Osten, 2 im Westen des Altars aufgestellt und zwar so, daß der Krug mit bösem Wind im Norden zu stehen kommt. Zum Abschluß der Zeremonie werden die 5 Steine vom Seeufer unter der Decke auf dem Altar angeordnet und zwar gegen den Uhrzeigersinn in der Reihenfolge: Nordost, Nordwest, Südwest,
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99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Art. 37 § 3.1., Art. 38 § 2., Art. 47 § 2.5., Art. 58 § 2., Art. 89 § 4., Art. 90 § 2., Art. 91 § 4.3., Art. 93 § 5.2., Art. 97 § 4.5. und Art. 98 § 2.).
6.
Abb. 99.17: Der Krug ⫺ Kerker der Winde ⫺ wird verstopft (Girard o. J., Abb. 14).
Abb. 99.18: Das kosmische Ideogramm der 5 Steine auf dem Altar (Girard o. J., Abb. 17).
Südost, Zentrum (vgl. Abb. 99.18). Damit ist die Welterneuerung abgeschlossen, denn die Steine der 4 kosmischen Punkte repräsentieren Träger der Zeit und Kalenderwesen. Die Zeit, d. h. das Kalenderjahr, alle alltäglichen, wirtschaftlichen und praktischen Tätigkeiten, können neu beginnen. Die jetzt neun Anwesenden halten ein Festmahl (Girard o. J., 61; zu derartigen animistischen Praktiken in anderen Kulturen vgl. Art. 32 § 5.1., Art. 36 § 5.,
Kosmologie
Nachdem die Welt viermal erschaffen und wieder zerstört worden ist, befindet sie sich nun in ihrem 5. Weltalter. Die Weltalter fanden ihr Ende durch elementare Katastrophen: durch Jaguare (und das heißt, wie wir noch sehen werden, durch Erdbeben), durch Wirbelstürme (also Wind), durch Vulkanausbrüche (also Feuer) und Überschwemmung (also Wasser) (Thompson 1966, 261; Nicholson 1971, 397 f, 399 f). Die Erde ruht in einem Meer auf dem Rücken eines Krokodils (oder auf deren vieren, wie Thompson (1966, 261) vermutet). Der über ihr liegende Himmel besteht aus 13 Schichten, die entweder alle parallel übereinander oder auf- und wieder absteigend angeordnet sind, so daß sich 7 Stufen ergeben. Nach gleichem Muster ist die Unterwelt aus 9 Schichten bzw. 5 Stufen gebaut. Im Chilam Balam wird jeder dieser Schichten von Himmel und Unterwelt je eine eigene Gottheit zugeordnet (Coe 1966, 150; Morley und Brainerd 1983, 476 f; Scotchmer 1986, 202). Der Himmel wird an seinen vier Seiten getragen von je einem Weltenträger, genannt „Bacab“, die alle ebenfalls göttlich sind. Jede durch die Bacabs markierte Richtung hatte eine eigene Farbe: Rot für den Osten, Weiß für den Norden, Schwarz für den Westen, Gelb für den Süden. Der Mitte kam die Farbe Grün (Landa 1941, 136; Thompson 1966, 260) bzw. Grünblau zu (Hunt 1977, 154). An jedem dieser Punkte stand auch ein „Ceiba“ genannter Baum. Zu jeder Ceiba gehörte wieder ein bestimmter Vogel. Alle Zuordnungen bilden feste Reihen, d. h. die jeweiligen Positionen und Gottheiten identifizieren sich gegenseitig. Tatsächlich hält Landa (1941, 137) alle Einzelwesen je einer Reihe für ein einziges Wesen. Tozzer (in Landa 1941, 141) glaubt zusätzlich, jeder der 4 Richtungen sei eine bestimmte Baumart zuzuordnen, deren Holz von entsprechender Farbe sei. Der Himmel stellt sich als doppelköpfige Schlange („caan“) dar (Hunt 1977, 75); das Wort ist ein Homonym für ‘Himmel’ und überdies ist der Himmel in seinem Bau und in der Bewegung seiner Körper eine Schlange. Die Himmelsschlange trägt auf ihrem Körper die Zeichen für Sonne, Mond, Venus (den ka-
2000
Abb. 99.19: Schema des astronomischen Konzepts der Himmelsschlange mit zwei Mäulern (nach Sosa 1986, 194).
lendarisch, astronomisch und sakral wichtigsten Stern nach Sonne und Mond) und andere Sterne (Coe 1966, 150), sie ist identisch mit ihnen. Sosa (1986, 188 ff) führt vor, wie noch bei den heutigen Chamula-Maya dieses Bild zu verstehen ist: nämlich indem eine Schlange mit zwei Köpfen, deren Mäuler Ein- und Ausgang der Gestirne zur Unterwelt sind, sich auf den Horizont stützt und ihr Leib sich bogenförmig über den Himmel bewegt ⫺ der Sonnenlauf (vgl. Abb. 99.19). Ein solches Bild könne auch für die (vor-)kolumbianischen Maya angenommen werden (Sosa 1986, 196). Sosa erwähnt auch, daß im Chilam Balam und in der Glyphenschrift die Ziffern („Kopfportrait-Glyphen“; Piktogramme in Form eines Kopfes) 1 und 4 identisch gewesen seien mit Mond bzw. Sonne (Sosa 1986, 192). Die Himmelskörper einschließlich Sonne und Mond wandern (tags) über den Himmel von Ost nach West und (nachts) zurück ⫺ unter der Erde, durch die Unterwelt (Coe 1966, 150). So erklärt sich, daß der Gott
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
der Sonne, nämlich Itzamna, zugleich oberster der 13 Himmelsgötter, identisch sein kann mit dem Totengott und Herrn der Unterwelt, Uac-mitun Ahau. Ein anderes Synonym für die Unterwelt ist auch der Jaguar; er ist Menschenfeind, Weltenbedroher (im Mythos) und Donner oder auch Dröhnen von Erdbeben, da sein Röhren jenen Geräuschen ähnlich ist (vgl. auch Hunt 1977, 79). Wenn der Schlangenkörper mit seinen Bewegungen tags den Lauf der Sonne und Gestirne ausmacht, so ist er nachts die Milchstraße; auch sie ist eine doppelköpfige Schlange (Hunt 1977, 151). Das aufgezeigte Weltbild läßt sich grundlegend verstehen aus einem Schema aus 5 Punkten, von denen 4 die Ecken und einer die Mitte markieren (Hunt 1977, 118 f, 131). Eine für weitere Deutungen der Maya-Kosmologie wichtige Frage, ob nämlich diese 4 Eckpunkte sich an den Kardinalpunkten ausrichten (Schele und Miller 1986, 42) oder aber an den Solstitienpunkten (Hunt 1977, 131; Sosa 1986, 191, 195; Vinette 1986, 393; Köhler 1990 b, 222), ist meines Erachtens klar zugunsten der letzten Position zu beantworten, da diese kongruenter zum vorliegenden Material ist. Bei der zweiten These bestimmen nicht die Kardinalpunkte das gedachte und symbolische Universum der Maya, sondern vielmehr die Extrempunkte der Ekliptik, also die vom jeweiligen Beobachtungsstandort aus wahrnehmbaren Scheitelpunkte der Wendekreise. Dadurch verändert sich ein bisher orthogonales Grundschema (der 4 Himmelsrichtungen) in eines aus zwei Parallelen (den Wendekreisen). Immer noch weist die Ordnung vier Eckpunkte auf, doch sind sie im Vergleich zum ersten Schema um ca. 45∞ gedreht (vgl. auch Girard o. J., 74). In dieser Ordnung zeigen zwei Punkte nach Westen, zwei nach Osten; ein jeder wird, wie wir schon sahen, von einer Vielzahl von transzendenten Entitäten weiter bestimmt. Scotchmer (1986, 204) räumt den Bacabs und ihrer Vierheit eine dominante Bedeutung für das transzendente Universum der Maya ein. Er merkt auch an, daß die Mitte in diesem Schema die wichtigste Rolle einnehme, wovon allein die riesige Menge von 120 sprachlichen Termini zeuge, mit denen die Maya über dieses Konzept sprechen können (Scotchmer 1986, 202) ⫺ ein Thema, das uns noch beschäftigen wird. Die fünf Punkte sind deifiziert als die Bacabs sowie Itzamna, der die Mitte innehat und die Einheit des Ganzen repräsentiert (Hunt 1977, 120⫺2, 131). It-
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
zamna wird als Einheit der Vierheit, bestehend aus Bacabs, Himmelsschlangen, Chacs (Regengöttern), Pauahtun (Windgöttern der 4 Richtungen und Elemente), und als oberste Gottheit des Maya-Pantheons angesehen (Sosa 1986, 193). Gerade mit Blick auf die Zeichenauffassung der Maya überrascht daher nicht, daß Itzamna auch als Erfinder der Schrift gilt und als erster die Orte Yucata´ns benannt und die Länder getrennt hat ⫺ so ist er also der „Herr des Worts“, der die Ordnung der Dinge für die Menschen etablierte (Morley und Brainerd 1983, 469 f). In der Beschreibung des Chortı´-Rituals sahen wir, daß bei der Anordnung des Altars auf die 2 westlichen Punkte die Krüge mit Wind, auf die östlichen die mit Wasser entfielen, so daß sich die Entsprechung ergibt: West ⫽ Wind, Ost ⫽ Wasser. Dabei ist die südliche Hälfte die positive, die nördliche die negative; der unheilvolle Wind kommt (auch tatsächlich) von Norden (siehe Hunt 1977, 116). Bei der Steinlegung verfährt der Chortı´Priester entgegen dem Uhrzeigersinn und damit analog zum Lauf der Sonne. Die bewegt sich von Ost nach West, in unserem Schema ergibt sich die Reihenfolge: 1 ⫽ NO, 2 ⫽ NW, 3 ⫽ SW, 4 ⫽ SO, 5 ⫽ Mitte (vgl. auch Girard o. J., 59). Diese Folge stellt den Tageslauf der Sonne (d. h. tags läuft sie oben ⫽ im Norden von Ost nach West, nachts von West nach Ost unter der Erde ⫽ unten ⫽ im Süden zurück), ihre Jahresbewegung (zur Erläuterung der 4 Solstitienpunkte als Markierungen der Sonnenlaufbahn siehe Sosa 1986) und zugleich die Bewegung der Erderschaffung dar. In Popul Vuh und Chilam Balam wird von der Erschaffung der Welt nach einem viereckigen Muster durch die 4 Bacabs berichtet (Girard o. J., 62). Interessant ist dabei auch, daß die 4 Bacabs den Himmel dazu von der Erde hochstemmen mußten. Die Zweischichtigkeit der so entstehenden Welt geht aus einer Einschichtigkeit hervor und ist transzendental immer noch mit ihr identisch. Hunt stellt dies korrekt mit dem Modell des Möbiusbands dar (1977, 177 f). Das Modell versinnbildlicht sowohl die Identität von 1 und 2 (Ebenen) wie von 4 (Eckpunkten) und 1 (Mitte und Ganzes). Genau diese Figur wird uns später als semiotisches Organisationsprinzip wiederbegegnen. Daß diese Weltvorstellung immer noch lebendig ist, bezeugt auch die Beobachtung Hunts (1977, 276), daß die Maya in Chiapas beim Neubau einer Brücke mit 4 Pfeilern in ihrem Gebiet die Befürchtung hegten, die Ladinos würden für die 4
2001 Träger (⫽ Träger des Jahres und des Himmels usw.) je ein Kind der Maya opfern, wie dies nach deren Kosmologie plausibel ist. Zur Kosmologie anderer Kulturen vgl. Art. 36 § 4.3., Art. 37 § 5., Art. 38 § 2., Art. 89 § 6.1., Art. 93 § 4.1., Art. 94 § 1. und Art. 98 § 2. Kehren wir noch einmal zur Grundordnung des Universums aus 5 Punkten zurück. Wenn man darin das von den beiden Parallelen begrenzte Feld waagerecht und wieder senkrecht teilt, erhält man ein Schema mit den 4 gleichen Weltgegenden und 7 bzw. 9 Eckpunkten. Die Zahl 7 ist für die (vor-) kolumbianischen wie für die heutigen Maya von hoher sakraler Bedeutung (Girard o. J., 65 ff). So ist die Venus, die in Astronomie, Kalender und Pantheon der Maya eine wichtige Position einnimmt (vgl. Coe 1966, 161 f; Thompson 1966, 169⫺173, 263; Morley und Brainerd 1983, 478 f, 565 f; Vinette 1986, 399), mit der 7 assoziiert (Hunt 1977, 200). In 7 sind nun 4 und 3 enthalten, die ihrerseits wieder assoziiert sind mit Mann und Feld bzw. Frau und Haus (Earle 1986, 157 f, 164 f). Folgerichtig sind die Gestelle für den Küchenherd dreibeinig (Schele 1992, 198) und ebenso die Leuchter im Ritual. Den 7 Richtungen entstammt der Gott der Fruchtbarkeit, der Zeit und des Neujahrstages. Er ist der Eine und der Vielfältige, Siebenfache zugleich und stellt das Grundprinzip der MayaTheologie von der Einheit in der Vielheit dar (Girard o. J., 66). Der siebenfache Gott ist die Einheit aus den vier Bacabs, dem 5. Wesen der Mitte und aus den zwei Weltenstiftern, den mythischen Zwillingen Hunapku und Ixbalanque. Diese begründeten das Ballspiel, das eine zentrale Rolle in der MayaKosmogonie einnimmt (Wren 1989, 289). Der Ball repräsentiert die Sonne und bewegt sich auf einem von Nord nach Süd ausgerichteten Spielfeld in Form eines gedruckten „I“ zwischen den beiden Längswänden, wo sich auch die Zielringe befinden, d. h. zwischen Ost und West. Der entsprechende Mythos führt weiter aus, wie die Zwillinge zum Spiel mit den Göttern der Unterwelt Xibalba dorthin reisen mußten und mehrfach von dort den Weg in den Himmel und zurück nahmen (Hendrickson 1989, 130, 137). Sie etablierten mit dieser Bewegung die dritte Achse in unserem kosmogonischen Schema und somit die Verbindung der drei Weltenschichten (Girard o. J., 67 f; ausführlicher hierzu auch Schele und Miller 1986, 265⫺301). Die architektonische Anlage der Ballspielplätze in den klassischen Maya-Städten spiegelt diese Aspekte
2002
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
Tab. 99.2: Namen der Gottheiten im Jahreserneuerungsritual der Maya Gott
Bacab
Tun
Chac
„Leerer Tag“
Saccimi
Saccal
Sac Pauah
Sac Chib Chac
Sac u Uayeyab
Hosan Ek
Ekel
Ek Pauah
Ek Chib Chac
Ek u Uayeyab
der kosmologischen Ordnung wider. Auch sind die Plätze innerhalb der Städte so ausgerichtet, daß sie vermitteln zwischen zwei funktional, sozial, politisch und verwandtschaftlich komplementären Hälften (eine umfassende Analyse von Ballspiel und Spielplätzen für die Maya-Gesellschaft findet sich bei Fox 1987; zur künstlerischen Verarbeitung mythischer Inhalte im Ballspiel siehe Wren 1989). 7. Theologie Wie wir bereits sahen, gibt Landa für die 4 Bacabs verschiedene „Namen“ an, und das heißt, er differenziert sie nicht als getrennte Wesen, sondern sieht sie als Einheit. Die Spanier generell hielten zu jener Zeit die Götter des Maya-Pantheons für unzählbar: sie waren nicht in der Lage, deren verschiedene Darstellungen zu unterscheiden (zur Gleichsetzung persönlicher Gottheiten mit unpersönlichen Naturmächten in anderen Kulturen vgl. Art. 36 § 5., Art. 37 § 5., Art. 38 § 2., Art. 47 § 5.1., Art. 93 §§ 4. und 5., Art. 95 § 3. und Art. 97 § 4.). Wenn Scotchmer (1986, 197) urteilt, es liege bis dato noch keine theoretisch befriedigende Studie über religiösen Symbolismus (in Guatemala) vor (in diesem Sinne auch Hunt 1977, 51), so mag ein Grund dafür in der Unüberschaubarkeit liegen, mit der sich das Pantheon dem Betrachter darbietet. Noch Boskovic (1989, 210) ist der Ansicht, daß das Maya-Pantheon nicht strukturierbar sei: ihm scheint es unmöglich, die Götter zu klassifizieren, wenn 4 Götter einer und ein Gott z. B. Mutter und Tochter gleichzeitig sein können (Boskovic 1989, 207 f). Diese Unüberschaubarkeit ist in der Tatsache begründet, daß die Maya (in Texten, Bildern, Mythen usw.) ihre Götter immer nur mit bestimmten Aspekten darstellten (Coe 1966, 151; Thompson 1966, 262; Morley und Brainerd 1983, 468; Schele und Miller 1986, 42), und das bedeutet, daß die gleiche Gottheit je nach Kontext ganz verschiedene Erscheinungsweisen haben kann. Sie kann außerdem auch über verschiedene Wirkberei-
che verfügen (vgl. das Beispiel von Itzamna, der mit Himmel, Sonne, Totenreich und Unterwelt gleichermaßen assoziiert war), die unter Umständen wieder bestimmten Zeiten (Maya-Monaten) zugeordnet sein können (Morley und Brainerd 1983, 470). Ebenso können die Götter ihren Sitz, ihre Funktion und Qualität verändern. Die Transformation in der Theophanie läßt sich auf sprachlicher Ebene nachvollziehen: Landa (1941, 139) führt fünfzehn Namen der für das Jahreserneuerungsritual bedeutsamen Götter auf (siehe Tab. 99.2). Die Aspekte der Gottwesen sind nach verschiedenen Prinzipien zu ordnen. Hunt (1977, 42⫺45) teilt die Attribute der Gottwesen in über 30 symbolische Klassen oder Kodes ein (z. B. den pflanzlichen, tierischen, Farb- oder Naturelemente-Kode). Die konkrete Einzeldarstellung eines Gottes realisiert aus all den Kodes jeweils eine bestimmte Auswahl an Merkmalen, über die der jeweilige Gott identifiziert wird. Sie nennt diese Auswahl „cluster“ und faßt Veränderungen in den Gottesdarstellungen richtig als Transformation der Identifikationscluster (Hunt 1977, 43 ff, 54 f). Nicholson (1971, 408) unterteilt den Komplex der Gottwesen nach „cult themes“. Interessant an den bisherigen Ansätzen, das Maya-Pantheon zu ordnen, ist auch, welche Prinzipien die jeweiligen Autoren dafür verwendet haben bzw. auf welche sie dabei gestoßen sind. Köhler (1990 b, 233) teilt Schellhaas’ Auffassung, daß unter all den MayaGöttern 5 (!) besonders wichtig gewesen seien: der Gott des Regens (Chac), der der Sonne (Itzamna), der des Maises (Hun Nal Yeh), der des Todes (Uacmitun Ahau, ein alter ego des Itzamna) und die Göttin des Mondes (Ixchel). Schele und Miller (1986, 42) sehen in der Theophanie vier Kategorien: deifizierte weltliche Phänomene, anthropomorphe, zoomorphe und Tierdarstellungen. Coe (1966, 151) identifiziert ⫺ mit jeweils verschiedenen Aspekten ⫺ zwischen 30 und 166 Götter. Ein jeder habe jedoch aus 4 Personen bestanden, die wieder mit Farben und Richtungen identifiziert worden seien. Die gleiche
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
Auffassung teilt auch Thompson (1966, 269). Er erkennt, daß verschiedene Maya-Gottheiten Quadruplizität aufwiesen und dabei doch in eine einzige verschmelzen konnten (zur Identität vieler mit einem Gottwesen auch Morley und Brainerd 1983, 468). Anders (1963, 97⫺102) findet das Prinzip auch in der Genealogie der Götterwelt wieder: so sind z. B. die 4 Bacabs Kinder des Itzamna. Das zugrunde liegende Prinzip in der Konzeption der Theophanie ist die Vierheit, die um den 5. Aspekt der Mitte, der Allumfassendheit und Ganzheit vervollständigt ist. Tatsächlich unterrichtet uns Coe (1966, 152), daß Hunabku, der allmächtige, das Wirkungsprinzip der Umfassendheit darstellende Gott, körperlos sei ⫺ und das heißt, er ist dem Wandel der Verkörperungen nicht unterworfen. Es scheint nur konsequent, daß Hunabku mit Itzamna identisch ist: beide sind auch als Reptilien dargestellt und das Reptil ist mit Erde und Himmel (als Himmelsschlange) gleichermaßen assoziiert (Morley und Brainerd 1983, 469). Ein weiteres grundlegendes Ordnungsprinzip ist der spezifische Umgang mit Dualismen (zur Ordnung der Welt mit Hilfe von Oppositionen in anderen Kulturen vgl. Art. 36 § 4., Art. 37 § 4., Art. 38 § 2. und Art. 93 § 4.). In anderen mittelamerikanischen Gesellschaften wie der aztekischen war das Pantheon nach einem dualen System gegliedert (Hunt 1977, 120, 128; Boskovic 1989, 209). Bei den Maya ist die 2 die Spaltung, die Verdoppelung von 1, also der Ganzheit und des Zentrums. So wie aber 2 aus 1 entsteht, ist 2 auch immer in 1 enthalten. In der Konzeption der Theophanie stellt sich dies wie folgt dar. Ein Gott kann in sich zwei Wertigkeiten bergen wie gut/böse, männlich/weiblich, irdisch/himmlisch, Tod/Leben, alt/jung, Feuer/Wasser etc. (Anders 1963, 43; Thompson 1966, 262): er ist in sich 2, gespalten und gegensätzlich. Gleichzeitig besitzen Gottwesen einen personifizierten Antagonisten, eine zweite sakrale Person, mit der sie über Assoziation und Identifikation verbunden sind (indem sie sozusagen einige Attribute ihrer identifizierenden cluster miteinander teilen). So existiert z. B. Ixchel, die Göttin des Mondes und der Menstruation zugleich in einer maskulinen Erscheinungsform („Ah Chel“; nach Landa 1941, 10), ebenso als Göttin der Geburt, aber auch der Zerstörung und des Krieges (Morley und Brainerd 1983, 476). Itzamna ist Herr des Himmels und der Unterwelt, dabei ein Wesen (als Reptilgott) und
2003 auch zwei: mit Hunabku als Komplement (Morley und Brainerd 1983, 469 f) und Uac Mitun Ahau als Antagonist. Nicht nur Götter, sondern auch andere sakrale Entitäten sind als duale Wesen angelegt (Boskovic 1989, 209; Hendrickson 1989, 133); Tedlock (1986, 80) spricht sogar von „Bitheismus“ als allgemeinem Prinzip in der Quiche-Maya-Theologie. Dies zeigt sich vor allem in den interessanten Berichten von mythischen Zwillingen, von denen besonders die Tricksterhelden Hunahpu und Ixbalanque als Stifter des Ballspiels bedeutsam sind (Schele 1992, 210). Die Zwillingsstruktur veranschaulicht am besten die zweifache Anlage sakral bedeutsamer Wesenheiten. Daß Zwillinge nicht einfach eine Gegensatzstruktur aufbauen, zeigt Ochiai (1986, 99): sie sind identisch und doch getrennte Wesen; sie handeln gleich und zu gleichem Zweck, reden aber oft nicht einmal miteinander, sind also weder Partner noch Gegner, sondern verkörpern ein eigentümliches Verhältnis von Identität und Differenz. Dualismus zeigt sich weiter in der Vorstellung der Beseeltheit. Boskovic (1989, 210) führt aus, bei den Maya könne „in gewissem Sinne“ alles beseelt sein. Linn (1989, 253 f) setzt uns indes davon in Kenntnis, daß sie bei ihrer Feldforschung bei den Chamula-Maya kein klares Konzept davon zu gewinnen vermochte, was beseelt sein könne und was nicht. Tatsächlich hätten durchaus nicht alle lebenden Wesen eine Seele (z. B. Kaninchen). Linn (1989, 253) sieht die Seelenvorstellungen eher als Ausdruck komplexer individueller Symbolsysteme. Fest steht aber, daß zumindest Menschenseelen immer „doppelt vorhanden“ sind und zwar im sogenannten „Nagual“ (auch „Nahual“), einer Art Begleiterseele in einem anderen (meist tierischen) Wesen (genauer dazu Vogt 1970, 105 f und Schele 1992, 200). Das Verhältnis von Identität und Differenz kommt auch an entscheidender Stelle im Erschaffungsmythos der Quiche zutage. Tedlock (1986, 79⫺81) belegt am Popul Vuh, daß für Erschaffungsakte mythologisch immer eine Dualität vorgängig sein mußte (ähnlich auch Hendrickson 1989, 129). Ebenso wie in der Bibel (vgl. Art. 61 § 3.), entsteht auch bei den Maya die Welt aus dem Wort, hier allerdings aus der Kraft des Dialogs. In seiner Übersetzung der Textstelle im Popul Vuh läßt Tedlock (1986, 79) uns wissen, daß die Erde geschaffen wurde, indem sie (die Erschaffer) „Erde“ sagten, durch die Kraft des Wortes,
2004
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
das Nagual und das „Puz“. Dabei bedeutet „puz“ wörtlich: ‘das Schneiden des Fleisches mit dem Obsidianmesser’; d. h. es handelt sich um das Zerteilen des Einen in zwei und das damit verbundene rituelle Opfer, mit dem die Lebenskraft der Welt und der Sonne erneuert wurde. Dualität gliedert dann auch die lebende, bestehende Welt: Vogt (1970, 106 f) findet sie als Ordnungsprinzip in sozialen Einheiten der dörflichen Gesellschaft wieder (im Gegensatz der Altersklassen; in diesem Sinne auch Ochiai 1986, 99). Doch kein Gegensatz ohne Auflösung: eine duale Struktur niederer Ebene (wie die der Altersklassen) geht auf einer höheren Ebene in einem integrativen Prinzip wieder auf. Das gilt natürlich für den Kalender (Riese 1990b, 112 f), aber ebenso für die soziale und kosmologische Wirklichkeit (Vogt 1970, 102; Earle 1986, 156, 171). Betreffs der Deifizierung und Beseelung scheint daher Earles Bemerkung (1986, 167) durchaus berechtigt, daß bei den Maya sich jede dialektische Figur dafür geeignet habe. Gegensätze in einem Wesen anzulegen und in einem höheren Prinzip wieder zu überwinden, kann als Grundlage der theologischen, kosmologischen und symbolischen Ordnung der Maya angesehen werden. Eine Wirklichkeitsebene integriert symbolisch die nächste ⫺ durch Einbauen ihrer Zeichen. Einheit und Versöhnung erscheinen so als das Endziel kosmischer Ordnung (Scotchmer 1986, 199, 204). An der Art, wie die Maya ihre sakralen Entitäten konzipieren, lassen sich also weitere Grundprinzipien ihrer Zeichenauffassung ablesen, so z. B. die Identifizierung und Differenzierung von Zeichen über Zuteilung von mehreren (teilweise identischen) Merkmalen, die Verschmelzung von Gegensätzen durch Integration auf höheren Ebenen und die Synthese oder Einheit von Zwei-, Vierund Vielheit.
lungselementen Beziehungen herstellt. Diese Ebenen sind: Kalender, Kosmologie, Theologie und die pragmatische Funktion des jeweiligen Elements. Andere in gleicher Weise anschließbare Ebenen werden in § 9. angeführt. Jedes signifikante Element im Ritual verweist auf solche auf den anderen Ebenen. Das ganze Netz der Verweis- und Bedeutungsbeziehungen kann als System, die oben genannten Ebenen unter Einschluß des rituellen Tuns können als dessen Subsysteme (S1⫺ S5) aufgefaßt werden (vgl. Tab. 99.3). In den Subsystemen werden Mentefakte (Posner 1991, 53) aus dem symbolischen Universum der Maya semantisch aufeinander bezogen; das heißt, es werden durch die Zuordnung je eines Mentefakts in einem Subsystem S1 zu einem anderen (in S2 usw.) Bedeutungsbeziehungen etabliert. Die Beziehungen lassen sich in den Spalten von Tab. 99.3 ablesen. Die Mentefakte sind Teil einer kognitiven, symbolischen und kulturellen Ordnung der Welt. Sie werden zu Signifikaten, wenn sie von Zeichen getragen werden.
8.
Zeichenkonzeptionen im Jahreserneuerungsritual der Maya
8.1. Zeichen und Wirklichkeit In den beiden Varianten des Jahreserneuerungsrituals liegt eine Vielzahl von Elementen vor, die (transzendente und sakrale) Entitäten bezeichnen. Eine erste Annäherung muß darauf beschränkt bleiben, 4 Ebenen der Wirklichkeit auszuführen, zwischen denen das Ritual als kodierte Sequenz von Hand-
8.2. Beziehungen von Zeichen und Typen von Bedeutung Die vertikalen Bedeutungsbeziehungen zwischen den Mentefakten innerhalb einer jeden Spalte von Tab. 99.3 sind als metonymische zu klassifizieren, da hier Elemente aus einzelnen Subsystemen aufeinander bezogen sind. Die waagerechte Beziehung zwischen den (hier über das Ritual zugeordneten) Mentefakten kann als syntagmatische Ebene (eben des Rituals) definiert werden (zur Unterscheidung zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Relationen zwischen Zeichen vgl. Art. 2 § 3.). S5 gibt die pragmatische Funktion der Mentefakte an. Das Schema in Tab. 99.3 stellt 5 Subsysteme dar; der Ausgangspunkt ist hier das Subsystem Ritual (S2). Die Darstellung der anderen Subsysteme verläuft (syntagmatisch) entsprechend zu S2; wählt man jedoch ein anderes Ausgangssystem, so verändern sich die nachgeordneten Syntagmen. Dies betrifft aber nur die Form der Darstellung; die Gesamtheit und die Typen der Bedeutungsbeziehungen zwischen den Subsystemen wird dadurch qualitativ nicht verändert. Jedes Mentefakt in jeder Position eines Subsystems verweist zugleich auf weitere Mentefakte des gleichen Subsystems (also M1 auf M1a auf M1b usw. bis M1x). Dabei steht „… x“ für eine noch zu eruierende, beschränkte natürliche Zahl. Die Ketten der
√ √ √ √ √¬ Hobnil
4⫹1
Schöpfungsbeginn, Fruchtbarkeit
Unglück wird vermieden, das Böse ausgetrieben.
S 4 Theologie
S 5 Pragmatische Funktion
Die Ordnung des Kosmos wird erneuert.
südlicher Träger der Welt
kosmisches Ideogramm
Reinigung
Ein gutes Jahr beginnt.
1. Statue wird im Süden aufgestellt.
4 Steinhaufen werden errichtet.
Weihrauch verbrennt.
Sonnenlauf beginnt
M3
S 2 Ritual
M2
4. UayebTag ⫽ Cauac
M1
S 1 Kalender
metonymische Beziehung S 3 Kosmologie
ƒ √ √ √ √ √
Subsystem
Mentefakt
Gottesnahrung
Opfer
Der 1. Statue im Süden wird Opfer gebracht.
M5
Komplemen- Der Weltentäre Teile lauf wird werden zugesichert. sammengeführt.
Bolon Dzacab
Dualismus der Kräfte
2. Statue wird zum Haus des Prinzipals gebracht.
M4
Der Übergang vom alten ins neue Jahr findet statt.
1. Sonne „Kin“
Bewegung von Süd nach Nord und Ost nach West
1. Statue wird zum Haus des Prinzipals gebracht.
Sonnenlauf erreicht Zenith
M6
Tab. 99.3: Das System der Bedeutungsbeziehungen, das durch das Jahreserneuerungsritual der Maya verkörpert wird
Die Welt wird erhalten.
Gottesnahrung
Opfer
Den 2 Statuen werden Opfer gebracht.
M7
Die Einheit wird wieder hergestellt, es kommt zum Neubeginn.
Itzamna
Weltenmitte
2. Statue wird zum Tempel gebracht.
Neujahrstag „Kan“
M8
Kan wird zum Schutzpatron des neuen Jahres.
Regierung des Kan im Osten
östlicher Träger der Welt
1. Statue wird nach Osten gebracht.
M9
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
2005
2006
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
möglichen Verweisbeziehungen lassen sich wie in Tab. 99.4 und 99.5 darstellen. Die einzelnen Mentefakte sind disjunkte Einheiten, realisieren aber jeweils Teilaspekte voneinander. So kann man sagen, daß z. B. „Gummi“ und „Blut“ im kosmologischen System der Maya insofern ähnlich sind, als sie das Tertium comparationis „Opfergut und Sonnennahrung“ teilen. Da sie (auch sinnlich verschiedene) Aspekte des Bezugsmentefakts realisieren, klassifiziere ich ihre Beziehung als metaphorische. Beide sind mögliche Signifikate für S3⫺M1 wie auch füreinander, das heißt, sie sind als Signifikate (des Polysems S3⫺M1) verschieden und doch insoweit, als sie auch einander bedeuten, identisch (so, wie wir zwei Synonyme als „das Gleiche“ begreifen). Wir können von einer Bedeutungsbeziehung metaphorischen Typs sprechen. Idealiter ergäbe sich in der Darstellung ein dreidimensionales Gefüge, in dem die 1. Dimension die metonymischen Bedeutungsbeziehungen, die 2. die syntagmatische, die 3. die metaphorische Verknüpfung wiedergäbe. Die Reihenfolge der Mentefakte in den Zeilen von Tab. 99.4 ist dabei beliebig, nicht aber ihre Zugehörigkeit zu diesen Zeilen, da zwischen allen Mentefakten (notwendige) Bedeutungsbeziehungen bestehen. Die Mentefakte haben allerdings keine absolute Identitätsbeziehung, denn ihre Zeichen können einander nicht beliebig an der Position Si⫺Mj ersetzen. Das Ritual stellt einen variierbaren Ablauf von Handlungselementen dar. Wie Landa gezeigt hat, gibt es hier 4 mögliche Abläufe. In jedem Syntagma (⫽ Tabellenzeile) variieren dabei die Mentefakte nach dem festen Schema des Viererzyklus. Zu dem (oben ausgeführten) Syntagma des Ritus gesellt sich so das Paradigma von drei weiteren möglichen Syntagmen. Die drei Morrisschen Zeichendimensionen (vgl. Posner 1979 sowie Art. 1 § 2.) sind in dem tabellarischen Zeichensystem der Sakralität, wie es in Tab. 99.3 festgehalten ist, in folgender Weise realisiert: die semantische in den Spalten, die syntaktische in den Zeilen S1⫺S4 und die pragmatische in der Zeile S5.
schaubaren Polysemie eindeutige Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant etablieren? Prinzipiell basiert jede Bedeutungsbeziehung auf einer Vielzahl möglicher anderer Bedeutungsbeziehungen, denn um das Signifikat (oder nach Peirce den Interpretanten; vgl. Art. 100 § 2.) zu isolieren, müssen wir jeweils weitere Zeichen heranziehen, um darüber sprechen zu können (Eco 1972, 76 f). Im vorliegenden Zeichensystem aber ist diese Fortsetzbarkeit der Semiose bereits in jedes Zeichen hineinverlegt: der Signifikant zwingt aufgrund der systemhaften Bedeutungsbeziehungen, immer von einem Signifikat zum nächsten zu gehen. Damit ein Kode funktioniert, können Zeichen wie Signifikate durch Distinktion und Position in einem System definiert sein (Eco 1972, 85 f). Im untersuchten Fall ist die Position durch das Syntagma des Ritus definiert. Die anderen als Subsysteme bezeichneten Ebenen sind notwendige Bestandteile in der Signifikation. Zwar ist es auch möglich, von einem ganz anderen Punkt der Lebenswirklichkeit aus die Frage nach der Signifikation zu stellen, doch werden diese Ebenen immer mit hinzugezogen: sie bilden ein Ganzes. Sie sind also nicht als konnotative Subkodes aufzufassen (nach Eco 1972, 95; siehe auch Art. 117 § 5.), da sie nicht mögliche Assoziationen, sondern notwendige Teile des Bedeutungsprozesses sind. Im widersprüchlichen Gefüge von Differenz und Identität innerhalb dieser Zeichenkonzeption wird die für die Bedeutungsbeziehung nötige Unterscheidung durch Distinktion oder Position gewährleistet: Distinktion bei den Signifikaten mit metaphorischen Beziehungen, bei denen die partielle Differenz zum Tertium comparationis signifikant ist; Position bei den metonymischen Beziehungen, wo ein Mentefakt Si⫺Mj bezeichnet wird, weil es im Syntagma an paralleler Stelle steht zu Si⫺1⫺Mj usw. Jedes Zeichen (z. B. des Subsystems „Theologie“) für sich trägt eine Vielzahl von Merkmalen, über die es identifiziert wird: es gibt distinktive und signifikative Oppositionen; daher ist eindeutig von einem Zeichensystem zu sprechen. Wenn man die vorliegenden distinktiven Oppositionen nach der Typologie von Barthes (1981, 60⫺66) näher untersucht, so findet man mehrdimensionale Oppositionen, da ein Merkmal (z. B. Farbe) mehreren Signifikanten zukommen kann, und privative Oppositionen, da die Signifi-
8.3. Konstruktion der Bedeutungsbeziehungen Im hier vorgestellten Bedeutungssystem kann jedes Mentefakt metonymisch (in den Spalten von Tab. 99.3) und metaphorisch (in den Zeilen von Tab. 99.4) eine Vielzahl von Bedeutungsbeziehungen aktivieren. Wie kann ein Kode nun angesichts der zunächst unüber-
S3
Subsystem
Bacab Cauac 1⫹2 Gummi Tagesbeginn
⫺ ⫺ ⫺ ⫺
Süden
Dualismus der Kräfte
Opfer
Bewegung S→N
Mitte
östlicher Pfeiler
M4
M 5⫹7
M6
M8
M9
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
Jahresbeginn
Blut
Hunabku
Unglück, Gefahr
Berg
Weltordnung
Blut
Mnb
⫺ Bacab Kan ⫺ Glück, Sicherheit
Gelb
Himmelsträger
Itzamna
Sonne
Mnc
4 Richtungen
Itzamna
⫺
⫺
⫺ Ceiba
⫺
⫺ Verbindung ⫺ der Weltebenen
⫺
⫺
Mnd
Weihrauch
⫺
⫺
Rot
Neubeginn
⫺
⫺
⫺ Schöpfungs- ⫺ beginn
⫺
Ceiba
Itzamna
…
⫺
⫺
Aufstieg ⫺ zum Himmel
⫺ Ixbalanque ⫺ Doppelseele ⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺ Vollendung ⫺ Integration ⫺ der Schöpfung
Pfeiler des Kosmos
⫺
Steinhaufen
M3
4⫹1
kosmisches Ideogramm
M2
⫺
Reinigung durch Weihrauch
M1
Gummi
Mna ⫺
Mentefakt
Tab. 99.4: Verweisketten im kosmologischen Mentefaktsystem der Maya
Vogel
Sonne
Nahrung der Sonne
universale Dualismen
Vogel
Bacab
4 Winde
Tag
Mne
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
Kinich Ahau
Erhalt der Welt
…
Hobnil
Ceiba
4 Wasser
…
Mnf
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
Herz
Bolon Dzacab
…
4 Bacabs
Mng
⫺
⫺
⫺
⫺
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
2007
S4
Subsystem
4 Bacabs
Glück, Sicherheit Itzamna Welterhalt Sonne Sonne Chac Xib Chac
⫺
⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺ ⫺
4⫹1 Ideogramm
Hobnil
Bolon Dzacab
Gottesnahrung
Kin
Itzamna
Bacab Kan
M2
M3
M4
M 5⫹7
M6
M8
M9
7
⫺
Fruchtbarkeit
Mna
M1
Mentefakt
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
Sac Pauah Tun
Ixchel
Tag
4⫹3
Mnc ⫺
Mann ⫹ Frau
Mnd ⫺
⫺
⫺
⫺
Kinich Ahau
Mond
Mensch
Sonne
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺ Genealogie ⫺
⫺ Bacab Kan ⫺
Sonne
Unterwelt
Kinich Ahau
Mensch
Fürstenhäuser
Süden
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺ 4 Pauahtun ⫺ 4 Söhne des ⫺ (Windgötter) Itzamna
⫺
Aufstieg ⫺ zum Himmel
9
Sündenfreiheit
4 Chacs (Regengötter)
Venus
Mnb
Abb. 99.5: Verweisketten im theogonischen Mentefaktsystem der Maya
…
Jaguar
Itzamna
Blut
Kan Chib Chac
…
Ixchel
Haus ⫹ Feld
Mne
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
⫺
Tod
…
Herz
Ackerbau
…
…
Mnf
⫺
⫺
⫺
Leben
…
…
Mng
⫺
2008 XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
kanten durch eine Summe von addierbaren Merkmalen ausgezeichnet werden. Dabei fällt auf, daß es keinen Nullgrad gibt ⫺ es existiert also keine Bezeichnung eines Gottes in Reinform, sondern jede Bezeichnung realisiert ein semantisches Merkmalsmuster aus einer Vielzahl möglicher Muster. Vor allem aber gibt es keine konstanten, sondern nur neutralisierbare Oppositionen: zwei verschiedene Signifikanten können identische Merkmale annehmen. Hält man dieser Analyse die nach einer anderen Klassifikationsweise gegenüber, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Lyons (1971) schlägt eine dreiteilige Typologie der Bedeutungsopposition vor. Angewendet auf das Zeichensubsystem Theologie zeigt sich, daß es weder Komplementarität gibt (also völlige Ausschließlichkeit im Sinne der „entweder/ oder“-Zuordnung nach Lyons 1971, 461 f), noch umkehrbare Entsprechung („converseness“ nach Lyons 1971, 467 f). Der von Lyons selbst als unscharf kritisierte Antonym-Begriff (Lyons 1971, 405 ff, 463 f) ist der hier noch am ehesten zutreffende. Die Signifikate können gegensätzliche Merkmale aufweisen (wie Tod/Leben, Tag/Nacht), doch bezeichnen diese Attribute immer einen relativen Zustand: die Abwesenheit eines Merkmals bedeutet nicht automatisch die Geltung des gegenteiligen Merkmals. Antonyme erlauben eine Anordnung von Bedeutungen (Semen) in einem Schema semantischer Oppositionen, doch da sie stets auch andere Wertigkeiten offen lassen, ermöglichen sie nur eine relative, vorübergehende Zuordnung: sie stellen eine Basis für den expliziten Vergleich her ⫺ für das In-Beziehung-Setzen. Vergegenwärtigen wir den Gesamttypus der vorliegenden distinktiven Schritte (mehrdimensional⫺privativ⫺neutralisierbar nach Barthes oder vorwiegend antonymisch nach Lyons), so stehen wir vor einem Typ der Bedeutungsbeziehung, der doppelt offen ist: in der Signifikationsweise und in den möglichen Signifikaten selbst, wie die (unvollständigen) metaphorischen Reihen in Tab. 99.4 und 99.5 zeigen. Diese Fähigkeit des Zeichensystems, weitere Signifikate zu integrieren (zu den Zeichensystemen anderer Kulturen mit vergleichbarer Integrationskraft siehe Art. 95 § 1. und Art. 97 § 8.), hat dann auch manifeste Auswirkungen zum Beispiel im Synkretismus mit der christlichen Religion. Identität ⫺ verstanden als die Konkordanz von Signifikat und Signifikant ⫺ ist immer auch anders möglich. Das Eine ist in sich immer schon potentiell das Andere. Das gilt für die Kon-
2009 zeption des einzelnen Zeichens ebenso wie für die Beziehungen zwischen Zeichen (vgl. die komplementären Figuren in der Theologie wie die Zwillinge, paarweise konstruierte Gottwesen usw.). Zentrale Merkmale dieser Zeichenkonzeptionen sind also (1) die integrative Kraft und (2) die Tatsache, daß in einer Einheit von Zeichen, Signifikat, Kode und System stets eine Vielheit mitbedeutet ist. 8.4. ‘Zeit’ in den Bedeutungsbeziehungen Im konkreten Anwendungsfall, nämlich bezogen auf das Subsystem Ritual, ist die Zeit im Spiel, da die Signifikanten primärer Ordnung (hier in S2) solche der Bewegung im realen Raum sind. Diese Signifikanten sind die Basis von Signifikaten (in S1, S3 und S4) sowie in möglichen weiteren Subsystemen wie denen der Mythologie und der Genesis (Popul Vuh, Balun Canan, Chilam Balam) usw., die anders dimensionierte Zeiteinheiten (nämlich Generationen, Epochen, Weltalter) ordnen. Das kosmische Ideogramm (S3⫺M2) bezeichnet Zeit: es liefert eine Reihenfolge von Punkten, die mit der Erschaffung der Welt, dem Jahres- und Tagesablauf assoziiert ist (Hunt 1977, 179 f). Earle (1986) zeigt, wie diese verschiedenen Zeiteinheiten über kosmologische Assoziationen in Tagesablauf, Hausbau, Rollenteilung usw. integriert sind. Das Prinzip, daß bei den Maya kleine Ordnungssysteme in immer größeren und höheren wiederkehren (Earle 1986, 156), ist also auch bezüglich Zeit und Raum erfüllt. Bedeutungsbeziehungen gelten zunächst synchron. Die symbolische Ordnung der Maya hat Zeit jedoch in mehrerlei Weise „eingebaut“. Da jedes Signifikat der gezeigten Ketten auf weitere verweist, kann die Welt-Deutung als Prozeß sich aller möglichen Verbindungswege zwischen den Signifikaten bedienen. Welt-Deutung wird damit zu einer Bewegung durch den symbolischen Raum des Maya-Denkuniversums und damit eine zeitliche. 8.5. Für eine Theorie des Zeichensystems der Maya Vom Zeichensystem der Maya unterscheiden sich europäische in zwei wesentlichen Punkten. Wenn ein Signifikant auf mehrere Signifikate verweist, so kann er entweder ein Teil eines Polysems sein ⫺ dann gehören aber alle möglichen weiteren Signifikate zum Ausgangssignifikanten; oder er weist Konnotationen auf, die aber weder in Art noch Menge vorherbestimmbar sind. Diese „para-
2010
XI. Geschichte der nichtabendländischen Semiotik
sitären Systeme sekundärer Bedeutungen“ (Barthes 1981, 26) unterscheiden sich von den hier untersuchten. Erstens sahen wir bereits, daß die Signifikatketten notwendige und bestimmbare Mitbedeutungen eines Signifikanten enthalten, also keine echten Konnotationen sind. Zweitens verweisen hier Signifikate auf Signifikate, ohne dabei selbst Signifikanten zu werden, da sie ja keine physische Realisierung im Zeichensystem erhalten, sondern alle vom Ausgangssignifikanten abhängen, und sie sind konkret, nicht diffus wie in einem Konnotationssystem (vgl. Barthes 1981, 75 f). Wir haben es hier mit einem verweisintensiven Verstehen zu tun, das so meines Erachtens in europäischen Zeichensystemen nicht besteht. Natürlich werden auch in Europa komplexe Zeichensysteme verwendet (zu Analogiezauber, Astrologie und Alchemie siehe Art. 46 § 5.2., Art. 55 § 4., Art. 60 § 6.7. und Art. 69 § 3.1.). Es wäre jedoch zu prüfen, ob bei diesen wirklich Verweisketten von Signifikaten im hier genannten Sinn oder eben Konnotationssysteme vorliegen. Nach meinen eigenen Beobachtungen können die Umzüge zur Karwoche in Andalusien ein Beispiel für verweisintensive Zeichensysteme in Europa darstellen. Die Ketten von Signifikaten, wie man sie beispielsweise in der Ornamentik der „pasos“ (bei den Prozessionen umhergetragenen Szenerien mit Heiligenfiguren) sehen kann, sind meines Erachtens jedoch erheblich kürzer, als wir dies für den altamerikanischen Fall gesehen haben (zur Rolle von Umzügen und Prozessionen in anderen Kulturen siehe Art. 47 § 4.3., Art. 91 §§ 3. und 4.1. sowie Art. 93 § 9.2.). Um die Integration von Gegensätzen in und zwischen Zeichen des altamerikanischen Systems (wie für das Subsystem Theologie angedeutet) theoretisch zu fassen, kann von einer Figur ausgegangen werden, wie sie zum Beispiel Barthes (1981, 75 f) für Konnotationssysteme beschrieben hat. Die Figur muß allerdings auf Dualität und Komplementarität von Zeichen hin erweitert und die semantische Relation zwischen Signifikat und Signifikant hier vom Begriff der Konnotation gelöst werden. Weitere Studien sollten die hier vorgestellten Besonderheiten eines altamerikanischen Zeichensystems an anderen Fällen nachprüfen. Eine sich noch etablierende Semiotik der mittel- und lateinamerikanischer Kulturen muß langfristig eine angepaßte Terminologie entwickeln. Anregungen gibt der folgende Ausblick auf weitere Bereiche aus dem Alltagsleben der (vor-)ko-
lumbianischen Maya; ethnographische Untersuchungen sind diesbezüglich ebenso vielversprechend.
9.
Perspektiven
9.1. Ausblick auf die semiotische Forschung Eine semiotische Betrachtungsweise wie die hier vorgenommene kann sich in ähnlicher Weise auf andere Bereiche des Alltagslebens erstrecken. Vorrangiges Anwendungsfeld ist natürlich das System von Kalender und Schrift. Das oben aufgewiesene Prinzip, kleinere in höhere Einheiten zu integrieren, ist im Kalender verwirklicht; Prem (1990, 250 f) führt vor, wie auch in der Bilderschrift Polyseme oder Synonyme und damit Integrationen von Signifikaten bzw. Signifikanten funktionieren können. Weitere Literatur zum Kalenderwesen nennen § 2.4.2. und § 4.; zur Schrift geben erste Informationen Riese (1990 b) sowie Morley und Brainerd (1983, 497⫺545). Vinette (1986) verdanken wir den Hinweis, in welcher Weise die syntagmatischen Ketten der Assoziation (z. B. zu den Sternbildern) in die Geometrie und Geomantie der (vor-)kolumbianischen Maya Eingang gefunden haben: so berichtet sie (Vinette 1986, 401ff) von Abweichungen in geometrischen Figuren, die nicht etwa aus Rechenfehlern, sondern vielmehr aus dem Bezug auf bestimmte Sternkonfigurationen zu erklären sind. An dieser Stelle muß auch die Integration kosmologischer Konzepte in die sakrale Architektur (vgl. die Arbeit von Krickeberg 1950) und in die Stadtplanung überhaupt angeführt werden (vgl. Ashmore 1989; zu derartigen Tendenzen in anderen Kulturen vgl. Art. 44 § 2.3.2., Art. 55 § 3.1., Art. 93 § 9., Art. 96 § 8. und Art. 97 §§ 5.2. und 8.4.). Hierbei kommt den Ballspielplätzen eine zentrale Rolle zu. Die Struktur des Ballspielplatzes und seine Position im Stadtplan repräsentieren auf architektonischer Ebene einen Bedeutungszusammenhang, wie wir ihn im Handlungsablauf der Rituale gefunden haben. Auch in den Ballspielen und ihren Spielregeln scheinen wieder die Zeichen auf, die die syntagmatischen und paradigmatischen Ketten der Verweis- und Bedeutungsbeziehungen zu Mythologie, Kosmologie und Theologie etablieren (vgl. die zahlreichen Hinweise bei Girard o. J., 67⫺76, Fox 1987 sowie Tuerenhout 1991). Die Tänze, die die Maya (nicht nur im Zusammenhang mit religiösen Ritua-
2011
99. Zeichenkonzeptionen in Altamerika
len) aufführen (vgl. die Schilderungen von Morley und Brainerd 1983, 482 f), sind gleichfalls möglicher Gegenstand, doch sind da die ethnographischen Befunde spärlicher. Nach der hier vorgestellten Systematik kann auch die Körpersymbolik (vgl. Hunt 1977, 114) untersucht werden. In dieser stellt sich der menschliche Körper sowohl als Vorbild wie Abbild kosmologischer Ordnungen dar: der Körper ist Metapher für den Raum, das Universum (Hunt 1977, 114) und par excellence für das Haus und den Hausbau (vgl. Earle 1986, 163 f). Auf die sakrale Dimension der Zahlen ist oben verwiesen worden, womit auch die Mathematik möglicher Untersuchungsgegenstand dieser Art von Kultursemiotik wird (erste Erläuterungen zur Mathematik der Maya finden sich bei Morley und Brainerd (1983, 545 ff) sowie Closs (1986 a und b)). Abschließend sei hier darauf verwiesen, daß wir die kultursemiotische Untersuchung begonnen haben von einem bestimmten Kode aus ⫺ nämlich dem des Rituals, der als Verschränkung von mehreren anderen besonders geeignet schien. Gleichartige Untersuchungen können aber auch von allen anderen Kodes aus unternommen werden: von dem der Tier- und Pflanzennamen, der Farben, der Astronomie, der Mathematik, sowie von Kodes der sozialen Realität wie z. B. dem System der Abstammungslinien (Fox 1987 deutet das Ballspiel primär als Repräsentant der Ordnung des Abstammungssystems in der kriegerischen (vor-)kolumbianischen MayaGesellschaft). 9.2. Rückblick (Hunt 1977, 56) hebt richtig hervor, daß die Komplexität und Fülle des mittelamerikanischen Symbolsystems nicht einmal in einem ganzen Buch ausreichend beschrieben werden könne. In der Beschäftigung mit dem Ritual sollte dieser Artikel indes ein Schlaglicht auf Leben, Sorgen und Nöte jener Menschen werfen, denn er zeigt die Lösung eines grundlegenden anthropologischen Problems. Mindestens an drei Stellen steht der Mensch dem Chaos gegenüber: an der Grenze seiner analytischen Fähigkeit, an der Grenze seiner Leidensfähigkeit und an der Grenze seiner ethischen Sicherheit (Geertz 1987, 61). In ihrer symbolischen Ordnung schaffen die Maya nicht nur an allen drei Grenzen eine Bastion der Sicherheit, sondern sie schaffen sich mit ihr zugleich ein flexibles und kreatives Denkinstrument, das die vorfindlichen naturwelt-
lichen und symbolischen Widersprüche in sich aufzunehmen und zu bewältigen erlaubt. Die Tatsache, daß sie dieses System in einen Ritus gegossen haben, macht die betreffenden Brüche zudem darstellbar, faßbar, wiederholbar und beherrschbar. Gegensätze integrieren und die Vielheit in der Einheit bedeuten zu können, macht die grundsätzliche Eigenschaft des Zeichenkonzepts der Maya aus und damit deren Fähigkeit zum kulturellen und ideologischen Überleben im Synkretismus mit dem Christentum und westlicher, vor allem nordamerikanischer Kulturideologie.
10.
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Andreas König, Saarbrücken (Deutschland)
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik Current Trends in Semiotics 100. Peirce and his followers 1. Life and work 1.1. Influences on Peirce’s philosophical development 1.2. Early logic and semiotics 2. Semiotics and the theoretical structure of Peirce’s philosophy 2.1. The place of semiotics in Peirce’s philosophical system 2.2. Semiotics and the categories 2.3. Objects and semiosis 2.4. Ends, means, and method: the semiotic roots of Pragmatism 3. The influence of Peirce’s semiotics 3.1. Pragmatism and semiotics 3.2. Analytic Philosophy and the verificationist theory of meaning 3.3. Peirce and the philosophy of science: abduction, induction, deduction 3.4. Semiotics and symbolic logic 4. Selected references
1. Life and work Charles Sanders Peirce was born in Cambridge, Massachusetts, on September 10, 1839 as the second son of the famous mathematician (and astronomer) Benjamin Peirce, and died in Milford, Pennsylvania on April 19, 1914. He was educated at Harvard where he earned a degree in chemistry from the Lawrence Scientific School. Peirce never held a permanent position at a university. From 1879 to 1884 he was employed as an instructor of logic at the Johns Hopkins University in Baltimore. John Dewey (1859⫺ 1952), Christine Ladd-Franklin (1847⫺1930), Thorstein Veblen (1857⫺1929), and Allan Marquand (1853⫺1924) studied with Peirce during this time. With some of his students, Peirce edited a volume on logic (Peirce 1883). From 1888 onwards he and his wife lived in the wilderness, close to the small village of Milford in Pennsylvania. From 1861 to 1891 Peirce worked as a scientific assistant and consultant for the American Coast and Geodetic Survey, specializing
in the measurement and theory of absolute and relative gravity by means of pendulumswingings. He also worked for the Survey on other problems of spectroscopy, mathematics of measurement, economics of research, metrology and geodesy. His observational work with a Zöllner astrophotometer at the Harvard observatory in the early 1870s is described in Peirce’s only published monograph (Peirce 1878). It combines methodological reflections and a discussion of other experimental results from his own photometric observations in an effort to determine the shape of the galactic cluster to which our solar system belongs. After the completion of his contract with the Coast and Geodetic Survey in 1891, he worked as a private chemical engineer and contributor to journals and dictionaries. For the Century Dictionary and Cyclopedia (Whitney 1889⫺91), the first encyclopedic dictionary in English, Peirce wrote more than 1,600 definitions of terms in logic, metaphysics, mechanics, mathematics, psychology, astronomy, astrology, weights and measures, and of the names of colors. His 800 publications (almost 400 of them reviews) and ca. 90,000 pages of unpublished manuscripts and letters contain contributions to more than 20 different disciplines ranging from mathematics (e. g., a theory of transfinite sets; cf. Peirce 1976 a) to studies of early Egyptian language and science (cf. Peirce 1985). Peirce wrote several series of papers which contain some of his most influential contributions to philosophy and semiotics. Among them are three papers published in the Journal of Speculative Philosophy in 1868, which present his semiotics as an alternative to traditional epistemology, and five papers published in The Monist from 1891 to 1893, which introduce his evolutionary metaphysics. Only recently, his studies in the history of science were published; they include a treatise on procedures of historical inference, titled
100. Peirce and his followers
“On the Logic of Drawing Inferences from Ancient Documents” (Peirce 1985: 705⫺800). Throughout his life, Peirce worked on books concerning topics in philosophy, the history of science, logic, mathematics and semiotics. He never found a publisher for any of his several completed or projected works. He tried his hand at widely different sorts of engineering projects, but without much success. Towards the end of his life, while suffering from cancer, he was unable to earn enough money to escape poverty and had to be supported by some of his old friends, including William James (1842⫺1910) and Josiah Royce (1855⫺1916). A critical chronological edition of Peirce’s published and unpublished writings is being prepared by the Peirce Edition Project at the Indiana-Purdue University in Indianapolis (Peirce 1982 ff; CE 1⫺5), which is now directed by Nathan Houser (1995 ff). Biographies by E. Walther (1989) and J. Brent (1993) give a more or less complete account of his life. Brent’s presentation dwells on the dark and difficult sides of Peirce’s life and provides many unknown details, but his moral verdicts are misguided and his theoretical judgments are unperceptive at best. Walther’s book gives an account of Peirce’s philosophy and his life very much in the light of Max Bense’s semiotics. 1.1. Influences on Peirce’s philosophical development Peirce saw himself as a philosopher and a semiotician but he also worked as a scientist throughout his life, both in theory and in experimental practice. Although Peirce emphasized that “the beginner in the study of philosophy already possesses knowledge far greater in weight than all that science can ever teach him” (MS 478, 1903), it is the sciences and their history, logic (including formal logic, semiotics and the philosophy of science), and metaphysics which form the systematic set-up for his thinking. The most important influence on Peirce’s development was his early, most intensive study of Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft (cf. Art. 74 § 2.). This was preceded by his reading of Friedrich Schiller’s Ästhetische Briefe, in which crucial notions of Kant’s Kritik der Urteilskraft are discussed and extended to other fields. Two of Kant’s conceptions were to pattern Peirce’s thought: (a) philosophy (and every other science) has to be constructed in an architectonic fashion; it must
2017 provide the basic principles that determine all its branches; (b) the task of philosophy is (1) to show how knowledge is possible, and (2) to explain the most general features of reality. The latter must be done by providing principles for all the sciences and humanities in terms of an analysis of the logical form of thought and experience. It was in this context that Peirce claimed that all experiences and thoughts are representations, i. e., signs. When Peirce wrote the first version of his theory of categories “On a New List of Categories” in 1867, his technical vocabulary was still borrowed from Kant. However, medieval logic and ontology (cf. Art. 49 and Art. 52) were beginning to influence his work strongly. He utilized William of Ockham’s doctrine of suppositions and Duns Scotus’ distinction of ontological forms to reduce Kant’s twelve categories to a set of just three “accidents”. After founding a metaphysical club in Cambridge in 1871 (cf. Fisch 1954), he studied British empiricism (cf. Art. 62 § 8.2.). With Chauncey Wright (1830⫺1875), William James, Francis E. Abbot (1836⫺1903), and John Fiske (1842⫺1901), he read and discussed the philosophies of John Locke, David Hume, George Berkeley and Thomas Reid, Charles Darwin’s work (Darwin 1859) and John Stuart Mill’s inductive logic (cf. Art. 76 § 3.1.3.). In a paper delivered before the Club in 1872, the foundation of Pragmatism was shaped by the controversy between the empiricist Wright and Peirce on the best interpretation of Darwin’s theory of evolution (cf. Art. 85). Peirce argued against Wright that an interpretation of evolution was possible which was both realistic and idealistic. The psychology of Alexander Bain (1818⫺1903) influenced the shaping of the doubt-belief theory of inquiry and the formation of Pragmatism. Throughout its whole development from 1854 to 1914, Peirce’s philosophy and semiotics were enriched by his comprehensive knowledge of the history of philosophy. He wrote extensively about Plato (cf., e. g., Peirce’s MSS 433 and 434, which include 240 pages of discussion of Plato), and he had a broad knowledge of Aristotle and other Greek philosophers (cf. Art. 40). Throughout his philosophical career he took part in the latest developments in the sciences, formal logic, mathematics and contemporary philosophy (cf. Art. 76). He attacked Bertrand Russell’s (1872⫺1970) and
2018
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Giuseppe Peano’s (1858⫺1932) approach to the philosophy of mathematics and to symbolic logic, but he praised the work of Georg Cantor (1845⫺1918), George Boole (1815⫺ 1864), and Ernst Schröder (1841⫺1902) and predicted that linguistics would only make fast progress after the middle of the 20th century because of the delayed development of formal logic (cf. Art. 78 §§ 3. and 4.). Although he advised his former student Marquand to use electric relays in order to construct a “reasoning machine” (Peirce 1976 a: III, 632), he argued that mechanical operations of deductive reasoning are by no means equivalent to thinking. 1.2. Early logic and semiotics Peirce’s early philosophy may be described as a blend of epistemology and ontology; Peirce distinguishes between thought and nonthought by means of a third basic ontological class: abstractions (Murphey 1961: 9⫺96). From 1857 onwards, Peirce recognizes three ontological categories. The following list gives some variants of these distinctions in his early writings:
candi. Peirce conceived of the sign-relation as being so general that the syllogistic relation between premises and conclusion as well as the relation between subject and predicate are special cases of it: “The subject is a sign of the predicate, the antecedent of the consequent: and this is the only point that concerns logic” (Peirce MS 339). In 1867, Peirce’s thought had developed enough for him to transform Kant’s epistemological approach to the categorical structure of all knowledge, as manifested in the question “How is synthetic knowledge a priori possible?”, into the question “How is representation possible?”. The first published formulation of his semiotic approach, which occurred in the paper “On a New List of Categories”, argued that Quality, Relation, and Representation are the categories necessary and sufficient for describing the accidents of the semiotic process that mediates between being and substance (Peirce 1984: 49⫺59). In the following years Peirce developed the consequences of this approach. In 1868 he wrote a series of papers attacking traditional
(The Soul is either … or …:) 1857 1861 1865 1868 Later
I (Reason) Matter Logos First Thing Quality Firstness
Thou (Affection) Mind Consciousness Second Representation Relation Secondness
It (Sensation) God Language Third Form Representation Thirdness
(MS 55) (MS 1141) (MS 94) (MS 105) (CP 1.555)
Fig. 100.1: The development of Peirce’s category system.
From about 1862 to 1864 Peirce studied scholastic logic intensively (cf. Murphey 1961: 56). His reading of the scholastic doctors, particularly of Pseudo-Scotus (cf. BursillHall 1972), convinced him that logic comprises more than the study of syllogisms. The analysis and classification of syllogisms was the starting point of his logical studies and the topic of his first published paper in logic (Peirce 1866). According to his logical notebook (Peirce MS 339, before 1867) Peirce had the insight which founded most of his work in semiotics while reading what William of Ockham and Thomas of Erfurt had to say on the close relation between the modi essendi and the modi signifi-
epistemology of the Cartesian type (cf. Art. 62 § 8.). He emphasized the importance of the community of investigators as a semiotic alternative to Rene´ Descartes’ logical and ontological individualism. In the first two papers, “Questions Concerning certain Faculties Claimed for Man” and “Some Consequences of Four Incapacities” (Peirce 1982 ff: II, 193⫺241), he refuted the possibility of introspection and intuition by showing that thinking is not possible without signs. At the same time (1866⫺70), he published his studies of Boole’s algebraic logic. This culminated in his extending Boole’s algebraic logic to the analysis of relations in 1870 in a paper titled “Description of a Notation
100. Peirce and his followers
for the Logic of Relatives” (Peirce 1982 ff: II, 359⫺429) ⫺ still one of the most important and most unexplored papers in the history of symbolic logic, which contains a complete logical algebra of relations in which we may formulate translations for every well-formed formula of first order predicate logic with identity (cf. Art. 78 § 2.4.). Until ca. 1893 Peirce continued to publish on symbolic logic while working as an experimental scientist. Although Peirce’s first formulations of Pragmatism in “On the Fixation of Belief” and “How to Make our Ideas Clear” (Peirce 1982 ff: III, 242⫺75), published in 1877⫺78, contribute to a semiotic philosophy of science, he does not apply any of his detailed semiotic distinctions there. The same is true for the five papers published between 1891 and 1893 that develop his evolutionary metaphysics (CP 6.7⫺47; 6.102⫺163; 6.238⫺268; 6.287⫺306). After 1893, while working on the logic book “How to Reason: A Critick of Arguments” (Peirce MSS 397⫺424), Peirce elaborated his semiotics further, but without introducing any systematic changes. In books on the history of logic, Peirce is normally described as an algebraic logician working in the tradition of Boole. But this is true only for his work in formal logic up until 1895. In 1897, in a paper about the logic of relatives (cf. CP 3.456⫺552), Peirce not only criticized Schröder’s and his own algebraic approach but outlined a graphically based logic, which utilized topological notions, e. g., a version of Leonhard Euler’s polyeder theorem, to describe relations (cf. Art. 76 § 1.2.1.). Peirce developed more than 20 logical systems of such “Existential Graphs”, comprising not only a deductively complete first order logic, but various systems of higher order logic, modal logic and metalogic (cf. § 3.4.; see also Art. 78 § 4.3.). After 1900 (Peirce MS 425 A), while working on another logic book, entitled “Minute Logic”, Peirce developed a new terminology and considered an additional, fourth discipline, “objective logic”. Later on, in 1902⫺03 (Peirce MS 478), he offered a comprehensive and systematic analysis of sign-relations based on the results and principles of his phenomenology and on results of his algebra of relations.
2. Semiotics and the theoretical structure of Peirce’s philosophy Peirce’s philosophy has a holistic quality often neglected by his commentators, which sets him off from the majority of contempo-
2019 rary philosophers, who believed in naturalism or the primacy of science over philosophy (cf. Art. 74 § 11.). Peirce assumed that philosophy is autonomous and, because of phenomenology and semiotics, a foundational discipline (contra Murphey 1962; see Savan 1977 as well as Rosenthal 1986 and 1994). Peirce’s claim is that philosophy must analyze the general structure of experience and must on this basis construct a general theory of all forms of representation without blindly taking over any results from the special sciences (cf. Hookway 1984: 3 f; Rosenthal 1986). This is Peirce’s phenomenological and semiotic foundationalism, which should not be confused (contra Apel 1973: 155⫺77 and 1975) with a transcendental foundationalism in semiotics itself, as Oehler (1987, 1995) has pointed out. In this section we will first describe how semiotics is located in the overall structure of Peirce’s whole philosophy. We will next examine some of the theoretical presuppositions of Peirce’s semiotics and discuss the purpose it is designed to achieve. After that we will present some of the arguments in favor of the specific claims of semiotics. 2.1. The place of semiotics in Peirce’s philosophical system In Peirce’s system, semiotics occupies an inbetween position: It is neither the most fundamental philosophical discipline (phenomenology is) nor the most explicit philosophical basis for an understanding of the structure of reality (this is what his evolutionary metaphysics does). But semiotics provides a unique way to explicate the general and formal properties of the forms of expression and representation, the “concrete universals” which account for the whole of our experiential confrontation with reality. The systematic function of semiotics is described in Peirce’s post-1902 classificatory scheme of the sciences. This classification provides, first of all, a division of philosophy, especially of logic, into its constituent parts, and it shows how other disciplines depend on logic and semiotics. Like Locke, Kant, and the medieval philosophers, Peirce holds that it is the task of philosophy to develop a grammatica speculativa, i. e., semiotics, which can describe the forms of all types of representation and knowledge. Before this has been accomplished any special theories and knowledge claims of the other sciences cannot be fully understood. Around 1902, he de-
2020 vised a final version of a complete and hierarchically ordered classification of the sciences, into which he incorporated almost all his discussions of symbolic logic and semiotics. 2.1.1. Peirce’s classification of the sciences After 1902 (cf. CP 1.180⫺283), Peirce divided the sciences into three main groups. Each group presupposes the results and principles of the foregoing one: A: Sciences of Research, B: Sciences of Review, C: Practical Sciences. More detailed classificatory schemes were developed only for A and B. When dealing with the place of semiotics among the sciences, Peirce refers to A: Sciences of Research, which he arranges in the following way: (1) MATHEMATICS (2) PHILOSOPHY (is divided into:) (a) Phenomenology, or Ideoscopy (b) Normative Science (is divided into:) (i) Esthetics (ii) Ethics (iii) Logic (is divided into:) (a) Speculative Grammar (b) Critic (g) Methodeutic (or Speculative Rhetoric) (c) Metaphysics (3) IDEOSCOPY or SPECIAL SCIENCE Fig. 100.2: Peirce’s classification of the Sciences of Research after 1902.
The order in this classificatory scheme is hierarchical. It assumes a relationship of the type “… depends in its principles on …” between any two sciences and places the more specific science below the more general one. According to this scheme, “semiotics” may be understood in two senses. In one sense semiotics is speculative grammar, the first subdiscipline of logic ⫺ that which gives us a “physiology of forms“ (Peirce MS 478), a classification of the function and form of all signs. We may also speak of semiotics in a broader sense (for which Peirce sometimes uses the term “logic”). In this sense, semiotics consists of three subdisciplines: “speculative grammar”, “critic” (the study of the classification and the validity of arguments), and “methodeutic” (the study of methods for attaining truth). Methodeutic concerns some of the topics which are nowadays treated in the philosophy of science. Pragmatism, which is
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
based on the thesis that the meaning of a concept or proposition can be explicated by considering its practical consequences, is a methodeutic theory in Peirce’s sense (cf. § 2.4. and § 3.1.). Critic has three parts: the logic of abduction, the logic of induction and the logic of deduction. (Symbolic or formal logic in the modern sense studies inferential rules almost exclusively as rules of deduction, where all conclusions follow necessarily. Other components of present-day logical theory ⫺ e. g., the theory of recursive functions, model theory, theory of definitions ⫺ are regarded as parts of mathematics by Peirce, since they are developed there and applied to logic only for meta-logical or semantic purposes.) As Peirce saw it, the deductive structures of formal logic differ from those of inductive and abductive logic because these logics have to account for probable inferences. Peirce’s theory of necessary inference rests on the claim that all necessary reasoning, even in mathematics, is based on a special kind of observation best described as “diagrammatic reasoning”. In what follows, we will deal with symbolic logic only in passing and concentrate on semiotics in the narrow sense of speculative grammar which closely corresponds to what is currently called “semiotics” (cf., however, Art. 1 § 2.). With the exception of the Pragmatic Maxim, we will not discuss methodeutic or speculative rhetoric. But it is important here to mention at least one other methodeutic notion. This is Peirce’s semiotic anthropomorphism, the thesis that all conceptions and hypotheses have an anthropomorphic element (Pape 1988: 50⫺72). With the theses claiming that all symbols grow, that a new symbol may be developed only out of other symbols (CP 2.302), and that we have an instinctive tendency towards the truth (CP 5.172 f), this part of speculative rhetoric provides the semiotic basis for some parts of Peirce’s metaphysics and for his understanding of the arts (cf. Pape 1994 a: 9⫺45). For example, his claim that the universe is analogous to an argument (CP 5.119) is of a piece with his semiotic theory of the self, which claims that man is a symbol, so that “my language is the sum total of myself” (CP 5.314). 2.1.2. From mathematics, phenomenology, and semiotics to metaphysics The classification of the sciences exhibits in detail the crucial role which semiotics plays for most sciences; it shows in particular that
100. Peirce and his followers
semiotics cannot be reduced to psychology and that mathematics is not reducible to logic. With these two theses Peirce took a stand against some of his contemporaries, including the German logician Christoph Sigwart (1830⫺1905), who maintained that logic has to be grounded in some sort of “logisches Gefühl” (logical feeling), and against Bertrand Russell, whose logicism attempts to reduce mathematics to logic (cf. Art. 76 § 3.2.4.). Semiotics provides principles for all branches of metaphysics and for all the special Sciences of Research (including physics, psychology, linguistics), for all the Sciences of Review (including, e. g., the sociology of knowledge and comparative literature), and for the Practical Sciences as well. Semiotics, or logic (in general), belongs to the normative sciences and presupposes some of the general principles of the two other normative sciences, esthetics and ethics. This shows in which sense Peirce maintains what has been called “semiotic idealism” (McCarthy 1984): the thesis that all metaphysics (including general ontology and the theory of the ultimate constituents of reality) ⫺ as well as the special sciences are based on semiotics. Contrariwise, semiotics, insofar as it is the theory of self-controlled sign-processes, directly draws on ethics for its practical principles. As a theoretical discipline, semiotics also uses the formal principles of mathematics and of phenomenology in order to describe universal elements of experience. The classification is based on the following idea: All Sciences of Research are truth-oriented activities. Truth as a purpose of the research activity can be approached only when it relates this activity to some independent objects and is organized as a social endeavor. Such a purposive social unification of experience in all disciplines can be explained only in terms of purposive object relations. Therefore, a natural classification of the sciences will take the study of the character of real objects to be the purpose of the sciences: “It is a classification whose governing idea coincides with the idea which determines the things classified to exist. An idea, so far as it has any relation to life, is a possible purpose. […] we regard […] a natural classification as a classification that conforms to the purpose, or quasi-purpose, of the existence of the objects classified“ (Peirce MS 1343). A natural classification orders sciences with respect to their objects, seen as final causes of social activity. Hence, the most
2021 general Sciences of Research do not each deal with one class of objects in particular, but may all be applied to all objects. Mathematics is the only first Science of Research such that every other science will have a mathematical part. Mathematics may be used in any theoretical investigation because it “posits hypotheses and traces out their consequences”, irrespective of what the objects are (CP 2.240). Phenomenology is only slightly less general than mathematics because it deals with all real objects (a proper subset of objects in general); it treats them as they “can be found out from those universal experiences which confront every man in every waking hour of his life” (CP 2.246). It follows that every science using semiotics also presupposes mathematics and phenomenology. Although every special science makes use of special experiences (e. g., in microscopic or in astronomical observation), it also involves the universal forms of human experience and their representations. This reasoning implies that a phenomenological analysis of the categorial constituents of experience provides a basis for semiotics, metaphysics, and all the special sciences. The classification of the sciences shows in which sense logic could be conceived as semiotics by Peirce: All types of symbolic logic presuppose speculative grammar, the general theory of the classification of the forms and of the meanings of signs. 2.2. Semiotics and the categories The term “Phänomenologie” was used for the first time by Johann Heinrich Lambert (cf. Art. 62 § 8.2.4.) in his Novum Organum (1764) to denote the fourth part of his philosophy of science (“Wissenschaftslehre”). According to Lambert, this discipline dealt with the analysis of deceptive appearances. In Hegel and Kant, “phenomenology” was then used in a more positive way, in the sense of an account (and analysis) of the facts of consciousness. It was left to Edmund Husserl (1859⫺1938) in his Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) to develop a new type of phenomenology which acts as a foundational discipline for all other branches of philosophy and science (cf. Art. 103 § 2.). For Peirce, just like Husserl ⫺ and unlike Lambert, Kant and Hegel ⫺, phenomenology is the basic philosophical discipline. Peirce does not share Husserl’s claim that phenomenology allows for an intuitive insight into necessary truths of being and that
2022 philosophy can therefore be an “exact science” („strenge Wissenschaft”). Although phenomenology has a mathematical part (mathematics is the only science whose principles are used in phenomenology), the task of the phenomenologist is to employ a sort of artistic perception in order to understand the indecomposable and universal elements of everyday experience, the categories. The universal categories are omnipresent dimensions of all experience, which have been turned into objects of thought. These thought-objects form concepts which may be abstracted from each and every single event of experience of any person at any time. (As an example, take yourself reading a word on this page.) Peirce regards phenomenology as a subjective type of inquiry; it can advance no claims that something is true or false and it must rely on the observation of general forms in order to account for their presence in all types of experience. An indirect confirmation is achieved by treating the results of phenomenology as concepts and principles applicable to speculative grammar (or other parts of semiotics). This application of phenomenology to semiotics involves a necessary inference called “hypostatic abstraction”, which introduces a general predicate by abstracting it from an instance of predication. We perform such a hypostatic abstraction for instance, if from “This rose is red” we infer “Redness exists”. Peirce maintains that all experience and mental activity takes place in signs. Therefore, the adequacy of his phenomenology can be tested, if we link the results of phenomenology to semiotics by showing that the following principle, P⫺S: Equ, holds: (P⫺S: Equ) Phenomenology has discovered an adequate set of categories, if and only if a semiotics based on these categories provides an adequate account of all types of signs. 2.2.1. Phenomenological method and the status of the categories What is special about Peirce’s theory of the categories is brought out most strikingly if we compare it with the list of Kant’s categories. Kant’s approach has been crucial for the modern conception of how a list of categories should be formed, and it also serves as a starting point for Peirce. First of all, Kant’s twelve categories come in four groups (con-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
cerning Quantity, Quality, Relation and Modality) and are derived from a list of forms of judgments. Each of the categories corresponds to the way one understands the formation of a judgment. An example, which will be of special importance later on, is the following: In order to relate subject and predicate in a categorical judgment we need the category of substance vs accident, which belongs to the categories of Relation. Kant’s approach changed the task of category theory completely: Since the days of Aristotle, categories had been considered as generic concepts with “substance” and “quality” acting as the highest genera making category application a case of subsumption, where nothing could be both a quality and a substance. In contrast, Kant’s categories must be regarded as propositional forms. Kant held that categories can be applied correctly only to statements about objects of experience and not to things in themselves. They are the most universal forms of understanding which are required in the formation of a judgment. It is obvious that in Kant’s approach the classification of judgments, which is a task of logic, determines which categories are required to make a categorical judgment understandable. Peirce accepted Kant’s formal approach, but he had considerable objections against the traditional account of logic on which Kant’s list of forms of judgments was based. One of his objections was that Kant assumed that the one-subject-one-monadic-predicate form of sentences, as in “This book is grey”, was not different in logical form from a statement about a relation, as in “Tim gives a book to Gertrude”. In treating “substance and accidents” as the logical function of a relation in a categorical statement, Kant assumed that all statements with a relational predicate have the same logical form as statements which have the one-subject-one-monadic-predicate form. In contrast, Peirce’s phenomenology is based on an algebra of relations which contains the case of the onesubject-one-monadic-predicate sentence as a limiting case, thereby reversing the Kantian perspective. Peirce’s algebra of relations is an intensional algebraic logic of relatives which involves as its basic operations the application of a relation to a relation. It is designed to yield a complete framework of the forms of all experience and representation. According to P⫺S: Equ, the categories have to serve a dual function: They are not only concepts
100. Peirce and his followers
of the omnipresent elements of experience, they are also principles for the ordering of all types of knowledge and representation in general. First, we have to understand what phenomenological principles are needed in order to build up semiotics as a theory that takes account of representations of all types of experience. In this account, the three universal categories, firstness, secondness and thirdness, have to act as the relational forms that pattern the ultimate constituents of experience involved in all sorts of signs and representations. Peirce simplifies his task by introducing an idea from topology: the three categories are related to one another just as the three dimensions of space. We can describe this by means of a principle of categorial involution, PCI: (PCI) There are exactly three dimensions of values to account for the external complexity of phenomenological elements. Every dyadic element involves a monadic one, every triadic element involves dyadic and monadic ones and all n-adic elements are reducible to, i. e., are compounds of, triadic ones. The PCI entails that if all signs are triadic it must be possible to define all properties of signs in terms of no more than these three categorial types of external complexity, combined and permuted only by means of triadic relations. Negatively, this implies the thesis that all reductions of n-adic relations (where n is as large or larger than 3) to dyadic relations (cf., e. g., Löwenheim 1915 and Quine 1966) have to use triadic relations in a noneliminable way. Positively put, PCI says that a complete and comprehensive semiotics of n-adic predicates and predications can be constructed as a topological logic of three types of values for the external complexity of representations. Only a few years ago, the mathematical and logical equivalent of Peirce’s PCI has been proved in the form of a theorem that holds for certain types of formal systems. Hans G. Herzberger (1981) has shown that, if we define a bonding algebra with a relative product as the basic definitional operation and restrict it to exactly one algebraic type of combination, namely to a two-place operation that satisfies the formula (n ⫹ m - 2), we can prove both of the following statements: (PCI-1) All n-adic relations (n > 3) are reducible to triadic ones (given a sufficiently large domain).
2023 (PCI-2) All n-adic relations (n < 3) are nonreducible to triadic ones. If we drop the restriction of algebraic type, we can define, e. g., a triadic relation by two dyadic ones, allowing relative products of the type (n ⫹ m - 1), e. g., (2 ⫹ 2) - 1 ⫽ 3. According to Peirce, this is a “degenerate” type of operation which employs the triadic relation that it defines, in the process of definition. A third derived principle says that triadic relations provide the categories with an operational unity: (PCI-3) In a triadic categorial scheme, the basic combinatorial operation for all combinations of relatives has the form of a triadic relation; this operation is not definable on the basis of any n-adic relation for which n, the number of correlates, is n < 3 or n > 3. The principle PCI-3 is important for semiotics because it shows that we need only three types of elements to construct a sign-system capable of a unifying operation that produces a new type of sign. On the basis of PCI-3, a sentence (i. e., a sign that indicates an object and is either true or false) can be defined in Peirce’s semiotics, because there is a triadic operation of indication that combines tokens of two other signs, the subject and the predicate, into a whole. 2.2.2. Some principles for the classification of signs In § 2.2.3. we will describe the consequences of Peirce’s phenomenological method for his classification of signs. But it is important to emphasize two points in advance: (i) Peirce distinguishes three types of abstraction necessary for phenomenological analysis: (a) dissociation, (b) precission and (c) discrimination. Let A and B be universal elements of all experience. A may be discriminated from B, if we are able to imagine A without B. Even if this is not possible, we may prescind A from B by showing that A is logically possible without B. And if we cannot prove A’s logical independence with respect to B, we may still be able to represent A in some respect which does not entail B. (ii) Peirce claimed in 1903 (cf., e. g., CP 2.233) and later that we may derive the classification of the signs by means of phenomenological principles adapted from the (mathematical) logic of relations.
2024 2.2.3. The sign classes of 1903 Semiotics may be approached in a “quasinecessary” way when we stipulate in a definition what is to be regarded as a sign. In using the triadic relation as a basis for defining signs, Peirce describes signs as results of or segments in a larger semiotic process. This is evident in most of his later definitions, and especially in the following one from 1907, which defines a sign as “anything, of whatsoever mode of being, which mediates between an object and an interpretant; since it is both determined by the object relatively to the interpretant, and determines the interpretant in reference to the object, in such wise as to cause the interpretant to be determined by the object through the mediation of this ‘sign’ ” (MS 318: 44). Let us now turn directly to the sign classes of 1903 and their derivation from the mathematical and phenomenological principles given above. We define signs as a type of triadic relations, e. g., as everything which stands in relation to an object in such a way that it brings about an interpretant that stands in the same relation to this object. If we apply PCI-3 to a sign, it follows that the sign’s triadicity is an indefinable property of the sign; that is to say, no collection of nontriadic relations (e. g., any number of dyadic relations of reference) will ever lead to a complete sign. Furthermore, it follows that all types of signs can be construed as determined by categorial aspects whose external complexity is less than or the same as 3 (cf. Pape 1989, Müller 1994, and Freadman 1996 for details). For convenience, let us use simply 1, 2, 3 to stand for the categorial aspects of the various types of sign. If we use Roman numerals as the numbers for the ten sign classes Peirce distinguished in 1903 (cf. CP 2.264), we can take the following tree structure to describe a “genuine” triadic relation and use it for the generation of ten sign classes. The triadic relation becomes specified in more detail with every step of the generative process. As the diagram in Fig. 100.3 shows, each of the 10 sign classes is the outcome of a three-step process of specification of a triadic relation starting with an undescribed sign on level 0. Each level gives us all categorial aspects that we may use to distinguish the correlates of different sign classes. The correlates themselves are ordered categorially: Each passage from one level to the next leads to an increase in complexity. The functional rela-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Level: (0)
3
(1) sign:
3
(2) object:
2
3
(3) interpretant: 3 2
2 1
2
1
2
1 11
1 1 2 1 11
sign classes: X IX VIII VII VI V IV III II I Fig. 100.3: The generation of sign classes as conceived in 1903.
tion between the correlates is guaranteed by the requirement that the interpretant is a new sign that represents the same object because of being connected with that of the first sign in a triadic way. We will see below (cf. § 2.3.) that this is the “triadic way of connection” by which the purpose of a sign is linked to an object-interpretant relation which is invariant throughout time. What precisely do the ciphers 1, 2, and 3 in Fig. 100.3 mean? Obviously, they represent the same categorial form, but have to be interpreted differently on every level. To be able to derive the internal properties of the ten sign classes, Peirce applies the categories directly to the particular correlates. As pointed out above, the phenomenological elements have only external complexity. But the categories can also be used to identify the internal properties of the correlates of a sign. In this way we obtain the concepts needed to interpret the diagram in Fig. 100.3. They constitute Peirce’s most famous trichotomies of signs: Category applied
Correlates Sign itself
Object Icon
2: Existence
QualiSign Sin-Sign
3: Law
Legi-Sign
⫻ 1: Possibility
Interpretant
Rheme (term) Index Dicent (sentence) Symbol Argument
Fig. 100.4: The three sign trichotomies of 1903 (cf. CP 2.227 ff and MS 478 of 1903).
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100. Peirce and his followers
In the first trichotomy the categories are applied to the sign vehicle to differentiate the possible properties of the material thing, process, or other entity which serves as a sign. As a possibility the sign is a quality or QualiSign, such as the quality red; as an existence it is an individual entity or Sin-Sign, like the first or in this sentence; as a law the sign itself is described as a general type of sign, a LegiSign that prescribes the properties of the tokens, such as the type of the definite article the in the English language. The second trichotomy gives us the way in which the categories may be applied to the second correlate in order to determine “the relation of the sign to its object” (CP 2.243). If the relation between the sign and its object is only a possibility, we get an Icon, e. g., a sample of blue used to exemplify this color; if the relation holds between individuals and is therefore what Peirce calls an “existential relation” (CP 6.318), we get an Index, e. g., the height of quicksilver in a thermometer as caused by the body temperature; if the relation is based on a regularity governing future interpretations or conventions, it is a Symbol, e. g., the convention to use the sequence of the letters as the German word for red. The third trichotomy gives us three ways in which categorial aspects differentiate interpretants. A sign is a Rheme or concept, if its interpretant takes it only as a qualitative possibility representing a kind of possible object, such as the general term horse, for which every horse is a possible object. If the interpretant takes its sign as a signifying existence, it is a dicent and affords information about its object, as is done by every assertion. If the interpretant takes its sign as having a lawlike character, it is an argument; in this way every valid argument is based on a rule that allows one to infer the conclusion from the premises. If we replace the numbers for each correlate on each level of the diagram in Fig. 100.3 by the concepts of the three trichotomies, we can construct the names of specific sign classes: e. g., “rhematic iconic Quali-Sign” (1.1.1.). With the notable exception of Savan (1977), the inferential connections between sign classes and the categories have not been understood by most interpreters of Peirce’s semiotics; instead they tended to present their view of Peirce without reference to the systematic layout of principles and disciplines in Peirce’s philosophy (cf. Eco 1979, Schönrich 1990).
2.2.4. Objects and interpretants after 1904 As Peirce’s logical notebook (MS 339 of 1904 and later) shows, his 1903 solution of the classification task left many questions unanswered. Peirce never doubted that the phenomenological method constructs the sign classes, but he had not solved the most general problem of an approach that classifies signs by their external complexity and asked: Do the internal properties of signs given by the trichotomies in Fig. 100.4 really comprise all the categorial aspects that the process of determination has to take into account? On January 30, 1906 he wrote in his notebook (MS 339): “A sign is a species of medium of communication. […] How would it do to say that a sign is a consciousness of a habit; that is, that an instance of a sign is a present determination of a quasi-mind brought about by the direct action of a habit of that quasimind?” (cf. Art. 120 § 4.3.) Other questions are: Does it make sense for the phenomenological approach that the properties of the correlates are left uninterpreted (except with regard to their form-type) by the process of specification? For example, a strategy well in line with the phenomenological approach for classifying sign classes would start with the differences in categorial complexity between the sign itself, the object, and the interpretant. On the other hand, it does not follow from the external-complexity method that we have to apply the categories directly to a dyadic relation between signs and their interpretants (and objects). But this is what Peirce did when describing the third (and the second) trichotomy in 1903. So why not allow for some categorial complexity in the object and interpretant even before the trichotomic distinctions are generated? From 1904 onward Peirce tried to classify signs in this new way, ordering the process of specification differently. Let us take a look at the first two levels of the new determination-scheme: (I)
(II)
Interpretant I:3
II : 3
Object I:2
II : 2 II :1
Sign itself I:1
II : 2 II :1
II : 1
Fig. 100.5: The category scheme of 1904.
In 1904 and later, the three correlates are no longer treated as equivalent on each level of determination. (For example, in 1903 level (1) admitted of three aspects of the sign itself.)
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In this new approach the hitherto unqualified sign (level 0) is determined by the correlates considered as a set of three level I determinants. The diagram in Fig. 100.5 shows that these are further specified by the new concepts that are constructed on level II, namely: (i) (ii) (iii) (iv) (v)
II : 3, i. e., the logical aspect of interpretants, II : 2, i. e., the dynamical aspect of interpretants, II : 1, i. e., the immediate aspect of interpretants, II : 2, i. e., the dynamical aspect of objects, II : 1, i. e., the immediate aspect of objects.
The ontological concepts used to interpret the categories in 1903, namely “Possibility”, “Existence” and “Law”, are replaced by concepts such as “Mode”, “Relation”, and “Nature” (cf. CP 8.344; 8.369⫺74), which describe the experiential presentation of the properties of a sign. Note that we now have varying options to define the internal properties of the correlates of a sign. In 1904 and later, the three levels taken together are used to define aspects of the correlates of a sign that allow classifying sign classes. In contrast to the 1903-theory, the description of the three correlates as level I distinctions, and of the six distinctions on level II is used for defining ten aspects of the combinations given in the formulas above. The ten combinations on the level III are now regarded as ten aspects or “Modes” of the sign. Only after the determination of the external complexity is completed, the categories are reapplied to determine, in ten trichotomies, the properties of sign classes. This finer grained classification thus provides ten trichotomies from which, by cross-classification, we may generate descriptions of sign classes up to the tenth power of ten. But since not all combinations are independent from one another, we will arrive at a considerably smaller number, again based on the principle that a categorial aspect determines another one only if it is less complex than or equally complex as this aspect. Peirce never fully elaborated this classification of signs, and his description of their properties as well as his estimates of the number of sign classes vary considerably, from 66 up to several hundred millions (Peirce MS 145 of 1905). A good, if still incomplete, analysis of the ten trichotomies
and their impact on the classification of signs is given in CP 8.342⫺79 of 1908. From this context, we will explain only one important pair of concepts here. We will ask why it is important in semiotics to distinguish between the immediate and the dynamical aspect of a sign. 2.3. Objects and semiosis Time and again Peirce insisted that the sign allows us to construct a genuine triadic relation to a Second, called its Object, so as to be capable of determining “a Third, called its Interpretant, to assume the same triadic relation to its Object in which it stands itself to the same Object” (CP 2.274, 1903; cf. also 2.230, 1909; 2.303, 1901; Peirce 1977: 80 f, 1908; Peirce 1976 a: IV, 239). An adequate way to describe the function of signs (Peirce MS 318, 1907) is to say that they create a sort of evolving equilibrium between a sequence of objects and a sequence of interpretants with the object determining the development of the triadic system as an independent stimulus. Two questions exhibit a notorious difficulty: (1) How does the sign “determine” the triadic relation, if this is not a case of physical causality (which it cannot be since physical causality is a dyadic relation)? (2) What is semiotic about the object of the sign, why not rather concentrate entirely, e. g., on the interpretant? Greenlee (1973) argued that Peirce’s semiotics should be developed without the concept of an object of a sign. Alfred Ayer (1910⫺1989) regarded the “obscurity” of this concept as the greatest obstacle for a coherent account of Peirce’s theory of signs (cf. Ayer 1968: 166). The difficulties that Ayer, Greenlee, and others (cf. Derrida 1967) find with the idea that every sign has an independent object that determines it lie in the fact that, while they are ontological nominalists, Peirce devised his semiotics as an ontological realist (in the modern and in the medieval senses of the term). In the modern sense, he is a realist because he claims that there are objects independent of what we think and know about them. In the medieval sense he is a sophisticated realist like Thomas Aquinas and Duns Scotus (cf. Art. 52 § 4.). He holds that the same universals which we can have in our minds are exemplified in rebus, i. e., are forms instantiated (Peirce: “embodied”) in individual things. Peirce was not a Platonic realist, that is to say, he did not believe in the independent existence of individual universals
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ante rebus: the universals are real, but they do not exist. According to Peirce, the relation of instantiation between a universal and its manifestation is a triadic relation. Given the phenomenological thesis (cf. § 2.2.) that triadic relations cannot be reduced to dyadic ones, but that dyadic relations, which are sufficient to cover all existential relations between individuals, can be involved in triadic relations, the reality of universals cannot be reduced to a set or compound of purely existential facts, whether this set is infinite or not. This is a special case of PCI-2: The reality of universals is their thirdness and cannot be reduced to their existence, i. e., their secondness. Assuming that the PCI holds in all three forms, one might ask: How is an interaction between real universals and existent individuals instantiating these universals possible at all? In particular, how is it possible for a sign (i. e., a specific type of a genuine triadic relation) to be related to an individual object or to be instrumental in producing such an object (e. g., by being a formula of action according to which the object is constructed)? According to Peirce, this way of putting the question rests on a mistake. There cannot be a theory of reference in the sense that we can describe a one-to-one mapping between, e. g., singular terms and a domain of individuals. Rather, the notion of an independent object is understood both as a correlate and as principle of combination within the framework of triadic semiotics: The object is a sort of regulative idea that relates different signs (and sign processes) to one another. Let us call this idea “principle of objective unification, POU”: (POU) A sign has an independent object, if and only if (a) we are able to bring about a situation in which some dyadic relation holds between some experience and a token of this sign which indicates the same object, and (b) there is a sequence of signs interpreting the same object as the ultimate cause of some sign. According to clause (a) of the POU, there is no object that does not exist, i. e., that cannot be indicated. However, this existence is recognized by our use of tokens of a sign, and according to clause (b) there has to be a sequence of interpretations confirming consistently the contingent identity of the object as a cause of the sign representing it. The independent object of a sign is known only by an
2027 interpretation that connects different situations of indexical experience with this object. Reference, therefore, is not a property of the sign system itself but rather of its use. What our objects are depends on the experiential situation we are in. But what happens to cases of winged horses, round squares and golden mountains where there is no object to be indicated? In these cases we do have an “immediate” object, but not an independent, that is, “dynamical” object. The immediate object is internal to the sign: It is just the idea of the object to which the sign gives rise. The dynamical object is the external, independent object of the sign. It serves as an intersubjective item that different people at different times may identify in their experience as the same. The distinction between the immediate and dynamical object may be used to account for the difference between real and imaginary objects, so that fictional or even contradictory objects such as the round square are treated as objects internal to the sign (cf. Art. 77 § 7.2.). We are now able to give an answer to question (1) above. “Determination of the triadic relation by the object” does not mean that, by some physical force, the object causes a sign; what is involved is rather a case of logical, or final causality: The notion of an identical object is used as a regulative principle. But this is not an answer to question (2), with which we will deal now: How is it possible that the object stimulates a semiosis? 2.3.1. Form and object in semiotic causation If all semiosis, especially in the sciences of whatever type, depends on final causes then the following principle holds: (FIC-1) It is possible to describe within semiotics all types of semiosis by distinguishing their different types of final cause. According to this principle, Peirce’s definition of a sign or representamen is the most general description of the internal structure of final causality. This is why his classification of the sciences must arrange the different sciences in such a way that the different final causes of their objects are shown to be matched by different types of semiosis. As we saw above (§ 2.1.1.), the types of semiosis and the corresponding classes of objects become more concrete as we move upwards in the classificatory scheme of Fig. 100.2; e. g.,
2028 metaphysics is more concrete than semiotics and logic because metaphysics deals with the ontological structure of only those entities that are real, whereas logic deals with the structure and validity of all representations. Finally, in the case of the Practical Sciences we have rather specific interests and instincts which act as final causes governing the semiosis. 2.3.2. Interpretants and objects as final causes But how can we explain, in answer to question (2), that the independent object of a semiosis is capable of determining a sign to bring about a second sign, its interpretant, which can be understood to be a representation of the same object? This is the semiotic analogue to the epistemological question, “How is knowledge about reality possible?”. If the final causality of the independent object does indeed regulate the semiosis representing the object, no sign process that involves an independent object is feasible without activated final cause. But even if the independent object itself is understood as a final cause unifying interpretations, there is no danger that the distinction between objects and interpretants might be blurred: the real object at the one end of semiosis is always “unexpressed in the sign itself” (MS 318). The unlimited introduction of new interpretants at the other end implies that reality can only be grasped if the process of semiosis goes on. The future continuation of the chain of contingent identities created in semiosis can be understood as a logical property of the interpretation: the object is different from the interpretant in that “the former antecedes while the latter succeeds the sign. The logical interpretant must, therefore, be in a relatively future tense” (Peirce MS 318). However, before there can be any logical properties of future interpretations, there is a relation of supposition between object and interpretation within semiosis. An “objectual principle of interpretational variety, OPI” can be formulated to characterize this suppositional relation between objects and interpretants: (OPI) For conflicting interpretations of an object to be unified, we must be able to identify the object of the sign to be interpreted. The OPI brings out the final or logical causality of interpretations by taking into account the contrast between what counts as an
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interpretation of a sign and what does not: (i) in every interpretation there is some purposive factor, depending on our normative access to the subject matter; and (ii) there is also some identifiable objective factor to which any two conflicting interpretations have to refer in order to be identifiable as interpretations of the same sign. This “neutral factor” is covered by Peirce’s notion of the “immediate object” of the sign. It is the immediate object that has to be unwittingly grasped, understood, or explicitly identified independently before a corresponding external real or dynamical object can be hypothesized. This is how the function of final or logical causality creates a connection between an independent object and the immediate something which the sign is intended to represent. For every sign there is something that is independent of the sign and lies outside of the range of variety of its interpretations. All interpretations assume the possibility of such an independent object. The most general purpose of semiosis is to identify an object which can be supposed to exist outside the scope of all signs ⫺ the real object. Therefore, the most primitive final cause at work in all semiosis, whether in science or in everyday discourse, can be expressed as in the following principle: (FIC-2) The general purpose of a semiosis is to use signs in such a way that their immediate (internal) object can be understood as the same as the dynamical (real) object throughout the whole sequence of interpretations. The directedness of a representation to an object which exists independently of it is sometimes confined to consciousness; then it is identical with what Franz Brentano (cf. Art. 103 § 1.) and some Analytic Philosophers, following Roderick M. Chisholm (*1916) and Elizabeth Anscombe (*1919), call “intentionality” (cf. Short 1981a). Peirce’s account of this phenomenon provides an interesting alternative because it gives a much more general analysis in terms of his semiotics (cf. Joswick 1996 and Pape 1996). For example, we can have any number of different immediate objects that correspond to one “intended” real dynamical object (for detailed argument on this see Pape 1991). 2.4. Ends, means, and method: the semiotic roots of Pragmatism In his late semiotics, Peirce came to see Pragmatism as an application of principles of phenomenology, ethics, logic, and semiotics to
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the methodological problem of finding methods for the conduct of inquiry and reasoning. His experience as an experimental scientist in geodetic and astronomical research (cf. above § 1.) had shown him that the mathematics and logic of probability and error theory can be successfully applied to solve practical and experimental problems. Thus Peirce felt encouraged to advocate a methodological approach to the epistemological problem of how to secure knowledge (cf., e. g., Kuhn 1996). Not only systematically but also historically, Pragmatism had been developed as a methodological position that presupposes semiotics. In 1868 Peirce published the first systematic sketch of his semiotics and in 1878 his classical papers on Pragmatism, “The Fixation of Belief” and “How to Make our Ideas Clear” (both in CP 5). The latter were written as epistemological studies about a new degree of clarity that may be reached by looking for the relation between concepts and their practical consequences. Every methodological (Peirce: “methodeutic”) theory presupposes (a) speculative grammar, a general theory of the “meaning and nature of signs” (cf. CP 1.191), (b) formal logic or “critic”, a theory of the validity of arguments, and (c) the other two normative sciences, ethics and esthetics, as well as (d) the principles of phenomenology. For Peirce, the sciences of discovery, to which philosophy belongs, are the paradigm case of inquiry. But the only purpose of these sciences (in contrast to the applied sciences) is to find a theory that represents the truth about real objects. Pragmatism is the thesis that a theory about real objects has to be developed and explicated in terms of the practical effects of this theory (cf. Art. 74 § 23.). By admitting an independent role of practice, classical Pragmatism has a realistic orientation. Peirce’s pragmatism contradicts some neopragmatistic claims (cf. Rorty 1982 and 1991: 98 f) by stating that the practical consequences may even serve a methodological purpose in the development of the theory. Other neopragmatists (e. g., Rescher 1992⫺ 94) have endorsed Peirce’s realistic understanding of practice. For Peirce, practical and theoretical purposes may be different and sometimes contradictory, and he does neither imply (a) that the whole meaning of all theories consists in any finite number of practical consequences nor (b) that science is only allowed to deal with practically useful things. Rather, it is (contra Ayim 1976) perfectly
2029 consistent with his methodological Pragmatism when he defends the claim that “true science is distinctively the study of useless things” (CP 1.76). 2.4.1. Semiotic analysis and the different versions of the Pragmatic Maxim What after 1900 was called “the Pragmatic Maxim” by William James and Peirce was first formulated in 1871 in a review of the works of Berkeley (CP 8.33) where Peirce formulates a “rule for avoiding the deceits of language” by considering the practical consequences of the things signified. Perhaps the most famous formulation of this idea was given in 1878: “Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object” (CP 5.402). A later version (CP 5.18, 1903) improved the formulation of this maxim by substituting sentence for conception and contrasting the “confused form” of a theoretical sentence in the indicative mood with a formulation in “a conditional sentence having its apodosis in the imperative mood”. This shows that the Pragmatic Maxim is a principle for the explicative transformation of sentences: The meaning of the theoretical sentence is explicated by translating it into a corresponding version of a practical sentence. The Pragmatic Maxim as a methodological thesis belongs to what we now call “the philosophy of science”. There are two reasons why the Pragmatic Maxim does not lead to a reductionistic definition of theoretical concepts in terms of their practical effects: (i) “Practical effects” is a term not identical with the terms “perceived” or “verifiable effects” of the empiricist tradition (cf. Art. 106). “Practical effect” is an implicitly normative term which presupposes that for every practical effect there is a purpose determining what “practical” means and that human action is involved in an irreducible way. Peirce did not defend a verification theory of meaning and the Pragmatic Maxim is not a demarcation criterion like the verification principle. Only the latter was designed to separate metaphysical concepts from scientific ones (cf. Art. 106 § 3.2.). The Pragmatic Maxim is rather a positive principle clarifying concepts by their relation to practical consequences in such a way that action and experience can
2030 never be separated. Nevertheless, the Maxim may show in some cases that a concept is without practical impact, regardless of what our purposes are. While in 1878 Peirce emphasized that his Maxim may be used as a principle that excludes some concepts of traditional metaphysics, he applied the Maxim from the very start as a positive principle of explication. It is crucial to distinguish between “pragmatics”, a discipline of linguistics and the philosophy of language (and a branch of semiotics according to Charles William Morris, cf. Art. 113), and “Pragmatism” as a philosophical doctrine. In Rudolf Carnap’s (1891⫺1970) conception of semiotics, for example, “a physiological analysis of the processes in the speaking organs” (Carnap 1942: 10) would be part of pragmatics, but he does not provide a place there for the analysis of the purposes and intentional meanings that govern all kinds of semiosis (especially speech acts; cf. Gruender 1983) and are central for Pragmatism. (ii) Peirce advocates a phenomenological ontology: The qualitative as well as the conceptual elements of our experience cannot be exhausted by any number of alternative or complementary interpretations (cf. Almeder 1983). For example, the sensory qualities of our experience are open to potentially infinitely many interpretations because they are indeterminate in relation to any of these interpretations. That is to say, every experience contains a general element and is open to future interpretations that accommodate it in the general framework of conditional statements about the future. However, because the object is a regulative idea that restricts possible interpretations (cf. above § 2.3. and POU), this openness for an unlimited number of interpretations is not equivalent to Derrida’s deconstructionist view of the world as a sequence of texts, as Eco has pointed out (Eco 1995: 213 f; cf. Art. 120). The Pragmatic Maxim proposes to specify the meaning of one sentence by relating it to a general conditional statement, as when “This is hard” is translated into “If this is scratched by some materials, it will resist”. Even if this conditional may be interpreted through another conditional sentence that will be the logical interpretant of the first conditional, and so on ad infinitum, an action of scratching something which resists may be invoked at almost every point as an ultimate interpretant (cf. Alston 1956). In summary,
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Peirce claims that the Pragmatic Maxim proposes to interpret the meaning of a theoretical statement in terms of practical effects, although this interpretation at no point provides the complete set of conditional statements that would be equivalent to the complete meaning of the theoretical statement. 2.4.2. The Pragmatic Maxim and the logic of vagueness “Meaning” as well as “reference” are not systematical concepts in Peirce’s semiotics, but are rather abstract nouns that signify linguistic phenomena to be analyzed by semiotics. In particular, there is no sign-referent or signmeaning per se, independent of a network of sign relations and the interpretation of individual sign occurrences. The Pragmatic Maxim claims that no general sign has an absolute meaning by and for itself but has meaning only in relation to some experience and intended action. This externalistic view of meaning implies the positive thesis that every interpretation achieves a partial reduction of indeterminacy by combining one general, indeterminate concept with another so that “the composition of concepts can only take place by the reciprocal precisions of indefinitenesses” (Peirce MS 499 s). For all universal terms, such as “Every wise man”, “All humans”, “Everything red”, Peirce holds both that (a) no concept can be completely indeterminate and (b) no concept can be determinate in every respect. If what (a) denies were true, we would have nothing to start from and if what (b) denies were the case, we would have concepts that contain an infinite amount of information. Using “S” for the existential quantifier and “P” for the universal quantifier ranging over Peirce’s “universal terms” S, R, etc. we may write the thesis that there are no completely determinate terms as (A.): (SS) (PR) ÿ (S is R ∨ S is ÿ R). In modern terminology this may be read as the thesis that the tertium non datur does not hold for some predicates. The logic of vagueness is a semiotic theory that studies the varieties of indeterminacy or the determinacy of general terms between the limits of complete indetermination and complete determination. But while being indeterminate in certain respects, all concepts have to be determinate in some other respects, T; in other words, for every universal term S, the law of non-contradiction must apply to some respect T: (B.): (PS) (ST) ÿ (S is T & S is ÿ T).
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Furthermore, T is not identical with some respect R for which (A.) holds (cf. Brock 1979). Peirce assumed that every concept may be described as a truncated form of a proposition and each proposition as a truncated argument. This is why we may assume that what he says about terms ⫺ also called “rhemes” by him ⫺ applies in somewhat analogous ways to these other types of symbols. The logic of vagueness yields a special interpretation of Peirce’s thesis that all sign systems grow: In the sequence of interpretations every interpretation is only possible as a determination of a more general, indeterminate sign. There are two kinds of indeterminacy, indefiniteness and generality, “of which the former consists in the sign’s not sufficiently expressing itself to allow of an indubitable determinate interpretation, while the [latter] turns over to the interpreter the right to complete the determination as he pleases” (CP 5.448 n1). The feature that generates ever more determinate interpretations is the dialogic structure of all types of semiosis which requires different positions and non-monotonic sequences of interpretations between them. Even thought can be regarded as a limiting case of such a dialogue: It is what the present self has to convey to the future self. The dialogical character of all signs allows us to assign special dialogical functions to all signs that are different for the sender and the receiver. The dialogical structure thus is a dynamical feature built into Peirce’s account of semiosis, which (contra Habermas 1995) implies a theory of intersubjective communication. Peirce gave (ca. 1893) a dialogical interpretation of the proof responsibilities of the proponent (sender) and the opponent (receiver) of a quantified statement: Every universally quantified statement is false, if and only if the opponent can find a case in which the attacked sentence ⫺ without the quantifying phrase ⫺ does not hold. Every existentially quantified statement is true, if and only if the proponent can come up with an instance in which the sentence ⫺ without the quantifying phrase ⫺ is satisfied. Some logicians and philosophers working in the constructivist or in the model-theoretic tradition of proof-theory have recently discovered that Peirce proposed the use of game-theoretic (or dialogical) techniques for the definition of quantifiers, truth-functional sentential connectives and the analysis of linguistic signs (cf. Hintikka 1983, Hilpinen 1983 and Scherer 1984; see also Art. 76 § 4.2.3.).
2031 2.4.3. Pragmatism, speech acts, and the semiotics of propositions Pragmatism emphasizes the theoretical function of practical consequences in epistemology on the basis of the doubt-belief theory of inquiry. Doubt and belief, not understood as mental events but as epistemic attitudes in the evaluation of the status of a proposition, play a crucial role when prefixed to the interpretation of a proposition. This also holds for a number of other epistemic, cognitive, and performative verbs, e. g., to deny, to claim, to consider, to take for granted, to apologize, to acknowledge responsibility for, etc. (cf. Art. 74 §§ 12.⫺15.). For pragmatist semiotics, it is important to give an explication of the various mental and linguistic acts that take propositions as their content. What distinguishes, e. g., Peirce’s account of assertion from later approaches (e. g., Searle 1969) is the emphasis on the normative commitment the sender makes in his utterance: “For an act of assertion supposes that, a proposition being formulated, a person performs an act which renders him liable to the penalties of the social law (or, at any rate, those of the moral law) in case it should not be true, unless he has a definite and sufficient excuse” (CP 2.315). For a number of other speech act types (commands, juridical statements, pleas, imperatives), Peirce gave similar accounts, but the study of the informational sign is at the center of his approach. In the 1903 version of his semiotics, he explicates in detail the internal semiotic structure of an uttered sentence, a mental judgment or other “informational indices” (e. g., a portrait of a woman with a label stating her name). Such a symbol (a) is capable of informing us about the properties of an object independent of the picture (CP 2.309 ff) and (b) is either true or false. It is crucial for this approach that the semiotic syntax of the tokens used for both propositions and informational indices may exist independently of their assertion but acquires full meaning only under the right kind of circumstances (cf. CP. 2.321). In 1902 (Peirce 1982 ff: III, 414⫺22) an account of assertive acts is developed which shows that a distinction between propositional content and the act of its assertion might be used to solve some paradoxes about mutually contradicting testimonies. Peirce’s analysis of the factual syntax of sentence tokens was further elaborated in 1904 (Peirce 1976 a: IV, 235⫺ 64; Peirce 1988: 339⫺78) and is one of the
2032
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difficult and neglected (for an exception see Short 1984: 20⫺37) areas of his semiotic theory.
3.
The influence of Peirce’s semiotics
The words “semiotics” or “semeiotics”, first used by Peirce in 1865 (1982: 174), appear nowhere in the 12 000 pages published by Peirce during his lifetime. His unpublished writings contain 70% of his work on semiotics and develop several different, interrelated approaches in the discussion of topics taken from all three subdisciplines of semiotics and other areas of philosophy and science. The closest approach to a comprehensive systematic account of his speculative grammar is to be found in MS 478 (cf. Peirce 1983 and parts of CP 2.219⫺343), written in 1903 as syllabus for a lecture-series on logic. For these reasons, the influence of Peirce’s semiotics has been late, indirect, and only partial. Due to the unfavorable circumstances of his life and career (cf. § 1.), Peirce had no immediate followers. With the exception of Victoria Lady Welby (1837⫺1912; see Peirce 1977) and Josiah Royce (who discussed Peirce’s theory of signs in a supplement to the second volume of Royce 1899⫺1901 and in the second part of Royce 1913), his contemporaries took little interest in his semiotics. From the wealth of his semiotic vocabulary (which he developed with an ethics of terminology in mind; cf. Oehler 1981a), aimed at a unification of terminology in philosophy, just a few terms (like “Pragmatism”, “interpretant” and “sign class”) and a few distinctions (e. g., “type” vs “token”, “icon” vs “index” vs “symbol”) have survived in current semiotics, linguistics, and logic. 3.1 Pragmatism and semiotics According to general opinion, Pragmatism is a doctrine of meaning that was invented by Peirce as a result of the discussions of the “Metaphysical Club” (to which William James, Chauncey Wright and others belonged; cf. § 1.) in the 1870’s, was made popular by James (1898 and 1907), and was developed in various directions by John Dewey, George Herbert Mead (1863⫺1931) and other thinkers. This may do for a rough outline (cf. Thayer 1968), if one is willing to forget some problematic details. For example, Mead, a second-generation pragmatist, nowhere mentions or discusses Peirce. This is
perplexing because Mead (1934) argued for very similar ideas (e. g., that symbols have their offspring in social interaction) without taking note of Peirce’s arguments to the same effect. William James, psychologist and philosopher, was a close, lifelong friend of Peirce and was strongly influenced by Peirce’s version of Pragmatism. In 1898, in a widely discussed lecture in California, James made Peirce famous by announcing that the new philosophy of Pragmatism had been invented by Peirce in 1878. But although Peirce never tired of preaching the importance of logic and semiotics to his old friend, James was not interested in it. Instead, he had a strong inclination towards an individualistic view of mind and experience. He denied that we experience anything general, e. g., in the form that a token of a sign exhibits. According to James the meaning of a concept is always “something concrete”. And although James’s “radical empiricism” accepts relations as independent objects, their experience is modeled as so many individual events at definite instants in our lives. Peirce rejected James’s ideas about meaning and truth. This opinion was shared by John Dewey, a philosopher, psychologist, pedagogue, and social theorist, who was a close friend of Mead. Early on in his education, he was influenced by Hegel’s philosophy, and though he studied logic with Peirce in 1883⫺4, he did not understand Peirce at that time. It took Dewey twenty years to overcome Hegelianism and to become interested in semiotics in his own way. In 1904, reacting to the publication of a volume written by Dewey and some of his graduate students, Peirce accused him of “loose reasoning” and attacked the very idea of a natural history of thought for which Dewey had opted (CP 8.239⫺244). Nevertheless, the relation between moral values and science is a topic which Dewey shared with Peirce. In his later books, culminating in Logic: The Theory of Inquiry in 1938, Dewey also deals with the philosophy of science. His instrumentalism is a theory about the status of scientific theories that emphasizes the role of evaluation in science and describes theories in their function as procedures for the derivation of observational consequences and for the transformation of one situation into another. Dewey’s instrumentalism became an important position in the philosophy of science and was defended by Rudolf Carnap and Ernest Nagel (1901⫺1985). They understood
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Peirce as a predecessor of instrumentalism (cf. Nagel 1961: 129). And it is true, this view indeed captures some of the insights of Peirce’s Pragmatic Maxim. But neither the phenomenological basis nor the ontological consequences of Peirce’s semiotics survived. Instrumentalism argues for the exact opposite in denying a realistic interpretation of the laws of nature. Yet Peirce and Dewey agree in other important aspects, e. g., in defending the notion of qualities of feeling (qualia) and in treating inquiry as a process that takes place in a community of inquirers. Clarence Irving Lewis (1883⫺1964), philosopher and logician, a student of Josiah Royce, argued for a “conceptualistic pragmatism” in his epistemological writings and developed various systems of modal logic of differing strength. His work on modal logic and his discussion of Peirce’s work in symbolic logic (Lewis and Langford 1932) mark the beginning of contemporary studies in modal logic. In emphasizing (e. g., in Lewis 1929) the conceptualistic element of all knowledge and communication, Lewis developed an important segment of Peirce’s semiotic holism which claimed that only through the interpretation of signs is reality known to us. 3.2. Analytic Philosophy and the verificationist theory of meaning Some Analytic Philosophers (e. g., Willard V. O. Quine (*1908) and Hilary Putnam (*1926)) have been influenced by Peirce’s semiotics in a rather indirect way. Quine, for example, had studied with C. I. Lewis and Arthur W. Burks (*1905), one of the editors of Peirce’s Collected Papers; he accepted Lewis’s semantic holism, restricting it to conceptual frameworks. In Quine (1960: 23), Peirce’s account of truth as the limit to which theories may converge is criticized as a bad analogy. Quine argues that the notion of limit and of approximation is well-defined for numbers only and cannot be applied to theories. However, this objection does not take into account Peirce’s pragmatic concept of science. As we saw above in § 2.1.2., Peirce sees science as a social activity that is governed by aims and goals. “Truth” is simply a general concept describing the purpose of scientific activity; it is the best result that can be reached in intelligent inquiry. Even without the need of some mathematical concept of limit, we know very well what it is to approximate an aim. And in science, we try to
2033 realize the aim of finding out how things are in some domain of objects (for an excellent argument along this line see Cheryl Misak’s Truth and the End of Inquiry, 1991). Quine places Peirce’s Pragmatism in the tradition of his own modern empiricism, semantic behaviorism and holism (cf. Quine 1981). The early Putnam (1975) discusses Peirce’s Pragmatism erroneously as a clear-cut example of a verificationist theory of meaning. The majority of writers (Alston 1956; Chisholm 1961; Misak 1991) view Peirce’s Pragmatism as a broad-minded operationalistic methodology for the clarification of meaning in terms of interpretation that bears only a superficial resemblance to a verificationistic criterion of meaning. Putnam in his more recent work (cf. his introduction to Peirce 1992 as well as Putnam 1995 a und 1995 b) has stressed the originality and fruitfulness of Peirce’s logic and mathematics of the continuum. 3.3. Peirce and the philosophy of science: abduction, induction, and deduction In the philosophy of science, Peirce’s influence has been small but rather direct and constantly on the increase since 1960. In the beginning, only the empiristic aspects of his semiotics and his pragmatism were appreciated. A typical interpretation of this period is Thomas Goudge’s book (1950), which presents Peirce’s philosophy as an inconsistent conjunction of empiricist and transcendental doctrines. Wilfrid Sellars (1968) defends a revised version of Peirce’s conception of ideal truth as the ultimate opinion of a community of investigators, as does N. Rescher (1978 b). 3.3.1. Discovery, explanation, and scientific evolutions Empiricism claims that observation can be separated from theory and that observation provides independent criteria for the verification of theories. Paul Feyerabend (1924⫺ 1994), Thomas Kuhn (1922⫺1996), Stephen Toulmin (*1922) and Norwood Hanson have attacked this view of science and argued for a realism congenial to Peirce’s. Peirce was then understood in the light of new problems: He had criticized all sorts of epistemological foundationalism and, starting with a rejection of Cartesian mentalistic epistemology, had offered a semiotic analysis of knowledge and advocated a pervasive fallibilism (Haack and Kolenda 1977; Niiniluoto 1978; Haack 1979). Already in 1891 (Peirce 1988: 148),
2034 Peirce emphasized the importance of revolutions in the history of ideas. Peirce’s semiotic holism and his logic of discovery were rediscovered by Hanson (1961). Recently, there has been a growing interest in discovery by abduction, either as an approach to some type of semiotic hermeneutics (Rohr 1993) or as a psychology of scientific hypothesis formation (Richter 1995). 3.3.2. Abduction, deduction, and induction For Peirce, scientific method consists in the critical application of three inferential steps. An abductive inference (step one) is followed by a deduction (step two) and an induction (step three). Unlike deduction, abductive and inductive inferences are not necessarily valid. Abduction argues only for the plausibility of a conclusion, as in, e. g.: (i) The surprising fact P was observed. (ii) If Q would be true, we could infer that P. (iii) Therefore, Q is a plausible hypothesis. If this inference pattern were our only support for Q, Q would be a very weak hypothesis, since every other hypothesis that implies P would do as well. For this reason we always have to appeal to a methodological principle that secures the relevance of the hypothesis. Peirce’s semiotic anthropomorphism (cf. end of § 2.1.1.) is such a principle. As a second step we need deduction to derive some necessary consequences from Q. In the last step we use induction to see to what extent our hypothesis agrees with the facts (CP 2.624 and 2.755). Then, in criticizing and evaluating the results, we have to formulate a new hypothesis, and so on. This cyclic sequence of three types of inference constitutes a self-corrective process of logical criticism (Eco 1976). It may even be applied to the decoding of a sign-system (Thagard 1977). The process controls its own success, not with respect to each single hypothesis, but in terms of the frequency of future success in the long run. Peirce’s view of the self-correctiveness of induction was criticized by Georg Henrik von Wright (1965), Laurens Laudan (1973), and others. But then Rescher (1977) developed a systematical account of a self-corrective scientific method and has shown that Peirce already shared this approach to some extent. More recent results (e. g., Hacking 1980 and Riemer 1988) have shown that Peirce’s frequency theory of probable inference anticipated the current confidence-interval-estimation view. Niiniluoto (1978) placed Peirce’s account of induction in the wider context of a theory of scientific progress.
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3.4. Semiotics and symbolic logic In no other area was Peirce’s work as influential as in semiotics, even though most of his semiotic work remained unpublished until long after his death. And in no other area has he had so little direct influence as in formal logic, although his published contributions to logic were important and highly original and cover a wide range of topics. In 1885, six years after Frege, he published a complete axiomatization of the propositional calculus and the theory of quantification ⫺ the second ever to be produced. Already in 1870, he had developed a powerful logic of relations in which the entire first order predicate logic can be developed, as has been shown by Burch (1994). The logical feature on which Peirce’s theory of the categories is based, namely the claim that predicate logic may be constructed with only three types of relations and their identity conditions, has been proved for special conditions by Herzberger (1981). It was developed into a consistent and complete system of formal logic and semantics by Robert Burch in his book A Peircean Reduction Thesis and the Foundations of Topological Logic (1990). Before this, however, Peirce’s results were ignored and considered as “too complex” and lacking analytical capacity (see Quine 1934 and 1995, and compare the objections in Dipert 1995). This neglect is due to the fact that Peirce had attacked the logicist tradition of Peano, Dedekind, and Russell and their layout of problems and style of formalization from the very beginning (cf. Art. 76 § 3.). Although by now the received opinion is that the logicist program in the philosophy of mathematics is a dead end, its linear, algebraic notation has become the standard way of doing formal logic and logical semantics. However, philosophers and logicians interested in non-standard logics have developed Peircean insights further (cf. Art. 76 § 4.2.). Arthur N. Prior (1914⫺1969), the pioneer of tense-logic, has shown that Peirce already proved that all 16 propositional truth-functions may be expressed by means of one single operation, that Peirce succeeded in reducing first order logic to the theory of implication, and he suggested to base the propositional calculus on the sole concept of implication. For that calculus a single axiom is sufficient which contains a constant for a universally false statement in addition to the sign of implication and propositional variables (cf. Prior 1962: 48). Prior was also among the first to see that
100. Peirce and his followers
Peirce’s existential graphs (cf. Art. 78 § 4.3.) are deductively complete logical systems. The proof for this was given by Prior’s student J. Jay Zeman in (1967). Another proof and a comprehensive description were developed by Don Roberts (Roberts 1973). A number of unpublished texts by Peirce in German translation and an introduction into the philosophical and semiotic system of this graphically based logic is contained in the third volume of Peirce’s Semiotische Schriften (Peirce 1986⫺93). As pointed out above, Peirce’s philosophy was most influential in semiotics. An early description of some of Peirce’s semiotic distinctions is to be found in Ogden and Richards (1923). Charles K. Ogden (1889⫺1957) and Ivor Armstrong Richards (1893⫺1979) knew of Peirce’s semiotics via Victoria Lady Welby, who had discussed semiotics in her famous correspondence with Peirce (cf. Peirce 1977). His sign theory was first introduced into the contemporary discussion by the writings of Charles W. Morris (1901⫺1979). Morris’s programmatic little book on the foundations of semiotics (Morris 1938) informed scholars in contemporary philosophy and the humanities of what is meant by semiotics. Influenced by behaviorism, Morris later assimilated Peirce’s concept of a triadic sign-relation to a version of the stimulus-response model (cf. Art. 113). In correspondence to Peirce’s three correlates of the sign, Morris introduced the three semiotic subdisciplines semantics, syntactics, and pragmatics (cf. Art. 1 § 2.). Having studied with Mead and having edited some of his work, Morris interpreted Peirce’s semiotics in the context of Mead’s social-behavioristic analysis of symbolic interaction (cf. Posner 1981 and 1987). In general, early studies of Peirce’s semiotics either discussed his Pragmatism (cf. § 2.4.2.) or dealt with single concepts (cf., e. g., Burks 1949 and Goudge 1964). Peirce’s extended classification of the signs was mostly regarded as artificial and unfruitful (Sanders 1970). Of the two early monographs that deal exclusively with Peirce’s semiotics, one is very restricted in its approach (Fitzgerald 1966) whereas the other gives up the attempt to understand semiotics in the way Peirce defines it from the very beginning (Greenlee 1973). The fact that today some of Peirce’s semiotic distinctions serve as a common starting
2035 point for scholars in semiotics on the international level, is mainly due to the work of Umberto Eco (1976, 1977, 1985, 1995), Roman Jakobson (1980), and Thomas A. Sebeok (1976 a, 1976 b, 1977). The translations and writings of Apel (Peirce 1967 a, 1970), Oehler (Peirce 1968), Walther (Peirce 1965, 1973), Bense and Walther (Peirce 1976 b) in Germany and the translations and works of Delledalle (1979; see Peirce 1978) and Marty (1978) in France have stimulated a general interest in Peirce’s semiotics in Europe, which is evidenced by the recent edition of translations of Peirce’s semiotic writings in Germany (e. g., Peirce 1983 and 1986⫺93). Bense and Walther as well as Marty have tried to treat Peirce’s semiotics in a rather formal or schematic fashion. The adequacy of these formal approaches is controversial. In contrast to Sebeok and Jakobson, who stress the general character of Peirce’s semiotics by relating it to zoosemiotics, thermodynamics, and catastrophe theory (cf., e. g., Sebeok’s preface in Peirce 1977), Eco (1981) has tried to integrate parts of Peirce’s semiotics (e. g., the concepts of ground, immediate object, and interpretant) into a theory of meaning and signification (cf. Art. 120). The elaboration and application of Peirce’s approach remain controversial issues, even if it has proved to be very fruitful (cf. Parret 1994 as well as Colapietro and Oshewsky 1996). Some scholars deny that Peirce’s theory has had any direct consequences for the special sciences, e. g., for linguistics (Lyons 1977; Wells 1980). But it has also been argued that the strength of the methodological orientation provided by Peirce’s philosophy (Merrell 1979; Ransdell 1980) could lead to a new type of semiotically based linguistics and that Peirce’s analysis of sign processes can help one to grasp the teleological character of semiosis and communication without resorting to a circular concept of communicative intentions or an unanalyzable concept of intentionality (cf. Pape 1989 and Ransdell 1977 as well as Short 1981 a and 1981 b). Within philosophy, Peirce’s semiotics and logic, especially his graphically based logic, are sometimes understood as providing starting points for an alternative approach to the ontology and logic of the mind (Pape 1997). But it has also been read as a continuation as well as one of the endpoints of the development of classical metaphysics (Simon 1989 and Oehler 1995).
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Helmut Pape, Hannover (Germany)
101. Ferdinand de Saussure und seine Nachfolger 1. Der biographische Hintergrund 2. Grundlagen der Semiotik 2.1. Gegenstandskonstitution und Dichotomien 2.2. System und Relation 2.3. Das Zeichen: Arbitrarität und Wert 3. Die Weiterentwicklung der Semiotik 3.1. Die semiotische Verallgemeinerung der Dichotomien 3.2. Saussure und der Strukturalismus 3.3. Die Weiterentwicklung des Zeichenbegriffs 4. Saussure und Peirce 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Der biographische Hintergrund
Der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure (1857⫺1913) war der Begründer der strukturalistischen Linguistik, die zur wichtigsten Inspirationsquelle für die europäische Semiotik oder, wie Saussure sie zu nennen vorzog, der Semiologie, geworden ist. Schon auf dem Gymnasium in Genf beschäftigte sich Saussure mit sprachwissenschaftlichen Problemen, und er setzte seine Studien von 1876 bis 1880 in Leipzig fort, mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin. Diese Periode brachte ihn in Verbindung mit den Junggrammatikern (vgl. Art. 79 § 2.2.1.)
und wurde durch die epochemachende Abhandlung „Me´moire sur le syste`me primitif des voyelles dans les langues indo-europe´ennes“ (1878) gekrönt, in der ausgehend von einer strukturalistischen Untersuchung des indoeuropäischen Vokals a die Grundlagen der Laryngaltheorie gelegt werden. Saussure beendete seinen Aufenthalt in Leipzig mit der Dissertation De l’emploi du ge´nitif absolut en Sanscrit (1880) und ließ sich nach einer Reise durch Litauen in Paris nieder. Schon zu der Zeit, als Saussure von Genf nach Leipzig zog, hatte er sich der Socie´te´ de linguistique de Paris angeschlossen, und diese Zusammenarbeit intensivierte sich während seines Aufenthaltes in Paris, wo er zum Sekretär der Socie´te´ bestimmt wurde. Von 1881 ab war er Dozent an der E´cole Pratique des Hautes Etudes und verfaßte in den darauffolgenden Jahren eine Reihe kleinerer Abhandlungen über indoeuropäische Themen. Im Jahre 1891 folgte Saussure einem Ruf an die Universität Genf auf eine Professur für Sanskrit und indoeuropäische Sprachen ⫺ ein Fachgebiet, das 1906 um den Bereich der allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft erweitert wurde. Bereits in den 90er Jahren beschäftigte Saussure sich mit Proble-
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2041
men der Semiologie und der allgemeinen Linguistik, wenn diese Untersuchungen auch keinen Niederschlag in seinen spärlichen Publikationen fanden. Sie bildeten die Grundlage für die drei Vorlesungsreihen, die er in den Jahren 1907, 1908⫺1909 und 1910⫺1911 hielt und die später auf Grund der Notizen seiner Schüler Charles Bally, Albert Sechehaye und Albert Riedlinger als Cours de linguistique ge´ne´rale (1916) herausgegeben wurden. Die von Saussure selbst veröffentlichten Arbeiten sind im Recueil des publications scientifiques de Ferdinand de Saussure (1922) zusammengestellt, doch ist es der Cours, der als unerschöpfliche Quelle für semiotische Gedankengänge gedient und Saussure einen festen Platz in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts innerhalb und außerhalb der Sprachwissenschaft gesichert hat. Während seines jahrelangen Aufenthaltes in Deutschland und Frankreich, der einen wesentlichen Teil seiner Karriere ausmachte, kam Saussure in enge Berührung mit führenden Vertretern der wichtigsten Richtungen innerhalb der zeitgenössischen Sprachwissenschaft: der geschichtlich orientierten Forschung der Junggrammatiker auf positivistischer Grundlage und der französischen Sprachwissenschaft mit ihrem größeren Interesse für psychologische, soziologische und semantische Aspekte. Dies brachte Saussure auch in Kontakt mit Werken anderer bedeutender Zeitgenossen, zum Beispiel Mikolai Kruszewski (1851⫺1887), der das Projekt einer allgemeinen Linguistik entwarf, William Whitney (1827⫺1894), dessen Auffassung von der Sprache als sozialer Institution Saussure überzeugte, und Georg von der Gabelentz (1840⫺1893), dessen durch Humboldt inspirierte Auffassung von der menschlichen Sprachfähigkeit Saussure nahe lag (vgl. Art. 32 § 4.3.). Man kann, wie es etwa Konrad Koerner (1973) tut, Saussure als einen Forscher betrachten, der in dem gesamten linguistischen Denken seiner Epoche zu Hause war, und den Einflüssen nachspüren, die hinter seiner eigenen Begriffsbildung standen. Oder man kann, wie Ludwig Jäger (1975; 1980), von einem übergeordneten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus Saussures radikalen Bruch mit seiner Zeit und gleichzeitig seine Verbundenheit mit der Humboldtschen Tradition hervorheben. In beiden Fällen gilt es jedoch, die Rolle der Sprache als eines gegenstandskonstitutiven Faktors in der menschlichen Welterfas-
sung und die Rolle der Linguistik als einer methodologischen Grundlage für die Untersuchung der Bedeutungskonstitution im Denken Saussures klarzulegen. Dieser Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Methodologie kennzeichnet den Saussureschen Ansatz. (Bibliographische Hinweise bieten Koerner 1972 a und 1972 b; Scheerer 1980 sowie die Cahiers Ferdinand de Saussure 1941 ff. Monographische Arbeiten liefern Amacker 1975; Amacker, Mauro und Prieto 1974; Avalle 1973 a; Bouquet 1997; Calvet 1975; Culler 1976; Derossi 1965; Engler 1975; Gadet 1987; Harris 1987; Jäger 1975; Jäger und Stetter 1986; Jakobson 1984; Koerner 1973, 1988; Krampen 1980; Mounin 1968; Scheerer 1980; Wells 1947; Wunderli 1981. Ein Terminologielexikon findet sich in Engler 1968, eine biographische Darstellung in Mauro 1967; vgl. auch Sebeok 1979.) Die Inspiration, die vom Cours de linguistique ge´ne´rale ausging, war in der Zwischenkriegszeit vorwiegend linguistischer Art; erst in der Nachkriegszeit begannen die breiter angelegten Ideen semiotischen und strukturalistischen Charakters die meisten human- und kulturwissenschaftlichen Fachgebiete (Literatur-, Film-, Theater- und Kunstwissenschaft, Anthropologie, Philosophie usw.) und in geringem Ausmaß auch die Soziologie und die Psychologie zu beeinflussen (siehe Art. 141⫺ 151). Inspirierend war nicht nur die Saussuresche Theorie (vgl. etwa die auf ihr aufbauende Glossematik Louis Hjelmslevs; siehe Art. 117), sondern auch seine Begrifflichkeit (vgl. etwa den signifiant-Begriff bei Jacques Lacan; siehe Art. 130) ⫺ die linguistische ebenso wie die semiotische, soweit sie im Cours explizit eingeführt wird (z. B. der Zeichenbegriff, die Begriffe des Paradigmas und des Syntagmas, die Prinzipien der synchronischen Sprachforschung). Selbst Themen, die der Cours nur widersprüchlich darstellt oder indirekt behandelt (z. B. die Syntax, das Kontextproblem, der Kommunikationsprozeß) ließen die Leser nicht unberührt. Die Ausgabe des Cours durch Robert Godel (1957), die kritische Edition durch Rudolf Engler (1968⫺74) und die Veröffentlichung der Notizen Saussures (1974), zu denen die Zeitschrift Cahiers de Ferdinand de Saussure (1941 ff) ständig weiteres Hintergrundmaterial hinzufügt, eröffnen heutigen Linguisten und Semiotikern die Möglichkeit für ein gründliches Verständnis des Saussureschen Hauptwerkes, das 1967 von Tullio De Mauro neu herausgegeben wurde.
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Dieses Material hat zwar einen Teil der Gegensätze auflösen und einen Teil der Lükken in der ursprünglichen Ausgabe des Cours füllen können, doch hat es keine neue Welle der Inspiration ausgelöst. Die relevanten Fragestellungen waren bereits in der Ausgabe von 1916 deutlich geworden, auch wenn sie nicht alle auf ihrer Basis beantwortet werden konnten. Dies gilt immer noch, obwohl die kritischen Ausgaben neue Problemlösungen haben finden lassen.
2.
Die Grundlagen der Semiotik
Wenn man sich auf den semiotischen Gesichtspunkt konzentriert, kann man drei Gebiete angeben, für die Saussures Werk von grundlegender Bedeutung ist: (i) Die Begründung einer neuen Wissenschaft: Saussure grenzt die Linguistik extern gegen eine Reihe anderer bereits etablierter Wissenschaften ab, definiert sie danach intern von ihrem Untersuchungsgegenstand (der Sprache als spezifischem System) her, umreißt schließlich auf dieser Basis einen wissenschaftstheoretischen Kontext, innerhalb dessen die Linguistik als zentrale modellbildende Wissenschaft fungiert, und nennt diesen Kontext „Semiologie“ (vgl. Naville 1901: 104; siehe auch Art. 35). (ii) Die Kohärenz des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs: Die Auffassung des Untersuchungsgegenstandes Sprache als eines Relationengefüges (eines Systems) führte die Linguistik und damit die Semiotik in das Zentrum der wissenschaftstheoretischen Debatte des 20. Jahrhunderts und sicherte der Semiotik einen interdisziplinären Status, der ihr die Entfaltung im Gespräch mit anderen Wissenschaften ermöglichte (siehe Art. 123 und Art. 132). (iii) Der Zeichenbegriff: Die Hervorhebung des Zeichens als des grundlegenden Elements des sprachlichen Systems machte das Problem der Bedeutung zum zentralen Problem der Linguistik und der Semiotik und veranlaßte die Weiterentwicklung des Zeichenbegriffs mit Hilfe des Wertbegriffs (siehe Art. 77 § 8.1.). 2.1. Gegenstandskonstitution und Dichotomien Die Linguistik erforscht ihren Untersuchungsgegenstand, die Sprache (le langage), in allen seinen Manifestationen. Doch hat sie
diesen Gegenstand mit vielen anderen Wissenschaften gemein (der Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Physiologie, Psychologie, Philosophie usw.), die sich ja alle unter anderem auch mit sprachlichen Phänomenen beschäftigen. Um die linguistische Analyse des sprachlichen Materials von der anderer Wissenschaften zu unterscheiden, beleuchtet Saussure das sprachliche Material von einem besonderen Gesichtspunkt aus: Er setzt es in Bezug zu der jedem einzelnen Menschen angeborenen Fähigkeit zu sprechen, um sich gegenüber anderen verständlich zu machen. Sprache hat somit zwei relevante Aspekte: einen individuellen und einen sozialen, und das macht die Abgrenzung insbesondere gegenüber der Psychologie und der Soziologie schwierig. Um der Linguistik eine besondere Identität zu verleihen, entwickelt Saussure eine Reihe von Dichotomien, die es erlauben, eine Sprache als Sprache zu erforschen und ihre geschichtlichen, ethnologischen, soziologischen, physiologischen und anderen Aspekte erst darauf aufbauend in Zusammenarbeit mit den anderen Wissenschaften einzubeziehen. 2.1.1. Sprachsystem vs. Sprechen Nicht alle Dichotomien haben denselben Status, die grundlegendste ist zweifellos jene zwischen Sprachsystem und Sprechen (langue vs. parole). Saussure erklärt das Sprachsystem zum eigentlichen Gegenstand der Linguistik, der sie als Wissenschaft begründet und das heterogene Sprachphänomen homogen macht, so daß es sich isoliert untersuchen läßt. Voraussetzung für die Existenz des Sprachsystems ist die natürliche Sprachfähigkeit des Menschen; sie ist nicht Teil des Gegenstandsbereichs der Linguistik. Das Sprachsystem wiederum fungiert als Voraussetzung für Sprechakte; es ist als eine gesellschaftlich fundierte Menge von Konventionen zu betrachten ⫺ d. h. als soziale Institution, die das Bewußtsein der Individuen prägt (vgl. Engler 1968: 32). Dem Sprachsystem wird das Sprechen gegenübergestellt, sowohl als individuelle Realisierung oder Manifestation des Sprachsystems wie auch als konkreter kommunikativ ausgerichteter Sprechakt. Ohne das Sprachsystem wäre das Sprechen als Sprechakt unverständlich und als wissenschaftlicher Gegenstand unfaßbar. Und umgekehrt: ohne das Sprechen bliebe das Sprachsystem eine
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reine Fiktion. Sprache als psychische Realität wird durch den Austausch von Sprechakten erworben, und sie verändert sich durch den Wandel des Sprechens. Dieser Gedanke legt eine neue Unterscheidung nahe, aus der sich methodologische Richtlinien für die Untersuchung des Sprachsystems ergeben: die Dichotomie von Synchronie und Diachronie.
grund hat Alf Sommerfelt die einzelsprachliche Distinktion „Idiosynchronie“ vs. „Idiodiachronie“ und die allgemeinsprachliche „Pansynchronie“ vs. „Pandiachronie“ genannt (Sommerfelt 1971). Auch Viggo Brøndal hat versucht, die Begriffe zu überdenken und eine komplexe „Diasynchronie“ postuliert, in der sprachexterne und sprachinterne Aspekte integriert sind (Brøndal 1970; vgl. dazu auch Coseriu 1979: 80⫺86).
2.1.2. Synchronie vs. Diachronie Unter synchronischer Perspektive läßt sich das Sprachsystem als zu einem gegebenen Zeitpunkt geltende Menge von Konventionen untersuchen, die als statisch angesehen und so isoliert erfaßt werden können. Aber da man von dem Konventionensystem immer in einem sozialen Kontext Gebrauch macht, ändert es sich in Abhängigkeit von diesem. Die Untersuchung der Systemänderungen bildet die diachronische Perspektive der Linguistik. Da nun der Änderungsprozeß selbst sich im Sprechen vollzieht, können die Ergebnisse der Änderungen nur in dem Maße Gegenstand der Linguistik sein, in dem sie Spuren im Sprachsystem hinterlassen. Der synchronische und der diachronische Aspekt sind zur vollständigen Erfassung des Sprachsystems gleichermaßen notwendig. Damit Änderungen überhaupt als sprachliche und gegebenenfalls als Änderungen innerhalb derselben Sprache charakterisiert werden können, muß man neben dem synchronischen und dem diachronischen Aspekt noch eine panchronische oder achronische Perspektive einnehmen, so daß die Veränderung des Sprachsystems als ganzen sichtbar wird. Saussure präzisiert, daß der Terminus „Synchronie“ eigentlich durch den Terminus „Idiosynchronie“ ersetzt werden sollte, da
2.1.3. Signifikant vs. Signifikat Die beiden bisher genannten Gegensätze (Sprachsystem vs. Sprechen und Synchronie vs. Diachronie) betreffen das System, zu dem die sprachlichen Elemente gehören; der nächste Gegensatz betrifft diese Elemente selbst: die Zeichen (siehe unten § 2.3.). Die Zeichen sind die semiotischen Grundelemente einer Sprache; sie erlauben eine erkenntnistheoretische Fragestellung (nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit), eine gegenstandskonstituierende Fragestellung (nach ihrem Verhältnis zum Sprachsystem als dem Untersuchungsgegenstand der Linguistik) und eine methodologische Fragestellung (nach den Verfahren für ihre Untersuchung mit Hilfe des Auffindens von Oppositionen). Jedes Zeichen ist eine Kombination aus einem Signifikanten (signifiant) und einem Signifikat (signifie´). Saussure identifiziert den Signifikanten nicht mit dem physischen Laut und das Signifikat nicht mit einem empirischen Gegenstand oder einem vorsprachlichen Gedankeninhalt (Engler 1968: 252). Linguistisch relevant sind nach ihm nur das psychische Bild des Lautes und das psychische Bild des Gedanken oder des Gegenstandes. Er entwickelt folgendes Modell (Engler 1974: 32):
association psychique acte ∑ phonatoire
image acoustique [⫽ Signifikant]
image de pense´e [⫽ Signifikat]
∂ acte phonatoire en vue de […] pour re´pe´ter l’image acoustique
re´gion du signe (psychologique) Abb. 101.1: Das Saussuresche Modell des sprachlichen Zeichens (nach Engler 1968: 252 und 1974: 32).
immer nur von einem Zustand innerhalb einer Sprache die Rede ist (Engler 1968: 201), während die diachronische Betrachtungsweise nicht an die Grenzen einer einzelnen Sprache gebunden ist. Auf diesem Hinter-
Die psychische oder bewußtseinsmäßige Zweiseitigkeit des Zeichens ist die Voraussetzung dafür, daß ein Gedanke als spezifisch sprachliche Bedeutung und ein physisches Geräusch als spezifischer Sprachlaut identifi-
2044 ziert werden kann, so daß die sprachliche Bedeutung kommunizierbar wird (vgl. Art. 5 §§ 3.2.7.4.⫺3.2.7.6.). Der Signifikant und das Signifikat bedingen sich so gegenseitig. Auf diese Weise schließt Saussure die substantiellen Aspekte psychologischer oder physiologischer Art (Godel 1957: 277) zugunsten der formalen (1957: 262) oder der korrelationalen (1957: 277) Aspekte, die an die Relation zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat anknüpfen, aus der linguistischen Untersuchung aus. Damit ist jedoch nicht gemeint, daß die Substanz ohne Einfluß auf den Sprachprozeß ist, sondern nur, daß sie nichts zur Untersuchung der sprachlichen Bedeutungsbildung beiträgt (vgl. Engler 1974: 32). Nur durch seinen formalen Charakter und seine Zweiseitigkeit kann das Zeichen Gedanken und Laut so verbinden, daß eine spezifische Bedeutung artikuliert wird (vgl. Engler 1968: 253). Diese Konzeption war eine wichtige Voraussetzung für die semiotische Verallgemeinerung des Begriffs des sprachlichen Zeichens, da sie impliziert, daß sich jede Art von Substanz in einem semiotischen Prozeß als Zeichen verwenden läßt: „Toute chose mate´rielle est de´ja` pour nous signe“ (Engler 1974: 40). Die interne linguistische Analyse der Relation zwischen den beiden Seiten des Zeichens ist mit Hilfe des Wertbegriffs durchzuführen (siehe unten § 2.3.), wobei der sprachliche Signifikant als lineare Größe mit anderen Ausdrucksformen, wie zum Beispiel der Malerei, kontrastiert wird. Die physische Artikulation verläuft in der zeitlichen Dimension, und der Signifikant als „image acoustique“ läßt uns die physischen Geräusche als Sprachlaute identifizieren, indem wir sie in ihrem zeitlichen Verlauf wahrnehmen, der ein panchronischer Zug des sprachlichen Ausdruckssystems ist. 2.1.4. Assoziation vs. Syntagma Die Grundelemente des Sprachsystems sind auf zwei Achsen organisiert, die zusammen die nächste Dichotomie bilden und die dem Verhältnis der Sprache zur Zeit neben den Aspekten der Linearität des Signifikanten und der Diachronie des Sprachsystems einen weiteren Aspekt hinzufügen. Die beiden Achsen sind die assoziative und die syntagmatische. Die assoziative Achse wird von Klassen von Zeichen oder Zeichenelementen gebildet, die auf Grund einer gemeinsamen Eigenschaft (einer semantischen, phonetischen, morphologischen usw.) als Alternativen orga-
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nisiert sind (zum Beispiel Synonyme für ein Wort wie Haus, Verwendungen der deutschen Präsenskonjugation, Feminina auf -ung). Auf der syntagmatischen Achse befinden sich Syntagmen, d. h. linear angeordnete und realisierte Zeichen oder Zeichenelemente, vom kleinsten Ableitungsmorphem bis hin zum ganzen Satz (vgl. Engler 1968: 279 und 282 f; siehe auch Art. 2 § 3.). Als Beispiel für die semiotische Relevanz der syntagmatischen Achse mögen die folgenden Elemente aus einer nicht-sprachlichen assoziativen Reihe im Bereich der Intimsphäre dienen: Geburt, Taufe, Verlobung, Ehe, Hausgemeinschaft, Sexualverkehr. Ihre syntagmatische Organisation kann entweder biologisch (Sexualverkehr → Geburt) oder sozial (Taufe → Verlobung → Ehe) signifikant sein; sie kann selektiv sein (wenn einige Elemente fehlen wie bei Ehe → Sexualverkehr → Geburt), und sie erlaubt alternative Anordnungen (Sexualverkehr → Geburt → Hausgemeinschaft anstatt Verlobung → Ehe → Hausgemeinschaft → Sexualverkehr → Geburt → Taufe). Eine solche Verallgemeinerung der assoziativ-syntagmatischen Verknüpfungen hat in der Narratologie Verwendung gefunden (siehe Art. 119 § 1.3. und Art. 150). Saussure hat selbst narratologische Studien betrieben, wohingegen es ihm Schwierigkeiten bereitete, Prinzipien für eine Satzsyntax zu formulieren. In Notizen, die um das Jahr 1904 zu datieren sind, als Saussure sich mit Mythen und Sagen beschäftigte (Avalle 1973 b; vgl. Prosdocini 1983), faßte er Personen als Zeichen auf, die sich aus distinktiven Merkmalen zusammensetzen. Diese verleihen den Personen Identität, wenn sie insgesamt in eine assoziative Ordnung gebracht werden. Wenn diese Identität nicht gewahrt werden kann, liegt das nicht nur an den „Effets du temps“, d. h. an der Diachronie, sondern auch daran, daß bald diese, bald jene assoziativ verbundenen Züge textuelle Kombinationen eingehen, d. h. syntagmatisch organisiert werden (Avalle 1973 b: 32 f). Was die Satzsyntax angeht, so integriert Saussure sie in die syntagmatische Ordnung des Sprachsystems, betrachtet sie jedoch zugleich als ein dem Sprechen zugehöriges Phänomen (Engler 1968: 283 und 313). Es ist mit anderen Worten ein Phänomen, dem man in den Saussureschen Dichotomien nur schwer einen wissenschaftlichen Status zuschreiben kann (vgl. Godel 1969 a). Henri Frei hat eine solche Einordnung versucht (Frei 1962 und 1968; vgl. Amacker 1970), indem er das Syntagma selbst als ein
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Zeichen betrachtet, das durch die Kombination von mindestens zwei Zeichen entstanden ist. Frei gibt dem Element, durch das zwei konkrete Zeichen verbunden werden, zum Beispiel der Intonation oder Reihenfolge, einen selbständigen Status als (zu den Signifikanten des Zeichens paralleler) Teil eines Zeichens und nennt ihn „cate´nant“. Der Inhalt, der kraft der Zusammenfügung entsteht (und der mit dem Signifikat des Zeichens parallel ist) wird „cate´ne´“ genannt. Im Syntagma dreihundert ist ‘Multiplikation’ das cate´ne´, im Syntagma hundertdrei ist es ‘Addition’. Die Einheit von cate´nant und cate´ne´ wird “cate`ne“ genannt; die cate`ne ist selbst ein Zeichen, da sie aus einem syntaktischen Prozeß (Intonation, Reihenfolge und dgl.) und einer semantischen Operation (Addition, Multiplikation und dgl.) besteht. Die Ermittlung der einzelnen syntagmatischen Zeichen in der syntagmatischen Kette und die Ermittlung ihrer cate´nants und cate´ne´s erfolgt nach der Substitutionsmethode durch Segmentierung und Klassifizierung der Zeichen. Alle Zeichen, die in den syntaktischen Prozeß an ein und derselben Stelle eintreten können, ohne daß sich die semantischen Operationen ändern, gehören derselben Klasse an (Frei 1968: 44; vgl. Engler 1968: 294 f). Frei parallelisiert seine Überlegungen über die syntaktische Distribution der Zeichen mit der amerikanischen Linguistik der Bloomfield-Tradition (vgl. Art. 77 § 8.4.), die hierdurch indirekt mit Saussure in Berührung kommt. Die beschriebene Verselbständigung der syntaktischen Dimension verleiht der Sprache als generalisierbarem semiotischen System drei Typen von Linearität:
25), die eine Voraussetzung für die Artikulierung sprachlicher Bedeutung ist. Dieser „me´canisme“ konstituiert eine Grammatik, die zwischen bedeutungsvollen und bedeutungslosen Anordnungen unterscheidet; das gilt sowohl für die assoziative Ordnung (vgl. die Klasse sämtlicher deutscher und spanischer Wörter, die ein -t- als dritten Buchstaben haben) als auch für die syntagmatische Ordnung (vgl. das Syntagma Der grüne ist oder). Bedeutung kommt eben nicht schon dann zustande, wenn eine Denotation vorliegt (vgl. Engler 1968: 300); der lexikalische und der grammatische Aspekt bilden zwei miteinander verbundene, aber selbständige Ebenen. Jedes semiotische System weist diese Dichotomie auf. Deshalb ist eine generelle intersemiotische Semantik möglich (vgl. Greimas 1966; siehe Art. 119) ebenso wie eine generelle intersemiotische Syntax (vgl. die Narratologie oder die filmsemiotische Makrosyntagmatik von Metz 1971; siehe Art. 150, 153 und 169).
(i) eine geschichtliche Linearität, die die diachrone Veränderung des Systems betrifft; (ii) eine konkrete Linearität, die die temporale Linearität des Signifikanten im einzelnen Sprechakt betrifft; (iii) eine logische Linearität, die die Syntagmatik betrifft, da die syntaktische Relation oder der „Satzbauplan“ (Wunderli 1981: 75 ff) Folgerungen „de ce que les autres mots doivent eˆtre avant ou apre`s“ zuläßt (Engler 1968: 282). Wie aus Freis Substitutionsmethode und aus Saussures eigenen Bemerkungen hervorgeht, bilden die assoziative und die syntagmatische Ordnung eine Einheit (einen „me´canisme associativo-syntagmatique“; Amacker 1974:
2.1.5. Linguistik und Semiotik Mit den Saussureschen Dichotomien, die den Untersuchungsgegenstand der Linguistik als System konstituieren, sind wir zur Einordnung der so bestimmten Sprachwissenschaft in einen umfassenderen interdisziplinären Kontext gelangt. Diesen bezeichnet Saussure als „Semiologie“; er wird hier in Übereinstimmung mit der aktuellen Terminologie „Semiotik“ genannt (vgl. allerdings Wunderli 1981). Nach Saussure spielt die für seine Zeit grundlegende Unterscheidung zwischen einer erklärenden und einer verstehenden Wissenschaft (vgl. Art. 31) in der Linguistik keine Rolle, denn diese gehört zu einem dritten Wissenschaftsbereich: dem der „se´miologie“ (Engler 1974: 47; vgl. Stetter 1976). Sie hat diesen Status mit zwei anderen neu entstandenen Wissenschaften gemeinsam: der Psychologie und der Soziologie, die aber mit ihr nicht identisch sind (Engler 1968: 47 f). Semiotische Phänomene sind Zeichen, die Bestandteile von Systemen sind. Saussure denkt dabei an konventionelle Zeichen, nicht natürliche Zeichen ⫺ was aus den hinterlassenen Schriften Saussures über Semiotik, den sogenannten „Notes item“ (Engler 1974: 36; vgl. Jäger 1986) hervorgeht. Aus der Konventionalität folgt der soziale und historische Charakter der semiotischen Phänomene. Im Unterschied zu anderen Zeichensystemen, die von der Soziologie untersucht werden, ist die
2046 Sprache als soziale Institution jedoch dadurch charakterisiert, daß sich ihre Zeichen nicht durch institutionelle Beschlüsse verändern lassen, wie sie etwa hinter Änderungen von Verkehrsschildern stehen. Der diachrone Prozeß des Sprachwandels läuft ohne willentlich bestimmte kollektive Entscheidungen ab (vgl. Art. 17). Der konventionelle und institutionelle Charakter der sprachlichen Zeichen ist psychischer Art, d. h. das System, dessen Elemente die sprachlichen Zeichen sind, ist im Bewußtsein oder im Gehirn (Engler 1968: 57) verankert und ist eine Ausprägung der Sprachfähigkeit. Das System ist auch dann existent, wenn es gerade nicht praktiziert wird. Die Gesetze des Systems sind, obzwar psychischer Natur, nicht den Stimmungen und dem Willen des einzelnen Individuums unterworfen, obwohl letztere nach Saussure auch zum Gegenstand der Psychologie gehören. Daher können weder die Soziologie noch die Psychologie mit der Linguistik oder mit der Semiotik identifiziert werden; vielmehr ist die Semiotik systematisch von diesen Wissenschaften zu unterscheiden. Die Linguistik ist als Teil der Semiotik zu bestimmen, und zwar als ein Teil, der besonders stark an dem Systemcharakter der Zeichen festhält. Wissenschaftstheoretisch gesehen ist die Linguistik als Zeichenwissenschaft nicht wichtiger als die anderen semiotischen Wissenschaften (Engler 1968: 48; Krampen 1980: 106 f). Sie bietet jedoch ein methodologisches Modell, und kann daher die Rolle eines „patron ge´ne´ral“ der zeichenbezogenen Wissenschaften übernehmen (Engler 1968: 154). Keinesfalls ist die Semiotik aber, wie Roland Barthes behauptet, ein Teil der Linguistik (Barthes 1964 a: 2). Wenn Saussure zu den Gegenstandsbereichen der Semiotik die Höflichkeitsgebärden zählt, so tut er dies nicht nur wegen ihres Systemcharakters, sondern auch weil sie eine intersubjektive („impersonnel“) Bedeutung (Engler 1968: 47) kommunizieren. Die Semiotik befaßt sich nämlich mit Systemen konventioneller Zeichen, durch die Bedeutung gebildet, übertragen und verändert wird ⫺ ein Prozeß, der „la vie des signes“ (Engler 1968: 48) genannt wird. Obwohl diese Definition der Semiotik nicht Saussures eigene Formulierung ist, trifft sie doch seine Auffassung: Die Semiotik ist „une science qui e´tudie la vie des signes au sein de la vie sociale“ (Engler 1968: 47 f).
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
2.2. System und Relation Obwohl Saussure als Begründer des europäischen Strukturalismus gilt, hat er den Begriff der Struktur nicht mit großer terminologischer Präzision, sondern eher en passant verwendet. Erst durch den Prager Linguistenkreis (vgl. Art. 115) und die Kopenhagener Schule (vgl. Art. 117) wurde der Strukturbegriff in die Linguistik integriert und konnte so in der Nachkriegszeit zum Zentralbegriff des Strukturalismus werden ⫺ wobei „Strukturalismus“ als interdisziplinärer Sammelbegriff für eine Reihe methodologischer und wissenschaftstheoretischer Bestrebungen benutzt wird, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem von Frankreich ausgingen (siehe unten § 3.2.). Unter diesem Gesichtspunkt ist „Strukturalismus“ gelegentlich mit „Semiotik“ gleichgesetzt worden (z. B. von Wahl 1968: 10). Da eine Struktur nicht aus Zeichen bestehen muß und da es auch nichtstrukturalistische Grundlegungen der Semiotik gibt, ist eine solche Gleichsetzung jedoch unberechtigt. Saussure zieht dem Wort „Struktur“ das Wort „System“ vor, und er meint hiermit das Netzwerk solidarischer Relationen zwischen den Einheiten, die einen synchronen Sprachzustand oder einen Teil desselben ausmachen (Engler 1968: 259). Zur Beschreibung dieses Zustands dient eine Grammatik, welche die Gesamtheit der assoziativen und syntagmatischen Relationen erfaßt. Da jedoch die grammatische Ebene mit der lexikalischen kombiniert werden muß, wenn Sprache als Voraussetzung für die Ausübung der Sprachfähigkeit (langage) im Sprechen funktionieren soll, wird die Linguistik erst dadurch zu einem vollgültigen Teil der Semiotik, daß sie die Grammatik mit dem Lexikon verbindet. Das Funktionieren von Zeichen als soziale und konventionelle Institution im Sinne einer Sprache setzt voraus, daß zwischen ihnen eine Menge solidarischer Relationen besteht (Engler 1968: 256). Das Sprachsystem läßt sich nicht aus Einzelzeichen konstruieren. Andererseits können die Sprachzeichen auch nicht allein aus dem System abgeleitet werden, da das Zeicheninventar der Sprache ⫺ im Gegensatz beispielsweise zum Inventar des phonologischen Systems ⫺ prinzipiell unendlich groß ist (Engler 1968: 162 f). Diese komplexe Interdependenz von Element und System ist für die Sprache als semiotisches System charakteristisch. Die Systemabhängigkeit der Zeichen läßt sich mit Hilfe der Be-
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griffe „Arbitrarität“ und „Wert“ erfassen (siehe unten § 2.3.). Schon in seinem „Me´moire sur le syste`me primitif des voyelles dans les langues indoeurope´ennes“ aus dem Jahre 1878 (publiziert in Saussure 1922) betrachtet Saussure die Sprache als System. Es handelt sich noch um eine präsemiotische Betrachtungsweise, und sie berührt nur das phonetische System. Hjelmslev hat früh auf die strukturalistische Ausrichtung des Gedankengangs in dieser Untersuchung des jungen Saussure aufmerksam gemacht (Hjelmslev 1937 und 1971: 36 f; vgl. Zilberberg 1986 und Jäger 1975). Saussure rekonstruiert das indoeuropäische Vokalsystem ausschließlich aus seiner inneren Logik heraus, nicht aus lautlichen oder substanzbezogenen Überlegungen. Er setzt einen lautlichen Koeffizienten an, durch den sich die Phoneme und ihr Wechsel (inklusive Schwund) im System auf der Silbenebene zusammenhängend erklären läßt. Dieser lautliche Koeffizient manifestiert sich nicht selbst in der Silbe, sondern er dient zur Erklärung anderer Manifestationen (die spätere Entdekkung des hethitischen h änderte nichts an der Argumentationsweise). Systematische Relationen können also sowohl zwischen gleichzeitig anwesenden als auch zwischen anwesenden und abwesenden Gliedern bestehen. Diese Konzentration auf die relationale Gegebenheitsweise hat die gesamte spätere Arbeit Saussures mit Systemen geprägt (Engler 1968: 261) und auch die Annahme von Systemmerkmalen wie Differentialität und Binarität (zur Systemtheorie vgl. auch Art. 126).
exacte et donner une ide´e de la re´alite´“. Die Formulierung wurde von dem Herausgeber selbst hinzugefügt (Engler 1968: 264); das geschah auf eigene Faust, aber nicht abweichend von Saussure, der den referentiellen Charakter der Sprache klar erkennt, gleichzeitig jedoch behauptet, daß der Systemcharakter der Sprache, der sein Hauptthema ist, nicht durch den Hinweis auf Phänomene zu stützen ist, die sich sprachunabhängig definieren lassen (Engler 1974: 36 f und 178).
2.2.1. Differentialität Die relationale Definition aller Glieder eines Systems hat die paradoxe Konsequenz, daß in der Sprache als System „il n’y a que des diffe´rences […] sans termes positifs“ (Engler 1968: 270). Das Paradox liegt darin, daß ein Unterschied zwischen Einheiten normalerweise die positive Definition dieser Einheiten voraussetzt. In der Sprache ist diese Voraussetzung auf den Kopf gestellt: Erst die Unterschiede in der Sprache ergeben ein positives Ganzes, nämlich das Zeichen; und durch dieses wird die Sprache zu einem semiotischen System. In einem semiotischen System schaffen negative Ausgangsgrößen also positive Einheiten und ermöglichen so die Bildung von Bedeutungen (Engler 1968: 272). Diese Bedeutungsbildung ist „une ope´ration qui peut dans une certaine mesure eˆtre
2.2.2. Binarität Wenn die Glieder eines Systems mittels ihrer gegenseitigen Unterschiede definiert werden können, so ist das System ein binäres. Es gibt drei verschiedene Arten von binären Relationen bei Saussure (vgl. Utaker 1974). Er behauptet, „qu’il n’y aura jamais un seul fragment de langue qui puisse eˆtre fonde´ sur autre chose comme principe ultime que sa noncoı¨ncidence, ou sur le degre´ de sa non-coı¨ncidence avec le reste“ (Engler 1968: 265). Die absolute Non-Koinzidenz ist eine logische Relation, die dem klassischen Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs entspricht und ein gegebenes Element abgrenzbar und dadurch identifizierbar macht. Als „principe ultime“ ist diese Relation Voraussetzung für zwei Arten der relativen Non-Koinzidenz: zunächst eine privative Relation, die zwischen zwei abgegrenzten Elementen besteht, welche ihre Identität durch ihren Unterschied voneinander und ihr Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit erhalten, zum Beispiel „zena ne vaut que parcequ’il est diffe´rent de zenu et re´ciproquement“ (Engler 1968: 266); ferner eine qualitative Relation, die zwischen Elementen besteht, welche nicht durch gegenseitige Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Diese Relation betrifft nach Saussure nur Zeichen als Ganzheiten ⫺ positive Elemente, die nichts miteinander verbindet, die bloß in Opposition zueinander stehen, weil sie voneinander verschieden sind (Engler 1968: 273). Das Beispiel der Herausgeber ist pe`re und me`re, deren Signifikanten und Signifikate privative Gegensätze bilden, wobei die Zeichen an sich durch Synonyme oder QuasiSynonyme wie papa und mama ersetzbar sind. Die in qualitativer Opposition stehenden Elemente bieten eine Wahlmöglichkeit und setzen dabei einen privativen und damit einen logischen Gegensatz voraus. Da Saussure das Sprachsystem als semiotisches System versteht, muß man den differentiellen und binären Charakter des Systems als
2048 logisch
‘Tür’ vs. ‘nicht-Tür’ (Abgrenzung)
Sp
privativ
ez
i
ng eru i z fi
‘Tür’ vs. ‘non-Tür’ (Gegensatz) Ge r ne ng ru sie a li
Voraussetzung für die Bildung von Bedeutungen, und das heißt mit Bezug auf die Akte des Sprechens (vgl. Engler 1968: 246) verstehen. Aus dieser Perspektive kann man die drei Typen von Gegensatzrelationen, die wir mit Saussure expliziert haben, als unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Beziehungstyps betrachten. Damit ein Zeichen wie etwa Tür überhaupt eine Bedeutung haben kann, darf es nicht zugleich ein Element wie ‘nicht-Tür’ umfassen. Denn etwas kann nur dann eine Bedeutung haben, wenn es sich gegen etwas davon Grundverschiedenes abgrenzen läßt. Diese logische Gegensatzrelation ist die Voraussetzung dafür, daß ein Element, das als abgrenzbares Bedeutungselement aufgefaßt worden ist, seine Bedeutung in Bezug auf eine weitere Bedeutung erhält, die davon verschieden ist; so bedeutet Tür ‘räumliche Grenze’ etwa im Gegensatz zu und im Verhältnis zu einem Punkt im Raum oder zu einer räumlichen Erstreckung (vgl. Pottier 1964; siehe Art. 105 § 7.1.2.). Damit gehören Tür und ihr privativer Gegensatz (Punkt, Erstreckung) einem gemeinsamen Bedeutungsfeld an: dem des Raumes (vgl. die Semantik von Greimas 1966; siehe Art. 119). ‘Tür’ kann darüber hinaus Teil anderer privativer Gegensatzrelationen sein als derer, die das Bedeutungsfeld des Raumes artikulieren, aber man muß, wenn man mit sprachlichen Mitteln eine Bedeutung hervorbringen will, immer eine bestimmte privative Relation wählen (vgl. Searle 1969: 32). Die privative Relation hat die Eigenschaft, die zunächst bloß logische Gegensatzrelation zu spezifizieren: Das rein negativ definierte ‘nicht-Tür’ wird spezifischer gesehen als Gegensatz zu ‘Tür’ in Bezug auf einen Raum. Sprache als semiotisches System erhält so nicht nur negative sondern auch positive Systemglieder. Wenn nun das Bedeutungselement ‘Tür’ durch ein Zeichen ausgedrückt werden soll, hat man die Wahl zwischen Zeichen, die in qualitativer Opposition zueinander stehen wie zum Beispiel Tür, Luke, Klappe, Pforte. Aber die Wahl ist nicht gänzlich frei. Einerseits haben die einzelnen Zeichen dank der virtuellen Paradigmen, aus denen sich die privativen Gegensätze ergeben, einen generellen Status, andererseits zieht jede einzelne Bevorzugung eines Zeichens die Eliminierung oder die Wahl anderer Zeichen in dem konkreten Sprechakt nach sich und markiert so qualitative Verschiedenheiten.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
qualitativ
‘Tür’ vs. ‘Luke’, ‘Pforte’ ... (Wahlmöglichkeit)
Abb. 101.2: Die drei Arten binärer Relationen nach Saussure (Engler 1968: 265 ff).
Ein weiteres Beispiel ist die grammatische Wahl zwischen Singular oder Plural: Die Tür öffnet sich vs. Die Türen öffnen sich. Das Verhältnis oder die Distanz zwischen Singular und Plural ist im Verb parallel zum Nomen und von rein privativer Natur. Man kann allerdings sagen: „Hans, du Tölpel, schließe die Tür!“ oder aber „Herr Hansen, würden Sie bitte die Tür schließen!“. Dabei entspricht die qualitative stilistische Relation oder Distanz zwischen Intimität und Höflichkeit der Wahl zwischen Imperativ und Periphrase. Saussure hebt hervor, daß es sich hier um die gleiche „distance de sens“ handelt und daß „l’unite´ [der Wahlmöglichkeiten] est dans le sens“ (Godel 1957: 140 f; vgl. Amacker 1974). Der Isotopiebegriff von Greimas (1966) wird hier vorweggenommen (siehe Art. 119). Die privativen Gegensätze generalisieren daher die einzelnen qualitativen Wahlmöglichkeiten, indem sie ihnen einen kollektiven und konventionellen Status verleihen, während sie gleichzeitig die logischen Gegensätze spezifizieren, so daß diese eine Bedeutung erhalten (vgl. Abb. 101.2). Die privativen Gegensätze spielen also eine zentrale Rolle; sie bewirken, daß Sprache als semiotisches System verstanden werden kann, in dem Konventionalität und Bedeutung unauflöslich miteinander verbunden sind. 2.3. Das Zeichen: Arbitrarirät und Wert Das Zeichen ist als Einheit von Signifikat und Signifikant binär; es ist Teil des Systems, das die Sprache als Gegenstand der Linguistik konstituiert und das die Linguistik zur Teildisziplin der Semiotik macht (siehe oben
101. Ferdinand de Saussure und seine Nachfolger
2049
§§ 2.1. und 2.2.). Hiermit ist nun die Rolle des Zeichens in der Gegenstandskonstitution der Linguistik als Wissenschaft umrissen, aber noch nicht seine erkenntnistheoretische und methodologische Rolle behandelt. Zum methodologischen Aspekt trägt Saussures Unterscheidung zwischen entite´ und unite´ und zwischen Konkretem und Abstraktem bei. Der erkenntnistheoretische Aspekt betrifft die Frage der Arbitrarität des Zeichens. Doch erst die Bestimmung des Zeichens auf der Grundlage des Wertbegriffs führt die drei Aspekte wieder zusammen. Der Wertbegriff ist somit der zentrale Begriff der Saussureschen Semiotik.
an sich erfaßt werden können (Engler 1968: 235). Das Zeichen selbst ist keine unite´, sondern eine entite´, d. h. ein Element, das den Charakter einer Synthese besitzt, die durch Assoziation entstanden ist (Engler 1968: 231). Es ist konkret im Gegensatz zu anderen entite´s, die abstrakt sind. Diese beruhen zwar auf konkreten entite´s, sind aber selbst generalisierte zweiseitige Einheiten wie Kasus, Wortklasse, Vokal, syntagmatische Reihenordnung und dergleichen, welche durch eine Klassifikation der konkret segmentierten unite´s gefunden werden, wenn diese als Zeichen oder Zeichenteile identifiziert sind (Engler 1968: 311 f). Falls eine solche Abstraktion nicht in einem Zeichen als konkreter entite´ fundiert ist, wird sie als nicht linguistisch ausgeklammert (Engler 1968: 315).
2.3.1. Konkret und abstrakt, unite´ und entite´ Als subjektive Analyse versteht Saussure die Tätigkeit, die jeder Sprecher fortwährend ausübt, um in den heterogenen Manifestationen der Sprachfähigkeit eine konventionelle sprachliche Bedeutung zu identifizieren. Sie ist die Basis der objektiven linguistischen Analyse, die sich auf die synchronische und die diachronische Betrachtungsweise der Paradigmen des Sprachsystems konzentriert. Die Linguistik beruht somit auf subjektiver Sprachanalyse (Engler 1968: 416) und stellt sich in dieser Hinsicht als hermeneutische Wissenschaft dar (vgl. Jäger 1976). Beide Analyseweisen beginnen mit der Segmentierung konkreter Sprachereignisse. Konkret ist in diesem Zusammenhang für Saussure alles, was im Bewußtsein des Sprechers als real erlebt wird, d. h. sowohl die materielle Manifestation des Zeichens als auch die Assoziation von Ausdruck und Inhalt im Zeichen (obwohl diese Assoziation ein psychisches Phänomen ist). Jedes materielle Phänomen, das als Sprache aufgefaßt wird, ist konkret (Engler 1968: 315). Daher sind das Sprachsystem und das Zeichen für Saussure ebenso konkrete Phänomene wie der physische Laut (Engler 1968: 44 und 231; vgl. den Kommentar von De Mauro 1972: 425 f). In diesem konkreten Phänomen wird nun ein selbständiges Segment ausgegrenzt („une tranche de sonorite´“), an das ein Inhalt geknüpft ist (ein Signifikat). Ein solches Segment ist eine konkrete unite´. Wenn man nun analytisch ein Zeichen in sein Signifikat und seinen Signifikanten zerlegt, dann sind auch diese Elemente unite´s, da sie Ergebnis einer Delimitierung sind, aber sie sind abstrakt, da sie nur als Teile des Zeichens, aber nicht
2.3.2. Arbitrarität Die sprachlichen Elemente erhalten ihre sprachliche Identität durch die Segmentierung, die sie gegen andere Elemente unter der Voraussetzung eines existenten Zeichensystems abgrenzt. Saussure muß deshalb das Zeichen als Grundlage des sprachlichen Identifizierungsprozesses analysieren. Dies geschieht mit Hilfe des Wertbegriffs (Engler 1968: 249), der aus Saussures Bestimmung des Zeichens als eines arbiträren Elements folgt (Engler 1962 und 1964). Die Arbitrarität charakterisiert teils die Relationen zwischen den Zeichen innerhalb des Sprachsystems, teils die Relation zwischen dem Zeichen und einem Objekt außerhalb des Sprachsystems. Beide Relationstypen setzen voraus, daß das binäre Zeichen (bestehend aus Signifikat und Signifikant) in einem triadischen Zeichenzusammenhang (SignifikatSignifikant-Objekt) verankert ist; dieser verleiht dem Zeichen eine erkenntnistheoretische Dimension. Über diesen Zusammenhang sagt Saussure: „[1 ⬚] La langue repre´sente un syste`me inte´rieurement ordonne´ dans toutes ses parties, [2 ⬚] *de´pend d’un objet, mais+ libre et arbitraire par rapport a` l’objet“ (Engler 1974: 21). Diese Arbitrarität kann man als „radikal“ bezeichnen (Amacker 1975: 86; Mauro 1972: 387), da sie gegenstandskonstitutiv ist für jedes semiotische System und seine Zeichen. Mit „Arbitrarität“ ist gemeint, daß die Eigenschaften der Zeichen nicht aus den Eigenschaften der Dinge oder aus äußeren Umständen abgeleitet werden können. Hierin unterscheidet sich Saussure nicht von der von ihm verworfenen klassischen Auffassung der
2050 Sprache als Nomenklatur (Engler 1968: 147 f). Die Arbitrarität funktioniert aber nur, wenn die Zeichen Teile eines konventionellen Systems sind. Nur dank dieses Systems sind sie nicht nur unabhängig von den Dingen, sondern können diese kraft ihrer Bedeutung bezeichnen. Bestimmte Zeichen, wie zum Beispiel Onomatopoetika, sind sowohl arbiträr als auch motiviert, d. h. ihre Funktion als Zeichen ist nicht nur intern bestimmt durch das Sprachsystem, sondern auch durch außersprachliche Dinge. Motivation gibt es nach Saussure sowohl für das Signifikat als auch für den Signifikanten, und sie kommt innerhalb des Sprachsystems in der Relation zwischen Signifikat und Signifikant zur Geltung (Engler 1968: 156 und 162). Im Sprachsystem selbst hängt die Beziehung zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten entweder ausschließlich oder doch (wie bei den Onomatopoetika) überwiegend von systeminternen Verhältnissen ab. Saussure schlägt daher vor, diese Beziehung als „unmotiviert“ zu bezeichnen (Engler1968: 155), ohne daß er jedoch in seiner Terminologie konsequent wäre. Die interne Arbitrarität oder Nicht-Motiviertheit hat zwei Aspekte (Engler 1968: 197): (i) assoziative oder absolute Arbitrarität, wonach zum Beispiel zwanzig oder sieben absolut arbiträr sind im Gegensatz zu siebenundzwanzig: Es besteht kein Hinderungsgrund dagegen, daß zwanzig und sieben in der assoziativen Ordnung gegeneinander ausgetauscht oder beispielsweise durch knax und knork ersetzt werden, wohingegen siebenundzwanzig nicht ohne weiteres zu zwanzigundsieben umgestellt oder zu sechsundzwanzig verändert werden darf; (ii) syntagmatische oder relative Arbitrarität, die bedingt, daß jedes Zeichen in der syntagmatischen Ordnung vom sprachlichen Kontext abhängig ist und damit auch von ihm relativ motiviert wird (vgl. Abb. 101.3). Obwohl die radikale Arbitrarität des Sprachsystems und des Zeichens am deutlichsten in der assoziativen Ordnung zutage tritt, kann man auch hier die angeführten Zahlwörter nicht ihre Positionen tauschen lassen oder ihre Lautstruktur ändern, denn das Sprachsystem ist als soziale Institution nicht der freien Wahl einzelner Individuen überlassen (Engler 1968: 155).
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Abb. 101.3: Arten der Motiviertheit des Zeichens nach Saussure (Engler 1968: 147 ff).
Das Sprachsystem konstituiert sich als semiotisches System auf Grund der radikalen Arbitrarität zwischen Zeichen und Objekt, die ihrerseits bewirkt, daß die Relation zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten unmotiviert ist. Aber Sprache funktioniert, d. h. sie bildet und kommuniziert Bedeutung, weil eben diese Arbitrarität modifiziert ist. Es tritt „une limitation de l’arbitraire par rapport a` l’ide´e“ auf (Engler 1968: 301). Diese Modifikation berührt primär das Signifikat und somit die Bedeutung. 2.3.3. Wert Die arbiträre Relation zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten wird durch den Wertbegriff als Grundlage der Bedeutungsbildung erfaßbar. Jedes Zeichen, das dem Sprachsystem oder einem anderen semiotischen System angehört, ist durch zwei und nur zwei Werte bestimmt: „dans l’association constituant le signe il n’y a rien depuis le premier moment que deux valeurs existant l’une *en vertu de+ l’autre (arbitraire du signe)“ (Engler 1968: 178). Die sprachliche und semiotische Identität sowohl des Signifikats als auch des Signifikanten ist durch den jeweiligen Wert festgelegt (vgl. Amacker 1974: 12; Wunderli 1981: 44; anders Godel 1966: 55 und Godel 1957: 248, unterstützt von Frei 1962: 133, der nur dem Signifikat einen Wert beimißt). Hierdurch erhält auch das Zeichen als ganzes einen Wert (vgl. Godel 1957: 235): „Le terrain linguistique, c’est celui de l’articulation, des articuli, des petits membres ou` la pense´e prend valeur par un son“ (Engler 1968: 253).
101. Ferdinand de Saussure und seine Nachfolger
2051
Obwohl bestimmte Zeichen von seiten des Signifikats oder des Signifikanten teilweise motiviert sein können, erhalten sie ihre Identität als Teile eines semiotischen Systems auf Grund ihres arbiträren Wertes (Engler 1968: 178). Da gilt: „significatif ⫽ ressortissant a` un syste`me de signes ⫽ synchronique ipso facto“ (Godel 1957: 263; vgl. Amacker 1974: 8 ff), kann man sagen, daß der Wert die Identität herstellt, die ein semiotisches Element unabhängig von den wechselnden empirischen Umständen besitzt, weil es Teil eines Systems ist mit „re´ciproque et stricte de´pendance des unite´s entre elles“ (Engler 1968: 179), so daß das System eine Bedeutung erzeugt und so daß der Sprecher diese Bedeutung trotz ihrer verschiedenartigen empirischen Manifestationen identifizieren kann (vgl. Engler 1968: 242 ff). Der Wert regelt die Stellung des Signifikats und des Signifikanten im System unter den Bedingungen der Arbitrarität, wobei diese Bedingungen nicht für alle Eigenschaften des Zeichens verantwortlich sind. Dies ist der methodologische Aspekt des Wertbegriffs (vgl. Engler 1968: 250 ff). Saussure, der in Paris während des großen Umbaus der Stadt gelebt hat, weist auf die Identität einer Straße als Wert hin (Engler 1968: 245): Die Straße bewahrt ihre Identität trotz des Abrisses oder Neubaus ganzer Häuserzeilen, solange sie Teil des synchronen Straßensystems der Stadt ist, wie man es zum Beispiel auf der Stadtkarte erkennen kann. Die Straße ist dann immer als konkrete unite´ delimitiert; sie hat einen Anfang und ein Ende. Damit der Wertbegriff seine methodologische Funktion im Zeichenidentifizierungsprozeß erfüllen kann, wird er wie das Zeichen als zweiseitig definiert (Engler 1968: 178): Der Wert eines gegebenen Systemelements besteht in einem gleichzeitigen Gleichheits- und Differenzverhältnis zu den anderen Elementen des Systems (Engler 1968: 259); d. h. die Einheiten müssen einem gemeinsamen System angehören und innerhalb dieses Systems verschieden sein. Es geht also um ihren Stellenwert im System. Die Herausgeber des Cours de linguistique ge´ne´rale haben die Saussuresche Darstellung so angelegt, daß sie den Wert des Signifikats, des Signifikanten und des Zeichens als ganzen nacheinander untersucht haben, wobei die radikale Arbitrarität des Sprachsystems, und damit der formale Charakter der Wertbestimmung vorausgesetzt wird (Engler 1968: 256 ff).
Was den Wert des Signifikats betrifft, so ist der Unterschied zwischen Signifikat und Objekt irrelevant. Nur der Unterschied zwischen einem gegebenen Signifikat und anderen ist maßgebend für den Wert des Signifikats, und die anderen Signifikate erhalten nur dadurch ihren Wert, daß sie von dem gegebenen Signifikat unterschieden sind. Gleichartigkeit zweier Werte liegt nicht darin, daß ein gegebenes Signifikat (z. B. das von mouton) dasselbe ist wie ein anderes (z. B. das von sheep). Diese beiden Signifikate gehören verschiedenen Sprachen an (Französisch und Englisch), und ihre Werte sind daher durch verschiedene Systeme festgelegt. Die Gleichheitsdimension des Signifikatwertes erfordert die Zugehörigkeit der betreffenden Signifikanten zu demselben Signifikantensystem. In gleicher Weise ist die rue Rambuteau von der rue St. Denis verschieden, weil sie als Signifikate verschiedene Lokalisierungen haben. Sie gehören aber zu demselben Signifikantensystem, nämlich dem Straßennetz von Paris. Ebenso sind für den Wert des Signifikanten nicht die Unterschiede zwischen ihm und den physischen Lauten relevant, sondern die Unterschiede zu den anderen Signifikanten des gleichen Zeichensystems. Die Gleichartigkeit der Signifikanten liegt in ihrem Beitrag zu demselben Signifikatsystem (Engler 1968: 267); sie sind Teile von sprachlichen Zeichen im Unterschied zu nichtsprachlichen Signifikanten, die ja wie die sprachlichen Signifikanten auch durch lautliche oder graphische Materie ausgedrückt werden können, ohne deshalb sprachliche Elemente zu werden (Engler 1968: 270). Im Straßennetz bilden Unterschiede wie die zwischen Fahrbahn, Bürgersteig und Radfahrweg das Signifikantensystem. Die Gleichartigkeit dieser Elemente liegt in ihrer gemeinsamen Rolle bei der Konstitution einer Straße als distinkt von nicht-straßenartigen Phänomenen. Auch das Zeichen als Ganzes hat einen Wert (Engler 1968: 270) und darf deshalb nicht von den anderen Zeichen isoliert betrachtet werden, die es auf der assoziativen und syntagmatischen Dimension des Sprachsystems umgeben. Die gegenseitigen Unterschiede zwischen den Zeichen in einem System, wie zum Beispiel zwischen Straßen vs. Häusern im urbanen Zeichensystem, sind determiniert durch die Werte ihrer Signifikate und Signifikanten, d. h. durch ihre jeweiligen Gleichheits- und Differenzrelationen. Diese Werte lassen nun auch die einzelnen Zeichen als positive konkrete entite´s erscheinen, in-
2052 dem sie zwischen der Artikulation, die die Signifikanten in der Lautmasse erzeugen, und derjenigen, die die Signifikate in dem Gedankenmaterial erzeugen, eine feste Verbindung schaffen. Was an den Zeichen gleichartig ist und sie zu Werten macht, ist der besondere Charakter dieser Verbindung, ihre systemimmanente sprachliche Arbitrarität (die im urbanen Zeichensystem nicht in derselben Weise vorhanden ist). Es könnte nun so aussehen, als wiederhole Saussure bei der Behandlung der gemeinsamen Basis für die Werte der Zeichen fast tautologisch seine früheren Bestimmungen des Zeichens als eines arbiträren Elements: seinen sozialen, institutionellen, kollektiven, kommunikativen und geschichtlichen Charakter (Engler 1968: 271 und 273). Aber durch den Wertbegriff hat die Arbitrarität der Sprache eine neue Perspektive erhalten. Wie Andre´ Martinet (*1908) es ausdrückt, beruht die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens auf der doppelten Gliederung der Sprache (Martinet 1957: 109 f; vgl. Engler 1968: 34). In jeder Sprache steht im Bereich der Signifikanten eine erste Gliederungsebene von bedeutungstragenden Einheiten (konkreten unite´s oder „Monemen“) einer zweiten Gliederungsebene von nicht-bedeutungstragenden Einheiten (abstrakten unite´s oder „Phonemen“) gegenüber. Ohne diese zweite Gliederung hätte man nur absolute Werte und keine relativen, die für die Sprache so typisch sind (Engler 1968: 268), und man hätte nur die Termini einer Nomenklatur, d. h. eine Sprache mit einer Struktur, die sich nicht von der Eigenordnung der Dinge unterscheiden würde (Engler 1968: 300), oder eine Sprache, in der es keine gegenseitige, sondern nur eine einseitige Abhängigkeit zwischen Signifikat und Signifikanten gäbe. Die doppelte Gliederung bringt, wie Sergej J. Karcevskij (1884⫺1955) hervorgehoben hat, eine Asymmetrie im Verhältnis von Signifikat und Signifikant mit sich: die Signifikate können sich im diachronen Prozeß ohne gleichzeitige Änderung des Ausdrucks verändern, und die Signifikanten können an Homonymierelationen teilhaben oder ihre materielle Manifestation ändern, ohne daß dies zu einer Veränderung ihrer Signifikate führen muß (Karcevskij 1929). Diese Asymmetrie, die „en quelque sorte myste´rieux“ (Engler 1968: 253) ist, wenn Signifikat und Signifikant zusammen identifizierbare Zeichen bilden, verleiht der Sprache Dynamik ⫺
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
sowohl im konkreten Sprechakt wie in der diachronen Entwicklung. Sie läßt die Sprachfähigkeit kreativ werden und macht die Sprache zu einem besonderen semiotischen System. Mit dem Wertbegriff hat Saussure den methodologischen Aspekt der Linguistik (die Phänomene oder die konkreten unite´s können ausgegrenzt werden, weil sie eine wertbestimmte Identität besitzen; Engler 1968: 274), ihren gegenstandskonstitutiven Aspekt (wenn die Identität der unite´s als Wert festgelegt ist, machen sie ein System solidarischer Relationen aus) und ihren erkenntnistheoretischen Aspekt (mit dem Wertbegriff wird die Arbitrarität näher bestimmt) zur Deckung gebracht. Diese Vereinigung der drei Aspekte verleiht seiner Sprachtheorie semiotische Relevanz und gibt zugleich Anlaß für die Entfaltung der Asymmetrie zu einer „linguistique de parole“ (Engler 1968: 58), die Saussure selbst aber nicht näher untersucht hat.
3.
Die Weiterentwicklung der Semiotik
Die Grundlagen der Saussureschen Semiotik sind, was die Linguistik betrifft, besonders von der Prager und der Kopenhagener Schule in direkter Fortführung der Arbeiten Saussures übernommen und ausgebaut worden (siehe Art. 115, 116 und 117). Gleiches gilt für die Genfer Schule, die jedoch ein eher linguistisches Profil bewahrt hat (vgl. Godel 1969), wobei die semiotische Perspektive wieder in den Arbeiten von Luis J. Prieto vorherrschend wurde. Darüber hinaus haben Einzelpersonen, besonders im französischsprachigen Raum (z. B. Emile Benveniste, Andre´ Martinet, Eric Buyssens) innerhalb der Linguistik auf der Basis von Saussure allgemeine oder verallgemeinerbare Überlegungen zur Semiotik angestellt (Posner 1984). Außerhalb Europas und der französisch orientierten Gebiete kann nur in geringem Maße von Einflüssen Saussures die Rede sein ⫺ und wenn, dann nicht ausgehend von seiner Theorie als ganzer. Dagegen haben Einzelbegriffe und einzelne Dichotomien überall Eingang in andere linguistische Theorien gefunden. Doch ist es schwierig, zwischen eigentlichen Einflüssen und bloß parallelen Entwicklungen zu unterscheiden (vgl. Jakobson 1973: 9 ff; Koerner 1973: Kap. 2; Mauro 1972: 366 ff; Scheerer 1980: Kap. III). Im folgenden werden nur solche linguistischen Probleme behandelt, die zur Weiterent-
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wicklung der Semiotik beigetragen haben und die nicht anderweitig in diesem Handbuch behandelt sind. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem direkten Einfluß Saussures auf andere Wissenschaften. Die Übersicht weist mehr auf die typischen Argumente und Probleme hin, die diesem Einfluß zu verdanken sind, als auf die einzelnen Personen oder Forschungsrichtungen, die sich beeinflussen ließen. Die Gliederung der Darstellung folgt der Dreiteilung des zweiten Abschnitts.
1973, Coseriu und Geckeler 1981; vgl. Art. 105). Voraussetzung für die semantische Analyse ist die Reduktion der unendlichen Reihe von lexikalischen Elementen in der assoziativen Sphäre zu einer endlichen Reihe von distinktiven Merkmalen, so daß die phonologische Analyse Modell für die semantische sein kann (vgl. Engler 1968: 49; Engler 1973; Wunderli 1981: 11 ff). Pierre Guiraud (1955) hält Saussures linguistische Betrachtung der Autonomie des Sprachsystems für vereinbar mit der philosophischen Auffassung von Ogden und Richards, die auf der Gegenüberstellung von Wort und Sache beruht. Er interpretiert diese Opposition als zwei notwendige Blickwinkel auf das gesamte Feld der Semantik, das sowohl die Analyse des Sprachsystems als auch die Analyse des Kontextes der realisierten Bedeutung umfaßt, in dem Wort und Sache konkret miteinander verknüpft werden. Viggo Brøndal (1887⫺1942) ließ sich in ähnlicher Weise durch Saussure inspirieren (Brøndal 1940). Er entwarf eine Synonymik, die die Bedeutung der einzelnen Wörter in solidarischen Systemen zu untersuchen hat, und wies der Semantik als Aufgabe die Untersuchung der im syntaktischen Kontext realisierten Wortbedeutungen zu. Als Basis benutzte Brøndal eine Reihe von Relationseigenschaften, die er der Relationslogik entnahm (Symmetrie, Transitivität und andere). Hauptziel war für ihn, mit diesen Eigenschaften eine endliche Anzahl von Grundelementen zu bilden, durch die distinktive Merkmale definiert werden können. Es gelang ihm, einen phänomenologischen Intentionalitätsbegriff einzubeziehen (vgl. Art. 103), so daß die Orientierung auf ein Objekt Teil der definitorischen Grundlage der Bedeutung wurde (Larsen 1987). Auch Stephen Ullmann (*1914) zeigte sich in The Principles of Semantics (Ullmann 1963) in wichtigen Teilen von Saussure angeregt. Ullmann betonte, daß Bedeutungen in synchronisch analysierten Systemen sowohl in der assoziativen wie in der syntagmatischen Dimension organisiert sind. Gleichzeitig hob er hervor, daß auch die diachronische Untersuchung der Bedeutungen auf Bedeutungssystemen aufbauen muß, da diachrone Prozesse Systemverschiebungen sind und sich nicht auf die Veränderungen einzelner Wörter beschränken. Wie Pierre Guiraud stützte Ullmann sich auf die Theorie der semantischen Felder (vgl. Art. 105) und unterstrich, daß die Sprachstruktur als Vorausset-
3.1. Die semiotische Verallgemeinerung der Dichotomien Die interessantesten semiotischen Perspektiven findet man in der Linguistik dort, wo sie Gebiete behandelt, die Saussure nennt, aber nicht weiter untersucht und nicht explizit mit seinen Dichotomien verbindet. Es handelt sich um die Semantik, die Syntax und die Linguistik des Sprechens (linguistique de la parole). 3.1.1. Semantik In der linguistischen und allgemein semiotischen Rezeption Saussures wurden die kritischen Ausgaben des Cours de linguistique ge´ne´rale selten herangezogen. Auch nachdem die Quellenschriften zu erscheinen begannen, hat man die Ausgabe von 1916 weiterbenutzt. Was die Semantik angeht, so besteht ein Riesenunterschied zwischen der Hinrichtung von Saussure durch Charles K. Ogden und Ivor A. Richards im Jahre 1923 (Ogden und Richards 1966: 4 ff) und Louis Hjelmslevs Entwurf zu einer Semantik auf der Grundlage Saussures aus dem Jahre 1959 (Hjelmslev 1971: 105 ff; siehe Art. 117). Die Anglo-Amerikaner weisen Saussure ab aufgrund seiner Konzeptionen des Sprachsystems und des Zeichens, die sie „unempirisch“ nennen: Sie seien für semantische Studien ungeeignet, weil sie einen Objektbegriff ausschließen. Der Däne baut gerade wegen einer positiven Bewertung dieser Begriffe auf Saussure: Die immanente Struktur der Sprache ist die Voraussetzung dafür, daß die Objektwelt Bedeutung erhalten kann (vgl. Werlen 1982). In dem Maße, in dem Saussure für die Semantik fruchtbar gemacht wurde, ist dies von Hjelmslevs Standpunkt aus geschehen (vgl. Lyons 1977⫺81: Bd. 2, Kap. 8⫺9). Er kommt am besten zur Entfaltung in Algirdas J. Greimas’ komponentieller Semantik (Greimas 1966; vgl. Art. 119) und in Bernard Pottiers und Eugenio Coserius semantischen Analysen (Pottier 1964 und 1974; Coseriu
2054 zung für die Gliederung der Objektwelt angesehen werden muß. Außer bei Ullmann, Guiraud und Brøndal findet sich eine solche sprachphilosophische Begründung der Semantik unter Einbeziehung von Saussure auch bei Tullio De Mauro (*1932) in seiner Introduzione alla semantica (1965). Die Überlegungen dieser Theoretiker, aber auch die Analysen von Coseriu, Greimas und Pottier, öffnen Saussures Theorie in Richtung auf den syntaktischen und sogar weiter in Richtung auf den pragmatischen Kontext, der Teil des Gegenstands einer Linguistik des Sprechens ist. Diese Tendenz wird in den marxistisch orientierten semantischen Untersuchungen von Denis Slatka (1971) und Claude Haroche u. a. (1971) emphatisch als natürliche Fortsetzung der Überlegungen Saussures hingestellt. Wir sind damit auf dem Gebiet angelangt, das Saussure selbst „Semiotik“ nennen würde. 3.1.2. Syntax und Diskurs Bei Slatka wird, was die Syntax betrifft, besonders auf die Verbindung zu Noam Chomsky Wert gelegt. Obwohl der Ansatz Saussures schnell von Leonard Bloomfield (1924) anerkannt (vgl. Hockett 1968: Kap. 1) und später in den USA hervorragend in ihn eingeführt wurde (Wells 1947), kann im amerikanischen linguistischen Strukturalismus weit eher von einzelnen Begriffs- und Entwicklungsparallelen als von direkten Einflüssen die Rede sein, und das gilt sowohl für die Zeit vor wie nach der Veröffentlichung der Vorlesungsmitschriften und Manuskripte Saussures (Mohrmann u. a. 1961; 1963; Dresselhaus 1979). Der wirkliche Saussure ist nicht mit dem mythischen in der amerikanischen Linguistik (Hymes und Fought 1975: 918) identisch. Hinzu kommen fundamentale Unterschiede, was das Verhältnis zum Status und zu den theoretischen Grundlagen linguistischer Beschreibungsverfahren sowie das Verhältnis zu den nicht-indoeuropäischen Sprachen angeht. Noam Chomsky (*1928) versucht, die Dichotomie von Sprachsystem vs. Sprechen umzuformulieren, aber nicht auf der Basis eines eingehenderen Verständnisses (Chomsky 1964: 22 ff). Das Sprachsystem wird mit einem statischen Reservoir von Zeichen identifiziert, nicht aber mit dem assoziativ-syntagmatischen Mechanismus, von dem Saussure ausgeht (Engler 1968). Und das Sprechen wird als freier und willentlicher Akt gesehen, nicht als institutionell gebundenes intersubjektives Verhalten (vgl. De Mauros heftigen
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Angriff auf Chomsky in Mauro 1972: 400 ff). Unter semiotischer Perspektive liegt jedoch der entscheidende Unterschied zwischen Chomsky und Saussure nicht in der verschiedenartigen Verknüpfung der beiden Dichotomien Kompetenz (Beherrschung der Regeln der Sprache) vs. Performanz (Anwendung dieser Regeln mit eingebauter Rekursivität) bei Chomsky und Sprachsystem vs. Sprechen bei Saussure. Der entscheidende Unterschied ist die Präsenz eines Zeichenbegriffes bei Saussure, wodurch ‘Bedeutung’ zu einem fundamentalen Begriff wird, und seine Absenz bei Chomsky. Es gibt deshalb unter semiotischem Gesichtspunkt relevantere Versuche einer Bearbeitung des Problems der Syntax in der Weiterführung von Saussures Ansatz (Amacker 1975: 207 ff). In diesem Sinne revidierte Viggo Brøndal das Verhältnis zwischen Sprachsystem und Sprechen durch die Einführung einer selbständigen Diskursebene als Rahmen für die Syntax. Der Diskurs wird hier als irreversibler logischer Prozeß charakterisiert, der jeden Akt umfaßt, in dem Intentionalität entsteht, d. h. eine im phänomenologischen Sinne subjektive Orientierung auf ein Objekt hin, deren Inhalt dieses Objekt ist (Brøndal 1943: 55). Diese Auffassung vom Diskurs als Bindeglied zwischen Sprachsystem und Sprechen findet man auch bei Eric Buyssens (Buyssens 1967: 40 ff). Er geht nicht wie Brøndal von der Sprachphilosophie aus, sondern analysiert den konkreten Kommunikationsprozeß, dessen Partner und Bedeutungsintentionen. Ein solcher Kommunikationsprozeß ist ein konkreter „semischer Akt“, der von den Beteiligten als Mitteilung einer Bedeutung angesehen wird. Die Voraussetzung dafür, daß dieser Akt stattfinden kann, ist die Existenz von abstrakten Bedeutungseinheiten („Semen“), die virtuell und konventionell sind. Der Diskurs ist die funktionelle Seite des Bedeutungsprozesses; in ihm werden die Seme artikuliert und kommuniziert. Für Buyssens ist die Linguistik des Sprachsystems und die des Sprechens somit ein und dasselbe. Auch Emile Benveniste (1902⫺1976) teilt diese Anschauung, wenn er Saussures Theorie resümiert (Benveniste 1966: 18 ff). Sprache ist für ihn die Fähigkeit, die Wirklichkeit symbolisch zu bearbeiten. Die funktionellen und konventionellen Einheiten des Sprachsystems müssen deshalb auch solche Elemente enthalten, die zwischen Bewußtsein und
101. Ferdinand de Saussure und seine Nachfolger
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Wirklichkeit vermitteln, d. h. die es im Rahmen der Logik des Dialogs ermöglichen, „de retenir un objet“ (1966: 25 f). Solche Einheiten findet Benveniste besonders in den Personalpronomina, welche die subjektive und kommunikative Dimension im Sprachsystem selbst verankern (Benveniste 1966 und 1974). Die Verbindung der kommunikativen Seite der Sprache mit der referentiellen findet statt im Diskurs (Benveniste 1966: 130 und 151 ff; vgl. Kristeva 1975). Für Brøndal, Buyssens und Benveniste ist die Einheit des Diskurses der Satz, der daher auch jene sprachliche Einheit ist, deren Form zugleich kommunikativ und assertiv ist, und somit im Sprachsystem selbst die Abhängigkeit von nichtsprachlichen Faktoren markiert. In dem Teil der englischsprachigen Linguistik, in dem semiotische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, macht sich eine ähnliche Verschiebung in der Bearbeitung der Gedanken Saussures geltend, wenn auch weniger deutlich. Die Entwicklung beginnt mit Alan Gardiners (1879⫺1963) Theory of Speech and Language (1932), und ihr umfassendstes Ergebnis ist Michael A. K. Hallidays funktionelle Grammatik. Gardiner geht davon aus, daß die Linguistik die gegenseitige Beziehung zwischen Sprachsystem und Sprechen, und nicht nur das Sprachsystem zu untersuchen hat, da die Grundeinheit des Systems das Wort, die des Sprechens aber der Satz ist. Welche Faktoren eine Linguistik auf dieser methodologischen Grundlage überhaupt in ihre Analyse einbeziehen soll, entscheidet die Betrachtung der Kommunikationssituation. Die Forderung, daß der leitende Gesichtspunkt eher die Systematisierung der vollständigen Sprechsituation und nicht bloß die Realisierung des Sprachsystems in ihr sein muß, kennzeichnet auch die Position von John R. Firth (1890⫺1960), der den Status der Linguistik als Sozialwissenschaft hervorhebt. Firth (1968: 169) sieht den Hauptgegenstand der Linguistik in der Rolle der Bedeutungsbildung für unsere Teilnahme am Gesellschaftsleben und für unseren Umgang mit der Umwelt. Deshalb ist er gegenüber Saussure (Firth 1957: 17; Firth 1968: 127) und besonders gegenüber Hjelmslev (Firth 1968: 17) skeptisch eingestellt. Wenn eine kohärente formale Beschreibung sprachlicher Kommunikation nur um den Preis der Abstraktion von gewissen Aspekten der faktischen Bedeutungsbildung in konkreten Situationen möglich ist, dann sollte man dieses Ziel nach
Firth (1968: 47 und 50) aufgeben. Was Firth an der Sprache interessiert, ist nicht bloß der Diskurs, sondern alles, was in einer gegebenen Situation zusammen mit nichtsprachlichen Faktoren Bedeutung schafft. Hier setzt Michael A. K. Halliday (*1925) an mit seiner Beschreibung von Sprache als sozialem semiotischen System in Form einer systemisch-funktionellen Grammatik. In diesem Licht ist das Sprachsystem nur ein Teilsystem eines umfassenderen semiotischen Systems, das unsere Kultur ausmacht (Halliday 1978). Hallidays Theorie als ganze (vgl. Joia und Stenton 1975) ist nicht in direkter Anlehnung an Saussure entworfen worden und verhält sich zum traditionellen Saussure ähnlich wie der Ansatz von Firth; sie hält in gleichem Maße wie der von Saussure inspirierte Gardiner an der gegenseitigen Abhängigkeit des Sprachsystems und des Sprechens fest und lehnt wie Firth einen dogmatisch als Vertreter der reinen Systemimmanenz verstandenen Saussure ab. In seiner Reinterpretation Saussures glaubt Robin Fawcett jedoch behaupten zu können, daß die systemisch-funktionelle Linguistik als Wissenschaft von den semiotischen Systemen eine konsequente Weiterführung der Ideen Saussures darstellt (Fawcett 1983: 63 und 65). Die zentrale Übereinstimmung mit Saussure liegt in der Auffassung von Sprache als Programm für die Bedeutungsbildung, von Grammatik als Beschreibung des Sprachsystems und vom Sprechen als angewandter Grammatik. Entscheidend neu ist hier das Verständnis des Zeichens: Die Signifikate und die Signifikanten werden nicht als komplementäre Teile von Zeichen als ganzen angesehen, sondern bilden jeweils eine allgemeine semantische bzw. eine allgemeine formale Ebene, die in einer spezifischen, symmetrischen Relation zueinander stehen, der der Realisation. Der Signifikant realisiert das Signifikat, das den Signifikanten realisiert. Diese Realisation wird als Kodierung verstanden. Jedes semiotische System besteht daher aus zwei solchen Ebenen, die durch Realisationskodes miteinander verbunden sind. Auf jeder Ebene finden sich assoziative und syntagmatische Relationen, und die kodierte Gesamtheit der beiden Ebenen ist in Felder gegliedert, die nicht von den respektiven Realisationskodes erfaßt werden, was Fawcett (1983: 86) als den substantiellen Aspekt des semiotischen Systems interpretiert. Die Realisationskodes werden unter Verweis auf Firth und Halliday im Lichte der
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XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Funktionen gesehen, die die Bildung sprachlicher Bedeutung in einem sozialen Kontext erfüllen sollen (1983: 111 und 119). Während Fawcett das Zeichen ins Zentrum seiner semiotisch orientierten linguistischen Reinterpretation Saussures stellt, ist bei Eugenio Coseriu (*1921) wieder die Dichotomie zwischen Sprachsystem (langue) und Sprechen (parole) Ausgangspunkt für die Erweiterung des linguistischen Beschreibungsapparats. In seiner Ausarbeitung dieser Dichotomie (Coseriu 1979: 43 ff) nimmt er eine flexible Zwischengröße an: die Norm, die sich zwischen das funktionelle Sprachsystem und das konkrete Sprechen schiebt. In der Form der individuellen und der sozialen Norm sorgt sie dafür, daß die Sprache in konkreten Situationen funktioniert, obwohl diese durch nichtsprachliche Faktoren geprägt sind (1979: 96). Die Flexibilität der Norm besteht darin, daß sie eine unterschiedliche Stellung im Verhältnis zu der Dichotomie von langue und parole einnehmen kann (1979: 57 f). Geht es bei der Ausgangsopposition um das Verhältnis System vs. Verwirklichung, so ergibt sich das Modell von Abb. 101.4. konkretes Sprechen
individuelle Norm
soziale Norm
PAROLE
funktionelles System LANGUE
Abb. 101.4: Langue und parole als System vs. Verwirklichung nach Coseriu (1979).
Geht es aber um den Gegensatz konkret vs. abstrakt, so ergibt sich die Zuordnung von Abb. 101.5. konkretes Sprechen PAROLE
individuelle Norm
soziale Norm
funktionelles System
LANGUE
Abb. 101.5: Langue und parole als abstrakte vs. konkrete Größen nach Coseriu (1979).
Von da führt der Weg direkt zu Coserius Textlinguistik (Coseriu 1980). Der Text ist ein Makrozeichen, das eine Bedeutung hervorbringt, die „Sinn“ genannt wird. Dieser geht weit über die Bedeutungen hinaus, die das Sprachsystem enthält, und verbindet den Text mit seinem Umfeld (1980: 94) oder mit dem situativen Kontext im weitesten Ver-
stande. Der Sinn entsteht als Kombination der Zeichenrelationen aus den beteiligten semiotischen Systemen in Übereinstimmung mit einer Reihe von Hierarchisierungsrelationen. Und damit diese Kombination möglich ist, müssen diese semiotischen Systeme eine flexible Normebene besitzen. Die linguistische Ausarbeitung Saussures in semiotischer Richtung war in dieser Weise primär an das Zeichen und die Dichotomie Sprachsystem vs. Sprechen geknüpft. Sie führte von der Semantik und der Syntax zu einer allgemeineren Linguistik des Sprechens, für die Saussure nur wenige oder gar keine Richtlinien vorgegeben hatte. Wenn aber Coseriu die Textlinguistik „über das Sprachliche hinaus“ gehen läßt (1980: 153), so befindet er sich in Übereinstimmung mit den Gedanken Saussures: „Un linguiste qui n’est que linguiste est dans l’impossibilite´ a` ce que je crois de trouver la voie permettant de classer les faits“ (Engler 1974: 38). 3.2. Saussure und der Strukturalismus Der Strukturalismus ist ein Teil der Geschichte des Formbegriffes innerhalb der europäischen Ideengeschichte ⫺ von Plato und Aristoteles über den Realismus-Nominalismus-Streit im Mittelalter und Leibnizens Relationenlogik bis zur modernen Mathematik und den Naturwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Art. 77 §§ 8. und 13.). In diesem großen Zusammenhang hat Saussure eine genau abgegrenzte Rolle: Er verschafft mit seiner Definition der Linguistik als Wissenschaft vom Sprachsystem den strukturalistischen Problemstellungen Einlaß in die Humanwissenschaften (vgl. Foucault 1966: 366 ff) und ermöglicht damit, daß sie eine Reihe ganz verschiedener Strukturbegriffe in Betracht ziehen. Diese Öffnung der Humanwissenschaften mit Hilfe der strukturalistischen Linguistik wurde vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg im Umfeld der amerikanischen Zeitschrift Word betrieben. Ernst Cassirer (vgl. Art. 111) und Roman Jakobson (vgl. Art. 116) waren die großen Anreger, und der junge Anthropologe Claude Le´vi-Strauss (vgl. Art. 74 § 18. und Art. 116 § 7.) spielte die wichtigste Rolle im Prozeß der Verallgemeinerung der Prinzipien der strukturalistischen Linguistik und ihrer Übertragung auf andere Wissenschaften. Der Strukturbegriff, den die Linguistik aus dem Cours de linguistique ge´ne´rale gewonnen hatte, kennzeichnete den Gegenstand der
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Linguistik als eine aus solidarisch aufeinander bezogenen Einheiten bestehende Ganzheit (vgl. die verschiedenen Programmschriften: The`ses 1929; Brøndal 1943: 95⫺101; Hjelmslev 1971: 28⫺33). Dieser Strukturbegriff steht nicht im Widerspruch zu Saussures Begriff des Sprachsystems, doch läßt er wichtige Bestimmungsstücke dieses Begriffs außer acht. Erstens wird nur die synchrone Seite einbezogen, nicht die diachrone. Zweitens wird der Zeichenbegriff ausgeschlossen und im Verhältnis zum geschlossenen relationalen Netzwerk als sekundär betrachtet. Dadurch spielt die historische und die dynamische Seite in der strukturalistischen Auffassung des Sprachsystems eine untergeordnete Rolle, und die Auffassung des Sprachsystems als Mechanismus, der Bedeutung schafft, verliert ihre zentrale Position. Daß der Strukturalismus nicht nur eine linguistische und im 20. Jahrhundert entstandene Bewegung ist, ist von Anfang an klar (Cassirer 1946), und daß Saussure nur eine Inspirationsquelle unter anderen ist, die gemeinsam zur Konzeption des Strukturalismus der Nachkriegszeit beitrugen, ist auch evident (Bastide 1962; Boudon 1968; Mouloud 1969; Piaget 1968). Schließlich ist es einleuchtend, daß die Definitionen und Anwendungen der Strukturbegriffe sich nicht auf die Konsequenzen einschränken lassen, die aus der stark reduzierten Strukturauffassung gewonnen werden können, die von Teilen der strukturalistischen Linguistik aus Saussures Systembegriff abgeleitet und in andere Wissenschaften übertragen wurde (Wahl 1968; Schiwy 1969). Obwohl der Strukturalismus hier nicht als Ganzes vorgestellt werden soll (Wunderlich 1971, Petitot 1986), sondern nur in dem von Saussure inspirierten Teil, ist es unmöglich, diesen Einfluß zu isolieren, da er immer zusammen mit anderen, jeweils zeitweilig dominierenden Einflüssen wirksam gewesen ist. Aber die Hauptprobleme, mit denen die überwiegend von Saussure inspirierte Strukturalismus-Diskussion sich beschäftigt hat, liegen im Bereich der Dichotomien Synchronie vs. Diachronie und Form vs. Substanz. Das Gewicht wurde hier auf den synchronen bzw. den formalen Aspekt gelegt, so daß sich die Diskussion auf zwei Themen konzentriert hat: die Beziehung des Strukturalismus zur Geschichte und seine Beziehung zur Bedeutungsproduktion. Diese beiden Hauptthemen lassen sich auf drei Ebenen ansiedeln: der erkenntnistheoretischen (Status des Gegenstan-
des und der Erkenntnis), der gegenstandskonstitutiven (Abgrenzung und innerer Aufbau des Gegenstandes) und der methodologischen (Analyseverfahren). 3.2.1. Der erkenntnistheoretische Aspekt Der ontologische Status einer Struktur kann unterschiedlich bestimmt werden: Sie kann entweder als vollständiger Ausdruck einer immanenten Ordnung des Gegenstands oder als bloße theoretische Konstruktion betrachtet werden. Der ersten Auffassung zufolge wird man zu einer Definition eines absoluten Strukturbegriffs geführt, zum Begriff einer Struktur an sich, während man nach der zweiten Definition auf die Konstitution eines spezifischen Gegenstandes abzielt, der nach theoretischen Kriterien abgegrenzt wird, die eine Reihe methodologischer Forderungen ergeben, welche zur Sicherung der Falsifizierbarkeit oder der Verifizierbarkeit der Strukturbeschreibung beitragen sollen. Raymond Boudon (1968) spricht von einem intentionalen Kontext der Strukturdefinition im ersten Fall und von einem effektiven Kontext im zweiten Fall. Während die erste Auffassung voraussetzt, daß ein gegebenes Objekt eine immanente, identitätsverleihende Struktur ⫺ eine Form ⫺ besitzt, die sich aufdecken läßt, setzt die andere nur voraus, daß die Wirklichkeit Phänomene enthält, von denen gewisse Aspekte strukturierbar sind. Eine solche Strukturierbarkeit bezeichnet Boudon als „Systemcharakter“ der Phänomene. Durch eine Spezifizierung dieses Systemcharakters werden die Phänomene als Gegenstände mit Struktur konstituiert. Mehrere Strukturierungen sind möglich, aber können nicht unbedingt gleichzeitig gesetzt werden, und sie müssen einer Reihe von Verifikations- und Falsifikationskriterien im Verhältnis zu den gestellten Spezifizierungsforderungen genügen. Ebendiese Auffassung ist die des modernen Strukturalismus, Saussure inbegriffen, und eben sie ist semiotisch relevant. Auf diesem Hintergrund charakterisiert Boudon (1968: 103) vier Arten von Objektsystemen, die auf unterschiedliche Weisen als Strukturen spezifiziert werden können (s. nächste Seite). Als Beispiel für den Typ 1 kann die Struktur des indoeuropäischen Vokalsystems dienen (Saussure 1922: 1⫺268) oder die Regeln für die Eheschließung in einer Verwandtschaftsstruktur (Le´vi-Strauss 1949). In beiden Fällen sind die Glieder der Struktur der Zahl
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XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik Objektsystem mit einer endlichen Anzahl definierter Elemente
Objektsystem mit einer nichtendlichen Anzahl definierter Elemente
Direkt verifizierbare Theorie
Typ 1
Typ 2
Indirekt oder nicht verifizierbare Theorie
Typ 3
Typ 4
Abb. 101.6: Arten von Systemen nach Boudon (1968: 103).
nach endlich, aber nicht unbedingt auch einzeln manifest im empirischen Objekt (z. B. Saussures Lautkoeffizient oder der Schwager in bestimmten Verwandtschaftsstrukturen). Hier liefert die Struktur eine Erklärung für ein empirisch verifizierbares Verhalten (regelmäßige Vokaldistributionen oder regelmäßige Selektion von Ehepartnern). Der Typ 2 kann durch die Struktur veranschaulicht werden, die eine Wahlprognose den politischen Einstellungen einer Bevölkerung, oder die eine semantische Analyse dem Bedeutungsreservoir einer Sprache zuschreibt. Die Menge der distinktiven Merkmale ist ad hoc eingeschränkt, ohne definitiv festgelegt werden zu können, aber ihre Realisierung ist empirisch verifizierbar. Als indirekt verifizierbare Struktur vom Typ 3 könnte man zum Beispiel das Gattungsgefüge ansehen, das die überall vorkommenden Varianten der drei literarischen Hauptgattungen unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen aufweisen. Es ist nur indirekt verifizierbar, da beobachtbare Ausnahmen nicht die Richtigkeit einer Aussage über eine vorherrschende Tendenz beeinträchtigen und da das Fehlen von Varianten oder die mögliche Präsenz bestimmter alternativer Varianten innerhalb der Struktur nur durch einen indirekten Beweis oder durch Wahrscheinlichkeitserwägungen begründet werden kann. Für den Typ 4 könnte man die psychoanalytische Theorie der Persönlichkeitsstruktur als Beispiel heranziehen. Die Interpretation der Systemauffassung Saussures, die am System als einem geschlossenen relationalen Netzwerk solidarisch verbundener Einheiten festhält, engt die Anwendbarkeit seiner Theorien auf Objekte des
Typs 1 ein. Da die wenigsten Objekte als ganze diesem Typ subsumiert werden können, obwohl Teilanalysen sie dieser Kategorie zuordnen können, haben die verschiedenen strukturalistischen Schulen, die ausdrücklich auf Saussure aufbauen, auch andere Inspirationsquellen als seine Theorie benutzt. Obwohl der synchron-formalistische Ansatz durchaus im Rahmen der Theorie Saussures hätte weiter ausgebaut werden können, hat man ihn in den meisten Fällen durch Zusätze erweitert oder modifiziert, die außerhalb dieser Theorie liegen. 3.2.2. Gegenstandskonstitutive Aspekte Das Ergebnis einer solchen Erweiterung ist entweder eine Aufgabe des synchron-formalistischen Ansatzes zugunsten eines anderen gewesen (gegebenenfalls in Form einer Integration in eine umfassendere Perspektive wie bei Sebag 1964), oder die statische Strukturauffassung ist durch andere, gleichberechtigte Strukturauffassungen ergänzt worden. In beiden Fällen berührt die Wahl der Strukturauffassungen die Konstitution und den internen Aufbau des analysierten Gegenstands. Ein Beispiel aus der linguistischen Saussure-Tradition ist Viggo Brøndals semantische Theorie (Brøndal 1954). In dieser werden zwei gleichwertige Arten von Strukturen angenommen, die einander ergänzen. Die einzelnen Wortklassen einer Sprache bilden eine Struktur von endlich vielen solidarisch verbundenen Bedeutungseinheiten. Aber die Bedeutungsstruktur enthält neben positiv definierten und negativ ausgeschlossenen Bedeutungsmöglichkeiten einige Lücken, die weder positiv noch negativ bestimmt sind und sich deshalb nur in den wirklich realisierten Bedeutungen zeigen. Diese Bedeutungen sind nicht den solidarischen Systemregeln oder analytischen Relationen (Brøndal 1940) unterworfen, unterliegen jedoch einigen stochastischen Regelmäßigkeiten, die „Kompensation“ und „Variation“ genannt werden (Brøndal 1943: 105 ff); die realisierten Relationen werden als synthetisch charakterisiert (Brøndal 1940). Wenn Sprache nach diesem Modell analysiert wird, werden Objekte der Typen 1 und 2 im Schema Boudons zugleich betrachtet. Weil der synchron-formalistische selten der einzig mögliche Gesichtspunkt ist, gibt es nur wenige Versuche streng mathematisch-logischer Formalisierungen auf der Grundlage von Saussure. Für den binären Systemaufbau sind einige Formalisierungsprinzipien für
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phonologische Systeme entwickelt worden (Roman Jakobson, vgl. Art. 116). Binäre Formalisierungsprinzipien liegen auch der Systemanalyse der glossematischen Schule zugrunde (vgl. Art. 117). Diese Tendenz gipfelt in der Semantik von Greimas mit ihrer Annahme einer semiotischen Grundstruktur (vgl. Utaker 1974; siehe Art. 119). Eine Überschreitung des Greimasschen Ansatzes, wie sie in der von Rene´ Thom (1980) inspirierten Katastrophentheorie oder in der Modelltheorie (Brask 1979) zu finden ist, hat keinen direkten Bezug auf Saussure. Martin Krampens (1980) Versuch, Signifikate und Signifikanten als Komplementärmengen zu betrachten, bleibt bis jetzt nur ein Entwurf. Eine andere Art der Formalisierung schlägt Achim Eschbach (1986) vor, wenn er die Zeichenrelation als ein hypothetisches Urteil auffaßt, das sich relationenlogisch ausdrücken läßt, da das Zeichen Glied eines arbiträren Systems von Werten ist. Die Gleichheits- und Differenzdimension des Wertes gibt Anlaß zur Aufstellung einer transitivasymmetrischen Relation, die den logischen Schluß steuert, den die Zeichenrelation darstellt. Eschbachs Ziel ist nicht die Formalisierung der gesamten Theorie Saussures oder von Teilen derselben, es geht ihm vielmehr um die Hervorhebung einer grundlegenden semiotischen Übereinstimmung zwischen den Ansätzen von Saussure und Charles S. Peirce (1839⫺1914). Gerade unter diesem Gesichtspunkt kann man mit Amacker (1975: 11 f) auf die prinzipielle Schwierigkeit hinweisen, die die Analyse der Sprache als einer besonderen semiotischen Struktur mit sich führt, wenn man eine streng logisch-mathematische Formalisierung und keine abgeschwächte oder „weiche“ Formalisierung (Juilland und Lieb 1976) anwenden möchte: Die doppelte Gliederung der Sprache verschwindet in der einseitigen Artikulation der Formalisierung. Auf diese Schwierigkeit zielt auch die Kritik, die teils von marxistischer, teils von phänomenologischer Seite gegen die Art der Gegenstandskonstitution im von Saussure geprägten Strukturalismus gerichtet wird. In einer Reihe von Diskussionen im Frankreich der 60er Jahre (Sartre 1966; Pense´e 1967; Auzias u. a. 1970; vgl. Le´vi-Strauss 1962: 324 ff) mit Ausläufern insbesondere in Deutschland (Jaeggi 1968; Schiwy 1969; Schmidt 1971) wird der Strukturalismus bezichtigt, nur eine ahistorische formalistische Theorie der Wirklichkeit zu sein. Seine Strukturauffassung verbietet prinzipiell eine Stellungnahme zum
untersuchten Objekt als historischem Phänomen, das in einen Komplex menschlicher, subjektiver Handlungen integriert ist, in dem Intentionen, Ideologien, Machtverhältnisse und willensbestimmte Handlungen eine Rolle spielen. Weiter wird behauptet, daß diese Auslegung des Strukturalismus prinzipiell die formale Struktur mit der realen Wirklichkeit verwechsele, die daher in ihrem entfremdeten Schein akzeptiert wird. Obwohl die Debatte am heftigsten in den 60er Jahren geführt wurde, ist sie nicht neueren Ursprungs. Bereits Valentin N. Volosˇinov hatte im Jahre 1929 von einer marxistischen Position aus den „abstrakten Objektivismus“ Saussures kritisiert (Volosˇinov 1986: 58 ff). Eine solche Kritik ist später von Pierre Bourdieu (1980; 1982) wieder vorgebracht worden. Der pro-strukturalistische Marxismus von Louis Althusser (1918⫺1990) berührt sich mit Saussures Theorie nur am Rande; unter den Marxisten der sechziger Jahre verteidigt jedoch Lucien Sebag (1964) Saussures Strukturalismus als einen notwendigen Teil einer marxistischen Theorie. Gerade der arbiträre Charakter der Zeichensysteme und die doppelte Gliederung des Zeichens ist für ihn Voraussetzung für den Aufbau und die Funktion der Mythen und Ideologien. Sie ermöglichen eine selbständige Darstellung und Kritik der Bedeutung, die wir der Welt, wie sie uns erscheint, zuerkennen. So kann an dem geschichtlichen Charakter der Bedeutungsbildung festgehalten werden. Eine andere Art von Kritik an einem an Saussure orientierten Strukturalismus übt Paul Ricœur (*1913). Er konzentriert sich auf die einzigartige Handlung, durch die ein menschliches Subjekt sich zur Welt als möglicher Bedeutung hinorientiert und sich in Worten, d. h. Zeichen, ausdrückt (1969: 31⫺ 121 und 233 ff). Dies ist der Ort, an dem Bedeutung entsteht, an dem Sprachsystem und Sprachprozeß vereint werden und an dem das Subjekt geboren wird. Nach Ricœur bleibt dieses Ereignis im Horizont des strukturalistischen Gegenstandes als synchron-formalistischer Struktur unerfaßbar. Es gibt aber auch Phänomenologen, die Saussures Position verteidigt haben. In seinen Vorlesungen aus dem Jahre 1953⫺54 über „Le proble`me de la parole“, hat Maurice Merleau-Ponty (1908⫺1961) das Sprechen als Realisation des Sprachsystems angesehen, die dieses System ständig modifiziert (vgl. Vangroenweghe 1973). Das Sprechen wird als eine Grundbedingung der Stabilität oder
2060 Nicht-Stabilität des Systems aufgefaßt (Merleau-Ponty 1968: 33 ff). Daß Zeichen negativ und differentiell definiert sind, bedeutet für Merleau-Ponty nicht, daß die semiotische Analyse der Sprache ein statisch-formales System aufzwingt, impliziert aber, daß Bedeutung immer durch die Koexistenz zweier Elemente geschaffen wird (1960: 50). Ferner interpretiert er die Saussureschen Dichotomien nicht als hierarchisierende Mechanismen, sondern als dialektische Relationen (1960: 49 ff und 107 ff). Die Negativität und Differentialität der Sprache ist „un vide de´termine´“ (1960: 112), der die Bedeutung ermöglicht und erfordert. 3.2.3. Methodologische Aspekte Die marxistische wie die phänomenologische Kritik betrifft auch das Methodenproblem, welches sich daraus ergibt, daß die strukturalistische Linguistik von anderen Wissenschaften als Modell übernommen wird. Diese Übernahme beruht auf einer Analogiebildung. Wenn das ab quo der Analogie den Strukturbegriff dahingehend reduziert, daß er nur Objekte des Boudonschen Typs 1 erfaßt, wird die Übertragung in den Methoden zu einer Analyse des Untersuchungsgegenstandes nach einer binären Teilungsprozedur führen, ungeachtet des besonderen Charakters des Objekts. In den Fällen, in denen eine Analogie auf dieser Voraussetzung beruht, kann aber nur von einer Reduktion der Saussureschen Erkenntnis die Rede sein, der zufolge Sprache als semiotisches Objekt einen spezifischen Charakter besitzt, der sie von anderen semiotischen Systemen unterscheidet. 3.2.4. Claude Le´vi-Strauss Als Prügelknabe für die meisten Kritiker des Strukturalismus hat Claude Le´vi-Strauss (*1908) herhalten müssen (vgl. Art. 74 § 18. und Art. 116 § 7.). Er ist der Strukturalist, der die umfassendste Materialgrundlage bearbeitet und damit den Theorien Saussures die weitestreichenden Perspektiven eröffnet hat. Er hat sich dabei generell über die erkenntnistheoretischen, gegenstandskonstitutiven und methodologischen Probleme des Strukturalismus geäußert. Le´vi-Strauss betrachtet eine Struktur als ein logisches Modell, mit dem empirische Daten erfaßt werden können. Die Beziehungen innerhalb dieses Modells sind jedoch keineswegs mit den realen Relationen identisch, durch die die empirischen Daten miteinander
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verbunden sind (Le´vi-Strauss 1958: 43 und 305). Dieses logische Modell kann daher als gemeinsame Invariante bei der Erfassung einer langen Reihe verschiedener Kulturen oder verschiedener kultureller Teilphänomene dienen (1958: 6). In seinem ersten großen Werk auf der Grundlage dieses Prinzips, Les structures e´le´mentaires de la parente´ (Le´vi-Strauss 1949), nimmt er die strukturalistische Linguistik zum Vorbild für die Analyse der Verwandtschaftsstrukturen. Dazu versucht er, das von ihm untersuchte Objekt so zu gliedern, daß die linguistische Methodik ihm angepaßt werden kann. Die Grundlage für ein solches Vorgehen besteht nicht allein darin, daß das Sprachsystem ein System solidarischer Einheiten ist, sondern auch in der Tatsache, daß der Systembegriff ein logisches Modell für Kommunikation als Tausch symbolischer Werte liefert und daß die Werte des Systems Zeichen sind. Er bestimmt daher die Kommunikationsart, mit der er sich beschäftigen will (die Rolle des Inzesttabus im Austausch von Frauen), indem er die besonderen Zeichen festlegt, mit denen dieser Austausch operiert. Dabei handelt es sich um sekundäre Zeichen, die auf denen der Sprache aufbauen (Le´vi-Strauss 1958: 227 ff). Schließlich zeigt er, wie ein System von Transformationsregeln (1958: 306; vgl. Piaget 1968: 31), die zwischen den geschichtlich verschiedenen Kulturphänomenen vermitteln, nach deren Invarianz er sucht (Le´vi-Strauss 1973: 28 f), unter seinem Strukturbegriff zu fassen ist. Le´vi-Strauss versucht also, die geschichtliche Dimension durch Transformationsregeln direkt in die Spezifizierung der Struktur mit einzubeziehen (Le´vi-Strauss 1958: 254). Außerdem richtet sich sein Augenmerk auch auf das Subjekt, das in dem konkreten Bedeutungsprozeß die strukturbedingten semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten auf unerwartete und subjektive Weise kombiniert, und zwar in einem Bricolageprozeß, in dem „le bricoleur y met toujours quelque chose de soi“ (Le´vi-Strauss 1962: 32). Die Bedingung der Möglichkeit dieses Prozesses ist der ,esprit humain‘, die universelle menschliche Strukturierungsfähigkeit (Le´vi-Strauss 1958: 81; vgl. Le´vi-Strauss 1963). In der Saussure-Tradition gibt es noch andere Überlegungen zum Zusammenhang zwischen sprachlichen und mentalen Strukturen, die an die Humboldtsche Sprachphilosophie anknüpfen und eine Parallele zur SapirWhorf-Hypothese bilden (vgl. Art. 77 §§ 1.
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und 11.1.). Albert Sechehaye vertritt die These, daß die Sprachstruktur allein nicht hinreicht, eine spezifische Gedankenstruktur festzulegen, die dann auf die Welt der Dinge projiziert wird, sondern daß bei einer solchen Festlegung einer Weltauffassung noch andere semiotische Systeme beteiligt sind (Sechehaye 1933: 42). Eine Gedankenstruktur oder eine Weltauffassung läßt sich also nicht auf die Sprachstruktur reduzieren. Auch Viggo Brøndal (1928; vgl. Sechehaye 1941) und Emile Benveniste (1966) haben sich mit diesem Problem auseinandergesetzt. Was seine Methodologie betrifft, so beruft sich Le´vi-Strauss auf die strukturalistische Linguistik als Grundlage, die er in Zusammenarbeit mit Roman Jakobson in den 40er Jahren in den USA entwickelt hat. Er hebt dabei die Etablierung binärer Gegensätze als fundamentales Prinzip hervor (1958: 127). Jedoch zeigen seine Arbeiten, daß sein so gefaßter Strukturalismus weiter und flexibler ist, als viele Kritiker meinen. Dies wird zum Beispiel dann deutlich, wenn er sich kritisch gegen den Formalismus Vladimir Propps in dessen Analysen russischer Volksmärchen wendet (Le´vi-Strauss 1973: 139 ff). Als Albert Sechehaye 1940 die Richtlinien für drei Arten Saussurescher Linguistik formulierte, skizzierte er damit auch indirekt die Ziele für einen von Saussure geprägten Strukturalismus überhaupt: die Untersuchung der synchronen Struktur des Sprachsystems, die Analyse des geschichtlichen Wandels dieser Struktur und die Begründung einer Linguistik des Sprechens in der Absicht, die internen Zusammenhänge der Theorie und ihre Anwendbarkeit zu klären und ihr die notwendigen komplementären Begriffe zuzuführen (Sechehaye 1940: 141 f).
trierte (Benveniste 1939; Borgeaud, Bröcker und Lohmann 1942⫺43; Buyssens 1940⫺41; Gardiner 1944, Lerch 1939, Pichon 1940⫺41; Sechehaye, Bally und Frei 1940⫺41). Charles Ballys (1865⫺1947) Artikel über das Zeichen von 1939 ist in Parallele zu dieser Diskussion zu sehen, ebenso wie Niels Eges Artikel (1949) zehn Jahre danach, der die Diskussion weiterführt. Spätere Resümees stammen von Henning Spang-Hanssen (1954) und Rudolf Engler (1962; 1964). Zwei Gegensätze bestimmten diese Debatte: der zwischen sprachinternen und sprachexternen Relationen und der zwischen virtueller Sprachstruktur und aktueller Sprachproduktion. Hinsichtlich des ersten Gegensatzes markieren in der Diskussion über die korrekte Interpretation des Arbitraritätsbegriffes Emile Benveniste und Niels Ege zwei Extrempositionen. Emile Benveniste versucht in seinem Artikel „Nature du signe linguistique“ (1939) den erkenntnistheoretischen Aspekt, der an die Relation zwischen Zeichen und Sache gebunden ist, von dem gegenstandskonstitutiven Aspekt zu trennen, der die Relation zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten betrifft, durch die die Sprache als Struktur mit Bedeutung versehen wird. Bei Saussure seien diese Relationen vermischt, hebt Benveniste hervor, so daß die Relation zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten, die allein linguistisch relevant sei, nicht hinreichend genau charakterisiert werden kann. Die Arbitrarität betrifft nach Benveniste nur die sprachexterne Relation. Die Linguistik befasse sich aber nur mit der internen Zeichenrelation, die Benveniste als für die Sprachgemeinschaft notwendig charakterisiert. Niels Ege behauptet im Gegensatz dazu, daß Saussure sich durchaus präzise ausdrücke: Die sprachexterne Relation habe überhaupt keinen Bezug zum Arbitraritätsbegriff; das Zeichen sei in seiner Immanenz arbiträr. Ege meint, daß Benveniste das letzte il im folgenden Zitat falsch lese; il verweise nicht auf le signe, sondern le signifiant: „Le mot arbitraire […] ne doit pas donner l’ide´e que le signifiant de´pend du libre choix du sujet parlant (on verra plus bas qu’il n’est pas au pouvoir de l’individu de rien changer a` un signe une fois e´tabli dans un groupe linguistique); nous voulons dire qu’il est immotive´, c’est-a`-dire arbitraire par rapport au signifie´, avec lequel il n’a aucune attache naturelle dans la rea´lite´“ (Engler 1968: 155).
3.3. Die Weiterentwicklung des Zeichenbegriffs Innerhalb der Semiotik ist der Zeichenbegriff in zwei Richtungen weiterentwickelt worden (Koerner 1972 a). Erstens hat man versucht, Unklarheiten in Saussures Formulierungen der grundlegenden Eigenschaften des Zeichens zu beseitigen. Zweitens ist der Zeichenbegriff aus der Linguistik auf andere, nichtlinguistische Gebiete übertragen worden. 3.3.1. Die Debatte in den Acta Linguistica In den ersten vier Heften der Acta Linguistica (1939⫺1944) entfaltete sich eine exemplarische Diskussion des Zeichenbegriffs, die sich auf das Problem der Arbitrarität konzen-
2062 Ungeachtet ihrer Differenzen sind sich Ege und Benveniste hinsichtlich der methodologischen Konsequenzen ihrer Analysen einig: Die Linguistik beschäftige sich mit der internen Analyse jeder Sprache als einer Struktur von Werten. Im Gegensatz zu Ege hält Eugen Lerch (1888⫺1952) daran fest, daß nach Saussure die Arbitrarität die sprachexterne Relation betrifft ⫺ eine Auffassung, die durch die später entdeckten Notizen und Quellen bestätigt wird. Während Edouard Pichon (1940⫺41) die Eliminierung des Arbitraritätsbegriffs akzeptiert, wird die Arbitrarität von den Erben Saussures in Genf gegenüber Benveniste verteidigt (Sechehaye, Bally und Frei 1940⫺41). Auf eine eher pragmatische Weiterentwicklung der Theorien von Saussure, die den Gegensatz zwischen potentieller Struktur und aktueller Sprachproduktion betont, zielen die übrigen Artikel der Acta Linguistica sowie Charles Ballys Überlegungen zum Zeichen. Eric Buyssens (1940⫺41) sieht den Möglichkeitscharakter der Sprache nicht primär als sprachliche Immanenz, sondern als Bedingung der Sprachproduktion. Die Doppelseitigkeit von Arbitrarität und Motivation bedeutet damit, daß sprachliche Zeichen im Verhältnis zu nichtsprachlichen Zeichen definiert sind und immer mit diesen zusammen funktionieren. Borgeaud, Bröcker und Lohmann (1942⫺43) behaupten, daß die Ideenassoziationen, die sich durch die Sprachanwendung manifestieren, eine Objekt-Welt als Bedeutung artikulieren. Alan Gardiner (1944) hebt hervor, daß Saussure „motiviert“ als Gegensatz zu „arbiträr“ auffaßt, während Benveniste „arbiträr“ als Gegensatz zu „fest“ oder, wie er sagt, „notwendig“, versteht. Nach ihm macht nur der Prozeß der Kommunikation oder „the intersubjectivity known as speech“ (1944: 109) die Zeichenrelation notwendig, weil materielle Zeichen den Adressaten eine Reihe von Bedeutungen ins Bewußtsein rufen, die Erinnerungen an reale Erfahrungen aktualisieren. Damit nähert sich Gardiner der sehr ins Einzelne gehenden Analyse des Signifikanten, die Charles Bally in einem Artikel darlegt, der gleichzeitig mit dem Benvenistes erschienen ist: „Qu’est-ce qu’un signe?“ (Bally 1939). Das realisierte Zeichen kann als Faktum oder als Akt verstanden werden. Ein Faktum wird als kausal bedingt, ein Akt als intentionales Phänomen aufgefaßt. In beiden Fällen kann ein Zeichen Bedeutung schaffen: im ersten Fall als Index, im zweiten als Zei-
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chen. In einem gegebenen Kommunikationsprozeß besitzt der sprachliche Ausdruck immer beide Eigenschaften, so daß nun ein Zeichen hinsichtlich dieser beiden Aspekte in der Interpretation des Kommunikationsprozesses selbst näher bestimmt wird. Da der Signifikant als Index eine motivierte Relation zum Signifikat hat, während der Signifikant als Zeichen eine arbiträre besitzt, verlangt eine solche nähere Bestimmung eine konkrete Entscheidung, die Teil der Dynamik des Kommunikationsprozesses ist. Ballys Interesse für Stilistik und andere Phänomene innerhalb der parole-Dimension der Sprache hängen mit dieser Interpretation des Zeichens zusammen und machen ihn zu einem Vorläufer der linguistischen Pragmatik (Ducrot 1986). Die erkenntnistheoretische und pragmatische Ausrichtung ist für die erste Phase der Diskussion des Saussureschen Zeichenbegriffs kennzeichnend und läßt die semiotische Tragweite dieses Begriffs erkennen. Sie zeigt sich aber auch in den semiotisch bedeutsamen Entwicklungen der späteren Auseinandersetzung um diesen Begriff (vgl. Posner 1993). Als Beispiele hierfür seien Luis Prietos überwiegend pragmatische und Jacques Derridas überwiegend erkenntnistheoretische Theorieansätze angeführt. 3.3.2. Luis Prieto und Jacques Derrida Der Ausgangspunkt für eine semiotisch erweiterte Interpretation Saussures bei Luis J. Prieto (1926⫺1996) ist der konkrete Kommunikationsprozeß. In ihm übermittelt der Sender Signale, d. h. individuelle und unmittelbar perzipierbare Indizes für eine Intention, welche vom Empfänger wiederum als die Absicht aufgefaßt werden kann, Bedeutung zu übertragen. Diese Bedeutung bezeichnet Prieto als „Nachricht“ („message“ oder einfach „sens“; Prieto 1966; 1968; 1975). Bei dieser Auffassung, die den instrumentellen Charakter der Sprache hervorhebt, ist es für Prieto naheliegend, die sprachlichen Signale als Elemente einer Klasse von Instrumenten oder Werkzeugen anzusehen, mit denen Menschen im allgemeinen Handlungen durchführen (Prieto 1975: 61 f). In allen Handlungen werden Werkzeuge angewandt, mit denen bestimmte Vorstellungen realisiert werden. In der Sprache ist das Signal Werkzeug und die Nachricht die realisierte Vorstellung. Die Werkzeuge werden in Klassen von Operanten eingeteilt. Das Signal wird als Realisierung eines sprachlichen Operanten
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analysiert, der Teil der bedeutungsübermittelnden Handlung ist. Diese stellt einen semischen Akt dar, dessen Realisierung im Falle der Sprache als „parole“ bezeichnet wird. Die Voraussetzung für das Funktionieren von Werkzeugen, zu denen die Signale zählen, ist ihre Klassifizierbarkeit als Elemente einer Klasse, d. h. eines Operanten. Der Signifikant ist ein solcher Operant. Dies erlaubt es, die intendierte Bedeutung der Realisation des Signifikanten im Verhältnis zu den Bedeutungsmöglichkeiten zu bestimmen, die der Signifikant gemäß dem Kode besitzt, dem er angehört. Im sprachlichen Bereich ist dieser Kode dadurch gekennzeichnet, daß Signifikant und Signifikat durch eine doppelte Gliederung miteinander verbunden sind. Das Signifikat ist hier die bestimmte Bedeutung, die im Kommunikationsprozeß festgelegt wird (Prieto 1975: 29), indem sie aus den durch den Kode fixierten Bedeutungsmöglichkeiten ausgewählt wird, d. h. aus dem gesamten noetischen Feld, das der Kode zur Verfügung stellt. Die Einheit von Signifikat und Signifikant ist ein Sem, d. h. ein Zeichen mit doppelter Gliederung. Hierin ist Prieto von Eric Buyssens beeinflußt. Er sieht das sprachliche Zeichen stets als in einen generellen Zeichenprozeß integriert, in dem neben den sprachlichen auch noch andere Zeichen eine Rolle spielen (vgl. Blanke und Posner 1998). Mit seiner instrumentalistischen Grundhaltung unterstreicht jedoch Prieto noch stärker als Buyssens den sozialen Handlungscharakter von Sprache. Im Gegensatz zu Prieto betont Jacques Derrida (*1930) in seiner Analyse des Zeichenbegriffs nicht den konkreten Sprechakt, sondern stellt die konstitutiven Eigentümlichkeiten aller Bedeutungsproduktion in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Derridas Beschäftigung mit der strukturalistischen Linguistik ist nur ein Bruchteil seines weit umfassenderen Vorhabens: eine Analyse der Bedingungen und Ausdrucksformen der Metaphysik zu liefern, die ihren Ausgangspunkt in der Phänomenologie nimmt, speziell in derjenigen Husserls (Derrida 1962 und 1967 a). Er hebt hier besonders die Rolle hervor, die das Zeichen, insbesondere das sprachliche Zeichen, spielt. Derrida zufolge besteht die Metaphysik in dem ständigen Bestreben, eine Erkenntnis vom Wesen des Seienden zu erreichen. Da sich das Wesen des Seienden nicht direkt manifestiert, kann die angestrebte Erkenntnis nur durch Zeichenprozesse erreicht werden.
Das sprachliche Zeichen funktioniert hier als Zeichen par excellence, d. h. als Zeichen, mit Hilfe dessen die absolute Erkenntnis faktisch stattfinden kann. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: entweder dadurch, daß die Ausdrucksseite des Zeichens, seine materielle Vorläufigkeit, eliminiert wird, so daß der Inhalt isoliert im Bewußtsein zurückbleibt; oder dadurch, daß das Zeichen als Einheit von Ausdruck und Inhalt Teil einer Struktur ist, die den Inhalt über den Ausdruck in eine Hierarchie einordnet. In seiner Analyse Saussures (Derrida 1967 b) und des Strukturalismus (Derrida 1967 c) weist Derrida auf dessen metaphysische Grundlage hin (Strozier 1988), die darin besteht, daß die Bildung eines „signifie´ transcendantal“ vorausgesetzt wird (Derrida 1967 b: 37 f), d. h. eines Inhalts mit universaler Geltung jenseits des Zeichenuniversums. Saussure schreibt ja selbst in seinen Notizen: „Si l’un des deux coˆte´s du signe linguistique pouvait passer pour *avoir+ une existence en soi, ce serait le coˆte´ conceptuel, l’ide´e comme base du signe“ (Engler 1968: 178). Derridas Analyse zielt darauf ab zu zeigen, daß sich die philosophischen Ziele der Metaphysik wegen ihrer Inkonsistenz prinzipiell nicht realisieren lassen und daß hierin ein erkenntnistheoretisches Grundproblem für jeden metaphysischen Ansatz bestehe. Eine solche Analyse wird „Dekonstruktion“ genannt (siehe Art. 122 § 5.). In Verbindung mit dem Zeichenbegriff weist Derrida darauf hin, daß Saussure in Fortsetzung einer langen Tradition vom Vorrang der gesprochenen Sprache vor der geschriebenen ausgeht. Derrida sieht den Grund hierfür in der Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache, die ja in dem Augenblick spurlos verschwindet, in dem sie gesprochen wird, während die Schrift in ihrer Materialität beispielhaft daran festhält, daß sich der Zeichenprozeß prinzipiell nie zugunsten absoluter Erkenntnis auf ein transzendentales Signifikat reduzieren läßt. Jede Erkenntnis ist daher unlösbar an die Bedingung geknüpft, daß der Zeichenprozeß im Prinzip fortgesetzt wird, d. h. daß der Inhalt des Zeichens nicht primär dadurch gekennzeichnet ist, Inhalt zu sein, sondern dadurch, ausgedrückt zu werden. Da die Schrift als materielle und geschichtliche Tatsache das wichtigste Beispiel der unreduzierbar geschichtlichen und materiellen Bedingtheit der Erkenntnis ist, wird die Grundbedingung der Erkenntnis „generalisierende Schrift“ genannt. Von dieser ist die
2064 sprachliche Schrift nur ein, der menschliche Körper ein anderes Beispiel. Derrida (1967 b: 57) weist in diesem Zusammenhang auf die Anagramm-Analysen Saussures hin. In diesen Analysen (Starobinski 1971) untersucht Saussure eine Reihe lateinischer Gedichte, um zu zeigen, daß Signifikanten einen selbständigen Kode entwikkeln können, in dem sie Bedeutungen besitzen, die den Gedankengang der Signifikate fortsetzen oder aber ihm widersprechen. Diese Verselbständigung der Ausdrucksseite möchte Saussure jedoch einer einheitlichen inhaltsorientierten Intention des Verfassers zuschreiben. Anagrammanalysen stellen daher ein Beispiel für den von Derrida behaupteten Widerspruch dar: Auf der einen Seite wird an der Unreduzierbarkeit des Signifikanten und an seiner übergeordneten hierarchischen Plazierung in der Bedeutungsbildung festgehalten, auf der anderen Seite wird die dichterische Intention als transzendentales Signifikat angenommen. Das sprachliche Zeichen ist nach den Erweiterungen des Saussureschen Zeichenbegriffs durch Prieto und Derrida lediglich als Sonderfall jedes Zeichens zu betrachten, und daher sind auch die sprachlichen Zeichensysteme stets in ihrem Verhältnis zu anderen Typen von Zeichen (gestischen, visuellen usw.) zu sehen. Prieto und Derrida haben damit, jeder auf seine Weise, zur Verwirklichung des Saussureschen Programms beigetragen, eine Semiotik zu entwickeln, innerhalb derer die Linguistik als Teildisziplin ihren Platz findet. Andere sind diesem Programm in anderer Weise gefolgt, insbesondere durch die Untersuchung der sprachlichen Zeichensysteme unter einem anderen als dem rein linguistischen Aspekt (Literatur, Mythen, Massenmedien), durch die Analyse visueller Zeichensysteme (Architektur, Kunst) oder verbalvisueller Hybridformen (Film, Werbung); siehe die entsprechenden Artikel in Kap. XIV und XV. Den Durchbruch zu diesen weitreichenden kultursemiotischen Verallgemeinerungen des Zeichenbegriffs hat in den 60er Jahren Roland Barthes (1915⫺1980) erzielt. In seinen Ele´ments de se´miologie (1964 b) stellte er die Saussureschen Grundbegriffe und Dichotomien unter einem generalisierenden Gesichtspunkt dar, den er selbst bereits in Mythologies (1957) und Syste`me de la mode (1967) ausgenutzt hatte. Aber er setzte dabei eine Umkehrung des von Saussure definierten Verhältnisses zwischen Linguistik und Semio-
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tik voraus: Für Barthes ist die Semiotik Teil der Linguistik (1964 a: 2). Wenn er die semiotischen Grundprinzipien von einem methodologischen Gesichtspunkt aus betrachtete, diente ihm als Ausgangspunkt Hjelmslevs glossematischer Zeichenbegriff (siehe Art. 117). Die glossematische Interpretation des Saussureschen Zeichenbegriffs war auch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Kultursemiotik von Jurij M. Lotman (1922⫺1995). Obwohl sprachliche Zeichensysteme in der Dynamik jeder Kultur eine zentrale Rolle spielen, vermeidet Lotman die völlige Parallelisierung allgemein kultureller Zeichen mit sprachlichen Zeichen. Texte sind für ihn Makrozeichen, doch legt er Wert auf die Feststellung, daß ihre Strukturinvarianten nicht zum sprachlichen Zeichensystem gehören, da sie ja bei intersemiotischer Übersetzung (vgl. Art. 116 § 4.) erhalten bleiben. Die wesentliche Rolle der Sprache sieht er in ihrer Fähigkeit, ständig neue Metaebenen zu schaffen. Wenn zum Beispiel eine Anweisung für Fahrschüler in einen Roman oder einen Film aufgenommen wird, kann sie dazu dienen, die Einstellung der betreffenden Kultur zum Körperverhalten zu symbolisieren. Den Übergang von der ursprünglichen Funktion des Textes zu seiner Rolle in dem neuen Kontext erfaßt Lotman mit der Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem modellierenden System. Die kulturellen Invarianten, die eine bestimmte Kultur ausmachen, sind gerade jene Merkmale, die in der Hierarchie der modellierenden Systeme erhalten bleiben (Lotman 1990; Grzybek 1989; vgl. Art. 118). Da Saussure selbst Psychologie und Soziologie als die nächsten Nachbarn der Linguistik ansah, soll hier abschließend auf einige Anwendungen seines Zeichenbegriffs auf diese beiden Gebiete hingewiesen werden. 3.3.3. Psychologische Aspekte In den Werken von Jean Piaget (1896⫺1980), die vielfach in Zusammenarbeit mit Bärbel Inhelder entstanden sind, wird eine Theorie der psychischen Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ungefähr zum vierzehnten Lebensjahr entwickelt, in der eine Erweiterung des Saussureschen Zeichenbegriffs eine wichtige Rolle spielt (vgl. das Übersichtswerk Piaget und Inhelder 1966). Piaget teilt die psychische Entwicklung nach der Art und Weise, wie das Kind seine Wirklichkeit konstruiert, in drei Phasen ein. In der ersten, der
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senso-motorischen Phase, ist das Verhalten des Kindes an die Wahrnehmung von Objekten gebunden, die konkret zugegen sind, während in der nächsten, der symbolischen Phase, der Gebrauch solcher Elemente erworben wird, mittels derer das Kind sich auch zu Objekten verhalten kann, die in der konkreten Situation nicht anwesend sind. In der letzten, der konzeptuellen Phase, lernt das Kind eine Umweltrelation durch logische und formale Operationen, die auf der Klassifikation von Phänomenen und Symbolen, also auf Fähigkeiten des Abstrahierens beruhen. Jede Phase ist eine Erweiterung der vorhergehenden, die sie in modifizierender Weise in sich aufnimmt. Der Erwerb semiotischer Fähigkeiten im Verlauf dieses Prozesses hat zwei Aspekte: Erstens besteht der interne psychologische Prozeß, in dem Intelligenz und Abstraktionsvermögen entwickelt werden, im Aufbau einer Beziehung zur externen Wirklichkeit. Zweitens führt die Imitation dieser Wirklichkeit dabei zur Ausbildung mentaler Repräsentationen. Der Erwerb von motivierten Zeichen, also von Symbolen in Saussures Terminologie (siehe oben § 2.3.), ist daher für die Ausbildung semiotischer Fähigkeiten grundlegend. Er setzt die präsymbolische senso-motorische Phase voraus und bereitet die post-symbolische logische Phase vor, in der dann auch arbiträre Zeichen auftreten. Piaget rückt also mit der Hervorhebung der Rolle, die Symbole in der kognitiven Entwicklung spielen, von Saussure ab, der ja stets das Vorherrschen arbiträrer Zeichen in der Sprache betont hat. Die gesamte DreiPhasen-Entwicklung beruht auf einer repräsentationellen und konstruktiven Umweltrelation und damit auf Zeichenprozessen. Nach Piaget und Inhelder (1966: Kap. 3) setzt der Erwerb symbolischer Funktionen in der mittleren Phase ein, in der auch der Beginn des Spracherwerbs zu lokalisieren ist. Die beiden anderen Phasen sind für den Aufbau semiotischer Kompetenz ebenfalls relevant, denn Piaget legt einen allgemeinen dreigliedrigen Zeichenbegriff zugrunde, den er aus Saussure entwickelt und der sprachlichen Zeichen keine Sonderrolle einräumt. Piagets Interesse am Symbolbegriff zeigt sich schon früh (Piaget 1923). Mit dem Saussureschen Zeichenbegriff setzt er sich zunächst in La naissance de l’intelligence chez l’enfant (1936) auseinander und kommt auch in seinen späteren Arbeiten, besonders in La formation du symbole chez l’enfant (1945), in
La psychologie de l’enfant (1966) und in Le structuralisme (1968) immer wieder darauf zurück. Piaget faßt den Aufbau der Umweltrelation als Prozeß der Bedeutungsbildung auf, in dem Zeichen konstituiert werden, die er als Vereinigung von Signifikant und Signifikat definiert (Piaget 1936: 194). In der senso-motorischen Phase ist der Signifikant das perzipierte Objekt (z. B. eine Hausfassade), und das Signifikat das totale Objekt (also das ganze Haus). Dieses Signifikat wird nach sensorischen Repräsentationsschemata auf der Grundlage derjenigen Eigenschaften konstruiert, die tatsächlich wahrgenommen worden sind. Den Signifikanten nennt Piaget in diesem Fall einen „Index“ (1936: 195 f). Er grenzt Indizes, die sich intentional auf noch nicht existente Objekte beziehen, von Signalen ab, die auf Objekte desselben Raum-ZeitGebiets verweisen (so ist zum Beispiel ein Hammer Index einer Reihe möglicher Operationen). Ein Symbol ist ein mentaler oder materieller Signifikant, der intentional auf einen Gegenstand hinweist, der nicht unbedingt zugegen sein muß. Der Symbolgebrauch setzt daher eine Art Repräsentation voraus, d. h. eine Relation zu einem vom Symbol verschiedenen Gegenstand gemäß den Schemata der senso-motorischen Phase. Das Symbol ist also motiviert, setzt aber zugleich den Gebrauch selbständig artikulierter Signifikanten voraus. Insbesondere bei der Analyse von Kinderzeichnungen läßt sich erkennen, wie das senso-motorische Entwicklungsniveau auf diese Weise in das symbolische übergeht und damit in die gesamte semiotische Entwicklung eingebunden wird (Piaget und Inhelder 1948; vgl. Krampen 1986 und Norgren 1985). Der arbiträre Signifikant funktioniert nur darum als Zeichen, weil seine Referenz auf einer kollektiven Konvention beruht. Piaget nennt ihn auch „kollektives Symbol“ und hebt gleichzeitig hervor, daß das motivierte Symbol und das arbiträre Zeichen „deux poˆles, individuel et social, d’une meˆme e´laboration des significations“ sind (Piaget 1936: 196). Wenn Piaget seine dreiteilige Zeichenklassifikation vom Signifikanten ausgehend aufbaut, arbeitet er auf der Ebene der Saussureschen unite´s concre`tes, der manifesten Zeichen, und hebt dadurch die pragmatische Dimension hervor. Die Klassifikation ist somit eine Klassifikation von semiotischen Funktionen, nicht von Elementen: Die weiße Farbe kann sowohl als Index für Schnee gelten, als auch als Symbol für Kälte (vorausge-
2066 setzt, daß eine motivierte Bindung zwischen Schnee und Kälte besteht), und sie kann auch als Zeichen für Trauer gelten (wieder vorausgesetzt, daß eine spezifische soziale Konvention und damit eine arbiträre Differenzierung der Farben als Signifikanten besteht). Diese pragmatische Auffassung des Zeichenbegriffs ist auch für Luis Prietos Saussure-Interpretation wesentlich, die von den Psychotherapeuten Maria Gear und Ernesto Liendo (1975) auf Probleme der Psychiatrie angewendet worden ist. In einem psychoanalytischen Ansatz in der Tradition Melanie Kleins (1882⫺1960) behandeln sie den Narzißmus als den pathologischen Zustand, dessen Grundprobleme das Geburtstrauma und die Angst vor dem Objektverlust sind. Ihr semiotischer Ausgangspunkt ist dabei Saussures Begriff vom Zeichen als einer psychischen Einheit von Signifikant und Signifikat, die sie aus einer pragmatischen Perspektive von der Dichotomie zwischen langue und parole her sehen. Sie bauen dabei einerseits auf Prietos Theorie vom semischen Akt auf und orientieren sich andererseits an Gregory Batesons Theorie vom double bind. Speziell für die Verwendung dieser Theorien in der Psychotherapie werden Schemata für eine intrapsychische Doppelkommunikation entwickelt, die anhand einiger Fallstudien exemplifiziert wird. Gear und Liendo gehen von einem Konflikt zwischen einer frontalen und einer obliquen Struktur in der Doppelkommunikation aus. Bestimmte Objekte werden als Signale für bestimmte affektive Nachrichten verstanden (beispielsweise rufen bestimmte Vorstellungen, Personen oder Dinge Angst hervor). Die Nachricht setzt sich dabei vermittels einer Struktur von Repräsentationen durch, die ihrerseits auf Erinnerungsspuren beruhen. Hiermit wird jene Klassifikation ermöglicht, die nach Prietos Auffassung erst Signifikanten schafft, die sich mit Signifikaten verbinden lassen. Dieselben Objekte können nun aber auch zugleich Signale anderer Nachrichten sein, die nicht gleichzeitig bewußt sein können. Wenn die erste Nachricht frontal ist, ist die zweite oblique. Der psychische Konflikt wird als eine Störung der semiotischen Kodierung verstanden, die bei gleichzeitiger Konfrontation mit einer frontalen und einer obliquen Struktur eintritt. In diesem Fall lassen sich die Signale nicht in Signifikanten umsetzen, und es lassen sich keine Nachrichten aus Signifikaten gewinnen.
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Jacques Lacan (1901⫺1981) hat 1960 noch nicht wissen können, daß Saussure den Signifikanten als „toten Körper des Zeichens“ beschrieben hat („Apose`me ⫽ cadavre de se`me“; Engler 1974: 37), als er schrieb: „Sans doute le cadavre est-il bien un signifiant […]“ (Lacan 1966: 818). Im Gegensatz zu Piaget sowie Gear und Liendo interessiert sich Lacan nicht für den Stellenwert des Zeichens im Kommunikationsprozeß oder in einem psychischen Entwicklungsprozeß (Goeppert und Goeppert 1973: 91 ff). Im geht es vielmehr darum, den Begriff des Signifikanten für ein Verständnis der Rolle nutzbar zu machen, die der Körper in der Konstitution des Subjektes selbst spielt. Im Unterschied zu den oben erwähnten Psychologen geht es Lacan in erster Linie um eine Reinterpretation des Signifikanten als unite´ abstraite, die ausschließlich negativ, kraft der durch sie gesetzten Unterschiede definiert wird. Lacan interpretiert den Signifikanten als dem Signifikat übergeordnet (vgl. Lacan 1966: 493 ff und 793 ff), womit die Dualität des Zeichens aufgelöst und eine Betrachtung des Signifikanten als autonomer Größe ermöglicht wird (vgl. Arrive´ 1986). Da das Zeichen keine ungeteilte Identität besitzt, ist es primär durch den Signifikanten bedingt, dessen grundlegende Funktion eine diakritische ist. Indem er aber diese diakritische Funktion ausübt, schafft er Bedeutung, d. h. ganze Zeichen, deren Totalität somit durch die Verdrängung des fundamentalen Unterschiedes zwischen Signifikant und Signifikat bedingt ist. Die skizzierte Auffassung vom Signifikanten überträgt Lacan auf den Körper: Dieser markiert als Signifikant einen Unterschied, eine Grenze zwischen einem Ich und all dem, was vom Ich verschieden ist. Damit gibt er aber zugleich auch eine Möglichkeit, diesen Unterschied zu überwinden und Ich und Nicht-Ich, falls diese nur unbewußt unterschieden werden, miteinander in Beziehung zu setzen. Durch diesen Prozeß wird das Subjekt konstituiert und in eine Symbolstruktur eingesetzt. In der Auffassung, nach der das Subjekt sich im Verhältnis zum Anderen konstituiert, ist Lacan von Hegel beeinflußt (Lacan 1966: 793 f), während die Konzeption des Körpers als Signifikanten auf Freuds Triebtheorie zurückgeht, insbesondere was die Rolle von Kastration und von Kastrationsangst hierbei angeht. Für Lacan ist der Phallus der ultimative körperliche Signifikant (vgl. Art. 92).
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Aber der Phallus ist nicht Signifikant für das Signifikat Maskulinität. Er markiert vielmehr den Unterschied selbst, der den Körper, d. h. jeden Körper, allererst zu einem möglichen Subjekt macht. Der Phallus ist das Zeichen dafür, daß jeder Körper einen Mangel besitzt, der bewirkt, daß der Körper durch Verdrängung der Kastrationsangst zum Subjekt werden kann. Diese Angst versteht Lacan als Angst davor, die Möglichkeit zu verlieren, sich als Subjekt zu dem verhalten zu können, was von einem selbst verschieden ist. Nur hierdurch kann sich das Subjekt konstituieren. Die Subjekte artikulieren nach Lacan ihren gegenseitigen Mangel in ihrer subjektiven Begierde (de´sir) nach dem Anderen. Die Subjekte sind Signifikanten ihrer gegenseitigen Mängel: Ohne den Körper, der diesen Mangel (und damit zugleich den Phallus als negierbaren oder ‘kastrierbaren’) ausdrückt, fehlt dem Phallus der Inhalt ‘Maskulinität’. Wenn der Phallus somit den generellen, subjektkonstituierenden Unterschied und nicht das spezifisch maskuline Geschlechtsmerkmal darstellt, können viele andere materielle Phänomene an die Stelle des Phallus treten. Aber es ist der Phallus, der als unite´ abstraite die Serie von Verschiebungen und Verdichtungen (um die Terminologie Freuds zu verwenden) zwischen Signifikanten bedingt, die Lacan unter dem Einfluß von Roman Jakobson (siehe Art. 116) als metonymische und metaphorische Prozesse (1966: 511 ff) auffaßt. Der Phallus ist daher „tout instrument qui, dans la fantaisie inconsciente du Moi, lui permet de convertir en contenu“ (Gear und Liendo 1975: 118; vgl. Art. 130).
geht von der marxistischen Auffassung des Arbeitsprozesses als eines gesellschaftsbildenden Vorgangs aus. Rossi-Landi lehnt Saussures Begriff vom Sprechen als individualistische Auffassung des sprachlichen Prozesses ab (1977: 139). Die sprachliche Arbeit, durch die sprachliche Werte geschaffen werden, muß vielmehr im umfassenderen Rahmen einer Theorie der Arbeit gesehen werden. Rossi-Landi lehnt jedoch auch die einfache Analogie zwischen dem Zeichen und der Ware als Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert ab (1977: 131 f). Stattdessen versucht er, die Sprachproduktion als einen komplexen Zusammenhang auf mehreren Wertebenen zu verstehen, wobei der doppelte Charakter von Gebrauchswert und Tauschwert den grundlegenden Gegensatz darstellt (1977: 197 und 158 ff). Der Gebrauchswert eines Zeichens ist die Art und Weise, wie das Zeichen kommunikative Bedürfnisse deckt, während sein Tauschwert durch seine Stellung innerhalb der synchronen Struktur substituierbarer Bedeutungen bestimmt ist. Diese Struktur ist selbst Ergebnis der sprachlichen Arbeit, durch die die Gebrauchswerte materialisiert werden (1977: 139 ff; siehe auch Art. 113 § 5.). Während Emile Benveniste mit RossiLandi in der Hervorhebung der Homologie zwischen sprachlichem und ökonomischem Zeichenaustausch im Rahmen materieller Prozesse (Benveniste 1974: 101 f) übereinstimmt, ist Henri Lefebvres einfache Analogie zwischen der Ware und dem Zeichen (Lefebvre 1966: 342) eher den Analysen von Jean Baudrillard und Jean-Joseph Goux verwandt. Baudrillard legt Wert auf die Feststellung, daß das Verhältnis von Tauschwert und Gebrauchswert bei Marx in einer Analyse der Warenform entwickelt wird und nicht das materielle Objekt betrifft, das die Warenform annimmt. Signifikant und Signifikat sind ebenfalls abstrakte unite´s, die gemeinsam das Zeichen als Form konstituieren. Ware und Zeichen sind somit als Formen einander analog, und die Funktion der Ware kann daher mit denselben Mitteln wie semiotische Systeme analysiert werden (Baudrillard 1972). Baudrillards theoretischer Ansatz weist in dieselbe Richtung wie die Zeichenanalyse Derridas und Lacans: Es gibt hinter den Zeichen keine absolut wahre Bedeutung, auf die diese hinweisen, sondern nur einen Zeichenprozeß; und es gibt kein absolutes, fundamentales Bedürfnis als Voraussetzung für die
3.3.4. Soziologische Aspekte Die soziologische Saussure-Rezeption hat ihren Ausgangspunkt in der Auffassung des Zeichens als Wert genommen. Obwohl Saussure selbst auf die ökonomische Metaphorik des Wertbegriff hinweist (vgl. z. B. Engler 1968: 267), ist ein direkter Einfluß seitens der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft (z. B. Le´on Walras; siehe Piaget 1968: 65 und Pariente 1969: 20) nicht nachgewiesen worden (Koerner 1973: 67 ff). Ebenso bezeugen gemeinsame Gedankengänge bei Saussure und Soziologen wie Emile Durkheim und Gabriel Tarde eher die Zugehörigkeit zur selben wissenschaftsgeschichtlichen Tradition als wechselseitige Einflüsse. Der Versuch von Ferruccio Rossi-Landi (1921⫺1985), Linguistik und Ökonomie miteinander zu verbinden (Rossi-Landi 1977),
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XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Gebrauchswerte, sondern nur einen phantasmatischen Prozeß, dessen Symbol ein solches Bedürfnis ist. Die soziale Struktur von Zeichen und Waren ist daher eine offene Struktur ohne Zentrum. Jean-Joseph Goux faßt in seinem Buch Economie et symbolique (1973), in dem er vor allem Psychoanalyse und Soziologie zu vereinen sucht, den sprachlichen Signifikanten lediglich als Spezialfall eines Signifikanten auf. Nach ihm macht der Signifikant das Material erst zur Form, so daß Substitutionen möglich werden. Als Element einer formalen Substitutionslogik ist der Signifikant exemplarisch für den Zusammenhang zwischen Realem und Symbolischem, der die ganze soziale Struktur durchdringt (Goux 1973: 26 ff). In seinen Überlegungen zur Anwendung des Wertbegriffs auf das Zeichen verwendet Saussure selbst eine Analogie zwischen Sprache und Stadt (Engler 1968: 245). Die Möglichkeit, diese Analogie in der Analyse von Urbanität und Architektur auszunützen, diskutieren Carlini und Schneider (1976) in der Zeitschrift Konzept, wobei sie die Auffassung der traditionellen Stadtsoziologie zugrunde legen, daß jede Stadt ein geschlossenes Zeichensystem ist.
4.
Saussure und Peirce
Als einflußreichster unter den Begründern der modernen europäischen Semiotik ist Saussure häufig mit Charles Sanders Peirce (1839⫺1914) als dem Begründer der amerikanischen Semiotik verglichen worden. Innerhalb der Peirce-Tradition ist jedoch die Rezeption Saussures, die sich zudem in den meisten Fällen lediglich auf die ursprüngliche Ausgabe des Cours de linguistique ge´ne´rale gestützt hat, weitgehend ohne Folgen geblieben. (Andererseits weist die Peirce-Rezeption in der Saussureschen Tradition auch nicht immer Spuren sorgfältiger Aneignung auf; z. B. Guiraud 1971). Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Semiotikern wird häufig darin gesehen, daß die Zeichenrelation Saussures zweistellig, die von Peirce jedoch dreistellig ist, wobei die höherstellige auch für die adäquatere gehalten wird (vgl. jedoch Krampen 1988). Im Gegensatz zur Theorie von Peirce, die auf einem triadischen Zeichenmodell aufbaut, sei die Theorie Saussures, die von einem dyadischen ausgeht, reduktionistisch (Deledalle 1976 a und 1976 b). Saussures Semiotik
wird infolgedessen, vor allem wenn sie von ihrer glossematischen Weiterentwicklung her beurteilt wird (Johansen 1993: Kap. 1), als formalistisch eingestuft (Ransdell 1980 und Pharies 1987), während die Semiotik von Peirce die Objektrelation nicht unterschlage, sondern in die Zeichendefinition integriere. Schließlich wird der Gegenstand der Semiotik Saussures als eine statische Zeichenstruktur aufgefaßt, während Peirce sich gerade auf den logischen Zeichenprozeß konzentriere (Innis 1985: 24 f). Nicht alle Semiotiker sehen jedoch in Peirce und Saussure unvereinbare Gegensätze, manchmal werden sie auch als einander ergänzend und sich in einer Reihe von Punkten berührend angesehen (vgl. Boon 1979: 86 ff). So ist bemerkt worden, daß ein Teil der Unterschiede zwischen ihnen nicht so sehr von Differenzen bezüglich grundlegender semiotischer Fragen herrühren, sondern weit eher auf Grund ihres unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Hintergrunds als Logiker bzw. Linguist zu erklären sind (vgl. Singer 1984: 39 ff). Dieser Unterschied in ihren wissenschaftlichen Arbeitsbereichen bedingt natürlich, daß sie bei der Behandlung semiotischer Grundlagenprobleme auch von unterschiedlichen impliziten oder nur schwach explizierten theoretischen Voraussetzungen ausgehen; dennoch gehen sie dieselben Probleme lediglich von verschiedenen Seiten her an. Während die allgemeine Zeichentheorie von Peirce auf direktem Wege zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen und zu einer verschiedene Ausdruckssysteme betreffenden Verallgemeinerung des Zeichenbegriffs mit interdisziplinären Perspektiven führt, öffnet Saussures gegenstandsbezogene Semiotik leichter den Weg für methodologische Überlegungen bei der Analyse spezifischer Zeichensysteme und expliziert so die Kriterien, nach denen einzelne semiotische Untersuchungen ihren Gegenstand abzugrenzen haben (vgl. Eco 1976: 14 ff; Helbo u. a. 1987: Kap. IV und Larsen 1991). Zwar ist Saussure schon früh „the logician among linguists“ (Brøndal 1936: 36) genannt worden, aber eine genauere Ausarbeitung der logischen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen seines Ansatzes ist auf die Einbeziehung der erst später veröffentlichten Notizen und Manuskripte angewiesen. Erst auf dieser Grundlage wird eine Überwindung der stereotypen Saussure-Interpretation möglich (Eschbach 1986; Harris 1987: 26 f; Hervey 1982: 35 ff; Parret 1983; Stetter 1979; Vigener
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1979) und ein Vergleich mit Peirce lohnend. Dabei werden schließlich auch die diskurstheoretischen, syntaktischen und pragmatischen Überlegungen im Werke Saussures einbezogen werden können, deren Thematik die semiotischen Analysen vieler Saussure-Nachfolger beherrscht hat.
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101. Ferdinand de Saussure und seine Nachfolger
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Svend Erik Larsen, Odense (Dänemark)
2074
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
102. Frege und seine Nachfolger 1. Das semiotische Grundproblem abstrakter Redebereiche 1.1. Freges Zielsetzung 1.2. Wahrheit und Gegenstand 1.3. Freges angeblicher Platonismus 2. Die linguistische Wende der Sinnanalyse 2.1. Satz, Aussage und Gedanke 2.2. Sprechakte und Intentionen 2.3. Bedeutungsgleichheit und Bedeutung 2.4. Semantische Vollständigkeit und Konsistenz von Aussagesystemen 2.5. Die Ungesättigtheit der Funktionsausdrücke und Funktionen 2.6. Wahrheitsfunktionale Semantik 3. Formale Logik 3.1. Aussagenkalkül 3.2. Prädikatenkalkül 3.3. Syntaktische Deduktionen analytisch gültiger Satzformen 4. Mengen und Zahlen 4.1. Wertverläufe und Mengen 4.2. Lambda-kategoriale Grammatik 4.3. Anzahlen 4.4. Russells Paradox 4.5. Zum Schaffen abstrakter Gegenstände 4.6. Mengentheoretische Semantik 5. Textinterne Designation und externe Referenz 5.1. Die drei Bereiche von Gegenständen 5.2. Zu Wittgensteins Theorie der Abbildung im ‘Tractatus’ 5.3. Textimmanente Gegenstände und Wahrheiten 5.4. Fiktionen und Possibilia 5.5. Gerade und ungerade Kontexte als objekt- und metastufige Rede 6. Literatur (in Auswahl)
Im Vorwort der Begriffsschrift (1879), seiner ersten bedeutenden Veröffentlichung, schreibt Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848⫺ 1925): „Wenn es eine Aufgabe der Philosophie ist, die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe fast unvermeidlich entstehen, […] so wird meine Begriffsschrift […] den Philosophen ein brauchbares Werkzeug werden können.“ Und: „Schon das Erfinden dieser Schrift hat die Logik, wie mir scheint, gefördert.“ Logische Sinnanalyse besteht, das ist eine tiefe allgemeine Einsicht Freges, nun nicht etwa darin, daß man von den (vorgegebenen) sprachlichen Ausdrucksformen gänzlich absieht und so tut, als gäbe es Gedanken ohne die Vermittlung durch Zeichen, als seien sie unserem ‘Geist’ direkt zugänglich, son-
dern in der Konstruktion einer übersichtlichen Darstellung, die etwa auch auf einer speziellen Erfindung eines Ausdrucks- oder Zeichensystems beruhen kann (zu ähnlichen Bestrebungen vgl. Art. 104 und Art. 106⫺ 108). Frege möchte darüber hinaus die Arithmetik als Teil der Logik erscheinen lassen ⫺ was als Ziel auch Hermann Lotze (1817⫺1881) propagiert hatte (wie G. Gabriel in seiner Einleitung zu Lotze 1874 a: 1. Buch ausführt). Dabei erkennt er den Aussagesatz als semantische Grundeinheit: Die Bedeutungen der Wörter, der Satzteile, sind zu beschreiben als die Rolle, die sie bei der Bestimmung des Inhalts des Satzes spielen. Da wir mit Aussagesätzen Wahrheiten übermitteln wollen, ist ihr Inhalt wenigstens so weit rekonstruktiv zu bestimmen, daß er als wahr oder falsch beurteilbar wird (vgl. § 2.1. unten). Aus diesem Grundgedanken entwickelt Frege alles folgende, und zwar als erstes in der Begriffsschrift die wahrheitsfunktionale Semantik der logischen Wörter (§ 2.6.) und den sich ergebenden Logikkalkül (§ 3.). In den Grundlagen der Arithmetik (1884) sieht er, daß Zahlwörter in der Mathematik nicht als Numeralia, sondern als Namen verwendet werden, wenn und weil sie in arithmetischen Gleichungen und Sätzen so füreinander substituierbar sind, daß immer wahre bzw. falsche Sätze entstehen (§ 2.3. und § 4.3.). Es ergibt sich dann das Verständnis eines Begriffs als, wie wir es nennen wollen, „Gebrauchsbedeutung“ einer einstelligen Verbalphrase S(x), welche durch Substitution von Namen für die Variable zu (wahren oder falschen) Sätzen wird. Begriffe erscheinen damit als spezielle Funktionen, wie dies in „Function und Begriff“ (1891) geschildert wird (§ 2.5.), und es gelangen die Sätze und Namen in die gleiche Klasse der „gesättigten Ausdrücke“: In ihnen gibt es nichts zu substituieren, während wir aus (erststufig) „ungesättigten“ Funktionsausdrücken durch Einsetzung von (gesättigten) Ausdrücken gesättigte Ausdrücke erhalten. Diese „benennen“ dann gewisse „Werte“, so daß man zu unterscheiden hat zwischen ihrer „Bedeutung“ (dem benannten Wert, der im Fall von Sätzen „Wahrheitswert“ heißt), und ihrem „Sinn“ (der Art und Weise, wie dem Ausdruck sein Wert zugeordnet ist; § 2.3.). Dies führt Frege in der berühmten Schrift „Über Sinn und Bedeutung“ (1892)
102. Frege und seine Nachfolger
zusammen mit dem Unterschied zwischen „geraden“ und „ungeraden“ Kontexten (§ 5.5.) vor. Die Grundgesetze der Arithmetik (1893 und 1903) sind dann ein großangelegter Versuch, die Arithmetik und Mengenlehre als Teil einer begriffsschriftlich verfaßten formalen Logik und ihre Aussagen und Beweise als „formal-analytisch“ aufzuweisen, und zwar auf der Grundlage der logisch-linguistischen Operation der Wertverlaufs- oder Mengenabstraktion (§ 4.1.). Nachdem Frege ⫺ während der Drucklegung des zweiten Bandes ⫺ erkannt hatte, daß dieses „logizistische“ Programm an Russells Paradox (§ 4.4.) scheitert, hat er nur noch in kleineren Aufsätzen versucht, seine Einsichten zur Logik und zur Grundlegung der Arithmetik und Geometrie in Auseinandersetzung mit den herrschenden, teils formalistischen teils psychologistischen, Theorien und Philosophien zur Geltung zu bringen. Obwohl er ein neues ‘System’ nach Art der Grundgesetze oder der Principia Mathematica Bertrand Russells (1872⫺1970) und Alfred N. Whiteheads (1861⫺1947) nicht mehr entwickeln konnte, oder vielleicht auch eingesehen hat, daß in ihrem Rahmen die Frage nach dem rechten Verständnis mathematischer Rede auch nicht vollständig beantwortbar ist, und obwohl er bis zu seinem Tod (1925) kaum ‘Früchte’ seiner Einsichten in die semiotische Verfassung der Bereiche abstrakter Gegenstände und Gedanken zu sehen bekam, stehen die gesamte moderne mathematische Logik und die Theorien und Überlegungen zur linguistischen und philosophischen Semantik und Pragmatik unseres Jahrhunderts in der Nachfolge Freges (vgl. Art. 76 § 3.1.), wenn auch manchmal nur insofern, als die allzu große Betonung formallogischer Techniken semiotisch-philosophische Grundeinsichten, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen ‘gegenständlich’ gefaßter Bedeutung und gebrauchsbezogenem Sinn (§ 5.2.), vielfach weniger befördern als verschütten.
1.
Das semiotische Grundproblem abstrakter Redebereiche
1.1. Freges Zielsetzung Freges Grundfrage läßt sich grob so formulieren: Wie verhalten sich Zeichen und Bezeichnetes, wenn das Bezeichnete ein abstrakter, mathematischer Gegenstand, etwa eine Zahl, ist? Wie ist es möglich, über abstrakte
2075 Gegenstände wahre bzw. falsche Aussagen zu machen, obwohl wir zu ihnen, anders als zu konkreten und wirklichen Dingen und Tatsachen, keinen direkten Zugang in Wahrnehmung und Erfahrung haben? Wie begründen wir die Wahrheit mathematischer Sätze? Nach welchen Schlußprinzipien beurteilen wir eine Folgerung, einen Beweisversuch, als (logisch) gültig bzw. ungültig? Und wie beurteilen wir die Wahrheit der ersten Sätze? Schon die Syllogistik des Aristoteles (vgl. Art. 41 § 4.2.) ist ein erster Versuch, eine (möglichst vollständige) Liste gültiger Deduktionsregeln anzugeben, die als solche zwar auf der Ebene der syntaktischen (konfigurativen) Form der (komplexen) Zeichen (der Ausdrücke und Sätze) operieren, semantisch aber immer von wahren Sätzen zu wahren Sätzen führen (sollen). Auch Leibniz (vgl. 1903 ⫽ 1966: Bd. I, Kap. 3, bes. 33 ff, und Kap. 4, 39 ff; siehe auch Art. 64 § 3.3. und Art. 76 § 1.1.) und später etwa Hilbert (1899 ⫽ 1964: 16 ff und 34 ff; siehe Art. 76 § 4.1. und Art. 84 § 4.3.) propagierten dieses aristotelische Programm, möglichst alle Schlüsse als schematische Deduktionen im Rahmen eines Kalküls, eines calculus ratiocinator darzustellen. Zu ihrer Kontrolle könnte dann gewissermaßen maschinell nachgeprüft werden, ob man wirklich von den Ausgangssätzen („Prämissen“) durch die Anwendung der konfigurativen Umformungs- oder Transformationsregeln zu dem entsprechenden Schlußsatz als Ergebnis gelangt. Wenn man dann als Definitionen i. e. S. ausschließlich rein schematische Konventionen der (abkürzenden) Zeichenersetzungen auf der syntaktischen Ebene zuläßt, lassen sich die nicht rein definitorischen Prinzipien einer Theorie satzartig formulieren, als sogenannte Axiome, mit denen die Deduktionen beginnen. Die Entwicklung der Syntax und formalen Semantik einer aussagen-, quantoren- und gleichheitslogischen Analysesprache, einer lingua characteristica im Sinne von Leibniz (vgl. Art. 62 § 7.2.), und des dazu passenden Prädikatenkalküls in Freges Begriffsschrift (vgl. § 3.) führt den deduktionslogischen Teil dieses Programms der Axiomatisierung wissenschaftlicher Theorien zu einem gewissen Abschluß. 1.2. Wahrheit und Gegenstand In der Arithmetik beweisen wir wahre Aussagen über Zahlen. Was aber sind Zahlen? Wie sind, allgemeiner, Bereiche abstrakter Gegen-
2076 stände konstituiert? Freges Antwort kann in ihrer Grundidee vorab schon so zusammengefaßt werden: Man denke an Situationen, in denen gewisse Wörter N, M, … nach Art von Namen in gewissen Satzzusammenhängen gebraucht werden (etwa Ausdrücke wie „die Richtung Nordwest“ oder „die Zahl 7“). Dazu gehört, daß gewisse Gleichungen N ⫽ M (etwa: 7 ⫽ 5 ⫹ 2) zwischen den Namen vermöge gewisser Kriterien als wahr oder falsch bewertbar sind, und zwar so, daß in Bezug auf gewisse Sätze (bzw. die durch sie artikulierten Aussagen) S(N), in denen ein solcher Name N vorkommt, das folgende Ersetzbarkeitsprinzip erfüllt ist: Ist S(N) wahr und ist N ⫽ M wahr, so ist auch S(N/ M) wahr (vgl. die Regel Sub in Art. 3 § 4.6.1. und § 5.1.2.). Dabei schreiben wir hier und im folgenden „A(z)“, um schematisch auszudrücken, daß das Zeichen z ⫺ das ein Name sein kann oder dann auch eine sogenannte „Objektvariable“ ⫺ im Ausdruck A an einer oder mehreren Stellen vorkommt; ferner schreiben wir „A(z/z⬘)“ (bzw. „A[z/z⬘]“), um auszudrücken, daß das in S vorkommende Zeichen z an manchen (bzw. an allen) Stellen durch das Zeichen z⬘ ersetzt werden soll. Das obige Ersetzbarkeitsprinzip wird häufig als „Leibnizprinzip“ bezeichnet, da Leibniz ihm eine klassische Formulierung verliehen hat: „Eadem sunt, quorum unum alteri substitui potest salva veritate“ (Leibniz 1903: 259; vgl. auch Art. 76 § 3.1.3.). Auf die Leibnizsche Fassung des Ersetzbarkeitsprinzips hat sich Frege mehrfach berufen (vgl. Frege 1884: 73 und 1892: 35). Wenn wir über ein System von Namen, Gleichungen und anderen Sätzen sprechen, in welchem ein Wahrheitsbegriff als festgelegt und das Leibnizprinzip als erfüllt gilt, dann pflegen wir zu sagen, die Worte (Namen) N, M, … seien „Benennungen abstrakter Gegenstände“. Dies ist zum Beispiel bei arithmetischen Sätzen bezüglich der Zahlgleichheit der Fall; daher sagen wir, daß diese nichts über Zahlwörter, sondern etwas über Zahlen aussagen. Wenn wir die Wahrheit eines solchen Satzes behaupten oder beweisen, setzen wir die Art und Weise seiner Wahrheitsbewertung schon als bekannt voraus: Gerade diese Präsupposition „objektstufiger“ Rede erzeugt dann den Schein, als gäbe es die abstrakten Wahrheiten und Gegenstände unabhängig von unseren sprachlichen Festlegungen. Der linguistic turn in Freges Analysen deckt diesen Schein weitgehend auf. So gibt es nach Frege (1884: §§ 62 und 64 ff) Richtungen
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
(nur), weil wir einen Begriff der Richtungsgleichheit für gerichtete Strecken haben und dann andere Aussagen „über Richtungen“ einführen. Entsprechend versucht Frege, Zahlen über die (Äquivalenz-)Relation der gleichen Anzahl (Gleichzahligkeit) zweier Mengen zu bestimmen. Jede (endliche) Gegenstandsmenge kann ja direkt zu einem Repräsentanten einer (natürlichen) Zahl werden. 1.3. Freges angeblicher Platonismus Freges Kritik an jedem „formalistischen Nominalismus“, nach welchem man etwa Zahlen dadurch ‘schaffen’ könne, daß man gewisse Ausdrücke (etwa „兹-1“) kurzerhand per Definition zu einem Zahlnamen erklärt (vgl. Art. 107 und Art. 108 § 2.) steht nicht, wie man meinen könnte, auf der Grundlage einer ontologischen oder platonistischen Annahme, nach der diese Gegenstände schon vor der Entstehung der Sprache und sogar vor der Menschheit existierten und durch (laut- oder schriftsprachliche) Zeichen bloß „abgebildet“ würden. Zeichen sind für Frege (etwa nach 1903: § 98 ff) Typen gewisser wirklicher (physischer) Gegenstände, die als „konkrete Zeichen“ den Typus realisieren. Ein Zeichen in diesem Sinn gibt es also (nur) in einer intersubjektiven Praxis, in welcher wir verschiedene wirkliche Gegenstände (oder Äußerungsakte) als Realisationen des gleichen Zeichens werten. Eine solche Praxis gibt es vorzugsweise dann, wenn die Zeichen eine bestimmte Rolle spielen bei der Artikulation von Assertionen (oder dann auch allgemeiner: von anderen Sprech- oder Zeichenakten, vgl. § 2.2.), wenn sie, wie sich Frege hier leider etwas schwammig ausdrückt, „etwas bezeichnen“. Frege betont nun, daß abstrakte Gegenstände sich nicht einfach durch eine Definition i. e. S. schaffen lassen, nicht durch einen einfachen Beschluß, daß das Zeichen etwas bezeichnen soll, etwa einen abstrakten Gegenstand benennen möge. Er erkennt vielmehr, daß eine solche Konstitution von abstrakten Gegenständen im Rahmen der Festlegung des Sinnes, der Wahrheitsbedingungen, für die Sätze eines ganzen Satzsystems nach allgemeinen logischen Grundprinzipien zu geschehen hat (vgl. Frege 1903: § 146 f mit unseren Ausführungen in § 2.4.). Und er hält alle arithmetischen Wahrheiten von vornherein für analytisch (vgl. Art. 3 §§ 4.2. und 4.7.), glaubt also, man könne sie in einer entsprechend formalisierten Sprache der Logik
102. Frege und seine Nachfolger
als Folgerungen aus einem syntakto-semantischen System von Sprachregelungen darstellen bzw. beweisen. Damit ist es schlicht unvereinbar, wenn verbreitete Interpretationsansätze wie die von Baker und Hacker 1984: 358 f, Bell 1979: 109 oder Carruthers 1984 (passim) Frege die Hypostasierung abstrakter Gegenstände vorwerfen. Stattdessen sind seine Kommentare und Konstruktionen als kritische Analysen der besonderen semantischen Verfassung einer faktisch längst etablierten Rede über Abstracta zu deuten: Frege will die wirkliche Form und den tatsächlichen Sinn des (z. B. in der Mathematik) schon üblichen Redens über Abstracta aufweisen, will dieses von metaphysischen (ontologisierenden) und mentalistischen (psychologisierenden) Meinungen befreien, die in ihrer Beliebigkeit und Unüberprüfbarkeit ohne Sinn sind (vgl. Art. 84).
2.
Freges linguistische Wende der Sinnanalyse
2.1. Satz, Aussage und Gedanke Einer der wichtigsten Schritte auf Freges Weg zu einer logischen Analyse des Begriffs der mathematischen Aussage bzw. der Aussage überhaupt ist seine Unterscheidung zwischen dem (performativen) Sprechakt der Behauptung (vgl. Art. 3 § 5.4.) eines Satzes und dem durch den Satz ausgedrückten beurteilbaren Inhalt: Kann ein Aussagesatz S (gegebenenfalls in Abhängigkeit von der Äußerungssituation) als wahr oder falsch angesehen werden, dann repräsentiert er, wie wir mit Frege auch sagen wollen, einen „Gedanken“. Dieser ist nichts anderes als der Inhalt des (geäußerten, daher auch „konkreten“) Satzes und besteht, allgemein gesagt, darin, daß man mit dem Satz eine Unterscheidung treffen kann. Diese Möglichkeit beruht, wie Frege später (etwa 1891: 13) bemerkt, darauf, daß dem (konkreten) Satz auf intersubjektiv bekannte Weise schon vorab einer von zwei verschiedenen Werten zugeordnet ist. Diese Werte können zum Beispiel 1 und 0 sein, oder, wie der § 10 der Grundgesetze vorschlägt, die leere Menge und die Allmenge, und man kann einen dieser Werte dadurch auszeichnen, daß man ihn „das Wahre“ nennt, den anderen aber „das Falsche“. Daraufhin kann man fragen, welcher der zwei Werte dem Satz zugeordnet ist, und manchmal kann man dann auch zeigen („beweisen“), daß es der mit dem Titel „das Wahre“
2077 benannte ist, oder eben, daß der Satz (bzw. seine Äußerung) wahr ist. Ludwig Wittgensteins (1889⫺1951) Satz 4 des Tractatus logico-philosophicus: „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz“ drückt im Grunde die gleiche Auffassung aus, wenn man beachtet, daß Wittgenstein unter einem Satz den konkreten Aussagesatz, genauer: seine mögliche Äußerung, versteht, und berücksichtigt, daß dessen Wahrheitswert von der (Bezugs-)Situation abhängen kann, besonders dann, wenn er deiktische Wörter enthält. Wir haben also zu unterscheiden zwischen dem (Aussage-)Satz qua Ausdruck (1), dem konkreten Satz (2), seiner bloß möglichen Äußerung, die man auch die ausgedrückte „Aussage“ nennen könnte (3), welche im Falle einer sinnvollen Aussage (4) wahr oder falsch ist, oder, wie wir wieder mit Frege sagen können, einen beurteilbaren Inhalt oder Gedanken ausdrückt. Der Gedanke ist der Sinn eines Satzes (Frege 1918/19: 61), oder eben: einer Aussage (5), er ist (cum grano salis) die Art und Weise, wie ihm (oder jetzt besser: der möglichen Aussage in einer immer generisch, als ‘typische’, aufzufassenden Äußerungs- und Bezugssituation) einer der beiden Wahrheitswerte zugeordnet ist. Die Unterscheidung zwischen der (sinnvollen) Aussage und dem (aktualen oder generischen) Behauptungsakt (6) drückt Frege (schon 1879: 2⫺5) in begriffsschriftlicher Notation durch einen “Performator”, den Urteilsstrich „“ aus. In Ausdrücken der Form „ S“ steht der Buchstabe „S“ schematisch für einen sinnvollen Aussagesatz bzw. für seinen Inhalt oder Gedanken, während das vorangesetzte performative Zeichen „“ zum Ausdruck bringen soll, daß der Autor die Aussage für wahr hält, d. h. wirklich behauptet. Dabei grenzt die vorgängige (sinn)kriteriale Zuordnung von Wahrheitswerten zu den (möglichen) Aussagesätzen (Aussagen) „das Gebiet“ ab, „bei dem Wahrheit überhaupt in Frage kommen kann“ (Frege 1976: 33). In Behauptungen sagen wir also nach Frege nichts anderes, als daß der Aussage (in ihrem generischen Gebrauch, aber doch je wirklichen Kontextbezug) durch die sinngebenden Kriterien der Wert das Wahre zugeordnet ist. Ein Satz in Freges formalsprachlichem Notationssystem, vor dem noch kein Urteilsstrich steht, ist demnach eher einem ‘daßSatz’, oder auch einem Ausdruck wie „die durch den Satz … zum Ausdruck gebrachte Aussage“ analog; der Urteilsstrich entspricht dem performativ gedeuteten (Meta-)‘Prädi-
2078 kat’ „ist wahr“. Gesprochene oder geschriebene Äußerungen ganzer normalsprachlicher Aussagesätze artikulieren, wie Frege bemerkt, gleich den ganzen Sprechakt der assertiven Behauptung, wenn sie nicht etwa bloß in einem Satzgefüge (oder etwa als Teil einer Frage) vorkommen. Allerdings benutzen wir auch hier performative Zeichen: In gesprochener Rede zeigt das Senken der Stimme, in geschriebener der Satzschlußpunkt das Ende der Assertion an (vgl. Art. 3 § 5.4.). Die ‘Existenz’ bzw. Wahrheit eines Gedankens hängt nun nicht daran, daß er je wirklich (laut oder leise) geäußert oder die Wahrheit anerkannt wurde oder wird, sondern nur daran, ob er möglicherweise artikuliert und möglicherweise als wahr erkannt werden könnte. Ganz Analoges gilt dann auch für die Benennung von Zahlen und Mengen. Frege erkennt hier die Notwendigkeit einer semiotischen Konstitution von ganzen Gebieten möglicher Gegenstandsbenennungen und sinnvoller Aussagen (Gedanken). Neben den faktisch schon artikulierten oder den in einem beschränkten Ausdrucksrahmen artikulierbaren Gedanken und Gegenständen sind auch die im Prinzip ausdrückbaren zu betrachten (Frege 1918/19: 76). Dadurch (und nur dadurch) wird auf nicht ontologisierende Weise verständlich, warum ‘präexistente’ Gedanken erstmals sprachlich gefaßt bzw. abstrakte Gegenstände erstmals benannt werden können ⫺ so daß es dann so scheint, als würden sie ‘entdeckt’. Die scheinbar naheliegende Frage, wann denn zwei Sätze oder Aussagen den gleichen Sinn bzw. den gleichen Gedanken zum Ausdruck bringen (Frege 1918/19: 66), hat Frege zu Recht nicht allgemein beantwortet: Denn was wir als „gleichen Gedanken“ oder „gleichen Sinn“ an zwei verschiedenen (konkreten) Sätzen bzw. Aussagen bewerten, hängt immer auch ab von der Art der Bewertung der Redesituation als typischer: etwa von den leitenden Interessen und Gesichtspunkten der Sprecher bzw. Hörer, oder auch von einem Vorwissen und Gewißheiten (Frege 1918/19: 73) und vom Kontext (vgl. auch Mendonc¸a und Stekeler 1987: 165 f). Daß es Gedanken als (metastufige!) Gegenstände der Rede nur in der weitgehend situationsabhängigen Art und Weise gibt, wie wir gewisse Aussagen (also die Sätze-im-Gebrauch) als sinngleich (oder sinnverschieden) bewerten, bedeutet aber keineswegs, daß der Begriff des Gedankens, die „Gebrauchsbedeutung“ (der Sinn)
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
der Aussagen, unscharf sei. Ebensowenig sind deiktische Wörter (vgl. Art. 3 § 5.2.) unscharf, auch wenn in ihrem Gebrauch und bei der Rede über sie situationsbezogene Präsuppositionen, ein gemeinsames Können, Wissen und Urteilen relevant werden ⫺ worauf Wittgenstein in der Nachfolge Freges immer wieder hingewiesen hat (vgl. Art. 109): Ohne die faktische Fähigkeit zur Identifizierung gemeinsamer Gebrauchsbedeutungen (des Sinnes) auch bei leichten Abweichungen der Ausdrucksweisen wäre sprachliche Verständigung nicht möglich (Frege 1962: 70, Anm. 7). Die Tätigkeit dieser Identifizierung ist nicht mit einem Aufweis einer wahrheitslogisch schon definierten Sinnidentität zu verwechseln: Sie ist vielmehr eine ‘pragmatische’ (und, wenn man will: ‘transzendentale’) Bedingung der Sinnkonstitution (vgl. dazu auch § 5.2.). 2.2. Sprechakte und Intentionen Wenn dann etwa Ludwig Wittgenstein und John L. Austin (1911⫺1960) und später auch die Sprechakttheorie John R. Searles (*1932) oder die von H. Paul Grice (1913⫺1988) entwickelte sogenannte „intentionale Semantik“ unterschiedlichen Sprechakten und performativen Wörtern Beachtung schenken, so buchstabieren sie in gewisser Weise die Unterscheidung Freges zwischen Sprechakt (Performation) und Inhalt aus (vgl. Art. 3 § 5.4.), schildern zum Beispiel konkret die institutionellen Regelungen für eine Assertion (Konstatierung, Behauptung): Im Fall entsprechender Nachfragen ergeben sich zum Beispiel Verpflichtungen, den Sinn des Gesagten (das „Gemeinte“) gegebenenfalls weiter zu erläutern, oder die als sinnvoll (an)erkannte Aussage zu begründen. Obwohl sich Frege zunächst nur für die Analyse mathematischer Aussagen interessiert, bemerkt er natürlich, daß es neben Behauptungen eine Vielzahl anderer Sprechakttypen gibt. Eine (mögliche) Aufforderung ist zum Beispiel nicht wahr oder falsch (Frege 1918/19: 62), aber mit gewissen Verpflichtungen und Handlungsfolgen verbunden, die ihren ‘Sinn’ (eventuell auf der Grundlage von Aussageinhalten) konstituieren. Entsprechendes gilt für Fragen, Versprechen, Entschuldigungen usw.; oder auch für das Ausdrücken von Emotionen in der Dichtung oder in der ‘Sprache’ der Musik oder Malerei usw. Von den gewissermaßen mit der Ausdrucksform einer Aussage verknüpften emotiven „Färbungen“ sieht eine Analyse des
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wahrheitslogischen Inhalts ab (Frege 1918/19: 63 f; vgl. auch Art. 3 § 1.1.). Freges Unterscheidungen bei Assertionen führen für allgemeine Sprechakte sinngemäß zu einer Differenzierung zwischen dem aktualen Sprechakt (der konkreten Äußerung) (1), seinem ‘Inhalt’: dem generischen Sprechakt, der sinnvoll möglichen Äußerung (2), den in der Institution des gemeinsamen Sprachgebrauchs festgelegten sinnkonstitutiven (Vor-)Bedingungen (3) und generischen Nachfolgeverpflichtungen (4), und der berichtenden metastufigen Aussage, der Sprechakt sei ausgeführt oder versucht oder beabsichtigt worden (5). Neben gewissen Standardformen gibt es in der Regel eine Vielzahl möglicher Formen, in denen wir in entsprechenden Situationen einen Sprechakt eines bestimmten Typs zum Ausdruck bringen können. Man kann zum Beispiel mit dem Äußern einer (formalen) Frage einen Befehl geben oder eine Behauptung machen (vgl. Art. 4 § 1.4.). Und natürlich zählt es nicht zu den Bedingungen des Glückens eines Sprechaktes, ob er durch eine gewisse innere Intention begleitet ist oder ob die Nachfolgeverpflichtungen wirklich erfüllt werden: Erst nachdem wir gelernt haben, auch still mit uns selbst zu reden, können wir Sprechakte (bis zu einem gewissen Grad) leise ausführen: Wir können still bei uns ein Urteil fällen, einem anderen etwas wünschen oder versprechen, Absichten ‘äußern’ (‘haben’) usw. Dabei spielen wir die Rolle des Sprechers und Hörers allein, so daß auch nur wir selbst kontrollieren, ob wir uns an die öffentlichen sinnkonstitutiven Regeln dieser Sprechakte und ihre Nachfolgeverpflichtungen halten oder nicht: Ein stilles Versprechen kann man zwar brechen, aber kein anderer wird es merken. Und wenn lautes und leises Reden nicht übereinstimmt, wissen wir (aber eventuell andere nicht), daß wir sie täuschen. Freges Kritik an mentalistischen Theorien des Denkens besteht im Grunde in der Beachtung gerade dieser Tatsache: Gedanken als Inhalt stiller Aussagen sind nichts Psychologisches, auch wenn man die individuelle Fähigkeit zur stillen Rede (das Denken qua Tun) der Psychologie zuordnet (Frege 1918/ 19: 62). Der Gedanke ist in der stillen wie in der lauten Rede der gleiche, nämlich der Sinn des Gesagten, seine öffentliche Gebrauchsbedeutung. Wir können zum Beispiel auch nur dann die Absicht haben, einen Sprechakt oder auch eine andere Handlung auszuführen, wenn wir die öffentliche Institution ihrer
2079 (rechten) Ausführung kennen, ob wir diese beschreiben können oder nicht. Alles (subjektive) Denken ist daher, auch wenn man darunter nicht bloß, wie Frege, das stille Erwägen möglicher Assertionen, sondern alle möglichen ‘stillen Handlungen’ versteht, semiotisch sekundär gegenüber den ‘öffentlichen’ Akten. Diese bedeutsame Einsicht teilen allerdings viele Sprachphilosophen, Linguisten und Semiotiker nicht mit Frege, Wittgenstein oder auch Edmund Husserl (1859⫺ 1938), welcher durch Frege von der Problematik psychologistischen Geredes in der Logik überzeugt wurde (Husserl 1900: I, § 45 Anm.; vgl. Art. 103 § 4.3.). Stattdessen findet man (nicht bloß bei Anhängern Noam Chomskys (*1928), sondern etwa auch bei Searle und Grice) allerlei undurchsichtige Mischungen aus empirischen (linguistischen, psychologischen und biologischen), begrifflich und formalanalytisch wahren und spekulativen Aussagen über die „kognitiven Fähigkeiten“ und die „Intentionalität“ bei Tieren und Menschen (vgl. Art. 25). 2.3. Bedeutungsgleichheit und Bedeutung Für Freges besonderen Zweck einer formalsemantischen Analyse logischer Satzkompositionen reicht es nun, (konkrete) Sätze schon dann für „semantisch gleichwertig“ zu erklären, wenn ihnen der gleiche Wahrheitswert zugeordnet ist. In seiner wahrheitsfunktionalen Deutung der logischen Konnektive (Junktoren und Quantoren; vgl. Art. 3 § 4.4.1.) kommt es nämlich bei der Bestimmung des Wahrheitswertes eines zusammengesetzten (konkreten) Satzes nur auf die Wahrheitswerte gewisser syntaktisch einfacherer (kürzerer) Sätze (bzw. der durch diese artikulierten Aussagen) an (vgl. Art. 3 § 2.4.). Dies ist der Grund, warum Frege sinnvolle (konkrete) Sätze (bzw. Aussagen) schon dann als „bedeutungsgleichF“ ansieht, wenn sie simultan wahr bzw. falsch sind. Sinnvolle Namen (Benennungen) N, M heißen „bedeutungsgleichF“, genau wenn die Aussage „N ⫽ M“ wahr ist. Die durch Abstraktion aus dieser Gleichheit erhaltene BedeutungF einer Benennung ist dann natürlich gerade der benannte Gegenstand. Dabei zeige unser Index F an, daß Frege das Wort „Bedeutung“ in einem speziell zurechtgestellten Sinn gebraucht. Die jetzt naheliegende Redeweise Freges, nach der auch (konkrete) Sätze Gegenstände, nämlich Wahrheitswerte, bedeutenF, führt übrigens dann nicht zu einer Vermengung von Kategorien, wenn man unsere
2080 bzw. Freges Unterscheidung zwischen dem Satz qua syntaktischem Ausdruck, der möglichen (sinnvollen) Aussage und der wirklichen Assertion hinreichend beachtet. 2.4. Semantische Vollständigkeit und Konsistenz von Aussagesystemen Syntaktisch charakterisiert Frege (vgl. z. B. 1893: § 5) einen Satz (des Systems der Grundgesetze) durch die Ausdrucksform „¿ A“, wobei der vorangeschriebene „Waagerechte“ Ausdruck derjenigen Funktion ist, welche als Wert das Wahre hat, genau wenn A schon das Wahre als Wert hat, das Falsche in allen anderen Fällen ⫺ also auch dann, wenn A keinen Wahrheitswert (sondern etwa eine Zahl) bedeutetF. Damit soll dafür gesorgt werden, daß jeder Satz (des Systems) mindestens einen der beiden Wahrheitswerte bedeutetF, womit Frege die sogenannte „semantische Vollständigkeit“ erzwingen will. Mit dem Voranschreiben des Senkrechten, also dem Hinschreiben eines Ausdrucks der Form „ A“, behauptet der Autor, daß der Satz „¿ A“ den Wert das Wahre (nicht etwa das Falsche) „bedeutetF“. Zu prüfen wäre nun aber noch, ob auch jedem Satz des Systems höchstens ein Wahrheitswert zugeordnet ist, ob es, wie wir sagen, semantisch konsistent ist. Dies weiß auch Frege: Daher verlangt er (1893: § 28), daß alle zur Substitution in eine Satzform S(x) anstehenden Namen N „bedeutungsvollF“ sein müssen. Diese Vorbedingung der semantischen Wohlgeformtheit einer Benennung, im Unterschied zu einem bloß syntaktisch wohlgeformten Namen, erläutert Frege nun nicht etwa einfach dadurch, daß er sagt, es müsse genau einen Gegenstand g geben, den N benennt. Zwar ist eine entsprechende begriffsschriftlich formulierbare Existenz- und Eindeutigkeitsaussage in der Tat die Bedingung dafür, daß eine logisch zusammengesetzte Kennzeichnung N bedeutungsvollF ist. Für deren Gebrauch in komplexen Sätzen S(N) hatte nämlich schon Frege (1892: 39 ff) folgende Analyse (wahrheitswertsemantische Reduktion) vorgeschlagen, die später auch von Russell (in „On Denoting“; 1905) vorgetragen wird: Ein Satz der Art „Dasjenige x, das S⬘(x) erfüllt, erfüllt S(x)“ bedeuteF das Gleiche wie „Es gibt ein und nur ein x, so daß S⬘(x) und S (x) gilt.“ Frege verlangt aber für die semantische Wohlgeformtheit einer Kennzeichnung ⫺ wie später Peter F. Strawson (*1919) in „On Referring“ (1950) ⫺ eine präsuppositionale Vorbedingung. Diese ist bemerkenswerterweise
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
die gleiche wie die für nicht weiter analysierbare Grundnamen N, nämlich folgende: Jedem im betrachteten System bildbaren (konkreten) Satz S(N) muß genau ein Wahrheitswert zugeordnet sein (vgl. dazu Frege 1893: § 10 und §§ 29⫺32). Ein scheinbarer Name wie „die größte Primzahl“ ist also deswegen bedeutungslosF, weil nach der angegebenen Analyse sowohl die Aussage: „die größte Primzahl ist gerade“ als auch die Aussage: „die größte Primzahl ist ungerade“ als falsch zu bewerten ist. Während nun die Analysen sowohl Strawsons als auch Russells den Objektbereich als gegeben voraussetzen (müssen), braucht dies Frege nicht zu tun: Er kann die Festlegung von Wahrheitswerten für Sätze bzw. Aussagen S(N) in einem vollständigen und konsistenten Satzsystem vielmehr als Konstitution der BedeutungF der Namen bzw. Benennungen N und damit eines (abstrakten) Gegenstandsbereichs auffassen. In der Tat glaubte Frege (1893: § 32) nachgewiesen zu haben, daß das Ausdruckssystem der Grundgesetze, bestehend aus Wertverlaufsnamen und gewissen Funktions- und Satzformen (vgl. § 4.1.), semantisch konsistent und vollständig sei. Würde jede Substitution einer als zulässig erklärten Benennung N durch eine andere M wieder zu einer sinnvollen (wahren oder falschen) Aussage führen und wäre das Leibnizprinzip (siehe oben § 1.2.) erfüllt, so hätte Frege sein Ziel in der Tat erreicht: Es wäre der Bereich der Gegenstände und (Grund-)Funktionen einer Mengenlehre und Arithmetik semiotisch, durch konfigurative (syntaktische) Ausdrucksbildungsregeln für Namen und Sätze und die Wahrheitswertbestimmungen für die letzteren, konstituiert. 2.5. Die Ungesättigtheit der Funktionsausdrücke und Funktionen Wenn wir in einem Satz S eines semantisch vollständigen und konsistenten G-Satzsystems irgendwelche G-Namen durch (freie) Variable y1, …, yn (gleichzeitig) ersetzen, gelangen wir zu Satzformen S(y1, …, yn), die man auch als (komplexe) n-stellige Prädikatausdrücke ansehen kann (vgl. Art. 3 § 3.4.). Sie sind den aus der Grammatik bekannten Verbalphrasen formal analog (vgl. Art. 2 § 4.10.). Die Operation der Ersetzung von Namen durch Variable und ihre Umkehrung ist uns aus der Verwendung von (Indefinit-)Pronomina in Ausdrücken wie: „zwischen etwas und etwas anderem liegen“ vertraut. Ersetzt man in Prädikatausdrücken die Variablen (Pronomen, Leerstellen) durch geeignete Namen, so
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erhält man wieder einen Satz. Analoges gilt auch für eventuell auftretende komplexe Namen, etwa Kennzeichnungen: Aus ihnen erhalten wir über die Ersetzung von Namen durch Variable „ungesättigte Funktionsausdrücke“, etwa aus dem Zahlnamen N ⫹ N die Funktion y ⫹ y. Wird diese Ersetzung rückgängig gemacht, so sagen wir mit Frege anschaulich, der „sättigungsbedürftige“ oder „ungesättigte“ Funktionsausdruck werde „gesättigt“, und zwar zu einem Namen oder Satz. Man spricht auch von der „Anwendung“ oder „Funktionalapplikation“ des Funktionsausdrucks auf eine Benennung eines „Arguments“ und nennt die BedeutungF des entstehenden Namens den „Wert“ der durch den Funktionsausdruck dargestellten Funktion. Kein ungesättigter Ausdruck kann an Namenstelle auftreten, so wie eine Verbalphrase nicht ohne die (in der Regel syntaktisch definierte) Operation ihrer Nominalisierung an die Stelle einer Nominalphrase gesetzt werden kann (vgl. dazu auch Art. 3 § 5.3.2.). Da wir Zahlausdrücke in der Arithmetik als Namen (und nicht bloß als Numeralia, nicht adjektivisch) gebrauchen (Frege 1884: § 60), bedeutenF sie Zahlen, also abstrakte Gegenstände. Funktionsausdrücke haben keine BedeutungF (im erläuterten Wortsinn!), weil für sie keine objektstufige Gleichheit definiert ist. Trotzdem sagen wir (und gelegentlich auch Frege), daß sie Funktionsnamen seien: Funktionen sind dabei nichts anderes als die synkategorematische Rolle (vgl. Art. 3 § 4.3.), welche die ungesättigten Ausdrücke im semantischen Aufbau der Wahrheitsbedingungen von Sätzen (etwa von Gleichungen zwischen komplexen Namen) spielen. Funktionen, deren Argumente (gegebenenfalls abstrakte) Gegenstände und deren Werte das Wahre bzw. das Falsche sind, heißen „(n-stellige) Prädikate“. Frege nennt sie, besonders im Fall n ⫽ 1, „Begriffe“ (vgl. Art. 3 § 3.4.). Ungesättigte Gleichungen wie x ⫽ y oder x ⫽ x oder auch der Waagerechte drücken zum Beispiel (zweistellige bzw. einstellige) Begriffe aus. In metastufigen und „ungeraden“ (siehe unten § 5.5.) Kontexten kann man dann auch über Funktionen ähnlich wie über Gegenstände sprechen. Um aber den Unterschied nicht zu verwischen, nennt Frege Funktionen „ungesättigt“; sie sind Gegenstände zweiter Stufe, so wie auch der Sinn eines Namens oder einer Verbalphrase kein objekt- sondern ein metastufiger ‘Gegenstand’ ist. Frege (1962: 70 f und 79 f) erläutert diese
2081 logisch äußerst wichtige Unterscheidung zwischen den objektstufigen Gegenständen, den durch ungesättigte Formen auszudrückenden Funktionen und Begriffen (mit Argumenten aus der Objektstufe) und den ,Gegenständen‘ der Metastufe an folgendem Beispiel: Der Ausdruck „der Begriff ‘Pferd’ “ benennt weder einen Gegenstand, noch einen Begriff. Denn er ist zwar syntaktisch ein Name, daher nicht, wie etwa die Satzform „x ist ein Pferd“ ein Ausdruck für einen Begriff bzw. für ein Prädikat. Semantisch ist er aber kein (objektstufiger) Name, es sind weder Gleichungen noch andere objektstufige („gerade“) Satzkontexte für ihn festgelegt (vgl. dazu auch § 5.5.). Vielmehr benutzen wir Ausdrücke wie „die Eigenschaft E“ oder „der Begriff E“ oder „die Relation R“ eher zu Zwecken der metasprachlichen Hervorhebung, topikalisierenden Betonung, einer Verbalphrase E oder R, etwa wenn wir sagen, „N hat die Eigenschaft E“ oder: „N fällt unter den Begriff E“ oder: „die N1, …, Nn stehen in der Relation R“, wobei dann E bzw. R durch eine Satzform S(x) bzw. S(x1, …, xn) näher zu beschreiben ist. Diese Ausdrucksweisen sind dann per definitionem gleichbedeutendF damit, einfach S(N) oder S(N1, …, Nn) zu sagen oder zu schreiben. Zugleich ermöglicht die sprachliche Operation der Nominalisierung von Funktionsausdrücken die Quantifikation über zweitstufige Gegenstände, etwa in einem Satz der Art: „13 hat alle Eigenschaften einer Primzahl“. Frege benutzt in zweitstufigen Quantifikationen eigene Variablen, die er offenbar substitutionell deuten möchte, so also, daß nur die in einem festgelegten Ausdruckssystem bildbaren (komplexen) Funktionsausdrücke zu substituieren sind. Damit entgeht er dem ansonsten ernst zu nehmenden Problem, was es heißen soll, von „allen möglichen“ Funktionen und Begriffen zu sprechen, die über einem Gegenstandsbereich wertsemantisch erläutert werden „könnten“. In vielen (besonders in „konstruktivistischen“; vgl. Art. 107 § 4.) logisch-linguistischen Analysen zum Begriff der Eigenschaft und Funktion wird dieser Vorschlag Freges wieder aufgenommen, etwa in den (lambda-)kategorialen Grammatiken (vgl. § 4.2. sowie Art. 3 §§ 2.5. und 3.2.) oder in Leon Henkins (*1921) Variante einer Typentheorie. 2.6. Wahrheitsfunktionale Semantik Schon in der Begriffsschrift entwickelt Frege ein Ausdruckssystem, welches die funktionale Zuordnung von Wahrheitswerten zu einem
2082 (konkreten) Satz entlang seinem syntaktischen Satzaufbau (vgl. Art. 3 §§ 1.3. und 2.1.) auf der Grundlage der Wahrheitswerte kürzerer (konkreter) Sätze anschaulich macht. Indem wir dann begriffsschriftliche Notationen den Sätzen einer schon in Gebrauch befindlichen Sprache zur Seite stellen, oder, wie man sagt, „eine semantische Tiefenstruktur“ zuordnen, erhalten wir eine Sinnanalyse der folgenden Art. Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes bzw. der Wahrheitswert einer Aussage erscheinen als parallel zum syntaktischen Aufbau des in die Formalisierung übersetzten Satzes bestimmt ⫺ in Abhängigkeit von den Wahrheitsbedingungen gewisser (‘Teil’-)Aussagen, die artikuliert sind durch kürzere Sätze. Diese Art der Bestimmtheit ihres Wahrheitswertes könnte man den „SinnF“ der Aussage nennen. Frege betrachtet konkret Satzverknüpfungen der folgenden drei Arten: Die Negation „nicht S“ (in formal-logischer Notation: „ÿ S“), die Subjunktion: „nicht S1 oder S2“ (bzw. „S2, falls S1“, formal: „S1 → S2“) und die Allquantifikation: „für alle x: S(x)“ (formal: „∀x.S(x).“). Anstelle von „ÿ S“ schreibt Frege „ÿ⫺ S“, statt „S1 → S2“: x ⫺S(x)“, „⫺兩⫺ S2“ und statt „∀x.S(x).“: „⫺[ ⫺ S1 benutzt dabei allerdings andere Buchstaben, zum Beispiel für die („gebundenen“) Variablen x kleine deutsche und für die schematischen Vertreter der Sätze Si große griechische oder große oder kleine lateinische Buchstaben. Da A ⫽ ¿ A gilt, wenn einem Ausdruck A schon einer der beiden der Wahrheitswerte, das Wahre oder das Falsche, zugeordnet ist, lassen sich in Freges System alle waagerechten Striche mit dem Waagerechten ‘verschmelzen’ bzw. als schon verschmolzen deuten (Frege 1893: § 48). Die Gebrauchsbedeutungen der Verknüpfungszeichen „ÿ⫺“, „⫺⫺ l “ ⫺ x ⫺“ sind dann wahrheits(wert)funkund „⫺[ tional wie folgt beschrieben (vgl. Frege 1879: §§ 5, 7, 11): Einer Aussage, artikuliert durch einen Satz der Form „ÿ⫺ S“, ist per definitionem genau dann der Wert das Wahre zugeordnet, wenn der Aussage, die durch „¿ S“ artikuliert ist (oder wäre), der Wert das Falsche zugeordnet ist, sonst das Falsche. Einer Aussage, artikuliert durch einen Satz der Form „⫺兩⫺ S2“ ist per definitionem der Wert ⫺ S1 das Wahre zugeordnet, wenn der durch „¿ S2“ artikulierten Aussage das Wahre oder (vel) der durch „¿ S1“ artikulierten Aussage das Falsche zugeordnet ist, sonst das Falsche (und zwar genau dann, wenn „¿ S1“
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
das Wahre und „¿ S2“ das Falsche bedeux ⫺S(x)“ artitetF). Einer durch den Satz „⫺[ kulierten Aussage wird der Wert das Wahre zugeordnet, genau wenn jeder durch einen Satz der Form „¿ S [x/N]“ ausgedrückten Aussage der Wert das Wahre zugeordnet ist, wenn man die Variable x überall durch eine (zulässige, sinnvolle) Gegenstandsbenennung x ⫺ S(x)“ N ersetzt. Der durch den Satz „⫺[ ausgedrückten Aussage wird demnach das Falsche zugeordnet, genau wenn mindestens eine der Aussagen, die durch einen Satz der Form „ı S(N)“ artikuliert wird (oder werden könnte) der Wert das Falsche zugeordnet ist. Hier ist offenbar wichtig, daß vorab der „Variablenbereich“ fixiert ist, das heißt, daß festliegt, was eine für x substituierbare mögliche Gegenstandsbenennung N ist: Nur dann ist klar, welche Sätze der Form „¿ S(N)“ zu betrachten sind. Vernachlässigen wir die Besonderheiten, die sich aus Freges Deutung des Waagerechten ergeben, so können wir seine zweidimensionale klammerfreie Notation auf einfache Weise schematisch in unsere lineare übersetzen. Es entspricht zum Beispiel folgende lineare Form: ÿ (S → (∀x1. S1(x1). → ∀x2. ÿ S2 (x2 ).)) vermöge der Zuordnung A ⫽ S, F ⫽ S1 und U ⫽ S2 folgender Satzform Freges: a [ b [
U (a) F (b) A In der linearen Schreibweise gewährleisten Klammern oder Punkte eine eindeutige Lesart mehrfach ‘geschachtelter’ Sätze. Eine klammerfreie lineare Funktorschreibweise, die so genannte ‘polnische’ Notation, hat später Jan Łukasiewicz (1878⫺1956) vorgeschlagen (vgl. Art. 76 § 4.2.2.). Als Bedingung für die semantische Vollständigkeit und Konsistenz eines Systems logisch komplexer (konkreter) Sätze ist hinreichend und notwendig, daß jeder elementaren Aussage genau ein Wahrheitswert zugeordnet ist. Die logischen Wörter „und“ und „oder“ und der Existenzquantor „es gibt“ lassen sich auf bekannte Weise (vgl. Art. 76 § 3.2.1.) definitorisch auf die hier eingeführten Wörter reduzieren.
3.
Formale Logik
3.1. Aussagenkalkül Artikulieren der Satz a und ein Satz der Form a → b irgendwelche wahre Aussagen, so können wir offenbar allein aufgrund unserer (se-
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102. Frege und seine Nachfolger
mantischen) Wahrheitswertfestlegung schließen, daß auch die durch den Satz b ausgedrückte Aussage wahr ist. Diese Schlußform (Frege 1879: 7 f) heißt traditionell „Modus ponens“. Sind a und b (bzw. dann auch c und d) irgendwelche sinnvollen (d. h. gegebenenfalls in Abhängigkeit von einer konkreten Bezugssituation wahren oder falschen) Sätze, so artikuliert auch der Satz [1]: a → (b → a) allein aufgrund der Bedeutung (der Wahrheitsbedingung) des logischen Zeichens „→“ eine wahre Aussage ⫺ was man in einer Betrachtung aller möglichen Kombinationen der Wahrheitswerte (etwa mit Hilfe einer Wahrheitstafel) leicht einsieht. Ebenso drükken dann auch Sätze der Formen [2]: (c → (b → a)) → ((c → b) → (c → a)) und [3]: (d → (b → a)) → (b → (d → a)) immer wahre Aussagen aus. Die in unserer Darstellung auftretenden Zeichenketten heißen „Formeln“ und repräsentieren offenbar andeutungsweise (schematisch) irgendwelche Sätze der entsprechenden Form. Wir müssen dazu natürlich die Zuordnungsregel der Formeln zu den Sätzen praktisch beherrschen. Sowohl die Formeln als auch die Sätze dieser Formen nennt man aus den erläuterten Gründen „(aussagenlogisch) allgemeingültig“, oder auch „logisch wahr“. Indem wir dann auch in komplexen Formeln (die ihrerseits komplexe Satzformen repräsentieren) diese Formen wiedererkennen können ⫺ zum Beispiel ist die Formel [*]: (a → (b → a)) → (c → (a → (b → a))) von der Form der ersten Formel ⫺ können wir mit Frege alle Formeln der drei bisher betrachteten Formen als allgemeingültige Axiome oder „Grundformeln“ betrachten. Frege spricht hier von „Grundsätzen“ und benutzt den Senkrechten (Behauptungsstrich) „“ dann auch, um auszudrücken, daß die darauffolgende Formel allgemeingültig ist ⫺ womit dieser eine etwas andere als die bisher erläuterte Bedeutung erhält. Weitere allgemeingültige Grundformeln, die Frege hinzunimmt, sind die folgenden: [4]: (a → b) → (ÿ b → ÿ a) [5]: ÿ ÿ a → a [6]: a → ÿ ÿ a. Wenden wir dann das Schlußschema des Modus ponens nicht auf wahre Sätze, sondern auf allgemeingültige Formeln ⫺ etwa die
Formeln [1] und [*] ⫺ an, so erhalten wir offenbar immer logisch allgemeingültige Formeln, in unserem Beispiel die allgemeingültige Formel c → (a → (b → a)). In dieser Anwendung heißt das Schlußschema auch „Abtrennungsregel“. Der schematische Kalkül, der darin besteht, daß man aus den Formeln der Form der Axiome mit Hilfe der Abtrennungsregeln weitere Formeln herleitet (und so deren Allgemeingültigkeit beweist), ist gerade Freges „Aussagenkalkül“. Die Formeln [1]⫺[6] entsprechen in Frege 1879 denjenigen Formeln auf S. 26, 35, 43 f und 47, welche dort mit (1. bzw. (2., (8., (28., (31. und (41. bezeichnet sind. 3.2. Prädikatenkalkül Ein System von sinnvollen Sätzen bzw. Aussagen, welches in Bezug auf ein System von G-Benennungen definiert ist, das das Leibnizprinzip erfüllt und als semantisch vollständig und konsistent vorausgesetzt werden kann, heiße im folgenden eine „wertsemantische Struktur“ oder ein „Modell“ (vgl. Art. 3 §§ 4.2. und 4.4.1.). Für jedes solche System repräsentieren Formeln der folgenden Formen gleichheits- und quantorenlogisch gültige Satzformen: [7]: (t ⫽ t⬘) → (S(t) → S(t/t⬘)) [8]: t ⫽ t [9]: ∀x1.S(t/x1). → S(t) Dabei benutzen wir hier t und t⬘ als Vertreter für „Terme“: Das sind zunächst Namenkonstanten N, N1, N2, …, die (feste) G-Benennungen vertreten, oder auch so genannte „freie Variable“ y, y1, y2, …, die G-Benennungen variabel vertreten und im Kalkül eine besondere Rolle spielen. Frege benutzt für die ersteren die Buchstaben a, b, …, für die letzteren die Buchstaben x, y, … . Ferner vertreten ab jetzt die Buchstaben S, S1 ⫺ je nach Kontext ⫺ entweder Formeln, oder, wie bisher, durch konkrete Sätze ausgedrückte sinnvolle (wahre oder falsche) Aussagen, also „Gedanken“. Es ist dabei [7] wegen des Leibnizprinzips allgemeingültig, [8], weil Gleichungen mit identischen Bestandteilen immer als wahr bewertet werden, und [9], weil jeder G-Satz S(N) wahr sein muß, wenn der G-Allsatz ∀x.S(x). wahr sein soll. Die Formeln [7] bis [9] entsprechen in Frege 1879 denjenigen Formeln auf den Seiten 50 f, welche mit (52., (54. und (58. numeriert sind. Mit Hilfe des schematischen Verfahrens der Erkennung (‘Parsing’) von Satzformen, d. h. der Projektion einfacherer Forme(l)n
2084 auf komplexere, erhalten wir Freges Version eines Prädikatenkalküls in der Begriffsschrift: Grundformen sind beliebige Satzformeln der genannten 9 Formen. Die einzige Ableitungsoder Deduktionsregel ist (zunächst) die Abtrennungsregel (Modus ponens). Ersichtlich repräsentiert dann jede in diesem Kalkül herleitbare Satzform F eine logisch allgemeingültige Satzform in folgendem Sinne: In jeder wertsemantischen Struktur wird jede Aussage, die durch einen Satz der Form von F artikuliert wird, wahr (als wahr bewertet, erfüllt). In diesem Sinne ist der Prädikatenkalkül der Begriffsschrift „korrekt“ (vgl. Art. 3 § 4.6.1.). In der bisherigen Form erzeugt der Kalkül noch nicht alle allgemeingültigen Forme(l)n. Dazu ist er um folgendes Regelschema zu erweitern, welches freie Variablen in gebundene verwandelt: Kommt die Variable xj nicht schon in S vor, so darf man von einer Formel S(yi) die Formel ∀xj .S[yi/xj]. deduzieren. Soll dagegen die Abtrennungsregel die einzige Deduktionsregel des Kalküls bleiben, so könnte man auch folgendes Axiomenschema (mit der gleichen Variablenbedingung wie in der genannten Regel) hinzunehmen: [10] S(yi) → ∀xj .S[yi/xj]. Der entstehende Kalkül bleibt korrekt: Ist nämlich S(yi) allgemeingültig, so wird S(N) wahr in jedem Bereich G für jede mögliche G-Benennung N. Daher ist auch ∀xj.S(xj). wahr in G, also allgemeingültig. Die Variablenbedingung ist dabei nötig, da sonst Probleme mit dem „Skopus“ (Bereich) der gebundenen Variablen auftreten könnten. Daß Frege dies alles erkennt, zeigt seine Angabe genau unserer Deduktionsregel (in Frege 1893: 62). 3.3. Syntaktische Deduktionen analytisch gültiger Satzformen Frege operiert in der Begriffsschrift mit metasprachlichen Satzschemata, um zu zeigen, wie in einer irgendwie gegebenen und als wertsemantisch schon gedeuteten „Objektsprache“ (einer Struktur, verstanden als System möglicher Aussagen) allgemeingültige Satzformen und allgemeingültige Schlüsse erzeugt bzw. erkannt werden können. In der neueren Logik definiert man dagegen eine „formale Sprache“ auf der Grundlage von elementaren Formeln der Form „nPi (t1, … tn)“: Die n-stelligen Prädikatkonstanten nPi vertreten dabei n-stellige elementare Prädikatausdrücke; die ti vertreten freie oder gebundene Variable
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
oder auch Funktionsterme von der Form „nfi(t1, …, tn)“. Dabei heißen die nfi „n-stellige elementare Funktionskonstanten“ und im Fall n ⫽ 0 „Namenkonstanten“. Logisch komplexe Formeln sind dann völlig analog zur Satzzusammensetzung gebildet, wie sie bei Frege (siehe oben) geschildert ist. Eine Zuordnung, welche den (geschlossenen) Formeln (ohne freie Variablen) einer formalen Sprache bedeutungsvolleF Aussagen, artikuliert durch Sätze der gleichen Form, in einer Struktur so bestimmt, daß gleiche Konstanten in die gleichen Benennungen (von Funktionen) übergehen, heißt dann auch „modelltheoretische Interpretation“ des Systems (vgl. Art. 3 § 4.). Eine Formel oder Satzform heißt „logisch (allgemein)gültig“, wenn sie (allein aufgrund der wertfunktionalen Sinnfestlegung der logischen Wörter) in jeder modelltheoretischen Interpretation zu wahren Aussagen führt; ein formal-deduktiver Schluß ist allgemeingültig, wenn in jeder Interpretation, in der die Prämissenformeln zu wahren Aussagen werden, auch die Konklusionsformel wahr wird. Die logischen Axiomenschemata und die zwei Deduktionsregeln in Freges Prädikatenkalkül lassen sich dann natürlich direkt als Regeln zur Erzeugung allgemeingültiger Formeln in einer beliebigen formalen Sprache (1. Stufe) lesen. Der Kalkül ist sogar vollständig, erzeugt alle allgemeingültigen erststufigen Satz- bzw. Schlußformen, was allerdings erst Kurt Gödel (1906⫺1978; vgl. Gödel 1930) gezeigt hat (siehe auch Art. 3 § 4.6.1.). Damit wird es möglich, Beweise, daß die Wahrheit eines Satzes aus gewissen als wahr bekannten Sätzen analytisch folgt, in einer Vielzahl von Fällen schematisch zu führen bzw. die Korrektheit des Beweises schematisch nachzuprüfen. Man kann dazu neben definitorischen Gleichungen zwischen Namen auch ‘Prädikatoren’-Regeln der Art: „Primzahlen sind nur durch 1 und sich selbst teilbare natürliche Zahlen“ oder: „Was rot ist, ist nicht grün“ als definitorische Formelschemata zu den logischen Axiomenschemata hinzufügen. Dadurch entsteht ein Kalkül, in welchem man rein schematisch analytische Satzformen i. e. S. erzeugen kann (vgl. Art. 3 §§ 4.2., 4.4.2. und 4.7.). Damit hat man ein Teilziel des „Leibnizprogramms“ (vgl. Art. 76 § 1.1.) erreicht: Beweise dieser Art der Analytizität lassen sich durch bloßes Rechnen im Kalkül führen. Allerdings besitzen wir im allgemeinen kein schematisches Entscheidungsverfahren, das uns nach endlich vielen Schrit-
2085
102. Frege und seine Nachfolger
ten sagt, ob ein Satz (eine Satzform) in diesem Sinn analytisch ist oder nicht. Eine wichtige Frage tritt hier auf, die dann auch die Kontroverse zwischen Frege und Hilbert (vgl. Frege 1976: 55⫺80; siehe Art. 76 § 4.1.) um die richtige Analyse der Geometrie bestimmt: Lassen sich auch Strukturen in unserem Sinne, also Gegenstandsbereiche mit den auf ihnen definierten Funktionen, etwa die Struktur der Punkte, Geraden, Ebenen in der Geometrie oder die der natürlichen oder reellen Zahlen in der Arithmetik, dadurch „implizit definieren“, daß man eine (effektive) Liste (erststufiger) Formeln („formale Axiome“) für wahr erklärt und sie als Ausgangspunkt von Deduktionen von Theoremen der axiomatischen Theorie gemäß den Regeln des Prädikatenkalküls gebraucht (vgl. Art. 3 § 4.6.2.)? Freges Bedenken sind hier durchaus berechtigt: Formale Axiomensysteme sind Systeme von Satzformen, nicht von Sätzen. Sie definieren bestenfalls Begriffsformen, nicht Begriffe (Prädikate) in einem Gegenstandsbereich (Kambartel 1975: 80 f), charakterisieren also nur Klassen von Modellen, in denen die Axiome und Theoreme zu wahren Sätzen werden. Dabei zeigt jede Deduktion oder auch jeder metastufige Deduzierbarkeitsbeweis einer Formel F aus einem Axiomensystem A, daß jede Interpretation, die jede Formel von A wahr macht, auch S wahr macht. Und umgekehrt: Ist jedes Modell von A Modell von S, so ist S aus A deduzierbar. Thoralf A. Skolem (1887⫺1963) und Gödel zeigen später, daß die axiomatisch charakterisierten Modellklassen in aller Regel unendlich viele wesentlich verschiedene Interpretationen (Modelle) enthalten. Unklar ist allerdings, ob Frege bemerkt hat, daß auch in seinen Grundgesetzen der Arithmetik nur Formen von Benennungen und Sätzen repräsentiert werden, und daß es sich ebenfalls um ein axiomatisch-deduktives System handelt: Die Wertverlaufsnamen und Sätze der Grundgesetze ändern nämlich, wie wir sehen werden, ihre Bedeutung, wenn der Bereich der Variablen in ihnen sich ändert. Frege selbst glaubt anscheinend, so etwas wie ein Standardmodell (vgl. Art. 3 § 4.4.2.) der Arithmetik und Mengenlehre geschildert zu haben, so daß er die Deduktionen im Kalkül der Grundgesetze direkt als analytisch wahre Schlüsse im Modell deuten könnte, die sich aus der Art und Weise der Festlegung der Wahrheitsbedingungen ergäben. Dieser Irrtum führt sogar zur Inkonsistenz von Freges System ⫺ so daß wir, wenn wir ihm gerecht werden wollen, im-
mer zwischen seinen richtungsweisenden Ideen und den konkreten Mängeln ihrer Durchführung unterscheiden müssen.
4.
Mengen und Zahlen
4.1. Wertverläufe und Mengen In der Mathematik spricht man üblicherweise umstandslos über Funktionen wie über echte (erststufige) Gegenstände. Freges Unterscheidung zwischen zweitstufigen Funktionen und erststufigen Wertverläufen macht es dagegen erst möglich, die semiotische Konstitution von objektstufigen Extensionen durch die linguistische Operation der Abstraktion zu erkennen: Es werden dabei die ungesättigten Funktionsausdrücke F(x1, …, xn) mit Hilfe besonderer syntaktischer Merkmale nominalisiert und es wird ihnen ⫺ zugleich ⫺ eine BedeutungF durch die Definition von Gleichheiten zugeordnet. Ist zum Beispiel S(x) ein einstelliger Prädikatausdruck, so schreiben wir heute üblicherweise „{x : S(x)}“ und sprechen von der „Menge“ der Gegenstände, welche das betreffende (komplexe) Prädikat S(x) erfüllen. Frege schreibt, allgemeiner, für beliebige Funktionsausdrücke f(x) „aœf(a)“ (benutzt also griechische Vokalbuchstaben als gebundene Variablen und den spiritus lenis zur Kennzeichnung der Variablenbindung) und spricht von dem „Wertverlauf“ der Funktion f(x), bzw., wenn die Werte von f(x) Wahrheitswerte sind, von dem „Begriffsumfang“ von f(x). Damit nun die ‘Abstraktoren’ „Menge“, „Begriffsumfang“ oder „Wertverlauf“ bzw. ihre formalsprachlichen Varianten ⫺ anders als die bloßen ‘Nominalisatoren’ „Begriff“ und „Funktion“ ⫺ aus ungesättigten Funktionsausdrücken semantisch wohlgeformte, also bedeutungsvolleF Namen der ersten Stufe machen, sind die Wahrheitswerte der Gleichungen zwischen Mengen- bzw. (allgemeiner) zwischen (einstelligen) Wertverlaufsnamen festzulegen. Dies geschieht über das folgende Grundgesetz V in (Frege 1893): aœf(a) ⫽ eœg(e) ↔ ∀x(f(x) ⫽ g(x)). Darüber hinaus läßt sich, so scheint es, passend zu dieser Extensionsgleichheit die Funktionalapplikation als zweistellige Funktion auffassen und zwar gemäß der folgenden Regelung: Es bedeuteF „N \ aœf (a)“ das Gleiche wie f(N). Frege (1893: § 34) benutzt für diese Definition Quantoren der 2. Stufe. Speziell für einstellige Mengen wird so der Wahrheits-
2086 wert der uns geläufigeren Notation für die Elementbeziehung „N e {x兩 S(x)}“ durch den Wahrheitswert von „S(N)“ festgelegt. Allerdings verbirgt sich ein größeres Problem in der Frage, welche (Wahrheits-)Werte Ausdrücken der folgenden Art zugeordnet sind oder zugeordnet werden sollen: „aœf(a) \ eœg(e)“ oder „{x : S(x)} 苸 {x : S⬘(x)}“, besonders wenn in f oder f⬘ bzw. S oder S⬘ schon ein Ausdrucksteil für die Funktionalapplikation oder die Elementrelation auftritt. Frege hat nicht gesehen, daß in diesen Fällen die obige Regel zu keiner Reduktion der Wahrheitsbedingungen auf ‘einfachere’ (kürzere) Ausdrücke führt. 4.2. Lambda-Kalküle und Kategorialgrammatiken Ersetzen wir in einem Satz oder auch einem komplexen Namen einen oder mehrere Namen durch eine oder mehrere freie Variable yi 1, …, yi n und dann einen oder mehrere weitere Namen durch yj 1, …, yj m, so sehen wir dem entstehenden Ausdruck nicht mehr an, in welcher Reihenfolge die Ersetzung vorgenommen wurde bzw. ob die Variablen wieder in einer gewissen Reihenfolge bei der Funktionalapplikation durch Benennungen zu ersetzen sind. Dies ist der Grund, warum man Freges Vorschlag zur Bildung von Funktionsausdrücken in sogenannten lambda-kategorialen Formelsprachen fortentwickelt und Satz- und Funktionsformen mit Hilfe des von Alonzo Church (*1903) eingeführten „Variablenbinders“ l notiert (vgl. auch Art. 3 § 3.4.). Man kann dann zwischen einer n-stelligen Funktionsform: lx1 … xn F(x1, …, xn) und einer geschachtelten, etwa einstelligen, Form: lxi 1 lxi 2 lxi 3 … lxi n F(x1, …, xn) unterscheiden: Im ersten Fall sollen die Variablen bei der Funktionsapplikation gleichzeitig durch n Namen ersetzt werden, im zweiten sukzessive, beginnend mit den von „xi 1“ besetzten Stellen. Im ersten Fall erhalten wir sofort einen gesättigten Ausdruck (der Kategorie Name oder Satz, je nach gewähltem F), im zweiten erhalten wir noch ungesättigte Ausdrücke, Funktoren, in, wie man dann sagt, „höherstufigen Kategorien“. Eine systematische Beschreibung derartiger syntaktischer Funktorkategorien hat als erster Kazimierz Ajdukiewicz (1890⫺1963) gegeben, indem er sie durch rekursiv aufgebaute „Typenindizes“ benannt hat, nämlich durch Ausdrücke der Form (t/t1, …, tn), wobei die ti die Reihenfolge und Kategorien der Argumente des Funktors notieren, t die Kate-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
gorie seines Wertes (vgl. Art. 2 § 5.1.3. und Art. 3 §§ 2.5. und 3.2.). Die Grundkategorien Name und Satz werden dabei durch die elementaren Typenzeichen n und s notiert. Die Kategorie (s/n, …, n) ist dann zum Beispiel die der n-stelligen Prädikatausdrücke, der einfachen oder komplexen „Prädikatoren“, zu denen alle aus einem Satz S entstehenden Ausdrücke der folgenden Form gehören: lx1 … xn (S(N1 /x1, …, Nn /xn). Die Typen von Ajdukiewicz entstehen offenbar durch eine naheliegende Verallgemeinerung von Freges Unterscheidung zwischen Namen, Sätzen und Funktionsausdrücken, gegebenenfalls mit zweitstufigen Argumenten. l-Terme „benennen“ zunächst Funktionen. Erst wenn eine Wertverlaufsgleichheit zwischen ihnen definiert ist, werden die „Präfixe“ lxi 1 … xi n zu Notationsvarianten von Freges Wertverlaufsabstraktoren. In jedem Fall bleibt aber die Betrachtung des Typs der Funktion bedeutsam. Obwohl quantifizierende Nominale wie „mancher Mensch“, „jede Institution“ oder „die Primzahlen“ im wesentlichen (d. h. bei Vernachlässigung der Kongruenz des „Numerus“, des Plurals) die gleiche syntaktische Distribution wie Eigennamen haben, spielen sie bei der Bestimmung der Wahrheitsbedingungen der Sätze einer Sprache offenbar eine ganz andere Rolle als jene. In einer oberflächennahen formalen Analysesprache, wie sie Montague in die linguistische Semantik einführte, kann man dann etwa Nominale unter Einschluß von Eigennamen und Kennzeichnungen syntaktisch als „Operatoren“ auffassen, welche wie die Quantoren (einstellige) Verbalphrasen als Argumente und Sätze als Werte haben, sie also in der Kategorie der „verallgemeinerten Quantoren“ (s/(s/n)) einordnen. Sätze wie „Mancher ist ein Mensch“ und „Peter ist ein Mensch“ werden dann auf die gleiche schematische Weise in eine halbformale Notation überführt, nämlich in: „Mancher (lx (x ist Mensch))“ und „PETER (lx (x ist Mensch))“. Ein Nominal N wie PETER entspricht einem Eigennamen N wie Peter genau dann, wenn für jedes (relevante) Prädikat lx.S(x). gilt: N (lx.S(x).) ist wahr genau wenn S(x/N) wahr ist. Man kann dann natürlich auch Ausdrücke betrachten, welche höherstufig typisierte und durch höherstufige Quantoren, Nominatoren oder Abstraktoren abgebundene Variablen xt enthalten. Für ihre modelltheoretische Inter-
2087
102. Frege und seine Nachfolger
pretation ist ein Substitutionsbereich möglicher Benennungen von Funktionen des betreffenden Typs t hinreichend deutlich zu beschreiben, ferner sind die Wahrheitswerte der durch Substitutionen entstehenden Sätze festzulegen. Außerdem ist gegebenenfalls zu den Grundkategorien „Name“ und „Satz“ eine weitere Grundkategorie „mögliche Welt“ (vgl. Art. 3 § 5.1.4.) oder „Situation“ (vgl. Art. 3 § 8.) hinzuzufügen ⫺ da die Wahrheitswerte von Sätzen und die Werte von Namen auch von der Situation abhängen können. Man gelangt so zu verschiedenen Varianten einer intensionalen lambda-kategorialen Grammatik einer formalen Sprache, die man durch formale Bedeutungspostulate (explizite und implizite Definitionen) anreichern und in mengentheoretischen oder auch substitutionstheoretischen Modellen formal interpretieren kann ⫺ so daß die Begriffe der Allgemeingültigkeit bzw. der formalen Analytizität in einer solchen Sprache definierbar sind. Wie weit eine funktionale Darstellung des Sinnes und der Bedeutung normalsprachlicher Wörter und Sätze in einem solchen Rahmen trägt, was sie zeigt und zu welchen (etwa auch technischen) Zwecken sie brauchbar sein könnte, ist natürlich eigens zu beurteilen. 4.3. Anzahlen Ist M irgendein im System der Grundgesetze bildbarer Mengenterm, so ist die Anzahl (oder „Kardinalzahl“) von M definierbar durch: card(M) : ⫽ {x : es gibt ein F: F ist umkehrbar eindeutige Abbildung von M nach x}. Um diese Definition ganz in den Rahmen der im System zugelassenen Ausdrücke einzupassen, ist die Relation „x ist umkehrbar eindeutige Abbildung von y nach z“ durch eine geeignete offene Satzform darzustellen, was im Prinzip ähnlich wie in der modernen (axiomatischen) Mengentheorie geschieht. Auch ohne eine weitere Klärung technischer Details erkennt man die schon geschilderte Grundvorstellung Freges, wie abstrakte Gegenstände zu konstituieren sind: Die BedeutungF von Mengentermen und Zahlbenennungen soll durch die Prinzipien der Wahrheitswertbestimmung für Gleichungen und andere Sätze, in denen sie vorkommen, bestimmt sein. Das ist der tiefe Sinn von Freges Diktum (1884: § 62): „Nur im Zusammenhange eines Satzes bedeuten die Wörter etwas.“
4.4. Russells Antinomie Statt allerdings ausgehend von einem Grundbereich G durch Hinzufügung der Namen von Begriffsumfängen bzw. der durch sie benannten Gegenstände ein neues System von G⬘-Sätzen zu bilden, nimmt Frege offenbar an, es gäbe einen umfassenden Bereich aller möglichen objektstufigen Gegenstandsnamen (bzw. Gegenstände), zu dem dann auch die Wertverlaufsnamen (bzw. Wertverläufe) gehören würden und aus dem man die besonderen Teilbereiche durch geeignete Prädikate aussondern kann. In der Tat lassen sich je zwei Gegenstandsbereiche zu einem einzigen vereinigen. Daher scheint es möglich zu sein, sich ‘alle’ derartigen Teilbereiche zu einem einzigen „universe of discourse“ vereinigt zu denken. Diese Meinung beruht nicht auf platonistischen Vorurteilen, sondern auf der Überzeugung, daß alles, worüber man (in der Mathematik) sinnvollerweise sprechen kann, intersubjektiv und damit im Prinzip situationsunabhängig artikulierbar sein sollte. Unter dieser Vorstellung liegt es in der Tat nahe, von einem einzigen und umfassenden Variablenbereich auszugehen, der ‘alle’ benennbaren Gegenstände umfaßt. Die (gebundenen) Variablen in Sätzen der Form ∀x.S(x). und in Benennungen der Form {x : S(x)} würden sich dann nicht auf einen ‘Teil’-Bereich G, sondern immer gleich auf den Gesamtbereich der prinzipiell benennbaren konkreten und abstrakten Gegenstände beziehen. Unter dieser Annahme läßt sich nun aber der (Russellsche) Mengen-Ausdruck A : ⫽ aœ(ÿ (a e a)) ⫽ {x: ÿ x苸x} bilden. Wegen der wertsemantischen Definition der Negation und der definitorischen Regel N e {x: S(x)} ↔ S(N) erhält man als Wert des Ausdrucks „¿ (A e A)“ das Falsche, wenn er das Wahre wäre, das Wahre aber, wenn er das Falsche sein sollte. Mit anderen Worten, A kann kein bedeutungsvollerF Name sein ⫺ obwohl Frege glaubte, gezeigt zu haben, daß alle in seinem System bildbaren Wertverlaufsnamen bedeutungsvollF seien, daß das entstehende Satzsystem also semantisch konsistent sei. Das Beispiel zeigt zugleich, daß, wie Frege später erkennt (1976: 60), „kein Ungedanke durch Verneinung zu einem Gedanken“ werden kann. Würde dies beherzigt, so erübrig-
2088 ten sich übrigens auch alle logik-technischen Auflösungsversuche der Antinomie des Lügners: Die Äußerung eines Satzes der Art „Ich lüge hiermit“ hat eben keine BedeutungF, und scheint nur einen SinnF zu haben. Darüber hinaus ergibt sich aus Russells Paradox die deduktive Inkonsistenz des Fregeschen Mengenkalküls, der besteht aus einer prinzipiellen Formulierung des Prädikatenkalküls mit Gleichheit und Quantifikationen 2. Stufe und dem schon erläuterten Grundgesetz V. In diesem System gibt es Formeln S, so daß gemäß den Deduktionsregeln sowohl die Satzform ¿ S als auch die negierte Formel ÿ⫺ S herleitbar ist. Dies ist für einen Kalkül, der nur analytisch wahre Satzformen erzeugen will, desaströs, zumal dann nach den Regeln des Prädikatenkalküls jede Formel im System herleitbar wird. 4.5. Zum Schaffen abstrakter Gegenstände Frege glaubte, die normale Sprache (vgl. Art. 109) mit ihren syntaktischen Möglichkeiten zur Bildung bedeutungsloser Namen A der Russellschen Art habe ihn zu fehlerhaften Regelungen in seinem System verleitet. Der Grund für das Auftreten der semantischen bzw. deduktiven Inkonsistenz der Grundgesetze liegt in der Tat in der Annahme, man könne die abstrakten Gegenstandsnamen und Gegenstände, die durch Mengenabstraktionen über einem Variablenbereich (Namenbzw. Gegenstandsbereiche) G entstehen, selbst wieder als G-Namen bzw. G-Gegenstände auffassen. Stattdessen erzeugt auch eine durch syntaktische Regeln der Bildung von Mengentermen eingeschränkte Mengenbildung, wie sie Frege vorschwebt, zu jedem gegebenen Variablenbereich G immer auch Mengenterme M, für die sich über die semantischen Regeln M ⫽ g ergibt für jedes g aus G. Obwohl Frege zugibt, daß die Wertverlaufsabstraktion in gewisser Weise neue Gegenstände 1. Stufe schafft ⫺ wenn auch nicht auf so einfache Weise, wie der von ihm immer kritisierte formalistische Nominalismus glaubt ⫺, hat er nicht hinreichend berücksichtigt, daß sich hier immer der Bereich der erststufig benennbaren Gegenstände und damit auch der möglichen Funktionen der 2. Stufe erweitert, ja daß sich sogar der Sinn eines jeden Funktionsschemas ändert. Dies hat Russell zu seiner Typentheorie (vgl. Art. 76 § 3.2.4.) geführt, in welcher die Variablen in den Quantoren und Mengentermen gemäß ihrem Auf-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
bau kategorisiert werden und dann nur je einen bestimmten Bereich von Mengentermen zur Substitution zulassen. 4.6. Mengentheoretische Semantik Unter Logikern ist die Ansicht verbreitet, Quantifikationen seien nicht angemessen substitutionell zu erläutern, man benötige vielmehr einen Erfüllungsbegriff für Aussageformen in Mengenstrukturen. Denn es ist zum Beispiel schon nicht ‘jede mögliche’ Folge natürlicher Zahlen in einem fixen, rein syntaktisch (konfigurativ) definierten, Namensystem benennbar. Daher verwendet man seit Alfred Tarskis (1901⫺1983) Arbeiten „Belegungen“ freier Variablen, die man als Abbildungen b von (Folgen von) Variablen in eine Gegenstandsmenge auffaßt. Eine derartige mengen- oder modelltheoretische Semantik (vgl. Art. 3 § 4.) stellt allerdings Freges Programm einer Sinnanalyse mathematischer Aussagen wenigstens in einer Hinsicht auf den Kopf: Dieser setzt bewußt mathematische Begriffe wie „Menge“, „Abbildung“, „Struktur“, „Modell“ nicht als schon geklärt oder als Grundbegriffe voraus. Vielmehr geht es ihm gerade darum, die semiotische Verfassung (Konstitution) dieser Reden zu klären. Nun ist aber eine figurensubstitutionelle Deutung der erststufigen Quantifikation (vgl. Art. 3 § 4.4.1.) problematisch, da sie zum Beispiel in jedem Fall eine Revision des üblichen Sinnes der Rede über ‘alle reellen Zahlen’ erzwingen würde: Es gibt kein syntaktisches System der Bildung von Zahlnamen, in welchem jede reelle Zahl eine Benennung erhält. Um Freges Konzeption zu retten, dürfen daher die Gebiete G von Gegenständen und sinnvollen Aussagen nicht ausschließlich über rein syntaktische Systeme von Ausdrucksbildungsregeln für Namen und Sätze charakterisiert werden, was auch tatsächlich nicht nötig ist: Der Begriff der „möglichen Benennung“ kann wie der einer möglichen Aussage offen gegenüber syntaktischen Erweiterungen der Ausdrucksmöglichkeiten gehalten werden und darf (muß) auch Abhängigkeiten von deiktischen Situationsbezügen zulassen. In der Tat läßt sich etwa der Bereich der möglichen Benennungen einer Zahlenfolge durch rein semantisch formulierte Bedingungen umgrenzen: Verlangt ist nur eine Beschreibung des Folgengesetzes bzw. der Wahrheitsbedingungen der Aussagen in irgendeiner Sprache, die etwa auch deiktische Rückbezüge auf faktisches Reden oder mathemati-
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sches Wissen erlaubt (vgl. dazu Artikel 133 §§ 2.4. und 2.5.). Berücksichtigt man diese Möglichkeiten, dann treten auch bei einer substitutionellen Erläuterung der Quantifikation nicht die Probleme auf, die sich scheinbar nur im Rahmen einer mengentheoretischen Modelltheorie lösen lassen. So klar wie die Rede von einer Interpretation B(nPi) bzw. B(nfi) von schematischen Prädikat- und Funktionskonstanten und wie die Rede von einer Belegung b(yi) der Variablen yi in einer als bekannt unterstellten Menge G ist die Rede von der Substitution von Benennungen, die bestimmte Bedingungen erfüllen, allemal: Würde nicht wenigstens in Umrissen gesagt, was es heißt, einen Ausdruck „b(yi)“ als Vertreter einer möglichen Benennung eines Elementes der Menge zu betrachten und gäbe es nicht wenigstens Beispiele wirklicher Benennungen, so bliebe die Rede von einer oder gar von allen möglichen Variablenbelegungen b ein gänzlich leeres Schema. Nur über die Schilderung, was als wirkliche G-Benennung zählt, läßt sich ein Variablenbereich oder eine Menge G konkret beschreiben. Und nur über eine definierende Erläuterung der Werte gesättigter Ausdrücke läßt sich auch die Interpretation von Funktions- und Prädikatkonstanten konkretisieren. Das ist die Lehre, die wir aus Freges Analysen ziehen sollten.
5.
Textinterne Designation und externe Referenz
5.1. Die drei Bereiche von Gegenständen Zahlen, Mengen und andere Abstracta bilden ⫺ gegebenenfalls zusammen mit den metastufigen und in ihrer Identität von Kontexten und Urteilen abhängigen Funktionen, Gedanken und dem Sinn von Namen ⫺ nach Frege ein „drittes Reich“ von Gegenständen, im Gegensatz zum „zweiten“ Reich der bloß subjektiven, aber dafür wirklichen Empfindungen und Vorstellungen, und zum „ersten“ der objektiven und wirklichen (erfahrbaren) physischen Dinge. Abstracta sind weder direkt noch in der Form kausaler Folgen wahrnehmbar, daher sind sie nicht wirklich; aber sie sind Gegenstände objektiver Rede mit intersubjektiven Wahrheits- und Begründungsbedingungen. Im folgenden wollen wir ⫺ in leichter Normierung einer von Charles W. Morris (1901⫺ 1979; vgl. Art. 113) in die Semiotik eingeführten Redeweise ⫺ sagen, daß nur wirkliche Dinge „Denotate“ oder auch „Referenten“
2089 von Namen sind. Designate oder BedeutungenF von Namen können dagegen auch abstrakte Gegenstände sein. Referenten eines Zeichens müssen zusätzlich zur Bedingung, daß sie BedeutungenF sind, und das heißt, daß wir gemeinsam über sie sprechen können, in der Erfahrung intersubjektiv aufweisbar sein. Ohne die Realität der zweiten, der psychischen, Sphäre zu bestreiten, betont Frege (in etwas anderer Ausdrucksweise), daß rein Subjektives weder Designat noch Denotat von Namen sein kann: Diese haben nämlich generell nur in einem gemeinsamen, im Idealfall wertsemantisch geregelten, Gebrauch im Satz- oder Textzusammenhang eine BedeutungF. Soweit wir über Vorstellungen oder Empfindungen reden und zwischen wahren bzw. falschen Aussagen über ‘Typisches’ im Bereich der Psychologie unterscheiden, sprechen wir schon über Objektives (vgl. Frege 1976: 48). Dabei braucht man keineswegs immer Verfahren der intersubjektiven Wahrheitsfindung zu kennen. Es geschieht zum Beispiel oft, daß ich, aber kein anderer, weiß, was ich gerade fühle oder denke. Und doch muß das ‘Typische’ dieses Fühlens und Denkens ⫺ in Absehung seiner Einzigkeit und dessen, daß es meines ist ⫺ auch von anderen nachvollziehbar und insofern irgendwie, wenn auch unvollkommen oder auch in Abhängigkeit von einem Vorwissen und gemeinsamen Erfahrungen, intersubjektiv artikulierbar sein. 5.2. Zu Wittgensteins Theorie der Abbildung im Tractatus Die Abbildtheorie des Tractatus (vgl. Art. 84 § 4.1.) verdankt Freges Ideen mehr, als Frege selbst bei seiner Lektüre des stilistisch so ganz anders gearteten Textes bemerkt haben mag. Ihre Grundidee läßt sich etwa so charakterisieren: Sätze bzw. Wörter der Sprache, die nicht in erster Linie wie die der Mathematik einen sprachinternen Gebrauch haben, bilden nicht etwa zeitlose Tatsachen oder wirkliche Dinge ab, sondern artikulieren zunächst immer nur mögliche Sachverhalte oder Sachlagen bzw. mögliche Gegenstände (vgl. Art. 3 § 8.1.). Den (empirisch gehaltvollen) Sätzen müssen dabei zuvor sinnkonstitutive Wahrheitsbedingungen zugeordnet sein, es muß kriterial festgelegt sein, welche wirklichen bzw. möglichen Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen ihre mögliche Äußerung (den konkreten Satz) als wahr bzw. falsch zu bewerten gestattet, bzw. mit welchen Erfahrun-
2090 gen wir zu rechnen haben, wenn eine solche Aussage wahr sein soll. Wenn man später mit Rudolf Carnap (1891⫺1970) die von einem Satz zum Ausdruck gebrachte Proposition durch Abstraktion über die Intensionsgleichheit, die durch ein als abgeschlossen hypostasiertes System sprachinterner Regelungen bestimmte „LÄquivalenz“, definiert (siehe Carnap 1947: § 5; vgl. auch Art. 3 § 5.1.3.), oder gleich, mit Richard Montague (1930⫺1971), als ebenfalls hypostasierte Klasse der möglichen Situationen oder möglichen Welten w, in denen die Äußerung des Satzes wahr wäre (vgl. Art. 3 § 5.1.4.), erhält man gegenständlich gefaßte Intensionen eines Ausdrucks oder Satzes. Als Rekonstruktion des Sinnbegriffs hat Willard Van Orman Quine (*1908) dieses Vorgehen ganz zu Recht kritisiert: Die Relation der Synonymie ist nämlich weder für normalsprachliche noch für mathematische Rede unabhängig von einem faktischen Konsens im Urteilen angemessen rekonstruierbar. Und Intensionen machen nicht etwa Freges Sinnbegriff ‘exakter’, sondern verallgemeinern den Begriff der BedeutungF auf einem naheliegenden Weg, den Wittgenstein im Tractatus vorgeschlagen hat. Danach sind alle analytischen und damit insbesondere alle wahren mathematischen Sätze als sinngleich zu werten: Sie sind alle empirisch gehaltlos, ihre Äußerung ist „unsinnig“, da sie keine Unterschiede zwischen (kontingenterweise) wirklich bestehenden und nicht bestehenden (möglichen) Sachverhalten treffen, sondern bestenfalls an Folgerungen aus (oder Inkonsistenzen zu) begrifflichen Sprachregelungen erinnern. Carnap unterscheidet völlig analog zwischen (empirisch leeren, rein sprachinternen) formal- und realwissenschaftlichen Aussagen ⫺ womit Freges Unterscheidung zwischen dem 1. und 3. Reich der wirklichen und abstrakten Wahrheiten letztlich nur eine andere Fassung erhält. Freges Rede vom SinnF im Unterschied zur BedeutungF und zu den Intensionen (vgl. Art. 3 § 5.3.3.) bedenkt dagegen die wirkliche Art und Weise, wie die (Gebrauchs)Bedeutung eines Ausdrucks bekannt (gemacht) ist: Der Sinn der Ausdrücke und Aussagen muß öffentlich erläutert und als bekannt unterstellt sein, bevor man nach ihrer BedeutungF (der Intension, dem Wahrheitswert) überhaupt fragen kann. Es kann daher keine Theorie der Bedeutung geben, die nicht wesentlich in der Erläuterung des Sinnes der Ausdrücke der betrachteten Sprache be-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
stünde. Erst danach kann man dann manche, aber jedenfalls in der Mathematik nie alle BedeutungsgleichheitenF der erläuterten Sprache beweisen (zu parallelen Überlegungen in der Semasiologie und Onomasiologie vgl. Art. 105). 5.3. Textimmanente Gegenstände und Wahrheiten Wann immer wir über Gegenstände oder Entitäten bzw. über Wahrheiten sprechen, sprechen wir nach Frege über BedeutungenF möglicher Benennungen, und das heißt, wie Ernst Tugendhat (*1930, vgl. Tugendhat 1976: 51 ff) ganz treffend formuliert, über ihr „Wahrheitswertpotential“ in einem Aussagesystem, das wir als Struktur schon genauer bestimmt haben. Gegenstände ‘gibt es’, weil und insofern wir in der Wortsprache und/ oder in anderen Zeichengebräuchen (etwa Zeige-Gebärden) Benennungen (namenartige Zeichen) ‘für sie’ in Sätzen (oder satzartigen Zeichen, etwa Gesten) gebrauchen. Wahrheiten gibt es, weil wir (mögliche) Assertionen von Sätzen nach gewissen Kriterien (zunächst: formal) als wahr oder falsch bewerten. Nun sagt aber Frege doch ⫺ wie Michael Dummett (*1925) schon 1956 gegen ähnliche Interpretationen durch Quine und Nelson Goodman (*1906) geltend macht (vgl. Dummett 1973: 202 und 1978: 38 ff) ⫺, ein Ausdruck wie „der Mond“ benenne den Mond oder „der Morgenstern“ benenne die Venus; er spricht hier also keineswegs von einem bloßen Wahrheitswertpotential! Dies aber heißt nur: Wenn und weil wir (stillschweigend) unterstellen, daß normale Aussagesätze, in denen ein Ausdruck wie „der Morgenstern“ vorkommt, über den physischen Gegenstand (die Venus) ⫺ und zum Beispiel nicht über ein Phänomen am Morgenhimmel oder den Sinn des Wortes ⫺ sprechen, ist in diesen Kontexten das Ding, auf das der Name referiert, seine BedeutungF, und zwar weil die Gleichheit zwischen verschiedenen physisch gemeinten Benennungen definiert ist über die Identität des Objektes. Diese wiederum ist über die prinzipiell mögliche Identifizierung des Objektes in der als bekannt unterstellten raum-zeitlichen Ordnung seiner Erscheinungen definiert. Nur in bezug auf diese Methode der zunächst faktischen und dann auch grundsätzlich als möglich unterstellten Identifizierung im Ablauf der Zeit bzw. durch verschiedene Betrachter läßt sich ein physisches Ding als solches (im Unterschied etwa zu einem typischen Phänomen, einer Teilgestalt)
102. Frege und seine Nachfolger
in einem deiktischen Taufakt benennen (vgl. auch Frege 1918/19: 65 ff und 75 ff). Quine (1960, vgl. etwa § 9 und 19) hat subtile Überlegungen zu dieser Frage nach den logischen Wurzeln der Referenz angestellt, die man durchaus als Fortführung Fregescher (und Wittgensteinscher) Überlegungen ansehen kann, auch wenn der erste nur die logische Konstitution der BedeutungF abstrakter Namen untersucht hat, die für konkrete Dingnamen dagegen als bekannt voraussetzt, wenn er sie zur Veranschaulichung seiner Unterscheidung zwischen „BedeutungF“ und „SinnF“ heranzieht. Sogar im Falle von Ding-Benennungen können wir, wenn auch etwas künstlich, ein abstraktes Designat vom konkreten Denotat unterscheiden, und zwar einfach dadurch, daß wir davon absehen, wie das Wort faktisch der wirklichen, empirisch erfahrenen, Welt zugeordnet wird. Denkt man sich diese ‘Projektion’ durch Taufakte vermittelt, so erhält man das abstrakte Designat eines Wortes durch Vernachlässigung aller Taufakte, eben als seine ‘interne’ oder ‘formale’ Rolle im Textzusammenhang, im (internen) ‘Sprachspiel’. Damit erscheint die Diskussion um die Seinsweise bloß möglicher Gegenstände und Sachverhalte, der Possibilia, wie sie sich heute in der Sprachphilosophie explizit oder unausgesprochen an Freges Analysen anschließt, in einer neuen Beleuchtung: Im formalen Sinn ist uns all das, was uns Texte erzählen, zunächst ‘abstrakt’ gegeben. Auch wenn der formale Rahmen physischer Rede eingehalten wird, sind alle in Texten ausgedrückten Sachverhalte und benannten Dinge zunächst bloß möglicherweise wirklich wahr. Trotzdem kann man sagen, daß der Text seine Sätze (Aussagen) immanent für formal wahr erklärt, daß seine Namen immanent als ‘existent’ erklärte Gegenstände benennen. Erst die textexterne und pragmatisch auf unsere erfahrbare Wirklichkeit zu beziehende Unterscheidung zwischen einer bloßen Erzählung und einem (Tatsachen-)Bericht liefert den Unterschied zwischen (bloßem) Designat und (wirklicher) Referenz der Worte, zwischen einem bloß formalen, textinternen Wahrheitsbegriff und dem Begriff einer ‘wahr’ oder ‘richtig’ dargestellten Wirklichkeit. Obwohl es trivial scheint, so ist es doch bedeutsam: Keinem Text, wenn er nur formal konsistent oder sogar schon zu dem, was uns als selbstverständlich gilt, kohärent ist, sieht man es einfach an, ob er bloß durch den
2091 Vortragenden als wahr bewertet wird, oder ob er wirklich wahr ist. Dies muß immer ‘von außen’, in der Erfahrung und Praxis, beurteilt werden. Daß zum Beispiel der Name „Napoleon Bonaparte“ wirklich eine historische Person benennt, wissen wir, weil wir gewisse Texte als Berichte (an)erkennen, bei „Shakespeare“ und erst recht bei „Homer“ wird einiges unklar, während Rübezahl oder Sherlock Holmes sicher nicht wirklich existier(t)en. Trotzdem ‘gibt’ es alle hier genannten ‘Personen’ als Designate (vgl. Art. 74 § 13. und Art. 77 § 7.) und es lassen sich in jedem Fall aufgrund der bekannten Geschichten über sie (formal) wahre Aussagen über sie machen (siehe dazu etwa den Dialog mit Pünjer über Existenz in Frege 1973: 3 ff). Auch jede (formale) Semantik sieht auf Grund ihres methodischen Rahmens immer von der faktischen ‘Projektion’ der Texte auf die Erfahrungswirklichkeit unseres praktischen Lebens ab. Daher kann sie nicht, wie etwa von Donald Davidson (*1917) angenommen wird, die Beziehung untersuchen zwischen Zeichen und Wirklichkeit, sondern nur die zwischen Zeichen und abstraktem Designat. 5.4. Fiktionen und Possibilia Überlegungen Freges zum kontextualen Begriff der BedeutungF von Namen und Sätzen kann man nun auch für eine Analyse der Rede über fiktive oder fiktionale Gegenstände nutzbar machen. Diese werden durch (extern als „fiktional“ bewertete) Texte konstituiert, da diese auch für Gleichungen und andere Sätze, in denen formale Benennungen vorkommen, direkt oder auch indirekt (über nahegelegte Schlußfolgerungen) formale Wahrheitswerte festlegen (vgl. Art. 121 § 7.). Man kann dann etwa untersuchen, welche formalen Konsistenz- und welche inhaltlichen, auf unser Wissen bezogenen, Kohärenzbedingungen ‘gute’ Fiktionen erfüllen müssen. Und ähnlich wie Frege auf die Kreativität der Konstitution von Mengen hätte achten sollen, können wir hier nicht vorab und zeitlos über ‘alle möglicherweise konstituierbaren’ fiktiven oder fiktionalen Gegenstände sprechen: Derartige Gegenstände gibt es erst dann, wenn es die Texte ‘über sie’ wirklich (dieses Wort immer im Sinne Freges genommen) gibt; sie werden, wie mathematische Gegenstände, im Rahmen eines Systems von Sätzen erschaffen, nicht entdeckt, wie Gabriel 1987 gegen Parsons 1980 zu Recht geltend macht.
2092 Daher ist es auch nicht so recht sinnvoll, etwa mit Lewis 1986 einen (einzigen und abgeschlossenen) Bereich von „Possibilia“, von möglichen Gegenständen und möglichen Aussagen, anzunehmen und aufzugliedern in ein mengentheoretisches System möglicher Welten, welch letztere nichts anderes als mathematische Strukturen (Systeme möglicher Aussagen) in unserem Sinne sind. Immerhin ist die Unterstellung derartiger semantisch vollständiger und konsistenter Aussagensysteme dann nötig, wenn man die Schlußschemata der formalen Prädikatenlogik ohne jede Einschränkung (‘blind’) anwenden will, d. h. ohne vorherige Kontrolle, ob die relevanten Ausdrücke und Sätze sinnvolleF Aussagen artikulieren. Der Wunsch, mit ‘allen’ rein syntaktisch wohlgeformten Ausdrücken und Sätzen logisch-deduktiv zu ‘rechnen’, drängt uns dazu, im Bereich der wertsemantischen Interpretationen Wahrheitswertlücken auf mehr oder minder beliebige Weise zu schließen. Die Frage, ob bzw. wann ein solches Gerechne sinnvoll sein könnte, wird allerdings kaum mehr gestellt. 5.5. Gerade und ungerade Kontexte als objekt- und metastufige Rede Die hermeneutische (vgl. Art. 131) und auch die analytische (vgl. Art. 109) Philosophie weist gern auf eine „unhintergehbare Zirkularität“ semantischer Analysen hin, die darauf beruhe, daß die historisch vorgegebene Normalsprache die „oberste Metasprache“ der Rede über die Sprache, insbesondere auch über formale Sprachen sei. Hier ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Eines sind die im allgemeinen in der Normalsprache artikulierten Erläuterungen der konstitutiven syntaktischen und (wert)semantischen Regeln oder ‘Gebrauchsanweisungen’, mit deren Hilfe wir ein formales Zeichensystem und gegebenenfalls einen formalen Wahrheitsbegriff für seine Sätze neu festlegen, oder vielleicht auch einen vorgängigen Sprachbereich rekonstruktiv (normierend) ausgrenzen: Wer die Erläuterungen und Beispiele verstanden hat, kann sich dann in dem Regelsystem richtig bewegen, kann zum Beispiel semantisch wohlgeformte Sätze des Systems als wahr beweisen, gerade so, wie einer, dem die Regeln des Schachspiels erfolgreich erläutert wurden, richtig spielen kann. Eine Zirkularität tritt hier nicht auf. Etwas anderes ist es, wenn wir über eine durch Regeln neu bestimmte oder irgendwie ausgegrenzte Objektsprache sprechen: In der Regel werden wir diese me-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
tastufigen Berichte oder Beschreibungen nicht in der Objektsprache geben (können), nämlich immer dann nicht, wenn diese gar nicht das Reden über die Syntax und die semantischen Regelungen vorsieht oder zuläßt. Zum Beispiel wird in der objektstufigen Rede der Arithmetik explizit ausgeschlossen, daß die Zahlzeichen für sich selber stehen: Sie stehen immer für Zahlen, sollen in allen arithmetischen Kontexten nach dem Leibnizprinzip bedeutungsgleichF ersetzbar sein. Wenn wir also arithmetische Sätze auf ‘normale’ oder „gerade“ Weise, etwa in einer Behauptung, gebrauchen, sprechen wir über die BedeutungenF der Namen und Sätze, nicht über ihren Sinn, nicht über die Art der Bedeutungsbestimmung. Dasselbe gilt, wenn wir über fiktive Personen und Gegenstände sprechen, etwa Sherlock Holmes. Auch sie sind in fiktionalen Texten nicht nur (metastufige) ‘Sinngebilde’ (Gabriel 1987: 73), sondern die BedeutungF von Namen. Zu einem Objekt metastufiger Rede wird eine Sprache bzw. ein semiotisches System als ganzes oder in Teilen dadurch, daß wir über die Zeichen und über Gebrauchs- und/oder Wahrheitsbedingungen ‘reflektieren’. Dies geschieht unter anderem in allen von Frege „ungerade“ genannten Kontexten (vgl. Art. 3 § 5.3.3.), etwa in Sätzen der Art: „Ich glaube, daß …“ oder „Ich weiß, daß …“. In ihnen werden die Zeichen selbst und ihre Gebrauchsregelungen, ihr Sinn, oder auch ein eventuell beschränktes Wissen über ihre BedeutungenF (u. a.) zum metastufigen Gegenstand der Rede: die daßSätze werden nicht in direkten Aussagen ‘gebraucht’, sondern eher ‘erwähnt’, die mögliche Aussage wird in bezug auf ihren Sinn und/oder ihre Bedeutung ‘subjektiv’ beurteilt. Dies hat zum Beispiel Konsequenzen für die Geltung des Leibnizprinzips, wie dies an folgendem Beispiel Russells deutlich wird, der damit nur Freges Überlegungen aus „Über Sinn und Bedeutung“ weiterführt: Wenn einer, sagen wir Peter, glaubt, Scott sei der Autor von Waverley, so glaubt er etwas anderes, als wenn er glaubt, Scott sei Scott. Eine interessante Feinunterscheidung zwischen ungeraden und geraden Vorkommnissen von Wörtern, besonders von Pronomina (Variablen) innerhalb von ungeraden Kontexten geht auf Quines Untersuchung des „Quantifying in“ zurück. Man betrachte dazu etwa folgendes Beispiel: Wenn der Bericht, daß Peter von Scott glaubt, er sei der Autor von Waverley, wahr ist, dann ist auch der Kommentar wahr, daß Peter vom Autor
102. Frege und seine Nachfolger
von Ivanhoe glaubt, er sei der Autor von Waverley. Hier, aber nicht in Russells Beispiel, ist das Leibnizprinzip der bedeutungsgleichenF Ersetzung von Namen in Geltung ⫺ wobei man offenbar aus einer ‘neutralen’ Position, einer Betrachterperspektive, spricht und die betreffende BedeutungsgleichheitF als bekannt voraussetzt. Relativ zum „geraden“ oder objektstufigen Gebrauch von Sätzen (auch daß-Sätzen) in ‘normalen’ Aussagen und Behauptungen gehören ungerade Vorkommnisse zu einer auf die Begrenztheiten unseres eigenen und/oder gemeinsamen Sprach- und Weltwissens reflektierenden metastufigen Rede, in der neben Beurteilungen von Situationen, die auf Erfahrung beruhen, auch Sinnerläuterungen und Neuvorschläge zur differenzierenden Artikulation direkt oder indirekt eine Rolle spielen können. Dies ist der tiefere (logische) Grund, warum es problematisch ist, ungerade, und damit nicht schon gegenständliche, Rede im Rahmen von Konstatierungen und von Berichten über subjektive propositionale Einstellungen zu rekonstruieren, wie dies die Mögliche-Welten-Semantik versucht.
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XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
103. Phenomenological Semiotics 1. Pre-phenomenological Semiotics 2. Phenomenological Semiotics: Edmund Husserl 3. Further developments 3.1. Martin Heidegger: signs and action 3.2. Phenomenological psychology and psychoanalysis 3.3. Phenomenological aesthetics 4. Relation to other trends 4.1. Structuralism and Formalism 4.2. Karl Bühler 4.3. Gottlob Frege 4.4. Growth of Logical Empiricism 5. Contemporary interpreters 6. Selected references
1.
Pre-phenomenological Semiotics
Franz Brentano (1838⫺1917) prepared the way for phenomenology in his attempt to use psychology to develop a scientific metaphysics. He found that the available psychologies needed a clarification of their own fundamental concepts, and thought that such a clarification would make psychology truly scientific, provide one psychology to replace the variety of currently accepted ones, and in this way provide the approach to key metaphysical issues. Though Brentano was interested in developing both descriptive and genetic psychology, descriptive psychology was fundamental, for he held that a causal study of psychological phenomena must be founded on a clarification and description of what was to be explained. His concern with categorial clarification led him to focus on the intuitive grasp of the structural properties of phenomena, on idealized types rather than on concrete cases. The descriptive psychology thus developed was independent of genetic psychology and of the natural sciences such as physics and physiology, and the focus was on inner perception as distinct from introspection. The crucial constituent of psychological phenomena as opposed to physical phenomena is intentional inexistence, which is also characterized as reference to a content or direction upon an object. Mental phenomena include an object intentionally within themselves. One can think of a house even if there is no house. Further, psychological phenomena are acts, in a wide sense of the term, such as sensing, thinking, judging, and inferring. In claiming that the essential character of all psychic phenomena is their relation or direct-
edness to their objects, Brentano’s stress was on the relation, the activity of pointing rather than that to which the activity points. The psychical is directed to objects. In addition to the intentionally inexistent object there is the physical sensation functioning as a sign of the real physical thing. He thus made the distinction between real existence of physical things as opposed to intentional inexistence of psychic objects. Brentano distinguished between acts of representation through which one may think of something or have it present to consciousness, and acts of judgment through which one may either accept or reject something. These are distinguished by their different ways of referring to objects ⫺ differences discovered by inner perception, which presents them with immediate and evident certainty. Every psychological phenomenon is either a representation or based on a representation. If we combine two representations, such as the idea of horse and brown, this does not yield a judgment but a new idea of a brown horse. The object of an intellectual stance of accepting or rejecting is the same as the object of the idea upon which the judgment is based. The term exists expresses the act of judgment; it is not the conjunction of an attribute, existence, with the object, but it is the object itself that is affirmed. This nonpropositional theory of judgment thus supports the view that existence is not a predicate. Brentano strongly objected to any recognition of an independent status for irrealia ⫺ entities that are not concrete things. In his desire to avoid multiplying entities he allowed only for the existence of real things and thinkers. For every sentence that is true and seems to refer to some nonconcrete thing, one can form an equivalent expression which replaces the subject and predicate by something referring to a real thing. Referents of expressions that do not point to physical or psychical objects are fictitious entities. Brentano’s views were later criticized as involving the psychologism to which Husserl and Frege objected, but Husserl himself held that phenomenology could not have developed without Brentano’s doctrine of intentionality. Anton Marty (1847⫺1914) held a theory of meaning based on the descriptive psychol-
103. Phenomenological Semiotics
ogy of Brentano, his teacher and close associate for many years (cf. Art. 77 § 7.3.). Marty elaborated the traditional distinction between categorematic and syncategorematic uses of words, and held that in claims such as There is a horse, the words a horse refer to an object, while assertions such as there is function only to express that the utterer is accepting the object. An object has being if it can be correctly accepted, and nonbeing if it can be correctly rejected. Objects that exist can be classified as either real or nonreal. He rejected Brentano’s view that sentences supposedly referring to nonreal objects can be translated into sentences referring only to coexisting sets of real objects upon which nonreal objects are held to depend. There may exist the nonreal object that is the being of the river or the nonreal object that is the nonbeing of the river, depending upon whether the assertion is correct or incorrect. Though non-translatable, the existence of nonreal objects is always dependent upon the existence of a co-existing set of real objects. In addition to the content of incorrect judgments, there are nonreal objects such as deficiencies of various sorts. Marty rejected Meinong’s distinction between subsisting and existing objects. Alexius Meinong (1853⫺1920) developed a theory of the expression and reference of words, holding that a word always refers to the object of the presentation that it expresses, while it expresses the presentation of the object to which it refers. Speaking the word sun expresses that a definite presentation, whether of perception or imagination, is taking place within the speaker. The type of presentation is determined principally by what is presented in its object, and this object is that to which the word refers. The phrase the blue sky and the sentence the sky is blue have the same object as their reference. However, in saying the sky is blue I express an opinion or judgment that cannot be obtained from the phrase the blue sky. The phrase expresses what is described by Brentano as the presentation or idea, while the sentence expresses the judgment. Like Brentano, his teacher, Meinong held to the correctness or incorrectness of affirmations and denials, but in contrast to Brentano, he held that the object of a judgment is not a concrete thing; it is an objective (“Objektiv”), which includes propositions, facts, or what Stumpf came to call “states of affairs”. According to Meinong, there are ob-
2097 jects that can be said to subsist but not to exist. Contrary to Brentano, Meinong held that in addition to accepting or rejecting, one can take the attitude of an assumption. Like judgments, assumptions take objectives as their objects and include either affirmation or denial, but without any commitment involved. Rather they take attitudes of supposing the negative or the affirmative of something being the case. Meinong’s understanding of objectives is important in the treatment of negations. Like Brentano, he held that there must be an object for negative judgments. It makes no sense to say that nonexistence exists, but we can say it is the case, and it is the being of the case which is the objective to which the negative judgment or negative sentence refers. Thus false judgments like true judgments have their objectives. His theory of objects includes not only negative objects but also impossible objects, since they can be referred to in statements which are either true or false. Meinong’s doctrine of objectives introduced types of phenomena or objects of such extensive scope that their study virtually demanded their separation from issues of existence, an important development for Phenomenological Semiotics. His understanding of expression and reference gains added importance in terms of its development in explicit opposition to Husserl’s position (cf. Art. 74 § 13. and Art. 77 § 7.2.). Carl Stumpf (1848⫺1936), also a student of Brentano, could not accept Brentano’s absolute categories of either physical or psychical phenomena, but rather accepted entities not falling into either of these groups. These contents to which our judging acts refer are dependent on the acts, but distinct from them. In labeling these contents, Stumpf introduced the term “Sachverhalt” or “state of affairs”. Phenomena include primary phenomena or those contents of our immediate experience which are given to our senses and secondary phenomena or the images of them which occur in memory. They do not include contents formed by the mind, such as the contents of judgments or states of affairs. These, along with concepts and values he puts within a new discipline called “Eidologie”. Sensory contents as well as mental activities are experienced directly. The category of substance or thing can be traced back to actual experiences such as perceiving the close interpenetration of the parts of a whole. Experience includes perceiving relations
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XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
rather than merely individual sensations that must be related by the understanding. Stumpf used the term “phenomenology” to characterize his position, but his phenomenology was a phenomenological psychology, rather than the pure phenomenology of Husserl. Kazimierz Twardowski (1866⫺1938), who was greatly influenced as a student by Brentano, aimed to develop a scientific philosophy by a careful analysis of problems in a way which would end conceptual and linguistic confusions. He accepted Brentano’s descriptive psychology, but contributed to the rejection of psychologistic accounts of meaning and language, for his view necessitated the separation of logic and philosophy in general from psychology. He distinguished between the mental act, its content, and its object. The mental content belonged to the history of the individual, but its object did not. This distinction was not made by Brentano, but it influenced the later Meinong as well as Husserl.
2.
Phenomenological Semiotics: Edmund Husserl
Edmund Husserl (1859⫺1938) is considered the founder of pure phenomenology. His position grows out of two kinds of historical problems. One concerns the objective significance of mental states, their reference beyond themselves. The other concerns the problem of the consciousness of any object given as identically the same through a multiplicity of experiences or acts (cf. Art. 74 §§ 12. and 14.). The most famous of Brentano’s students, Husserl, took from him the view that philosophy should be a rigorous science (for similar positions see Art. 104⫺108 and 113). For Husserl, however, such rigor was mainly the rigor of the deductive sciences as exemplified in mathematics, not that of the inductive natural sciences. Certain defects in the foundations of mathematics were the focus of his early philosophic interests. Husserl’s Philosophie der Arithmetik (1891), dedicated to Brentano, was described as psychological and logical studies. In this work, Husserl attempted to derive the fundamental concepts of mathematics from psychological acts, but several years later he abandoned such an attempt. His reorientation was largely influenced by Frege, who had already argued that logic and psychology are radically different studies.
Like Frege, he came to the view that mathematics does not deal with our operations of counting but with numbers. Husserl then began to present his lectures which provide a critique of psychologism. Psychologism, for Husserl, first represented the view that psychology was the necessary and sufficient foundation of logic. He held, in opposition to this, that mathematics and logic are not concerned with the operations of making judgments and inferences, but rather with the products of these operations, ideal entities such as concepts, propositions, and conclusions. Gradually, Husserl came to give psychologism a wider meaning which included any attempt to convert into psychological experiences objects of any type whatsoever. What was needed, he held, was a descriptive study of the processes in which entities are presented, with a focus not on factual relationships, but rather on essential or ideal relationships that could be understood independently of actual cases. There is, for Husserl, a parallel between the structures of the subjective act of intending and its objective referent. This is precisely the correlation between what he came to call the noetic act or the noesis and the noematic content or the noema. Phenomenology studies and describes these correlative aspects of any phenomenon. To focus on either in isolation is an artificial abstraction from their integration in concrete experience. To be a sign is to be a sign for something; to point it out. Not all signs, however, have the additional function of meaning. Signs, as indicators (“Anzeichen”, i. e., marks), need not express a meaning. A sign which is not an expression, a sign as a mark or indicator, does not require any insight into its connection with that for which it is a sign. The sign as indicator and the signified involve a productive association which brings two different things to a felt unity which is not rational or insightful. This is the case in manifestation, which is a type of indicating which is about the speaker and includes facial expressions and the various gestures which may involuntarily accompany speech. Every expression has three basic functions. It manifests some state of the speaker, connotes or conveys a meaning, and denotes or refers to an object. Expressions in their manifesting function serve as signs for certain psychical experiences or thoughts of the speaker. An expression refers to an objective correlate through its meanings; it signifies or names an
103. Phenomenological Semiotics
object because it means something. The distinction between meaning and reference in Husserl closely parallels that found in Frege (cf. Art. 76 § 3.1.3.), though their diverse terminologies can cause some confusion on this point. Frege’s “Sinn” is equivalent to Husserl’s “Bedeutung”, and Frege’s “Bedeutung” is equivalent to Husserl’s “Gegenstand ” as that which is named or referred to. Husserl differs from Frege concerning the reference of propositions in that according to Frege the meaning of a proposition is the thought expressed and its reference is the truth-value, while for Husserl the meaning of a proposition is the thought but the reference is a state of affairs. The distinction between meaning and reference allows expressions with the same meaning to have different references, and expressions with the same reference to have different meanings. An expression can refer only because it means, and it refers through its meaning. When meanings differ, their modes of reference also differ. An expression also has a particular reference because of its use, and the changing character of its reference is determined by its use. In the meaning-intending acts we are not objectively aware of the meanings but of the objects of reference. We become aware of the meaning of an expression, as distinct from its reference, through a subsequent act of reflection. Husserl totally rejects all vestiges of the mental image theory of meaning, making a sharp distinction between meaning-intention and meaning-fulfillment, between symbolical understanding and intuitive apprehension. Meaningful expressions vary in the nature of meaning fulfillment but they are meaningful because of the meaning-intention they embody. Until the meaning-intention is fulfilled, there is meaning, but not knowledge. And, because the object referred to is presented as a fulfillment of an intention, the mode of givenness of the object of reference is dependent upon the meaning-intention. Meaning-intention explains the meaningfulness of expressions prior to, or in the absence of, knowledge or verification experiences. In the widest use of the term, all awareness is intentional. Awareness is awareness of something. In the more restricted sense, acts of intention indicate experiences characterized by their ability to found fulfilling-relationships. Two different groups belong to intentional acts in this narrow sense: desire and wish intentions, and objectifying acts. Objec-
2099 tifying acts function as components of a knowledge situation. These can be further classified into the signitive or symbolic and the intuitive, corresponding to the distinction between thought and intuition. As actually spoken or written, the same expression cannot recur. Yet, we speak of the same expression in spite of different reproductions. A printed word as a physical pattern is different from a word as a meaningful expression. As soon as it functions as a word or expression, the physical pattern enters into a new intentional unity. An expression is not a passing physical phenomenon, but rather an ideal structure that is capable of being repeated. The ideality of an expression is at once the ideality of its meaning by which it is constituted. These form an inseparable unity whose aspects can be distinguished. Husserl holds that the ideality of an expression is that of an objective spiritual entity, as distinguished from the ideality of the meaning expressed by it. The objectivity of linguistic expression is ultimately rooted in the subjective acts of the speaker. Like all experience, the experience of language has a noetic aspect and a noematic aspect, the latter being constituted by the former. In the experience of language there is a noetic experience which produces the identity of the physical expression, a meaning-intending act which produces the identity of meaning, and an act that constitutes the physical expression and the meaning into an inseparable unity. Husserl developed a theory of syntactic forms and an a priori grammar for all possible languages. Because he held that there is a close relation between grammar and logic, the distinctions and laws of a universal logical grammar largely determine the grammar and syntax of all languages (for the underlying tradition of universal grammar see Art. 65 § 5.2., Art. 67 § 2.4., and Art. 79 § 2.1.1.). Although diverse languages develop their own particularities, any language must conform to the essential forms of meaning and the necessary laws of their modifications. Husserl’s understanding of pure logic incorporates the propositions or truths composed of combinations of meanings, the things to which these refer, and an ideal structure, speech, consisting of the identical sentences which express propositional meanings. For Husserl, the term syntax covers both propositions and sentences. Further the theory of syntactical forms of propositions has priority over the theory of the syntactical forms of
2100 the sentences to be derived from them. Husserl was mainly concerned with pure logic as the study of the objects of symbols, both as propositional meanings and the objects meant through them, prior to the study of their relationship to linguistic expression. There are two different types of compatibility or incompatibility among meanings, one is meaninglessness, the other is contradictory meanings. In contradictory meanings, there is possible the formation of a unified meaning-intention, though meaning-fulfillment is impossible, while in grammatical incompatibility, no unified signification is possible. The pure logical grammar, the lowest stratum of formal logical, shows the possibility of propositions as propositions, independent of the issue as to whether they are true or false, consistent or inconsistent. It deals with the fundamental categories and forms of meanings, and the laws determining allowable combinations and modifications of meanings. Propositional meaning is independent, while all other forms of meanings are possible constituents of the full propositional meaning. Among the fundamental forms of composition are the attributive and the predicative forms, which leads to the issue of names. Though every expression is about something and thus relates itself to an object, this relation is not always one of naming. Naming is a specific kind of referring. For Husserl, all expressions capable of functioning as complete subjects of predicative statements are names. An assertion can never function as a name, nor can a name function as an assertion, without changing its semantic essence, and thus its very meaning. A name must have a completeness, or give expression to a selfcontained intentional experience which meets the subject-function of a statement without any change in its nature. Being a noun, then, is not equivalent to being a name, for a name enters into a particular type of syntactical relationship. House is not a name, but the house, a house built of sandstone, or expressions like that the house is built of sandstone are names. Many names, including all attributive names, arise out of a priori judgments and refer back to them. What in the name remains as a deposit of a judgment is not itself a judgment but a modification which differs sharply from it. The modified act does not include the unmodified one. Judgment provides the basis from which an attributive meaning develops. Once this function is per-
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formed, the judgment can then fall away, and the attribute with its significant content will remain. The statue of Roland in the marketplace is an attributive name which radically differs from the judgment The statue of Roland is in the marketplace. The difference between stating a fact and naming a fact cannot be understood as merely a grammatical difference, for the same fact is objectified in different ways, and the modes of consciousness differ as well. They are, however, connected by an ideal law, for to every attribution a possible predication corresponds and vice versa. According to Husserl, the view that proper names are non-connotative is based on a confusion between indicating and expressing. A proper name, as opposed to a chalk mark as a mere indicator, is an expression which has a type of generality of its own, for a proper name retains an identity of meaning through changing representations. The name names the same person as perceived, imagined, desired, or remembered, and through many differing perspectives. The distinction between names which are a means toward knowing an object and names which are not, or the equivalent distinction between connotative and non-connotative names, is simply the difference between attributive and non-attributive names, and is independent of the distinction between the meaningful and the meaningless. Husserl makes a distinction between names and occasional expressions, such as I, this, here, and now, etc., the meanings of which are not wholly determinate, but must obtain their complete determinations within a context of external circumstances. Because of this, Husserl does not consider occasional expressions as logically proper names. A formalized meaningful combination yields what Husserl calls a “Formidee”. Although these can be materialized in many different ways by replacing logical variables by nonlogical words, not just any nonlogical word can be substituted, but only those belonging to a fixed category. A substitution within the same category might produce a grammatical expression having a false or ridiculous meaning, but nonetheless a meaning developed in a unified manner. If we go beyond categorial constraints, however, such a unification no longer occurs. Husserl distinguishes between syntactical form and syntactical stuff. By letting an expression function as, for example, a subject and then as a predicate, a core of identical
103. Phenomenological Semiotics
meaning remains. Every concrete expression has these two aspects in one, and they can be separated out only by abstraction. A form can become the stuff for a new syntactical operation, and thus, the distinction between form and matter is relative, and the purity of either is a limiting concept. He makes a further distinction between syntactical forms and non-syntactical forms, as well as between correlative stuffs. Syntactical forms are forms of propositions or constituents of propositions. Starting with propositions, to constituents, to constituents of constituents, etc., a last stuff is reached whose form is no longer syntactical. Such syntactical unformed stuffs are substantives such as chair, and also adjectives such as red. Subject forms, predicate forms and attributive forms are syntactical, while substantival and adjectival forms are non-syntactical. Substantive forms hold a fundamental position among non-syntactical forms, for adjectives and relations can always be put in substantive form, though not every substantive can be put into adjective form. The change of the non-syntactical form makes syntactical changes possible. When red is changed to redness it occurs within a change of syntactical structure. When an adjective is changed to the substantive, however, the resulting substantive has a founded meaning which refers back to the original adjectival meaning. Thus, this does not lead to the postulation of abstract entities. There is an existential theorem corresponding to each valid law of operation, composition or modification of meaning. This existence, however, is a logical existence which is internal to the system. In addition to the pure logical grammar which separates the meaningful from the meaningless Husserl develops the formal logic of non-contradiction, which distinguishes between analytic consistency and analytic contradiction. The law of contradiction is the basic law in this area, which includes the formal theory of syllogism and formal mathematical analysis. The pure formal logic of non-contradiction is a system of logic, a compossible system of formal propositions displaying analytic necessity. Husserl distinguishes between analytic laws which are unconditionally universal propositions containing solely formal concepts, and analytic laws as specifications which arise by introducing material concepts and concepts that may posit individual existence. Specifications of analytic laws yield analytic necessities.
2101 The pure logic of non-contradiction is a necessary but not a sufficient condition for the logic of truth. In a pure logic of non-contradiction all laws are formulated without the use of the semantical predicates true and false. A pure logic of truth, however, deals with the formal laws guiding the use of such semantical predicates. Pure logical grammar is concerned with possible judgments or propositions as meant or understood, the pure logic of non-contradiction with possible judgments or propositions as they are free of contradiction, and the logic of truth with actual judgments. The last stage in the development of formal logic is the construction of a universal mathematics, which gives the pure form of all deductive theories and which involves abstract objects and the laws of their combination. In discussing the origin of formal logic, Husserl focuses on the correlation between noesis and noema, and their temporal origin in the pre-predicative experience of the life world. The ideality of language is ultimately rooted in the unreflective, pre-predicative, interpersonal life order which Husserl calls the “Lebenswelt”. The objective structure of language arises from the interpersonal communicative speech within the Lebenswelt. Husserl traces all predicative thought back to the experience in which the original senses of the terms are given, to empirical judgments. There is a degree of idealization in these judgments of experience, for we use common names for the individual objects given in experience. Even in pre-predicative immediate experience certain features are given which are the origin of predicative and logical thinking. Pre-predicative experience is not atomic, but rather objects are always given as belonging to a field, and include outer and inner horizons. The world is the all encompassing horizon of actual and possible experience, constituted by a system of intentionality. Our primitive experience is pervaded by vague typicalities. Husserl’s semantic distinctions thus allowed him to probe the various dimensions of phenomena to an extent not previously achieved. He accomplished this by isolating pure logical form, distinguishing between the subjective act and the objective structure, and overcoming the psychologism which had helped to obscure these issues.
2102
3.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Further developments
3.1. Martin Heidegger: signs and action Heidegger’s (1889⫺1976) hermeneutical phenomenology of human being lies in sharp contrast to Husserl’s descriptive phenomenology of pure consciousness. The ground for his hermeneutical phenomenology is not in subjectivity but in the historicity and facticity of being-in-the-world. Further, it is not merely descriptive, but rather attempts to make seen what is otherwise concealed. Hermeneutics, as a type of interpretation, is not used by Heidegger in its original sense of referring to texts or symbolic expressions (cf. Art. 74 § 8. and Art. 131), but in the sense of referring to existence, to human being or Dasein, and eventually to Being (cf. Art. 74 § 20.). Heidegger begins with a preparatory analysis of human being, which takes its departure from what is given in our everyday existence (cf. Art. 48, 59, 73, and 88), and from there he moves to a level of interpretation which explores the deeper origins of meaning. The human mode of being can occur only in the context of an encompassing world to which it belongs and within which it is embedded, and each are what they are only in their mutual relationship. Things in the world are not merely given as physical objects but as usable things referring to possible application within an action-oriented world, a world of praxis. Heidegger’s phenomenology explores the processes of understanding and interpretation through which things appear, and the hidden structure of being-in-the-world. Phenomenological Semiotics becomes understood in the ontological context in terms of the understanding and interpretation which makes possible the disclosedness of the being of things and ultimately of the potentialities of the human mode of being. Understanding is intentional and historical, and always operates within a set of already interpreted relationships. It does not progress from simple, atomic parts to a whole but operates within a hermeneutical circle. This hermeneutical circle is the ontological structure of all human existential understanding and interpretation. In one’s daily involvement in the world, things are ready to hand as tools or instruments adapted to a particular purposeful pattern which characterizes the involvement itself. A sign is not a thing which stands to another thing in the relationship of indicating. Rather, it is an instrument, a tool, an
item of equipment. Reference itself is not a characteristic of something ready to hand, such as a tool, but rather it is that by which readiness to hand itself is possible. Reference is the relationship of involvement, and out of this structure the more formal relations of reflection emerge. Reference becomes concrete through the towards-which of serviceability and the for-which of usability. An instrument or tool is for the purpose of doing something, and this purposefulness has within itself a reference to that for which it serves a purpose. For example, the hammer has its immediate goal in the hammering, the hammering in the making fast, and the making fast in the building of the shelter. The instrument refers beyond itself because it is embedded in a total purposeful pattern. The complex of references remains taken for granted through our involvement, but becomes apparent when the pattern is disrupted, for example, when the instrument is broken. The breakdown of understanding, when something being used does not “fit”, lights up the being of something, such as a hammer, as a hammer, as well as the usually inconspicuous world in which one exists. The disturbance itself indicates that the total pattern was itself somehow in view, even though taken for granted. This totality, taken for granted, but always in view, is the world. The world is the meaningful context of involvements in which being emerges as meaningful and becomes thematic in language. Meaningfulness is prior to language and embedded in the relational whole that is the world. The human comprehension of meaningfulness, of world, makes possible the discovery of the purposeful patterns of instruments in human engagement with them. The human is the ultimate towards-which to which all referential patterns relate. Indicating is a way in which the towards-which of serviceability is founded on the in-orderto of usability, on the equipment structure as such. The very structure of involvement thus leads to the human mode of being. And, the human anticipates the structure of a being yet to be encountered, which allows the coming-to-pass of the encounter. Understanding itself, which is incorporated in existence and is present in every act of interpretation, has a certain forestructure which is involved in all interpretation. There is always a network of taken for granted presuppositions involved in every interpretation. In this way the human projects a world as the totality of
103. Phenomenological Semiotics
meaningfulness. Understanding and interpretation function prior to the subject-object distinction, for understanding is a mode of being-in-the-world. Heidegger critiques presentational thinking, the arranging of ideas before the mind’s eye, which includes logic and assertions. All assertions are rooted in a more primary level of existential interpretation. The sentence structure of an assertion has placed something over against the subject as an object possessing properties. In the primary way of interpreting the world, however, words are absent. When one uses a tool and puts it down, this is an interpretive act but not an assertion. One approaches something not as an object set over against a subject, but as the function of being a tool. This corresponds to the distinction between what Heidegger calls the “apophantic as” and the “existential-hermeneutical as”. The apophantic as involves a shift to a way of objective pointing which separates the tool from the primordial totality of a lived, relational context. The foundation of language is the phenomenon of discourse in which something is brought to light. Language, as the primary expression of historical, contextual understanding, belongs to the human mode of being. It is not merely a tool of communication but the revelation of being. Language emerges in the context of everyday being-inthe-world, and is a disclosure not of a subject but of the world. We do not invent language, for to be human is to speak. Language allows for the disclosedness of beings, including the human mode of being, and language in turn requires the preunderstanding of being, without which one could not render being accessible and speak about it in the words. Speaking of a being thus involves understanding it in advance as a being, understanding its being. Heidegger has a high regard for language. Indeed, language is the house of being, the house in which humans have their abode. Thus, for Heidegger, poetry holds a special place in relation to the non-verbal arts (cf. Art. 75 § 7.3.). The language of the poet, however, does not speak Being, as the thinker must do. 3.2. Phenomenological psychology and psychoanalysis Phenomenological-existential psychology and psychiatry react against psychologies based on the natural sciences, with their presuppositions of mechanism or reductionism, and
2103 the subject-object split. The problem of how the mind reaches an object is held to be a pseudo-problem resulting from the false assumption that consciousness can be understood independently from that which it intends or is conscious of. Consciousness is not that which intends an object, but rather consciousness is the intentional network. In this focus the movement arises out of the work of Husserl, who, as a pure phenomenologist, did not attempt to deal with the natural world but with the essence of phenomena as they appear to consciousness. It is Heidegger’s analysis of world, however, which provides one of the most useful parts of phenomenology for phenomenological psychology. Being-in-the-world incorporates and in fact gives added support to the more unrelated intentional structures distinguished by the early phenomenology of Husserl, and involves not just consciousness but the ontological structure of the entire human way of being. A major and early proponent of a phenomenological or existential psychoanalysis was Ludwig Binswanger (1881⫺1966), who attempted to describe the experiential world of the patient by making use of Heidegger’s ontology of being-in-the-world in order to understand the world of psychopathic personalities in its inner coherence. He attempted to find in each patient a general context of meaning within which that patient exists, a context which incorporates and expresses with equal validity all facets of the patient’s life and world. 3.3. Phenomenological aesthetics The phenomenological movement places emphasis on the autonomy of the work of art. Roman Ingarden (1893⫺1970) developed a view of the existence of the literary work as an intentional object, delineating four strata in literary works: sound, meaning, the world of the work and its schematized aspects. In this he utilized the strata theory of pure logic as it developed out of a basis in Husserl’s philosophy. The clear constitution of the work of art by intentional acts serves him as an important instance for the study of other constitutions. Mikel Dufrenne (1953) has focused on the differences between aesthetic objects and other objects, finding a fundamental difference to lie in the expressed world of each aesthetic object. Related developments in aesthetics will be discussed in § 4.1.
2104
4.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Relation to other trends
4.1. Structuralism and Formalism Structuralism is concerned with the perception and description of structures having a wholeness or internal coherence governed by intrinsic laws (cf. Art. 74 § 18. and Art. 77 § 13.). Such structures are not static, but contain transformation procedures for the incorporation of new material. Further, the structure is self-regulating in the sense that it can make no appeal beyond itself to justify its own transformation procedures. According to this view, the world does not consist of independently existing objects which can be grasped individually, for the method of perceiving affects what is perceived. Observers partially create the structures of what they observe. Thus what is fundamental is the relationship between the observer and the observed. This becomes reality itself, for only this can be observed. Ultimately, the structuralist attempts to explicate the permanent structures of individual human acts, perceptions, and expressions. This relates most naturally to the study of language and its structures. Language, which is a fundamental human structure, does not construct and transform its formulations through reference to patterns within reality, but from within its own internal rules. For example, a noun’s behavior depends upon its essential structural status as a noun, not on its reference to the actual status of its object. Formalism, a position having strong affinities with the general movement of structuralism, was a Russian literary movement (cf. Art. 114), which also flourished in Poland and Czechoslovakia (cf. Art. 115). It emphasized the autonomy of the work of art, its qualities as an object independent of both its creator and its perceivers. This emphasis grows largely from the phenomenological understanding of the work of art or the literary work as an intentional object. Among the leaders of Russian Formalism was Roman Jakobson (cf. Art. 116), whose influence lies largely in his application of structural linguistics to the analysis of poetry. Jakobson, like the other formalists, was basically concerned with literary structure, and focused on the isolation and objective description of the literary nature of a work as well as on the use of phonemic devices in the work. Art is autonomous and requires an examination in its own terms. Works of art are created by special techniques, and literary
scholarship is concerned with that which makes a given work a work of literature. These structural features are to be found within the work itself, not in the author, and are found ultimately in the distinctive use of language which is involved, not in any particular topic or attitude embodied in the literary work. The work is an inherently self-generating, self-regulating whole which needs nothing beyond itself for its validation. This analysis cannot be limited to poetry. All communication involves a message sent by someone to a destination. The message involves a contact between both, must be formalized in terms of a code, and must refer to a context understood by both sender and receiver in terms of which the message makes sense. The nature of the message is determined by the dominance of one of the above features. Meaning is found in the total act of communication, for all languages contain grammatical parts which have no precise meaning outside of the context in which they occur. The distinctive essence of the aesthetic use of language is that while most communication is basically referential, verbal art is not. Rather, it is concerned to draw attention to its own nature, its sound-patterns, syntax, etc. The communication is oriented toward the message for its own sake. 4.2. Karl Bühler Bühler (1879⫺1963) appropriated Husserl’s position on the essential nature and necessity of acts of meaning, as well as the ideality of language structure, but placed these within the context of the social and conventional nature of language (cf. Art. 77 § 10. and Art. 112). His concern to develop the features of the representational function of language as opposed to its expressive or conative function led to his focus on the ability of language to represent and communicate objects and states of affairs. He held that language signs are operative within an index field and a symbol field, neither of which can be derived from the other. Pointing leads to an intuitive language that is linked to the intuitively grasped world. Index words provide for individuation and identification via the intuitive or perceptual. The symbol field, the field of objects having conceptual content, is best exemplified by words used in their function of naming. He developed the contrast between the situation in which index words must be embedded for meaningful use, and the context within which they make sense. His
103. Phenomenological Semiotics
work was influential on his contemporary Ernst Cassirer (cf. Art. 111), and on Karl Popper, as well as on Jakobson and Ingarden. 4.3. Gottlob Frege Frege (1848⫺1925) was the founder of modern mathematical logic. Although he was not part of the pre-phenomenological movement which led to Husserl’s full blown phenomenology, his direct attack on psychologism, which branded as psychologistic Husserl’s own Philosophie der Arithmetik, is usually held to be partly responsible for Husserl’s later shift away from this position. Frege developed a formalized language of pure thought modeled on arithmetic, and dealt with various aspects of sign systems (cf. Art. 76 § 3.1. and Art. 102). He distinguished between sense (“Sinn”) and reference (“Bedeutung”), and between comprehension and extension. Connected with a linguistic sign is both the reference of the sign and the sense of the sign, which contains the mode of presentation. Thus, the reference of the evening star would be the same as the reference of the morning star (namely the planet Venus), but the sense would be different for each. His work with the relation of identity in logic influenced his views here. Any proper name ⫺ which can be a word, sign, sign combination, or expression, which designates a single object, expresses its sense and designates its reference. He notes, for example, that Aristotle can be understood as the pupil of Plato and as the teacher of Alexander the Great. Some expressions have a sense but no reference. Expressions that have a reference cannot be taken as having their usual reference if they are used in direct quotation. Thus, he showed that many different linguistic contexts affect the reference of expressions included within them. This view generated interest for those concerned with intentional contexts from the backdrop of the development of phenomenology. In rejecting psychologism, Frege held that the meaning of a word is related to our actual practice in the use of language. This removes the meaning from any relation to mental images and takes it in the direction of Wittgenstein’s claim that the meaning lies in the use (cf. Art. 109). Frege’s basic distinction between concept and object involves his understanding of the object. The object is the objective correlate of what Frege calls a “proper name” or, more
2105 generally, a “singular term”, and it includes quite varied types, such as geometric proofs, truth values, astronomical systems, etc. This category of the singular term, and the analysis of the structure of sentences in general, provided the underpinning for Frege’s quantifier-variable notation for expressing generality. A one-place predicate results when one or more occurrences of some one singular term or proper name are removed from a sentence. A similar type of explanation holds for an n-place predicate. Frege’s doctrine of proper names was rejected by the late Wittgenstein and Russell, and thus had a significant negative effect in shaping contemporary philosophy of language. 4.4. Growth of Logical Empiricism Bertrand Russell (1872⫺1970) and the early Ludwig Wittgenstein (1889⫺1951) had strong influence on the growth of logical positivism, which was first associated with the Vienna Circle, the most prominent members of which were Moritz Schlick, Rudolf Carnap, and Otto Neurath (cf. Art. 106 § 5.). Like Husserl, Russell was concerned with the conditions for a logically perfect language. He at first held the extremely realistic view that the meaningfulness of a sentence necessitated an objectively existing referent for every word, but gradually came to concluce that words determining the logical framework of sentences, such as the, and, is, etc., could function without such extralinguistic referents. The period of his logical constructionism moves him away from this early realism, and is intertwined with the metaphysical view that there is an isomorphism of the structure of an ideal language and the structure of reality. The determination of how the world would be described in an ideal language yields a description of what the world is like. Since the same body of facts can be stated in alternative ways, however, the concept of an ideal language is essential. An ideal language incorporates the principle that every proposition we understand must be composed of constituents with which we are directly acquainted. We can understand a linguistic expression only if it refers to something we have experienced or is defined in terms of other expressions which do so refer. The atomic sentences of logical atomism, which are correlated with experience, are those from which everything else expressed gains its meaning. The atomists, both phenomenalists and physicalists, attempt to con-
2106 struct the world out of brute elements, either according to psychological principles of association or to logical principles of structure. All knowledge can be expressed in terms of atomic sentences and their truth-functional combinations (cf. Art. 106 § 3.1.). This of course lies in direct opposition to Husserl’s view. Husserl’s occasional expressions are similar to what Russell calls “ego-centric particulars”. Contrary to Husserl, Russell treats them as logically proper names. He questions the necessity for including ego-centric particulars in a complete description of the world, and tries to reduce all such expressions to one ego-centric particular, this, a logically proper name for a sense datum being experienced by the speaker when making the utterance. This is important to Russell’s attempt to create an ideal language in which one could describe every fact about the world through the use of sentences that are not context-bound. Russell attempts to solve the paradox of reference, the problem of how a sentence like The present king of France is wise can be significant when there is nothing to which it refers, by the use of definite descriptions. He argues that the subject in such a case is not a name, but rather a description which can occur significantly even when it describes nothing. The grammatical form of the proposition is misleading concerning the logical form, and the proposition should be further analyzed. Meinong’s separation of the manner of being from existence was important in the development of Russell’s theory of descriptions, but the latter is in direct opposition to Meinong’s doctrine of true statements about non-existent objects. Russell’s theory of types is intended to handle the paradox of self-membership. According to Russell, the error lies in treating a class as an object. It may be an object in a sense, but not in the same sense that genuine individuals are objects. Classes of classes are again different. Each of these belong to different logical types. In any intelligible sentence, an individual name cannot be replaced by a class name, or a class name by the name of a class of classes, or vice versa. This requirement for meaningfulness is similar to Husserl’s view that one cannot transgress the categories and remain with the meaningful. The early Wittgenstein, the Wittgenstein of the Tractatus, has close affinities to Husserl’s logical studies. The Tractatus seems to pro-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
vide what Husserl called “pure logical grammar”. Wittgenstein, like Husserl, held that there is a philosophical grammar which is more basic than traditional logic and which does not work by means of truth functions. Wittgenstein’s grammar, like Husserl’s, does not deal with truth or falsity but with the conditions necessary for understanding the sense of a proposition. He tries to show how it is possible for there to be a language by specifying the necessary conditions for meaningful sentences without reference to their accidental or empirical characteristics. For this, the sentences must be composed of names that are correlated with noncontingent objects. The early Wittgenstein held that a proposition is a picture of reality, a model of reality as we think it (cf. Art. 84 § 4.1.). The elements of propositions are names, and the names mean the objects. Like Frege and Russell, he held that a proposition is a function of the expressions contained in it. The proper function of language is fulfilled in proportion to its approach to the postulated ideal language. The later Wittgenstein of the Logical Investigations came to see that linguistic expressions are continually embedded in contexts of human activity (cf. Art. 109 §§ 2. and 3.). Here he argues against the primacy of names, against the possibility of objects that are metaphysically simple, against the demand for absolute exactness, and against the possibility of private language or private meanings (cf. Art. 109 § 4.). He moves from the view that logic constitutes the essence of language to the view that the meaning of linguistic expressions is based ultimately on their use, their role in human activity. The main concepts are “language games”, “rules and practices”, and “forms of life”. One understands a linguistic expression when one knows the game being played, which depends largely on knowing the rules of the game and on knowing how to follow the rules (cf. Art. 109 § 2.4.). The latter depends on operating within a form of life, which is what is ultimately given as a basis of language. There is no common property possessed by all language games, but rather there are families of structures which relate to one another in loose fashion. Each alternative language game has its own rules. Wittgenstein, like Husserl, rejects the mental picture theory of meaning. Like Husserl, also, the later Wittgenstein holds that signs are meaningful if
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103. Phenomenological Semiotics
there are rules governing their use, and meaningless if there are no such rules. Such rules, however, are now linguistic conventions (cf. Art. 84). Further, one understands an expression when one knows what to do with it, how to use it according to rules, and not, as Husserl holds, when one grasps the ideality of a meaning. One of the key features of logical positivism is the application of the results of investigations into the foundations of logic and mathematics (cf. Art. 78 § 5.2.) to issues concerning the nature of philosophy and the criticism of metaphysics. Rudolf Carnap (1891⫺ 1970), largely under the influence of Wittgenstein, argued that the logical analysis of the sentences of metaphysics shows them to be pseudo-sentences which are inconsistent with the rules of logical syntax (cf. Art. 106 §§ 2.2. and 4.) ⫺ a view which came to dominate the Vienna Circle. The notion of pseudoproblems is best understood from the backdrop of the verificationist theory of meaning. In its original form, it is based on what Carnap refers to as Wittgenstein’s principle of verifiability (cf. Art. 106 § 3.2.). According to this, the meaning of a statement is constituted by the conditions of its verification, and thus a statement is meaningful only if it is in principle verifiable. Words gain their meaning through meeting the criteria of direct or indirect empirical reference. Carnap, again like most logical positivists, held that certain linguistic and mathematical expressions or statements are meaningful, though devoid of factual content, because they concern the structure of languages to which empirical statements must conform. Only these linguistic statements and statements with empirical reference are meaningful. These criteria made meaningless most of metaphysics, ethics and aesthetics. In its concern with an ideal language, and with the correlation of meaning and experience, positivism is not without indebtedness to Husserl. While Husserl correlates meaning with possible experiences, however, the verificationist theory reduces meaning to such experiences. Further, the ingredients of experience have changed drastically at this point, and the atomism involved is contrary to Husserl’s entire thrust. Carnap applied the theory of types to natural languages, and tried to give a quasi-linguistic justification for this through his concept of spheres or syntactical categories (cf. Art. 2). Certain types of philosophical problems arise because of a confusion of
spheres (“Sphärenvermengung”). Gradually, however, he came to view this principle as implying an arbitrary restriction on freedom of expression. The later, post-positivist Carnap became concerned with the approach to meaning in terms of possible worlds, which identifies the meaning of a sentence with the set of possible states of affairs or, more generally, possible worlds in which the sentence would be true. The meaning of a singular term is identified with the function which assigns to each possible world that possible individual to which the singular term would refer in case the possible world were the actual one. This view of possible worlds is important in the use by contemporary analytic philosophy of Husserl’s work.
5.
Contemporary interpreters
Dagfinn Føllesdal brings Husserl closer to Frege through the claims of a new interpretation of Husserl’s concept of noema or the content of a mental act. He holds that the noema is an abstract entity which cannot be sensually perceived, and which is known only through a special kind of reflection, the phenomenological reflection. This brings the noema closer to Frege’s sense as an abstract entity, atemporal and supersensible, though for Frege, grasping a sense does not include performing any unique sort of reflection. Rather, in every act of understanding, we grasp the appropriate sense. The issue basically concerns the perceptual noema, whether it is a percept or a supersensible, abstract entity, which, while making possible perceptual intentionality, is itself imperceptible, thematizable only in a further act of reflection. Ronald McIntyre and David Woodruff Smith develop a view of Husserl’s concept of noema which focuses on its linguistic aspect. Starting with Husserl’s concept of noemata as meanings, they argue that for Husserl, linguistic meanings or the meanings (“Bedeutungen”) expressed in language, and noematic meanings or the meanings (“Sinne”) that attach to the acts are identical ⫺ speaking here strictly of the object-determining components. In this way they interpret Husserl as holding that every linguistic meaning is an expressed noematic Sinn, and every noematic Sinn is in principle expressible and thus a linguistic meaning. This analysis is in-
2108 tended both to illuminate Husserl’s concept of noema and to place the concept of linguistic meaning itself in a broader context. If linguistic meanings are themselves noematic Sinne, this places emphasis on the fact that referring, asserting, and other linguistic activities are rooted in intentional phenomena. This provides important insights for philosophers of language. Among other issues upon which they focus is that of possible worlds semantics in relation to Husserl’s notion of horizon and horizon analysis. This possible worlds semantics is crucial within the work of Jaakko Hintikka (*1929), who attempts to reconstruct his own theory of intentionality as intensionality from materials supplied by phenomenologists. Like Husserl, Hintikka holds that an intentional act has its sense or noema, but does not interpret intentionality as directedness toward objects, or noema as the means for such directedness. Rather, he views intentionality in terms of possible-worlds semantics. He holds that the intentionality of perception lies in its being informational, or, in other terms, that it refers to many different possible worlds. For Hintikka, to specify a piece of information is at once to specify a set of possible worlds. One who has mastered the meaning of a term can pick out its extension in various counterfactual situations or possible worlds. Understanding the sense is knowing which individual, in each situation, is the object of reference. According to Hintikka, while phenomenological meaning analysis takes account of much more than what is filled in an act and can be present in it, yet the analysis is constrained by what is accessible to phenomenological reflections and thus is constrained by what is present. His possible-worlds analysis of the meaning of an act, in contrast, is not limited to aspects of meaning which are recapturable by phenomenological reflection. For example, we can intend a particular individual only by being able to pick it out under a variety of circumstances, since we can intend it only by individuating it. Yet, there need be no explicit awareness in our consciousness of these counterfactual recognitions. This, according to Hintikka, is an important point of contrast between intentionality as directedness and intentionality as intensionality. Hintikka’s general analysis indicates that there are important similarities and differences between Husserlian phenomenology
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
and the possible-worlds semantics which stems from Carnap’s later works, and generalized, between the meaning analysis found in phenomenological and analytical traditions. Sign-process analysis in the early Husserl has been examined by Münch (1990, 1993, 1996). He shows that in his Philosophie der Arithmetik (1891), Husserl anticipated the program of cognitive simulation advocated by Newell and Simon (cf. Simon 1969, Newell and Simon 1972, and Newell 1990). Husserl’s approach in the second part of his book as well as in his “Zur Logik der Zeichen (Semiotik)” of 1890 contains detailed studies on the acquisition of knowledge by symbol manipulation. If Husserl gave up this program in later years, this was motivated by the fact that in it, symbolic reasoning seems to occur in a blind way (cf. Leibniz’ “cognitio caeca vel symbolica”; see Art. 62 § 8.2.4.). Around 1894, Husserl introduced intentions as a new class of acts. For him, “intention” referred to a sign relation in which the signatum is represented “with insight”. Intentions thus play an essential role in cognition, which cannot therefore be analyzed in terms of mere symbol manipulation any longer. In subsequent writings, this concept of intention merged with another one meaning reference to an object (see § 1. above). In accord with the former concept, intuitions (“Vorstellungen”) are not intentions since they do not involve symbols; in accord with the latter, they are intentions since they refer to an object. The required theory of symbolic knowledge was then presented in Husserl’s Logische Untersuchungen (1900⫺01) on the basis of the semiotically interpreted notion of intention. According to this theory, all knowledge is symbolic in character insofar as it requires a “signitive” intention which is fulfilled by intuitive acts. Pure intuitions are no longer regarded as knowledge; their epistemic relevance consists only in their fulfillment of intentions. Phenomenology, with its central concept of intention, can now be understood as a cognitive theory of conscious sign use, and as such it plays an important role in current discussions about artificial intelligence (cf. Dreyfus 1972 and 1982; see also Art. 26). These developments point towards the relevance of phenomenological semiotics, not only within the confines of its own tradition, but for positions and movements seemingly far beyond its scope.
103. Phenomenological Semiotics
6.
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Sandra B. Rosenthal, New Orleans LA (USA)
104. Die Signifik 1. Die Begründung durch V. Lady Welby 2. Die frühe signifische Bewegung in den Niederlanden 3. Mannourys relativistisch-psychologistische Grundlegung der Signifik 4. Die spätere signifische Bewegung 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Die Begründung durch V. Lady Welby
Signifik („significs“) ist die 1896 von der Engländerin Victoria Lady Welby (1837⫺ 1912) eingeführte Bezeichnung für die von ihr begründete kommunikationsorientierte Zeichentheorie, die Welby einerseits als einen „universally valid, fundamental branch of science“ (Eschbach 1983: xxviii), andererseits als Grundlage für die Lösung sozialer Probleme verstanden wissen will. In der an Welbys Ideen anknüpfenden signifischen Bewegung in den Niederlanden bezeichnet „Signifik“ („significa“) die vornehmlich psychologisch ausgerichtete allgemeine Lehre von den Verständigungsphänomenen (vgl. Art. 77 § 10. und Art. 112) bzw. eine Methode zur Untersuchung der Bedeutung von „Sprachakten“. Entstehung und Ausarbeitung der Signifik zwischen 1881 und 1912 sind zu verstehen als Welbys eigenständige Antwort auf die von ihr konstatierten interpretatorischen und terminologischen Probleme in den Wissenschaften der Jahrhundertwende (vgl. Art. 84 §§ 2.⫺4. und Art. 106 § 1.). In meist brieflichem Gedankenaustausch mit den bedeutendsten Wissenschaftlern ihrer Zeit (unter ihnen Peirce, Russell, Schiller, Tönnies, Vailati) diskutiert und entwickelt sie ihre Gedanken und wirbt für deren Anerkennung und systematische Ausarbeitung. Auf Welbys nachhaltigen Einfluß (1910⫺11) auf C. K. Ogden gehen
dessen frühe Vorträge über Signifik und seine Vorarbeiten zu dem mit I. A. Richards verfaßten Buch The Meaning of Meaning (1923) zurück, das so zum Mittler zwischen Welby und Peirce einerseits und späteren Semantikern und Semiotikern werden konnte (zu der vergleichbaren Funktion von Ch. Morris siehe Art. 113). Welbys Zeichentheorie geht vom jeweiligen konkreten Zeichenprozeß aus; Schwerpunkt ist der Interpretationsprozeß, dessen Analyse als Schlüssel zum Verständnis der Zeichensituation gilt. Die Signifik ist damit ein Gegenpol zu rein klassifikatorischen, sprecherzentrierten oder gar behavioristischen Zeichen- und Bedeutungstheorien. Nach Welby ist jedes Objekt, das für etwas anderes steht, ein Zeichen. Explizit behandelt werden ausschließlich zweistellige Zeichenrelationen, zwischen einem Zeichen und „sense“, „meaning“ oder „significance“, denen jedoch dem Ansatz entsprechend immer wenigstens ein Zeicheninterpret hinzugedacht werden muß. Dabei ist „sense“ der von Situation und Kontext mitbestimmte Wert einer Erfahrung, die spontane Reaktion eines Organismus auf einen Umweltreiz oder ⫺ vom Zeichenbenutzer aus ⫺ die zeichenvermittelte Bezugnahme auf frühere, gegenwärtige oder mögliche Erfahrung. „Meaning“ dagegen meint die mit einem Zeichengebrauch verbundene kommunikative Intention. „Significance“ (auch: „ideal worth“) umfaßt die weitreichenden Folgen, Implikationen, Ergebnisse eines (Zeichen-)Ereignisses oder einer (Zeichen-)Erfahrung, schließt also stets „sense“ und potentiell „meaning“ ein, greift aber darüber hinaus. In einem weiteren Sinne steht „significance“ für die grundlegende Möglichkeit und Notwendigkeit der Zeicheninterpretation selbst. Welbys Auffassungen von der Plastizität der Sprache und ihrer
104. Die Signifik
durchgängigen Tropisierung, von der WortKontext-Beziehung und von der Relevanz kommunikationsethischer Maximen führen sie u. a. zu einer scharfen Kritik mangelnder Einsicht in das Funktionieren kommunikativer Prozesse, des daraus resultierenden unzweckmäßigen Sprachgebrauchs und der naturwüchsigen Terminologien der Wissenschaften. Erkenntnisprobleme und Auseinandersetzungen in den Wissenschaften gelten ihr ebenso wie soziale und politische Probleme als Folgen inadäquaten Zeichengebrauchs und mangelhafter Kommunikation (zu ähnlichen Auffassungen in der polnischen Tradition der Praxiologie vgl. Art. 108).
2.
Die frühe signifische Bewegung in den Niederlanden
Die Einführung der Signifik in den Niederlanden geht auf den niederländischen Dichter, Psychiater und Sozialreformer Frederik van Eeden (1860⫺1932) und seinen Kontakt (1892⫺1912) mit Welby zurück. Van Eedens Abhandlung Redekunstige grondslag van verstandhouding (1897), durch Welbys Signifik angeregt, inhaltlich aber nur wenig beeinflußt, gilt als die erste signifische Studie in den Niederlanden. In diesem vielfach an Wittgenstein (vgl. Art. 109) erinnernden Traktat wird der Gradation in Realität und Denken eine Gradation von Arten des Sprachgebrauchs zur Seite gestellt. Dem Gegensatz zwischen symbolischer und bildlicher Sprache entsprechen dabei der zwischen Abstraktheit und Konkretheit und der zwischen symbolischer und intuitiver Erkenntnis, deren Mitteilung nur mit symbolischer bzw. bildhafter (dichterischer) Sprache möglich ist. Erkenntnisunsicherheit und Mißverständnisse nehmen nach van Eeden in dem Maße zu, in dem sich die beiden Erkenntnisund Sprachformen von den ihnen zugehörigen Gegenstandsbereichen und reinen Ausprägungen her auf Zwischenstufen hin bewegen wie in Psychologie, Philosophie und im Alltagsdenken und -reden, die die Stufen zwischen den Gegenpolen Mathematik und Dichtung einnehmen. Denn der „Wert“ oder die Bedeutung eines Wortes besteht in dem, was es repräsentiert. Und dem Symbol kommt qua Konvention oder Übereinkunft ein „Wert“ zu, nämlich eine Vorstellung von etwas, das existiert, wobei die Beziehung zwischen Vorstellung und Vorgestelltem die der Gleichheit bei teilweiser Ungleichheit ist. Die
2113 Vorstellung ist also eine Darstellung oder ein Modell des Vorgestellten. Das bildliche Wort der Dichtung dagegen erhält Bedeutung durch Klang und Rhythmus, die es zu einem Bild psychischer Zustände oder Prozesse machen, zu einem Abbild des Existenten. Da es jedoch meist zugleich Symbol ist, repräsentiert es ebenfalls eine Vorstellung. Bildliche Ausdrücke ⫺ zum Beispiel Metaphern ⫺ außerhalb der Dichtung sind dagegen nur Bilder von Darstellungen. Für van Eeden, der ab 1906 zum selbsternannten Verkünder der Signifik wird, ist ⫺ abweichend von Welbys Konzeption ⫺ Signifik in erster Linie Sprach- und Begriffskritik und vornehmlich gerichtet gegen mißleitenden, falschen oder unbewußten Metapherngebrauch. Von der Signifik erwartet er eine Neugestaltung der Alltagssprache nach dem Vorbild der Mathematik (zu verwandten Überlegungen in der Zeit der Aufklärung vgl. Art. 62 § 7. und Art. 65 § 5.4.). 1914 gründet er zusammen mit E. Gutkind, G. Landauer, M. Buber, F. C. Rang, Th. Däubler, P. Bjerre und H. Borel den Forte-Kreis, zu dessen Zielen u. a. auch die Schöpfung geeigneter sprachlicher Ausdrücke für die Mitteilung spiritueller Werte gehört, um so dem Sprachmißbrauch auf diesem Gebiet zu begegnen. Doch der Forte-Kreis zerfällt mit Beginn des Ersten Weltkriegs. 1915 beteiligen sich van Eeden, der Sinologe und Schriftsteller Henri Borel (1869⫺1933) zusammen mit dem Mathematiker Luitzen E. J. Brouwer (1881⫺ 1966) und dem Sozialarbeiter Henri P. J. Bloemers (1880⫺1947) an den Vorbereitungen zur Gründung der heutigen Internationalen Schule für Philosophie bei Amersfoort unter den zentralen Leitgedanken einer Synthese von Religion, Wissenschaft, Philosophie und Lebenspraxis, des Internationalismus und der jungen Idee der Erwachsenenbildung, mit denen sie nun die Signifik verbinden. Brouwer bringt in die Signifik seinen eigenen kritischen Standpunkt gegenüber der Sprache und den Möglichkeiten zwischenmenschlicher Verständigung ein, der schon in seiner Konzeption der intuitionistischen Mathematik (vgl. Art. 78 § 5.1.) eine wesentliche, aber meist übersehene Rolle spielt. Sprachliche Verständigung dient nach Brouwer der Erhaltung und Differenzierung des schon vorhandenen gruppenspezifischen Willensparallelismus. Sprachliche Äußerungen sind dabei Handlungen, deren Sinn im vom Sprecher erwarteten Einfluß auf den Hörer be-
2114 steht, aber niemals vollkommen verstanden wird: „Wortäußerungen sind mehr oder weniger entwickelte verbale Imperative, und im Grunde ist zureden immer befehlen oder androhen, und verstehen gehorchen“ (Brouwer 1916: 333). Mathematik ist für Brouwer strenggenommen eine Tat, eine Handlung, die rein introspektiv bleibt und von der Sprache, die mit der Mathematik selbst nichts zu schaffen hat, nur begleitet wird. Sprachliche Ausdrücke oder Formeln dienen dabei als Erinnerungsstützen und als gebrechliche Hilfsmittel, eine mathematische Konstruktion mitzuteilen. Dieser Mitteilungsakt ist wie jegliche Kommunikation prinzipiell fallibel. Denn intuitive Deutlichkeit und Evidenz mentaler Konstruktionen des Mathematikers, von Brouwer zum methodischen Prinzip erhoben, werden vornehmlich als besondere Gefühle erlebt, und diese gerade sind nach Brouwer anderen nicht vollständig mitteilbar, so daß es zweifelhaft bleibt, ob andere die vollzogenen Konstruktionen ebenso als intuitiv deutlich einsehen können. Im gesellschaftlichen Leben kritisiert Brouwer den suggestiven Sprachgebrauch, der gegen das Individuum gerichtete Staatszwänge und ihre fehlende Legitimation verschleiert, und den Mangel an primären Worten für eine Vielzahl primärer Begriffe. Worte für spirituelle Lebenswerte, die u. a. mystische Erfahrungen erst mitteilbar machen würden, fehlen nach Brouwer gänzlich. Die zentrale signifische Aufgabe der geplanten Hochschule für Philosophie soll daher bestehen in Sprach- und Begriffskritik (analytische Signifik) und Neubestimmung von Werten sowie Schöpfung neuer Worte zur Bezeichnung solcher Werte (synthetische Signifik). Da die Signifiker sich im Gründungskomitee nicht durchsetzen können, gründen zum selben Zweck van Eeden, Brouwer, Bloemers und Borel zusammen mit dem Mathematiker und Lehrer Brouwers, Gerrit Mannoury (1867⫺1956), dem Dichter und Juristen Jacob Israe¨l de Haan (1881⫺1924) und dem Physiker Leonard S. Ornstein (1880⫺1941) 1917 das Internationale Institut für Philosophie zu Amsterdam und eine eigene Zeitschrift. Damit ist die Institutionalisierung signifischer Forschung eingeleitet, zumal de Haan ein Jahr zuvor in Amsterdam zum Privatdozenten für Rechtswissenschaftliche Signifik ernannt worden ist. Unter dem Einfluß van Eedens und der Schriften Welbys sieht de Haan seit 1912 das
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Ziel einer solchen fachspezifischen Signifik in einer logischen Rechtssprache, d. h. einer Sprache, „in der der Gebrauch alter Worte und die Bildung neuer Worte nach festen Regeln und bewußt geschehen“ (de Haan 1916: 79). Die Signifik soll die Rechtssprache einheitlich, gleichmäßig und systematisch neugestalten, denn, so de Haan (1916: 8): „Bessere Sprache ist besseres Recht.“ Ab 1917 hebt de Haan unter dem Einfluß von Brouwers intuitionistischen und sprachphilosophischen Konzepten seine eigene Einengung der Signifik auf Gegenstand und Methodik der frühen linguistischen Semantik wieder auf. Das Institut der Signifiker, zu dessen häufigen Gästen die Linguisten J. van Ginneken, A. Verschuur und B. Faddegon gehören, verfolgt zunächst noch die Pläne Brouwers und van Eedens, vor allem die Gründung einer Internationalen Akademie für Praktische Philosophie und Soziologie mit der Aufgabe: „das Festlegen von Basisworten für die Sprache der Rechts- und Interessenbeziehungen der Gesellschaft und die Herausgabe von (mehrsprachigen) Wörterbüchern dieser Sprache, wobei alle Wörter mittels der Basiswörter definiert werden sollen“ (Mannoury u. a. 1919: 5 f). Als Akademiemitglieder werden P. Carus, E. Ehrlich, G. Landauer, F. Mauthner, G. Peano und R. Tagore gewählt. Zwar kommt die Akademie nicht zustande, doch man entwickelt als theoretische Grundlage ihrer Arbeit die signifische Sprachstufentheorie. Darin wird analytisch unterschieden zwischen „Grundsprache“ (u. a. erste Kindersprache), „Stimmungssprache“ (u. a. Volks- und Dichtersprache), „Verkehrssprache“ (z. B. Handels- und Schriftsprache), „Wissenschaftlicher Sprache“ (z. B. Gesetzesund Wissenschaftssprache) und „Symbolsprache“ (z. B. logische Systeme). Die fünf handlungstheoretisch hergeleiteten Sprachstufen sind einmal gekennzeichnet durch ihren kommunikativen Zweck, ihren vorwiegenden inhaltlichen und sozialen Verwendungsbereich sowie ihre bedeutungsdifferenzierenden und -stabilisierenden Mittel und Grade der Formalisierung. Zum anderen verringert sich von tieferen zu höheren Stufen der emotionale Bedeutungsanteil der Worte, während das indikative Bedeutungselement und damit Bedeutungsstabilität und Allgemeinverständlichkeit der Äußerungen zunehmen, bis bei der „Symbolsprache“ von Bedeutung im engeren Sinne nicht mehr gesprochen werden kann. Darüber hinaus widmet man sich Themen wie: die soziale Bedeutung
104. Die Signifik
der Signifik, Signifik der Theologie, formalistische und psychologisch-empirische Bedeutungsanalysen, oder Mißverständnisse, verursacht durch unzulänglichen Sprachgebrauch. Im Jahre 1922 stellen Brouwer, van Eeden, van Ginneken und Mannoury ihre Zusammenarbeit mit der Formulierung einer Prinzipienerklärung und der Gründung des Signifischen Kreises auf eine neue Grundlage: formalistisch-logische, experimentelle und introspektive Analysen der Bedeutung von „Sprachakten“ (analytische Signifik) sowie Sprachkritik und Sprachsynthese (synthetische Signifik) sollen zu einer signifischen Philosophie führen. Trotz einiger Einzelergebnisse scheitert die Zusammenarbeit letztlich an Differenzen bezüglich der sozialen Relevanz der Signifik, und der Signifische Kreis wird 1926 aufgelöst.
3.
Mannourys relativistischpsychologistische Grundlegung der Signifik
In den zwanziger Jahren beginnt G. Mannoury seine relativistisch-psychologistische Grundlegung der Signifik, die, 1953 mit einem letzten Buch abgeschlossen, bis heute als Kern und Bezugspunkt aller signifischen Theoriebildung und empirischen Forschung gilt. Drei Konzepte sind für Mannourys philosophische Position zentral: a) das des „psychischen Gleichgewichts“, wonach jedes Individuum danach strebt, die sich ändernden Wechselwirkungen zwischen zum Teil entgegengesetzten Dispositionen in einen optimalen Gleichgewichtszustand zu bringen (Mannoury 1949: 94); b) das „Gradualitätsprinzip“, nach dem jede Abstufung, Unterscheidung oder Opposition durch einen allmählichen Begriffsübergang auflösbar und überbrückbar ist und Differenzierungen zwischen Konzepten willkürlich und abhängig von ihrem Zweck und der Person sind, die sie vornimmt (Mannoury 1953: 154); c) das „signifische Relativitätsprinzip“, welches besagt, daß die Bedeutung eines Wortes und die Tragweite eines Begriffs von anderen, damit assoziierten psychischen Inhalten abhängig sind (Mannoury 1953: 163). Ausgangspunkt jeder signifischen Betrachtung ist nach Mannoury der „Verständigungsakt“ bzw. „Sprachakt“, eine komplexe verbale oder nonverbale Handlung, durch die eine Person oder Gruppe, der „Sprecher“, äußere oder innere Handlungen einer ande-
2115 ren Person oder Gruppe, des „Hörers“, zu beeinflussen trachtet. Der Sprachakt ist nicht nur eine zielgerichtete Handlung, sondern auch, „weil er die Beeinflussung anderer Lebewesen bezweckt, im tiefsten Wesen rein subjektiv“ (Mannoury 1934: 290). Im Gegensatz zur Linguistik und den meisten semiotischen Theorien, die den „parzellierten“ Sprachgebrauch, also auseinandergefallene Teile (Parzellen) von Klangsymbolen oder psychischen Inhalten und ihre erneute grammatisch-syntaktische und semantische Kombination, untersuchen, betrachtet die analytische Signifik den „unparzellierten“ Zeichengebrauch, die Einheit des Verständigungsaktes (Mannoury 1949: 26). Charakteristische Sprachakttypen sind: 1) das Geben eines Befehls („Willenssprachakt“), 2) das Vortragen eines Gedichts („Gefühlssprachakt“), 3) eine sachliche Mitteilung („Mitteilungssprachakt“), 4) das Korrigieren einer Logarithmentafel („Formwahrnehmungssprachakt“). Genauer betrachtet enthält jedoch jeder Sprachakt ein „volitionales“, ein „emotionales“, ein „indikatives“ und ein „formales“ oder „formalistisches“ Bedeutungselement (Mannoury 1947⫺48: II 18; 1949: 36). Selbst im Falle rein sprachlicher Sprachakte ist es meist unmöglich, diese Bedeutungselemente aus der grammatischen Form der verwendeten Worte oder der Syntax des Satzes abzuleiten. Lediglich bei dem von dem Mathematiker D. van Dantzig (1948: 338) in die Signifik eingeführten formalen Element (Wahrnehmung, Wiedererkennung und Unterscheidung von Zeichen und ihrer Ordnung) ist dies in hohem Maße möglich. Von daher ist es erforderlich, stets einen weiten Komplex von Verhalten des Sprechers oder Hörers, das dem Sprachakt vorausgeht, ihn begleitet oder ihm folgt, in die Betrachtung einzubeziehen und zu unterscheiden zwischen „Sprechbedeutung“ (die vom Sprecher beabsichtigte Beeinflussung des Hörers), „Hörbedeutung“ (die tatsächlich beim Hörer eintretende Beeinflussung), „Selbsthörbedeutung“ (der beim sich selbst hörenden Sprecher stattfindende Einfluß) und „symptomatischer Sprachaktbedeutung“ (Umstände und Milieueinflüsse darauf, daß etwas und wie etwas gesagt wurde) (Mannoury 1949: 38; 1953: 153); vgl. die parallelen Ansätze zur Klassifikation der Kommunikationsakte nach ihrer Funktion bei Bühler (Art. 112), Morris (Art. 113), Jakobson (Art. 116) und Searle (Art. 3 § 5.4.).
2116
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Die signifischen Methoden sollen nach Mannoury vor allem beobachtender und experimenteller Natur sein, ohne die Introspektion jedoch ganz ersetzen zu können. „Sprachakttransformation“, bei der man Personen unterschiedlicher Einstellung und Orientierung auf ein und dieselbe Situation sprachlich (beschreibend, beurteilend etc.) reagieren läßt, und „Exhaustionsmethode“, nach der man ein und dieselbe Person auf verschiedene Situationen reagieren läßt, dienen der Analyse der Verwendbarkeitsbreite von Sprachakten, um so nach dem ersten Verfahren die interindividuelle und nach dem zweiten die intraindividuelle „Bedeutungsstreuung“ zu ermitteln (Mannoury 1949: 48 ff). Andere Verfahren sind auf die Untersuchung des Aufbaus von Sprachstufen gerichtet (Mannoury 1934: 294 ff), auf Realisierungen und Folgen der „Ich-“, „Misch-“ und „Es-Sprache“ und ihrer Transformationen ineinander (Mannoury 1949: 52 ff), auf Negationsformen und ihren Einfluß auf Bedeutungselemente und schließlich auf das große Feld der „eigentlichen“ und „uneigentlichen Scheinprobleme“ (Mannoury 1947: 73 f). In allen Fällen geht es letztlich um die Aufdekkung tatsächlicher oder möglicher Ursachen von Mißverständnissen und Meinungsverschiedenheiten im Alltag und in den Wissenschaften.
4.
Die spätere signifische Bewegung
Unter dem Einfluß von Mannourys Schriften gründet der Psychologe David Vuysje 1936 die Zeitschrift Synthese, die dem SyntheseGedanken, dem Internationalismus und der sozialen und kulturellen Reform verpflichtet ist und zum Mittelpunkt und Organ einer neuen Signifiker-Generation wird. Die findet sich ab 1937 in der stark interdisziplinär zusammengesetzten Internationalen Gruppe für das Studium der Signifik zusammen, der auch F. Waismann und aus dem Wiener Kreis O. Neurath und J. Schächter beitreten. Man will mit Beiträgen zur analytischen und synthetischen Signifik zu einer Begriffsreinigung und Grundlagenklärung in den Wissenschaften und zur Verbesserung von Denktechnik und Kommunikationsverfahren gelangen. So ausdrücklich anschließend an den Signifischen Kreis wird Signifik wie bei Welby wieder als allgemeine Grundlagenwissenschaft verstanden. Ein Höhepunkt der Ar-
beit der Vereinigung, deren Ergebnisse bis heute weitgehend unpubliziert geblieben sind, sind die zwischen 1937 und 1940 geführten Debatten mit O. Neurath über Sprach- und Kommunikationsanalyse und über die antimetaphysische Position des Wiener Kreises, dessen Ziele denen der Signifiker verwandt sind (vgl. Art. 106). Neben der epistemologischen Sektion der Signifiker gibt es eine massenpsychologische, eine biologische und eine ethisch-rechtswissenschaftliche. Nach Unterbrechung der Publikationstätigkeiten durch die Besetzung der Niederlande erscheinen ab 1946 zahlreiche theoretische und empirische Studien zur Signifik allgemein, zu aktuellen sozialen und politischen Fragen, und auch Mannourys Hauptwerke. 1948 entsteht mit der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Signifik ein neuer institutioneller Rahmen: „Das Ziel der Gesellschaft ist das Betreiben, in internationaler Zusammenarbeit, von analytischer und synthetischer Begriffskritik auf verständigungspsychologischer Grundlage im allgemeinen und deren Anwendung auf die Lehre von den Grundlagen der exakten, kulturellen und politischen Wissenschaften im besonderen“ (Satzung, Signifik-Archiv, Amsterdam). Auf alljährlichen internationalen Sommerkonferenzen 1939 und 1946⫺1954 sucht man den Kontakt zu Vertretern des Unity of Science Movement (u. a. zu Ch. Morris; vgl. Art. 113 § 3.), klassischer Nachbardisziplinen und neuer Disziplinen wie der Informationstheorie und der Kybernetik (vgl. Art. 125) sowie der Massenkommunikationsforschung (vgl. Art. 146 und Art. 169). Doch mit der rapiden Aufspaltung und Neuorientierung der Wissenschaften seit dem zweiten Weltkrieg und mit dem Tode von Mannoury (1956) und seinem Schüler van Dantzig (1959), den bedeutendsten Theoretikern der Bewegung, und schließlich dem Verlust der Zeitschrift Synthese (1963) zerfällt die Bewegung, und die Signifik gerät in Vergessenheit. Jüngere Versuche in den Niederlanden, die Bewegung wiederzubeleben, auf eher informeller Basis rund um den Psychiater und Signifiker Pieter H. Esser und die als Nachfolger von Synthese begründete Zeitschrift Methodology and Science (seit 1968), sind eher der Geschichte der Signifik gewidmet als ihrer Fortführung und Weiterentwicklung. Lediglich die Psychologen Adriaan D. de Groot und Fester L. Medendorp versuchen neuerdings an signifische Erkenntnisse und Verfahren anzuknüpfen mit ihrem Vor-
104. Die Signifik
schlag zu einer neuen, von ihrem ehemals assoziationspsychologischen Unterbau abgelösten signifischen Begriffsanalyse. Die seit Ende der 70er Jahre zunehmende wissenschaftshistorische Erforschung der signifischen Bewegung hat vor allem in den Niederlanden eine Wiederentdeckung und Neubewertung der epistemologischen, zeichen- und kommunikationstheoretischen Forschungsansätze der Signifiker eingeleitet.
5.
Literatur (in Auswahl)
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan (1916), Rezension von: J. I. de Haan, Rechtskundige significa en hare toepassing op de begrippen: „aansprakelijk, verantwoordelijk, toerekeningsvatbaar“. Amsterdam 1916. In: Groot-Nederland 14: 333⫺336. Dantzig, David van (1948), „Significa“. In: Tien jaren. Kroniek van de belangrijkste staatkundige en wetenschappelijke feiten in de jaren 1938⫺1948. Zusammengestellt von der Redaktion der Enzyklopädie Winkler Prins. Ergänzungsband zur 5. Auflage. Amsterdam und Brüssel: 337⫺341. Eeden, Frederik van (1897), „Redekunstige grondslag van verstandhouding“. In: F. van Eeden, Studies. 3. Bd. Amsterdam: 5⫺84. Eschbach, Achim (1983), „Significs as a Fundamental Science“. In: Victoria Lady Welby, What is Meaning? Studies in the Development of Significance. Reprint der Ausgabe London 1903, mit einer Einleitung von Gerrit Mannoury und einem Vorwort von Achim Eschbach. Amsterdam und Philadelphia: ix⫺xxxii. Groot, Adriaan D. de und Fester L. Medendorp (1986), Term, begrip, theorie. Inleiding tot signifische begripsanalyse. Meppel und Amsterdam. Haan, Jacob Israe¨l de (1916), Rechtskundige significa en hare toepassing op de begrippen: „aansprakelijk, verantwoordelijk, toerekeningsvatbaar“. Amsterdam. Haan, Jacob Israe¨l de (1994), De taal zegt meer dan zij verantwoorden kan. Een keuze uit de verspreide rechtskundig-signifische geschriften. Ed. und eingeleitet von Govaert C. J. J. van den Bergh. Nijmegen. Heijerman, Erik und H. Walter Schmitz (eds.) (1991), Significs, Mathematics and Semiotics. The Signific Movement in the Netherlands. Proceedings of the International Conference, Bonn, 19⫺21 November 1986. Münster 1991.
2117 Mannoury, Gerrit (1934), „Die signifischen Grundlagen der Mathematik“. Erkenntnis 4: 288⫺309, 317⫺345. Mannoury, Gerrit (1947⫺48), Handboek der analytische signifika. 2 Bde. Bussum. Mannoury, Gerrit (1949), Signifika. Een inleiding. Den Haag. Mannoury, Gerrit (1953), Populairpsychologische begripssynthese. Bussum. Mannoury, Gerrit, Luitzen E. J. Brouwer, Henri J. F. Borel u. a. (1919), „Signifisch taalonderzoek“. Mededeelingen van het International Instituut voor Wijsbegeerte te Amsterdam 2: 5⫺29. Nieuwstadt, Jacques van (1978), „De Nederlandse significa: een documentatie“. Kennis en Methode 2: 341⫺362. Ogden, Charles K. und Ivor A. Richards (1923), The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism. London. Deutsch von Gert H. Müller: Die Bedeutung der Bedeutung. Eine Untersuchung über den Einfluß der Sprache auf das Denken und über die Wissenschaft des Symbolismus. Frankfurt a. M. 1974. Petrilli, Susan (1988), Significs, semiotica, significazione. Bari. Schmitz, H. Walter (1984), „Searle ist in Mode, Mannoury nicht: Sprech- und Hörakt im niederländischen Signifik-Kreis“. Zeitschrift für Semiotik 6: 445⫺463. Schmitz, H. Walter (1990), De Hollandse significa. Een reconstructie van de geschiedenis van 1892 tot 1926. Assen und Maastricht. Schmitz, H. Walter (1993), „The Semantic Foundations and Implications of Signific Language Gradations“. Histoire, e´piste´mologie, langage 15: 53⫺ 79. Schmitz, H. Walter (ed.) (1990), Essays on Significs. Papers Presented on the Occasion of the 150th Anniversary of the Birth of Victoria Lady Welby (1837⫺1912). Amsterdam und Philadelphia. Stegeman, Jan H. (1992), Gerrit Mannoury. A Bibliography. Mit einer Einleitung von Henk Visser. Tilburg. Welby, Victoria Lady (1911), Significs and Language. The Articulate Form of Our Expressive and Interpretative Resources. London. Reprint mit zwei weiteren Aufsätzen von V. Welby. Ed. und eingeleitet von H. Walter Schmitz. Amsterdam und Philadelphia 1985.
H. Walter Schmitz, Essen (Deutschland)
2118
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
105. Semasiologie und Onomasiologie 1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung vor Saussure 1.1. Die Bezeichnungen „Semasiologie“ und „Onomasiologie“ 1.2. „Außersprachlich“ ⫺ „übereinzelsprachlich“ ⫺ „außereinzelsprachlich“ 2. Saussures neue theoretische Basis 3. Das Dreieckmodell 4. Das Trapezmodell 5. Die Makrostrukturen und die Kommunikation 5.1. Die Makrostrukturen auf der Ausdrucksund auf der Inhaltsebene 5.2. Die Kommunikation und das Bühlersche Organonmodell 5.3. Die onomasiologische Aufgabe des Sprechers und die semasiologische Aufgabe des Hörers 6. Semasiologie und Onomasiologie im Dreieckmodell 7. Semasiologie und Onomasiologie im Trapezmodell 7.1. Semasiologie im Trapezmodell 7.2. Onomasiologie im Trapezmodell 8. Das Problem der Synonymik 8.1. Konsequenzen des Bühlerschen Organonmodells für das onomasiologische Feld 8.2. Strukturelle Faktoren der Synonymendifferenzierung 8.3. Symptom- und signalbegriffliche Faktoren 9. Die Prototypensemantik 9.1. Entstehung und Entwicklung 9.2. Coserius Kritik 9.3. Die angebliche Unschärfe der begrifflichen Grenzen 9.4. Adjunktives Auffangen der Prototypikalität 9.5. Semasiologie und Onomasiologie in der Prototypensemantik 10. Semiotischer Ausblick 10.1. Semasiologie und Onomasiologie in der Sprache 10.2. Gebärdensprache 10.3. Verkehrssignale 10.4. Bildersprache 10.5. Musik 10.6. Medienkombinationen 10.7. Spannweite der Ausdrucks- und Inhaltsformen 11. Literatur (in Auswahl)
1.
Zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung vor Saussure
1.1. Die Bezeichnungen „Semasiologie“ und „Onomasiologie“ Mit „Semasiologie“ und „Onomasiologie“ werden heute die beiden grundlegenden
sprachwissenschaftlichen Methoden zur Analyse von Bedeutungen bezeichnet (vgl. Art. 3 §§ 2. und 4.). Reisig „wies um 1825 in seinen in Halle gehaltenen Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft der Bedeutungslehre einen selbständigen Platz im Gefüge der grammatischen Disziplinen an und gab ihr den Namen Semasiologie“ (Baldinger 1957: 4; dort weitere Hinweise). Die Semasiologie wurde nach französischem Vorbild auch „Semantik“ genannt ⫺ ein Ausdruck, der von Bre´al 1883 „zwar nicht geschaffen, aber doch durch ihn eingeführt und verbreitet wurde“. Bre´al schrieb in einem Artikel (Bre´al 1883) folgendes (in freier Übersetzung): „Die Forschungsrichtung, der wir uns zuwenden, ist so neuartig, daß sie noch nicht einmal einen Namen hat. In der Tat haben sich die meisten Sprachwissenschaftler bisher nur mit dem Körper und der Form der Wörter auseinandergesetzt. Die Gesetze des Bedeutungswandels, der Wahl neuer Ausdrücke, des Entstehens und Vergehens neuer Wendungen, hat man im Dunkeln gelassen, oder man hat sich mit beiläufigen Hinweisen begnügt. Da diese Forschungsrichtung, ebenso wie die Phonetik oder die Morphologie einen Namen verdient, werden wir sie ‘Semantik’ [‘la se´mantique’] nennen, d. h. die Wissenschaft von den Bedeutungen.“ „Beide Bezeichnungen, ‘Semasiologie’ und ‘Semantik’, werden heute“ ⫺ so schrieb ich 1957 (Baldinger 1957: 5) ⫺ „häufig und gleichbedeutend gebraucht.“ 1897 spricht Brea´l von „la se´mantique“ noch als einer „science nouvelle“. Der Name „Onomasiologie“ taucht zum ersten Mal in der Habilitationsschrift von Adolf Zauner auf (Zauner 1902). Die erste grundlegende onomasiologische Studie auf romanistischem Gebiet verdanken wir allerdings Ernst Tappolet (Tappolet 1895). Die ersten Ansätze finden sich aber schon bei Diez 1875. Und in der Germanistik reichen deutliche Ansätze noch weiter zurück. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb Jacob Grimm Abhandlungen wie „Die fünf Sinne“ (Grimm 1848), „Die Wörter des Leuchtens und Brennens“ (Grimm 1849), „Das Wort des Besitzes“ (Grimm 1850), „Über die Namen des Donners“ (Grimm 1853), die sprachvergleichend onomasiologische Ansätze enthalten. Von diesen Anfängen bis heute hat die Onomasiologie in der Romanistik ⫺ besonders intensiviert durch Gillie´ron und die seit
105. Semasiologie und Onomasiologie
1905 aufblühende Sprachgeographie und die parallel dazu begründete und ausgebaute Wort- und Sachforschung ⫺ einen gewaltigen Aufschwung genommen. Meringer schreibt 1906: „Ohne Sachwissenschaft keine Sprachwissenschaft mehr“ (Indogermanische Forschungen 19: 457). 1909 wurde die Zeitschrift Wörter und Sachen gegründet. Bruno Quadri hat diese Entwicklung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in einem eindrücklichen Panorama nachgezeichnet (Quadri 1952). Der begriffliche Ausgangspunkt dieser traditionellen Onomasiologie war außersprachlich aus der Sache gewonnen, worauf schon die meisten Titel hindeuten. Gleichzeitig erfolgte damit eine Festlegung auf die Lexikologie, womit sie zu einem direkten Pendant zu der ebenfalls lexikographisch fixierten Semasiologie im Sinne einer Bedeutungslehre wurde. Dieser Ansatz ist dort legitim, wo die ‘Sache’ ⫺ um eine solche handelte es sich meistens ⫺ bekannt ist. Meringer 1904 stellt ganz richtig ⫺ wenigstens für unsere Kulturkreise ⫺ fest: „Gewiss ist, daß die Sachen bei der Geschichte ihrer Bezeichnungen ein Wort mitzureden haben. Vater, Mutter, Kind; Himmel, Erde, Wasser, Stein; Milch; Auge, Hand, Fuß usw. bedeuten überall dasselbe. Gleichungen für solche Begriffe, die so wenig Sachkenntnis voraussetzen, werden nicht mehr viele zu finden sein. Haus, Bett, Pflug, Tenne usw. sind aber nicht immer und überall dasselbe. Um sprachliche Zusammenhänge bei solchen Wörtern herzustellen, ist die Geschichte der Sachen notwendig“ (Meringer 1904: 101 f; zitiert auch bei Quadri 1952: 67 f). Der begriffliche Ansatzpunkt ‘Dreschflegel’ ist überall dort bekannt, wo es Dreschflegel gibt, mögen sie im einzelnen auch ganz verschieden aussehen und bezeichnet werden. Diese sachbezogene Onomasiologie erhielt vor allem durch die im Zusammenhang mit dem ALF (Atlas linguistique de la France, 1902⫺1912) von Gillie´ron 1905 initiierte onomasiologische Sprachgeographie großen Auftrieb (Gillie´ron und Mongin 1905; Quadri 1952: 70). Zu den Dreschgeräten publizierte Meyer-Lübke 1909 einen grundlegenden Aufsatz, ergänzt durch Schuchardt 1910. Dieser hatte dabei expressis verbis eine „vergleichende Kulturgeschichte“ im Auge (1910: 258). Eine solche Onomasiologie traditioneller Art ist zweifellos legitim (ein Beispiel liefert Art. 36 § 7.), aber auf Sprachräume beschränkt, in welchen eine vergleichbare Sache mit identischer Funktion vorkommt.
2119 1.2. „Außersprachlich“ ⫺ „übereinzelsprachlich“ ⫺ „außereinzelsprachlich“ Die gemeinsame außersprachliche ‘Sache’ kann somit eine Basis für überregionale (diatopische) oder übereinzelsprachliche Vergleiche schaffen, wobei „übereinzelsprachlich“ verstanden wird als zwei oder mehrere Sprachen (im Sinne von Deutsch, Französisch, Latein etc.) umfassend (zur Terminologie siehe Heger 1981). Quadri geht allerdings in seiner Definition der Onomasiologie über die Bindung an ‘Sachen’ hinaus: „Die Onomasiologie untersucht die schriftsprachlichen und mundartlichen Bezeichnungen für einen bestimmten Begriff. Ausgangspunkt onomasiologischer Betrachtungsweise ist also immer ein Begriff, ein im Denken des Individuums mehr oder weniger scharf abgegrenzter Vorstellungsinhalt“ (Quadri 1952: 1). Er hat recht, da in der Tat die Onomasiologie nicht an Sachobjekte geknüpft ist ⫺ die Grenzziehung zwischen konkret und abstrakt ist ohnehin ein wohl kaum lösbares Problem. Eine gemeinsame ‘Sach’Basis kann auch auf gemeinsamen Vorstellungen, gemeinsamen Traditionen etc. beruhen und einen übereinzelsprachlichen Vergleich erlauben. Dazu kommt, daß man Sprache auch in einem anderen Sinne, nämlich als System verstehen kann: in diesem Sinne kann man von einem gemeinsamen Diasystem aus mehreren oder allen romanischen Sprachen (usw.) sprechen und ein solches übereinzelsprachliches Diasystem zum Ausgangspunkt einer onomasiologischen Untersuchung machen (zum Diasystem siehe u. a. Heger 1982 und Heger 1983 a). In der Praxis wird der neue europäische Sprachatlas wohl einen praktikablen Weg zu finden suchen zwischen einem sachbezogenen und einem diasystematischen Ausgangspunkt. In sachbezogene Zusammenhänge gehört auch das begrifflich und damit onomasiologisch orientierte Begriffssystem von Hallig und Wartburg (1952), auf das wir später noch einmal zurückkommen werden. In diesem System finden sich zum Beispiel die Körperteile nach sachlichen Gesichtspunkten ⫺ also von Kopf bis Fuß! ⫺ geordnet, und mit diesem ausdrücklich als „begrifflich“ und „außersprachlich“ bezeichneten System (Hallig und Wartburg 21963: 9) kann nur entweder eine präetablierte Weltordnung oder Außereinzelsprachlichkeit gemeint sein. Jedenfalls kann es in übereinzelsprachlichem Sinne als Raster,
2120
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
als Folie dienen, als Basis für eine onomasiologisch geordnete Darstellung des Wortschatzes. Aus dieser Perspektive sind eine ganze Reihe von Arbeiten ⫺ die meisten wurden von Wartburg angeregt ⫺ entstanden, die den Wortschatz eines Autors zum Gegenstand haben (z. B. Keller 1953 zum Wortschatz von Wace, dem ersten namentlich bekannten altfranzösischen Dichter, sowie Fermin 1954 zum Wortschatz von Bifrun in seiner rätoromanischen Bibelübersetzung von 1560) oder aber den Wortschatz der Skripta (regionale Schriftsprache) einer bestimmten Gegend oder Region (z. B. Baldinger und Popelar 1975 ff; Baldinger und Popelar 1976 ff) oder einer bekannten Literatursprache (z. B. Dornseiff 1934). Diese Entwicklung der Onomasiologie verlief somit von sachbezogenen Einzelstudien (etwas salopp als „Dreschflegel-Onomasiologie“ bezeichnet) über sachbezogene größere Teilsysteme wie die Verwandtschaftsnamen (die wie in diesem Falle sogar noem-verdächtig sind; s. u.) bis zu onomasiologisch orientierten Gesamtdarstellungen des Wortschatzes eines Autors oder einer Region oder einer Sprache (z. B. nach dem System von Hallig und Wartburg). Übereinzelsprachliche onomasiologische Darstellungen können, generell gesagt, von einem Diasystem der verschiedensten Abstraktionsstufen ausgehen. Diese traditionellen Arten der Onomasiologie behalten ihre Nützlichkeit und werden bis heute und sicher auch in Zukunft gepflegt.
2.
Saussures neue theoretische Basis
Neben diese traditionelle Linie traten seit Beginn des 20. Jahrhunderts neue theoretische Modelle, ausgehend von der Sprachzeichentheorie Ferdinand de Saussures. Diese Entwicklung ⫺ ich kann mich im Hinblick auf Artikel 101 kurz fassen ⫺ führte dazu, daß der Begriff der Semasiologie und besonders auch der der Onomasiologie von der Bindung an die Wort- und Sachforschung und damit auch an die Lexikologie gelöst wurde und die betreffenden Ansätze ⫺ wie in unserem ersten Satz schon festgestellt ⫺ in einer modernen Perspektive zu den beiden grundlegenden sprachlichen Analysemethoden für die Beziehungen zwischen einer Ausdrucksform und einer Inhaltsform von Signemen aller Ränge (Semasiologie), bzw. zwischen einer Inhaltsform und einer Ausdrucksform (Onomasiologie) wurden. Die Terminologie entspricht den
Definitionen von Heger 1976 („Signem“: ‘signifikative Einheit auf der Ebene der langue’; „Rangstufen“ bezieht sich auf die Hierarchie der Signemränge vom Monem, der kleinsten signifikativen langue-Einheit über den Satz ⫽ Rang 8 bis zum Text-Hypersatz ⫽ Rang 11 und sogar den Textklassen ⫽ Rang 12, wie sie von Heger 1976: 331 tabellarisch zusammengestellt und im Laufe des Werkes begründet wurden). Ferdinand de Saussure entwickelte seine Sprachzeichentheorie bekanntlich zwischen 1907 und 1911. Entscheidend für seinen Einfluß auf die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts wurde die Ausgabe des Cours de linguistique ge´ne´rale von 1916 (siehe Art. 101 und Art. 77 § 8.1.; moderne kritische Ausgaben: Engler 1967⫺74 und Mauro 1972; zur Rezeption: Scheerer 1980 und Mayrhofer 1981; zur Bibliographie: Engler 1976 und Wunderli 1982). Grundlegend wurde vor allem Saussures Gegenüberstellung von Diachronie und Synchronie als gleichberechtigten Betrachtungsweisen (s. Art. 99 § 2.1.2.; Engler 1967⫺74 Bd. 1, Kap. III, 173 vo⫺227 ro, speziell §§ 8 und 9 sowie 227 vo⫺515 ro), ferner die Unterscheidung von Sprache als System (langue) und als Rede (parole) (dazu Art. 100 § 2.1.1.; Engler 1967⫺74 Bd. 1, Kap. IV 51 vo⫺58 vo; Heger 1969; Heger 1985 a; Heger 1990 b). Von ganz besonderer Bedeutung als Basis für Semasiologie und Onomasiologie aber wurde Saussures bipolare oder bilaterale Konzeption des sprachlichen Zeichens mit einem signifiant (Lautkörper) und einem signifie´ (durch Lautkörper ⫺ oder ersatzweise die Schrift ⫺ vermittelter Inhalt; dazu Engler 1967⫺74 Bd. 1, 146 vo⫺157 vo; Wunderli 1981). Diese Bipolarität wird durch alle Vorlesungsnachschriften bestätigt als „rapprochement de deux termes“, als „l’objet et le nom“, als „le concept“ und „image acoustique“ (147 vo/148 ro). Dabei wird durch die Abbildungen (146 vo/147 ro) von Pferd und Baum (vgl. Art. 5 Abb. 5.22) und indirekt durch die Kommentare (direkt auch durch „concept“) deutlich, daß mit „Objekt“ keineswegs ein einzelnes Objekt, sondern eine Klasse von Objekten gemeint ist (die generalisierte Vorstellung des Objekts).
3.
Das Dreieckmodell
Dies wiederum wird dann 1951 durch Ullmann im Ullmannschen Dreieck (einer sprachwissenschaftlichen Adaptation des Dreiecks
2121
105. Semasiologie und Onomasiologie Thought or reference
sens
symbolise rre S c ca ym b us oli t* al se re s lat ion )
the rc
(a
s
Co
au
te * s) ua e q s to ation Ad Refer al rel
(o
Symbol
se rapporte à
Stands for (an imputed relation)
nom
chose représente (rapport fictif)
Referent
Abb. 105.3: Das explizite Dreieckmodell nach Ullmann (1959: 22).
*True sens Begriff signifié
Abb. 105.1: Das Dreieckmodell nach Ogden und Richards (1923: 11).
sense
symbolise symbolisiert
se rapporte à bezieht sich auf
meaning
name
thing
nom Wortkörper Bezeichnung Name ´ represente stellt dar (fiktive Beziehung)
Abb. 105.2: Das Dreieckmodell nach Ullmann (1957: 69).
von Ogden und Richards von 1923; vgl. Art. 5 § 3.2.6.) explizit gemacht, nämlich durch die rechte untere (ontologische) Ecke, die vom signifie´ (sens) getrennt (obere Ecke) und mit dem Wortkörper (linke untere Ecke) nur durch eine gepunktete Linie verbunden ist (womit die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens symbolisiert wird; vgl. Christmann 1980: 185 ff): Direkt mit einer Linie verbunden ist die Klasse von Objekten nur über die begriffliche Vorstellung (sense) mit einem je einzelsprachlichen Wortkörper. Dies entspricht dem schon scholastischen Grundsatz: Vox significat mediantibus conceptibus (vgl. Art. 52 § 4.; zu den Metamorphosen des semiotischen Dreiecks seit der Antike vgl. Posner 1988). Das Ullmannsche Modell wurde von Baldinger (1957: 14) in französischer und deutscher Übersetzung übernommen (siehe Abb. 105.4). Allerdings enthält dieses Modell ⫺ sowohl das zweiteilige Saussures als auch das Dreieckmodell Ullmanns ⫺ einen schwachen Punkt: Die Beziehung von langue und parole (Sprache und Rede) bleibt im Dunkeln. Mit anderen Worten: Die Bezugsetzung des Wor-
chose Sache
Abb. 105.4: Das Dreieckmodell nach Baldinger (1957: 14).
tes arbre zum Bild eines Baumes (vgl. Art. 5 Abb. 5.22) scheint ebenso wie die (studentische) Nachschrift concept auf die Ebene der langue zu deuten. Andererseits gibt es bei Saussure keinerlei Anzeichen dafür, daß er im signifie´ die Polysemie berücksichtigt, die ja für die Ebene der langue typisch ist. Nur im Falle des Wortspiels wird bewußt auf die Bedeutungsreduktion (Monosemierung) auf der Ebene der parole verzichtet und mit mindestens zwei Bedeutungen gespielt. Sicher ist, daß bei Saussure die Beziehung seiner Zeichentheorie zu langue und parole unklar bleibt.
4.
Das Trapezmodell
Genau dieser Umstand war auch der Grund dafür, daß Klaus Heger das Dreieckmodell zu einem Trapezmodell erweiterte, in welchem das signifie´ eindeutig die Polysemie berücksichtigt (linke obere Ecke) und die Bedeutung (Semem) eine eigene methodologische Stelle auf der Inhaltsebene erhält (mittle-
2122
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
rer Punkt auf der Inhaltsebene), wobei das einzelsprachliche Semem wiederum zerlegbar ist in einzelsprachliche Sememkomponenten, d. h. Seme („kleinste distinktive Einheiten der Inhaltssubstanz“) oder in außereinzelsprachliche Noeme, die Elemente eines logisch aufgebauten noematischen Systems sind („intensional definierter Begriff, der von einzelsprachlichen Bindungen frei, d. h. außereinzelsprachlich ist“; Heger 1976: 338; Heger 1983 b; Heger 1985 b). Unterdessen hat Heger einige Details seines Modells verändert (zum letzten Stand siehe Heger 1987). In Heger 1976 (siehe Abb. 105.5) war er noch davon ausgegangen, Signifikat
Signem
Signifikant
M.
Semem
Noem/Sem
m. S.
m. S-nt
Subkl.
I.
Klasse
Abkürzungen: M. ⫽ Monosemierung; m.S. ⫽ monosemiertes Signem; m.S.-nt ⫽ Signifikant des monosemierten Signems (der mit dem Signifikanten identisch ist); Subkl. ⫽ Subklasse; I. ⫽ Inklusion. Abb. 105.5: Das Trapezmodell nach Heger (1976: 58).
daß es sich auf der langue-Ebene (also rechts unten) um eine Klasse und auf der monosemierten parole-Ebene (rechte untere Ecke des Dreiecks, in der Mitte des Trapezes) um ein Element einer Klasse handelt. In Heger 1987 hat er die Klasse-Element-Relation völlig aus dem Trapez herausgenommen ⫺ zu Recht, da einerseits auf der langue-Ebene wahlweise Klasse oder Element stehen kann und da andererseits auch auf der parole-Ebene von einem einzelnen Objekt oder der Klasse die Rede sein kann, z. B. „der Walfisch stirbt aus“ (Heger 1987: 429). Die anderen Punkte sind für unsere Problematik nicht unmittelbar relevant. Eine Zusammenfassung dieser Konzeption hat Heger in seinem Beitrag „Noeme als tertia comparationis im Sprachvergleich“ gegeben (Heger 1990/91; der Beitrag enthält auch einen Abschnitt 2.3. über „Onomasiologische Abbildungen und einzelsprachliche Struktur“).
Das Trapez mit der Polysemie ist ein Modell auf der Ebene der langue. Das monosemierte Dreieck in der Mitte spiegelt die Ebene der parole wider (hier behält das alte Dreieck seinen legitimen Platz). Sowohl im Dreieck- als auch im Trapezmodell werden zwei Ebenen unterschieden: die lautliche Ebene (Ausdrucksebene; signifiant) und die inhaltliche Ebene (Signifikat, signifie´); sprachlich realisiert (auf der paroleEbene) wird jeweils eine Ausdrucksform (forme du signifiant) mit einer Inhaltsform (Bedeutung / Semem als Teil des signifie´): so die Terminologie, wie sie sich seit Hjelmslev (1899⫺1965) gefestigt hat (siehe Art. 117). Beide Ebenen (d. h. die Bipolarität oder Dualität des Zeichens) sind für die Sprache konstitutiv. Eine unmittelbare Folge davon ist die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit von zwei methodologischen Analyserichtungen: (1) die semasiologische Richtung von einer Ausdrucksform (Lautkörper) zu den damit verbundenen Inhalten, d. h. dem damit verbundenen signifie´ (Bedeutungsfeld), bzw. dessen Semem- und Sem- oder Noem-Komponenten; (2) die onomasiologische Richtung von einer bestimmten Inhaltsform (Semem ⫽ Bedeutung als Teil eines Signifikats) zu den damit verbundenen Ausdrucksformen (Lautkörpern). Wenn wir vom relativ seltenen Fall eines Wortes ohne Polysemie, also eines Wortes mit einer einzigen Bedeutung, absehen ⫺ ich lasse hier die wissenschaftliche Terminologie mit ihrer spezifischen Problematik beiseite ⫺, haben wir es somit jeweils mit einer Mehrzahl von Elementen als Resultat der Analyse zu tun: einer Mehrzahl von Sememen (Bedeutungen) im Falle der semasiologischen Analyse einer Ausdrucksform (eines Wortkörpers) und einer Mehrzahl von Ausdrucksformen (Wortkörpern) im Falle der onomasiologischen Fragestellung nach Ausdrucksmitteln für eine inhaltliche Einheit. Damit wird die komplexe Problematik der Definition dieser inhaltlichen Einheit angesprochen, die sowohl beim synchronischen Vergleich von verwandten und nicht verwandten Sprachen (inklusive bei Übersetzungen und mehrsprachigen Wörterbüchern) als auch beim diachronischen Vergleich zwischen zwei verschiedenen Sprachstufen (inklusive bei diachronischen Übersetzungen und historischen Wörterbüchern) von größter Bedeu-
2123
105. Semasiologie und Onomasiologie
tung ist, und zwar sowohl für die Mikrostruktur (Bezeichnungen für eine einzelne Inhaltseinheit) als auch für die Makrostruktur der begrifflichen Welt (Beispiel Hallig und Wartburg 1952). Diese Problematik (siehe § 5.) geht weit über das Problem der Definition (genus proximum und differentia specifica) hinaus und wurde erst in den letzten Jahrzehnten durch die Unterscheidung von einzelsprachlichen Semen und außereinzelsprachlichen Noemen in seiner ganzen Tragweite erkannt (Heger 1976; zur Terminologie Heger 1981). Im Prinzip umfaßt die Onomasiologie alle Rangstufen (auf literarischer Rangstufe z. B. mit der Fragestellung: Wie wird ein Thema sprachlich gestaltet?; als Beispiele für semasiologische Analysen auf TextRangstufe vgl. z. B. Courte´s 1982; Courte´s 1986; Heger 1989), aber der Schwerpunkt der Onomasiologie liegt nach wie vor auf der Lexikologie, d. h. auf den Rangstufen 1⫺3 und teilweise Rang 4 (Redewendungen). In semasiologischer Richtung erhält man ein semasiologisches Feld von Sememen oder Bedeutungen; in onomasiologischer Richtung erhält man ein onomasiologisches Feld von Bezeichnungen (Wortkörpern, d. h. Ausdrucksformen bezogen auf ein jeweils synonymes Semem, d. h. eine einzige Bedeutung der verschiedenen Signifikate). Diese Konzeption des onomasiologischen Feldes im engeren Sinne geht von synonymen Bezeichnungen aus, d. h. von Bezeichnungen mit identischem Symbolfaktor (siehe dazu § 5.2.), und wird uns zwingen, das Problem der Synonymie präziser zu erfassen (siehe § 8.). Man kann aber auch von einem onomasiologischen Feld im weiteren Sinn sprechen, dann nämlich, wenn es sich nicht um Synonyma, sondern um semantisch eng verwandte Bezeichnungen handelt, d. h. Bezeichnungen, die eine Reihe von Semen, also ein Archisemem gemeinsam haben (siehe z. B. Pottiers Analyse des onomasiologischen Feldes der Sitzgelegenheiten unter § 7.1.2.). Zum Feldbegriff im allgemeinen und bei Bühler vgl. Art. 112 § 3.; zu Theorie und Geschichte des onomasiologischen Feldes im weiteren Sinne siehe Schmidt 1973 sowie das Kapitel „Wortfeld“ in Geckeler 1971: 192⫺200 (unser Terminus entspricht Geckelers „Begriffsfeld“, das Wortfelder einschließt, aber nicht an nur für Wörter zutreffende Rangstufen gebunden ist); siehe auch Wiegand und Wolski 1990: 200.
5.
Die Makrostrukturen und die Kommunikation
5.1. Die Makrostrukturen auf der Ausdrucks- und auf der Inhaltsebene Die doppelte semasiologisch/onomasiologische Analyserichtung erfordert zwei sich ergänzende Makrostrukturen (siehe dazu Wiegand 1989 a; Hausmann und Wiegand 1989: 336 f), mit anderen Worten ⫺ bezogen auf den Wortschatz ⫺ zwei verschiedene Typen von Wörterbüchern. Ein semasiologisch orientiertes Wörterbuch ordnet Ausdrucksformen, also Wörter, auf Grund der Struktur ihrer Wortkörper (das am meisten verwendete und auf Grund eines historischen Prozesses in unseren Sprachen allgemein anerkannte Prinzip ist die Makrogliederung nach dem Alphabet). Jedes Lemma wird semasiologisch analysiert. Dabei ist die Darstellung des jeweiligen semasiologischen Feldes ein zentrales Problem der Metalexikographie. Ein onomasiologisch orientiertes Wörterbuch ordnet ebenfalls Ausdrucksformen (Wörter), aber nach ihrer inhaltlichen Struktur, indem jeweils diejenigen Ausdrucksformen (Wörter) beisammenstehen, welche die ‘gleiche’ Bedeutung haben, d. h. sogenannte „Synonyma“. Für die Makrostruktur auf der inhaltlich-begrifflichen Ebene gibt es ⫺ im Gegensatz zur Ausdrucksebene (Alphabet) ⫺ kein allgemein anerkanntes Prinzip. Das Begriffssystem von Hallig und Wartburg 1952 (21963) gibt einen Gliederungsvorschlag unter vielen möglichen (eine noematische Gesamtpyramide ist theoretisch und praktisch unmöglich). 5.2. Die Kommunikation und das Bühlersche Organonmodell Die doppelte Analyserichtung, die aus der Bipolarität des sprachlichen Zeichens hervorgeht und zwei verschiedene Typen von Wörterbüchern bedingt, entspricht dem Sinn von Sprache überhaupt, nämlich der Kommunikation. Diese setzt mindestens zwei Teilnehmer voraus (abgesehen vom Selbstgespräch, bei welchem man sich selbst verdoppelt): einen Sprecher und einen Hörer. Spätestens hier ist es an der Zeit, an das Bühlersche Organonmodell (Bühler 1934; vgl. Art. 77 § 10. und Art. 112 § 2.) zu erinnern, welches den Sprecher (⫽ Sender) und den Hörer (⫽ Empfänger) mit einschließt (siehe Abb. 105.6). Heger stellt in Monem, Satz und Text (1976) das Bühlersche Modell verändert vor (siehe Abb. 105.7).
2124
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Abb. 105.6: Das Organonmodell der sprachlichen Kommunikation nach Bühler (1934: 28).
Gegenstände und Sachverhalte
Symbolfunktion "Erklären"
"Erklären" Zeichen
Symptomfunktion
Signalfunktion Empfänger
Sender
"Verstehen"
Abb. 105.7: Das Bühlersche Organonmodell in der Fassung von Heger (1976: 11).
5.3. Die onomasiologische Aufgabe des Sprechers und die semasiologische Aufgabe des Hörers Der Sprecher (Sender) hat in seinem Gedächtnis ein langue-System und eine Grammatik ⫺ im Falle der Mehrsprachigkeit mehrere langue-Systeme und mehrere Grammatiken ⫺ gespeichert. Wenn er einen Gedanken, eine Mitteilung, sprachlich formulieren will, wählt er aus diesem Speicher oder diesen Speichern die zur Formulierung nötigen Ausdrucksformen aus, die den Inhaltsformen entsprechen, welche er vermitteln will, und fügt sie nach den Regeln der jeweiligen Grammatik aneinander. Der Weg des Sprechers ist somit ein onomasiologischer: er führt von Inhaltsformen zu Ausdrucksformen. Der Hörer (Empfänger) dagegen erhält Ausdrucksformen, die er einzeln analysieren,
interpretieren muß, wobei die bei jeder einzelnen Ausdrucksform auf der langue-Ebene vorhandene Polysemie auf je eine Bedeutung (Semem) reduziert werden muß. Dies ist nur durch pragmatische Prozesse (vgl. Art. 4 §§ 1.4. und 1.5.) möglich, in denen Text- und Situationszusammenhänge (Kontexte im weitesten Sinne) die durch die Polysemie eröffneten Möglichkeiten einer sinnvollen Mitteilung auf eine Bedeutung beschränken (Wortspiele immer ausgenommen). Da Kontexte die Polysemien auflösen, sind diese an die unteren Ränge der sprachlichen Einheiten gebunden. Auszunehmen sind (abgesehen von den Wortspielen) dichterische Texte (und ganz besonders Lyrik), die oft mehrere Interpretationen ⫺ nicht nur von einzelnen Wörtern, sondern auch von ganzen Texten ⫺ möglich machen (vgl. Art. 116 §§ 3. bis 5.). Solche literarische Interpretationen lasse ich hier außer Betracht. Gelingt die Reduktion der Polysemie nicht völlig, so entsteht eine Unklarheit der Mitteilung oder ein Mißverständnis. Im Falle einer Unklarheit, die dem Hörer bewußt wird, hat er die Möglichkeit der Nachfrage, wodurch der Sprecher die Möglichkeit zu einer Präzisierung, Erklärung, Erläuterung erhält (feed-back). Der Hörer vollzieht somit eine Reihe von semasiologischen Analysen. Ihre Kombination ergibt sein Kommunikations- bzw. Textverständnis. Ein Kommunikationsaustausch, d. h. ein Gespräch, funktioniert somit wie ein Weberschiffchen: in einem pausenlosen Wechsel von semasiologischen Analysen von Seiten des jeweiligen Hörers und onomasiologischen Entscheidungen von Seiten des Sprechers. Sprecher und Hörer wechseln im Gespräch laufend ihre Rollen. Sie benützen jeweils als Sprecher und als Hörer ständig die von ihrem Gedächtnis gespeicherten Wörterbücher und Regeln, und zwar abwechselnd in semasiologischer und onomasiologischer Richtung.
6.
Semasiologie und Onomasiologie im Dreieckmodell
Nun haben wir aber bereits angedeutet, daß die Probleme auf der Ausdrucksseite anders liegen als auf der Inhaltsseite. Dem Alphabet auf der Ausdrucksseite steht auf der Inhaltsseite weder eine allgemein anerkannte inhaltliche Einheit gegenüber, die dem Phonem entspricht, noch ein allgemein anerkanntes
2125
105. Semasiologie und Onomasiologie
‘Höhe‘Spitze ‘Kron- punkt, von’ leuchter’ Vollendung’
‘Baumkrone’
‘Krone (des Herrschers)’
‘Blüten- ‘Geweih ‘Zahn- ‘Damm- ‘Art blätter (Jägersprache)’ krone’ krone’ Münze’ (einer Blüte)’
Krone (semasiologisches Feld, nach Duden 1978)
‘Ehrenpreis (Schweiz)’
‘Ring von (fig.)’
‘Blumenkranz’
‘Fährte (Jägersprache)’
‘Figur (beim Kegeln)’
Kranz (semasiologisches Feld, nach Duden 1978) Abb. 105.8: Semasiologische Feldmodelle auf Dreieckbasis (dt. Krone und dt. Kranz) nach Baldinger (1984: 13).
begriffliches Makrosystem. Der Ausgangspunkt für eine semasiologische Analyse, die Ausdrucksform, ist vorgegeben und steht ebenso fest wie die alphabetische Makrostruktur. Welches aber ist die Einheit (oder sind die Einheiten) auf der Inhaltsebene, von welcher (welchen) sowohl der Sprecher als auch der Sprachwissenschaftler ausgehen kann oder muß? Da man es bei jeder semasiologischen und bei jeder onomasiologischen Analyse oder Interpretation mit einer Mehrzahl von Bedeutungen bzw. von Bezeichnungen zu tun hat, auch wenn es sich um die Analyse eines einzelnen Wortes oder um die sprachlichen Bezeichnungen für eine einzelne Inhaltseinheit handelt, befindet man sich stets auf der Ebene der langue und nicht der parole. Da andererseits das Dreieckmodell die Polysemie ausklammert und somit zur Ebene der parole gehört, ist man gezwungen, sowohl bei der Darstellung der Semasiologie, als auch der Onomasiologie das einzelne Dreieck zu verlassen und mehrere Dreiecke zu Hilfe zu nehmen (siehe Abb. 105.8). Im Zentrum steht die „Normalbedeutung“, d. h. die Bedeutung (Inhaltseinheit), die einem native speaker spontan in den Sinn kommt, wenn man ein Wort (eine Ausdruckseinheit) isoliert ausspricht, bzw. das Dreieck,
bei dem die Analyse in semasiologischer Richtung (und in onomasiologischer Richtung als Normalbezeichnung) das Dreieck nicht verläßt. (Vgl. usuelle Äußerungen, usuelle Texte, usuelle Gebrauchsfixierungskontexte, von denen Wiegand 1985 spricht.) Alle anderen Bedeutungen können als sekundäre Bedeutungen (bzw. Bezeichnungen) angesehen werden, die erst durch entsprechende Kontexte festgelegt werden. Umgekehrt kann man onomasiologisch von einer Inhaltseinheit (Inhaltsform, Semem, Bedeutung) ausgehend nach den Bezeichnungen fragen und so das onomasiologische Feld, zum Beispiel für die Inhaltsform ‘Kopf’ (als menschlicher Körperteil), erhalten (siehe Abb. 105.9). Die onomasiologische Blickrichtung führt zu einem Überblick über die Bezeichnungsvielfalt, die in einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung steht. Baldinger (1964) verzeichnet zum Beispiel über 160 verschiedene Bezeichnungen ⫺ meist affektiver Art ⫺ für den Begriff ‘Kopf’ in Lateinamerika, wobei das Normalwort überall cabeza lautet. Als weiteres Beispiel für die onomasiologische Methode, ebenfalls für Lateinamerika, wurden von Baldinger und Rivarola (1974) die Bezeichnungen für ‘dumm’ analysiert.
2126
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
‘Kopf’
dt. Dach
dt. Rübe
dt. Birne dt. Kopf (f. tête sp. cabeza Normalbezeichnung)
dt. Kürbis etc.
Abb. 105.9: Onomasiologisches Feldmodell auf Dreieckbasis (Begriff ‘Kopf’).
‘Heiligenschein’ ‘Haarkranz’
‘Baumkrone’
‘Scheitel’
‘Tonsur’ ‘Zahnkrone’
1. ‘Krone’ 2. ‘Kranz’
‘Art Befestigung (mil.)’
‘Kreisring (math.)’
sp. corona Abb. 105.10: Semasiologisches Feldmodell auf Dreieckbasis (sp. corona).
Im zweisprachigen Wörterbuch ergibt sich eine eigenartige Situation: die Analysemethoden wirken sich über Kreuz aus. Ein spanisch-deutsches Wörterbuch wird u. a. die in Abb. 105.10 dargestellten deutschen Definitionen für sp. corona verzeichnen: Die semasiologische Analyse eines Signems der Sprache A (hier z. B. sp. corona) führt im Deutschen (Sprache B) zu einer Vielzahl von Bezeichnungen, die ein pseudo-onomasiologisches Feld ergeben, dessen Struktur dem semasiologischen Feld der Einheit der Ausgangssprache A entspricht (siehe Baldinger 1971). Daraus folgt makrostrukturell: „In voller Besetzung ergäbe das zweisprachige Wörterbuch somit zu jedem Stichwort von A so viele onomasiologische Felder von B, wie A Sememe hat. Die Aneinanderreihung dieser onomasiologischen B-Felder ist nicht aus B gewonnen und nicht durch B motiviert, sondern ergibt sich aus der semasiologischen Struktur des Stichwortes von A. Diese onomasiologischen Entsprechungen in der BSprache besagen somit etwas über die semasiologische Struktur der A-Sprache. Sie ergeben hingegen weder ein semasiologisches Mikro- noch ein onomasiologisches Makrobild der B-Sprache. Hingegen ist der Aufschluß darüber, wie weit sich das semasiologische Feld eines Stichwortes der A-Sprache
mit dem semasiologischen Feld eines B-Wortes deckt bzw. nicht deckt, für den Sprachvergleich von großer Bedeutung“ (Baldinger 1971: 392 f). Da das Dreieckmodell die Polysemie nicht im Modell selbst berücksichtigt, können die semasiologische und die onomasiologische Methode, wie wir gesehen haben, nur mit Hilfe aneinandergereihter Dreiecke verdeutlicht werden. Immerhin hat dies den Vorteil, daß dadurch zwischen Haupt- oder Normalbedeutung (Verbindung zwischen einer Ausdrucksform und der Inhaltsform innerhalb desselben Dreiecks) ⫺ gelegentlich sind es auch zwei, wie bei dt. Krone und Kranz als Übersetzung von fr. couronne, sp. corona ⫺ und sekundären oder speziellen Bedeutungen (Verbindungen zwischen derselben Ausdrucksform und verschiedenen Dreiecksspitzen außerhalb des Grunddreiecks) differenziert werden kann. Dies wiederum läßt erkennen, daß zu diesen sekundären Dreiecksspitzen jeweils unterschiedliche Normalbezeichnungen (Ausdrucksformen mit Normalbedeutung) gehören können, wie die beiden Beispiele in Abb. 105.11 verdeutlichen sollen: ‘Birne’ ist Hauptbedeutung (d. h. Ausdrucksform) des Wortes Birne (innerhalb desselben Dreiecks); ‘Kopf’ ist eine affektive Nebenbedeutung des Wortes Birne, ist aber
2127
105. Semasiologie und Onomasiologie
‘Birne’
Birne
‘Kopf’
‘Krone’ ‘Tonsur’
sp. corona
sp. tonsura
Abb. 105.11: Normalbedeutung versus sekundäre Bedeutung (dt. Birne, sp. corona).
gleichzeitig die Normalbedeutung des Wortes Birne. Damit eignet sich das Dreieckmodell auch dafür, das Wesen der Metaphorik darzustellen. Andererseits ist es für ein Modell auf der methodologischen zweiten Metaebene erforderlich, alle Faktoren in das Modell zu integrieren, und diese Forderung wird durch das Trapezmodell erfüllt.
7.
Semasiologie und Onomasiologie im Trapezmodell
7.1. Semasiologie im Trapezmodell 7.1.1. Unterschiede zwischen Dreieck- und Trapezmodell Im Trapezmodell wird die Polysemie im Signifikat integriert, wie es ein Modell auf der Ebene der langue erfordert. Die Semasiologie geht vom Signem (d. h. einer sprachlichen Einheit als Kombination einer Ausdrucksund einer Inhaltsform; z. B. einem Wort) aus und trennt zunächst auf der oberen Inhaltsebene das dazugehörige Signifikat (im Trapez oben links) als Ganzes von der Ausdrucksebene, die in unserem Zusammenhang nicht interessiert. Das Signifikat umfaßt somit das gesamte semasiologische Feld, das wir mit dem Dreieckmodell noch in viele verschiedene Dreiecke aufgelöst haben. Diese Auflösung wird erst im zweiten Schritt bei der Analyse des Signifikats in Sememe (Bedeutungen) vorgenommen (Trapez oben Mitte), wo wir durch eine Beleuchtung von oben die einzelnen Sememe (Bedeutungen) als semasiologisches Feld (Bedeutungsfeld) sichtbar machen können (Semem ⫽ S; semasiologisches Feld S1 ⫹ S2 ⫹ S3 … ⫹ Sn) mit so vielen Sememen, wie man mit dem Dreieckmodell Dreiecke benötigen würde. Das Trapezmodell hat darüber hinaus den Vorteil, auch die Analyse dieser Sememe miteinzubeziehen, indem die einzelnen Sememe in Seme (kleinste bedeutungsdifferenzierende Einheiten) oder in Noeme (Elemente eines außereinzelsprach-
lichen logisch aufgebauten Kategoriensystems) zerlegt werden können. 7.1.2. Das Beispiel „Sitzgelegenheit“ von Pottier Beispiele für Sememanalysen gibt Pottier (1963) in seiner klassisch gewordenen Analyse von fr. chaise und anderen Sitzbezeichnungen (siehe Abb. 105.12). Dabei werden die Seme mit „s“, die Sememe mit „S“ bezeichnet ( mit „⫹“ die Anwesenheit, mit „⫺“ die Abwesenheit des betreffenden Sems).
chaise fauteuil tabouret canape´ pouf s1 s2 s3 s4 s5 s6
⫽ ⫽ ⫽ ⫽ ⫽ ⫽
s1
s2
s3
s4
s5
s6
⫹ ⫹ ⫺ ⫹ ⫺
⫹ ⫹ ⫹ ⫹ ⫹
⫹ ⫹ ⫹ ⫺ ⫹
⫹ ⫹ ⫹ ⫹ ⫹
⫺ ⫹ ⫺ ⫹ ⫺
⫹ ⫹ ⫹ ⫹ ⫺
⫽ S1 ⫽ S2 ⫽ S3 ⫽ S4 ⫽ S5
mit Rückenlehne vom Boden erhoben für eine Person zum Sitzen mit Armlehnen aus festem Material
Abb. 105.12: Sememanalyse von fr. sie`ge nach Pottier (1963).
Fr. chaise wird in dieser Analyse definiert als Gegenstand (dieser ist ein nicht in der Analyse enthaltenes, d. h. vorausgesetztes Klassem) mit dem Semem S1, welches die Seme s1 (mit Rückenlehne), s2 (vom Boden erhoben), s3 (für eine Person), s4 (zum Sitzen), s5 (mit Armlehnen) und s6 (aus festem Material) enthält. Die verschiedenen Sitzbezeichnungen unterscheiden sich durch je ein Sem, ein distinktives Merkmal. Diejenigen Seme, die in allen Sememen enthalten sind, bilden das Archisemem, im vorliegenden Falle s2 ⫹ s4 „(Gegenstand), mit vom Boden erhobener Fläche, die zum Sitzen da ist“. Das Französische besitzt ein Signem, das nur diese beiden Seme enthält: sie`ge ‘Sitzgelegenheit’. Pottier nennt es „Archilexem“. Diese semasiologische Analyse von chaise führte zwangsläufig zur gleichzeitigen Analyse der semantisch verwandten Wörter, da ja Seme distinktive Merkmale sind. Dies aber führte ebenso zwangsläufig zur Konstituierung eines onomasiologischen Feldes im weiteren Sinne (welches verwandte, d. h. sich durch mindestens ein symbolbegriffliches Sem unterscheidende ⫺ also gerade nicht synonyme ⫺ Wörter enthält). Für dieses bil-
2128
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
det das oben dargestellte Semsystem einen begrifflichen Rahmen, von dem aus man den umgekehrten ⫺ onomasiologischen ⫺ Weg gehen kann: vom begrifflichen Semsystem, wie es semasiologisch erarbeitet wurde, in Richtung auf mögliche Semkombinationen, d. h. zu Sememen, die sich in verschiedene Signifikate eingliedern, welche ihrerseits zu verschiedenen Signemen gehören, die ein onomasiologisches Feld im weiteren Sinne bilden. Dabei wird auch deutlich, welche Sememmöglichkeiten nicht genutzt werden, d. h. welche Bezeichnungslücken in einer bestimmten Sprache bestehen. Als Äquivalent zu fr. sie`ge zum Beispiel besitzt das Dt. nur das umständliche Sitzgelegenheit. Lücken werden zum Teil durch Lehnwörter geschlossen (wie z. B. im Französischen dt. Alpenglühen in Konkurrenz zu dem etwas mühevollen embrasement des Alpes). 7.1.3. Das Beispiel sich erinnern von Baldinger und Heger Eine ähnliche Analyse, aber bezogen auf das Verb erinnern, nämlich fr. se souvenir ‘sich erinnern’ und fr. rappeler qch. a` qn. ‘jem. erinnern an’ sowie verwandte Bezeichnungen, erprobte wenig später Baldinger in Verbindung mit Heger (Baldinger 1966). Der verbale Charakter implizierte eine auf Tesnie`re aufbauende Aktantenbasis, d. h. Hegers Schema der finalen (f) und kausalen (k) Vorgangsbeteiligten (Abb. 105.13): 1 2k 3kk 4kkk
2f 3kf
4kkf
3ff 4kff
4fff
etc. Abb. 105.13: Schema der Vorgangsbeteiligten nach Heger (1966: 146).
Dabei bezeichnet 1 die Monovalenz (1 Vorgangsbeteiligter), 2 die Bivalenz (2 Vorgangsbeteiligte), 3 die Trivalenz (3 Vorgangsbeteiligte). Das Phänomen des Sich-Erinnerns kann man analysieren als „P [psychische Präsenz] eines in der Vergangenheit liegenden Faktums [A] im Gedächtnis M einer Person B [MB]“:
P (AP; MB) dt. ich erinnere mich an meine Kindheit fr. je me souviens de mon enfance Dreiwertig wird diese zweiwertige Formel, wenn ein kausaler Faktor (k) hinzutritt: kP (AP; MB; C) dt. ich erinnere ihn an seine Kindheit C kP MB AP Die Analyse gilt sowohl für das Deutsche als auch für das Französische (und andere Sprachen). Das Französische hat lediglich eine etwas andere Anordnung der Faktoren: fr.
je lui rappelle son enfance C MB kP AP
Die systematische Kombination der Grundformel mit den Valenzen und der Opposition von transformativ (in Erinnerung kommen) und nicht transformativ (in Erinnerung sein) ergibt das in Abb. 105.14 dargestellte begriffliche Schema. Die obigen beiden Beispielsätze ich erinnere mich an meine Kindheit (bivalent) und ich erinnere ihn an seine Kindheit (trivalent) entsprechen den beiden häufigsten Grundpositionen (A ⫽ B und A ⫽ B ⫽ C). Sie werden im Dt. mit demselben Verbum (erinnern) besetzt, im Fr. hingegen mit zwei verschiedenen Verben (zweiwertiges se souvenir; dreiwertiges rappeler qch. a` qn.). Die in Baldinger 1966 vorgenommene umfassende semasiologische Analyse zeigt, welche Positionen des obigen begrifflichen Schemas von den beiden Verben besetzt werden können (elliptisch sogar monovalente Positionen). Für das Fr. typisch ist, daß die trivalenten Positionen zwar die typische Domäne von rappeler sind, daß aber auch se souvenir in diese Positionen einrükken kann, allerdings nur mit Hilfe des Verbums faire, dessen kausaler Charakter die Bivalenz von se souvenir in eine Trivalenz umwandeln kann. 7.1.4. Das semasiologische Feld im Trapez-Modell Da das Trapez nur methodologische Punkte enthält, kann man mit seiner klassischen Form ebensowenig wie mit dem Dreieck seine praktische Anwendung ⫺ d. h. weder semasiologische noch onomasiologische Felder ⫺ sichtbar werden lassen. Dies ist jedoch möglich und legitim, wenn man es sozusagen von oben beleuchtet und ihm damit eine dritte Dimension verleiht, wie in Abb. 105.15:
2129
105. Semasiologie und Onomasiologie
Abb. 105.14: Analyse des Begriffes ‘sich erinnern’ nach Baldinger (1966: 19 und 1980: 168).
von der Seite: Begriff
7.2.
von oben: begriffliches System Seme/Noeme (= ‘Begriffe’)
Abb. 105.15: Semasiologisches Modell im Trapez nach Baldinger (1984: 154).
Diese Sicht erlaubt eine Darstellung des semasiologischen Feldes mit Hilfe des Trapezmodells (Abb. 105.16): Signifikat (signifié)
Sememe (Bedeutungen)
‘begriffliches’ System – – noematisches System
Seme/Noeme Abb. 105.16: Semasiologisches Feld im Trapezmodell nach Baldinger (1984: 154).
Die Analyserichtung geht von links nach rechts, vom Signem bzw. Signifikat über die Sememe zu den Semen bzw. Noemen (siehe § 7.2.).
Onomasiologie im Trapezmodell
7.2.1. Von der semasiologischen Analyse zu Sem- und Noemstrukturen Die semasiologischen Analysen zu chaise und anderen Sitzgelegenheiten (§ 7.1.2.) und zu sich erinnern / se souvenir (§ 7.1.3.) führten zwangsläufig zur Analyse einer Reihe verwandter Bezeichnungen, da Seme ja distinktive Merkmale sind, somit nur aus der Opposition zu anderen Bezeichnungen eruiert werden können. Im Falle sie`ge (§ 7.1.2.) ergab sich ein onomasiologisches Feld im weiteren Sinn: „Im weiteren Sinne“ bedeutet, daß die in ihm enthaltenen ‘verwandten’ Bezeichnungen und Wendungen sich mindestens durch ein symbolbegriffliches Sem unterscheiden, also gerade keine synonymen Bezeichnungen sind (siehe dazu § 8.1.). Das Beispiel sich erinnern (§ 7.1.3.) zeigt über die Pottiersche Analyse hinaus, daß bei Verben Aktantenmodelle herangezogen werden müssen. Die dabei eruierten einzelnen Positionen ergeben in ähnlicher Weise symbolbegriffliche Variationen der begrifflichen Grundformel, die von den beteiligten Aktanten abhängen und insofern grammatikalischer Natur sind, als das gleiche Verbum (Lemma im Wörterbuch) verschiedene Positionen besetzen kann. Damit ergeben sich unterhalb der Mikrofelder (z. B. die Bezeichnungen für ‘Kopf’) kleinere Minifelder (bivalente Positionen vom Typus se souvenir; trivalente Positionen vom Typus rappeler qch. a` qn. etc.), die vom gleichen Grundwort besetzt sein können, aber nicht müssen. Daneben sind diese Positionen (in
2130 der Regel einige oder einzelne) aber auch von anderen Grundwörtern besetzt, so daß der Ausdruck „onomasiologisches Minifeld“ vollauf berechtigt ist. Da onomasiologische Felder im engeren Sinne nur Synonyme mit symbolbegrifflicher Identität enthalten dürfen (siehe § 8.1.), ist dies von Bedeutung sowohl für die synchrone Analyse bedeutungsgleicher Grundwörter (aller Verben für ‘sich erinnern’) als auch für die diachronische Bedeutungsforschung (dreiwertiges rappeler qch. a` qn. dringt in die zweiwertige Position von se souvenir de qch. ein: so schon belegtes, aber von der normativen Grammatik noch als „falsch“ bezeichnetes se rappeler de qch.). Die begrifflichen Strukturen an der rechten oberen Ecke, die ich nach vorheriger semasiologischer Analyse der beteiligten Signeme eruiere (seien es Sem- oder Noemstrukturen), können nun ihrerseits als Ausgangssystem für onomasiologische Fragestellungen dienen, d. h. umgekehrt, im Trapez von rechts nach links, für jede einzelne Position in Richtung auf die verschiedenen Bezeichnungen. Se souvenir und rappeler qch. a` qn. sind nicht mehr volle Synonyme, da sie zu verschiedenen Positionen gehören. Hingegen besetzen rappeler qch. a` qn., faire souvenir (übrigens auch der Imperativ, der ebenfalls einen zusätzlichen kausalen Faktor enthält), reme´morer qch. a` qn., remettre qch. devant les yeux de qn. dieselbe Position, womit sich nicht nur ein onomasiologisches Feld im engeren Sinn ergibt, sondern darüber hinaus sich die Frage nach der Synonymik stellt (genau so wie z. B. bei den verschiedenen Bezeichnungen im Dreieckmodell für den menschlichen Kopf, siehe oben § 6.; wir werden in § 8. darauf eingehen). 7.2.2. Kombination von Sem- und Noemstruktur im Trapez Die Sicht von oben erlaubt es, neben der semasiologischen auch die onomasiologische Blickrichtung deutlich zu machen (Abb. 105.17). Noch komplizierter wird das Verhältnis von Semasiologie und Onomasiologie im zweisprachigen Wörterbuch. Was sich bei der Übersetzung eines Stichwortes a einer Ausgangssprache A in eine Zielsprache B vollzieht, haben wir oben (§ 6.) mit Hilfe des Dreieckmodells verdeutlicht. Auf der Basis des Trapezmodells, d. h. unter Berücksichtigung der signifie´s (mit mehreren Sememen) läßt sich das Verhältnis wie in Abb. 105.18 darstellen.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Signifikate (enthält alle zum entsprechenden Signem gehörenden Sememe)
Sememe (Bedeutungen)
A
1
A
2a
Begriffe
A z. B. rappeler (‘jem. erinnern an’)
B
2b
B
2g
begriffliche Systeme
B z. B. se souvenir (‘sich erinnern’) ⫺⫺⫺⫺
⫺·⫺·⫺
semasiologisches Feld von A onomasiologisches Minimalfeld mit ‘absoluten’ Synonymen, d. h. mit identischer Symbolfunktion in den beiden Sememen (A2a ⫽ B2b) onomasiologisches Mikrofeld, welches alle realisierten Positionen des Begriffsfeldes ‘se souvenir’ umfaßt.
Abb. 105.17: Semasiologie und Onomasiologie im Trapezmodell nach Baldinger (1984: 170).
Ausgangssprache A
Zielsprache B Sememanalysen von a von b Sa1
Sb1 =
Stichwort a
Signifiéanalyse
Sa2 = Sc1 Sa3 Sd1 mangelnde Kongruenz etc.
etc.
Signifiéanalysen Sb1 Sb2 Sb3 Sc1 Sc2 Sc3
Zielwörter (Synonyma)
b c fehlendes Zielwort zwingt zur Definition
Abb. 105.18: Semasiologie und Onomasiologie im zweisprachigen Wörterbuch nach Baldinger (1971: 389).
7.2.3. Noematische Modelle Noematische Systeme werden je nach den Bedürfnissen des vorgesehenen Sprachvergleichs (synchronisch oder diachronisch) logisch konstruiert und haben außereinzelsprachlichen Charakter (Heger 1976; Heger 1981; Heger 1985 b; siehe oben § 4.). Ihren Sinn als Vergleichsfolie für onomasiologische
2131
105. Semasiologie und Onomasiologie
R: OE: ⬁: ⫽: ⫽:
Beziehung zwischen dem Sprecher (oder einer anderen Person) und dem Bruder/der Schwester der Sprecher Geschlecht des Bruders (der Schwester), von dem (der) man spricht gleichen Geschlechts verschiedenen Geschlechts
Sprachen: ⫺ ⫺ ⫺ Französisch fre`re/soeur, Englisch brother/sister, Deutsch Bruder/ Schwester, Spanisch hermano/hermana, Italienisch fratello/sorella, Niederländisch broeder/zuster ⫺⫺⫺⫺ Burushaski cho/yas, Neomelanesisch borata/sisa Quechua wawqi/turi/n˜an˜a/pani Abb. 105.19: Noematisches Modell (vgl. Baldinger 1980: 102) für die Begriffe ‘Bruder’/‘Schwester’ (dt., fr., it., sp., engl., ndl., Quechua, Burushaski).
Fragestellungen nach den Bezeichnungen und Bezeichnungsstrukturen kann man an einfachen Beispielen deutlich machen (siehe Abb. 105. 19). Für das noematische System, wie es in Abb. 105.19 dargestellt ist, reichen die Oppositionen weiblich/männlich und Sprecher/Geschwister, von denen gesprochen wird, aus. Wenn jedoch der Vergleich ausgedehnt wird auf eine Sprache, in welcher auch die Opposition älter/jünger lexikologisch eine Rolle spielt (z. B. weil der ältere Bruder mehr Rechte hat) wie in der Mayasprache, dann muß das noematische System erweitert werden (aber dann eben systematisch konsequent). Gerade bei so weit entfernten Strukturen und Kulturen erweist sich ein noematisches System als Vergleichsbasis für onomasiologische Fragestellungen als unumgänglich. Als Beispiel für ein systematisch durchgespieltes noematisches System (zu den grammatischen Kategorien ‘Person’ und ‘Numerus’) sei auf Heger 1980 verwiesen.
Ein weiteres Beispiel, auf das Catford 1965 aufmerksam gemacht hat, ist in Abb. 105.20 dargestellt. Die in diesem Beispiel mit aufgenommenen Daten aus dem Französischen und Englischen zeigen, daß selbst bei näherliegenden europäischen Sprachen ein solcher Vergleich nützlich sein kann, um so mehr als unsere Grammatiken dazu neigen, das Lateinische zum pseudo-noematischen Maßstab zu nehmen (als Gegenbeispiel vgl. Heger 1980: Fn. 36). Im Prinzip ist es allerdings möglich, daß Semoppositionen gleichzeitig auch noematischen Charakter haben, d. h. in ein noematisches außereinzelsprachliches Oppositionssystem passen (als ein beliebtes Beispiel dafür dienen die Zahlen). Der Gegensatz dazu wäre die Verabsolutierung des nur einzelsprachlichen Sememoppositionssystems, etwa des Französischen ⫺ wie im Falle des orthodoxen Guillaumismus (vgl. Guillaume 1929) ⫺, wobei man dann alle anderen Sprachen auf das Französische abbildet und mit
2132
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Question
Situation
⫹
⫹
⫺
⫹
Did you? I didn’t . . . . . . . . .
⫹
⫺
Didn’t you? I didn’t . . . . . . .
⫺
⫺
e. g., Did you? I did . . . . . . . Didn’t you? I did . . . . . . . . .
Engl.
Jap.
Fr.
hai
oui
yes si iie no
non hai
Abb. 105.20: Ja/nein-Schema nach Frage (engl., jap., fr.).
Genugtuung feststellen kann, daß das Französische die perfekteste aller Sprachen ist (vgl. Heger 1961 a). Ein noematisches System ⫺ zu noematisch aufgebauten Rängen sprachlicher Einheiten (Aktantenmodellen) siehe Heger 1976; zu Flexionsformen als weiterem Beispiel siehe Heger 1985 c ⫺ ist zweifellos der erstrebenswerte Extremfall und bei Systemvergleichen theoretisch unerläßlich. In manchen Fällen allerdings dürfte dies auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Aber wir haben gesehen, daß auch eine Sememanalyse im Sinne des schon erläuterten Beispiels chaise von Pottier als eine legitime Basis für eine onomasiologische Fragestellung in bezug auf das Französische gelten und systematisch durchgespielt werden kann. Dazwischen liegen gemischte Modelle, die aus Sememanalysen und noematischen Elementen zusammengesetzt sind und durchaus als Ausgangspunkt für onomasiologische Analysen nützlich sein können. Nicht ganz gesichert ist auch der noematische Status der Untersuchungen von Baldinger (1966) und Heger (1966) zu den Bezeichnungen für „sich erinnern“ (siehe § 7.1.3. und § 7.2.1.). Das implizite Aktantenmodell hat mit Sicherheit noematischen Charakter und die ‘psychische Präsenz’ dürfte zum mindesten für den Menschen außer(einzel)sprachlich nicht in Zweifel gezogen werden. Die Paralleluntersuchungen zum Lateinischen haben die übereinzelsprachliche Nützlichkeit bestätigt und das Modell dürfte wohl auch außereinzelsprachlich anwendbar sein. Eine einzelsprachliche Sememanalyse kann auch bei anderen Sprachen angewendet werden, wenn entsprechende semasiologische Analysen zu vergleichbaren Oppositionen führen. In diesem Falle handelt es sich um vergleichbare übereinzelsprachliche Teilsysteme. Sie liegen besonders häufig bei gemeinsamer Kultur und gleichen Traditionen
vor. Dies rechtfertigt auch, wie wir zu Beginn gesehen haben, die Fortführung einer sachbezogenen Onomasiologie im Sinne der Wortund Sachforschung (§ 1.2.). Allerdings ist sie wohl weitgehend auf die Lexikologie beschränkt. Die theoretisch einwandfreieste Form ist jedoch zweifellos eine Onomasiologie, die von noematisch nachgewiesenen Systemen ausgeht, auf die sich einzelsprachliche Strukturen abbilden lassen. In jedem Falle aber sind (nach einer onomasiologischen Grobordnung) semasiologische Analysen unumgänglich, bevor überhaupt an eine onomasiologische Systematik gedacht werden kann. Erst muß man wissen, was die Wörter einer Einzelsprache bedeuten, bevor man die Frage untersuchen kann, mit welchen Ausdrucksformen eine bestimmte Inhaltsform ausgedrückt werden kann, sei es in einer bestimmten Sprache, auf verschiedenen Sprachstufen derselben Sprache oder in verschiedenen Sprachen. Nur eine semasiologische Analyse kann auch die für die Konstruktion eines noematischen Systems notwendigen Komponenten ermitteln.
8.
Das Problem der Synonymik
8.1. Konsequenzen des Bühlerschen Organonmodells für das onomasiologische Feld Aus onomasiologischer Sicht (im engeren Sinn) erhält man in der Mikrostruktur Ausdrucksformen, die in einer Sprache ‘denselben Inhalt’ zum Ausdruck bringen, also Synonyma. Das Problem der Synonymik wird dadurch zu einem Kernpunkt jeder Semantiktheorie. Wir haben es mit Hilfe des Bühlerschen Organonmodells (§ 5.2.) deutlich zu machen versucht (Baldinger 1968). Von Synonymen kann man sprechen, wenn zwei Ausdrucksformen eine identische Darstellungsfunktion (Symbolfunktion) haben. Sie kön-
105. Semasiologie und Onomasiologie
nen sich trotzdem durch eine Fülle von Faktoren unterscheiden, sei es durch Faktoren die mit der Struktur der Sprache oder aber mit Symptom- bzw. Signalfaktoren zu tun haben. 8.2. Strukturelle Faktoren der Synonymendifferenzierung Zu den strukturellen Differenzierungsfaktoren (Baldinger 1968: 41⫺48; Baldinger 1984: 177⫺184) gehören: (1) die unterschiedlichen implizit präsenten semasiologischen Felder von zwei ‘Synonyma’ (z. B. von Kopf und von Haupt); (2) die verschiedene Ähnlichkeit der betreffenden Ausdrucksform mit der Ausdrucksform ‘synonymer’ Signeme (besonders im Wortspiel wichtig, z. B.: Was lange gärt, wird endlich Wut ist nicht ersetzbar durch Was lange fermentiert, wird endlich Zorn; Ferienspaß mit dem Ferienpaß ist nicht ersetzbar durch Ferienfreude mit dem Ferienausweis); (3) Zugehörigkeit zu verschiedenen Wortfamilien (z. B. Telephon ⫺ telephonieren / Fernsprecher ⫺ *fernsprechen); (4) Motivation bei Metaphern, Ableitungen oder Komposita (z. B. Trottoir/Bürgersteig); (5) Phonostilistik (besonders in der Poesie, aber auch in der Prosa, z. B. San-Antonio [Fre´de´ric Dard] (1971): Vas-y, Be´ru!; zum Grundsätzlichen siehe Spillner 1984); (6) Syntax und Kontext (z. B. dt. zwei und zwo, fr. second und deuxie`me); (7) Betonung und Rhythmus (z. B. u´mfahren/umfa´hren); (8) Stilniveau (z. B. transpirieren/schwitzen; Antlitz/Gesicht; das ist ein Haus, da ißt man nicht, da speist man); (9) stilistische Prinzipien (z. B. der Nichtwiederholung). 8.3. Symptom- und signalbegriffliche Faktoren Die zweite Gruppe umfaßt ⫺ in konsequenter Anwendung des Bühlerschen Organonmodells (§ 5.2.); vgl. auch die Konzeption von Konnotation und Metasemiotik bei Hjelmslev und Barthes, Art. 117 § 5. ⫺ Symptomund Signalfaktoren (da ja die Identität der Symbolfaktoren Bedingung für die Synonymie ist): (10) geographische Differenzierungen (z. B. Samstag (eher Süden)/Sonnabend (eher Norden), Tischler (Norden, Osten)/Schreiner
2133 (Westen, Süden), Polizei (Deutschland)/Gendarmerie (Österreich); (11) Soziale Differenzierungen (z. B. arbeiten/malochen, fr. argent/Argot fric, ble´, oseille …, fr. beaucoup/Argot lerche); (12) Allgemeinsprache/Fachsprache (z. B. Hexenschuß/Ischias, berichten/referieren (Studenten), Lehrling/Auszubildender (Amtssprache)/Azubi, Schwarzfahrt/Beförderungserschleichung (Juristensprache)); (13) Konfession (z. B. Papst (prot.)/Heiliger Vater (kath.), fr. Je´sus Christ (kath.)/Je´su Kri (prot.)); (14) Parteizugehörigkeit (z. B. vor Christus/vor der Zeitrechnung (kommunistischer Sprachgebrauch), Verteidigungsminister/Kriegsminister (östliche Bezeichnung für den gleichen Minister bis zur Wende 1989), Chemnitz/Karl-Marx-Stadt und Radikalenerlaß/Extremistenbeschluß/Berufsverbot sind nach dem Lexikon der schweren Wörter (Mannheim) „gleichbedeutende aber nicht gleichwertige Ausdrücke, die auf denselben Sachverhalt Bezug nehmen“; (15) Kindersprache/Erwachsenensprache (z. B. Wauwau/Hund, heia gehen/schlafen gehen); (16) Sprache der Männer/der Frauen (zu Fällen differenzierter Sprachverwendung in Mundarten der Romania siehe Baldinger 1984: 189; vgl. auch Kalverkämper 1979); (17) Archaismen/Modernismen (z. B. fr. moult (scherzhaft, archaisch)/beaucoup; als Modesteigerungswort wird echt (um 1978) durch geil abgelöst (um 1988)); (18) gelehrt/volkstümlich und (19) Lehnwort/Erbwort sind im Prinzip zu trennen, obwohl sie sich überlagern (Telephon ist Fremdwort und populär, Fernsprecher ist gelehrt und erbwörtlich; „ihr letzter Schrei ist noch ein dernier cri“ (Erich Kästner); fr. me´decin/toubib); (20) Intensivierung (z. B. sehr im Verhältnis zu sau in saudumm, saublöd, schweiz. auch sautief, sauschön, saugroß, sauklein etc.); (21) Humor (z. B. Fahrrad/Drahtesel, Hund/Flohomnibus, Magen/Frikadellenfriedhof, Gebirgsjäger/Fleuropdivision (Edelweiß an der Mütze), Schiedsrichter/Edelflötist, Diskjockey/Plattenleger, altes Auto/Rostlaube, fünf Mark/ein Platz an der Sonne, Adria/Teutonengrill, Slalomläuferinnen/Zickzackdamen; wir zeigen die Geburt unsers ersten Kindes an / unser Prototyp ist vom Band gelaufen …); (22) Ironie und Parodie (z. B. Kakophonie/ Serenade, Hausaltar/Fernsehgerät, fr. villa/cabane, österreichische Schillinge/Alpen-Dollar);
2134
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
(23) Laudative Affektivität (z. B. schön/ zauberhaft/himmlisch/schick/super/picobello); (24) Pejorative Affektivität (z. B. Apotheker/Giftbudenhengst (1900 ff), Beamter/Glanzarsch (1900 ff), Fernsehapparat/Glotze oder Glotzophon, Computer/Höchstgeschwindigkeitstrottel, Ostmark/Kosakendollar (1977); Zigarette/Sargnagel); (25) Euphemismus zur Aufhebung der Symptom/Signalfunktion (z. B. Wiesel/Schöntierchen, Putzfrau/Parkett-Masseuse (1953)/ Raumpflegerin, Kuhfladen/Almtorte, Arsch/Po/ Hintern/Allerwertester, Büstenhalter/(doppelte) Hängematte, Arbeiterforelle/Hering, fr. mitraillette/pressepure´e; in der Werbesprache: Preissteigerung/Angleichung der Preise an das Lohnniveau; typisch euphemistische Wendungen in Zeugnissen: „Sie hat sich bemüht, ihren Aufgaben gerecht zu werden“/„guter Wille, aber mehr nicht“; pectus ‘Brust’ (sekundäres Geschlechtsmerkmal) wird im Fr. nacheinander ersetzt durch poitrine (eigentlich bedeckendes Kleidungsstück), gorge (Kehle), estomac (Magen), sein (lat. sinus ‘Kleiderfalte’); euphemistischer Synonymieersatz in Flüchen, z. B. Gottfried Stutz oder schweizdt. Gopferdeggel/Gottverdammich). Die Zuordnung zu den Faktoren 10 bis 25 ist nicht immer eindeutig möglich, da sie sich kumulieren können. Komiker wie Heinz Ehrhardt nutzen die Synonymie häufig für komische Effekte („Eigentlich wollte ich persönlich hier erscheinen, aber jetzt komme ich selbst.“). Für die Onomasiologie von Bedeutung ist, daß jedes onomasiologische Feld (im engeren Sinne, d. h. mit identischem Symbolfaktor) nach diesen 25 Gesichtspunkten differenzierbar ist, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß noch weitere Gesichtspunkte hinzukommen können. Zur Synonymie im einsprachigen Wörterbuch sei auf Wolski 1989 verwiesen.
9.
Die Prototypensemantik
9.1. Entstehung und Entwicklung Eleanor Rosch (Rosch 1973) leitete ⫺ nach ersten Arbeiten von Eleanor Heider (1971 f) ⫺ 1973 die „kognitive Wende“ ein, die als „the Roschian revolution“ bezeichnet wurde (das Wortspiel ist ebenso hübsch, wie die These problematisch ist). Sie begründete die Prototypensemantik, die seit Bochum 1984 (mit Bezug auf Labov 1973), Geeraerts 1985 und vor allem seit Kleiber 1988 und Hand-
werker 1989 auch in Europa beginnt Schule zu machen. Rosch und Mervis (1975) beschreiben die neue Richtung. „Most traditions of thought“, sagen sie, „have treated category membership as a digital, all-or-none phenomenon. That is, much work in philosophy, psychology, linguistics, and anthropology assumes that categories are logical bounded entities, membership in which is defined by an item’s possession of a simple set of criterial features, in which all instances possessing the criterial attributes have a full and equal degree of membership. In contrast to such a view, it has been recently argued (see Lakoff 1972; Rosch 1973; Zadeh 1965) that some natural categories are analog and must be represented logically in a manner which reflects their analog structure. Rosch (1973, 1975 b) has further characterized some natural analog categories as internally structured into a prototype (clearest cases, best examples of the category) and nonprototype members, with nonprototype members tending toward an order from better to poorer examples […]“ (Rosch und Mervis 1975: 573 f). Dies gilt nicht nur für die Farben (Rosch 1973; Berlin und Kay 1969; Heider 1971), sondern für fast alle Allgemeinbegriffe. Die Prototypen sind „clearest cases“, „the best examples“; sie sind „ ‘surrounded’ by other category members of decreasing similarity to that core meaning“ (Rosch 1973: 112). Für den Begriff ‘Vogel’ sind z. B. Sperling oder Adler bessere Prototypen als Strauß, Pinguin oder Huhn, die zu derselben Kategorie gehören (Rosch 1973: 143; Lakoff 1982: 27). „Chicken is a salient food and a peripheral bird“ (Rosch 1973: 143). Rosch spricht von einer „psychological reality of internal structure“ (141). Dies soll auch für „natural superordinate semantic categories“ gelten (Rosch und Mervis 1975: 574). Noch deutlicher Rosch 1978: 35: „Most, if not all, categories do not have clear-cut boundaries. To argue that basic object categories follow clusters of perceived attributes is not to say that such attribute clusters are necessarily discontinous.“ Rosch und Mervis dehnen die Untersuchung auf die Prinzipien der Prototypenbildung und der Graduierung der Kategorien aus, die der ‘inneren Struktur’ zugrunde liegenden „major structural principles“. Dabei greifen sie auf Wittgenstein 1953 und seinen Begriff der Familienähnlichkeit zurück (574 f; siehe auch Rosch 1978: 36; Lakoff 1982: 12 und oft; Geeraerts 1985: 29; Kleiber 1988: 45 ff), d. h. eine Ver-
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105. Semasiologie und Onomasiologie
knüpfung vom Typus AB, BC, CD, DE: „That is, each item has at least one, and possibly several, elements in common with one or more other items, but no, or few, elements are common to all items. The existence of such relationships in actual natural language categories has not previously been investigated empirically“ (Rosch und Mervis 1975: 575). Dies wurde seit 1973 in zahlreichen Arbeiten (Rosch 1973; 1975 a und b; 1977; 1978; Miller 1978; Lakoff 1982; Bochum 1984; Geeraerts 1985; zusammenfassend auch Laca 1984; Craig 1986; Kleiber 1988; Coseriu 1990) nachgeholt. In derselben Arbeit von 1975 untersuchten Rosch und Mervis „natural semantic categories as networks of overlapping attributes; the basic hypothesis was that members of a category come to be viewed as prototypical of the category as a whole in proportion to the extent to which they bear a family resemblance to (have attributes which overlap those of) other members of the category. Conversely, items viewed as most prototypical of one category will be those with least family resemblance to or membership in other categories. In natural categories of concrete objects, the two aspects of family resemblance should coincide rather than conflict since it is reasonable that categories tend to become organized in such a way that they reflect the correlational structure of the environment in a manner which renders them maximally discriminable from each other […]“ (Rosch und Mervis 1975: 575). Diese Sicht der Dinge steht im Gegensatz zur traditionellen ⫺ allerdings spezifisch amerikanischen ⫺ klassischen Kategorienlehre, die Lehre von den „notwendigen und hinreichenden Bedingungen“ („necessary and sufficient criteria for category membership“), d. h. „the standard concept-identification paradigm“ (Rosch 1978: 35). „A list of features necessary and sufficient for an item to belong to a category“ (Rosch 1975 a: 193 a) trage den fließenden Übergängen nicht Rechnung. Seither ist dieser Vorwurf häufig wiederholt worden (Lakoff 1982: 6, 14 und öfter; Geeraerts 1985: 30 f; u. a.). Kleiber 1988 kritisiert das Modell der „conditions ne´cessaires et suffisantes (CNS)“ als „trop rigide“. Das Postulat von klaren Grenzen zwischen den Kategorien werde der Unschärfe der Grenzzonen („du flou d’applicabilite´ re´fe´rentielle“; Kleiber 1988: 7) nicht gerecht. Das Modell lasse sich nicht auf alle Bereiche des Vokabulars anwenden. Als Musterbeispiel dienen
wiederum die Farben. Weder „ne´cessaire“ noch „suffisant“ sei zwingend (Kleiber 1988: 7). Kleiber stellt dem CNS-Modell das Prototypenmodell gegenüber (Abb. 105.21). tabourets tabourets ‘Hocker’
chaises ‘Stühle’
chaises fauteuils ‘Sessel’ fauteuils modèle des CNS
modèle prototypique
Abb. 105.21: CNS-Modell und Prototypenmodell nach Kleiber (1988: 23).
Kleiber 1988 benützt den schon zitierten und von Rosch und Mervis 1975 wieder aufgenommenen Begriff der Familienähnlichkeit (Wittgenstein 1953; vgl. Art. 109 § 4.2.), um die Prototypentheorie auf Fälle von Polysemie auszuweiten („version e´tendu du prototype“): „Le re´sultat le plus spectaculaire de l’abandon de cette contrainte [du mode`le des CNS] est le passage d’une conception monore´fe´rentielle des categories a` une conception multire´fe´rentielle“ (Kleiber 1988: 48); er nimmt das Schema von Givon auf (Abb. 105.22).
a
b
c
d
e
Abb. 105.22: Familienähnlichkeit nach Givon (1986: 78).
Dabei schließt er allerdings auch Beziehungen zwischen a und d etc. nicht aus (Kleiber 1988: 48 und Fußnote 28). Handwerker (1989: 72 ff) begrüßt diese neue Konzeption. 9.2. Coserius Kritik Coseriu (1990) hingegen geht auf Grund ausführlich begründeter Argumente scharf mit der Prototypensemantik ins Gericht. Nach einem Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Prototypentheorie setzt er sich mit ihren Thesen auseinander. Er wirft der Prototypentheorie mit Recht vor, Kategorienbildung mit sprachlicher Bedeutungsbil-
2136 dung ⫺ d. h. Bedeutungen mit extensionalen Kategorien („clases de cosas designadas“) ⫺ in einen Topf zu werfen und die referentielle Vagheit mit begrifflicher Vagheit zu verwechseln (dazu unten § 9.3. und § 9.4.). Coseriu 1990 (Abschnitte 2.⫺4.) widerlegt Kleiber 1988, da dieser mit der Kritik am „klassischen“ CNS-Modell den amerikanischen Strukturalismus im Auge hat und seine Argumente auf den europäischen Strukturalismus nicht zutreffen: Mit dem Vorwurf an Kleiber, er sei ein ‘typischer’ Vertreter der Linguisten, die den Sinn einer strukturalistischen (europäischen) Sprachwissenschaft nicht verstanden haben (246, Fn. 15), kritisiert er die Grundlagen der gesamten Prototypensemantik. Wir stimmen mit Coseriu (1990: 259) überein: „Die Bedeutung ist eine mentale Einheit, ein ‘Bezeichnungswissen’, ein Bündel von Bedingungen für virtuelle Bezeichnungsmöglichkeiten, das zwangsläufig homogen und ‘diskret’ ist, d. h. nicht Bestandteil eines Kontinuums. Die Bezeichnung hingegen bezieht sich auf ‘Dinge’ und auf ihre Eigenschaften, die oft ineinander übergehen und heterogen sind, und sie ordnet den Dingen Bedeutungen zu; zudem ist die Bezeichnung vielfältig: sie subsumiert viele ⫺ oft verschiedene ⫺ Dinge unter ein und derselben Bedeutung.“ Coseriu fügt hinzu, daß es sich dabei um triviale Feststellungen handle, die aber offenbar vergessen worden seien. Dazu gehöre auch, daß die Sprache die ‘Grenzen’ setzt, und zwar mentale Grenzen (besser wäre zu sagen: die Sprache setzt Schwerpunkte; siehe unten § 9.3.). Coseriu weist weiter darauf hin, daß Gradualität einer analytischen Semantik durchaus nicht fremd ist, wobei nicht vergessen werden darf, daß ja jede Bedeutung schon viel Heterogenes zusammenfaßt. Coseriu (1990: 275) bezeichnet die Prototypensemantik insgesamt sogar als „immensen Rückschritt“ der lexikalischen Semantik. In Wirklichkeit sei die Prototypensemantik einseitig und lediglich eine extensionale Semantik, eine Semantik der ‘Dinge’ (una sema´ntica de las ‘cosas’) und beruhe auf einer Konfusion von Bedeutungen und bezeichneten Dingen (1990: 282). Die Schlußfolgerung Coserius zitiere ich in extenso (in deutscher Übersetzung): „Die einzige wirkliche ‘kognitive’ Semantik (welche sich zur Aufgabe macht, die Struktur des intuitiven primären Wissens zu eruieren, so wie es sich in den Sprachen manifestiert, bzw. die Art und Weise zu untersuchen, wie die Spra-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
chen die ‘Welt’ gliedern ⫺ und welche deshalb auch zwischen dem primären (strukturierten) und dem sekundären [wissenschaftlichen] sprachlich nicht strukturierten Wortschatz unterscheidet) ist die strukturelle Semantik. Die Prototypensemantik ist als ‘kognitiver Ansatz’ keine Semantik, da sie ja die Struktur der Spezies, d. h. der bezeichneten ‘Dinge’ betrifft, und nicht diejenige der Bedeutungen; und sie ist als ‘Semantik’ (eine Disziplin, die mit sprachlichen Inhalten operiert) nicht kognitiv, da sie das in den Signifikaten enthaltene sprachliche Wissen völlig außer Acht läßt, nur ihre Anwendung auf die bezeichnete Realität berücksichtigt und auf diese Weise das im Signifikat enthaltene Wissen, das sprachliche Wissen, mit dem Wissen von den ‘Sachen’ verwechselt.“ Weit weniger kritische Würdigungen (als bei Coseriu) finden sich bei Geeraerts 1985: 29, 38; Schwarze 1985: 78; Kleiber 1988: 13 f; Wolski 1988 und Yvaert 1992; kritisch zur Stereotypensemantik in der Lexikographie (Geeraerts 1985) äußert sich auch Wiegand (1989 d: 573 a). Da der Raum fehlt, auf alle Argumente einzugehen, beschränken wir uns im folgenden auf zwei Aspekte: die angeblich begriffliche Unschärfe der Inhaltsgrenzen (§ 9.3.) und das adjunktive Auffangen der Prototypikalität (§ 9.4.). 9.3. Die angebliche Unschärfe der begrifflichen Grenzen Das Kernproblem betrifft die Relationen zwischen intensionaler und extensionaler Begriffsbestimmung (so der Titel eines Kapitels in Heger 1979). Heger sieht zwei Möglichkeiten: eine begriffliche Schwerpunktsetzung, „was mehr der intensionalen Konstituierung entspricht“, und eine bereichsinterne Grenzziehung, „was mehr den extensionalen Konstituenten entspricht“ (Abb. 105.23). „Im ersten Fall der begrifflichen Schwerpunktsetzung entspricht der intensionalen Eindeutigkeit des entsprechenden Allgemeinbegriffs eine extensionale Bestimmung, die eben wegen des Fehlens einer Grenzziehung wie im zweiten Fall durch das charakterisiert ist, was man als ‘unscharfe Grenzen’ zu bezeichnen pflegt“ (Heger 1979: 32). Heger verweist auf das intensional eindeutige Oppositionspaar ‘Berg’ : ‘Tal’: Wann verläßt man das Tal und betritt man den Berg? Bei einer intensionalen Opposition kann eine extensionale Frage ⫺ von seltenen Fällen abgesehen ⫺ nicht beantwortet werden. In demselben
105. Semasiologie und Onomasiologie
Abb. 105.23: Begriffliche Schwerpunktsetzung und bereichsinterne Grenzziehung nach Heger (1979: 31).
Sinne ist die intensionale Opposition ‘Tag’ : ‘Nacht’ eindeutig, aber gerade wegen dieser Eindeutigkeit machen extensionale Zuordnungen des Grenzbereiches Schwierigkeiten, weil seine Charakteristika weder eindeutig für Tag, noch eindeutig für Nacht zutreffen. Damit werden intensional operierende Vorschriften problematisch: Wie soll ein Gericht entscheiden, ob ein Autofahrer vorschriftsmäßig mit Licht gefahren war oder nicht, bzw. ob ihn bei einem Unfall im zeitlichen Grenzbereich ein Verschulden trifft oder nicht? Finnland mit seinen langen Nächten hat das Problem durch Vereinbarung gelöst: Zwischen zwei bestimmten Daten ist stets mit Licht zu fahren, so daß insbesondere die Fremden verblüfft sind, wenn ihnen bei strahlendem Sonnenschein um die Mittagszeit, also in einer idealen prototypischen Situation, die Autos mit Lichtern entgegenkommen! Dieses Beispiel zeigt im übrigen, daß ⫺ wie auch Heger betont ⫺ „zusätzliche extensionale Spezifizierungen durchaus sinnvoll sein“ können. Baldinger 1984: 23 (und schon in der ersten spanischen Ausgabe von 1970: 47!) hat diese fließenden Übergänge bei klaren intensionalen Oppositionen am Beispiel von ‘Hütte’ : ‘Haus’ : ‘Palast’ deutlich zu machen versucht. Dies gilt gleichermaßen für diskontinuierliche und für kontinuierliche Allgemeinbegriffe, also auch zum Beispiel für die von Rosch 1973 und bis heute immer wieder ins Feld geführte Farbenskala. Heger 1979: 32 unterstreicht ⫺ mit Bezug auf Lakoff 1972 und die dort zitierten Arbeiten von Zadeh bzw. die dort behandelte Logik der „fuzzy sets“ ⫺ die Problematik ihrer wechselseitigen Abgrenzung: „wo /rot/ aufhört und /orange/ anfängt ist ⫺ im Gegensatz zu der mit Hilfe einer Angabe entsprechender Wellenlängen beantwortbaren Frage nach den
2137 extensionalen Schwerpunkten, die diesen Sememen entsprechen ⫺ ebenso unbeantwortbar wie die Frage, wo das Tal aufhört und der Berg anfängt“ (Heger 1979: 32). Entsprechend gilt dies natürlich auch für andere kontinuierliche Allgemeinbegriffe. Wo ist die Grenze zwischen ‘jung’ und ‘alt’, ‘gesund’ und ‘krank’, ‘kalt’ und ‘warm’, ‘dumm’ und ‘intelligent’, ‘schön’ und ‘häßlich’ (Baldinger 1984: 25)? Intensionale Begriffe beziehen sich auf begriffliche Schwerpunkte, Schwerpunktoppositionen. Dies entspricht am ehesten dem Stereotyp (Putnam 1975), dem Vorstellungsschema oder „objet mental“ (Baldinger 1984: 22); zu der manchmal schwierigen Unterscheidung von Prototyp als „(bestes) Exempel einer Kategorie“ und Stereotyp als „Vorstellungsschema“ siehe Lakoff 1982: 2. Deutlich wird Unterschied und Gemeinsamkeit in so geläufigen und zunächst tautologisch erscheinenden Wendungen wie ein Mann ist ein Mann, die erläutert werden kann als: ‘wenn man zur Kategorie Mann gehört, hat man eben die typischen Merkmale eines Mannes’ (oder „ein Prototyp entspricht eben einer stereotypen Vorstellung“)! Nur dann läßt sich das Prototypenmodell semantisch rechtfertigen, wenn man es auf intensionale Oppositionen bezieht, was Formulierungen wie die folgende ermöglichen: „Prototypes are defined […] as the abstract representation of a category“ (Rosch und Mervis 1975: 575). Die „best examples“ als Prototypen entsprechen den intensional definierten Schwerpunkten (diese Schwerpunktoppositionen sind allerdings eindeutig ⫺ im Gegensatz zur Konzeption der Prototypensemantik): ihre Anwendung auf Realitäten des Grenzbereichs ist gerade wegen der Klarheit der begrifflichen Opposition problematisch und erweckt den Anschein der Unschärfe oder Vagheit. Heger weist mit Recht darauf hin, daß die begriffliche Schwerpunktsetzung eine Flexibilität ermöglicht, die bei Adjektiven auch in der Möglichkeit von Komparativen, Superlativen und Elativen zum Tragen kommt. Die intensionalen Allgemeinbegriffe ermöglichen es, „genau die Relationen abzudecken“, „die sich auf den entsprechenden fuzzy-setSkalen abbilden lassen“ (Heger 1979: 33). Heger unterstreicht zudem, „daß das, was gelegentlich als /Ungenauigkeit/ ausgegeben wird, wesentlich sinnvoller als die Eigenschaft (natürlich-)sprachlicher Zeichen zu deuten ist, auf beliebige Genauigkeitsgrade festgelegt werden zu können und damit dem
2138 Benutzer die Freiheit zu lassen, Zeichen mit jeweils genau dem Genauigkeitsgrad zu verwenden, der seinen kommunikativen Absichten angemessen ist“ (Heger 1979: 36). 9.4. Adjunktives Auffangen der Prototypikalität Trotzdem gibt es Fälle, bei denen auch die europäische Semantik schon längst prototypischen Verhältnissen Rechnung trägt. So hat Heger (schon 1967: 573) das französische Imperfekt mit einer adjunktiven Formel charakterisiert, bei welcher der imperfektive Aspekt fakultativ kanalisiert wird mit durativ oder iterativ, der perfektive Aspekt fakultativ mit punktuell oder semelfaktiv. Diesen Fall hat Heger in seinem Beitrag zum Kolloquium von Halifax 1990 (⫽ Heger 1991) mit einer moderneren Formulierung wieder aufgenommen. Gleichzeitig hat Heger (1991) an adjunktive Fälle im Bereich des Wortschatzes erinnert. So an die Möglichkeit, das deutsche Wort Tag entweder disjunktiv in drei Sememen darzustellen (S1 ⫽ /‘24 Stunden’/, S2 ⫽ /‘24 h’/ ⫹ /‘S ⫽Sonnenlicht’/, S3 ⫽ /‘S’/) oder aber adjunktiv als Kombination der beiden Seme /„24 h“/ ∨ /„S“/ (schon Heger 1964: 509). Heger 1991 formuliert fr. jour (das sich genau so verhält wie dt. Tag) ⫽ (S1 / S2 / S3) ⫽ (s1 / (s1 ⫹ s2) / s2) ⫽ (s1 ∨ s2), wobei „∨“ bedeutet: ‘und/oder’. Adjunktiv können aber auch Probleme gelöst werden, die mit der Rigidität zusammenhängen, die immer wieder ⫺ insbesondere von Anhängern der Prototypensemantik ⫺ gegen die traditionelle CNS-Semantik (aber auch in bezug auf Pottiers chaise-Analyse) der Sememanalyse vorgebracht wird (so z. B. Schwarze 1985: 78; Kleiber 1988: 8). Während bei der chaise-Analyse etwa Kleibers Kritik an Pottiers Sem ‘mit 4 Füßen’ völlig daneben geht, da die Zahl der Füße bei Pottier gar nicht festgelegt ist, und Fälle wie Stühle mit einer Armlehne (etwa zum Schreiben für Studenten) noch den oben beschriebenen Randzonen zugeordnet werden mögen (solange die Einarmigkeit keinen Semstatus hat, der eine eigene Bezeichnung zur Voraussetzung hätte), liegt im Verhältnis der beiden Sememe von chaise und fauteuil, bzw. von Stuhl und Sessel/Fauteuil eine Adjunktion von Komponenten vor, wie gleich zu begründen sein wird. Dies trifft immer dann zu, wenn zwei verschiedene Komponenten in Konkurrenz um ein und denselben Semstatus stehen. Solche Komponenten haben somit einen fakultativen Charakter, d. h. sie können
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
innerhalb desselben Semems vorhanden sein oder nicht. Es sind Einheiten unterhalb des Sem-Status. Der und/oder-Charakter ist ⫺ per definitionem ⫺ Voraussetzung der Adjunktion. Mit ca wird (werden) die gemeinsame(n) Komponente(n) bezeichnet. In der Analyse Pottiers unterscheidet sich fauteuil von chaise durch das zusätzliche Sem ‘mit Armlehne(n)’ (⫽ c1). Dazu kommt aber ⫺ was Pottier nicht berücksichtigt hat ⫺ eine fakultative Komponente ‘Polsterung, Weichheit, Bequemlichkeit’ (⫽ c2), was wiederum dazu führt, daß auch das Pottiersche Sem ‘mit Armlehne’ (c1) fakultativen Charakter erhält: ca ⫹ (c1 ∨ c2). Dabei sind vier Varianten möglich: (1) (2) (3) (4)
Sa Sa Sa Sa
⫹ ⫹ ⫹ ⫹
(c1 ⫹ c2) (- c1 ⫹ c2) (c1 ⫹ - c2) (- c1 ⫹ - c2)
(1) Sessel „mit Armlehnen und gepolstert“ entspricht prototypisch dem besten Exempel für Sessel und Fauteuil. (4) Stuhl „ohne Armlehnen und nicht gepolstert“ entspricht prototypisch dem besten Exempel für Stuhl. (2) und (3) bilden die Grenzzone mit nichtprototypischen Varianten. Dieses Beispiel zeigt, daß mit Hilfe der Adjunktion die Starrheit der traditionellen Analyse aufgelockert werden kann, d. h. daß auch prototypische Analysen in das Hegersche Modell integriert werden können. Die Anwendung der Prototypensemantik bei kontinuierlichen Allgemeinbegriffen wie Farben, ‘Gesundheit’/‘Krankheit’, ‘Tag’/‘Nacht’ etc. mag allerdings allenfalls für (lern)psychologische Zwecke von Nutzen sein (und in diesem Rahmen ist auch ihre Genese zu sehen). Für die sprachliche Analyse ist sie hingegen nicht adäquat, da die Sprache im Normalfall mit intensionalen Oppositionen, mit klaren Schwerpunkten und fließenden realen Grenzen operiert. Dies erklärt zweifellos zum guten Teil das Geheimnis ihrer Flexibilität. In den Randzonen werden einfach neue Schwerpunkte mit ihrerseits fließenden Übergängen (!) gesetzt (wie ‘Dämmerung’ zwischen ‘Tag’ und ‘Nacht’, oder ‘rotbraun’ zwischen ‘rot’ und ‘braun’). Dieses Faktum aber bedeutet auch, daß die Sprachwissenschaft ⫺ und ganz besonders das einsprachige Wörterbuch ⫺ keine Definitionen im etymologi-
2139
105. Semasiologie und Onomasiologie
schen Sinne geben kann, weil dies ja eine klare extensionale Grenzziehung zur Voraussetzung hätte (sei es durch nur selten mögliche extensionale Definitionen oder durch intensionale Oppositionen mit extensionalen Präzisierungen). Einsprachige Wörterbücher geben deshalb im Normalfall keine Definitionen, sondern Bedeutungsbeschreibungen. Wiegand (1989 d: 542 b) weist darauf hin, daß Henne (1972: 114) als erster darauf aufmerksam gemacht habe, daß der Ausdruck „lexikographische Definition“ nicht angemessen sei. Er selbst (Wiegand 1985: 52 ff; Wiegand 1989 d: 561 b) verwendet deshalb den reichlich barocken Ausdruck „Bedeutungsparaphrasenangaben (BPA)”, der allerdings mindestens international wohl wenig Anklang finden dürfte. Besser und einfacher wäre „Bedeutungsparaphrase“, „lexikalische Paraphrase” (wie in Wiegand 1985: 61), „Bedeutungsbeschreibung“ (wie in Wiegand 1985: 90) oder „lexikographische Bedeutungserläuterung“ (ein Terminus, den Wiegand 1978: 329 verwendet hatte). Aber warum sollte man nicht „lexikographische Definition“ beibehalten und erläutern, was man darunter versteht? In diesem Sinne stimme ich mit Wierzbicka (1992: 70) überein, die bemängelt, daß die Sprachwissenschaft keine methodologisch adäquaten Mittel zur Behandlung des Lexikons entwickelt habe, wo doch der Wortschatz die offensichtlichste und wichtigste Grundlage der Sprachbenutzung ist. Zweisprachige Wörterbücher geben meist nur bedingt zutreffende Äquivalenzen; von ihrer Problematik war oben (§ 6.) die Rede. 9.5. Semasiologie und Onomasiologie in der Prototypensemantik Primär ist die Prototypensemantik semasiologisch orientiert, d. h. darauf ausgerichtet, mit welchen Bedeutung(en) oder Vorstellungsschema(ta) Wörter (oder Zeichnungen) verknüpft sind. Onomasiologisch sind allerdings schon die Fragestellungen wie etwa: „Wie bezeichnen Sie diese geometrischen Formen …?“ (Typus Rosch 1973, 125), oder die Frage nach der Bezeichnung der „cup-like objects“ (Abb. 105.24). Schon diese Skizze zeigt, daß onomasiologische Fragestellungen auf der Basis von prototypensemantischen Analysen wegen der Thematisierung der Grenzbereiche dazu neigen, onomasiologische Felder im weiteren Sinne zu untersuchen (z. B. Gefäßbezeichnungen, Farbbezeichnungen, bzw. Ausschnitte aus diesen Bereichen). Dies wird
Abb. 105.24: Das Gegenstandsfeld ‘Trinkgefäße’ nach Labov (1973: 354) und Bochum (1984: 157).
durch Kleibers erweiterte Prototypentheorie (Kleiber 1988: 49) mit Hilfe der Wittgensteinschen Familienähnlichkeiten (1953) noch deutlicher. Die polysemische Verkettung erweitert automatisch auch die onomasiologische Ausgangsbasis. Diese onomasiologischen Felder können sogar sehr weitgespannt (generisch) sein, wie Rosch und Mervis (1975: 579) zeigen, die mit Feldern zu „furniture“ (von chair, sofa über bed … bis zu telephone) oder zu „vehicle“ (von car, bus über horse … bis zu elevator) u. a. experimentieren. Die Verwendung von Zeichnungen oder geometrischen Figuren ist ein erstes Indiz dafür, daß semasiologische und onomasiologische Fragestellungen nicht auf den Bereich der Sprache beschränkt, sondern grundlegend sind für alle Bereiche der Semiotik.
10.
Semiotischer Ausblick
10.1. Semasiologie und Onomasiologie in der Sprache Die hier skizzierte Entwicklungsgeschichte der Semasiologie und der Onomasiologie zeigt, wie aus den lexikologisch orientierten
2140 Anfängen im 19. Jahrhundert im Laufe des seither vergangenen Jahrhunderts ⫺ aufbauend auf einer von Saussure initiierten Sprachzeichentheorie mit bipolarem oder dualistischem Aspekt ⫺ im Rahmen einer wesentlich verfeinerten Semantiktheorie zwei grundlegende Forschungsrichtungen geworden sind, die weit über die Lexikologie hinausreichen. Aber noch sind die beiden methodischen Ansätze nicht einmal innerhalb der Sprachwissenschaft voll ausgeschöpft. So sind die Sprachatlanten seit ihrer Entstehung onomasiologisch ausgerichtet, da man nach der Bezeichnung von Begriffen fragte und ganz überrascht war, eine Vielfalt von Bezeichnungen zu erhalten. Dies war unangenehm, da man glaubte, überall das gleiche Wort zu erhalten, was erlaubt hätte, die phonetische Entwicklung in den verschiedenen Mundarten zu vergleichen und so der Entstehung der Dialektgrenzen auf die Spur zu kommen! Erst in allerjüngster Zeit wird die Notwendigkeit zweier grundsätzlich verschiedener Kartentypen erkannt und systematisch genutzt: Marie-Rose Simoni-Aurembou, die wohl erfahrenste Dialektologin Frankreichs, prüfte 1993 zum ersten Mal „Les motivations d‘une carte se´masiologique“ (1993: 237⫺239) neben der „De´fense et illustration des cartes onomasiologiques“ (1993: 240⫺244) theoretisch und praktisch in ihrem grundlegenden Beitrag „La cartographie de la me´moire“, der auf S. 239 auch eine semasiologische Karte zur Frage: „Qu’est-ce que la gaudele´e?“ enthält. Beide Aspekte spiegeln sich im Sprechakt, in der Kommunikation und entsprechen der Aufgabe des Sprechers (Onomasiologie) und der des Hörers (Semasiologie). Dementsprechend gibt es auch zwei grundlegende Typen von Wörterbüchern: solche, die von Ausdrucksformen (signifiants, Wortkörpern) ausgehen und semasiologisch nach Bedeutungen fragen, und solche, die von Inhaltsformen (Sememen, Bedeutungen) ausgehen und onomasiologisch nach Bezeichnungen fragen. Diesen beiden Analysemethoden entsprechen zwei verschiedene Makrostrukturen: eine Makrostruktur der Ausdrucksformen (insbesondere das nur historisch gerechtfertigte Alphabet) im semasiologischen, eine Makrostruktur der Inhaltsformen (eine allgemein akzeptierte Makrostruktur steht noch aus; vgl. das Begriffssystem von Hallig und Wartburg) im onomasiologischen Wörterbuch. Nur eine Kombination beider Methoden vermag ein vollständiges Bild der Sprache zu vermitteln, im kleinen und im großen.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
10.2. Gebärdensprache Nun ist aber die Sprache nur eines ⫺ wenn auch zweifellos das komplizierteste und anspruchsvollste ⫺ der vom Menschen verwendeten Kommunikationssysteme, wobei „Kommunikation“ im weitesten Sinne verstanden wird. Wenn, wie wir gesehen haben, für die Semasiologie und die Onomasiologie eine bipolare Struktur ⫺ eine Ausdrucksform verbunden mit einer Inhaltsform ⫺ unabdingbare Bedingung ist, so gilt auch das Umgekehrte: überall dort, wo eine solche bipolare Struktur bei zwischenmenschlichen Beziehungen vorliegt, haben wir gleichzeitig auch zwei Fragestellungen, eine semasiologische und eine onomasiologische Blickrichtung. Mit der Sprache am nächsten verwandt ist zweifellos die Gebärdensprache, wobei „-sprache“ hier metaphorisch verstanden werden kann (ebenso wie bei der „Tiersprache“): Sie lebt von der Mimik und der Gestik und unterscheidet sich von Kulturgemeinschaft zu Kulturgemeinschaft (siehe Art. 13 und Art. 168). Sie ist ⫺ wie die Sprache ⫺ arbiträr und von Konventionen abhängig (vgl. die entgegengesetzte Bedeutung des Kopfnickens und Kopfschüttelns zum Beispiel in indischen und in westeuropäischen Kulturen, oder die verschiedene Handhaltung beim Abschieds- und beim Heranwinken zum Beispiel in Spanien im Gegensatz zu anderen Kultur- und Kommunikationsgemeinschaften). Trotz der Vielfalt und Nuanciertheit der Gebärdensprache ⫺ von der man sich etwa bei Meo-Zilio und Mejı´a (1980⫺83), einer zweibändigen Beschreibung der spanischen und hispano-amerikanischen Gebärdensprache (mit über 2000 Gesten und zahlreichen Photographien), überzeugen kann ⫺ scheint ein ganz entscheidender Faktor der Sprache zu fehlen: die Polysemie. Bis auf weiteres wird man annehmen müssen: Jede Geste hat nur eine Bedeutung. 10.3. Verkehrssignale Die Gebärdensprache ist in dieser Beziehung eng verwandt mit dem Kommunikationssystem der Verkehrssignale (siehe Savigny 1980, Krampen 1988 und das Themenheft über „Kommunikation im Straßenverkehr“ der Zeitschrift für Semiotik, herausgegeben von Posner 1995): wenn die Verkehrssignale mehr als eine Bedeutung hätten, wären sie sogar lebensgefährlich (vgl. allerdings Art. 4 § 4.). In beiden Fällen aber ist eine semasiologische Fragestellung („Was bedeutet grün, rot
2141
105. Semasiologie und Onomasiologie
oder gelb bei Verkehrsampeln?“ etc.) ebenso möglich und sinnvoll wie eine onomasiologische („Wie bezeichnet man in verschiedenen Kultur- oder Kommunikationsgemeinschaften das Durchfahrtverbot?“ „Welche Geste bedeutet ‘ja’, welche ‘nein’? etc.). Eine international standardisierte Zeichensprache wird mit Hilfe von Flaggen im Schiffsverkehr verwendet (vgl. Prieto 1966 ⫽ 1972: Teil II). 10.4. Bildersprache Differenziertere Möglichkeiten bietet das Bild, sowohl das künstlerische Bild als auch das informative, vom Einzelbild bis zum Stummfilm (siehe „Bibliographie se´miotique visuelle“ 1982 sowie Floch 1982 als Beispiel einer semasiologischen Bildanalyse; vgl. auch Art. 153 und Art. 154). In der Malerei bzw. der Kunstgeschichte stellt sich semasiologisch die Frage nach der Deutung des Bildes, onomasiologisch die nach der Gestaltung eines Motivs (beides in synchronischer und diachronischer Perspektive). 10.5. Musik Das Gegenstück dazu bildet die Musik als akustisches Kommunikationssystem (siehe Nattiez 1982 und vgl. Art. 81). In allen Fällen kann man semasiologisch nach Bedeutungen und onomasiologisch nach Ausdrucksformen für eine Bedeutung fragen. Die Komposition erfolgt aus onomasiologischer Sicht, die Interpretation, der Gesang, das Klavierspiel etc. entspricht einer individuellen semasiologischen Analyse (vgl. Art. 152). 10.6. Medienkombinationen Die Kommunikationsmedien werden häufig kombiniert (vgl. Art. 169) ⫺ wir haben dies schon bei den Verkehrszeichen (Ampeln, Schilder, Gebärden, Trillerpfeife) gesehen. Sprache und Bild werden nicht nur im Tonfilm, sondern auch in Bildergeschichten, Comic Strips etc. (siehe z. B. Que´re´ 1986) kombiniert, Sprache und Musik bei Liedern, Opern etc. (vgl. Art. 63 § 3.2.2. und Art. 81 § 2.1.2.), Gestik und Akustik (Pfeifen) bei Schiedsrichtern im Sport (vgl. Art. 162). 10.7. Spannweite der Ausdrucks- und Inhaltsformen Bei all diesen Kommunikationssystemen besteht eine große Spannweite zwischen den Möglichkeiten an Ausdrucksformen, seien sie optisch, akustisch oder motorisch, und an Inhaltsformen: hier reicht die Spannweite von der präzisen Bedeutung von Verkehrssignalen
bis zu der offen bleibenden Interpretation von Kunstwerken. Stets aber ist dank der Bipolarität von Ausdrucks- und Inhaltsform eine doppelte Fragestellung, eine gegensätzliche Blickrichtung, eine semasiologische und eine onomasiologische Analyse und Betrachtung möglich. Der obige semiotische Ausblick zeigt nur einige Möglichkeiten und erhebt natürlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Aus der ursprünglichen „Dreschflegel-Onomasiologie“ ist ⫺ ausgehend von einer verfeinerten Semantiktheorie ⫺ eine viel generellere Methodologie erwachsen, die alle Kommunikationssysteme betrifft, welche aus einer Ausdrucks- und einer Inhaltsform bestehen. Ein volles Bild erhält man stets nur, wenn man beide Methoden kombiniert. Semasiologie und Onomasiologie bilden ein untrennbares methodologisches Ganzes.
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Kurt Baldinger, Heidelberg (Deutschland)
2146
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
106. Der Logische Empirismus 1. Der Logische Empirismus als Reaktion auf eine Krise der Philosophie 2. Der theoretische Kern des Logischen Empirismus 2.1. Das Grundinteresse 2.2. Drei Thesen des Logischen Empirismus 2.3. Desiderate und Nachfolgeprobleme 3. Einzelne Lehrstücke des Logischen Empirismus 3.1. Phänomenalismus, Physikalismus, Einheitswissenschaft und Enzyklopädie 3.2. Die Debatte über Sinnkriterien 3.3. Einzelne logische, metalogische und methodologische Beiträge 4. Die Stellung der Philosophie 5. Zur Geschichte des Logischen Empirismus 6. Literatur (in Auswahl)
1.
Der Logische Empirismus als Reaktion auf eine Krise der Philosophie
Die Genese des Logischen Empirismus fällt in eine Zeit rasanter und sogar weltverändernder Fortschritte in einzelwissenschaftlichen Disziplinen (zum Begriff der Einzelwissenschaft vgl. Art. 123 und Art. 132). Insbesondere in der Physik (vgl. Art. 84), Logik (vgl. Art. 76) und Mathematik (vgl. Art. 78) waren Resultate gewonnen worden, die unvereinbar mit jener philosophischen Konzeption schienen, die mit einem gewissen Recht als die vergleichsweise beste neuzeitliche Fundierung der Wissenschaften gelten kann, nämlich die kantische Transzendentalphilosophie (vgl. Art. 74 § 2.). Die Genese und der Ansatz des Logischen Empirismus läßt sich recht gut verstehen als der Versuch, auf die schon Kant leitende Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis eine Antwort zu geben, die sprachlich klar formuliert ist und dabei zugleich die Annahme aufgibt, daß es im Bereich der Naturwissenschaften oder der Mathematik synthetische Urteile a priori, also inhaltlich gehaltvolle, aber erfahrungsfrei gewonnene Erkenntnis geben könne. So entwickelt Moritz Schlick (1882⫺ 1936) die Allgemeine Erkenntnislehre über weite Strecken als Gegenkonzeption zur kantischen Philosophie (vgl. z. B. Schlick 1925 ⫽ 1979: 95). Eine erneute philosophische Analyse der Naturerkenntnis ist ein Desiderat. So stellt etwa Hans Reichenbach (1891⫺1953) fest: „Die Durchführung einer solchen Philosophie der Naturerkenntnis muß […] einer
besonderen Gruppe von Einzelforschern vorbehalten bleiben, wie sie sich in letzter Zeit deutlich herauszuheben beginnt; einer Gruppe, die einerseits die Technik der mathematischen Naturwissenschaft beherrscht, andererseits aber von ihr nicht derart belastet ist, daß sie über der Einzelarbeit den philosophischen Blick verliert“ (Reichenbach 1928 ⫽ 1977: 4). Bewältigen konnte eine solche Aufgabe nur eine kognitive Avantgarde, die einerseits über neueste logisch-mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse in einem Ausmaße verfügte, das für Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts außergewöhnlich war (und ist), deren Mitglieder aber andererseits zugleich in einem für Einzelwissenschaftler ungewöhnlichen Ausmaße an einer systematischen erkenntnistheoretischen Reflexion und Analyse einzelwissenschaftlicher Theorien bzw. des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses überhaupt interessiert waren. Vor diesem Hintergrund wird leicht verständlich, warum die Vertreter des Logischen Empirismus (jedenfalls in der ersten Generation) typischerweise ein Kenntnis-, Ausbildungs- und Interessenprofil haben, das sie zu einer Gruppe wissenschaftlicher Grenzgänger und interdisziplinärer Vagabunden macht.
2.
Der theoretische Kern des Logischen Empirismus
Der Logische Empirismus läßt sich charakterisieren durch ein aufklärerisches Grundinteresse (vgl. § 2.1.), drei Thesen bzw. Grundannahmen (vgl. § 2.2.) und eine Reihe von Desiderata und Nachfolgeproblemen, die sich in Konsequenz dieser Grundannahmen ergeben (vgl. § 2.3.). 2.1. Das Grundinteresse Als ein erstes Charakteristikum des Logischen Empirismus läßt sich ein aufklärerisches Interesse identifizieren, und zwar das Interesse an Klarheit von Begriffen und Argumentationen, das Interesse an Nachvollziehbarkeit, intersubjektiver Kontrolle und Überprüfbarkeit, (Selbst-)Transparenz des Denkens und Redens. Wer einem solchen Interesse folgt, muß sich gegen Ungenauigkeit, Vagheit und dunkle Tiefe wenden. Berufung auf geheimnisvolle Erkenntnisvermögen und unkontrollierbare Spekulationen sind mit
106. Der Logische Empirismus
diesem aufklärerischen Grundimpuls unvereinbar. Herbert Feigl (1902⫺1988) hat die sprachund erkenntniskritische Grundeinstellung des Logischen Empirismus sehr treffend zum Ausdruck gebracht, wenn er schreibt: „As I see it, we are living in a new age of enlightenment in which we ask persistently […] two major questions: ‘What do you mean?’ and ‘How do you know?’ “ (Feigl 1969 ⫽ 1981: 409; vgl. auch die Position von Richard von Mises, 1883⫺1953, wie sie etwa in Mises 1939: 9 vertreten wird). Ganz in diesem Geiste schreibt Reichenbach: „Die Trennungslinie zwischen der alten und der neuen Philosophie verläuft nicht zwischen Mathematik und spekulativer Philosophie: Sie trennt den Menschen, der sich für jedes Wort, das er spricht, verantwortlich fühlt, von demjenigen, der Worte dazu gebraucht, um intuitive Eingebungen und undurchdachte Vermutungen verlautbaren zu lassen“ (Reichenbach 1951 ⫽ 1968: 348). Jan Łukasiewicz (1878⫺1939) hat diese Gesinnung im Rahmen seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Warschau im Wintersemester 1922/23 in den folgenden Sätzen zum Ausdruck gebracht: „When we approach the great philosophical systems of Plato or Aristotle, Descartes or Spinoza, Kant or Hegel with the criteria of precision set up by mathematical logic, these systems fall to pieces as if they were houses of cards. Their basic concepts are not clear, their most important theses are incomprehensible, their reasoning and proofs are inexact, and the logical theories which often underlie them are practically all erroneous. Philosophy must be reconstructed from its very foundations; it should take its inspiration from scientific method and be based on the new logic. No single individual can dream of accomplishing this task. This is a work for generations and for intellects much more powerful than those yet born“ (Łukasiewicz 1922/23 ⫽ 1967: 21). 2.2. Drei Thesen des Logischen Empirismus Daß sich angebliche synthetische Urteile a priori im Lichte des einzelwissenschaftlichen Fortschritts nicht mehr halten ließen, kann zunächst dahingehend interpretiert werden, daß mit der Annahme solcher Urteile eine prinzipielle Ungereimtheit entsteht: Synthetizität und Apriorität scheinen unvereinbar zu sein; daß ein Urteil aposteriorisch ist, scheint die Voraussetzung dafür zu sein, daß es überhaupt synthetisch sein kann. In der systematischen Erfahrungskontrolle scheint das
2147 im Prinzip schlichte Geheimnis des rasanten einzelwissenschaftlichen Fortschritts zu liegen. Als erkenntnistheoretisches Prinzip kann man diese Diagnose dann wie folgt ausdrükken: Erkenntnis kann nur durch Erfahrung gewonnen werden. Das damit ausgesprochene Prinzip kann als eine erste Grundannahme des Logischen Empirismus angesprochen werden. Man könnte diese Grundannahme auch die „These von der Erfahrungsbasiertheit der Erkenntnis“ nennen. Daß es offenbar keine synthetischen Urteile a priori gibt und darüber hinaus der entscheidende einzelwissenschaftliche Fortschritt im Bereich der synthetisch-aposteriorischen und der analytischen Urteile erzielt wurde, motiviert zu der weiteren Annahme, daß jedenfalls nur im Bereich dieser beiden Urteilsarten sinnvolle Urteile ⫺ mögen sie nun wahr oder auch falsch sein ⫺ gefällt werden können. Daß hingegen in Disziplinen wie Philosophie oder auch Theologie vergleichsweise ein kognitives Chaos herrscht, scheint gut dadurch erklärbar zu sein, daß gerade in diesen Disziplinen Probleme diskutiert werden, die aus einer sprach- und bedeutungskritischen Perspektive Scheinprobleme sind. Es gibt offenbar Sätze, die nur zum Schein sinnvolle Sätze sind. Solche Scheinsätze bilden die grammatischen Formen sinnvoller Sätze nach, erweisen sich dem logisch geschulten Auge bei näherem Hinsehen jedoch als sinnlose Laut- und Zeichenfolgen. Die damit angesprochene These könnte man im Sinne einer zweiten Grundannahme des Logischen Empirismus die „These von der Disjunktion zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen“ nennen. Eine dritte Grundannahme des Logischen Empirismus betrifft den Wert und die Bedeutung, die die insbesondere auf Gottlob Frege (1848⫺1925; vgl. Art. 102 und Art. 76 § 3.1.), Bertrand Russell (1872⫺1970) und Alfred N. Whitehead (1861⫺1947; vgl. Art. 76 § 3.2.) zurückgehende moderne Logik hat, und zwar sowohl für den mathematischen und einzelwissenschaftlichen Fortschritt wie auch für die Klärung von Fragen eher philosophischen Charakters, wie sie sich zum Beispiel bereits im Anschluß an die ersten beiden Grundannahmen stellen. Trotz unterschiedlicher Akzentuierungen kann man innerhalb des Logischen Empirismus eine weitgehende Übereinstimmung darüber konstatieren, daß die moderne Logik ein sehr wertvolles Instrument bei der Rekonstruktion und Explika-
2148 tion von Begriffen, Sätzen, Argumenten, Theorien und insbesondere auch für die Identifizierung von Scheinproblemen und Scheinsätzen ist. Man könnte dies die „These von der Logik als wertvollem Analyseinstrument“ nennen. Sprach- und erkenntniskritischer Impetus, Skepsis gegenüber der Möglichkeit erfahrungsfreier Welterkenntnis und die positive Orientierung an den Erfahrungswissenschaften, Sinnlosigkeitsvermutungen und -verdikte gegenüber einer ganzen Reihe altehrwürdiger philosophischer Probleme, zielgerichteter Einsatz der Logik zu Zwecken der Systematisierung, Rekonstruktion und Explikation sind insgesamt als die zentralen theoretischen Momente jenes Überzeugungs- und Einstellungssyndroms anzusehen, das den Logischen Empirismus kennzeichnet. Es ist in etwa dieses Überzeugungs- und Einstellungssyndrom, für das die Vertreter des Logischen Empirismus unter der Bezeichnung „Wissenschaftliche Weltauffassung“ ⫺ so bereits im Titel der 1929 erschienenen Schrift von Rudolf Carnap (1891⫺1970), Hans Hahn (1879⫺1934) und Otto Neurath (1882⫺1945) ⫺ mit großer Emphase warben (vgl. auch Art. 104 und Art. 108). 2.3. Desiderate und Nachfolgeprobleme Der sprach- und geltungskritische Impetus und die drei zentralen Thesen umschreiben zwar ein für den Logischen Empirismus charakteristisches Einstellungssyndrom, sind zugleich aber eher programmatisch-heuristischer Art und daher selber präzisierungs- und ausarbeitungsbedürftig. Auf einer weiteren Ebene läßt sich der Logische Empirismus daher gerade durch jene Klärungsdesiderate und Nachfolgeprobleme charakterisieren, die sich in Konsequenz des charakteristischen Einstellungssyndroms ergeben. 2.3.1. Wenn synthetische Erkenntnis nur durch Erfahrung gewonnen werden kann und daher offenbar alle Erkenntnis ⫺ und sei sie noch so allgemein ⫺ an gewisse ‘elementare Erfahrungen’ gebunden ist, von welcher Art sind dann eigentlich jene ‘elementaren Erfahrungen’, von denen auszugehen ist? Sollen elementare Erfahrungen von der Art sein, daß man eine bestimmte Sinneswahrnehmung hat, also zum Beispiel daß man sieht, daß ein Gegenstand rot ist? Oder wäre eine elementare Erfahrung eher das, was man wahrnimmt, also zum Beispiel daß ein Gegenstand rot ist? Auf einer sprachlichen Ebene kann man das hier angesprochene
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Problem auch so formulieren: Sollen sich zum Beispiel die Farbprädikate jener Sprache, in der wir unsere Erfahrung beschreiben wollen, auf Empfindungen oder aber auf Dinge beziehen? Im ersten Fall könnte man von einem phänomenalistischen, im zweiten Fall von einem physikalischen Sprachaufbau sprechen. Das damit angesprochene Problem könnte man als das Problem des phänomenalistischen versus physikalischen Sprachaufbaus bezeichnen (zur Geschichte dieses Begriffspaars seit Brentano vgl. Art. 103 § 1.). 2.3.2. Lassen sich die elementaren Erfahrungen überhaupt sprachlich formulieren und welche genauere Form hätten ⫺ falls dies der Fall ist ⫺ jene Sätze, in denen diese Erfahrungen festgehalten werden? Welcher epistemische Status kommt diesen Sätzen zu? Können jene Befunde, an Hand derer wissenschaftliche Theorien geprüft werden, durchweg als elementare Erfahrungen angesprochen werden? Ist der Protokollant oder Ort und Zeitpunkt des Protokollierens anzugeben? Sind Protokollsätze, in denen man solche Befunde festhält, gewiß oder fallibel und, falls letzteres, nach welchen Kriterien werden sie akzeptiert oder verworfen? ⫺ Die hier skizzierte Problemlage läßt sich als das Problem der Protokollsätze ansprechen. 2.3.3. Das Aufstellen von Gesetzen gilt gemeinhin als eine zentrale Leistung und Aufgabe der Wissenschaften. Solche Gesetze sind Sätze von sehr großer Allgemeinheit. In welcher Beziehung stehen solche Gesetze zu Protokollsätzen, die sehr elementare, lokale und begrenzte Erfahrungen zum Ausdruck bringen? Oder aber sind Gesetze überhaupt keine Sätze, sondern eher Konventionen bzw. Regeln zur Herleitung von Sätzen? Lassen sich Gesetze durch Einzelerfahrungen induktiv stützen oder widerlegen? Kann es eine induktive Logik geben und wie sähe sie aus? Welcher Wahrscheinlichkeitsbegriff könnte dabei zugrunde gelegt werden? Wie läßt sich gerade im Hinblick auf Naturgesetze die These, daß Erkenntnis nur aus Erfahrung zu gewinnen ist, verstehen und präzisieren? Läßt sich die Sprache, in der die Naturgesetze formuliert sind, als eine Sprache auffassen, in der alle nicht-logischen Ausdrücke auf ein elementares Beobachtungsvokabular zurückführbar sind? Man könnte dies als Problem des empirischen Status von Gesetzen zusammenfassen. 2.3.4. Wenn es neben ‘wirklichen’ Problemen auch Scheinprobleme gibt, wenn es ne-
2149
106. Der Logische Empirismus
ben den sinnvollen Sätzen sinnlose Scheinsätze gibt, wie läßt sich dann genauer präzisieren, was sinnvolle von sinnlosen Sätzen unterscheidet? Was ist der spezifische Defekt sinnloser Sätze? Was drückt sich in ihnen aus und was lösen sie aus? Durch welches Kriterium könnten die hier erforderlichen Unterscheidungsleistungen erbracht werden? Wie trennscharf ist dieses Kriterium? Könnten Sätze, die dem Kriterium nicht genügen, gleichwohl einen heuristischen Wert haben? Das damit angesprochene Problem ist das Problem des Ausschlusses sinnloser Sätze. 2.3.5. Konsequenz des sinn- und geltungskritischen Grundimpulses wie auch der diesen Impuls bereits präzisierenden Grundannahmen ist eine Frontstellung gegenüber der traditionellen Philosophie. Die Analyse philosophischer Sätze ⫺ so die im Kreis verbreitete Meinung ⫺ zeigt, daß zahlreiche philosophische Sätze nur Scheinsätze, zahlreiche Probleme nur Scheinprobleme sind. Aus dieser Überzeugung heraus überschreibt Carnap eine seiner Arbeiten „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (1931: 219). Und in der von Carnap, Hahn und Neurath gemeinschaftlich verfaßten Programmschrift „Wissenschaftliche Weltauffassung ⫺ Der Wiener Kreis“ heißt es über die Kreismitglieder: „Sie machen sich mit Vertrauen an die Arbeit, den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Wege zu räumen“ (Carnap, Hahn und Neurath 1929 ⫽ 1981: 100). Bezeichnenderweise nennt Feigl diese Schrift „our declaration of independence from traditional school philosophy“ (Feigl 1969 a ⫽ 1981: 20). ⫺ Als Nachfolgeproblem stellt sich nun allerdings die Frage, ob es überhaupt noch einen Raum für ein sinnvolles Philosophieren gibt, wenn die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ausgeschlossen werden kann, Erkenntnis a posteriori in den Zuständigkeitsbereich der Einzelwissenschaften fällt und für die analytischen Urteile Logik und Mathematik zuständig sind. Kann es in dieser Situation überhaupt noch genuin philosophische Fragen geben, die nicht Scheinfragen sind? Kann es Sätze geben, die Antworten auf solche Fragen wären? Oder was wäre jedenfalls ein sinnvolles Nachfolgeprojekt, das nach dem absehbaren, erklärbaren und definitiven Scheitern der philosophischen Tradition in Angriff genommen werden könnte oder müßte? Damit ist das Problem sinnvollen Philosophierens angesprochen.
2.3.6. Eine ganze Reihe von Nachfolgeproblemen ergeben sich schließlich im Zusammenhang des für den Logischen Empirismus so wichtigen Analyseinstruments, eben der formalen Logik im weitesten Sinne. Zu fragen ist etwa nach dem Status und der Deutung der logischen Wahrheit, oder der Abgrenzung und Abgrenzbarkeit von logischer und empirischer Wahrheit (bzw. Falschheit). Es ist zu klären, welche Wahlgesichtspunkte angesichts der Existenz alternativer Logiken herangezogen werden können. Entscheidbarkeitsprobleme sind zu klären. Fragen stellen sich hinsichtlich des Verhältnisses von Logik und Mathematik. So ist zu klären, inwieweit ⫺ dem Programm Freges und Russells folgend ⫺ eine Reduzierung der Mathematik auf die Logik möglich ist (Logizismus; vgl. Art. 78 § 5.1. und Art. 107 § 2.). Angesichts einer ganzen Reihe von Antinomien, die die Mengenlehre, aber auch die Logik im engeren Sinne betreffen, gilt es, die Grundzüge widerspruchsfreier Sprachen zu klären. Es stellen sich also zahlreiche Probleme im Zusammenhang der Grundlagen von Logik und Mathematik. Was die hier aufgeführten (nicht disjunkten) Klärungsaufgaben und Nachfolgeprobleme betrifft, so haben sie in der Bewegung des Logischen Empirismus zu teilweise heftigen Diskussionen geführt. So ergibt sich einerseits ein sehr charakteristisches theoretisches Profil des Logischen Empirismus über das sprach- und geltungskritische Grundinteresse, seine drei zentralen Thesen und den beträchtlichen Bestand an gemeinschaftlich als dringend lösungsbedürftig empfundenen Nachfolgeproblemen. Andererseits wäre es verfehlt, die Bewegung des Logischen Empirismus als einen kontroversenfreien, monolithischen Block aufzufassen. Ganz in diesem Sinne schreibt Gustav Bergmann (1906⫺ 1987): „Logical positivism is a movement rather than a school, in the sense that those to whom the label is currently applied represent a broad range of interests and, on questions of common interest, often disagree with respect to what constitutes the right answer or about the proper method to arrive at it“ (Bergmann 1954 ⫽ 1967: 1 und 30).
3.
Einzelne Lehrstücke des Logischen Empirismus
Im Rahmen der Ausarbeitung und Klärung seiner Grundannahmen und der naheliegenden Nachfolgefragen wurden innerhalb der
2150 logisch-empiristischen Bewegung Diskussionen und Detailanalysen durchgeführt, die nicht nur unter Präzisionsgesichtspunkten Vorbildcharakter haben, sondern darüber hinaus zu Resultaten geführt haben, die sich jedenfalls in dem Sinne als richtungweisend erwiesen, daß selbst alternative Konzeptionen erst in expliziter Auseinandersetzung mit dem bzw. in Absetzung vom Logischen Empirismus theoretische Kontur und Identität gewonnen haben. Von der Disziplin „Wissenschaftstheorie“ darf man sogar sagen, daß sie sich überhaupt erst aus dem Logischen Empirismus heraus entwickelt hat (vgl. Art. 124). Im folgenden sollen einige Lehrstücke des Logischen Empirismus dargestellt werden, die unter einem semiotischen Gesichtspunkt von besonderem Interesse sind. (Im engeren Sinne wissenschaftstheoretische „Lehrstücke“ wie zum Beispiel die wichtigen Diskussionen über induktive Logik, Wahrscheinlichkeit, Struktur wissenschaftlicher Erklärungen, Theorienholismus und Protokollsätze werden also nicht berücksichtigt; vgl. dazu Art. 29 und Art. 30). 3.1. Phänomenalismus, Physikalismus, Einheitswissenschaft und Enzyklopädie Auf Basis der gleichermaßen sprachkritischen wie erfahrungsorientierten Grundeinstellung des Logischen Empirismus liegt es nahe, Ausgangspunkte und Anfänge zu identifizieren, die als Erfahrungsgrundlage fungieren und auf die sich erste empirische Begriffe beziehen können, um dann von diesen ausgehend explizit und systematisch eine Sprache aufzubauen, die insgesamt hinreichend ausdrucksstark ist, um als Sprache aller empirischen Wissenschaften dienen zu können (vgl. die Versuche zum Aufbau einer Characteristica universalis in der Aufklärungszeit; siehe Art. 62 § 7.2. und Art. 65 § 5.4.). In seiner Schrift Der logische Aufbau der Welt (1928) hat Carnap den Versuch unternommen, über ein Konstitutionssystem der Begriffe eine solche empirische Sprache zu schaffen. Einen empiristischen Charakter erhält das Konstitutionssystem dadurch, daß von Elementarerlebnissen als Momentaufnahmen des jeweils eigenen subjektiven Erlebnisstroms ausgegangen wird. Das ganze Konstitutionssystem der Begriffe soll dann über eine einzige Grundrelation zwischen diesen Elementarerlebnissen, nämlich die Ähnlichkeitserinnerung, konstituiert werden. Carnap spricht in diesem Zusammenhang von einer eigenpsychischen und solipsistischen Basis bzw. ei-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
nem phänomenalistischen Sprachaufbau, dessen zentrales Ziel darin besteht, alle Begriffe auf Begriffe zurückzuführen, die sich auf unmittelbar Gegebenes beziehen (Phänomenalismus). Schon im Logischen Aufbau der Welt hat Carnap selbst darauf hingewiesen, daß eine explizit konstituierte empiristische Sprache nicht unbedingt auf einer eigenpsychischen Basis aufgebaut werden müsse, sondern neben anderen Varianten der psychischen Basierung insbesondere auch auf einer physischen Basis aufgebaut werden könne (vgl. Carnap 1928 ⫽ 1961: § 59). Im Rahmen einer solchen Sprachkonstitution kommt es darauf an, eine hinreichend ausdrucksstarke Sprache unter ausschließlichem Rückgriff auf physische Gegenstände und eine Reihe von Begriffen, die sich auf unmittelbar beobachtbare Eigenschaften von oder Beziehungen zwischen Gegenständen beziehen, aufzubauen. Insbesondere Neurath hat eine solche physikalische bzw. physikalistische Sprache vehement eingeklagt. Carnap ist diesem Vorschlag vor allem deshalb gefolgt, weil eine physikalistische Sprache dem faktischen und offenbar auch funktionierenden Sprachgebrauch in den Wissenschaften erheblich näher kommt als die sehr künstliche phänomenalistische Sprache. Die innerhalb und außerhalb des Logischen Empirismus viel diskutierte (allerdings in verschiedenen Varianten vertretene) These des Physikalismus betrifft in ihrem Kern die Möglichkeiten und die Reichweite eines physikalistischen Sprachaufbaus. Die Physikalismus-These besagt: Der gesamte Begriffsapparat der empirischen Wissenschaften ist auf einer Basis zu konstituieren bzw. auf eine Basis zu reduzieren, deren Grundbegriffe durch unmittelbare Beobachtung entscheidbare Eigenschaften von bzw. unmittelbar beobachtbare Beziehungen zwischen physischen Gegenständen betreffen. Carnap nennt diese Konstitutions- bzw. Reduktionsbasis „Dingsprache“, während Neurath im gleichen Zusammenhang von einem „Universalslang“ spricht (vgl. Carnap 1955⫺70: 52 ff; Neurath 1932/33 ⫽ 1981: 578). Die Physikalismus-These hat dabei einen doppelten Sinn: Zum einen ist sie eine Rekonstruierbarkeitsbzw. eine Reduzierbarkeitshypothese; sie hat aber innerhalb des Logischen Empirismus durchaus auch den Status eines epistemologischen Kriteriums, an dem sich bemißt, was überhaupt als empirische Wissenschaft gelten kann. Eine von Carnap favorisierte Strategie
106. Der Logische Empirismus
zur Einlösung der Rekonstruierbarkeitsbehauptung sollte darin bestehen, die Sprache der Physik auf eine einfache Dingsprache zu reduzieren, um im nächsten Schritt auf die so erweiterte Sprache die Sprache der Biologie zu reduzieren. Auf die um eine physikalische und biologische Komponente erweiterte Basis sollte dann die Sprache der Psychologie und auf das damit gegebene Sprachsystem schließlich die sozialwissenschaftliche Sprache reduziert werden können. Die Physikalismus-These im gerade charakterisierten Sinn ist streng zu unterscheiden von einer erheblich weitergehenden, zweiten Physikalismus-These, nach der die Gesetze aller Wissenschaften auf die Gesetze der Physik reduziert werden können (vgl. Carnap 1963 a: 883). Dem Logischen Empirismus kam es im wesentlichen allein auf die erste Physikalismus-These an. So verstanden steht die Physikalismus-These für ein zeichentheoretisches Konstitutions- bzw. Reduktionsprogramm. Erfolgreich durchgeführt würde sich die eine Sprache für alle Wissenschaften ergeben. Diese Konsequenz hat man innerhalb des Logischen Empirismus mit der (ebenfalls programmatischen) These von der Einheitswissenschaft zum Ausdruck gebracht. Die These bestreitet nicht die Zweckmäßigkeit einer disziplinären Arbeitsteilung, betont aber, daß dieser keine sprachlichen Grenzen zugrunde liegen. Die erfolgreiche Durchführung des Programms würde erlauben, kontrolliert und problemlos die Sätze der einen Wissenschaftsdisziplin in einer anderen zu verwenden, wie es im wissenschaftlichen Alltag schon bei einfachen Experimenten, Prognosen und Erklärungen immer wieder erforderlich wird (vgl. Art. 132). Eine besondere Differenz der Methoden zwischen Geistes- und Naturwissenschaft ist vor diesem Hintergrund deshalb nicht mehr einzusehen, weil eben alle Wissenschaften ihre Sätze in einer Sprache formulieren müssen, die letztlich eine Kontrolle durch unmittelbare Erfahrung möglich macht. Im Prinzip kann sich eine sozialwissenschaftliche Disziplin daher von der physikalischen Optik nicht stärker unterscheiden als diese etwa von der anorganischen Chemie (zur Anwendung dieses Ansatzes auf die Semiotik vgl. die Art. 1, 28, 29 und 30). Es geht auf eine Idee Neuraths zurück, ein Enzyklopädie-Projekt zu starten, das auf Basis der einheitswissenschaftlichen These angelegt war (vgl. dazu das Vorwort des vorliegenden Handbuchs, § 2.). Im Rahmen die-
2151 ses Projekts sollte es nicht darum gehen, alle Ergebnisse der Wissenschaften nebeneinanderzustellen, sondern Ansatz, Methoden und Prozeduren in bestimmten Wissenschaftsgebieten exemplarisch zu zeigen und dabei insbesondere immer die sprachlichen, methodischen und sachlichen Verbindungen zu anderen Wissenschaftsgebieten herauszustellen. Sie sollte sich nicht an Spezialisten wenden, sondern allen wissenschaftlich Interessierten eine Orientierung geben. Offene Fragen sollten in ihr ebenso abgehandelt werden wie die unterschiedlichen Positionen bezüglich bestimmter Probleme. Charles W. Morris (1901⫺1979) berichtet (vgl. Morris 1960: 517 ff), daß Neurath schon in den 20er Jahren eine Enzyklopädie projektiert und erste Gespräche darüber mit Hahn, Albert Einstein (1879⫺1955), Philipp Frank (1884⫺1966) und Rudolf Carnap geführt habe. Auf dem Ersten Internationalen Kongreß für Einheit der Wissenschaften ⫺ er fand statt im Jahre 1935 in Paris ⫺ stellte Neurath das Projekt vor. Auf Antrag von Morris sprach sich der Kongreß für das Projekt aus und bildete ein Enzyklopädie-Komitee, das aus Carnap, Frank, Jørgen Jørgensen (1894⫺1969), Morris, Neurath und Louis Rougier (1889⫺1981) bestand. Veröffentlicht werden sollte die Enzyklopädie unter dem Titel „The International Encyclopedia of Unified Science“. Das Enzyklopädie-Projekt war insgesamt von gigantischen Ausmaßen: Nach dem Plane Neuraths, dem entscheidenden Motor hinter dem Enzyklopädie-Projekt, sollte die Enzyklopädie aus 4 Sektionen bestehen. Sektion 1 sollte Grundlagen für die Einheitswissenschaft legen; in Sektion 2 sollten methodologische Probleme behandelt werden; Sektion 3 hatte einen Überblick über den aktuellen Stand der Einzelwissenschaften zu geben; Sektion 4 sollte dann die Anwendung von Resultaten und Methoden der Wissenschaften auf Medizin, Jurisprudenz, Ingenieurwesen usw. darstellen. Jede dieser Sektionen sollte aus mehreren Bänden, jeder Band aus je 10 Monographien bestehen. Insgesamt dachte Neurath an 26 Bände mit 260 Monographien. Ein 10-bändiges Supplement zur Enzyklopädie sollte als ein visueller Thesaurus angelegt werden. Dieser Thesaurus sollte sich nicht einer Schrift-, sondern einer Bildsprache bedienen, die ⫺ so die damit verbundene Hoffnung ⫺ über die Grenzen von Sprache und Bildung hinweg verständlich wäre. Diese Bildersprache hatte Neurath zu-
2152 sammen mit anderen, insbesondere dem Grafiker Gerd Arntz, im Zusammenhang seiner Tätigkeit als Museumsdirektor und insbesondere im Hinblick auf eine eingängige und leicht verständliche Aufbereitung statistischer Daten entwickelt. Die Bildersprache selbst ist unter dem Namen „ISOTYPE“ („International System of Typographic Picture Education“) bekannt (vgl. Bernard und Withalm 1996). Die heute häufig zu Orientierungszwecken benutzten Piktogramme erinnern stark an die Grundelemente von ISOTYPE. Neurath versuchte eine Syntax für diese Sprache zu entwickeln (vgl. Neurath 1936: 27 ff). So kann innerhalb von ISOTYPE etwa aus einem Zeichen, das eine stilisierte Fabrik, und einem anderen, das einen stilisierten Schuh darstellt, ein Zeichen für eine Schuhfabrik zusammengesetzt werden. ⫺ Der 2. Weltkrieg verzögerte und erschwerte die Realisierung des EnzyklopädieProjekts sehr stark; mit dem Tode Neuraths im Dezember 1945 verlor das Projekt seinen entscheidenden Motor. Insgesamt erschienen nur zwei Bände der Enzyklopädie, vgl. Neurath, Carnap und Morris (1955⫺70). 3.2. Die Debatte über Sinnkriterien Im Sinne der zweiten Grundannahme des Logischen Empirismus ist es eines seiner zentralen Anliegen, Scheinsätze als solche zu identifizieren. Diesem Anliegen folgend sind verschiedene Kriterien vorgeschlagen worden, die die Unterscheidung von sinnvollen und sinnlosen Sätzen liefern sollen. Die Debatte um ein brauchbares Kriterium kognitiver Signifikanz ⫺ so wurde das gesuchte Sinnkriterium häufig genannt ⫺ ist als eine der zentralen und für die Beurteilung des Gesamtprogramms wohl auch aufschlußreichsten Debatten des Logischen Empirismus anzusehen. Detaillierte Darstellungen dieser Debatten geben Carl Gustav Hempel (1905⫺ 1995; siehe Hempel 1965: 101 ff) und Stegmüller (1970: 181 ff). Im Rahmen dieser Debatten sind eine ganze Reihe von Adäquatheitsbedingungen herangezogen worden, denen ein brauchbares Kriterium zu genügen hätte. So wird man in formeller Hinsicht verlangen, daß für den Fall, daß ein Satz S sinnlos ist, auch alle molekularen Sätze, in denen S vorkommt, sinnlos sind. Die Negationen sinnloser bzw. sinnvoller Sätze werden ihrerseits sinnlos bzw. sinnvoll sein müssen. Schließlich wird man verlangen, daß jede logische Äquivalenz eines sinnvollen Satzes ihrerseits sinnvoll ist. Dar-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
über hinaus ist zu verlangen, daß das Kriterium inhaltlich adäquat ist. De facto hieß dies in den logisch-empiristischen Diskussionen, daß das gesuchte Kriterium die Sätze der Naturwissenschaften, insbesondere die der Physik, als sinnvoll einzuschließen, bestimmte paradigmatische Beispiele metaphysischer Sätze von der Art „Das Nichts nichtet“ hingegen auszuschließen hätte. Es lassen sich zwei Phasen der empiristischen Diskussion über Kriterien der kognitiven Signifikanz unterscheiden: eine erste, in der Signifikanz von Sätzen am Bestehen bestimmter deduktiver Relationen zu Beobachtungssätzen bemessen wird; eine zweite Phase, in der man versucht, die Signifikanz eines Satzes dadurch zu bestimmen, daß darüber entschieden wird, ob der fragliche Satz zu einer empiristischen Sprache gehört oder aber in sie übersetzt werden kann. Von besonderer Bedeutung sind dabei solche Kriterien, die für die empiristische Sprache eine bestimmte Struktur unterstellen, gemäß der sie aus einer beobachtungssprachlichen Komponente, einem theoretischen Teil und bestimmten Zuordnungsregeln zwischen beiden Bereichen besteht (vgl. Art. 84 § 4.). Das bekannteste Sinnkriterium der ersten Diskussionsphase ist das Kriterium der Verifizierbarkeit. Für dieses Kriterium gibt es Anknüpfungspunkte schon bei Wittgenstein (vgl. Art. 109). Es wäre etwa folgendermaßen zu formulieren: Ein Satz ist genau dann sinnvoll, wenn er aus einer endlichen Klasse von Beobachtungssätzen logisch folgt. ⫺ Dieses Kriterium hat bereits deshalb einen sehr schweren Defekt, weil der logische Gehalt von Naturgesetzen weit über den einer endlichen Klasse von Beobachtungssätzen hinausgeht. Darüber hinaus läßt sich aus einem Beobachtungssatz durch adjunktive Abschwächung ein molekularer Satz logisch erschließen, der einen metaphysischen Scheinsatz als Teilsatz enthält. Ferner ergibt sich der Effekt, daß im Sinne dieses Kriteriums ein Satz der Art x (Fx → Gx) sinnvoll ist, daher auch seine Negation sinnvoll sein sollte, die jedoch wiederum einem allquantifizierten Satz logisch äquivalent ist, der im Sinne des Verifizierbarkeitskriteriums jedoch sinnlos ist. In welchen logischen Fallstricken man sich verfangen kann, zeigt die Analyse eines von Alfred J. Ayer (1910⫺1989) in die Diskussion gebrachten Kriteriums, das ebenfalls der ersten Diskussionsphase angehört. Von Ayer war in seiner 1936 erschienenen Schrift Lan-
106. Der Logische Empirismus
guage, Truth, and Logic ein Sinnkriterium vorgeschlagen worden, das er im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Schrift im Jahre 1946 wegen dessen offenkundiger Mängel modifizierte. Gemäß dem modifizierten Kriterium sind sinnvoll genau diejenigen Sätze, die entweder direkt oder indirekt verifizierbar sind. Im einzelnen definiert Ayer wie folgt: „I propose to say that a statement is directly verifiable if it is either itself an observation-statement, or is such that in conjunction with one or more observation-statements it entails at least one observation-statement which is not deducible from these other premises alone; and I propose to say that a statement is indirectly verifiable if it satiesfies the following conditions: first, that in conjunction with certain other premises it entails one or more directly verifiable statements which are not deducible from these other premises alone; and secondly, that these other premises do not include any statement that is not either analytic, or directly verifiable, or capable of being independently established as indirectly verifiable. And I can now reformulate the principle of verification as requiring of a literally meaningful statement which is not analytic that it should be either directly or indirectly verifiable, in the foregoing sense“ (Ayer 1946 ⫽ 1971: 17). Unter bloßer Verwendung einer logischen Stenographie läßt sich aus diesem Text zunächst eine besser überschaubare Definition gewinnen: Ein Satz S ist sinnvoll genau dann, wenn gilt: (a) S ist direkt verifizierbar, d. h.: S 苸 E, wobei E die Menge der Beobachtungssätze ist. Oder: Es gibt einen Beobachtungssatz B 苸 E, so daß es eine Klasse E* 傺 E gibt mit {S} E* B und E* ∑ B. (b) S ist indirekt verifizierbar, d. h.: Es gibt eineSatzmenge P und ein B 苸 E, so daß {S} P B und P ∑ B. Alle Sätze aus P müssen dabei analytisch, direkt verifizierbar oder unabhängig als indirekt verifizierbar nachweisbar sein. Man kann nun zeigen, daß gemäß Ayers Kriterium jeder beliebige Satz M oder seine Negation sinnvoll ist, sofern drei Beobachtungssätze (B1, B2, B3 苸 E) gegeben sind, die logisch unabhängig voneinander sind. M kann zum Beispiel der Satz sein: „Das Absolute ist vollkommen.“ Der Beweis ergibt sich wie
2153 folgt: In einem ersten, vorbereitenden Schritt wird gezeigt, daß der Satz (ÿB1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿM) im Sinne der Definition ein direkt verifizierbarer Satz ist. Man geht aus von der Menge {B1} 傺 E. Es gilt nun, daß aus {(ÿB1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} {B1} der Satz B3 herleitbar ist. Wegen der vorausgesetzten logischen Unabhängigkeit der drei Beobachtungssätze gilt weiterhin {B1} ∑ B3. Also ist der Satz (ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M) direkt verifizierbar. In einem zweiten Schritt wird gezeigt, daß der Satz M oder der Satz ÿ M sinnvoll ist: Es gilt zunächst, daß aus der Prämissenmenge {M, (ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} der Satz B2 herleitbar ist. Es kann nun sein, daß gilt {(ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} ∑ B2 oder {(ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} B2. Da im ersten Fall eine Menge direkt verifizierbarer Sätze existiert, eben die Menge {(ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)}, aus der der Beobachtungssatz B2 allein nicht herleitbar ist, während er zugleich aus der Menge {M, (ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} hergeleitet werden kann, ist M in diesem Fall indirekt verifizierbar. Da im zweiten Fall aus {(ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M)} der Satz B2 herleitbar ist, ist B2 a fortiori aus {ÿ M, B3} herleitbar, denn der Satz (ÿ B1 ∧ B2) ∨ (B3 ∧ ÿ M) ist aus {ÿ M, B3} herleitbar. Weil zufolge der vorausgesetzten logischen Unabhängigkeit der drei Beobachtungssätze B2 nicht aus {B3} herleitbar sein kann, wäre dann ÿ M direkt verifizierbar. ⫺ Im Sinne dieses Sinnkriteriums ist also unter leicht erfüllbaren Bedingungen jeder Satz oder seine Negation sinnvoll. A fortiori ist jeder metaphysische Satz bzw. seine Negation sinnvoll (vgl. Church 1949: 52 f). Die in die Diskussion gebrachten relationalen Kriterien führten zu einer immer wiederkehrenden Konstellation von Schwierigkeiten, indem sie elementaren Adäquatheitsbedingungen nicht genügten und sich insbesondere immer als zugleich zu eng und zu weit erwiesen. Eine ganze Reihe von Logischen Empiristen haben daraus in einer zweiten Phase der Diskussion die Konsequenz gezogen, das Problem kognitiver Signifikanz direkt im Rückgriff auf eine empiristische Sprache zu behandeln. Gemäß einem Vorschlag Carnaps (vgl. 1960: 209 ff) sollte diese Sprache aus drei Teilen bestehen: einer theoretischen Sprache, einer Beobachtungssprache und einer Menge von Zuordnungsregeln, die die Sätze der theoretischen Sprache mit den Sätzen der Beobachtungssprache verbinden. Die Beobachtungssprache kann man sich dabei als empiristisch
2154 „wasserdicht“ vorstellen. Alle ihre Begriffe beziehen sich auf unmittelbar Beobachtbares oder aber sind unter bloßem Rückgriff auf solche einfachen Begriffe definierbar. Die theoretische Sprache für sich allein wäre dabei ein uninterpretierbares Zeichensystem; einen empirischen Gehalt bzw. eine partielle empirische Interpretation erhält sie erst über die Zuordnungs- oder Korrespondenzregeln (vgl. Art. 30 § 1.6.). Mit diesem Zwei-StufenKonzept ließ sich darüber hinaus die Hoffnung verbinden, mit einer anderen Schwierigkeit fertig zu werden, die im Rahmen des Versuchs aufgetreten war: der Aufgabe, die Begriffe der empirischen Wissenschaften unter Rückgriff auf Begriffe, die sich auf unmittelbar Beobachtbares beziehen, in adäquater Weise zu definieren. Die sogenannten Dispositionsprädikate, also Prädikate, die sich auf nicht-manifeste Eigenschaften beziehen, die sich nur unter bestimmten Randoder Testbedingungen zeigen („wasserlöslich“, „magnetisch“), lassen sich nicht adäquat über explizite Definitionen einführen. Die Definitionsversuche führen nämlich in das Dilemma, daß ⫺ am Beispiel formuliert ⫺ entweder nur solche Zuckerstücke als wasserlöslich gelten, die de facto in Wasser gelöst werden (Definition unter Rückgriff auf eine Konjunktion), oder aber alle Gegenstände, die nie in Wasser gegeben wurden, als wasserlöslich gelten müssen (Definition unter Rückgriff auf die materiale Implikation). Im Rahmen einer Zwei-Stufen-Sprache würde man daher die Dispositionsprädikate als theoretische Begriffe der theoretischen Sprache zuschlagen können. Als solche würden sie nicht mehr definiert werden müssen, sondern könnten durch Zuordnungsregeln partiell interpretiert werden. ⫺ Carnap hat auf Basis einer solchen Zwei-Stufen-Sprache ein kompliziertes Signifikanzkriterium aufgestellt, das die Signifikanz relativ auf die beiden Teilsprachen, eine Theorie und die Zuordnungsregeln beurteilt. Das Kriterium beurteilt zunächst die Signifikanz von theoretischen Begriffen und dann in einem zweiten Schritt die Signifikanz von Sätzen der theoretischen Sprache, während die Sätze der Beobachtungssprache unmittelbar als signifikant gelten. Auch dieses Kriterium hat jedoch schwerwiegende Mängel. Insbesondere kann es bei bloßen definitorischen Erweiterungen einer Theorie zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der Signifikanz ihrer Begriffe kommen. Auch andere unter Rückgriff auf
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
eine empiristische Sprache formulierte Kriterien konnten nicht befriedigen. Insgesamt hat die logisch-empiristische Diskussion über Kriterien kognitiver Signifikanz zu vielen Detail-Einsichten in den Aufbau und die Funktionsweise wissenschaftlicher Sprachen, jedoch zu keinem haltbaren Kriterium geführt. Angesichts dieses Resultats, das im übrigen eine Neurathsche Vermutung bestätigt, hat Stegmüller dazu aufgefordert, das Ziel einer scharfen Sinnvoll/sinnlosUnterscheidung aufzugeben, und zwar zugunsten eines mehrdimensionalen Leistungsvergleichs, dessen Beurteilungsmaßstäbe zum Beispiel Klarheit und Präzision, Nachprüfbarkeit, Einfachheit, systematisierende Kraft, aber auch Kühnheit, Schönheit und Eleganz sind (Stegmüller 1970: 373). 3.3. Einzelne logische, metalogische und methodologische Beiträge In den folgenden Abschnitten werden einige Einzelbeiträge zu logischen, metalogischen und methodologischen Fragen skizziert. Die Einzelbeiträge sind von unterschiedlichem Gewicht, geben aber alle einen Eindruck von der Vielfalt der in Angriff genommenen Probleme, der Sorgfalt bei ihrer Bearbeitung und der Präzision der unterbreiteten Lösungsvorschläge. 3.3.1. In den 30er Jahren hat Alfred Tarski (1902⫺1983) einige Arbeiten zur Semantik vorgelegt, die zu bis heute nicht beendeten Kontroversen geführt haben und für die Entwicklung der modelltheoretischen Semantik als bahnbrechend anzusehen sind. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Tarskis Arbeit „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“ (Tarski 1933), in der es ihm darum geht, einige semantische Begriffe, und zwar insbesondere den Wahrheitsbegriff, in einer Weise einzuführen, die den Rahmen des Logischen Empirismus nicht sprengt, also frei von suspekten metaphysischen Annahmen ist, sich mit dem physikalistischen Programm vereinbaren läßt, inhaltlich den alltäglichen korrespondenztheoretischen Intuitionen hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs nahekommt, und darüber hinaus formal korrekt ist (vgl. Art. 76 § 4.1.2.). Üblicherweise wird das Wahrheitsprädikat auf Sätze angewandt; es ist also als sprachrelatives Prädikat anzusehen. Was den Sinn des Prädikats betrifft, so geht Tarski davon aus, daß eine intuitiv befriedigende Definition jedenfalls dazu führen muß, daß alle Äquivalenzen der Form „X ist wahr genau dann,
106. Der Logische Empirismus
wenn p“, wo „X“ ein Name des Satzes „p“ ist, beweisbar sind. Im Beispiel: „Schnee ist weiß“ ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist (vgl. Art. 3 § 2.). Tarski zeigt in einem ersten Schritt, daß es zu Antinomien, also zu beweisbaren Widersprüchen führt, den Wahrheitsbegriff in Sprachen mit einer bestimmten Struktur zu verwenden, die allerdings gerade für die Umgangssprache charakteristisch ist. Die Antinomien ergeben sich nämlich unter Anwendung elementarer logischer Prinzipien aus Sätzen, die ihre eigene Falschheit behaupten und insofern als Nachfahren der schon in der Antike bekannten Lügner-Antinomie (Ein Kreter sagt: „Alle Kreter lügen.“) betrachtet werden können. Insgesamt ergibt sich dann, daß die jeweiligen Sätze genau dann wahr sind, wenn sie falsch sind (vgl. Art. 78 § 5.). Tarski hat diesen Effekt darauf zurückgeführt, daß die Umgangssprache semantisch geschlossen ist, d. h. über ein sprachliches Inventar verfügt, zu dem Namen für die Ausdrücke dieser Sprache und semantische Prädikate zur Charakterisierung ihrer eigenen semantischen Merkmale gehören, die dann im Anschluß ohne Einschränkung erlauben, in der Sprache über eben diese Sprache zu sprechen und daher auch Sätze zu bilden, die ihre eigene Falschheit behaupten. Zur Vermeidung solcher Antinomien hat Tarski eine strikte Trennung von Objekt- und Metasprache eingeführt, die dann die Festlegung ermöglicht, daß das Wahrheitsprädikat nur auf objektsprachliche Sätze angewandt werden darf, selber aber ein metasprachliches Prädikat ist. Für die präzise Definition des Wahrheitsprädikats ist es dabei erforderlich, daß die Metasprache über einen hinreichend starken logisch-mathematischen Apparat, alle deskriptiven Konstanten der Objektsprache und Namen für diese Ausdrücke verfügt. Unter Rückgriff auf den Begriff der Erfüllung einer elementaren Aussagenfunktion und rekursiver Definition der Erfüllung zusammengesetzter Aussagenfunktionen gibt Tarski dann eine Wahrheitsdefinition, die die unter Adäquatheitsgesichtspunkten gewünschten Äquivalenzen der Form „Schnee ist weiß genau dann, wenn Schnee weiß ist“ liefert. Innerhalb des Logischen Empirismus hat sich vor allem Carnap den Ansatz Tarskis zu eigen gemacht und weiterverfolgt, während insbesondere Neurath gegen diesen Ansatz opponierte (vgl. Hegselmann 1985: 282 ff). Neuraths Opposition resultiert dabei aus dem Umstand, daß er eine Wahrheitskonzeption
2155 favorisierte, die als kohärenztheoretisch angesprochen werden kann und insgesamt das Problem der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke eher behavioristisch lösen bzw. auflösen wollte (vgl. Hofmann-Grüneberg 1988: Kap. 7; Koppelberg 1987: Kap. 1). 3.3.2. Neben Tarski haben auch eine ganze Reihe weiterer polnischer Logiker und Philosophen bedeutende logische, metalogische und methodologische Beiträge geleistet (vgl. Jordan 1967: 351 ff; Kotarbin´ski 1967: 1 ff). Łukasiewicz schuf ein vereinfachtes aussagenlogisches Axiomensystem, das nur Negation und Implikation als Operatoren enthält. Auf ihn geht eine klammer- und punktfreie Notationstechnik zurück (vgl. Art. 76 § 4.2.2.). Zusammen mit Mordechaj Wajsberg (1902, seit 1939 vermißt), BolesLaw Sobocinski und anderen schuf er mehrwertige Logikkalküle. StanisLaw Lesniewski (1866⫺1939) arbeitete u. a. an speziellen Kalkülen, die die Russellsche Antinomie vermeiden sollen. Leon Chwistek (1884⫺1944) entwickelte eine eigenständige Klassentheorie, die auf das Reduzibilitätsaxiom der Principia Mathematica verzichtet und als konstruktive Typentheorie bekannt ist. Mit dem Namen Tadeusz Kotarbin´ski (1886⫺1981) ist insbesondere der sog. Reismus verbunden. Dieser Reismus ⫺ Kotarbin´ski spricht auch von Somatismus oder Konkretismus ⫺ verlangt, daß sich Eigennamen und Prädikate nur auf konkrete, in Raum und Zeit existierende, also physische Dinge beziehen (vgl. Art. 108 § 2.). Der Reismus ist bei Kotarbin´ski aber mehr als nur ein Vorschlag, eine bestimmte, nämlich physikalistische bzw. reistische Sprachform zu wählen, sondern beruht seinerseits auf einer monistischen, und zwar genauer nominalistischen bzw. materialistischen Ontologie (vgl. Kotarbin´ski 1979: 46). Zahlreiche logische und wissenschaftstheoretische Beiträge gehen auf Kazimierz Ajdukiewicz (1890⫺1963) zurück (vgl. Art. 3 §§ 2.5., 3.2., 3.5., Art. 30 §§ 1.6., 1.7., 1.10., 3.1.2. und Art. 79 § 2.4.2.). 3.3.3. Im Jahre 1931 erschien Kurt Gödels Arbeit „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme“. Die darin erzielten Resultate betreffen prinzipielle Grenzen der axiomatischen Methode (vgl. Art. 30 § 1.7., Art. 41 § 4.4. und Art. 78 § 5.2.). Die Arbeit zeigt, daß jedes hinreichend starke widerspruchsfreie axiomatische System in dem Sinne unvollständig sein muß, daß in ihm nicht alle wahren Sätze mit den Mitteln des Systems bewiesen werden können, und zwar am Bei-
2156 spiel der von Russell und Whitehead verfaßten Principia Mathematica: Es gibt in der dort vorgelegten Arithmetik Sätze, die nachweisbar wahr sind, mit dem dort vorgelegten logisch-mathematischen Apparat aber nicht bewiesen werden können. Auch eine Erweiterung des Axiomensystems würde dabei das Unvollständigkeitsproblem nicht lösen, sondern nur verschieben, denn auch in der erweiterten Theorie muß es unentscheidbare Sätze geben, sofern die Erweiterung konsistent sein soll. Aus der äußerst komplizierten Arbeit Gödels geht weiterhin hervor, daß es unmöglich ist, für ein die Arithmetik einschließendes Axiomensystem die Widerspruchsfreiheit mit Mitteln zu zeigen, die nicht stärker sind, als die in dem Kalkül zugelassenen (vgl. für eine Darstellung des Beweises Stegmüller 1973: 3⫺43). ⫺ Die Konsequenzen der Resultate Gödels sind weitreichend; ihre Abschätzung und Interpretation ist bis heute nicht abgeschlossen. In Schwierigkeiten geriet durch diese Resultate insbesondere das Programm des Formalismus (vgl. Art. 84 § 4.3.) von David Hilbert (1862⫺1943). Ziel dieses Programmes ist die vollständige axiomatische Systematisierung aller Bereiche der Mathematik, um im Anschluß über metamathematische Widerspruchsfreiheitsbeweise, die nur unbedenkliche Schlußweisen und Begriffsbildungen verwenden, eine indirekte Rechtfertigung auch gewisser problematischer Schlußweisen (z. B. des indirekten Beweises) und Begriffsbildungen zu erhalten, die darüber hinaus in einer axiomatischen Theorie zulässig sind, von manchen aber deshalb für bedenklich gehalten werden, weil sie möglicherweise antinomienerzeugend sind. 3.3.4. Hempel hat neben wissenschaftstheoretischen Arbeiten zu Problemen der wissenschaftlichen Erklärung und der Struktur wissenschaftlicher Theorien insbesondere auch Analysen zum korrekten Aufbau von Terminologien durchgeführt (vgl. Hempel 1955⫺70). Hempel unterscheidet zwischen klassifikatorischen, komparativen und metrischen Begriffen (vgl. Art. 29 §§ 3. und 4. und Art. 31 §§ 2.6.⫺2.9.). Klassifikatorische Begriffe schreiben den Gegenständen eines bestimmten Bereichs bestimmte Merkmale zu, die diese Gegenstände dann haben oder nicht haben. Klassifikatorische Begriffssysteme können dabei die Gestalt großangelegter Taxonomien annehmen, wie man sie zum Beispiel aus der Biologie kennt. Solche Klassifikationen sollen den jeweiligen Bereich dabei zum einen erschöpfen, zum anderen
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
sollen die jeweiligen Begriffe auf der jeweils gleichen Klassifikationsebene disjunkt sein. Manche Klassifikationen erfüllen diese Forderungen bereits aus logischen Gründen. Dies muß aber nicht der Fall sein. In solchen Fällen folgen aus der Annahme, eine Klassifikation sei erschöpfend und disjunkt, empirische Hypothesen. ⫺ Komparative Begriffe wie zum Beispiel „… größer als …“, „… mindestens so groß wie …“, „… schwerer als …“ usw. ordnen die Gegenstände eines gegebenen Bereichs in bestimmter Weise. Solche Begriffe setzen voraus, daß ein Vorgänger- bzw. Koinzidenzkriterium angegeben werden kann, das ermöglicht, die Gegenstände in eine sogenannte Quasiordnung zu bringen, d. h. eine Reihe, in der mehrere Gegenstände an der gleichen Stelle der Reihe stehen können (Transitivität und Konnexität). Quasiordnungen lassen sich dann ihrerseits wiederum für die Einführung metrischer Begriffe heranziehen. Zu diesem Zweck ist ein Verfahren anzugeben, das den Gegenständen des Bereichs reelle Zahlen so zuordnet, daß erstens an der gleichen Stelle der Quasiordnung stehenden Gegenständen gleiche Werte zugeordnet werden; zweitens muß das Verfahren den in der Ordnung jeweils vorangehenden Gegenständen auch jeweils kleinere Zahlen zuordnen. Im Hinblick auf einen metrischen Massenbegriff könnte das geforderte Verfahren zum Beispiel darin bestehen, die fraglichen Gegenstände auf einer Waage mit einem Ur-Kilogramm, das als Einheit fungiert, aufzuwiegen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß metrische Begriffe Funktionen sind, die die Gegenstände einer Quasiordnung in die Menge der reellen Zahlen abbilden. Die korrekte Detaileinführung solcher metrischen Begriffe ist dabei eine nichttriviale Aufgabe (vgl. Krantz, Luce, Suppes und Tversky 1971⫺90).
4.
Die Stellung der Philosophie
Das programmatische Manifest „Wissenschaftliche Weltauffassung ⫺ Der Wiener Kreis“ fällt ein verheerendes Urteil über den Stand der philosophischen Forschung und die Geschichte der Philosophie. Im strikten Sinne philosophische Probleme gebe es überhaupt nicht. „Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft un-
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106. Der Logische Empirismus
terstellt werden“ (Carnap, Hahn und Neurath 1928 ⫽ 1981: 87). Über dieses Manifest, das aus Dankbarkeit dafür, einen Ruf nach Bonn abgelehnt zu haben, Schlick gewidmet wurde, war der so Geehrte nicht sehr glücklich. Grund dafür waren allerdings im wesentlichen politische Stellungnahmen, die das Manifest teils auf, teils zwischen den Zeilen enthält; ein der Sache nach besseres Verhältnis zur traditionellen Philosophie und deren Problembestand hatte Schlick hingegen nicht. So vertritt Schlick in seiner Arbeit mit dem programmatischen Titel „Die Wende der Philosophie“ (1930/31) explizit die These, daß die Philosophie es schon deshalb nicht zu philosophischen Sätzen bringen könne, weil es keine philosophischen Fragen gebe, deren Beantwortung diese sein könnten. Was die Beurteilung traditioneller philosophischer Fragestellungen betrifft, so schreibt er: „Die Philosophie hat immer zu suchen versucht, wo es kein Suchen gab. Und wie soll man finden, wo man nicht einmal suchen kann?“ (1933/34: 68) Ein vernichtendes Urteil über die philosophische Tradition fällt auch Friedrich Waismann (1896⫺1959): „Wer die Geschichte der Philosophie betrachtet, der sieht eine lange Reihe geistig gestorbener Systeme vor sich, die toten Gehäuse, die das lebendige Denken auf seinem Weg zurückgelassen hat“ (Waismann 1939 ⫽ 1976: 27). Was die Frage „Und wie nun weiter?“ betrifft, so besteht der Kern der beabsichtigten philosophischen Wende in einer Identifikation von Philosophie und logischer Analyse ⫺ daher auch die Rede von einem „linguistic turn“. Der Standort des Philosophen ist im Rücken des sprachlichen Alltags, auch dem der Wissenschaften. Es geht in der Philosophie nicht um Fragen, die die Welt betreffen (dafür sind die Wissenschaften zuständig), sondern darum, wie wir über die Welt reden. Philosophieren wird daher zu einem logischen Klärungsunternehmen 2. Stufe, dessen Objekte sprachliche Gebilde 1. Stufe sind, und zwar insbesondere die Aussagensysteme der Wissenschaften. In seiner Arbeit Logische Syntax der Sprache spricht Carnap die logische Analyse speziell der wissenschaftlichen Sprachen und Theorien als Wissenschaftslogik an (vgl. Carnap 1934 ⫽ 1968: 206). Insbesondere Carnap und Schlick waren davon überzeugt, mit der logischen Analyse über ein Instrument zu verfügen, mittels dessen man erfolgreich zeigen könne, daß ein großer Teil der traditionellen philosophischen
Probleme bloße Scheinprobleme seien, die letztlich auf sprachlichen Konfusionen beruhen. Neurath betonte zwar die Wichtigkeit der logischen Analyse, war hinsichtlich der Möglichkeiten, mittels logischer Analyse eine scharfe Trennungslinie zur Metaphysik zu ziehen, hingegen eher skeptisch. Auch der Status der logischen Analyse war kontrovers. Wittgenstein folgend meinte Schlick, daß die logische Analyse selber keine Sätze aufstelle, sondern lediglich gegebene Sätze analysiere und kläre (vgl. Art. 109). Eine so verstandene logische Analyse ist also bloße Tätigkeit. Insbesondere Carnap und Neurath haben gegen diese Deutung der logischen Analyse opponiert und darauf insistiert, daß Sätze über Sätze ihrerseits sinnvolle Sätze sein können. Da es ⫺ so jedenfalls der Carnap des Jahres 1934 ⫺ bei der logischen Analyse (bzw. Wissenschaftslogik) um syntaktische Klärungen gehe, die Syntax einer Sprache aber unter bestimmten Bedingungen in ihr selbst ausdrückbar ist (vgl. Carnap 1934 ⫽ 1968: 208 ff), gibt es neben den wissenschaftlichen Fragen noch die syntaktischen Fragen, die sich durch syntaktische Sätze beantworten lassen. Später hat Carnap die Untersuchung semantischer und pragmatischer Aspekte ebenfalls in die Aufgabenstellung der Wissenschaftslogik eingeschlossen (für eine Anwendung dieser Position auf die Semiotik vgl. Art. 30 § 2.).
5.
Zur Geschichte des Logischen Empirismus
Der Logische Empirismus hat an verschiedene philosophisch-wissenschaftliche Strömungen und Arbeiten angeknüpft (vgl. Haller 1993 und Stadler 1997; siehe auch Art. 103 § 4.). Im Hinblick auf die analytischsprachkritische Orientierung steht der Logische Empirismus in der Tradition von Frege, Russell und Wittgenstein. Der erkenntnisund methodenkritische Impuls führt Anliegen fort, die sich bereits bei Ernst Mach (1839⫺1916), Henri Poincare´ (1854⫺1912), Pierre Duhem (1861⫺1916) und Abel Rey (1873⫺1940) finden (vgl. Art. 84). Für viele aus der Gründergeneration der logisch-empiristischen Bewegung ist es eine zentrale Aufgabe, ein genaues Verständnis der durch Einsteins Relativitätstheorie ausgelösten wissenschaftlichen Revolution zu gewinnen. Als Kristallisationskerne, aus denen heraus dann der Logische Empirismus entstand, wären
2158 der Wiener Kreis, der Berliner Kreis bzw. die Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie und die polnische LogikerSchule in Warschau und Lwo´w (Lemberg) zu nennen. Eine umfassende Darstellung dieser Genese steht noch aus, eine Fülle historischer Details geben jedoch Carnap (1963 a), Feigl (1981), Hegselmann (1979 und 1988), Stadler (1982), Haller (1993) und Dahms (1994). Eine sehr umfassende Darstellung liefert Stadler (1997). Der Wiener Kreis war eine informelle Gruppe. Nur wenige Kreismitglieder hatten Professorenämter inne, einige waren Privatdozenten, andere verdienten ihren Lebensunterhalt in außeruniversitären Berufen. Auch fortgeschrittene Studenten und Doktoranden gehörten zum Kreis. Die Kreismitglieder stammten aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Der Kreis tagte wöchentlich. Moritz Schlick hatte innerhalb des Kreises eine gewisse Schlüsselstellung inne, denn er war es, der die Einladungen zur Teilnahme aussprach. So wurde manchmal auch vom Schlick-Zirkel gesprochen. Schlick war 1922 an die Universität Wien auf den ehemaligen Mach-Lehrstuhl berufen worden. Ein schon seit vielen Jahren bestehender philosophischwissenschaftstheoretischer Gesprächskreis von Hans Hahn (Mathematiker), Philipp Frank (Physiker), Richard von Mises (Mathematiker, Maschinenbauer) und Otto Neurath (Ökonom) ging in dem Kreis um Schlick auf (vgl. Frank 1949: 13). Herbert Feigl (1969 b ⫽ 1981: 59) spricht in diesem Zusammenhang von dem „‘prehistoric’ Vienna Circle“. Dieser frühe Kreis war insbesondere durch Mach und den französischen Konventionalismus (Poincare´, Duhem, Abel Rey) beeinflußt, hatte gute wissenschaftsgeschichtliche Kenntnisse und ein sehr genaues Bewußtsein der vielen Probleme im Zusammenhang der Theoriendynamik. Nach Feigl geht es auf seine und Waismanns Anregung zurück, daß Schlick 1924 ein jeden Donnerstag tagendes Kolloquium einrichtete, in dem der „prähistorische“ Diskussionszirkel aufging und aus dem heraus der Wiener Kreis entstand (vgl. Feigl 1969 b ⫽ 1981: 60). Rudolf Carnap, der den Kreis sehr stark prägen sollte, kam im Jahre 1926 von Jena nach Wien, wo er im gleichen Jahr ⫺ allerdings mit Schwierigkeiten ⫺ habilitiert wurde. Über die schon Genannten hinaus wären als weitere Mitglieder des Kreises insbesondere zu nennen: Gustav Bergmann, Kurt Gödel, Bela von Juhos (1901⫺1971), Felix Kauf-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
mann (1895⫺1949), Victor Kraft (1880⫺ 1975), Karl Menger (1902⫺1985), Olga Hahn-Neurath (1882⫺1937) und Edgar Zilsel (1891⫺1944). ⫺ Die informelle Struktur des Kreises bringt es mit sich, daß es hinsichtlich der Mitgliedschaft in einigen Fällen einen Graubereich gibt. Im Jahre 1928 fand das Bemühen um Ausarbeitung und Verbreitung einer wissenschaftlichen Weltauffassung auch einen organisatorischen Niederschlag durch die Gründung des Vereins Ernst Mach (vgl. in diesem Zusammenhang die Studie von Stadler 1982: 152 ff). Die Vereinsgründung erfolgte in einem politisch-kulturellen Kontext verwandter (und häufig über Doppelmitgliedschaften verbundener) anderer Organisationen, die gleichfalls von Orientierungen geleitet wurden, die man mit Stichworten wie Rationalismus, Humanismus, Kosmopolitismus, Sozialismus, Atheismus, Pazifismus, Technik- und Planbarkeitsoptimismus ansprechen kann. Neben Schlick, der als Vorsitzender des Vereins fungierte, gehörten auch Carnap, Neurath und Zilsel dem Vorstand an. Einem volksbildnerisch-aufklärerischen Impetus folgend, wie er etwa dem Freidenker- und Monisten-Bund zugrunde lag und insbesondere auch für Mach charakteristisch war, entfaltete der Verein eine rege Vortragstätigkeit. Nahezu alle Mitglieder des Wiener Kreises hielten im Rahmen der Veranstaltungen des Vereins Vorträge. Im Jahr nach der Gründung des Vereins Ernst Mach wandte man sich erstmals als eigenständige philosophische Schule an die Öffentlichkeit. Zusammen mit der Berliner Gesellschaft für empirische Philosophie wurde eine Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften organisiert, die zugleich mit einer Tagung der deutschen physikalischen Gesellschaft und der deutschen Mathematiker-Vereinigung im September 1929 in Prag stattfand. Hahn trug dort das von Neurath entworfene und von ihm und Carnap mitverfaßte programmatische Manifest „Wissenschaftliche Weltauffassung ⫺ Der Wiener Kreis“ vor. Der Mitorganisator der Tagung, die Berliner Gesellschaft für empirische Philosophie, war 1928 gegründet worden und verstand sich ganz ähnlich wie der Wiener Kreis, nämlich als geistiger und organisatorischer Sammelpunkt aller an einer wissenschaftlichen Philosophie Interessierten. Details aus der Geschichte der Berliner Gesellschaft geben Stadler (1982: 207 ff), Kamlah
106. Der Logische Empirismus
(1985) und Thiel (1984). Der Gesellschaft gehörten u. a. Walter Dubislav (1895⫺1937), Kurt Grelling (1886⫺1942), Carl Gustav Hempel, Richard von Mises und Hans Reichenbach an. Es geht auf einen Vorschlag David Hilberts zurück, daß die Gesellschaft später in „Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie“ umbenannt wurde. Schon vor der Prager Tagung bestanden Kontakte zwischen Mitgliedern der beiden Gruppen. So hatte Carnap engen Kontakt mit Reichenbach; v. Mises war an der Wiener Technischen Hochschule promoviert worden und kannte Frank, Hahn und Neurath recht gut. Beide Gruppen wußten daher um die weitgehende Übereinstimmung in Positionen, Sichtweisen und Einstellungen. Im Jahre 1930 führte der Wiener Kreis zusammen mit der Berliner Gesellschaft eine weitere Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaft durch, und zwar in Königsberg. Im Rahmen dieser Tagung ging es insbesondere um die Grundlagenprobleme der Mathematik. Erst relativ spät, nämlich zu Beginn der 30er Jahre, ergaben sich engere Kontakte zu der polnischen Logiker-Schule. Es ist rezeptionsgeschichtlich aufschlußreich, wie häufig völlig übersehen wird, daß die oft bahnbrechenden logischen und metalogischen Untersuchungen dieser Logiker-Schule eingebettet sind in eine umfassende analytisch-wissenschaftliche Orientierung. Die Entstehung dieser Schule geht zurück auf Kazimierz Twardowski (1866⫺1938), der nach einer Lehrtätigkeit an der Universität Wien im Jahre 1895 einen Ruf an die Universität Lemberg annahm (vgl. Jordan 1967: 346 ff und Kotarbin´ski 1967: 1 f). Łukasiewicz, einer seiner Schüler, lehrte ab 1906 an der Universität Lemberg und später zusammen mit Twardowski und StanisLaw Lesniewski an der Universität Warschau. Zu ihren Studenten gehörten zum Beispiel Alfred Tarski, Kazimierz Ajdukiewicz, Tadeusz Kotarbin´ski, StanisLaw Jas´kowski (1906⫺1965), Adolf Lindenbaum (1905, im 2. Weltkrieg vermißt), Boleslaw Sobocinski und Mordechaj Wajsberg (vgl. Art. 108). Die Entwicklung des Logischen Empirismus in den dreißiger Jahren hat einen geradezu tragischen Doppelcharakter: Es ist einerseits die Geschichte einer philosophischen Bewegung, die nicht mehr nur kleinere Tagungen, sondern in rascher Folge große internationale Kongresse für die Einheit der Wissenschaften durchführen, international beachtete Zeitschriften und Reihen gründen,
2159 also ihr wissenschaftliches Netzwerk internationalisieren kann. 1934 durch eine Vorkonferenz in Prag vorbereitet, fand im September 1935 ein Erster internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaften in Paris statt. Diesem internationalen Kongreß folgen weitere. Die Zusammensetzung des beratenden Komitees für das EnzyklopädieProjekt macht die Internationalisierung recht deutlich: Dem Komitee gehören u. a. an: Kazimierz Ajdukiewicz, John Dewey, Federigo Enriques, Herbert Feigl, Jan Łukasiewicz, Gerrit Mannoury, Ernest Nagel, Arne Naess, Hans Reichenbach, Lizzie S. Stebbing und Alfred Tarski. Eine analytische Orientierung gewinnt in den 30er Jahren in vielen Regionen der Welt, insbesondere den USA, England und Skandinavien, enorm an Einfluß und beginnt, Diskussionen zu bestimmen bzw. erfolgreich Standards und Ideale philosophischen Argumentierens zu setzen (vgl. Carnap 1963: 34 ff und Feigl 1969 b ⫽ 1981: 81 ff). Ganz anders ⫺ und in gewisser Weise als Kehrseite dieser erfolgreichen Internationalisierung (vgl. Dahms 1985: 335) ⫺ die Entwicklungen in Österreich und Deutschland: Bei Kriegsausbruch im Jahre 1939 gab es den Wiener Kreis und die Berliner Gesellschaft bereits seit Jahren nicht mehr. Die geschaffenen Vereinigungen waren verboten worden, die Zeitschriften und Reihen hatten eingestellt werden müssen. Die allermeisten Vertreter des Logischen Empirismus befanden sich im Exil. Schlick war ermordet worden. Der deutsche Überfall auf Polen nahm den polnischen Logikern die Wirkungsmöglichkeiten und schuf darüber hinaus eine für sie lebensbedrohliche Situation. Der Logische Empirismus wurde zu einer Emigrantenphilosophie (vgl. als bisher umfassendste Studie zu dieser Emigrationsgeschichte Dahms 1987). Es sollte recht lange dauern, bis im deutschsprachigen Raum wieder ein Philosophieren in der Traditionslinie des Logischen Empirismus begann (vgl. Posner und Krampen 1981). Erst Ende der 50er Jahre wurde, und zwar insbesondere durch das Wirken und die Arbeiten Stegmüllers, wieder an die Problemlagen und Diskussionen angeknüpft, die sich zwischenzeitlich ergeben hatten. Daß die Rezeption der eigenen logisch-empiristischen Tradition und das Wiederanknüpfen an deren „analytischen Geist“ erst so spät einsetzte, hatte dabei einen sehr einfachen Grund: Die Machtergreifung des Nationalsozialismus veränderte die philosophische
2160
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Landschaft beträchtlich, der politisch-militärische Zusammenbruch des Nationalsozialismus änderte im Bereich der Philosophie hingegen nahezu nichts. Für ein Philosophieren, dessen Grundimpuls durch die Fragen „What do you mean?“ und „How do you know?“ (Feigl 1969 b ⫽ 1981: 409) sehr genau getroffen ist, blieb daher lange Zeit kein Platz.
6.
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106. Der Logische Empirismus
2161
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2162
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
107. Der Konstruktivismus 1. Vorgeschichte (mathematische Grundlagendiskussion im 19. Jahrhundert) 2. Logizismus, Intuitionismus, Operationalismus, Prädikativismus 3. Konstruktivistische Didaktik der Mathematik 4. Moderner Konstruktivismus in der Mathematik und Logik 4.1. Algorithmentheorie, Rekursionstheorie 4.2. Mathematik und Logik in der Erlanger Schule 4.3. Beweistheoretische Weiterführung konstruktiver Logik und Mathematik 5. Erlanger Konstruktivismus in Sprachtheorie und Naturwissenschaften 6. Erlanger/Konstanzer Ethik 7. Kritischer Ausblick 8. Literatur (in Auswahl)
1.
Vorgeschichte (mathematische Grundlagendiskussion im 19. Jahrhundert)
Historischer Ausgangspunkt für die Bildung der Menge unterschiedlicher Bemühungen um eine kritische voraussetzungsfreie Begründung von Wissenschaften, die man heute grob unter dem Titel „Konstruktivismus“ zusammenfaßt, waren die Auseinandersetzungen um die Begründung der Mathematik, zunächst (nach der Geometrie) der Arithmetik und der Analysis, im 19. Jahrhundert (vgl. Art. 78 und Art. 84). Hierbei standen die Probleme der Konstitution mathematischer Gegenstände und der Präzisierung des mathematischen Begründungsbegriffs im Vordergrund. Eine besondere Rolle spielte dabei der Unendlichkeitsbegriff: Der immer wieder problematisierte Begriff der unendlichkleinen Größe, der lange von vielen Mathematikern noch explizit benutzt wurde, war mit der Präzisierung des Konvergenzbegriffs durch B. Bolzano, A. L. Cauchy und K. Weierstraß entbehrlich geworden (vgl. Art. 78 § 3.). Damit war es nunmehr möglich, die Theorie der reellen Zahlen auf die Theorie der rationalen und somit letztlich auf die Theorie der natürlichen Zahlen zurückzuführen. Die Kroneckersche Behauptung, die natürlichen Zahlen habe der liebe Gott gemacht, alles andere sei Menschenwerk, ist also zumindest im zweiten Teil „konstruktivistisch“ ⫺ prima facie ⫺ einlösbar. Was den ersten Teil angeht, genügt ein Hinweis auf I. Kant, der nicht nur in diesem Punkt ein Vor-
läufer des Konstruktivismus war, indem er natürliche Zahlen auf Zählhandlungen zurückführte. Die Position, der L. Kronecker widersprechen wollte, war die gängige „platonistische“ oder realistische Ansicht von der unabhängigen Existenz eines Bereichs mathematischer Gegenstände (u. a. auch der Zahlen), der bekanntlich durch G. Cantor noch beträchtlich erweitert wurde, nämlich durch Mengen, Mengen von Mengen usf. Cantor verstand sich als Entdecker dieser „an sich schon vorhandenen Welten“. Zumindest die Mengenlehre wurde als universelles Instrument der Darstellung allgemein aufgenommen, oft zugleich mit der Annahme, arithmetisches Kontinuum (der Bereich der reellen Zahlen) und geometrisches Kontinuum seien zueinander isomorph, die „Zahlengerade“ sei also eine geometrische Gerade. G. W. Leibniz hätte dies schon aus methodischen Gründen verneint: Im Gegensatz zu einer Geraden muß die „Zahlenreihe“ punktweise konstruiert werden ⫺ es sei denn, sie läge schon vor und würde punktuell und (zwangsläufig immer unvollständig) nur „nachgezeichnet“. Letzteres folgerten mit Cantor viele Mathematiker aus der Nichtabzählbarkeit (in Cantors Sprache „Überzählbarkeit“) der reellen Zahlen: Zu jeder Abzählung n苸N reeller Zahlen „existiert“ eine reelle Zahl, die von allen in der Abzählung vorliegenden verschieden ist; man kann eine solche Zahl nach dem „Cantorschen Diagonalverfahren“ konstruieren. Man betrachtet zur Veranschaulichung die reellen Zahlen zwischen 0 und 1 in Ziffernschreibweise und nimmt an, man habe sie durchnumeriert und nach Nummern in einem Schema sortiert, in dem man nun die Diagonale markiert, also bei r1 die Ziffer a11, bei r2 die Ziffer a22 usf., allgemein bei rn die Ziffer ann. r1
0,
a11
a12 . . . . . . . . . . . . . . . . .
r2
0,
a21
a22
rn
0,
a1n
a32 . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
ann
an⫹1 . . . . n
107. Der Konstruktivismus Man bildet nun eine Zahl r ⫽ 0, b1 b2 …, in der sich die Ziffer bi von aii jeweils unterscheidet (etwa um 1 höher ist; statt 9 dann 0 ist). Die Zahl r unterscheidet sich dann von jeder der Zahlen ri im Schema zumindest an der i-ten Stelle aii; statt dessen taucht in r ja definitionsgemäß ein verschiedenes bi auf. (Die Bezeichnung „Diagonalverfahren“ wird am Schemabild verständlich).
Der logische Fehlschluß Cantors, der sich in der Rede von „absoluter Überabzählbarkeit“ der reellen Zahlen niederschlägt, hat die folgende Form: Da es zu jeder Abzählung A reeller Zahlen eine reelle Zahl gibt, die nicht in ihr enthalten ist, gibt es reelle Zahlen, die in keiner Abzählung enthalten sind; formal: ÿ r 苸 A, also ÿ r 苸 A. A r
r A
Diese Fehlinterpretation des Cantorschen Satzes wurde ⫺ mit gravierenden Folgen ⫺ selbst von Kritikern übernommen: Aus der (auch Cantor bekannten) Tatsache, daß die möglichen Darstellungen reeller Zahlen, etwa in Form von (Regeln für die Bildung von) konvergenten Folgen oder durch (definierende Aussageformen für) beschränkte Mengen rationaler Zahlen, jeweils abzählbar sind, schloß man auf die Existenz absolut nicht darstellbarer Zahlen. So sprach etwa P. du Bois-Reymond von „regellosen“ konvergenten Folgen. Selbst „Empirist“, hatte er volles Verständnis für die „idealistische“ Kontinuumsvorstellung, wollte für seine eigenen Überlegungen auf die Verwendung von nicht Definierbarem (genauer: nicht Nachvollziehbarem) verzichten und bot Idealisten einen gemeinsamen methodischen Nenner als Kompromiß an. Die gleiche Verzichtserklärung findet man später bei den von A. Heyting so genannten „Halbintuitionisten“ im Umfeld von E. Borel und M. Barzin.
2.
Logizismus, Intuitionismus, Operationalismus, Prädikativismus
G. Freges Gegenforderung nach einer streng logischen Begründung für die gesamte Mathematik setzte Maßstäbe für logisch-mathematische Exaktheit (vgl. Art. 76 § 3.1.), gelangte aber bei dem Versuch, formal exakt den Sinn mathematischer Ausdrücke nachzuzeichnen, genau zu den inhärenten (von B. Russell 1902 explizit gemachten) Widersprüchen, welche zum Beispiel Cantor selbst für seine Theorie schon festgestellt und als nur scheinbar problematisch abgetan hatte (vgl. Art. 76 § 3.2.). Freges logizistische Nach-
2163 konstruktion der inzwischen „klassischen“ Mathematik und ⫺ vielleicht gerade ⫺ ihr Scheitern zeigten, daß methodisches und sprachkritisches Vorgehen für den Aufbau der Mathematik unabdingbar ist, wenn man einerseits den Sinn mathematischer Aussagen sichern, andererseits antinomienfrei die größtmögliche Reichweite der Mathematik erhalten will (vgl. Art. 104 § 2.). Das Fiasko der naiv klassischen Mathematik, insbesondere der Cantorschen Mengenlehre (die bei Cantor die Wiedereinführung des Aktual-Unendlichen mit einschloß), rechtfertigte ex post das Unbehagen der Kritiker, die einen unabhängigen Neuaufbau versuchten; andere suchten nach Wegen zur Rettung des vorgeblich Erreichten. Sowohl die im Sinne Freges logizistisch aufgebauten Principia Mathematica (kurz: PM) von B. Russell und A. N. Whitehead (1910⫺13) als auch die formalistischen Bemühungen um eine widerspruchsfreie Axiomatisierung der Mathematik hatten dieses Ziel. Letztere waren eine konsequente Fortsetzung des bereits von Frege als sinnlos kritisierten Formalismus von E. Heine: man suchte eine „Wiedergewinnung“ der klassischen Sätze „im Wortlaut“ innerhalb eines syntaktisch widerspruchsfreien Axiomensystems, und zwar ⫺ so D. Hilbert, der programmatische Führer der „Formalisten“ ⫺ zunächst ohne Rücksicht auf den Inhalt der Sätze. Für die Mengenlehre, die mittlerweile als Basis mathematischen Denkens schlechthin galt, versuchten dies, durchaus noch inhaltlich an Cantor orientiert, zum Beispiel E. Zermelo, A. Fraenkel, J. v. Neumann, P. Bernays und K. Gödel (vgl. Art. 76 § 4.1.). Dem Logizismus der PM warf H. Poincare´ zum einen Imprädikativität vor; sie trat genau dort auf, wo durch ein „Reduzibilitätsaxiom“ die methodisch-logisch unvermeidbare verzweigte Typisierung von Mengen (Prädikaten, Funktionen) nach der Art der Bildung und dem Rang der vorkommenden Variablen durch eine ⫺ „Mathematikerbedürfnissen“ entgegenkommende ⫺ einfache Typentheorie ersetzt wurde, in der nur noch Objekte und Mengen 1., 2. usw. Stufe unterschieden werden. Der zweite Einwand Poincare´s betraf den ersichtlich nicht-logischen Charakter des Induktionsprinzips, das nur unter Rekurs auf das Konstruktionsprinzip der Folge der natürlichen Zahlen und der entlang dieser Konstruktion rekursiv definierten zahlentheoretischen Begriffe seinen Sinn erfüllt.
2164 Auch das ⫺ im logizistischen Rahmen erkennbar unmotivierte ⫺ Unendlichkeitsaxiom der PM (das die Existenz unendlich vieler Objekte sichert) ändert nichts daran, daß genau an dieser Stelle Inadäquatheiten sowohl der PM als auch jeglicher sonstiger, zum Beispiel formalistischer, Bemühungen um eine axiomatische Erfassung der Theorie der natürlichen Zahlen in einem Satzsystem auftreten. Dem Gödelschen Nachweis unvermeidbarer Unvollständigkeit (wenn nicht Widersprüchlichkeit) von Satzsystemen im Sinne der PM waren zahlreiche eher informelle Bedenken, u. a. von P. Finsler, G. Hessenberg und vor allem L. E. J. Brouwer, an diesem Vorhaben vorangegangen (vgl. Art. 104 § 2.). Brouwer bezeichnete die Mathematik als schlichtweg sprachlich ⫺ richtiger wäre gewesen: in Satzsystemen ⫺ nicht darstellbar, überantwortete sie der „Intuition“ des Einzelnen und hielt selbst eine Formalisierung seiner immanenten intuitionistischen Logik für unmöglich. Er akzeptierte jedoch deren ⫺ im Detail noch unbefriedigende ⫺ Interpretation als Aufgabenlogik durch A. N. Kolmogorov (1925) und auch die Formalisierung seiner Logik durch A. Heyting (1930). Im engeren Sinne konstruktive bzw. prädikative Alternativen zum methodisch halbherzig logizistischen Konzept der PM wurden frühzeitig entwickelt, etwa von H. Weyl (Das Kontinuum, 1918) oder von L. Chwistek, der nach einem Widerspruchsfreiheitsbeweis für die Russellsche einfache Typentheorie eine eigene ⫺ bis heute nicht kritisch aufgearbeitete ⫺ konstruktive Grundlegung der Mathematik, insbesondere der Mengenlehre vorlegte. Th. Skolem hatte bereits 1923 eine „rekurrierende Denkweise“ als für die Mathematik unentbehrlich ausgewiesen und zeigte im Gefolge der Gödelschen Resultate in den dreißiger Jahren, daß man für die Peano-Axiome (für die natürlichen Zahlen) sehr „untypische“ Interpretationen angeben kann, die dem „natürlichen“ Zahlenverständnis an entscheidender Stelle zuwiderlaufen. Er zeigte auch, daß mengentheoretische Axiomensysteme paradoxerweise selbst dann, wenn in ihnen von „Überabzählbarkeit“ die Rede ist, eine Interpretation im Abzählbaren (also z. B. im Bereich der natürlichen Zahlen) haben müssen, sofern sie widerspruchsfrei sind.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
3.
Konstruktivistische Didaktik der Mathematik
Eine verstehbare Rekonstruktion und didaktische Aufarbeitung der klassischen Mathematik, die bereits P. Dubois-Reymond angestrebt hatte, wurde im Gefolge von G. Mannoury, der eng mit L. E. J. Brouwer verbunden war, von E. W. Beth und J. Piaget gesucht; hierbei spielte das Prinzip der Konstruktion (mathematischer Objekte) in mehrfacher Hinsicht eine wesentliche Rolle: Konstruktionen und damit Aussagen über deren Ergebnisse sind per se „evident“ (das Problem der Widerspruchsfreiheit kann gar nicht auftauchen); über die Wahrheit von Konstruktionsaussagen entscheidet die gelungene Handlung (vgl. Art. 108). Die Reduktion der Mathematik auf eine derart triviale Zeichentheorie war scheinbar nur zu rechtfertigen durch den Hinweis auf den ⫺ unbezweifelbaren ⫺ pädagogischen Nutzeffekt solchen Vorgehens, auf erkenntnispsychologische Untersuchungen zum Lernverhalten des Menschen u. ä. (vgl. Piaget 1949, 1950, 1955, 1959 und 1967). Diese Bemühungen, konstruktives Vorgehen als didaktisches Instrument darzustellen und damit konstruktive Logik und Mathematik neben den klassischen Disziplinen (die nach klassischer Auffassung sehr viel einfacher und anschaulicher sind) zu legitimieren, sind freilich für eine systematisch-konstruktive Wissenschaftstheorie unerheblich.
4.
Moderner Konstruktivismus in der Mathematik und Logik
4.1. Algorithmentheorie, Rekursionstheorie R. L. Goodstein entwickelte eine rekursive Mathematik; A. A. Markov (u. a.) baute auf der von ihm entwickelten Algorithmentheorie eine konstruktive Mathematik auf. Mit einer rekursionstheoretischen Interpretation beseitigten weiterhin S. C. Kleene und R. E. Vesley einen Großteil der dunklen Stellen in der intuitionistischen Mathematik. 4.2. Mathematik und Logik in der Erlanger Schule P. Lorenzen ging mit seiner Einführung in die operative Logik und Mathematik (1955) mit gesicherten methodischen Mitteln zwar weit über den rekursionstheoretischen Ansatz hinaus, distanzierte sich aber deutlich von einem „metaphysischen Intuitionismus“ und bot ein
107. Der Konstruktivismus
konstruktives Verständnis des arithmetischen Kontinuums an, nach dem ⫺ trotz tatsächlicher „absoluter“ Abzählbarkeit ⫺ sinnvoll (nämlich relativ zu den jeweils verfügbaren sprachlichen Mitteln) von Nichtabzählbarkeit, etwa der reellen Zahlen, gesprochen werden kann. Damit war ein historisches Mißverständnis beseitigt und die von Th. Skolem aufgewiesene „Paradoxie“ der Interpretierbarkeit von Theorien über vorgeblich nicht Abzählbares im Abzählbaren aufgelöst. Ein allein durch Konstruktion aufgebautes arithmetisches Kontinuum, das unter Einlösung der Kroneckerschen Behauptung, die Mathematik sei Menschenwerk, allen ernstzunehmenden Ansprüchen gerecht wurde, stieß dennoch auf Widerstand: „Arbeitende Mathematiker“ (so A. Weil, ein führender Mitarbeiter der Bourbaki-Gruppe) vermißten die „klassische Einfachheit“ der Cantorschen Theorie, vor allem aber die „passende“ Axiomatisierung. Prädikativisten wie S. Feferman erhoben den Einwand, eine Axiomatisierung des Lorenzenschen Systems sei notwendig imprädikativ. Tatsächlich ist beim Gebrauch induktiver Definitionen eine adäquate Axiomatisierung nicht möglich, die Forderung danach unsinnig. Die tatsächlich axiomatisch aufgebaute prädikative Analysis Fefermans bleibt auch inhaltlich weit hinter der konstruktiven Mathematik Lorenzens zurück und zeigt zugleich deutlich die Grenzen begründbaren axiomatischen Vorgehens auf. Ähnliches hat Hao Wang mit der Konstruktion einer prädikativen Mengenlehre geleistet. Auch in seinem 1965 erschienenen Buch Differential und Integral kam Lorenzen unter explizitem Verzicht auf Hierarchienbildungen bei der Entwicklung der mathematischen „Gegenstandsbereiche“ durch Benutzung der Rede über „indefinite“ Bereiche weitestmöglich klassischen Vorstellungen entgegen, verzichtete aber wiederum auf eine Axiomatisierung. Die ⫺ aufgrund erwiesener Konsistenz ⫺ „harmlose“ Verwendung der klassischen (zweiwertigen) Logik, die sich übrigens auch bei Vertretern der rekursiven Mathematik (z. B. R. L. Goodstein) und der prädikativen Mathematik (z. B. H. Weyl und S. Feferman) findet, bleibt hier das entscheidende methodische Manko: L. Wittgenstein ⫺ in der Logik selbst ein Klassiker ⫺ machte den Sinn einer Aussage an der Methode ihrer Verifikation fest (vgl. Art. 109). Damit hat ein „nur“ klassisch bewiesener Satz einen anderen Sinn als ein ⫺ gleichlautender ⫺ konstruktiv bewiese-
2165 ner Satz; er stellt diesem gegenüber eine Abschwächung dar, weil unabhängig davon, ob sie im Beweis ernstlich verwendet wurden oder nicht, jedem Satz sämtliche „klassischen Voraussetzungen“ als Prämissen vorangestellt werden müssen. Russische Mathematiker um A. A. Markov und N. A. Sˇanin forderten daher, das klassische Prinzip „Tertium non datur“ (A ∨ ÿ A) und das Prinzip „Duplex negatio affirmat“ (ÿ ÿ A → A) nur genau dort einzusetzen, wo es methodisch gerechtfertigt (d. h. die Bedingung nachweislich erfüllt) ist, und kamen so zu einer deutlich differenzierteren Mathematik (insbesondere Analysis). Ersetzt man die dort methodisch unzureichende Definition von Zahlen als Zeichenreihen durch die Lorenzensche abstraktionstheoretische Fundierung (Zahlen als [abstrakte Repräsentanten von] Zählhandlungen), so entsteht eine Mathematik, die inhaltlich die klassische weit übertrifft, sie nämlich wegen ihrer methodischen Genauigkeit einschließt: Wo diese über das konstruktiv Machbare hinausgeht, wird sie per Abstraktion oder (was oft auf das Gleiche hinausläuft) durch explizite Angabe der zusätzlich erforderlichen Bedingungen wieder eingeholt; die ⫺ um die notwendigen Zusatzbedingungen ergänzten ⫺ Sätze behalten ihren konstruktiven Sinn. Die Restriktion auf eine affirmative Logik (in der die Negation fehlt) oder eine strenge Logik (in der die Negation eine andere als die konstruktive Deutung erhält) ist unerheblich, da beide Logiken sich konstruktiv interpretieren lassen und lediglich Einschränkungen der sprachlichen Mittel verlangen, die ⫺ jedenfalls für die Mathematik ⫺ unsinnig sind. Ebenso abwegig ist der von A. S. Essenin-Volpin vertretene Gedanke einer „ultraintuitionistischen“ („ultrafiniten“) Mathematik, in der selbst die Rede vom „potentiell Unendlichen“ wegfallen soll. ⫺ „Mehrwertige“ Logiken lassen sich innerhalb der konstruktiven Logik, die man, wie S. Jas´kowski (1936) nachwies, mit Recht gelegentlich als unendlichwertig bezeichnet, zumindest formal darstellen. Ihr Nutzen bleibt fragwürdig, auch wenn sie in der Linguistik häufig als Interpretationsmodi bei der Erfassung umgangssprachlicher Rede benutzt werden, da auch bei konstruktiver Interpretation der Sinn der „Wahrheitswerte“ in ihnen nicht erkennbar wird.
4.3. Beweistheoretische Weiterführung konstruktiver Logik und Mathematik Der Hilbertsche Gedanke eines finiten Widerspruchsfreiheitsbeweises für die Arithmetik hatte sich zwar als nicht haltbar erwiesen
2166
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
(vgl. Art. 84 § 4.3.). Jedoch war der formalistische Rückzug auf die Betrachtung reiner Zeichensysteme eine Möglichkeit, für Intuitionisten wie für Klassiker, eine gemeinsame rein technische Sprache zu finden: Was ein Beweis innerhalb eines vorgegebenen Regelsystems ist, bleibt allemal unstrittig; was die bewiesenen Sätze besagen, hängt jeweils von den verwendeten Beweismitteln ab. Konsequenterweise versuchten Konstruktivisten/ Intuitionisten den Bereich des konstruktiv Machbaren auszubauen, und zwar nunmehr unabhängig vom Vorbild der klassischen Mathematik. Verallgemeinerte Rekursionstheorie, konstruktive Ordinalzahltheorie und allgemeine Theorie der induktiven Definitionen sind hierfür nur Beispiele (vgl. z. B. Aczel 1977; Cenzer 1974; Crossley 1969; Crossley und Dummett 1965; Crossley 1968; Gandy 1974; Fenstad 1971; Fenstad und Hinman 1974). Beweistheoretische Untersuchungen erbrachten weitere Einblicke auch in die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Logik-, Arithmetik- und Analysis-Konzeptionen. Besonders aufschlußreich sind hierbei die Arbeiten von G. Kreisel (1968; 1971), P. Martin-Löf (1971), D. Prawitz (1965; 1971), die (beide mit dem Titel „Proof Theory“ versehenen) Bücher von K. Schütte (1977) und G. Takeuti (1975) sowie die 1973 von A. S. Troelstra herausgegebene Metamathematical Investigation of Intuitionistic Arithmetic and Analysis, die auch jeweils eine ausführliche Bibliographie enthalten.
5.
Erlanger Konstruktivismus in Sprachtheorie und Naturwissenschaften
Die Ausdehnung dieser strikt methodischen Wissenschaftskonstitution ⫺ über die man in der Mathematik und erst recht in der Logik als einer per definitionem apriorischen, weil anspruchsgemäß universellen Disziplin nicht sinnvoll hinausgehen kann ⫺ auf empirische Wissenschaften wurde von W. Kamlah und P. Lorenzen und der von ihnen begründeten Erlanger Schule vollzogen. Zugleich methoden- und sprachkritische Untersuchungen ⫺ den untrennbaren Zusammenhang hatte Wittgenstein betont ⫺, die auf „operationalistische“ Vorarbeiten von H. Dingler und P. W. Bridgman (zur Geometrie und Physik) zurückgreifen konnten, führten zu einer konstruktivistischen Neuformulierung der ⫺
apriorischen ⫺ Grundlagen der Geometrie und der Physik durch die Lorenzen-Schüler P. Janich, R. Inhetveen u. a., die wesentlich zur Klärung, wenn nicht zur Lösung grundsätzlicher Probleme beim begründeten Aufbau empirischer Wissenschaften beitrugen. Die allgegenwärtige sprachphilosophische Frage eines fundierten ⫺ transsubjektiv nachvollziehbaren ⫺ Sprachaufbaus beantworteten Kamlah und Lorenzen damit, daß sie Worttypen nach der Art ihrer Einführung (und Verwendung) unterschieden. Die spätere normative Auszeichnung einer expliziten „Orthosprache“ mit Hilfe einer (prinzipiell entbehrlichen) erklärenden „Parasprache“ erwies sich als hinfällig: der Aufweis der grundsätzlichen Möglichkeiten zur Klärung von Mißverständnissen und zur Differenzierung von Sprachmöglichkeiten je nach Bedarf war hinreichend. Hierzu genügte ein dialogisch-diskursives Sprachkonzept, dessen Basis die von P. Lorenzen und K. Lorenz (in Anlehnung an die natürlichen Sequenzenkalküle von G. Gentzen sowie die Tableaux-Verfahren E. W. Beths) entwickelte dialogische Logik bildete (siehe auch Barth und Krabbe 1982 und Jacques 1979; vgl. Art. 76 § 4.2.3.).
6.
Erlanger/Konstanzer Ethik
P. Lorenzen hat auch das Programm einer konstruktiven Ethik initiiert. Ausgehend von einem prima facie individualistischen Bedürfnisbegriff ⫺ neben elementaren wurden kulturell gewachsene (in einer „normativen Genese“ als nicht bloße Wünsche ausgewiesene) Bedürfnisse als anerkennbar verstanden ⫺ konnte der Kantische kategorische Imperativ als per se unentbehrliche Aufforderung zur Rechtfertigung eigenen Handelns im Dialog mit potentiell allen Betroffenen gedeutet werden. Aus der Einsicht, daß ein individualistischer Bedürfnisbegriff über reine Rationalitätserwägungen und einen Appell an die Gutwilligkeit der Beteiligten nicht hinausführt und daher logisch zwangsläufig in den Aporien des Utilitarismus endet, ergab sich für Lorenzen die systematisch-methodische Priorität einer sozialen Ethik, die sich nicht an der Frage der „Durchsetzbarkeit“, sondern (durchaus im Sinne sozialer Utopien) am Ziel eines gemeinsamen vernünftigen Handelns orientieren muß. Ihre Ausarbeitung steht freilich noch aus (vgl. Art. 104).
107. Der Konstruktivismus
7.
Kritischer Ausblick
Mit dem bewußten Verzicht auf nicht ausdrücklich kenntlich gemachte Voraussetzungen und der Ersetzung von allenthalben geglaubten metaphysischen Postulaten durch (Aussagen über) durchführbare Konstruktionen hat der Konstruktivismus die Möglichkeiten vernünftigen sprachkritisch-methodischen Redens und Handelns aufgezeigt. Die seither immer wieder (z. B. in der Mathematik, Logik und Ethik) versuchte Verständigung mit traditionellen Positionen durch Einbeziehung unbegründeter inhaltlicher Vorgaben und durch Betonung (eben nur vermeintlicher) sprachlicher Übereinstimmung, die notwendig auch den konstruktiv begründbaren eigentlichen Inhalt von Theorien und Aussagen förmlich wegschwemmt, ist dem Anliegen des Konstruktivismus eher schädlich. Wichtiger wäre die intensive Fortsetzung eines konsequent konstruktiven Aufbaus sprachkritischer Interpretationsmethoden, die in der Tat die Rettung des guten Sinns klassischer Theorien erlauben. (Zum Neokonstruktivismus, der allerdings weder inhaltlich noch historisch etwas mit dem hier Behandelten zu tun hat, vgl. Art. 122 § 7.).
8.
Literatur (in Auswahl)
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Gerrit Haas †, Aachen (Deutschland)
108. Praxiology 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Introduction Kotarbin´ski’s praxeology Developments and applications Praxeology and semiotics Selected references
Introduction
The term praxiology, also spelled praxeology, can be traced back to an essay on the origins of technology by the French sociologist Alfred Espinas (1897). The idea of praxeology as the theory of action, however, is by no means homogeneous and comes from more diversified sources. Praxeology as the theory of efficient action, developed by the Polish philosopher Tadeusz Kotarbin´ski (1886⫺ 1981), is perhaps the most widely known. Kotarbin´ski’s theory, embedded in the nominalistically oriented philosophy of reism, inspired research in the formal and general theories of action, as well as the many applications of praxeological concepts and principles, e. g., to the theories of organization, programming, and information (cf. Art. 125 and Art. 126).
Another variety of praxeology originates in the work of the Austrian economist Ludwig von Mises (1963), who understands it as the general theory of human action, not limited to effective action (cf. Art. 106 § 2.1.). That approach to praxeology emerged from the classical political economics, which dealt with human action to the extent it was motivated by profit (cf. Art. 86). Von Mises transforms the theory of market exchange into a general theory of human choice and preference which goes beyond the economic aspects of human action. His main interest lies in the epistemological foundations and the logical legitimacy of praxeology as the science of human action in which economic problems are embedded and understood in terms of acts of choice (cf. Art. 144). A recent Scandinavian development in praxeology stems from entirely different philosophical sources. It refers to the early Heidegger (cf. Art. 74 § 20.) and the later Wittgenstein (cf. Art. 109) and adopts another perspective on human action (Skirbekk 1983). The praxeological method employed by the Scandinavian philosophers is based on
2170
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
the careful analysis and detailed description of everyday situations. Human actions are neither reduced to purposive performances nor identified with rational actions, but are understood very broadly to include anything ranging from an everyday routine or an aesthetic experience to scientific inquiry. Although virtually no reference to Charles S. Peirce (cf. Art. 100) is made in praxeological writings, the relevance of his philosophy for both theoretical praxeology and its semiotic applications deserves recognition. Peirce’s (1982⫺93) theory of belief offers a pragmatic account of the motivation for purposeful action which is strikingly similar to the way in which the prerequisites of human action are understood by von Mises. “Doubt is an uneasy and dissatisfied state from which we struggle to free ourselves and pass into the state of belief”, says Peirce (1982⫺93: III 247), while von Mises claims that “the incentive that impels man to act is always some uneasiness” (1963: 13). Peirce also made a pioneering inquiry into the successful procedures in science. In a study on the economy of research (1982⫺93: IV), he employed the theory of probability to investigate the relations between the utility and the cost of diminishing the probable error of knowledge, and posed for himself the praxeological question of “how, with a given expenditure of money, time, and energy, to obtain the most valuable addition to our knowledge” (see also Rescher 1978). The present article focuses on Kotarbin´ski’s conception of praxeology, its philosophical background and its further developments and applications. From a semiotic point of view it is only natural that recent developments in the formal theory of action, information theory, and the theory of optimal signs are given special emphasis.
2.
Kotarbin´ski’s praxeology
The first formulations of Kotarbin´ski’s conception of praxeology date from as early as 1913 and 1938, but its fullest exposition is given in his treatise Traktat o dobrej robocie (1955), translated as Praxiology. An Introduction to the Sciences of Efficient Action (1965). Kotarbin´ski formulates the broadest generalizations concerning efficient action in all possible fields of human endeavor (cf. Hiz˙ 1954). The concept of action, fundamental to praxeology, is defined in terms of the causal rela-
tion between an agent and the result of his purposeful behavior. The agent of an event is the person whose free impulse causes that event: striking a piano key or turning a switch are examples of actions resulting from simple free pressures. The concept of a free pressure, or a free impulse, is not limited to exertion of physical force. Simple acts may consist in exerting or lessening muscular pressure, e. g., pressing on the brakes or removing one’s foot from the accelerator; and they may also result from a mental impulse, e. g., when one concentrates in an effort to recall a person’s name. Kotarbin´ski chooses the terms “impulse” over “pressure” in order to make it clear that the praxeological concept of action is broad enough to include exertion of physical or mental pressure as well as refraining from it. Action may consist of a single act or be composed of several acts which are performed by one or more agents who strive towards a common objective. In the latter case individual acts are interconnected by the relation of positive or negative cooperation. The originality and impact of Kotarbin´ski’s praxeology stem from his understanding of cooperation, which is a fundamental notion that opens up a wide field for theoretical exploration and fruitful application. Cooperation may be either positive or negative, since individual actions may assist or hamper one another; in the first case it is called “cooperation” in the proper sense of the word, otherwise it is termed “struggle”. It should be noted that Kotarbin´ski’s investigations into the praxeological aspects of cooperation are valid both for cooperation proper and for struggle. Praxeology describes and systematizes methods and procedures of human actions with an eye to whether they are well suited to achieve their goals, irrespective of moral or other values which the goals themselves may have. Praxeological principles of efficiency are independent of moral principles, and the opposites of effectiveness and ineffectiveness or cooperation and struggle do not coincide with ethical evaluations. An effective action may be depraved or corrupted, while an ineffective action may be righteous; similarly, people may cooperate smoothly towards an abominable goal, or they may engage in a struggle to prevent evil. Praxeology does not evaluate actions from a moral or aesthetic point of view, but rather regards them as recommendable on the sole basis of their practical value, i. e., their effi-
2171
108. Praxiology
ciency in achieving certain objectives. A systematic presentation of praxeological directives for the effective collective cooperation forms the core of Kotarbin´ski’s theory. Praxeological recommendations are divided into several groups. In the first place, effective action must be economical, that is, cost-saving and productive. Furthermore, effective action requires deliberate preparation and planning; it also requires instrumentalization, which consists in making use of available technology. Finally, various actions of participating agents must be integrated according to the principles of organization which systematize the rules of positive cooperation and the techniques of struggle. Kotarbin´ski’s theory is embedded in his philosophy of reism, whose nominalistic and logical orientations shape the nature of praxeology and its further developments and applications. The main tenet of reism is that the only objects that exist are particular things that are physical bodies (cf. Art. 52 § 4.). Reism implies a radically nominalistic claim that all of language can be freed from terms which do not refer to particular things. Consequently, it claims that our knowledge can be formulated without any general or abstract terms, since the latter are eliminable in favor of a purely nominalistic language. His nominalism and reductionism place Kotarbin´ski’s thinking within the positivist tradition, and the significance he attaches to the logical reconstruction of language shows its close ties with Logical Positivism (cf. Art. 84, Art. 106, and Art. 107). Viewed from that perspective, praxeology can be regarded as a positive science of effective human action which allows for reduction of complex forms of behavior to their simple constituents. The link with logical positivism appears even stronger when we consider the claim praxeology makes that the theoretical investigation of the social and psychological context of human action is value-free. Kotarbin´ski (1965: 75⫺94) maintains that the analytic and descriptive parts of his theory are clearly separate from its normative part, which consists of merely practical recommendations. In his theory the axiologically neutral description of human behavior is supplemented with the normative recommendations based on effectiveness, counter-effectiveness, or indifference of a given act from the viewpoint of achieving a certain goal.
3.
Developments and applications
Kotarbin´ski’s theory has been developed and elucidated in various respects by his followers. Eugeniusz Geblewicz elaborates further on the praxeological concept of goal within the philosophical framework of reism (cf. Gasparski and PszczoLowski 1983: 47⫺60). His definition of the primary and secondary goals is formulated in a nominalistic language referring to agents and the results of their acts, and it presupposes an interpretation of the intentionality of human action in terms of the causal relationship between physical objects. Recent studies in praxeology are characterized by their formal and interdisciplinary approach. Wojciech Gasparski (1983) offers a formalization of the concept of efficiency which is defined generally enough to cover special meanings of efficiency in physics, technology, and economics. Tadeusz PszczoLowski distinguishes between what he calls emotional or proper evaluations (“This is good”) and utilitarian evaluations relativized with respect to a goal (“This is profitable”), and he provides a formal analysis of praxeological utilitarian evaluations, of which the concept of efficiency is the most inclusive (Gasparski and PszczoLowski 1983: 103⫺ 124). The common domain of praxeology and cybernetics (the general science of controlled action) is explored by Jo´zef Konieczny (Gasparski and PszczoLowski 1983: 179⫺ 194), who adopts the formal systemic approach and formulates principles for the engineering of systems of action which include human groups, technological installations, material resources, and information data. The problem of planning is viewed from the cybernetic and praxeological perspective by Henryk Greniewski (Gasparski and PszczoLowski 1983: 195⫺222), whose formal-logical analysis of planning consists in designing models which represent variants of input and output states. Oskar Lange (1971) develops the theory of programming as a mathematical theory which applies the principle of economic rationality. The principle is one of the praxeological principles of behavior whose validity is not limited to economic activity, but which can be applied wherever means and ends are quantified, for example, to the methodology of sciences, technology, or military strategy. Lange’s un-
2172
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
derstanding of praxeology as the logic of rational activity is close to Kotarbin´ski’s idea and explicitly opposes von Mises (1963).
4.
Praxeology and semiotics
Praxeosemiotics, or the theory of optimal message developed by Tadeusz Wo´jcik (Gasparski and PszczoLowski 1983: 125⫺ 141), focuses on language as a semiotic tool of communicating messages. It is divided into the theory of semiotic tools (messages) and the theory of semiotic substance (systems of signs). Communication is regarded as a type of action involving the use of semiotic instruments and conforming to the general praxeological conditions of efficiency (for similar approaches see Art. 104). Obviously, the specific nature of semiotic instruments dictates certain additional efficiency requirements: An optimal message is characterized by nonambiguity, faithfulness, accessibility, and comprehensibility. The task of specifying the efficiency requirements for the optimal substance of a message meets various problems resulting from the semiotic nature of the sign system used ⫺ e. g., in chemistry, cartography, or music ⫺; and no general conditions defining the optimal sign system have been formulated yet. A different semiotic perspective is adopted by Maria Nowakowska (1973), who constructs a formal system in which behavior is treated as a language and, consequently, human action can be analyzed by the formal methods of linguistics. In the system she proposes, human actions are identified with words of an artificial language, sequences of feasible actions with sentences, and results of actions with meanings of sentences. The language of action thus obtained includes the language of motivation as its subsystem. The analysis of formal properties of the language of actions leads to definitions of praxeologically relevant concepts such as attainability, positive and negative decisive moments, and possibility with respect to certain results. The language of motivation includes expressions of the sort “I want”, “I ought to”, which are called motivational functors, and a formal analysis of the language of motivation reveals the logical behavior of those functors and leads to the construction of a motivational calculus. The immediate usefulness of the two formal systems constructed by No-
wakowska lies in the theoretical value of the taxonomy of concepts involved, their classification and the formal analysis of their interrelations. The practical usefulness of the systems of languages of action and motivation depends on their relevance for domains of interest from a praxeological point of view. The formal characteristics of the systems and the interpretation of the primitive concepts determine the scope of their possible applications. In other words, they determine which praxeological problems concerning the human actions and their interrelations will be taken into consideration, and which praxeological questions will be left out of account (cf. Art. 31 § 3.).
5.
Selected references
Espinas, Alfred (1897), Etude sociologique. Les origines de sociologie. Paris: Alcan. Gasparski, Wojciech and Tadeusz PszczoLowski (eds.) (1983), Praxiological Studies. Dordrecht, Boston, and London: Reidel; Warsaw: PWN ⫺ Polish Scientific Publishers. Hiz˙, Henry (1954), “Kotarbin´ski’s Praxeology”. Philosophy and Phenomenological Research 15: 238⫺243. Kotarbin´ski, Tadeusz (1955), Traktat o dobrej robocie. Lodz: Ossolineum. Kotarbin´ski, Tadeusz (1965), Praxiology. An Introduction to the Sciences of Efficient Action. Oxford, New York, Paris, and Frankfurt a. M.: Pergamon Press; Warsaw: PWN ⫺ Polish Scientific Publishers. Lange, Oskar (1963), Political Economy. Oxford: Pergamon Press. Lange, Oskar (1971), Optimal Decisions. Principles of Programming. London: Pergamon Press. Mises, Ludwig von (1963), Human Action. A Treatise on Economics. Chicago: Regnery. Nowakowska, Maria (1973), Language of Motivation and Language of Action. The Hague and Paris: Mouton. Peirce, Charles S. (1982⫺93), Writings of Charles S. Peirce ⫺ A Chronological Edition. 5 vols, edition to be continued. Bloomington: Indiana University Press. Rescher, Nicholas (1978), Scientific Progress. London: Blackwell. Skirbekk, Gunnar (ed.) (1983), Praxeology. Bergen, Oslo, Stavanger, and Tromsø: Universitetsforlaget.
Ursula Niklas, Indianapolis (USA)
2173
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy 1. Introduction 1.1. What is Ordinary Language Philosophy? 1.2. The sources of Ordinary Language Philosophy 1.3. What language is “ordinary language”? 2. Wittgenstein on meaning 2.1. Breaking the grip of a picture 2.2. Learning a language: How is it possible? 2.3. Meanings are not mental entities 2.4. The notion of ‘rule’ 3. Some examples of Ordinary Language Philosophy arguments by other philosophers 3.1. The paradigm case argument (PCA) 3.2. Austin’s trouser-word argument (TWA) 4. Wittgenstein’s main contributions to the technique of therapeutic dissolution of linguistic illusions 4.1. The private language argument (PLA) 4.2. Meaning as “family resemblance” 5. An example of the therapeutic power of “mere description” 6. The legacy of Ordinary Language Philosophy 7. Selected references
1.
Introduction
1.1. What is Ordinary Language Philosophy? In the nineteen forties and fifties a school of philosophy developed in Oxford, which, because of its attention to the details of everyday language use, came to be called “Ordinary Language Philosophy”. Somewhat earlier philosophers in Cambridge, notably George Edward Moore (1873⫺1958) and above all Ludwig Johann Josef Wittgenstein (1889⫺1951), had practised a philosophical method with many similarities in both aim and technique to that which flourished in Oxford after the Second World War. Wittgenstein’s eccentric ways of teaching and his reluctance to publish his investigations meant that, at least in the eyes of the world, the home of Ordinary Language Philosophy was taken to be Oxford. With hindsight we can now see the genius of Wittgenstein more clearly and assess more justly the contributions of the leading Oxford figures to this development. Ordinary Language Philosophy is based upon three main intuitions: (1) that our unreflective uses of language in contexts in which some dialect is appropriate will not lead us into philosophical errors;
(2) that philosophical errors arise through misidentifying how language is being used in a particular case: “[…] many traditional philosophical perplexities have arisen through a mistake ⫺ the mistake of taking as straightforward statements of fact utterances which are either (in interesting non-grammatical ways) nonsensical or else intended as something quite different” (Austin 1965: 3); (3) that a particular kind of reflection on these uses, namely theorizing about them in the manner established in the natural sciences, leads to false beliefs and extravagant existential claims. From these intuitions (for similar assumptions see Art. 104) it follows that there is a technique for resolving persistent philosophical problems: the careful description of how words are used in their normal employment. There are two main kinds of theorizing that lead to trouble. Essentialism encourages the belief that superficial similarities among a group of things must be the result of a common essence. Realism is the belief that explanations must invoke hypothetical entities whose behavior is responsible for observed phenomena. The latter is exacerbated by our persistent tendency to treat all nouns as if they named something, and all adjectives as if they were used to ascribe properties to substances (for the historical roots of this tendency see Art. 40 § 3.2. and Art. 42 § 2.1.). The natural sciences are built on essentialism and realism (cf. Art. 46 § 2. and Art. 84). Wherever we find something that satisfies the defining criteria for the use of the word “oxygen” we can claim that the substance so picked out has a certain atomic structure, so many protons and neutrons in the nucleus of each oxygen atom, and so many electrons in the orbital shells. Essentialism is simply the claim that common observable properties are the manifestation of common unobservable properties. Wherever we find a stable pattern of phenomena, such as that expressed in the chemical law “Acid plus base equals salt plus water” we proceed by imagining a model of the unobserved causal process which manifests itself in phenomena patterned according to the law. The most successful model of such processes uses
2174 the concepts of ‘molecule’ and ‘constituent atom’. Realism is simply the claim that we should proceed as if these expressions refer to things as real as the phenomena they serve to explain (for a discussion of the status of theoretical concepts see Art. 29 § 1. and Art. 106). Wittgenstein’s famous advice to philosophers not to theorize but only to describe amounts to a prohibition on the use of the methods of the natural sciences in doing philosophy. Following those methods, that is assuming there are essences and explaining by citing hypothetical entities, is bound to lead one into absurdity, when the topic is the ordinary uses of words. 1.2. The sources of Ordinary Language Philosophy To those of us who were in Oxford in the nineteen forties and fifties, the methods and aims of ‘Oxford philosophy’ seemed to be a unique invention and development of the group of philosophers around John Austin (1911⫺1960; the flavor of his lectures can be experienced in his Philosophical Papers, which were edited by J. O. Urmson in 1961) and Gilbert Ryle (1900⫺1976; with his influential masterpiece The Concept of Mind published in 1947). When Wittgenstein’s Philosophical Investigations appeared in 1953 it seemed as if in repudiating his earlier views ⫺ very well known in Oxford, since the Tractatus (Wittgenstein 1922) was widely studied ⫺ he had made, as it were, a simultaneous discovery of the right path in philosophy. But his gnomic style, and the obscurity of the writings of some of his Cambridge followers, contrasted unfavorably with the limpid clarity of the writings of Oxonians of the period, and especially for someone like myself ⫺ a graduate student in the high period of Oxford hegemony ⫺ with the Wittgensteinian writings of Friedrich Waismann (1896⫺ 1959), particularly his famous series of articles on the analytic/synthetic distinction (Waismann 1968: Part V). In hindsight it is now clear that through his friendship with Ryle (they went on walking tours together) Wittgenstein had exerted a profound and subtle influence on Oxford philosophy long before the Philosophical Investigations appeared. Not only that but several of Wittgenstein’s circle had migrated from Cambridge to Oxford, notably Elizabeth Anscombe (*1919), who was responsible for bringing the later works of Wittgenstein to
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
public notice both through her own writings and through her translations of much unpublished Wittgenstein. It is also clear in hindsight that Austin was indeed as innovative and original a thinker as he then appeared to be. He owed nothing of his technique in philosophy or his nose for bogus inflationary ontologies to anyone, except perhaps Aristotle (cf. Art. 40 § 2.1.) and Charles S. Peirce (cf. Art. 100). His classes on these two great philosophers were marvels of exegetical clarity. It should also be said that G. E. Moore, who was a Cambridge philosopher at one time very close to Wittgenstein, was widely read but rarely imitated (for example Moore 1922). It is also worth remarking that the full appreciation of the power and depth and systematicity of Wittgenstein’s later thought was a long time coming. It seems that the first generation of Wittgenstein scholars were too close to this eccentric and dominant genius to be able to expound his themes and methods without slipping into his peculiar style. It is only now, with the exegetical writings of authors such as Gordon Baker (1985), Peter Hacker (1986), Stuart Shanker (1987), and others, that there is sufficient distance between Wittgenstein the man and Wittgenstein the philosopher for a full appreciation of his work. 1.3. What language is “ordinary language”? A common misunderstanding to which those critics who have not studied Wittgenstein and the Oxford school of philosophers very deeply are prone, is to suppose that by “ordinary language” is meant the language in use in the most commonplace activities of everyday life (concerning conceptualizations of everyday life see Art. 48 § 1., Art. 59 § 2. and Art. 88 § 3.). Even more gross is the mistaken supposition that everyday uses of language constituted, for Ordinary Language Philosophers, some sort of standard of propriety against which other uses were to be judged as deviant. Of course there are matters of great philosophical interest in the everyday uses of language. For example if someone says that he or she can see something and a philosopher claims that that person is only aware of a representation of that thing, then there has been an abuse of language. There is all the difference in the world between seeing a horse and seeing a representation of a horse, yet that difference is simply ridden roughshod over by certain cognitive ‘scientists’ in
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy
their theory of ‘representations’. But there is equally great interest in the ordinary language of quantum field theory, in which physicists glibly talk of “virtual particles”, a locution much in need of exegesis. Farmers, ethologists, carpenters, indeed every trade and profession has its ordinary language. In its ordinary use it works well for the job in hand. But when anyone, be they practitioners or philosophers, reflect on these uses, the danger of talking nonsense increases a hundred fold. Furthermore there are some 3000 languages still in use around the globe and though they share many rough similarities, nevertheless they have very different ways of dealing with all sorts of matters. Each of these is an “ordinary” language with its own repertoire of dangerous delusions awaiting anyone who tries to philosophize without due attention to the actual grammars of its discourses. Ordinary Language Philosophy is an antiphilosophy, a programme for curing and dispelling false belief, by identifying the covert sources of wrong thinking, particularly in mistakes about the uses of words.
2.
Wittgenstein on meaning
2.1. Breaking the grip of a picture In Wittgenstein’s Philosophical Investigations the discussion of meaning precedes all the substantive critical analyses of philosophical illusions. I have introduced it at this point in this article, preceding any substantive discussions, to bring out how important a right account of meaning is to the “ordinary language” strategy. If our technique for dispelling error and dissolving philosophical problems is to describe just what the key words in some misleading philosophical discourse do mean, we need to have some idea of what it is we are describing. If meanings are objects signified then describing the meaning will amount to describing the object signified in each case. But our intuitions tell us that it is just the assumption of this conception of meaning that has so often led philosophers astray. They begin looking for things they believe must exist, because certain words or mathematical signs are meaningful. There are two interlinked aspects of this traditional account of meaning that Wittgenstein is intent to dispute in the opening sections of the Philosophical Investigations. The first is the assumption that there must be
2175 a ubiquitous account of meaning, that is the assumption that in every instance describing the meaning of a word or expression must proceed in the same way. “When we say: ‘Every word in language signifies something’ we have so far said nothing whatever; unless we have explained exactly what distinction we wish to make” (PI: 13). The second is that in every case meaning is the object signified. There are accounts of meaning, such as that of St Augustine, that presuppose that the meaning-giving objects are material things. But there are also accounts of meaning which presuppose that the objects in question are mental entities, perhaps mental images, or private feelings. To defuse the power of the signified-object account of meaning we must break the grip of a certain picture of how meanings are learned. Of course meanings are sometimes learned by the teacher pointing to an object that is to serve as an exemplar. But this bald way of describing meaning acquisition even in cases where it seems appropriate conceals a great deal. I point to a fruit and say “apple”. The child under instruction looks at the fruit and copies me, saying, as best it may, “apple”. But an apple, like any material thing, is the site of a great many attributes, and belongs to a great many classes of things. How is it that the child grasps that it is not the color I wish it to attend to, nor the spherical shape, nor the size, nor its being a fruit, and so on? Nothing in the simple joint act of pointing and saying will fix the attention of the learner on what the teacher intends to exemplify. As Wittgenstein says, “a great deal of stage setting is presupposed in such a technique”. Before this pedagogical problem can be resolved we need a firmer grasp on how words are used, in particular we need to see clearly that words are not used only to pick out things. Wittgenstein’s way of achieving this is to describe a seemingly very simple example of language in use (PI: 1). I want to buy some apples. I say to the stall-holder, Hans Apfeltorte, “Five red apples, please”. In reading this passage I cannot but imagine that we are in Salzburg and what I actually say is “Fünf rote Äpfel bitte”. We are asked to imagine how Hans might proceed. He has learned “Apfel” as the name of a kind of fruit, so he knows in which part of the stall to begin. He has a sample color chart, against which he matches apples, picking out red ones. As he does this he counts “Eins, zwei, drei, vier,
2176 fünf”. We do not learn how to use “red” or its German equivalent by the teacher naming anything, rather we learn which of an integrated set of color samples is the one to pick out red things. Nor could we learn the numerals as names. It is clear in the example that the numerals are used to control a procedure in which their sequential order plays an essential part. What does this deceptively simple example show? With this and other examples Wittgenstein drives home two main points: (1) The only general thing that can be said about meaning is that we come to understand a meaning by describing a use. This thought is concretely expressed in the image of the tool-box. Words are tools, and tools have all sorts of uses and functions. “Think of the tools in a tool-box: there is a hammer, pliers, a saw, a screw-driver, a rule, a glue-pot, glue, nails and screws. ⫺ The functions of words are as diverse as the functions of these objects” (PI: 11). (2) We cannot tell from the form of a word what is its function. Similar ‘looking’ words may have widely different functions, and different ‘looking’ words may have similar functions. This thought is concretely expressed in the image of a locomotive cab with its various levers, which, though they look alike, function in very different ways (PI: 12). Both points were central to the philosophical work of the Oxford philosophy school. Austin’s (1965) identification of “performative utterances”, acts of speaking with which various social, legal and psychological tasks are performed, led him to comment frequently on the variety of things we do with words. Both Austin and Ryle were sensitive to the way that commonality of form can conceal difference in function. Ryle (1947) argued that though the phrase “a belief” looks very like the phrase “a penny” its ‘logical grammar’, or rules of use, is very different. Beliefs in the mind are not hidden objects in the way that pennies in the pocket are. They refer to dispositions to say and do certain things. 2.2. Learning a language: How is it possible? We can now return to the question shelved earlier. How is the stage set for learning a word by displaying an example? There are two aspects of this preparation. A variety of samples, differing along other dimensions
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than the similarity we want to draw attention to, can go some way to disambiguating pointing. But more importantly, words are not learned in isolation from other activities, particularly practical ones. In the famous block-slab game (PI: 2) Wittgenstein illustrates the way that words and actions form a coherent whole, a language game. In learning a vocabulary we are learning a repertoire of procedures, within which words play distinctive roles. “Slab” when uttered by the builder to his assistant, in the language game Wittgenstein imagines, is not just a way of verbally pointing out a particular item of bricolage, it is an instruction to the assistant to bring one. But it is not short for “Bring a slab!”. The language game exhausts the verbal resources of the builder and his assistant. The function of the word “slab” is to alert the builder’s assistant to what is wanted, that it is wanted and so on. Once we see the use of a word in the activity in which it has a practical role, we are no longer tempted to try to account for its meaning wholly in terms of the model case of name and object named. 2.3. Meanings are not mental entities Some philosophers and even some linguists, for example, Saussure (1969: chapter 2, section 2), have tried to account for the meaningfulness of words and explain what meaning is, by reference to the mental images that accompany the use of words (cf. Art. 101). So the meaning of “gun” is, for me, the mental image which accompanies my use of that word, and for you, your mental image. In so far as these images are similar the word has a common use. This is usually proposed along with the ‘conduit’ theory of communication, that I encode my mental image or state in words, send them to you via some medium, say speech, and you then decode them, bringing to life a mental image or state in your mind. In so far as these are similar to one another then the communication is successful. But this is hopelessly wrong. Since it is logically impossible for us to compare our mental images, how could anyone ever know whether they had communicated correctly? If you answer, by what people subsequently do, then you might as well drop the mental image out of the story, as Wittgenstein advises in his famous example of the alleged beetle that everyone claims to have in his or her closed box (PI: 293). What counts is the similarity of language games, not the similarity of
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy
images, if any. Furthermore an image by itself does not mean a thing. It is just as much in need of interpretation as meaningful, as the word it is meant to explain. The image theory simply resites the problem, but in an arena in which it is unexaminable! If the diagnosis of the genesis of philosophical impasses and absurdities is that they arise through misunderstandings about the uses of words and other semantically active signs, then the cure will be to describe how these words are used, to spot the moment at which the philosophers’ implicit account deviates from the role a word has as a meaningful part of a language game and slips into nonsense. The upshot will be a set of rules of use. 2.4. The notion of ‘rule’ Why “rules”? Well, this word brings to mind the fact that the uses of words are not only intentional, that is point to something beyond themselves, but also subject to norms, that is at any moment the intelligibility of a language game depends on people using the words in the same way. We could, perhaps, call this, for that moment in the history of a language, the correct use. But we can easily slip into philosophical errors about rules. The most serious would be to suppose that people act correctly because that are caused to do so by certain mental agents, the rules they have learned. Wittgenstein takes considerable pains to break down this image too. In another famous example, that of the pupil learning to do simple addition, he points out that there is nothing impossible about the pupil acknowledging the rule, but then making a mistake in its use, even the kind of mistake that involves a false assumption about the conditions under which the rule should be followed (PI: 185). Rules, says Wittgenstein, are not like tram lines laid down into the future. They do not cause conformative behavior, rather their role is to help us determine which of the actions people have performed in a certain context and for a certain purpose are correct. Of course we would be very silly not to train people to act habitually in such a way that would accord with the rules. But their conformity derives causally from the training, not from the rules. But from whence comes the force of rules? What gives the description of a certain use of words a paradigm quality? “ ‘How am I able to obey a rule?’ If this is not a question about causes, then it is about the justification for
2177 my following the rule the way I do. If I have exhausted the justifications I have reached bedrock, and my spade is turned. Then I am inclined to say ‘This is simply what I do’ ” (PI: 217). It is only in a language game that a word gets its meaning. To break the rules of language is not to say something false, but to say nothing at all. This principle, which we might say highlights the boundedness of language, in one way or another is central to both Wittgenstein’s early and his later philosophy. In the Tractatus the rules of language are the rules of logic (cf. Art. 103 § 4.4.). These correspond to the tautologies. While a tautology is always true no matter in what context it is asserted, it seems at first sight that the negation of a tautology, expressing a self-contradiction, must be false in all contexts. But that is a superficial inference. The tautologies define the boundaries of meaning, and self-contradictions may give the illusion of being meaningful but they are strictly nonsense. In Wittgenstein’s very last work, On Certainty (1969), a principle very much like the nonsense principle of the Tractatus is ruthlessly employed to distinguish between those propositions of which I can claim to be certain, but which I must be able sensibly to doubt, and thus whose negations are meaningful, and those which, though indubitably true yield nonsense when negated. I cannot properly say I am certain of them, since there is nothing meaningful which I must be able to entertain in order to be able to doubt them. “If Moore were to pronounce the opposite of those propositions which he declares certain [for instance ‘I know I have two hands’], we should not just not share his opinion: we should regard him as demented” (Wittgenstein 1969). Once again we find the same principle at work, by which the bounds of sense are determined. They cannot be determined by comparing what is outside with what is inside, since there is nothing intelligible outside to form the basis of comparison. Once again, we look to rules. It is the rules, more liberally interpreted than in the austere logic and grammar of the Tractatus, that fix, in advance, what is to make sense and what does not. Rules report the authority of established language games. But what were criteria of meaningfulness in one context may simply be abandoned as language and forms of life develop. We abandon old language games and develop new ones. The old language game of medical “humors” (cf. Art. 56 § 2. and Art. 60 § 2.) has disappeared, leaving a
2178
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
faint trace still in our speech, in words and phrases like “a fit of bile”, “a choleric person”, “an ill-humored debate” and so on, though these are used in ways related to their original uses only by long and tenuous chains of family resemblances. New language games enter the culture from time to time, for example as we gradually come to terms with “net surfing”, “booting up”, “crashed hard discs” and all the rest. The spread of this terminology into psychology by courtesy of the Artificial Intelligence movement has engendered a rich crop of philosophical garbage, ripe to be rooted out by the use of the techniques of Ordinary Language Philosophy restoring the ordinary language of computing machine use to its proper home.
3.
Some examples of Ordinary Language Philosophy arguments by other philosophers
3.1. The paradigm case argument (PCA) This argument has been used against such claims as the thesis that all human action is determined and therefore our actions are not freely chosen. In order for a word to have a use there must be a situation in which it is introduced, a paradigm case (cf. Art. 107). Any proposition that uses the word according to the paradigm case exemplar cannot in that case be false. Apropos of the freewill/ determinism debate, there are paradigm cases in which expressions like “chosen freely” are explained or illustrated. An example cited by Flew (1963) is the case of the smiling bridegroom. To understand “He chose freely to marry her” we simply need to compare the case of a bridegroom cheerfully standing up to be married with the case in which the father of the bride stands behind the gloomy bridegroom with a shotgun. We shall see that this is very similar to Wittgenstein’s use of the concept of ‘primary language game’ to defuse other seemingly thrilling philosophical theses. 3.2. Austin’s trouser-word argument (TWA) The title of this move in philosophy comes from the old metaphor that the one who has power in the family is “he or she who ‘wears the trousers’ ”. With apologies for its political incorrectness let me sketch it like this: philosophers are led into empty pursuits and tempted into fantastic ontological suppositions by paying attention only to the positive side of a pair of concepts. For instance, ac-
cording to Austin (1961: 128) (and he echoes points made as long ago as Thomas Hobbes’ Leviathan; cf. Art. 62 § 8.2.1.), the meaning of the word “free” is fixed context by context by whatever form of constraint its use excludes. So it might appear in the word “uhuru”, “freedom from colonial rule”, it might be in the description of Floristan’s release in Beethoven’s Fidelio, no longer constrained by the gaol and the gaoler, or in Harold’s signing away his kingdom to William of Normandy, when we say “He did not sign freely” meaning he was constrained by William’s threats, and so on. There is no one thing that “free”, “liberty” or “freedom” always mean. What they mean is dependent on context, and fixed by what form of constraint their use precludes. Austin (1962) famously applied the TWA to the uses of the word “real”. There is no positive, universal sense to be given to this word and its various synonyms in all contexts. “Existing (being real) is not like breathing, only quieter” Austin once said. Sometimes “real” means ‘genuine’, that is ‘not fake’ or ‘not forged’. Sometimes it means ‘concrete’, that is ‘not imaginary’, and so on. So if someone asks the question “What is reality?” we do not know how to answer since no context has been specified. Trying to answer such questions (“What is freedom?”) is bound to lead to nonsensical answers. This argument is similar in spirit and analytical force to Wittgenstein’s use of the idea of meaning as field of family resemblances. Both arguments stand opposed to the assumption that because the one word is used in a variety of cases there must be a common essence to these cases.
4.
Wittgenstein’s main contributions to the technique of therapeutic dissolution of linguistic illusions
4.1. The private language argument (PLA) Having a theory about how words must mean, in particular the theory that all words must mean by virtue of the objects which they name, leads to some well known philosophical puzzles. On this view words for private sensations must have acquired their meanings as names for private sensations. But how is that possible? The learner cannot compare his or her private sensations with those of the teacher, nor the teacher with the learner, to be able to tell whether the learner is using the word correctly. Reflecting on this
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy
puzzle, as a problem engendered in part by the theory of words as names, led Wittgenstein to the insight that the relation between private experience and public acting and speaking in regard to that private experience, cannot be mediated by meanings as objects signified by the words used. This is the first conclusion from his famous private language argument (PI: 243⫺315). The idea that all words get their meanings in the way that proper names do, by a public act of pointing to the entity to which the name is to be ‘attached’, leads straight into difficulties, if we try to explain how words for private sensations, such as “itch”, “pain”, words for the hues of colored surfaces, and so on, get their meanings. We simply could not learn such words if meaning could be established only by pointing because our teacher could never know whether we were inwardly pointing to the right feeling, nor could we know what the teacher meant because we could never know to which private feeling the teacher was inwardly pointing when he or she uttered the word “itch”. Either we do not really communicate about our personal states, or there is something wrong with the ostension theory of meaning. But we do communicate perfectly well about how we feel. I can make clear to others, by what I say, “how it is with me”. This powerful argument establishes not only that the naming theory of meaning fails as a general account of language, but that there can be no private language in Wittgenstein’s sense, that is a language the vocabulary of which is made meaningful by the person whose language it is, by attending to private feelings as exemplars of meaning. The argument shows not only could there be no language with which people could converse built up by acts of ostensive meaning giving, but that one could not even understand one’s own words, if one thought of them as so established. Stability of meaning through the passage of time and shifts of context must be established in some other ways. For the most part Wittgenstein observed that material things, persisting from day to day, could serve as exemplars to stabilize a vocabulary even for a solitary cast-away. Of course in everyday life we are kept up to the linguistic mark by other speakers of the language. However it would be a serious mistake to think that Wittgenstein is offering some kind of communitarian account of meaning, as that which is fixed by public consensus. A
2179 word is meaningful if it can be learned by others, but that does not depend on the existence of an actual community to have a meaning. A solitary speaker can establish and stabilize a meaning by the use of a material thing as an exemplar, embedded in some practice, the whole constituting a primary or meaning-establishing language game (cf. Art. 84 § 4.). But there are no public material things that could be incorporated in suitable language games as exemplars of private feelings. How is the meaning of the everyday vocabulary of feeling and sensation established? There must be a natural expression of feelings, a feature of human ethology, upon which a linguistic superstructure can be erected. But how? According to Wittgenstein one important case is where a verbal expression is substituted for a natural expression, the words “I am in pain” or “That tickles” becoming established as alternatives to groaning or laughingly writhing as expressions of how one feels. These are public acts and their grounding in the natural history of humankind guarantees their regularity as exemplars capable of stabilizing usage. This suggestion has a very important corollary. We must enlarge our conception of how language is related to what an utterance is about. There are descriptions, statements which are independent of what they describe, and which can be right or wrong. In other words there can be evidence for or against a putative description. But this picture of language use will not do for the expression of private experience. To be in pain is a complex but unitary state, including the having of an unpleasant feeling and the tendency to groan. The groan is not a description of the feeling but an expression of it. So when we have discursively transformed the groan into a verbal avowal the same grammar applies. “[…] words are connected with the primitive, the natural, expressions of the sensation and used in their place” (PI: 244). Saying “I am in pain” is not a description of a private feeling but an expression of it, bearing the same relation to the private feeling as did the groan it replaced. To be in pain is to experience an unpleasant feeling and to be disposed to say such things as “I am in pain”. When someone pretends to be in pain we should not say that they are speaking falsely, but that they are acting insincerely. To pretend to be in pain is a moral fault, not an epistemological prevarication. The unpleasant feeling is not evidence
2180 for an empirical judgement, which one might get right or wrong. It is not like the purple color of a fruit that might, rightly or wrongly, be used by me as evidence that the thing in the fruit dish is a plum. The PLA has yet another aspect or corollary of great importance. The ostension theory of meaning not only requires there to be an act of pointing, like a baptism, in which word and thing are ritually juxtaposed in a meaning giving moment, but assumes there is a thing to be pointed out as the meaning. So the original thought that there could be a private language in which words for sensations were ceremonially juxtaposed to sensations assumes that sensations are a kind of object, private, mental things. This aspect too Wittgenstein subjects to searching criticism. Things are subject to certain ontological conditions of qualitative and numerical identity. If sensations were things we should be able to say whether two instances were the same or different, in two senses: had the same attributes (for which they would need to be compared) and persisted as the same being through time (for which their present and past or future states would need to be compared). By means of a series of thought experiments Wittgenstein shows that “same pain” cannot be interpreted according to the criteria of qualitative and numerical identity that “same apple” can. There is no way in which the pains of two people or the pain I had yesterday and the one I have today could be compared, side by side so to say. A sensation, Wittgenstein remarks, “[…] is not a something, but not a nothing either” (PI: 304). So “same pain” in the interpersonal and in the intrapersonal context cannot be judged in the same way as the sameness of thinglike beings are judged. But we do, rightly and coherently, use the expression “same pain” in lots of everyday situations and frequently in medical consultations. Drawing on the two phases of the argument above, we can anticipate Wittgenstein’s account: “same pain” is meaningful only in an appropriate range of language games, displaying that kind of variety that he called “family resemblance”. 4.2. Meaning as “family resemblance” Austin’s technique of shifting attention from an assumed common positive meaning for a philosophically important expression to the variety of things it is used, context by context, to rule out, has alerted us to the dangers of making essentialist assumptions in re-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
flections on language use. While we would be right to explain the uses of “chlorine 35” along essentialist lines, would we be right to explain the uses of “rule”, a philosophically potent expression along similar lines? “Rule” is used in a great many important contexts, from “rule of law”, through “off-side rule” to “rule of etiquette” and “rule of grammar”. Must there be something common and essential that justifies the use of the same word in every context? Wittgenstein’s point is not that there are never essences, but that it is a serious mistake to infer from the common appearance of the word employed that there must be an essence. Let us carefully describe this range of uses before we rush in with an explanatory theory based on a hypothetical entity, the supposed essence. “Mind how you go!” sums it up. We should work with the assumption that there are no essences unless a careful investigation of actual use shows us that in a certain case there is, let us say for everything properly called “potassium permanganate”. In this case, as in many others, Wittgenstein sets about converting us to his cautionary anti-essentialism by example. The famous example is the word “game” (PI: 66). If we take a couple of cases that come to mind, say rugby and lacrosse, we might be inclined to say that an activity is a game if there is a formal procedure by which a winner out of two competing teams is decided, and that in the course of this procedure rules are followed. But there are competitive games in which the competitors are individuals, such as tennis. There are games in which there are no winners, such as Oxford Summer Eights. The competition starts again next year with the teams in the positions they reached at the end of the Eights Week of the previous year. There are games where the players change the rules from time to time. There are games in which there is a solitary player, and no outcome, such as pat ball. And so on. Take any two of these activities and we can find something in common. But we can also find a third which lacks that common feature, but itself has something in common with only one of the original pair. The upshot is a complex network of similarities and differences, items in the remoter parts of which may have nothing in common. An exercise in linguistic description like this can cure us of the tendency to see something in common where there is only family resemblance.
109. Wittgenstein and Ordinary Language Philosophy
Wittgenstein’s most telling application of this technique is to families of psychological concepts, like those which we use to describe different cases of thinking about the future, such as “expect”, “hope”, “want”, “need”, “wish” and so on. Wittgenstein’s target is the assumption that there must be a common mental state characteristic of the uses of all these words, because they are all cases of thinking about the future.
5.
An example of the therapeutic power of “mere description”
How is it possible to think about the future? (PI: 437⫺445). For example how is it possible to commit oneself to a course of action tomorrow, or how is it possible to plan for the coming month, to order the dish one wants in a restaurant and so on? There are two major philosophical issues involved in these questions. What is the status of events that are “yet to come”? How is it that words and images in what we think or say now, have a meaning in which something that has not yet happened seems to be an essential ingredient? We have an enormous vocabulary to express various kinds of thoughts about the future. For example “expecting something to happen”, “hoping someone will come”, “wishing the weather would change”, “wanting the weather to change”, “waiting for an order in a restaurant” and so on. There are two bad grammatical pictures waiting to mesmerize us. In one the future event gives meaning to the present thought or utterance. In the other the thought or utterance is given meaning by a concrete image of what it is that, if it happened, would fulfil our wants, desires, expectations, etc. The former presupposes an atemporal ontology of events, the picture of time as a river; the second presupposes the psychological thesis that fulfilling an expectation is a kind of matching, between what was expected and what will happen. The latter would have the curious consequence that if what we hoped for did not happen then we could not have been hoping for it! I order a helping of Tin Roof Fudge Pie, and the server returns with the bad news that they are “fresh out of it”. Was I then not expecting the pleasure of consuming it since the slice I hoped for did not exist? Surely not. By assembling a series of reminders as to the details of the language games of expect-
2181 ing, hoping, wishing and so on, Wittgenstein undermines the seductive character of these pictures. I, for one, think that he himself tacitly offered us a picture, and despite the warnings of Wittgenstein himself against such things I shall be bold enough to set it out. There are two main sets of examples that do the work. One set is designed to undermine the idea that there is just one thing that all these ways of thinking about the future have in common, namely the entertaining of a mental image of what the future will be like. But, Wittgenstein reminds us, the language game of hoping involves very various actions and thoughts, in some of which I am imagining a future event, and in some of which I am not. I can be properly said to be hoping someone will come all day, even when I am not thinking of my visitor’s future arrival. The other set of examples undermines the idea of an exact fit between what is expected and what actually ensues. I say “I am expecting an explosion”. Am I expecting it to be just this loud, and if it is not should I then say I was not expecting it? Evidently not. The point becomes very clear in an example from everyday life (not one of Wittgenstein’s). I go into an ice cream parlor and order a banana fudge sundae. This is one of those ice-cream parlors where the menu is illustrated with photos of the items on the menu. I note that the picture of what I have ordered has seventeen chocolate spangles arranged in a double spiral. My sundae comes and I count the spangles ⫺ sixteen in two ovals! Would it make sense for me to cry “That’s not what I ordered! Take it away!”? ⫺ I think the thrust of Wittgenstein’s analysis would say no (cf. the treatment of exemplification by Nelson Goodman; Art. 121 § 6.). The photograph specifies the kind of thing available, not the very thing. Expectations, hopes, wants and wishes are specifications of the kind of thing that would satisfy them. They have much in common with rules, which, we have noticed, do not cause things to happen but specify what should be the correct thing to happen. In the example of the boiler that after all explodes, however carefully the engineers have designed it, Wittgenstein reminds us that nothing we do now could determine just what happens. Our determinations and our expectations are for kinds of events. Current expectations, hopes and so on are related to the events that do actually occur only very indirectly. They are related through the event
2182
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
and what I expect being instances of the same kind of happening, ceteris paribus. Having described a wide variety of language games, bearing various family resemblances one to another, Wittgenstein seems to imply that attention to the details of these thinking-about-the-future practices shows that the logical grammar of expecting, hoping, wishing, wanting and so on, is very diverse. The main distinction relevant to this context is between the use of a word to express my current state, be it a muscular tension or a mental image or an unspoken but verbalized thought, and one to ascribe to myself a disposition to do one of some bounded variety of things. Of the list above, “wanting” seems to be the most clearly expressive of a ‘state of mind’, while “hoping” seems to be the most dispositional. “Wishing” is a rather complex language game when we look at it closely, since there is a hint of magical efficacy, a hint that is exploited in fairy-tales. Those who get three wishes bring things about by making them. There is no hint of this sense in the way we use “expecting”.
bly, in “cognitive science” (cf. Art. 74 § 17.) all the old nonsense about “mental states” has continued to be promulgated (cf., e. g., Metzinger 1995). When trying to express in a phrase what he thought his work was to accomplish, Wittgenstein wrote (PI: 309) “What is your aim in philosophy? ⫺ To shew the fly the way out of the fly-bottle.” Far too many flies are still caught within the web of their own misunderstandings of the grammar of their language.
7.
Selected references
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The legacy of Ordinary Language Philosophy
Brown, Harvey R. and Rom Harre´ (1990), Philosophical Foundations of Quantum Field Theory. Oxford: Clarendon Press.
Many of the lessons taught by the Ordinary Language Philosophers have been assimilated into philosophical practice, sometimes by authors who have little idea from whence they come. In the philosophy of science, for example, recent discussions of the ontology of esoteric physical theories have been marked by close attention to the way concepts, both mathematical and discursive, are actually used by practising physicists (Cartwright 1983; Brown and Harre´ 1990). Couple these indirect influences with the outpouring of a huge number of studies of all sorts of aspects of Wittgenstein’s thought (and user friendly collections such as Kenny 1994), and one would think that the philosophical errors of the past would now be behind us, and those of the present already under treatment (Bouveresse 1992 and von Savigny 1992). But unfortunately that is far from true (Hacker 1996). Formal analyses, as crass as those Wittgenstein rejected from his own Tractatus, remain common (cf. Lauener 1992). Heads are still being knocked against such questions as the nature of consciousness, our justification for believing we have some knowledge of the future, and, depressingly and regretta-
Cartwright, Nancy (1983), How the Laws of Nature Lie. Oxford: Clarendon Press.
6.
Dascal, Marcelo, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz and Georg Meggle (eds.) (1992⫺96), Philosophy of Language: An International Handbook of Contemporary Research. 2 vols. Berlin and New York: de Gruyter. Flew, Anthony G. N. (1963), Logic and Language: First Series. Oxford Blackwell. Hacker, Peter M. S. (1972), Insight and Illusion. Oxford: Clarendon Press, Revised edition 1986. Hacker, Peter M. S. (1996), Wittgenstein’s Place in Twentieth Century Analytical Philosophy. Oxford: Blackwell. Kenny, Anthony J. P. (1994), A Wittgenstein Reader. Oxford: Blackwell. Lauener, Henri (1992), “Das Formalsprachenprogramm in der Analytischen Philosophie”. In Dascal et al. 1992⫺96: 825⫺858. Metzinger, Thomas (ed.) (1995), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Paderborn: Schöningh. 2nd edition 1996. Moore, George E. (1922), Philosophical Studies. New edition London: George Allen and Unwin 1953. Ryle, Gilbert (1947), The Concept of Mind. London: Hutchinson.
2183
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Waismann, Friedrich (1968), How I See Philosophy. London: Macmillan.
Rom Harre´, Washington DC (USA)
110. Jakob von Uexkülls Umweltlehre 1. Zur Person 2. Die Voraussetzungen seiner Lehre 2.1. Die Einheit des Lebensprozesses 2.2. Zeit als Rhythmus des Lebensprozesses 3. Der Funktionskreis als Modell für den Zeichenprozeß 3.1. Ein Instrument für den Beobachter biologischer Semiosen 3.2. Die Zecke als Interpret ⫺ Der Funktionskreis 3.3. Kontext und Kode 4. Autonomie und die Begriffe innen und außen 5. Semiotik und Biosemiotik 6. Literatur (in Auswahl)
1.
Zur Person
Jakob von Uexküll (1864⫺1944) hat in Dorpat (heute Tartu) Zoologie studiert und dann am physiologischen Institut in Heidelberg und an der meeresbiologischen Station in Neapel über nervenphysiologische Probleme gearbeitet. Er ist einer der Begründer der modernen Verhaltenslehre (Ethologie), die dann von Konrad Lorenz und Niko Tinbergen im Sinne einer Verhaltensphysiologie verstanden und weiterentwickelt wurde. 1924 (im Alter von 60 Jahren) wurde ihm von der Universität Hamburg die Möglichkeit gegeben, ein Institut für Umweltforschung zu gründen, unter der er Verhaltensbiologie in seinem Sinne verstand (vgl. Art. 85 §§ 3. und 5.).
2.
Die Voraussetzungen seiner Lehre
2.1. Die Einheit des Lebensprozesses Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt seiner Lehre ist weder objektivistisch noch subjektivistisch, sondern, wie man heute sa-
gen würde, „systemisch“ (vgl. Art. 19 § 8.). Das heißt, er verstand den Lebensprozeß als einheitliches Geschehen, innerhalb dessen sich Subjekt und Objekt als aufeinander bezogene Elemente eines übergreifenden Ganzen definieren. Der positivistische Objektivismus wurde von ihm ebenso wie der idealistische Subjektivismus als Metaphysik abgelehnt. Historisch knüpfte er mit seiner Lehre an Kant und Konzepte der romantischen Naturphilosophie an, die Schelling in Weiterentwicklung der Lehre des schottischen Arztes John Brown (1786) und deren deutscher Übersetzung durch Andreas Röschlaub (1806⫺7) als „Synthesis“ der kreativen Kräfte des Organismus und der Einwirkungen seiner Umgebung formuliert (Tsouyopoulos 1979), und die der Physiologe Johannes Müller (1801⫺1858) zu dem Gesetz der „spezifischen Lebensenergie“ ausgebaut hatte. Die damit verbundene Tradition war vor allem durch Karl Ernst von Baer (1792⫺ 1876), den Entdecker des Säugetiereis und der Keimbahn, in betontem Gegensatz zu der inzwischen vorherrschenden positivistischen Einstellung der damaligen Naturwissenschaften weitergeführt worden. Uexkülls Definition für das Objekt modifiziert die Definition des offenen Systems, das im Unterschied zu einem geschlossenen System mit seiner Umgebung in Wechselwirkung steht. Da jede Beobachtung Wechselwirkungen zwischen dem Beobachter und dem beobachteten System voraussetzt, können definitiv geschlossene Systeme nicht beobachtet werden. Über sie läßt sich gar nichts aussagen, nicht einmal ob sie existieren (Zucker 1974). Man kann daher niemals Ob-
2184 jekt allein, sondern immer nur Wechselwirkungen zwischen Subjekten (auch Beobachtersubjekten) und Objekten untersuchen (vgl. Art. 21 § 10.). Die Vorbedingungen, die Objekte für eine Beobachtung erfüllen müssen, hat Uexküll durch die Hervorhebung des Beitrags ergänzt, den Subjekte auf Grund ihrer artspezifischen rezeptorischen und effektorischen Aktivitäten in jede Interaktion zwischen Objekten und Subjekten einbringen. Daraus hat er sein Konzept der „artspezifischen Umwelten“ entwickelt, die durch deren artspezifische rezeptorische und effektorische Kapazitäten ⫺ Uexküll sagt dafür „Merken“ und „Wirken“ ⫺ definiert sind (vgl. Art. 19 § 2.). 2.2. Zeit als Rhythmus des Lebensprozesses Der Ausgangspunkt von der komplementären ⫺ Uexküll sagt „kontrapunktischen“ ⫺ Zusammengehörigkeit von Subjekt und Objekt, die jeden Subjektivismus vermeidet, hat Konsequenzen für seinen Zeitbegriff: Als Rhythmus oder Struktur des Lebensprozesses ist Zeit weder subjektiv noch objektiv, sondern immer beides in Verschränkung. Um diesen Gedanken anschaulicher zu machen, will ich auf zwei Gebiete hinweisen, auf denen das Problem Subjektivität/Objektivität der Zeit eine ebenso wichtige wie kontroverse Rolle spielt. (1) Das erste Gebiet betrifft den Zeitbegriff in der Physik. Hier geht es um das ungelöste Problem, wie die erlebte Zeit mit ihrer unwiederbringlichen Vergangenheit und ihrer offenen Zukunft mit der physikalischen Zeit in Zusammenhang gebracht werden kann: „Müssen wir die Strukturen der gelebten Zeit in der Physik stets voraussetzen, oder zeigt uns umgekehrt die Physik (deren Grundgleichungen invariant sind in Bezug auf die Umkehrung des Zeitparameters bei gleichzeitiger Umkehr der Anfangsimpulse), daß die wahre Zeit eine symmetrische sei und die gelebte eine subjektive Zutat?“ (Zucker 1974). (2) Das zweite Gebiet hat nur vordergründig nichts mit dem Zeitproblem zu tun. In Wirklichkeit hängt es eng mit ihm zusammen. Es ist das Gebiet der Informations- und Wahrscheinlichkeitstheorie. Hier vertreten bedeutende Wissenschaftler den Standpunkt, Wahrscheinlichkeiten seien lediglich als subjektives Nicht-Wissen zu verstehen. Was die Physiker an dieser Interpretation stört, ist nicht der Determinismus, der die Offenheit der Zukunft leugnet, sondern, wie Zucker
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
(1974) schreibt, zweierlei: „Einmal scheint […] bei dieser Sachlage die auf den Wahrscheinlichkeitsbegriff bauende Physik von Graden des persönlichen Glaubens der Physiker zu handeln, also von Physikern und nicht von physikalischen Objekten; und dann ist man unfähig, wenn Wahrscheinlichkeit nur persönliches Unwissen bedeutet, ein Unwissen aus mangelnden Kenntnissen von einem Unwissen, das durch keine weiteren Kenntnisse behoben werden kann, zu unterscheiden.“ Es ist für die cartesische Spaltung der Gegenwart in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften symptomatisch, daß bei den Diskussionen des Zeitbegriffs auf der einen Seite Philosophen zu Wort kommen, die sich, wie Bergson, Husserl und Heidegger (vgl. Art. 103 §§ 2. und 3.), mit dem Zeiterleben des Menschen befaßt haben, und auf der anderen Seite Physiker, die den Zeitbegriff für die Messung und die Darstellung ihrer Ergebnisse definieren (vgl. Art. 84), daß aber die Beiträge über die biologischen Grundlagen der Zeiterfahrung unerwähnt bleiben. Das macht die Diskussion unergiebig, denn der Beitrag der Biologie überwindet die Alternative einer subjektiven oder objektiven Position und beweist die Nicht-Umkehrbarkeit und Offenheit der Zeit durch den Nachweis ihrer semiotischen Grundlagen. Baer hat schon 1862, also vor der Erfindung des Kinematographen, auf Grund rein biologischer Überlegungen auf die Relativität der Zeit in Abhängigkeit von biologischen Faktoren hingewiesen und von diesem Gesichtspunkt aus das Prinzip des Zeitraffers und der Zeitlupe entwickelt. Er hat auch bereits die kleinste Zeit-Einheit theoretisch postuliert und „Moment“ genannt. Uexküll hat diesen Gedanken weiter entwickelt, indem er zeigte, wie die prinzipiell offene Zukunft alle Lebewesen zwingt, sich mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitskalkulationen zu orientieren, indem sie ihre Zukunft unter dem Aspekt ihrer biologischen Bedürfnisse einschätzen. Wahrscheinlichkeitskalkulationen, die Gegenwart als Hinweis auf ⫺ oder als Zeichen für ⫺ Möglichkeiten künftiger Bedürfnisbefriedigung interpretieren, sind aber Zeichenprozesse bzw. Semiosen. Das ist die Basis, auf der Uexküll seine Zeichenlehre entwickelt hat. Für sie fungiert Gegenwart als Zeichen (oder Signifikant) und Zukunft als das Bezeichnete oder Signifikat. Die zeitliche Struktur ist in der Definition, die Leibniz für die Semiose gegeben hat,
110. Jakob von Uexkülls Umweltlehre
schon angedeutet: „Das Zeichen ist ein Wahrgenommenes, aus welchem man die Existenz eines Nicht-Wahrgenommenen schließen kann“ (Nöth 1985: 26). In Uexkülls Definition des Zeichenprozesses wird die Zeitstruktur der Semiose unübersehbar: „Merken“ (der Empfang und die Dekodierung von Zeichen) wird als „Bedeutungserteilung“ im Hinblick auf eine in der Zukunft zu erwartende „Bedeutungsverwertung“ definiert. Mit der Bedeutungsverwertung wird die „Richtigkeit“ der Bedeutungserteilung und der mit der Bedeutungserteilung gestellten Prognose getestet. Da auch die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt (als Instanz der Bedeutungserteilung und als Gegenstand der Bedeutungsverwertung) eine Zeichenbeziehung ist, d. h. eine zeitliche Struktur hat, ist die Frage sinnlos, ob diese Beziehung subjektiv oder objektiv sei. Sie kann nur (für das Subjekt) richtig oder falsch sein. Die von biologischer Art zu biologischer Art wechselnde Zeiterfahrung hat einen tiefgreifenden Einfluß auf das Erleben der Außenwelt (der artspezifischen Umwelt). Das hat Baer schon 1860 in seinem berühmten Vortrag „Welche Auffassung der Natur ist die richtige?“ (erschienen 1862) eindrucksvoll dargestellt. Uexküll (1936) hat den „Moment“ als die Zeitspanne definiert, in der Früher und Später noch nicht oder nicht mehr unterschieden werden, und ihre Größe beim Menschen und bei verschiedenen Tierarten gemessen. Während sie beim Menschen etwa 1/18 Sekunde beträgt, ist der Moment der Schnecke viermal so lang, beim Kampffisch dagegen dreimal so kurz. Daraus dürfen wir schließen, daß in der Umwelt der Schnecke alle Bewegungsvorgänge viel schneller ablaufen als in der unsrigen (im Zeitraffertempo), beim Kampffisch dagegen viel langsamer (im Zeitlupentempo).
3.
Der Funktionskreis als Modell für den Zeichenprozeß
3.1. Ein Instrument für den Beobachter biologischer Semiosen Mit der Messung des Moments läßt sich eine Grundgröße für den Ablauf von Zeichenprozessen bei lebenden Systemen bestimmen. Das ist für die Analyse von Zeichenprozessen bei verschiedenen Lebewesen wichtig. Die Tatsache, daß die Zeichen, die verschiedene Lebewesen aus ihrer Umgebung empfangen,
2185 und aus denen sie ihre artspezifischen Umwelten aufbauen, auf Grund ihrer verschiedenen Rezeptoren und Effektoren („Merk- und Wirkorgane“ in Uexkülls Terminologie) artspezifisch verschieden interpretiert werden, und daß die Zeichenprozesse artspezifisch verschieden rasch ablaufen, ist von grundsätzlicher Wichtigkeit: Sie macht klar, daß Aussagen, die wir (als menschliche Beobachter) über Zeichenprozesse machen, die nicht bei uns selbst, sondern bei anderen Lebewesen ablaufen, Interpretationen von deren Interpretationen, das heißt Metainterpretationen, sind (vgl. Art. 21 § 10.). Neben der dynamischen Zeitstruktur, die Zeichenprozesse als Orientierungsmittel für Lebewesen in einer offenen Zukunft besitzen, hat Uexküll die Metaposition des menschlichen Beobachters klar herausgearbeitet. In diesen beiden Punkten unterscheidet sich seine Zeichenlehre von Zeichenlehren, die sich auf menschliche Zeichenprozesse beziehen, das Problem des Anthropomorphismus aber nicht reflektieren und die Beziehungsstruktur zwischen den Elementen einer Semiose statisch auffassen (wie z. B. bei Ogden und Richards (1923) als Dreieck; vgl. Art. 5 § 3.2.6.). Krampen (vgl. Art. 5 § 1.1.5.) betont, daß die meisten Modelle der Semiotik Zeichenrelationen als Zustandsbeschreibungen abbilden. Im Unterschied dazu bildet Uexküll die Beziehungen zwischen den Elementen des Zeichenprozesses als dynamisches Geschehen in Form eines Kreises ab. Das Modell, das er dafür entwickelt hat und das er als „Funktionskreis“ bezeichnet, erhebt nicht den Anspruch, menschliche Zeichenprozesse abzubilden. Es ist als Instrument konzipiert, das dem menschlichen Beobachter dienen soll, um Zeichenprozesse bei Tieren zu interpretieren (vgl. Art. 24). Er hat das Modell im Verlauf seiner Untersuchungen von Tieren, also im Verlauf empirischer Beobachtungen entwickelt. Um ihm auf diesem Weg zu folgen, will ich zunächst ein konkretes Beispiel der Orientierung eines Lebewesens als Zeichenprozeß wiedergeben und das Modell des Funktionskreises an diesem Beispiel entwickeln. 3.2. Die Zecke als Interpret ⫺ Der Funktionskreis Die Zecken (Ixodinae) ⫺ kleine, zu den Milben gehörende Insekten ⫺ leben von dem Blut warmblütiger Lebewesen. Sie können viele Monate ohne Nahrung auskommen, brauchen das Blut aber zur Entwicklung be-
2186 fruchteter Eier. Sie besitzen nur drei Rezeptoren („Merkorgane“), die drei verschiedene „Merk-Zeichen“ empfangen können: (1) Geruchszeichen, die von der Betaoxybuttersäure ausgehen, die im Schweiß aller Warmblüter vorkommt (vgl. Art. 9); (2) Tastzeichen, die auch von den Haaren des Felles eines Säugetieres induziert werden (vgl. Art. 8); und (3) Temperaturzeichen, die von der Wärme ausgelöst werden, welche unbehaarte Hautstellen ausstrahlen (vgl. Art. 11). Jedem Zeichen ist ein bestimmtes Verhalten zugeordnet, das von dem Zeichen in Gang gesetzt wird. Uexküll beschreibt den Ablauf der drei Zeichenprozesse und deren Ineinandergreifen folgendermaßen: „Die Zecke hängt regungslos an der Spitze eines Astes in einer Waldlichtung. Ihr ist durch ihre Lage die Möglichkeit geboten, auf ein vorbeilaufendes Säugetier zu fallen. Von der ganzen Umgebung dringt kein Reiz auf sie ein. Da nähert sich ein Säugetier, dessen Blut sie (als Nahrung) für die Erzeugung ihrer Nachkommen bedarf. ⫺ Und nun geschieht etwas höchst Wunderbares: Von allen Wirkungen, die von dem Säugetierkörper ausgehen, werden nur drei, und diese in einer bestimmten Reihenfolge zu Reizen. Aus der übergroßen Welt, die die Zecke umgibt, leuchten drei Reize (MerkZeichen) wie Lichtsignale aus dem Dunkel hervor und dienen der Zecke als Wegweiser, die sie mit Sicherheit zum Ziel führen“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 12).
Um das zu garantieren, schreiben die drei Zeichen der Zecke drei Handlungen vor: Der Geruch der Buttersäure löst in den Beinen der Zecke Impulse aus, die das Resultat haben, daß sie sich losläßt und von dem Ast, auf dem sie sitzt, herunterfällt. Wenn sie Glück hat, trifft sie auf das Beutetier, dessen Haare jetzt Tastzeichen liefern, durch welche das Geruchszeichen „Buttersäure“ ausgelöscht und ein Herumkrabbeln ausgelöst wird. Das dauert so lange, bis eine haarfreie Stelle der Haut das dritte Merk-Zeichen „Wärme“ aussendet, durch welches wieder das vorhergehende Zeichen gelöscht und das dritte Verhalten ausgelöst wird: Die Zecke bohrt ihren Saugstachel in die Haut des Säugetieres (über Signale als reflexartige Zeichen vgl. Art. 4 § 1.1.). „Zweifellos handelt es sich hierbei um drei einander ablösende Reflexe, die immer durch objektiv feststellbare physikalische respektive chemische Wirkungen ausgelöst werden. Wer sich aber mit dieser Feststellung begnügt, und annimmt, das Problem damit gelöst zu haben, beweist nur, daß er das wirkliche Problem gar nicht gesehen hat.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik Nicht der chemische Reiz der Buttersäure steht in Frage, ebenso wenig wie der (durch die Haare ausgelöste) mechanische Reiz, noch der Temperaturreiz, sondern allein die Tatsache, daß unter den Hunderten von Wirkungen, die von dem […] Säugetierkörper ausgehen, nur drei zu Merkmalsträgern für die Zecke werden, und warum gerade diese drei und keine anderen?“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 12).
Die Antwort lautet: Weil die Zecke kein mechanisches Gebilde ist, bei dem physikalische, chemische oder thermische Ursachen ebensolche Wirkungen hervorrufen, sondern ein Interpret, der physikalische, chemische und thermische Veränderungen seiner Rezeptoren selektiv (nach einem angeborenen Kode; vgl. Art. 16) als Zeichen interpretiert. Uexküll nennt sie „Merk-Zeichen“, die auf (noch nicht wahrnehmbare) „Merk-Male“ eines Objekts als Gegenspieler für ein bestimmtes Verhalten hinweisen. Dadurch strukturieren die drei Merkzeichen Schritt für Schritt die offene Zukunft gewissermaßen als Weg für das Verhalten der Zecke. Jeder der drei Interpretationsvorgänge ist ein einheitliches oder ganzheitliches Geschehen, ein Zeichenprozeß bzw. eine Semiose, in der die Zecke als merkendes und wirkendes Subjekt und das Säugetier als ein dem Merken und Wirken der Zecke zugängliches Objekt sich gegenseitig (als Subjekt und Objekt) bestimmen. „Das Objekt ist nur insofern an der Handlung beteiligt, als es die nötigen Eigenschaften besitzen muß, die einerseits als Merkmalsträger, andererseits als Wirkmalsträger dienen können“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 11). Das Merkmal ist für das Subjekt dadurch gekennzeichnet, daß es durch ein Wirkmal ausgelöscht werden kann. Als Modell, das den Ablauf des Zeichenprozesses als Ganzes beschreibt, hat Uexküll den „Funktionskreis“ entworfen. In ihm ist das Subjekt ein Interpret, der mit Hilfe von „Merkorganen“ (Rezeptoren) Signale aus seiner Umgebung empfängt. Je nach der biologischen Art des Interpreten (Vogel, Fisch, Säugetier, Zecke usw.) und dessen jeweiliger Verfassung als Interpretant (Hunger, Durst, sexuelle Erregung usw.; d. h. Bedürfnis, Appetenz oder Verhaltensdisposition nach Morris 1977, vgl. Art. 5 § 1.1.) wird den Signalen eine Bedeutung als Zeichen erteilt. Durch diese Bedeutungserteilung wird das Signal zum „Merk-Zeichen“ kodiert, das als ein Wahrgenommenes ein noch nicht wahrgenommenes Objekt (Nahrung, Beute, Sexualpartner usw.) beziehungs-
110. Jakob von Uexkülls Umweltlehre
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(Interpret)
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SUBJEKT
Merkorgan Wirkorgan
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weise dessen jeweiliges Merkmal als für das Wirkmal eines zugeordneten Verhaltens geeigneten Angriffsort ankündigt.
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Rezeptor (Merkzeichen) Merkmal OBJEKT Gegen(Intergefüge pretatum) Wirkmal Effektor (Wirkzeichen)
Abb. 110.1: Der Funktionskreis. „Bildlich gesprochen greift jedes Tiersubjekt mit zwei Gliedern einer Zange sein Objekt an ⫺ einem Merk- und einem Wirkglied. Mit dem einen Glied erteilt es am Objekt ein Merkmal und mit dem anderen ein Wirkmal. Dadurch werden bestimmte Eigenschaften des Objekts zu Merkmalsträgern. Da alle Eigenschaften eines Objekts durch den Bau des Objektes miteinander verbunden sind, müssen die von dem Wirkmal getroffenen Eigenschaften durch das Objekt hindurch ihren Einfluß auf die das Merkmal tragenden Eigenschaften ausüben und auch auf dieses selbst verändernd einwirken. Dies drückt man am besten so aus: Das Wirkmal löscht das Merkmal aus“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 10 f).
Das Objekt, wie wir es als menschliche Beobachter mit all seinen verschiedenen objektiv feststellbaren Eigenschaften wahrnehmen, erscheint in dem Zeichenprozeß, den der Funktionskreis abbildet, nur als „Gegengefüge“, d. h. als Verbindung zwischen Wirkmal und Merkmal, und selbst diese Verbindung tritt in den Zeichenprozeß nur als Beeinflussung des Merkmals durch das Wirkmal ein (vgl. Art. 5 § 2.1.1.). Trotzdem finden wir in dem Modell alle Elemente, die an einem Zeichenprozeß beteiligt sind, bzw. deren Zusammenwirken die Einheit einer Semiose ausmachen: Das Modell beschreibt die Rollen, die ein Lebewesen als Subjekt (⫽ Interpret), gewisse Umgebungssignale als Zeichen (⫽ Interpretandum) und die biologische Verfassung des Lebewesens als Verhaltensdisposition (⫽ Interpretant) spielen (zur Terminologie vgl. Art. 5 § 1.2.). Eine Überraschung erleben wir nur bei dem Versuch, auch das Objekt ( Interpretatum) nach den bekannten zeichentheoretischen Konzepten zu identifizieren: Für den Interpreten, in unserem Beispiel die Zecke, existiert ein derartiges Objekt überhaupt nicht (vgl. Art. 4 § 1.1.). Sein „semiotisches Objekt“ unterscheidet sich grundlegend von den statischen Objekten, die wir als beobachtende Menschen wahrnehmen. In unserem Beispiel bleibt das Säugetier, das unter dem
2187 Hochsitz der Zecke hindurchläuft, für den menschlichen Beobachter während des ganzen Beobachtungsvorganges ein stabiles Objekt mit identischen raumzeitlichen Formen. Im Unterschied dazu hat das semiotische Objekt (für die Zecke) eine Zeitstruktur, in deren Verlauf auch die räumliche Gestalt sich radikal verändert: Es entsteht und vergeht nach einem festen Programm in der Interaktion mit dem Subjekt, ähnlich wie es Piaget (1975) als Schema einer sensomotorischen Zirkulärreaktion beschrieben hat. In unserem Beispiel entsteht das Objekt zunächst als Duftwolke. Die Duftwolke verschwindet in dem Augenblick, in dem sich das Objekt in einen Wald von Hindernissen verwandelt, die der Zecke (als Haarpelz) den Zugang zu einer Wärmequelle erschweren. Sobald diese erreicht ist, verschwinden auch die taktilen Eigenschaften, und das Objekt verwandelt sich in eine warme Tankstelle. Die Schwierigkeit, das Objekt einer Biosemiose auf Grund der Erwartungen zu identifizieren, die wir aus der Semiotik menschlicher Zeichenprozesse mitbringen, kann aber auch hilfreich sein. Sie macht auf etwas aufmerksam, das in semiotischen Konzepten leicht übersehen wird: Das Objekt, das dort als Signifikat definiert wird, existiert nur in der Vorstellung des Menschen als einheitlicher, zeitlich und räumlich genau abgrenzbarer Gegenstand, d. h. es ist eine Abstraktion. Konkret ist es auch für den Menschen primär ein „semiotisches Objekt“, das als Interaktionsprogramm einen Ablauf festlegt, in dem die Offenheit der Zukunft schrittweise abnimmt, während die Wahrscheinlichkeit der im Programm enthaltenen Prognose schrittweise zunimmt. Offenheit und Wahrscheinlichkeit sind weder subjektiv noch objektiv, sondern immer beides in wechselseitiger Verschränkung. 3.3. Kontext und Kode Außer den drei Begriffen der Peirceschen Triade: Zeichen, Interpretant und bezeichnetes Objekt, sowie als viertem, dem (im Bereich der Biologie wechselnden) Interpreten, lassen sich in dem Beispiel noch zwei wichtige semiotische Begriffe identifizieren: Der Kode und der Kontext, wobei der letztere eine interessante Modifikation erfährt. Als „Kode“ der Zecke können wir ein System aus drei Zeichen beschreiben, die jeweils aus der „Sensation“ eines Rezeptors (einem olfaktorischen, einem taktilen und einem thermosensiblen Merkzeichen) und den dazu-
2188 gehörigen Verhaltensreaktionen (Wirkzeichen) bestehen, in deren Verlauf das „semiotische Objekt“ entsteht, sich wandelt und wieder vergeht. Wie die Zeichen des MorseKodes zu den Zeichen des Alphabets (vgl. Art. 16), stehen die Zeichen des ZeckenKodes in Opposition zu bestimmten chemischen, physikalischen und thermischen Vorgängen der Umgebung (Buttersäure, Widerstand von Hindernissen und Wärmestrahlung). Diese letzteren werden auch als „Signale“ bezeichnet. Uexküll nennt sie „Zeichenträger“ oder „Bedeutungsträger“. „Jede Komponente eines organischen Gegenstandes wird, sobald sie in der Rolle eines Bedeutungsträgers auf der Lebensbühne eines Tiersubjektes auftritt, mit einem, sagen wir Komplement im Körper des Subjektes in Verbindung gebracht, das als Bedeutungsverwerter dient“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 111).
Außer dem Kode, der das Repertoire der vorhandenen Zeichen enthält, finden wir eine feste Reihenfolge, welche die verschiedenen Zeichen miteinander verknüpft. Sie muß eingehalten werden, wenn die Semiosen in Gang kommen und ablaufen sollen. Das heißt, die Zeichen müssen in der Ordnung eines „Textes“ stehen, um für die Zecke überhaupt zu Zeichen zu werden. Erst muß der Duft der Buttersäure gemerkt und mit einem Sich-Fallen-Lassen beantwortet sein, ehe taktile Zeichen gemerkt und mit einem Herumkrabbeln beantwortet werden können usw. Es handelt sich also bei dieser Reihenfolge um ein „Programm“, in dem Zeichen, wie die einzelnen Töne einer Melodie, erst als solche erfaßt werden bzw. in der die einzelnen „Bedeutungen“ erst einen gemeinsamen „Sinn“ bekommen. Dieser Zusammenhang wird häufig als „Kontext“ bezeichnet. Es ist aber hilfreich, diesen Terminus für einen anderen Zusammenhang zu reservieren. Er beschreibt dann das Ensemble der Umgebungsereignisse, in die der „Text“ eingebettet ist und aus dem er das „Rohmaterial“ der Signale oder Zeichenträger bezieht, die mit Bedeutung beladen dann zu den einzelnen Zeichen werden. In unserem Beispiel steht der „Zeckentext“ in dem „Kontext“ bestimmter Ereignisse in der umgebenden Natur: Das Merkzeichen „Beute-Duft“ steht als kodiertes Signal „Buttersäure“ in dem Kontext des Erscheinens eines Säugetiers, das Merkzeichen „taktiler Widerstand“ entspricht den Hindernissen seines Haarkleides, und das Merkzeichen „warm“,
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
das die letzte Strophe des Zeckenliedes oder den letzten Satz des Zeckentextes einleitet, korrespondiert in dem Kontext der Umgebung mit einer unbehaarten Hautstelle, die sich als Zapfareal eignet. Der Text (die Melodie oder das Programm) des „Zeckenliedes“ zeigt uns die subjektive Umwelt der Zecke, in der Säugetiere als semiotische Objekte erscheinen, die aus drei aufeinanderfolgenden Zeichenprozessen bestehen. Der Kontext, den die umgebende Natur bereitstellen muß, damit der Text „aufgesagt“, oder das Lied „abgespielt“ werden kann, zeigt uns das objektive Gegenstück zur Zeckenumwelt oder das, was der menschliche Beobachter in seiner menschlichen Umwelt als „Gegenstück“ identifizieren kann. Dieser Kontext entspricht dem, was wir als „Nische“ bezeichnen. Unter einer Nische versteht man einen Ausschnitt aus der Natur, der die für ein Lebewesen oder eine Art erforderlichen Ressourcen zum Überleben und zur Fortpflanzung enthält und in dem die Gefahren auf ein erträgliches Maß reduziert sind. Was im einzelnen Fall Ressourcen und Gefahren sind, die einen Ausschnitt aus der Umgebung zur Nische machen, hängt von dem Lebewesen bzw. von dessen Art ab (vgl. Art. 27).
4.
Autonomie und die Begriffe innen und außen
Die Tatsache, daß lebende Systeme auf Zeichen antworten und nicht wie Mechanismen von simplen Ursachen verändert werden, unterstreicht den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Phänomenen: Im ersten Fall verwenden wir den Ausdruck „Autonomie“, um zu betonen, daß das Gesetz des Handelns in dem Lebewesen selbst gesucht werden muß. Im zweiten Falle sprechen wir von „Heteronomie“, um auszudrücken, daß unbelebten Gegenständen das Verhalten von außen aufgezwungen ist. Uexküll hat die Tatsache, daß bereits die „einfache“ Zelle autonom und nicht heteronom reagiert, dadurch hervorgehoben, daß er von „Ich-Tönen“ der Zellen spricht. Da Zeichen, welche lebende Systeme empfangen, gewissermaßen „private“ Nachrichten sind, die nur von den Empfängern verstanden werden, handelt es sich bei der Beschreibung aller Zeichenprozesse, in denen der Beobachter nicht selbst der Interpret ist (wie bei seinen eigenen), um Interpretationen von Interpretationen, oder wie ich sagte, um
2189
110. Jakob von Uexkülls Umweltlehre
„Metainterpretationen“. Dem liegt die Erfahrung zu Grunde, daß der Beobachter eines Zeichenprozesses nur den Kanal, in dem Signale transportiert werden, die Rezeptoren des Empfängers, dessen Organismus und dessen Antwortverhalten beobachten kann. Was sich zwischen dem Signalempfang und dem Antwortverhalten in dem Empfänger abspielt, bleibt dem Beobachter verborgen. Der Empfänger (bzw. dessen Organismus) stellt für den Beobachter eine „black box“ dar, über deren Inneres er nur Vermutungen anstellen kann. Damit ist die Frage aufgeworfen, was wir mit den Begriffen innen und außen bezeichnen. Sie beschreiben zunächst räumliche Beziehungen, d. h. den Raum, den der menschliche Beobachter wahrnimmt, und in dem er den Kanal zum Transport der Signale, den Organismus des Empfängers und dessen Verhaltensantworten lokalisiert. Um jedoch zu erfahren, ob der beobachtete Empfänger der Signale überhaupt einen Raum aufbaut (Pflanzen begnügen sich nach Uexküll (1936) mit einer höchstens zweidimensionalen „Wohnhülle“; vgl. Krampen 1981), und wenn ja, wie dessen Raum dann aussieht, müssen wir davon ausgehen, daß Raum und Zeit semiotische Erzeugnisse sind (vgl. Art. 19 § 5.). Uexküll hat das folgendermaßen formuliert: „Während wir bisher sagten, ohne Zeit kann es kein lebendes Subjekt geben, werden wir jetzt sagen müssen, ohne ein lebendes Subjekt kann es keine Zeit geben. […] das Gleiche [gilt] für den Raum […]. Ohne ein lebendes Subjekt kann es weder Raum noch Zeit geben“ (Uexküll 1936 ⫽ 1970: 14).
In dem oben beschriebenen Beispiel handelt es sich um die Frage, wie die Zecke mit ihrem Zeichensystem ihre „Zecken-Zeit“ und ihren „Zecken-Raum“ hervorbringt. Um auf diese Frage eine Antwort zu erhalten, muß der Beobachter die anatomischen und physiologischen Einrichtungen vergleichen, die ihm selbst und dem beobachtenden Lebewesen zur Orientierung ihres Verhaltens zur Verfügung stehen. Er darf Zeit und Raum nicht als metaphysische Größen voraussetzen, sondern muß sie aus einer Analyse der „Raum- und Zeit-Bildungs-Semiosen“ ableiten, wie sie Uexküll (1936) und Piaget (1975) durchgeführt haben. Das Fazit der Analysen ist zunächst überraschend: Sie widerlegen die Annahme, daß nicht nur erwachsene Menschen sondern auch kleine Kinder und Tiere in einem Raum leben würden, in dem auch
Objekte lokalisiert, ergriffen und manipuliert werden können. Stattdessen entstehen in den Raum- und Zeit-Bildungs-Semiosen kleiner Kinder und Tiere raumzeitliche Strukturen, in denen Subjekte und Objekte noch untrennbar „vermascht“ sind, Strukturen, die mit diesen Semiosen entstehen, sich in ihrem Verlauf verändern und mit ihrem Ende wieder auflösen. „Der Raum“ ist eine Abstraktion, welche die menschliche Vorstellung, die etwa um das zweite Lebensjahr die Führung zu übernehmen beginnt, als Orientierungsschema für unsere Phantasie aufbaut. Sie schafft damit ein „Behältnis“, in dem wir auch abwesende Objekte für imaginäre Manipulationen (Probehandlungen im Sinne Freuds; vgl. Art. 130) gegenwärtig halten. Wenn Raum und Zeit Erzeugnisse spezifischer Semiosen sind, dann müssen wir für die Begriffe innerhalb und außerhalb semiotische Definitionen einsetzen. Zu diesem Zweck müssen wir uns daran erinnern, daß jedes Zeichensystem durch seinen Kode Grenzen setzt: Nur wer den Kode beherrscht, ist ⫺ wie es der englische Ausdruck „insider“ anschaulich beschreibt ⫺ „innerhalb“ des betreffenden Zeichensystems. Wer den Kode nicht kennt, ist ein „outsider“. Er bleibt „außerhalb“ der semiotischen Grenzen und aus dem System „aus“-geschlossen (vgl. Art. 21 §§ 5.⫺9.).
5.
Semiotik und Biosemiotik
Das Spezifische der Zeichenlehre Uexkülls ist die Einführung des Interpreten als eines unverzichtbaren Glieds jeder Semiose. Der Interpret entspricht als Gegenstück und Ergänzung dem von Peirce eingeführten Interpretanten (vgl. Art. 100). Während der Interpretant in einer Semiotik, die sich als Sprachwissenschaft versteht, auf den Menschen bezogen bleibt (so daß sie ihn als Interpreten nicht besonders erwähnen muß), muß die Umweltlehre Uexkülls verlangen, daß der Interpretant als artspezifische Instanz artspezifisch verschiedener Interpreten definiert wird. Damit rückt das Problem des menschlichen Beobachters und seine Rolle als Metainterpret pflanzlicher und tierischer Zeichenprozesse in den Mittelpunkt der Problematik. Das macht die Forderung Uexkülls verständlich, daß der Biologe (Zoologe, Botaniker oder Zytologe) sich stets der Tatsache bewußt sein müsse, daß alle Ergebnisse seiner Beobachtungen Interpretationen von Interpreta-
2190 tionen (anderer Interpreten) sind (vgl. Art. 138). Aus unserer Rolle als „Metainterpreten“ von Biosemiosen folgt für das Problem der „Zweigleisigkeit“ von Zeichen, daß deren „sensuale, wahrnehmbare (oder empfindbare) Hälfte“ (Sebeok 1979) als physikalischer oder chemischer Zeichenträger dem Modell des Effekts oder der Wirkung simulierter menschlicher Handgriffe (Th. v. Uexküll 1988) auf die Rezeptoren lebender Systeme nachgebildet ist, während die „verstehbare (oder rationale) Hälfte“ (Sebeok 1979) die Bedeutung wiedergibt, welche die Wirkung für das betroffene lebende System (den Interpreten) hat. Eine allgemeine Semiotik, für die Sprache nur eines unter unzählbar vielen Zeichensystemen eines semiotischen Universums (Sebeok 1976) ist, muß die Beispiele relativieren, die in den Lehrbüchern und Abhandlungen über Zeichenprozesse den Adepten zeigen, was die Begriffe „ikonisch“, „indexikalisch“ usw. meinen (Th. v. Uexküll 1984 b). So muß zum Beispiel das klassische Beispiel „Rauch ist ein Zeichen für Feuer“ unter dem Aspekt relativiert werden, was Rauch und Feuer in der Umwelt der Fledermaus oder der Zecke usw. sind, ob es dort so etwas wie „Rauch“ überhaupt gibt und wie „Feuer“ in ihren Umwelten als „semiotisches Objekt“ aussehen könnte: „Überall dort, wo uns die Qualitäten bekannt sind, d. h. streng genommen nur bei uns selbst, werden wir das Weltbild mit seinen Eigenschaften aus den objektivierten Empfindungen des Subjekts unmittelbar aufbauen dürfen. Dann steht das Subjekt seiner eigenen Erscheinungswelt unmittelbar gegenüber. Wo uns der Einblick in die Qualitäten des Subjekts verwehrt ist, dürfen wir nicht von einer Erscheinungswelt, sondern nur von einer Umwelt reden, die aus unseren Qualitäten aufgebaut ist. Da uns auch die Kenntnis der fremden ‘Merkzeichen’ verwehrt ist, sind wir darauf angewiesen, festzustellen, welche Eigenschaften unserer Erscheinungswelt in der Umwelt eines Tieres als ‘Merkmale’ Geltung haben. Diese Merkmale (die für uns zu Merkzeichen werden müssen, damit wir überhaupt etwas von ihnen erfahren) werden wir wie unsere Qualitäten, soweit es angeht, behandeln und sie in die uns a priori gegebenen Formen einreihen. Eine Berechtigung zu diesem Vorgehen werden wir darin erblicken, daß der anatomische Bau der Sinnesorgane bei den Tieren diejenigen Merkmale als Einheiten zusammenfaßt, die auch unsere Aufmerksamkeit als einheitlichen Qualitätskreis behandelt. Trotzdem werden wir nie außer Acht lassen, daß wir, solange wir Biologie treiben, nie-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik mals unseren Posten als außenstehender Beobachter [d. h. als Metainterpret] verlassen dürfen“ (Uexküll 1920 ⫽ 1973: 110).
6. Literatur (in Auswahl) Baer, Karl E. von (1862), Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? Berlin: Hirschwald. Baer, Karl E. von (1983), Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur. Schriften. Ed. K. Boegner. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. Brown, John (1806⫺7), Sämmtliche Werke. Aus dem Englischen übersetzt von A. Röschlaub. 3 Bde. Frankfurt a. M.: Andreae. Helbach, Charlotte (1990), Die Umweltlehre Jakob von Uexkülls: Ein Beispiel für die Genese von Theorien in der Biologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Phil. Diss. Technische Hochschule Aachen. Krampen, Martin (1981), „Phytosemiotics“. Semiotica 36, 3⫺4: 187⫺209. Langthaler, Rudolf (1992), Organismus und Umwelt. Die biologische Umweltlehre im Spiegel traditioneller Naturphilosophie. Hildesheim und New York: Olms. Morris, Charles W. (1977), Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller, Johannes (1826), Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Tiere. Leipzig: Cnobloch. Nöth, Winfried (1985), Handbuch der Semiotik. Stuttgart: Metzler. Ogden, Charles K. and Ivor A. Richards (1923), The Meaning of Meaning. London: Routledge. Peirce, Charles S. (1931⫺35), Collected Papers. Ed. C. Hartshorne und P. Weiss. 6 Bde. Cambridge MA: Harvard University Press. Piaget, Jean (1969), Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett. Piaget, Jean (1975), Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Stuttgart: Klett. Schmidt, Jutta (1980), Die Umweltlehre Jakob von Uexkülls in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der vergleichenden Verhaltensforschung. Phil. Diss. Marburg. Schüffel, Wolfram (ed.) (1988), Sich gesund fühlen im Jahre 2000. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit; die Technologie, das Team und das System. Thure von Uexküll zum 80. Geburtstag gewidmet. Berlin: Springer. Sebeok, Thomas A. (1976), Contributions to the Doctrine of Signs. Lisse: Peter de Ridder Press. Reprint Lanham MD: University Press of America 1985. Sebeok, Thomas (1978), The Sign and its Masters. Austin und London: University of Texas Press. Sebeok, Thomas A. (1979), Theorie und Geschichte der Semiotik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
111. Cassirer und seine Nachfolger Tsouyopoulos, Nelly (1979), „Schellings Konzeption der Medizin als Wissenschaft und die Wissenschaft der modernen Medizin“. In: L. Hasler (ed.), Schelling, seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Referate und Kolloquien der internationalen Schelling-Tagung in Zürich, 1979. Stuttgart: Frommann-Holzboog: 107⫺116. Uexküll, Jakob von (1900), „Über die Stellung der vergleichenden Physiologie zur Hypothese der Tierseele“. Biologisches Zentralblatt 20: 497⫺502. Uexküll, Jakob von (1905), Leitfaden in das Studium der Wassertiere. Wiesbaden: Bergmann. Uexküll, Jakob von (1920), Theoretische Biologie. Berlin: Springer. Neudruck Frankfurt: Suhrkamp 1973. Uexküll, Jakob von und Georg Kriszat (1936), Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Berlin: Springer. Neudruck einschließlich der Bedeutungslehre Leipzig: Barth 1940. Neuausgabe Frankfurt: Fischer 1970.
2191 Uexküll, Thure von (1984 a), „Semiotics and the Problem of the Observer“. Semiotica 48, 3⫺4: 187⫺195. Uexküll, Thure von (1984 b), „Zeichen und Realität als anthroposemiotisches Problem“. In: K. Oehler (ed.), Zeichen und Realität. Tübingen: Stauffenburg: 61⫺72. Uexküll, Thure von (1988), „Die Entstehung der psychosomatischen Medizin aus der Geschichte des Leib-Seele-Dualismus“. Medizinische Klinik 83: 37⫺39. Weizsäcker, Ernst Ulrich von (1986), „Qualitatives Wachstum“. In: G. Altner (ed.), Die Welt als offenes System. Frankfurt: Fischer: 48⫺54. Zucker, Francis (1974), „Information, Entropie, Komplementarität und Zeit“. In: E. U. v. Weizsäcker (ed.), Offene Systeme. Stuttgart: KlettCotta: I, 35⫺81.
Thure von Uexküll, Freiburg (Deutschland)
111. Cassirer und seine Nachfolger 1. Semiotisches in Substanz- und Funktionsbegriff 2. Semiotische Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen 2.1. Symbolische Prägnanz und symbolische Form 2.2. Die drei Symbolfunktionen 3. Die Pathologie des Symbolbewußtseins und der Konflikt zwischen den symbolischen Formen 4. Nachwirkungen Cassirers in der Kulturphilosophie 5. Literatur (in Auswahl)
1.
Semiotisches in Substanz- und Funktionsbegriff
Auf die semiotische Problematik stieß Ernst Cassirer (1874⫺1945) im Zuge der erkenntnistheoretischen Reflexion der mathematischen und physikalischen Wissenschaften zu Beginn dieses Jahrhunderts (vgl. Art. 84). Die Eigenart produktiver Begriffe können wir nicht interpretieren als abstrakte Merkmalseinheit. Durch Abstraktion und Vergleich gelangt man bestenfalls zu beschreibenden Wissenschaften. Denkt man die Genese von wissenschaftlichen Begriffen nach dem Leitfaden abstrahierender Tätigkeit, dann bleibt man unerwogen abhängig von einer Metaphysik der substantiellen Formen. Die Funktion von Begriffen innerhalb wissenschaftlicher
Theorien besteht in der Setzung von homogener Gegenständlichkeit. Wissenschaftliche Begriffe treten zu Reihen zusammen und lassen sich gemäß einer Logik der Relationen organisieren. Der Zeichenbegriff empfahl sich zur Aufklärung der Erkenntnisproblematik aus mehreren Gründen. Das Verhältnis der einzelnen Erfahrung zum Inbegriff der Erfahrungen ist das der Repräsentation. Die einzelne wissenschaftliche Erfahrung verweist auf andere Erfahrungswerte und auf den Inbegriff der Erfahrung vermöge einer „begriffliche[n] Korrelation“ (Cassirer 1910: 378). Die Art und Weise, wie sich die gegenständliche Erkenntnis auf die Wirklichkeit bezieht, ist keine abbildliche, sondern eine semiotische Relation: „Unsere Empfindungen und Vorstellungen sind Zeichen, nicht Abbilder der Gegenstände“ (Cassirer 1910: 404). Mit diesem Satz bezieht sich Cassirer auf Hermann von Helmholtz (1821⫺1894) und Heinrich Hertz (1857⫺1894). Den „Prinzipien der Mechanik“ (1894) von Hertz zufolge sind wissenschaftliche Begriffe nicht als Abbilder der Wirklichkeit, sondern als konstruktive Entwürfe des Denkens zu verstehen, denen eine gegenständliche Geltung zukommt. Die mechanischen Begriffe sind für Hertz „innere Scheinbilder“, durch die wir modellartig die
2192
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
gesetzlichen Folgen der Ereignisse überblikken können (Cassirer 1923: 5 f). Während Hertz noch in der Begrifflichkeit der Abbildtheorie redete, sachlich aber die Semiotik meinte, deutete Helmholtz die Relation von Empfindung und Objekt explizit als Zeichenrelation (1896: 586). Aber auch seine Erkenntnistheorie war ambivalent (Cassirer 1929: 378 ff). Zutreffend betonte Helmholtz den gesetzlichen Regelzusammenhang der Phänomene als Bedingung ihrer Erkennbarkeit. Andererseits wollte er die von ihm erkannte semiotische Relation von Empfindung und Objekt in eine kausale Beziehung „umdenken“. Die physikalische Wirklichkeit wird Cassirer zufolge konstituiert durch zwei komplementäre Operationen. Einerseits wird der Natur das symbolische Kleid der Mathematik übergeworfen. Aber das Zählen und Messen der Physiker steht keineswegs im Dienste der bloßen Beobachtung von Naturerscheinungen, sondern das mathematische Netz bleibt abhängig von Gesichtspunkten theoretischer Konstruktion andererseits. Gesetze und Hypothesen ergeben sich nur im Lichte von theoretischen Perspektiven. Wissenschaftliche Erkenntnisse formen sich durch die Trias von Maß-, Gesetzes- und Prinzipienaussagen. Sie fordern einander korrelativ, wobei die Prinzipien das dynamische Zentrum bei der Entwicklung von Theorien bilden. Das sollte Cassirer später mit Blick auf die Relativitätstheorie zeigen (Kaufmann 1966).
2.
Semiotische Grundlagen der Philosophie der symbolischen Formen
Während Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff am Problemstand der Naturwissenschaften auf die Notwendigkeit der Semiotik stieß, will seine Philosophie der symbolischen Formen (1923, 1925, 1929) zu einer Theorie der Kultur auf semiotischer Basis gelangen. Das zentrale Konzept hierfür wurde die erstmals 1921 gebrauchte Idee der symbolischen Formen (Cassirer 1921: 110). 2.1. Symbolische Prägnanz und symbolische Form Cassirers Konzept der symbolischen Form enthält eine phänomenologische und eine semiotische Komponente. Die phänomenologische Facette hebt hervor, daß in einer
symbolischen Form „eine wie immer geartete ‘Sinnerfüllung’ des Sinnlichen sich darstellt; […] ein Sinnliches in der Art seines Daseins und So-Seins sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt“ (Cassirer 1929: 109). ⫺ In diesem Verständnis des Symbolischen (vgl. Art. 63 § 5. und Art. 75 § 2.) als der Grundstruktur der menschlichen Erfahrung ist sowohl der für Kants Theorie noch maßgebliche Dualismus von spontanen „Verstandesbegriffen“ und rezeptiver „Sinnlichkeit“ (vgl. Art. 74 § 2.) als auch jener in der Phänomenologie Husserls (vgl. Art. 103 § 2.) von sensueller yÕlh (Materie) und intentionaler morfh¬ (Form) überwunden (Cassirer 1929: 224 ff). Daher haben sich später Phänomenologen wie Aron Gurwitsch (1901⫺1973) und Maurice Merleau-Ponty (1908⫺1961) auf Cassirer berufen können (vgl. Krois 1987: 58). Alle menschliche Erfahrung als eine symbolische wird von dem getragen, was Cassirer in Anlehnung an die Gestaltpsychologie „symbolische Prägnanz“ nennt: „Unter ‘symbolischer Prägnanz’ soll […] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‘sinnliches’ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‘Sinn’ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren Darstellung bringt“ (Cassirer 1929: 235). Die symbolische Prägnanz stiftet eine Kontinuität des Erfahrungsstromes und verleiht der einzelnen Erfahrung eine Ordnungsstruktur. Die symbolische Prägnanz tritt an die Stelle der transzendentalen Synthesis der Apperzeption bei Kant. Damit verschiebt sich die Transzendentalphilosophie bei Cassirer zu einer symbolischen Theorie des Sinnes. Mit ihr will Cassirer allen Gestalten des Bewußtseins gerecht werden. Gleichwohl bleibt die Errungenschaft der transzendentalen Kritik Kants aufbewahrt. Die Theorie der Kultur wird nicht am Leitfaden der Gegenstände und Objekte gewonnen, sondern sie folgt den Gestaltungen des menschlichen Geistes. Die paradigmatische Orientierung der neuzeitlichen Erkenntnistheorie an der wissenschaftlichen Erfahrung entfällt. Die Theorie der Erkenntnis weitet sich zu einer universalen Theorie des Sinnes. Gleichwohl bleibt in der „Grammatik der symbolischen Formen“ (Cassirer 1923: 19) die Architektonik der transzendentalen Kritik Kants spürbar. Alle Sinnregionen weisen die gleichen kategorialen Strukturen auf (vgl. die Parallelen bei Peirce, Art. 100 § 2.2.). Die „Qualität“ der
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Kategorien ist stets dieselbe. Es ändert sich deren „modale“ Färbung gemäß den Regionen des Sinnes (Cassirer 1923: 27 ff). Die Kultur der Menschen hat sich in relativ stabilen Formkreisen auskristallisiert: Mythos, Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft, Technik, Geschichte, Wirtschaft, Sitte und Recht sind Resultate spezifischer symbolischer Formungen (Krois 1984: 440). Ihnen allen kommt eine eigene Logik zu. Die symbolischen Formen, in denen sich die menschliche Erfahrung verdichtet hat, verschaffen den Menschen je verschiedene „Welten“ (Cassirer 1946: 34). Bei der semiotischen Facette im Verständnis der symbolischen Formen greift Cassirer auf W. von Humboldts Sprachverständnis zurück (vgl. Art. 77 §§ 1. und 5.), wonach die Sprache nicht als ein abgeschlossenes Werk (e´rgon), sondern als dynamische Wirksamkeit (ene´rgeia) verstanden werden muß. Diese Differenz hält sich in den linguistischen Unterscheidungen von „langue“ und „parole“ (Saussure) und von „competence“ und „performance“ (Chomsky) (vgl. Art. 79 §§ 3. und 4.). Aber die energetische Arbeit des Geistes ist nicht nur in der Sprache, sondern in allen symbolischen Formen wirksam. Cassirer beruft sich denn auch auf den nachhegelschen Ästhetiker Friedrich-Theodor Vischer (1807⫺1887; vgl. Art. 75 § 3.1.) als eine Quelle seines Symbolkonzeptes (Cassirer 1927: 1 und 34 f). In der „Energie des Geistes“ kann man eine Parallele zum Interpretanten bzw. Interpreten der angelsächsischen semiotischen Tradition von Peirce und Morris sehen (Krois 1984: 440 und 1987: 52; siehe auch Art. 100 § 2.3. und Art. 113). Die semiotische Definition der symbolischen Form lautet: „Unter einer ‘symbolischen Form’ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“ (Cassirer 1921/22: 175). Cassirer weist sich durch diese Definition als Zeichentheoretiker aus, der einem dreistelligen Zeichenbegriff folgt. Denn nur durch die Energie des Geistes, als den Interpretanten, erhält ein Phänomen eine wohlumschriebene Bedeutung (Cassirer 1923: 9). Als Träger des „Sinns“ für den interpretierenden Geist fungiert das sinnlich wahrnehmbare Zeichen. Der dynamische, nicht abschließbare Prozeß der symbolischen Ideation besteht darin, daß
2193 vemöge der energetischen Kraft des Geistes durch Zeichenvermittlung (Cassirer 1923: 43) die Phänomene immer wieder neu gedeutet werden. Nur so entsteht die kulturelle Lebenswelt der Menschen. 2.2. Die drei Symbolfunktionen Die symbolische Formung darf nicht als ein einmaliger Akt gesehen werden, sondern sie ist ein kontinuierliches Geschehen. Durch kulturelle Kontinuität werden die symbolischen Formen untereinander und intern differenziert, relativiert, doch bleiben sie wie in einem Netz aufeinander bezogen. Die symbolischen Formen lassen sich nur funktional charakterisieren. Drei grundlegende Symbolfunktionen sind semiotisch unterscheidbar: Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Bedeutungsfunktion (Cassirer 1927: 11; 1929: 118 und 525). 2.2.1. Die Ausdrucksfunktion hat ihren Ursprung in der Einheit des Leiblichen und des Seelischen am Menschen (Cassirer 1929: 117). Obwohl diese Funktion in der Indifferenz von Zeichen und Bezeichnetem besteht, so liegen ihr doch Intensivierungen der Wahrnehmung zugrunde. Ausdruckserlebnisse zielen auf das physiognomische Antlitz der Welt: Das Düstere und Freundliche, das Unheimliche und Bedrohliche verdichten sich zu einem bildhaften Sinn. Das freundlich lächelnde Gesicht eines Menschen nehmen wir als Ganzheit wahr. Der Stimmung einer zwischenmenschlichen Situation werden wir leiblich inne, ohne daß ein ausgebildetes Ich-Bewußtsein im Spiel ist. Cassirer greift hier zurück auf die Ergebnisse der Entwicklungs-, der Tier- und der Gestaltpsychologie mit Autoren wie Clara (1877⫺1945) und William Stern (1871⫺1938), Wolfgang Köhler (1887⫺ 1967), Karl Koffka (1886⫺1941), Heinz Werner (1890⫺1964) und Oskar Pfungst (1874⫺ 1932); vgl. Cassirer 1929: 75 ff und 1944: 45. Die von diesen beschriebenen Phänomene des Ausdrucks führen Cassirer zu der These, daß das „Verstehen von Ausdruck“ beim Menschen vor dem „Wissen von Dingen“ ausgebildet wird (Cassirer 1929: 74; 1944: 77). Das Verstehen von Ausdruck ist ein „Urphänomen“ im Sinne Goethes, d. h. das Ausdrucksverstehen ist die elementare Grundschicht allen menschlichen Sinnverstehens. Mit Ludwig Klages (1872⫺1956) unterstreicht Cassirer seinen physiognomischen Charakter, und mit Max Scheler (1874⫺ 1928) situiert er es in der zwischenmenschli-
2194 chen Intimsphäre (Cassirer 1929: 94 und 100 ff). Methodisch wichtig ist, daß Cassirer den phänomenologischen Analysen eine kulturtheoretische Pointe gibt: Aufschlüsse über die Ausdrucksfunktion gewinnen wir, wenn wir die symbolische Form des Mythos (vgl. Art. 36 § 6., Art. 37 § 5. und Art. 38 § 2. sowie Art. 47 § 1.) betrachten (Cassirer 1929: 73 ff). Wir müssen den Mythos tautegorisch, wie schon Schelling (vgl. Art. 74 § 4.) forderte, und nicht lediglich allegorisch verstehen (Cassirer 1925: 7 f). Der Mythos ist eine Lebensform, die sich in Ritualen und Kulten bekundet. Das mythische Denken ist kosmisch dimensioniert. Es spricht sich in Differenzen (Schein/Wirklichkeit, Leben/Tod, subjektive Vorstellung/Realität) aus (Cassirer 1925: 47 ff). Vorstellungsorganisationen wie Polysynthesen, Metamorphosen und Sympathie (Cassirer 1925: 61 f; 1944: 93, 105 f und 121; siehe auch Art. 99) sind für das mythische Denken genauso charakteristisch wie der „Urgegensatz“ von Heiligem und Profanem (vgl. Art. 158). Das Mana der Melanesier, das Manitu der Algonkinstämme, das Orenda der Irokesen, das Wakanda der Sioux zeichnen das Ungewöhnliche und Außerordentliche gegen das Normale und das Übliche aus (Cassirer 1925: 95 ff; Paetzold 1983). Wie der Mythos, so sind auch die Religion und die Kunst semiotisch durch die Ausdrucksfunktion zu charakterisieren. Die Religion (vgl. Art. 87) verdankt sich einer „Dialektik des mythischen Bewußtseins“ (Cassirer 1925: 281 ff). Philosophisch parallel zur „Dialektik der reinen Vernunft“ Kants konzipiert, weil sich die mythischen Taburegeln unter religiösem Vorzeichen zu moralischen Geboten wandeln, hat dieser Vorgang eine semiotische Pointe. In den universalistischen Religionen wird die Bilderwelt der Mythen depotenziert; gleichwohl bleibt der Zwiespalt von Bild und gemeintem Sinn virulent. Die Kunst (vgl. Art. 75 und Art. 153⫺ 155) dagegen verhält sich reflexiv gegenüber dem Mythos, weil sie ein mediales Bewußtsein der eigenen Zeichenstruktur verkörpert (Cassirer 1925: 310 f). Konzeptualisierungen der Kunst, welche diese vom Prinzip der Mimesis oder vom Prinzip der individuellen Expression her deuten, verfehlen den Status der Kunst als einer symbolischen Form (Cassirer 1944: 138 ff). Kunst ahmt weder die äußere noch die innere Wirklichkeit nach, sondern sie entdeckt neuartige Formaspekte in ihr. Die Kunst läßt uns
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Dimensionen der sinnlichen Wahrnehmung gewahren, die wir in der Pragmatik des alltäglichen Lebens nicht bemerken: „Our aesthetic perception exhibits a much greater variety and belongs to a much complexer order than our ordinary sense perception […]. The revelation of this inexhaustibility of the aspects of things is one of the great privileges and one of the deepest charms of art“ (Cassirer 1944: 144 f). Susanne K. Langer (1895⫺1985) hat diesen Ansatz auf die Musik bezogen (vgl. Art. 81 und Art. 152). Musik ahmt nicht das Affektleben nach, sondern zielt auf die Formung des Gefühlslebens, die aber verbalsprachlich nie ganz einholbar ist (Langer 1942: Kap. 8). Kunst ist keine individuelle Expression des Künstlerindividuums, sondern ein „dialogical and dialectic process“ (Cassirer 1944: 149), was besagt, daß der Rezipient in seinen eigenen sinnlichen Vermögen herausgefordert wird. Dialektisch schafft die Kunst Distanz zu der Unmittelbarkeit der Emotionen (vgl. Art. 73 § 9.2.). In der Selbstreflexivität des ästhetischen Mediums, die auch Eco unterstreicht (vgl. Art. 120 § 6.3.), gründet Cassirer zufolge der Status der Kunst als einer autonomen symbolischen Form. Die romantische „transzendentale Poesie“ (vgl. Art. 63 § 5.3.) und der ästhetische Absolutismus gehen genauso in die Irre wie der ästhetische Hedonismus (vgl. Art. 75 §§ 7. ff). Die kognitive Entschlüsselung der Welt, wie sie durch die diskursiven Wissenschaften erprobt wird, steht nicht in einem antagonistischen Gegensatz zur künstlerischen Intuition (Cassirer 1944: 169 f). Es handelt sich um verschiedene „versions of worldmaking“ (Goodman 1978; vgl. Art. 121). Der für Goodmans Kunsttheorie zentrale Begriff der Exemplifikation (vgl. Art. 121 § 6. und Art. 75 § 10.) präzisiert Cassirers Ansatz analytisch, besagt er doch, daß Kunstwerke eine Struktur der Erfahrung verkörpern, deren Sinn allererst gesucht werden muß. Die Abweisung der dennotativen Relation als Grundrelation der Kunst ist ganz aus dem Geist Cassirers und dessen Kritik an der Mimesis gesprochen. Die ästhetische Erfahrung ist nach Nelson Goodman (*1906) rastlos und sucherisch. Cassirer hätte allerdings nicht von Symptomen des Ästhetischen als Restkriterien der Kunst gesprochen (Goodman 1968). 2.2.2. Bei der Darstellungsfunktion ⫺ den Begriff entlehnte Cassirer bei Karl Büh-
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ler (1879⫺1963; siehe Cassirer 1929: 128; vgl. auch Art. 112 sowie Art. 77 § 10. und Art. 103 § 4.2.) ⫺ besteht eine referentielle Relation zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten. Ein objektiver Sachverhalt wird intersubjektiv fixiert (Cassirer 1927: 10). Die Darstellungsfunktion gestattet es, konstante Dinge und Ereignisse festzustellen oder zu behaupten (Cassirer 1929: 133). Die Sprache ist der Schlüssel zum Verständnis der Darstellungsfunktion. Cassirers Sprachphilosophie fragt nach dem Anteil der Sprache beim Aufbau der kulturell geformten Welt. Theorien über den Spracherwerb spielen eine wichtige Rolle. Mit Berufung auf Ansätze von Clara und William Stern, Karl und Charlotte Bühler, Heinz Werner und anderen hebt Cassirer hervor, daß der Mensch durch den Erwerb der Sprache zugleich über Bedingungen logisch-gegenständlicher Bezeichnungen, emotionaler Willensformung und freier Phantasiebetätigung verfügt (Cassirer 1932/ 33: 121 ff). Solche Erwägungen lassen sich heute dem Ansatz einer genetisch-strukturellen Psychologie (Jean Piaget, Lawrence Kohlberg) einfügen (Fetz 1988; vgl. Art. 128). Die strukturelle Kennzeichnung der sprachlichen Weltkonstitution gewinnt Cassirer aus dem Vergleich mit dem Mythos. Aber man kann nicht die Metapher als das tertium comparationis von Sprache und Mythos ansehen (Cassirer 1944: 109 f). Sie unterscheiden sich nicht hinsichtlich der Fähigkeit zum expressiven Ausdruck. Der propositionale Gehalt ist die genuine Sinndimension der Sprache (Cassirer 1944: 25, 29 f, 115 f). Wilhelm von Humboldt (1767⫺1835) leitete eine neue Epoche des Sprachdenkens ein, weil er Abschied nahm von der Frage nach dem Sprachursprung. Statt der lediglich historischen Klassifikation ihrer Formen ordnete er die verschiedensten Sprachen hinsichtlich ihrer grammatischen Strukturen und fragte nach den spezifischen Weltbildern, die durch die Sprachen konstituiert werden (Cassirer 1944: 120 f). Humboldt nannte das die „innere Form“ der Sprachen (vgl. Art. 77 §§ 1. und 5.). Diese transzendentalkritische Wende in der Sprachphilosophie führte später über de Saussure und Trubetzkoy (vgl. Art. 100) zum linguistischen Relativismus (Edward Sapir, Benjamin Lee Whorf; vgl. Art. 77 § 11.1.). In Otto Jespersen (1860⫺ 1958) und Louis Hjelmslev (1899⫺1965) sah Cassirer das Programm einer universellen, allgemeinen Grammatik wiederauferstehen (vgl. Art. 117). An Cassirers Beachtung der
2195 empirischen Sprachforschung konnte später die Sprachinhaltsforschung (Leo Weisgerber, Jost Trier, Helmut Gipper) anknüpfen (Göller 1988; vgl. Art. 77 § 9.3.). Der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen verfolgt im wesentlichen eine durch Humboldt inspirierte Perspektive, die damals relativ neuen ethnologischen Sprachforschungen aufgreifend (vgl. Art. 156). Mit welchen grammatischen und syntaktischen Mitteln tragen die verschiedenen Sprachen bei zur kategorialen Formung der menschlichen Welterfahrung? Die älteren Spekulationen über den Ursprung der Sprache hat Cassirer auf ein neues theoretisches Niveau zu stellen versucht durch die Einführung von strukturellen Entwicklungsphasen (Cassirer 1923: 137 ff). In der mimetischen Phase ist das Sinnverstehen an der objektiven gegenständlichen Welt orientiert. Das Zahlwort für sechs meint im Sotho ‘springe’, d. h. ‘springe zur zweiten Hand über’: das Zahlwort als eine mimische Handlungsanweisung (Cassirer 1923: 188). Das grammatische Formelement der Reduplikation drückt in der Klamathsprache nicht abstrakte Mehrheit aus, sondern distributive Mehrheit der Akteure und die Art des Aktvollzuges. Das deutet Cassirer als analogische Phase sprachlichen Sinnes (Cassirer 1923: 145 f). In der rein symbolischen Phase der Sprache liegt der Akzent auf der vollgültigen Darstellungsfunktion. Vielheit wird durch Zahlwörter bezeichnet, deren Sinn sich nur aus der Stelle in einer Reihe ergibt. Dieses Prinzip der Phasen hat Cassirer auch auf die anderen symbolischen Formen übertragen (Krois 1984: 442; vgl. auch Art. 33). Für die symbolische Form der Sitte: Auf der mythischen Stufe wird das Verhalten durch mimetische Angleichung an den Clan oder das Totem reguliert. Auf der religiösen Entwicklungsstufe werden alle Handlungen gemäß der „analogia entis“ auf den einen Gott bezogen. In der neuzeitlichen naturrechtlichen Phase schließlich folgt das Individuum autonomen Handlungsmaximen. Das Moralbewußtsein ist rein symbolisch geworden (Krois 1987: 144 ff). 2.2.3. Die Bedeutungsfunktion des Symbols tritt in den Wissenschaften zutage. Wissenschaftliche Begriffe sind einerseits Teil eines relationalen begrifflichen Ordnungsgeflechtes, andererseits verweisen sie auf eine Gegenständlichkeit im Sinne einer „abstrakten Zuordnung“ (Cassirer 1927: 10 f). Na-
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mentlich den Begriffen der Physik des 20. Jahrhunderts kann man nicht als einzelnen ein anschauliches Schema zuordnen, sondern auf die physikalische Wirklichkeit bezieht sich nur der „Symbolismus der Prinzipien“. Nicht die Dinge sind der referentielle Bezugspunkt, sondern das System der Ereignisse im Sinne von Alfred N. Whitehead (1861⫺1947; vgl. Cassirer 1929: 547 und 552). Die schon durch Leibniz und Descartes geforderte symbolische Interpretation der Mathematik ⫺ die „mathesis universalis“ (vgl. Art. 62 § 7.2. und § 8.2.4. sowie Art. 76 § 1.1.) ⫺ wird erst in der Mathematik des 20. Jahrhunderts realisiert. Die intuitionistische Deutung der Mathematik (Luitzen E. J. Brouwer, 1881⫺1966), worin das Mathematische aus dem Fortgang einzelner Schritte (etwa des Zählens) erklärt wird, geht in die Irre, wenn sie das Denken zeichenfrei konzipiert (vgl. Art. 78 § 5.1., Art. 107 und Art. 108). Das Zeichen erlaubt die „Simultaneität des Überblicks“ (Cassirer 1929: 453). David Hilberts (1862⫺1943) implizite Definitionen (vgl. Art. 2 § 2. und Art. 84 § 4.3.) entfalten die Begriffe als einen gegliederten Zusammenhang, der sich mit Notwendigkeit in Zeichen artikuliert.
3.
Die Pathologie des Symbolbewußtseins und der Konflikt zwischen den symbolischen Formen
Die Semiotik von Charles W. Morris (vgl. Art. 113) rechnet sowohl auf dem individuellen als auch auf dem sozialen Niveau mit der Möglichkeit pathologischen Zeichenverhaltens. Parallelen hierzu gibt es bei Cassirer, obwohl dessen Kulturphilosophie nicht verhaltenstheoretisch fundiert ist. Psychologische Beschreibungen von Agnosie, Aphasie und Apraxie integriert Cassirer in seine Symboltheorie, indem er sie als „Pathologien des Symbolbewußtseins“ wertet und in ihnen einen indirekten Beweis für seine symbolphilosophischen Annahmen sieht (Cassirer 1929: 238 ff). Bei allen elementaren Wahrnehmungen und alltäglichen Handlungen sind immer schon symbolische Ideationen wirksam. Ist der Prozeß dieser Ideation partiell oder vollständig blockiert, dann hat das den Verlust von Handlungskompetenzen individueller Akteure zur Folge. Soziale und politische Krisen kann man als einen internen Konflikt der symbolischen
Formen untereinander deuten. In seinem Buch The Myth of the State (zuerst 1946) hat Cassirer den totalitären Faschismus als eine technisch manipulierte Repristination des Mythischen gedeutet (zu Cassirers persönlichen Erfahrungen mit dem Faschismus vgl. Toni Cassirer 1981 und Posner 1984). Schon jede Verwendung der Technik erfordert ethisch die Umformung der sie konstituierenden „Schicksalsgemeinschaft“ in eine freie „Willensgemeinschaft“ (Cassirer 1930: 89). Die Anonymität des Technischen ist nur durch bewußte Kooperation sozial aufhebbar. Dem Handwerk war noch ein Solidaritätsprinzip immanent (Cassirer 1930: 76). Wird die symbolische Form der Technik mit der des Mythischen fusioniert, dann erlischt die Kraft der symbolischen Formen, Vehikel und Instrumente für die „progressive self-liberation“ der Menschen zu sein (Cassirer 1944: 228). Es wäre verfehlt, Krisen vom Ausmaß des Faschismus als historisch singuläre Ereignisse zu sehen. Die Kultur ist permanent gefährdet, weil es keine stabilen Regeln für die Relation der symbolischen Formen untereinander gibt (vgl. Art. 118).
4.
Nachwirkungen Cassirers in der Kulturphilosophie
Cassirers Kulturphilosophie will das Glücken der Kultur in individueller und sozialer Selbstbefreiung wie auch das Scheitern der Kultur im Totalitarismus erklären (Paetzold 1994: 111⫺145). Beides ist nach Cassirer an semiotisch beschreibbare Prozesse von symbolischer Ideation gebunden. Drei Nachwirkungen Cassirers in der symboltheoretischen Kulturphilosophie lassen sich verzeichnen. Susanne K. Langer (1942) kennt sehr wohl „the miscarriage of the symbolic process“, „the failure or destruction of life symbols“ (Langer 1942: 290) als Gefährdungen speziell des modernen Lebens. Vor allem der Verlust an Ritualen in der modernen Arbeitswelt wird beklagt. Erlischt indessen die Fähigkeit zu „symbolic transformation“, dann hat nationalistische Propaganda leichtes politisches Spiel. Aber für Langer spitzt sich die Kultur der Moderne nicht zu der ihr von Cassirer zugeschriebenen Gespaltenheit zu. Nelson Goodmans (1968) Symboltheorie interessiert sich für die pragmatische Beherrschung von Symbolprozessen. Eine prinzipielle Gefährdung der Kultur kennt Goodman nicht, weil er Fragen ihres mythischen Ursprungs ausklammert.
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Pierre Bourdieu (1991) dagegen übersetzt Cassirers Theorem der Ausdifferenzierung, demzufolge Kultur sich in einer Pluralität symbolischer Formen verkörpert, ins Soziologische. Bourdieu bezieht eine zwischen der Cassirerschen Katastrophenoptik und dem Goodmanschen Pragmatismus vermittelnde Zwischenposition. Bourdieu zufolge besteht die moderne Kultur aus einer Pluralität kultureller Felder. Diese werden soziologisch rekonstruierbar als soziale Anerkennungskämpfe um „symbolic power“ (Bourdieu 1991: 163⫺170). Symbolische Macht ⫺ so wendet der kritische Soziologe gegen den schlechten Idealismus der Philosophen ein ⫺ setzt Zugang zu sowie Besitz und Einsatz von „kulturellem Kapital“ voraus (vgl. Art. 167).
5.
Literatur (in Auswahl)
Ernst Cassirers Nachlaß wird unter der Herausgeberschaft von John Michael Krois und Oswald Schwemmer im Meiner-Verlag Hamburg publiziert. Band 1: Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte unter dem Titel Zur Metaphysik der symbolischen Formen wurde von J. M. Krois herausgegeben und erschien 1995. Akenda, Kapumba (1990), Vielfalt und Objektivität der Kulturformen: Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften bei Ernst Cassirer. Phil. Diss. Düsseldorf. Bourdieu, Pierre (1991), Language and Symbolic Power. Ed. J. B. Thompson. Oxford. Cassirer, Ernst (1910), Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik. Berlin. Cassirer, Ernst (1921), „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“. In: E. Cassirer, Zur modernen Physik. Nachdruck Darmstadt 1964: 1⫺125. Cassirer, Ernst (1921/22), „Der Begriff der symbolischen Formen im Aufbau der Geisteswissenschaften“. In: E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Nachdruck Darmstadt 1959: 169⫺200. Cassirer, Ernst (1923, 1925, 1929), Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1: Die Sprache. Bd. 2: Das mythische Denken. Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis. Nachdruck Darmstadt 1977. Cassirer, Ernst (1927, 1930, 1932/33), „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“; „Form und Technik“; „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“. In: E. W. Orth und J. M. Krois (eds.), Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927⫺1933. Hamburg 1985. Cassirer, Ernst (1944), An Essay on Man. New Haven CT. Deutsch: Versuch über den Menschen. Frankfurt a. M. 1990.
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112. Bühler and his followers 1. The scope of Bühler’s semiotic project 2. The axiomatics 2.1. The Principle of Abstractive Relevance 2.2. Speech action and language structure 2.3. The structural model of language 2.4. The schema of language functions and the organon-model of language 3. Fields, deixis, symbolization 4. From perception to metaphor 5. Language and other systems of signs 6. Selected references
1.
The scope of Bühler’s semiotic project
The semiotic work of Karl Bühler (1879⫺ 1963) grew out of a long and creative appropriation of three traditions: the philosophi-
cal, the psychological, and the linguistic. Bühler welded, with little claim to novelty, these three strands together into a coherent and comprehensive semiotic project (cf. the parallels in the semiotic work of Charles W. Morris, Art. 113), culminating in a series of masterworks extending from the semiotic foundations of psychology through an axiomatization of expression theory to language theory (Bühler 1927; 1933 a; 1933 b; 1934). These are the primary reference points of any discussion of Bühler’s theoretical contribution (cf. Art. 77 § 10. and Art. 103 § 4.2.). Later investigations into the cybernetic principles of navigation in humans and other animals, and a study of the universality of the Gestalt principle in human life as a whole
2199
112. Bühler and his followers
(Bühler 1960) followed. Although Bühler was a professor of psychology most of his life, his greatest achievement is due to his problemoriented semiotic framework transcending disciplinary boundaries. The focal point of Bühler’s semiotics is his comprehensive language theory. The semiotic principles first given systematic expression there in the form of an axiomatics govern the other areas of his work, providing them with an inner, but by no means monolithic, unity. The wide range of antecedents, parallels, and continuations of Bühler’s important and substantial work in psychology, philosophy, and language theory can only be hinted at in this article but can be followed up in more detail in the materials collected by Eschbach (1984; 1988 b).
suchungen. For Bühler the roots of linguistic representation are to be sought then in the basic mental powers of abstraction and of diacritical apprehension. In fact, the grasp of a sense-filled linguistic unity becomes the model for thematizing the structures of sensefilled unities in experience quite generally. Phonology, with its focus on specific diacritical mental powers of the subject, becomes paradigmatic for a whole range of problems dealing with subjectivity and the constitution of objects. It offers a new key to the perennial problem of abstraction and concept formation as well as of the status of ideal objects, thematized by the Scholastics (cf. Art. 49) and reformulated by Husserl (cf. Art. 103). Bühler’s recognition of the necessity of a certain Platonism is connected with an ineluctable mentalism.
2.
2.2. Speech action and language structure The second axiom states that to use signs is, on the one hand, to perform actions and, on the other hand, to produce ideal structures. A speech event is an action, a display of energy (Humboldt’s ene´rgeia), which gives rise to a work (Humboldt’s e´rgon; concerning Wilhelm von Humboldt see Art. 77 §§ 1. and 5.). On the subject side, it can be analyzed in its illocutionary aspects (as actions) or its meaning-conferring aspects (as constitutive acts of consciousness a` la Husserl). Here Bühler’s framework intersects directly with and even anticipates the Anglo-American speech act theory (cf. Art. 79 § 2.4.) and exploits the intentional analysis of the Kantian and phenomenological traditions, represented for him especially by Ernst Cassirer’s parallel philosophy of symbolic forms (cf. Art. 111) and Husserl’s investigations of the fundamental structures of consciousness (cf. Art. 103 § 2.). On the object side, as a relatively permanent distillate of a speech action, language can be analyzed as work, ultimately as text, or as structure, depending on the level of abstraction of one’s treatment. Action, act, work, and structure make up the components of Bühler’s four-field schema (cf. Fig. 112.1).
The axiomatics
Bühler (1933 a; 1934) developed, by conceptual derivation, not postulation, a set of four sign-theoretic axioms which he contended define the cognitive space of the language sciences. 2.1. The Principle of Abstractive Relevance The first axiom, developed in light of Ferdinand de Saussure’s structural linguistics (cf. Art. 101) and of Nicolai S. Trubetzkoy’s (1890⫺1938) revolutionary discoveries in phonology (cf. Art. 77 § 8.2.), deals with the key principle of the sign-character of language and with the differential, formal, and abstract nature of the linguistic sign. A keystone of Bühler’s thought is that a purely physical approach to sign theory and to language theory is impossible, since the essential nature of a sign in its representational function is its capacity to stand for something else. What makes this standing for possible is the ability of the sign user to take on a particular set (“Einstellung”) vis-a`-vis the physical reality of the sign, regarded as a material entity, and to endow the material entity with sense by means of this set. A linguistic sign as a signifying unit is not identical with its carrier as a physical object, but only with those parts of the material unit that carry the meaning and that signal differences from other signs. These systems of differences are first and foremost the systems of phonemes upon which the linguistic sign is founded ⫺ a notion that Bühler derived from Edmund Husserl’s Logische Unter-
I
II
1.
ACTION
WORK
2.
ACT
STRUCTURE
Fig. 112.1: The four-field schema of sign use according to Bühler (1934: 49 ⫽ 1990: 58).
2200
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Bühler’s view of language is praxeological (cf. Art. 108) and structural (cf. Art. 100) at the same time, paralleling consciously, but with critical distance, Ferdinand de Saussure’s distinction of parole and langue. 2.3. The structural model of language The third axiom, dealing with the twoclass nature of language, details the specificity of language as a system of signs composed of units and codified rules for their combination into higher-level unities (sentences and texts). The structure of language is regarded as a hierarchical set of levels: phonemic, lexical, syntactic. For Bühler there are two radically different classes of language structures: words and sentences, which are correlative moments in language. Language is primarily composed of symbols, as bearers of representational content, situated within a field. These symbols ⫺ as lexical units of meaning ⫺ are themselves composed of units, or rather bundles of units, which in themselves have no meaning. Later semiotic theory thematized this fact as the double articulation of language (cf. Art. 101 § 3.3.2.). Throughout his Sprachtheorie (1934) Bühler took great pains to establish language as a sign system sui generis, denying that there is an exact analogy between the relation of word and sentence in language and between sign and sign complex in other symbol systems such as music, painting, cartography, and so forth. His work directly challenges attempts to build a general semiotic theory on the model of language. The third axiom culminates in the “dogma of lexicon and syntax”, which distinguishes linguistic from nonlinguistic systems. 2.4. The schema of language functions and the organon-model of language The fourth axiom presents the organonmodel of language (which Bühler saw anticipated in Plato’s Cratylus; cf. Art. 40 § 3.2.1.) and specifies the foundations of the three autonomous semantic relations of representation, expression, and appeal. These relations and functions are not by any means restricted to language but extend in variable fashion to all types of sign systems. Bühler represented the basic relations of a speech event in a famous schema, which displays perspicuously the key distinctions of his language theory and illuminates the scope of the other three axioms as well.
Fig. 112.2: The organon-model of language according to Bühler (1934: 28 ⫽ 1990: 35).
In Fig. 112.2, the circle represents the concrete, sensibly given sound phenomenon. The overlapping triangle represents those parts of the sound phenomenon that carry the meaning, its differential and Gestalt-like characteristics. It encompasses both less (the Principle of Abstractive Relevance) and more than the material carrier, which undergoes an apperceptive completion through coding. The distinction between phonetics as a material science and phonology as a formal science exemplifies the point, the ignoring of which leads to a “material derailment” (“Stoffentgleisung”) and the ruin of sign theory. Phonology focuses exclusively on the meaning carrying properties of the material sign as a system of differences, while phonetics studies the concrete sound phenomenon as a thing, as a reality in the physical world. The formal properties of the sign and the sign itself as a sense-filled unity are grasped through an act of abstraction, the object of which is an ideal entity, analogous to the “species” of Scholastic thought (cf. Art. 52 § 4.). Bühler relied here, once again, on Husserl’s Logische Untersuchungen and extended the model of signperception to the structures of perception and of intellectual apprehension. Phonology was to supply a heuristic clue for the theory of knowledge. The organon-model shows that the sign, as sign event, has a threefold relation to its foundations which ground three autonomous, but interconnected, semantic functions. As related to objects and states of affairs the sign is a symbol and performs a representational function, since it is the bearer of information about the world. As related to the interiority or consciousness of the speaker the sign is a symptom or index and
112. Bühler and his followers
performs an expressive function, revealing the consciousness or interiority, whether the speaker is aware of them or not. As related to, or directed to, the behavior of the addressee or receiver of a sign (or set of signs) the sign functions as a signal and performs an appellative function. One and the same material carrier, functioning as a sign, performs all three functions. The distinction between types of signs for Bühler is, therefore, functional, not substantial (for a similar distinction in Cassirer, see Art. 111 § 1.). It depends on the relational pattern one is attending to (for other functional taxonomies of sign use, see Art. 113 § 4.4.). In his essay “Linguistics and Poetics” (1960) Roman Jakobson (1896⫺1982) expanded the Bühlerian schema of language functions to six, adding the poetic, phatic, and metalingual functions, while Karl Popper (1902⫺1994), who had been Bühler’s student at the University of Vienna, thought that we also have to posit an autonomous “critical” or “argumentative” function ⫺ a theme integral to his critical rationalism (Popper 1963 and 1972).
3.
Fields, deixis, and symbolization
Bühler built his language theory around a radical, structural distinction between deixis and symbolization. They constitute the two intertwined fields within which all language signs (and not just language signs) operate. The deictic field is wedded to the operation of pointing, whether through the material finger or some other gesture, which picks out an object in the common perceptual situation. This pointing gesture is potentiated by the linguistic sign in the form of demonstrative, personal, and relative pronouns. The words “I”, “you”, “here”, “there” ⫺ Jakobson’s shifters (cf. Art. 116 § 3.3.) ⫺ and so forth are devoid of rigid content since they apply in each situation to a different part of the perceptual field. Any speaker can say “I”, which applies uniquely to the person uttering this expression. These deictic terms (cf. Art. 3 § 5.2.) are not names, but are signs intrinsically bound to a situation and to the objects themselves to which they apply. Bühler distinguished between extralinguistic and intralinguistic pointing, and the latter is the key to anaphora. In his Sprachtheorie (1934) Bühler gave a detailed analysis of these terms and the coordinate system generated by them, relying extensively on the work of Hermann
2201 Paul (1846⫺1921), Karl Brugmann (1849⫺ 1919), and Bertolt Delbrück (1842⫺1922); cf. Art. 77 § 4. Deictic terms, then, do not, strictly speaking, represent or symbolize. They indicate within a situation. The symbol-field, however, is the locus of the representational function and the differentia specifica of human language for Bühler, as it also was for his student Karl Popper and his contemporary Ernst Cassirer. In Bühler’s view, a symbol is a bearer of intelligible content independent of the immediate situational matrix in which it may be found. It carries the conceptual focus by means of which objects and states of affairs are articulated in structures and forms. Hence it is an instrument for the mastery and ordering of experience. This representational function does not contravene Bühler’s essentially dialogical and social conception of the point of origin of signs in social life, as developed in his Ausdruckstheorie (1933 a). But the steering function of language involves not just the behavior of the addressee but also the perceptual and conceptual orientation of the language users, who rely on the system of linguistic signs as instruments for bringing the flow of experience to a halt, segmenting it into relevant joints (cf. Nerlich 1996). The symbol-field is the achievement of an act of abstraction. Bühler schematizes the relation between the word-sign and the conceptual or object domain upon which it bears in the way presented in Fig. 112.3.
Fig. 112.3: A model of abstraction according to Bühler (1934: 224 ⫽ 1990: 250).
In Fig. 112.3, the shaded part of both the sign (represented by a circle) and the meaning sphere (represented by a square) point to the selective, diacritical aspect of the apprehension and constitution of sign and meaning. This abstractive apprehension of the world through signs is a motivated one. It is connected at crucial places to the perceptual field and to the sign user’s collateral experience and knowledge (“Sachwissen”). While the original function of the symbol is to perform an abstraction, its intelligible content is not
2202
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
first and foremost an idealization and formalization. This is rather the result of a long process, and the conceptual foci of most signsymbols used in normal linguistic interchange do not have a Platonic purity, a point seen by Bühler’s great contemporary, Sir Alan Gardiner (1879⫺1963; see Gardiner 1932; cf. Innis 1984) and his important predecessor, Philipp Wegener (1848⫺1916). Most linguistic concepts are synchytic concepts ⫺ a term Bühler took from Johannes von Kries (1853⫺1928). They have a soft focus, and the meaning-spheres upon which they bear are joined together by multiple family resemblances (cf. Art. 109 § 4.2.). It is very likely that this is one of the sources of Ludwig Wittgenstein’s central notion of family resemblances (see Innis 1984 as well as Eschbach 1984 and 1988 a). While the deictic field is first and foremost constituted by a shared perceptual situation, the symbol-field is linguistically constituted and has both a semantic and a syntactic component. In addition to their content or meaning as lexical units, symbols have field values which define their function and role within the sentential structure. These field values can be purely formal as in the case of syntactic schemata which make up the system of empty slots (“Leerstellen“) into which the various lexical units fit, and they are combined on the paradigmatic and syntagmatic axes (cf. Art. 101 § 2.1.4. and Art. 116 § 3.2.). Bühler’s language theory, then, is a field or situation theory, something he also shares with Gardiner and Wegener.
4.
From perception to metaphor
One of the most heuristically fertile parts of Bühler’s semiotically structured language theory is his account of the movement from perception to metaphor. He schematized the process by means of a model of overlapping lattices or filters, as in binocular vision (cf. Fig. 112.4). For Bühler metaphorical apprehension and expression are analogous to the fusion
Fig. 112.4: A lattice model of metaphor according to Bühler (1934: 348 ⫽ 1990: 398).
of two or more lattices or images, with their internal articulation, into a resultant third. Bühler’s central point, paralleling Nelson Goodman’s (*1906) work (cf. Art. 121 § 6.2.), is that metaphor is not a special linguistic phenomenon. Rather it permeates all language use and concept formation. The key to Bühler’s account of metaphor is the notion of a meaning-sphere. This is the conceptual space, defined and constituted by its semantic markers, carried by a linguistic sign. Metaphorical terms and predications involve the fusing of two or more meaning-spheres into a novel unity, wherein only those parts of a meaning-sphere are transferred to another domain that are relevant. When we call someone a “hammerhead” it is clear that only the properties of hardness, rigidity, potential battering qualities, etc., are transferred, not the properties “made out of metal”, “having a certain shape, with handle and head” etc. To see one thing in terms of another is for Bühler not an achievement of comparison but rather one of fusion. The metaphor is an emergent result, not an additive sum of two or more semantic spaces, as the lattice model might lead one to think. Bühler appeals explicitly to Christian von Ehrenfels and to the Gestalt theoretical notions of “Übersummativität” and “Untersummativität” to characterize the twin operations of deletion and supplementation that define the metaphorical apprehension of the world and the consequent creation of a system of interlocked linguistic, and nonlinguistic, metaphors. Hülzer (1989) has thrown important light on the historical sources of Bühler’s approach to metaphor. Bühler’s model of how language and the perceptual field interpenetrate and intertwine and not merely run parallel to one another ⫺ echoed in the work of Edward Sapir (cf. Art. 77 § 11.1.) ⫺ is connected with his central thesis of the essential continuity between perception and metaphorical articulation. Both perception and metaphorical apprehension are interpretative, hermeneutical, constructive, and not merely mimetic, mirroring an already sorted and construed world. They effect the sorting and construing. Liselotte Gumpel (1984) and Paul Ricœur (1975 ⫽ 1977) have given fundamental accounts of the tension between perceptual and linguistic aspects of metaphor, with significant references to Bühler’s work.
2203
112. Bühler and his followers
5.
Language and other systems of signs
Language, while the center and paradigm of Bühler’s semiotic project, is not its exclusive object. In his Krise der Psychologie (1927) he thematized the perceptual domain according to the model of language functions, not in the structuralist or poststructuralist sense of asserting that perception is a language or structured like a language, but in the sense that the sign-functions exemplified by signals, indexes, and symbols furnish the essential model for analyzing the whole domain of “perceptions” (“Wahrnehmungen”). Sensedata functioning as signals steer the perceptual and external behavior of the subject; functioning as indexes they define the perceived object as a coherent unity in the perceptual field; functioning as symbols, exemplified in reading, for example, they guide and structure the understanding of the human subject. Bühler developed a semiotically refined pragmatic model of perception that has echoes and parallels in the work of Arnold Gehlen (cf. Art. 77 § 11.3.), John Dewey (cf. Art. 75 § 9. and Art. 113 § 2.), Maurice Merleau-Ponty (cf. Art. 119 § 1.2.), Ernst Cassirer (cf. Art. 111) and even John Searle (1983) and which culminated in a cybernetic account of behavior and perception that subsumes biology into semiotics. Bühler’s important insights have been accomodated in a wide philosophical frame in Innis (1994). The semiotic triad of indexes, signals, and symbols also allowed Bühler to coordinate and unify the seemingly conflicting points of departure of three strands of psychology: subjective experiences (“Erlebnisse”) for Denkpsychologie, meaningful behavior (“sinnvolles Benehmen”) for behaviorism, and the correlation with ideal structures (“Gebilde”) for interpretive psychology. Each strand investigates a different domain and each is dependent upon the concept of sense or Sinn which introduces an essential teleological component into psychology as such. Bühler also managed to show the ineluctable social matrix for semiotics and to criticize, respectfully, Freudian psychoanalysis as subject to a material derailment (cf. Art. 130). In addition, Bühler worked out a historically-based axiomatization of expression theory (1933 b), with an extensive use of the phonological, diacritical, and Gestalt theoretical apparatus. Especially in his Sprachtheorie (1934) there is a comparative analysis of lan-
guage, film, epic, mapmaking, musical scores, etc. Bühler shows that these representational instruments manifest essential semiotic principles, but that none of them are constituted, as language is, out of two essentially different classes of structures, corresponding to words and sentences, as demanded by the dogma of lexicon and syntax. This two-class structure is specifically linguistic, in Bühler’s opinion. While there are analogous structures in other semiotic systems, there is no strict isomorphism. In drama, film, epic, mapmaking, musical scores, etc., there are rather signifying elements embedded in a field. But the important element is the field as a structural matrix. Unlike words, which carry field values and valences while still being independent, freestanding units, the signifying elements in nonlinguistic systems ⫺ gestures, nonmimetic marks on paper as in a map, blotches of paint, etc. ⫺ are totally defined by the system within which they are found. It is by considerations such as these that Bühler constructed his language-based, but not language-restricted, semiotics. Hans Hörmann ⫺ especially in his Meinen und Verstehen (1976) and Meaning and Context (1987) ⫺ has given a profound account of psychological semantics that develops and applies the Bühlerian framework. But the heuristic fertility of Bühler’s semiotic approach extends beyond psycholinguistics to aesthetics (Jakobson and the Prague School), speech-act theory, the foundations of epistemology, and comparative semiotics, for which his approach is at one and the same time matrix, model, and resource.
6.
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Robert E. Innis, Lowell MA (USA)
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger 1. Biographisches 2. Morris und der Pragmatismus 3. Morris und die Bewegung der Einheitswissenschaft 4. Verhaltensorientierte Theorie der Zeichen 4.1. Handlungsphasen 4.2. Zeichentypen 4.3. Bezeichnungsdimensionen 4.4. Gebrauchsdimensionen 4.5. Wertdimensionen 5. Rezeption und Weiterentwicklung der verhaltensorientierten Semiotik 6. Literatur (in Auswahl)
Morris kann als der große Integrator und Organisator in der Geschichte der Semiotik
bezeichnet werden. Auf ihn geht nicht nur die Bestimmung der semiotischen Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik zurück, sondern es gelang ihm auch, der Semiotik als ganzer im Kanon der akademischen Fachgebiete Anerkennung zu verschaffen.
1.
Biographisches
Charles William Morris wurde am 23. Mai 1901 in Denver, Colorado, geboren. Er studierte zunächst Ingenieurswissenschaft, später Psychologie. In diesem Fach erhielt er 1922 an der Northwestern University den Ti-
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger
tel eines Bachelor of Science. Im Herbst 1922 wechselte er an die University of Chicago, um bei George Herbert Mead (1863⫺1931) zu studieren (Morris 1977: 324). Dort stand die „Chicagoer Schule“ ⫺ diesen Ausdruck benutzte William James (1842⫺1910) für die von John Dewey (1859⫺1952) geprägte Richtung ⫺ in voller Blüte. Morris hörte Vorlesungen ihrer wichtigsten Vertreter; neben Dewey, der dort „das Evangelium des Pragmatismus predigte“ (Watson 1936), waren dies Addison W. Moore, James M. Tufts, Edward Scribner Ames und Mead, der sein Doktorvater wurde. Sein Studium, zunächst Psychologie, später Philosophie, schloß Morris 1925 mit der Dissertation Symbolism and Reality: A Study in the Nature of Mind ab. Seine Hochschullehrerlaufbahn begann Morris an der Rice University. Anfang der dreißiger Jahre kehrte er als Professor nach Chicago zurück und übernahm später Gastprofessuren an der New School for Social Research, an der Rice und der Harvard University. Er starb am 15. Januar 1979 in Gainesville, Florida.
2.
Morris und der Pragmatismus
In seiner Dissertation (die erst 1981 auf deutsch und 1993 auf englisch veröffentlicht wurde) legt Morris unter dem Einfluß von Mead den Entwurf für eine naturalistische Theorie des Geistes vor (vgl. Art. 74 § 11.). Sie soll basieren auf einer Theorie der Symbolik und den Prinzipien des Neopragmatismus, wie er von Charles Sanders Peirce, Mead (1934), Clarence Irving Lewis (1929) und Dewey (1925) vertreten wird: (1) Geist, Denken, Erkenntnis und Wahrheit sind Funktionen der Erfahrung und mit den Ausdrücken für Erfahrungen vollständig beschreibbar. (2) Der Reflexionsprozeß ist so, wie er erfahren wird, immer mit Verhaltensproblemen verbunden und eine Funktion von ihnen. (3) Verhalten und Erfahrung sind die letzten Bezugspunkte für das, was man unter „real“ versteht (Morris 1928: 496 ⫽ 1977: 78). Morris richtet sich damit gegen eine „Elfenbeinturm-Auffassung des Geistes“ (Morris 1925: 21 ⫽ 1981: 54 u. ö.), die materiale Realität und Geist als zwei grundverschiedene Bereiche ansieht, und verfolgt demgegenüber
2205 eine auf Erfahrung gründende und in diesem Sinne empirische Zugangsweise. In seiner Dissertation ist der Ausgangspunkt der Begriff des Gegebenseins, den Morris (1925: 6 ⫽ 1981: 34) mit Deweys Konzept der Erfahrung identifiziert und mit Rückgriff auf den radikalen Empirismus von William James (vgl. Art. 100 § 3.1.) einführt. Bei dem Gegebensein unterscheidet Morris zunächst zwischen dem taktil und dem nichttaktil Gegebenen. Kriterium für taktil Gegebenes ist, daß sich ein Lebewesen ihm nähern und es berühren kann. Morris versteht diesen Begriff als einen Dispositionsbegriff, er bezeichnet also nicht nur das aktual taktil Gegebene, sondern all das, was in dieser Weise gegeben sein kann. Beispiel für taktil Gegebenes sind Steine, Menschen, aber auch Schatten, deren Umrisse man nachzeichnen kann (1925: 10 ⫽ 1981: 39). Bei nichttaktil Gegebenem ist Berührung prinzipiell unmöglich; Beispiele hierfür sind Laute, Gerüche, Farben sowie Gedankenbilder (1925: 10 ⫽ 1981: 38). Morris hebt hervor, daß Gegebenes nicht mit dem Etikett „taktil“ oder „nichttaktil“ erscheint, sondern daß die Unterscheidung eine Handlung voraussetzt und daher eine Geschichte besitzt (1925: 10 ⫽ 1981: 39). Morris meint so, die reale Grundlage für die traditionelle Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten gefunden zu haben, die seit dem Englischen Empirismus eine zentrale Rolle in der Erkenntnistheorie spielte (vgl. Art. 62 § 8.2.3.). Mit Hilfe dieser ersten Dichotomie, deren Ursprünge man bereits bei Ernst Mach (1838⫺1916) und William James finden kann, leitet Morris zur Intersubjektivität über. Denn zwischen dem eigenen Organismus und dem anderen gibt es nach Morris eine charakteristische Asymmetrie. Der andere Organismus ist lediglich taktil gegeben, während der Organismus, der als „mein eigener“ bezeichnet wird, in Relation sowohl zu taktil wie zu nichttaktil Gegebenem steht. Diese Einsicht hat methodologische Konsequenzen. Denn weder der Behaviorismus (etwa Watson 1919) noch der Introspektionismus (Brentano 1874; vgl. Art. 103 § 1.) in der Psychologie können dieser Asymmetrie gerecht werden. Der (methodologische) Behaviorismus ist einseitig, insofern er nur die Untersuchung von taktil Gegebenem zuläßt, während der Introspektionismus ins andere Extrem fällt, und sich auf das Studium des nichttaktil Gegebenen beschränkt. Dem Behaviorismus hält Morris daher eine „selbstex-
2206 klusive“ und dem Introspektionismus eine nur „teilweise selbstinklusive Perspektive“ vor (Morris 1927 a: 255 ff ⫽ 1975: 72 ff). Beide Richtungen können den Geist nicht erfassen, denn hierzu sei eine „vollständig selbstinklusive Perspektive“ einer neuen „phänomenologischen Erfahrungsanalyse“ erforderlich, die die beiden Perspektiven integriert (1927 a: 254 ⫽ 1975: 71). Morris lehnt einen Materialismus ab, indem er betont, daß jede Kausallehre zum Scheitern verurteilt sei, die unberücksichtigt lasse, daß ein Lebewesen gleichermaßen in Interaktion mit dem Taktilen und dem Nichttaktilen steht (1925: 12 ⫽ 1981: 42), beide Arten des Gegebenseins seien gleichermaßen real (1925: 11 ⫽ 1981: 39). Um eine vollständig selbstinklusive Perspektive einnehmen zu können, die Lebewesen nicht auf unbelebte Materie reduziert, führt Morris den Begriff des Symbols ein. Er definiert es als eine funktionale Beziehung zwischen taktil und nichttaktil Gegebenem: „Ein Symbol ist irgendein gegebener oder erfahrener stellvertretender Reiz, der zu einer Wiedereinsetzung des Ursprungsreizes in einer Form führt, die nur von einer selbstinklusiven Ansicht aus beobachtbar ist“ (1927 a: 89 f). Zu beachten ist, daß nicht auch umgekehrt gilt, daß jeder stellvertretende Reiz ein Symbol ist. Ein stellvertretender Reiz ist nur dann ein Symbol, wenn er in einem Organismus den ursprünglichen Reiz in einer nichttaktilen Form, etwa als Erinnerungsbild, hervorruft. „Das Läuten der Kirchenglocken war in der Vergangenheit ein stellvertretender Reiz, der beim Hörer eine heftige und emotionale Reaktion hervorrief, ohne daß er für den Hörer ein Symbol wäre, d. h. ohne den Zusammenbruch bei dem Tod der Mutter ins Gedächtnis zurückzurufen, der eintrat, als die Kirchenglocken läuteten. Dieser stellvertretende Reiz würde dann zu einem Symbol werden, wenn er mit dem ursprünglichen Reiz und nicht nur mit der ursprünglichen Reaktion verbunden wäre“ (1925: 14 ⫽ 1981: 44). „Bedeutung“ im Sinn von „Signifikation“ (‘Inhalt, Botschaft’) unterscheidet Morris von „Signifikanz“ (‘Wert’). Die Reaktion entspricht der Signifikanz, dem Wert für den Organismus; die Situation, die den ursprünglichen Reiz enthielt und die daher von dem Symbol vertreten wird, ist das Objekt des Symbols und entspricht der Signifikation. Morris beschränkt den Bedeutungsbegriff auf die Signifikation (1925: 14 ⫽ 1981: 45) und
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
kann so das Symbol als „bedeutungshaltigen stellvertretenden Reiz“ definieren. Durch das Symbol wird der Bereich des Gegebenen um eine neue Form des symbolisch Gegebenen erweitert (1925: 17 ff ⫽ 1981: 43 ff). Dieses weist über sich hinaus, es ist weder ein bloß taktil, noch ein bloß nichttaktil Gegebenes, vielmehr integriert es diese beiden Gegebenheitsweisen (1927 a: 54). Da das Symbol über seine Funktion konstituiert ist, kann der zugrunde liegende Reiz in einer anderen Verhaltenssituation wieder zu einem bloß taktil oder nichttaktil Gegebenen werden. Wie Morris hervorhebt, verschieben sich die Anteile des Symbolischen und des Nichtsymbolischen im Gegebenen ständig (1925: 17 ⫽ 1981: 48 f). Da zur Natur des Symbols notwendig eine Beziehung zum nichtsymbolischen Bereich gehört, besitzt die Logik kein absolutes, sondern lediglich ein kontingentes oder variables Apriori (vgl. auch C. I. Lewis, „A Pragmatic Conception of the A Priori“, 1923). Ein Syllogismus ist lediglich ein „versteinertes Fossil des tatsächlichen zeitabhängigen Schlußprozesses“ (1925: 55 ⫽ 1981: 102), das erst in einer konkreten Verhaltenssituation zu vollem Leben erwacht (1925: 58 ⫽ 1981: 107). Das Denken wird von Morris als eine Symbolfolge verstanden (vgl. Peirce 1931⫺ 38: 5.131 f; siehe Posner 1994: 205). Die intentionale Struktur des Mentalen (siehe Franz Brentano und Edmund Husserl, vgl. Münch 1993 sowie Art. 103 §§ 1. und 2.) ergibt sich dabei aus dem symbolischen Charakter. Den nichttaktilen Momenten des Symbols entspricht das Denkerlebnis im weiten Sinne, den taktilen Momenten hingegen das Denkobjekt. Aus dem symbolischen Charakter des Denkens folgt also, daß zu jedem Denken ein Denkobjekt gehört. Wenn es sich bei dem Denkobjekt wie im Traum um einen nichtexistierenden Gegenstand (siehe Meinong; vgl. Art. 74 § 13.) handelt, deutet Morris dies so, daß das Denkobjekt hier nicht konstant fortdauert. Wie bereits die Pragmatisten (vgl. Art. 100 § 3.1.) herausgearbeitet hatten, hat das Denken auch eine biologische Funktion. Pragmatische Bedingung für das Denken ist eine Verhaltenssituation, in der es einen mehrdeutigen Reiz gibt, auf den der Organismus nicht mit einer klaren Reaktion antworten kann (vgl. Dewey 1896). Er wird erst in einem Reflexionsprozeß eindeutig und dadurch zu einem Reiz für eine Handlung (Morris 1925: 56 ⫽ 1981: 104). Dieser Reflexionsprozeß ist
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger
charakteristisch für den Erkenntnisprozeß. Neben dem reflektierenden gibt es auch ein nichtreflektierendes Denken. Seine Funktion besteht darin, eine neue Umwelt aufzubauen, die den Bedürfnissen des Organismus eher entspricht als die gegenwärtig gegebene taktile Umwelt. Beispiele hierfür sind Mythologie, Religion, Kunst, teilweise die Philosophie und auch einfach Träumereien (siehe Cassirer; vgl. Art. 111 § 2.). Bei letzteren handelt es sich nach Morris um eine Form autistischen Denkens. Ein Gegebenes ist nach Morris nur dann mental, wenn es Repräsentationsfunktion übernommen hat, also ein symbolisch Gegebenes ist. Geist kann daher keine Substanz sein, etwas, ‘in’ dem sich Vorstellungen und dergleichen befinden, wie dies die traditionelle Seelenmetaphysik annahm (vgl. Art. 49 § 8.). Er ist vielmehr ein Teil der Welt, der in bestimmter Weise funktioniert. Geist als der Geist eines bestimmten Menschen ist sein symbolisches Repertoire, also eine Menge aufeinander bezogener Symbole, die in der Biographie des Individuums begründet sind und der Erkenntnis dienen. Vom Geist als dem Symbol-(oder: Erkenntnis-)repertoire unterscheidet Morris die Persönlichkeit als Verhaltensrepertoire. Die frühe Arbeit von Morris bewegt sich ganz im Rahmen des Pragmatismus. Dabei kommt Morris auch eine besondere Rolle als Vermittler zu, da er es war, der Meads Vorlesungen zur Sozialpsychologie auf der Grundlage von Vorlesungsnachschriften herausgab und durch umfassende Einführungen verständlich machte (vgl. Art. 74 § 22.). Es handelt sich um die Klassiker Mind, Self, and Society (1934 ⫽ 1968) und Philosophy of the Act (1938 ⫽ 1969).
3.
Morris und die Bewegung der Einheitswissenschaft
Anfang der dreißiger Jahre kam ein neuer Einfluß hinzu, der Wiener Kreis und die Bewegung der Einheitswissenschaft (vgl. Art. 106 § 5.). 1933 lernte Morris Herbert Feigl (1902⫺1988), einen Vertreter des Wiener Kreises, kennen, der bereits 1930 als Einwanderer in die USA gekommen war (vgl. Feigl, „The Wiener Kreis in America“, 1969: 630). Feigl ermunterte Morris, der ein Jahr zuvor Six Theories of Mind veröffentlicht hatte und sich für Sprachtheorie zu interessieren begann, nach Prag zu fahren, um dort
2207 Rudolf Carnap (1891⫺1970) kennenzulernen. Morris befolgte diesen Rat und nahm 1934 an der „Prager Vorkonferenz der Internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft“ teil, wo er den Vortrag „The Relation of the Formal and Empirical Sciences within Scientific Empiricism“ (Morris 1935 b) hielt. Die Prager Vorkonferenz wurde von einer Bewegung organisiert, der es um den Zusammenschluß verschiedener Richtungen ging, die einen antimetaphysischen Empirismus vertraten und die später von dem Gedanken der Einheitswissenschaft geprägt wurden. Am Beginn dieser Bewegung stand die Erlanger Tagung von 1923, an der neben Rudolf Carnap auch Hans Reichenbach aus Berlin (1891⫺1953) teilnahm. 1929 fand in Prag die „Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften“ statt, die von der Berliner Gesellschaft für empirische (später: wissenschaftliche) Philosophie und dem Wiener Kreis getragen wurde. Da die Beziehung dieser beiden Gruppen zum Warschauer Kreis und der polnischen Logiker-Schule (vgl. Art. 106 § 5.) sowie zu Vertretern des Logischen Empirismus in Skandinavien, England, Amerika und Frankreich immer festere Formen annahm, wurde der Gedanke einer internationalen Tagung verfolgt. Es sollten dort die Grundlagen aller Wissenschaften behandelt werden. Zur Vorbereitung diente die Prager Vorkonferenz von 1934, auf der ein Komitee mit der Organisation des „Ersten Kongresses für Einheit der Wissenschaft“ beauftragt wurde, der dann 1935 in Paris stattfand. Zu diesem Komitee gehörte neben Rudolf Carnap, Philipp Frank (1884⫺1966), Jørgen Jørgensen (1894⫺1969), Jan Łukasiewicz (1878⫺1956), Otto Neurath (1882⫺1945), Hans Reichenbach (1891⫺1953), Louis Rougier (1889⫺1981) und Moritz Schlick (1882⫺ 1936) auch Morris. Auf dem Kongreß in Paris hielt Morris den Vortrag „Semiotic and Scientific Empiricism“ (1935 c) und stellte den Antrag, daß der Kongreß das Projekt der Enzyklopädie der Einheitswissenschaft unterstützen solle, an dem seit 1933 in dem von Neurath gegründeten Mundaneum-Institut Den Haag gearbeitet wurde (vgl. Art. 104 § 4.). Regelmäßig wurden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges „Kongresse für Einheit der Wissenschaft“ abgehalten: 1936 in Kopenhagen, 1937 in Paris, 1938 in Cambridge (England). Der fünfte und letzte Kongreß, der von Neurath und Morris organisiert wurde, begann 1939 zwei Tage vor Ausbruch
2208 des Zweiten Weltkrieges in Cambridge MA. Morris wirkte aber nicht nur bei der Organisation der Kongresse der Bewegung der Einheitswissenschaft mit, er war auch Mitherausgeber des Journal of Unified Science, wie sich die Zeitschrift Erkenntnis nannte, seit sie ⫺ nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland 1938 ⫺ in Den Haag weitergeführt wurde. Morris war zudem zusammen mit Neurath und Carnap Herausgeber des 1938 erschienenen ersten Bandes der Encyclopedia of Unified Science, der unter anderem Beiträge von Leonard Bloomfield, Niels Bohr, Rudolf Carnap, John Dewey, Philipp Frank, Ernest Nagel, Otto Neurath und Bertrand Russell enthielt sowie zwei Abhandlungen von Morris: „Scientific Empiricism“ und „Foundations of the Theory of Signs“ (Morris 1938 a). Während Neurath die Planung der Enzyklopädie übernahm, fiel der größte Teil der Detailarbeit an Carnap und an Morris, der auch den Verleger für das Projekt fand (Morris 1960: 520). Besonders eng war die Beziehung zwischen Morris und Carnap. Carnap, der im Dezember 1935 in die USA kam, verdankte es dem Einfluß von Morris, daß er einen Ruf an die University of Chicago erhielt, wo er von 1936 bis 1952 lehrte. Morris machte Carnap mit der Philosophie des Pragmatismus, insbesondere mit Dewey und Mead, bekannt. Carnap selbst hielt Morris für den amerikanischen Philosophen, der seiner Philosophie am nächsten stand (Carnap 1963: 34). Zusammen führten beide über mehrere Jahre ein Kolloquium durch, in dem mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen methodologische Fragen diskutiert wurden. 1939 besuchten Morris und Carnap zusammen ein Seminar Russells, das die Grundlage von dessen Inquiry into Meaning and Truth wurde. Morris verhalf auch Reichenbach und Carl Gustav Hempel (1905⫺1995) zur Emigration in die USA (Feigl 1969: 648). Während das Früh- und Spätwerk von Morris als „pragmatisch integrierte Semiotik“ charakterisiert werden kann (siehe unten § 5.), versucht sein einflußreichstes Werk, die Grundlagen der Zeichentheorie (1938 a ⫽ 1972), zu zeigen, wie der Semiotik ein axiomatischer Aufbau gegeben werden kann. Wie er selbst erklärt, soll die Semiotik dort in einer Weise begründet werden, die nicht den von ihm selbst vertretenen verhaltensorientierten Ansatz voraussetzt. Das in den Grundlagen vorgestellte Zeichenmodell ist eine Zeichentheorie „more geometrico“. Die reine Se-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
miotik, die der deskriptiven Semiotik vorgeordnet ist ⫺ Morris charakterisiert die Beziehung als Applikationsverhältnis ⫺, soll ein formales System von Grundbegriffen und Grundsätzen sein, aus dem weitere Sätze als Theoreme ableitbar sind (siehe auch den Aufbau von Karl Bühlers semiotischem Hauptwerk von 1934; vgl. Art. 112). Als einziger Grundbegriff dieses Kalküls soll das „mittelbar-Notiz-nehmen-von“ („mediated-takingaccount-of“) dienen: In einem Zeichenprozeß (Semiose) nimmt etwas von etwas durch die Vermittlung von etwas Drittem Notiz; er verwirklicht eine dreistellige Beziehung. Den Vermittler nennt Morris „Zeichenträger“, den Notiznehmer „Interpret“ und das, von dem Notiz genommen wird, „Designat“, wobei dieser Term offenläßt, ob er einen existierenden Gegenstand bezeichnet. Wenn dies der Fall ist, spricht Morris vom „Denotat“ des Zeichens. Die Notiznahme („taking-account-of-something“) nennt Morris im Anschluß an Peirce „Interpretant“. Mit Hilfe der drei Argumente Zeichenträger, Interpret und Designat definiert Morris zweistellige Relationen, deren Bezugspunkt der Zeichenträger ist (siehe Abb. 113.1.; vgl. auch Art. 1, Abb. 1.2. und Art. 5, Abb. 5.19). Auf der syntaktischen Dimension liegen die Relationen zwischen den Zeichenträgern, auf der semantischen Dimension die Relationen zwischen den Zeichenträgern und deren Designaten und auf der pragmatischen Dimension die Relationen zwischen den Zeichenträgern und den Interpreten (vgl. Art. 1 § 2.). Diese drei Zeichendimensionen sind jeweils Gegenstand der drei Teildisziplinen der Semiotik: Syntaktik, Semantik und Pragmatik (vgl. Art. 2, 3 und 4). In dieser Bestimmung der drei Teildisziplinen geht Morris noch nicht über die Zeichentheorie von Peirce hinaus (vgl. Art. 100 § 2.1.1.). Eine neue Idee liegt allerdings darin, daß er sie mit der Annahme Carnaps verbindet, daß die Wissenschaften durch die Zeichensysteme charakterisiert werden können, die sie verwenden (vgl. Art. 30 § 1.6. und Art. 124). Die verschiedenen Einzelwissenschaften unterscheiden sich durch ihre unterschiedlichen Darstellungsmittel (vgl. Schnelle 1962), wozu Morris sowohl ihren Wortschatz und ihre Syntax als auch ihre Diagramme und konstruktsprachlichen Sonderzeichen rechnet. In der Soziologie ist etwa von „Gesellschaft“ und „Wert“ die Rede, in der Physik oder Chemie hingegen nicht; die Chemie benutzt eine differenzierte mehrdimensionale
2209
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger Semiotik
Syntaktik
Semantik
Designat
m ag pr
Zeichen-
n sio e en ios m Di em he er S d
isc
syntaktische träger Dimension der Semiose
at
andere Zeichenträger
se ma nti s
ch eD de ime r S ns em ion ios e
Semiose
Pragmatik
Interpret
Abb. 113.1: Das Modell der Zeichenrelation nach Morris (1939 a: 133 ⫽ 1972: 94).
Formelsprache, die Geographie bevorzugt Landkarten mit Legenden. Entsprechend erklärt Morris, daß auch jede der drei semiotischen Teildisziplinen eine eigene Sprache entwickeln werde, die einen konzeptuellen Apparat bereitstellt, mit dem die von ihr untersuchten Zeichenrelationen zu behandeln sind (1938 a: 2 f ⫽ 1972: 19). Hinzu kommt die Semiotik im engeren Sinne, die Ausdrücke verwendet, die in allen semiotischen Teildisziplinen vorkommen und deshalb nicht einer einzelnen von ihnen zugeordnet werden können. Morris (1938 a: 8 ⫽ 1972: 26 f) schreibt: „Jede dieser Teildisziplinen wird ihre eigenen speziellen Begriffe benötigen; so ist […] ‘impliziert’ ein Begriff der Syntaktik, ‘designiert’ und ‘denotiert’ sind Begriffe der Semantik, und ‘ist Ausdruck von’ ist ein Begriff der Pragmatik. Und da die verschiedenen Dimensionen lediglich Aspekte eines einheitlichen Prozesses sind, wird es bestimmte Relationen zwischen den Begriffen der verschiedenen Teildisziplinen geben, und es werden besondere Zeichen notwendig sein, um diese Relationen und damit den Prozeß der Semiose im Ganzen zu charakterisieren. ‘Zeichen’ selbst ist ein strikt semiotischer Term, der weder innerhalb der Syntaktik noch der Semantik noch der Pragmatik allein definierbar ist; nur in einem weiteren Sinn von ‘semiotisch’ darf man die speziellen Begriffe dieser Disziplinen ‘semiotische Begriffe’ nennen“.
Dieser Zugangsweise kommt innerhalb des Projekts der Einheitswissenschaft, zu deren Grundlegung Morris ausdrücklich beitragen will, eine bisher kaum beachtete Bedeutung zu. Für Carnap, den Theoretiker des Projekts der Einheitswissenschaft, stellt sich die Aufgabe, die Wissenschaften zu „vereinheitlichen“, als Problem dar, wie er die Sprachen der verschiedenen Einzelwissenschaften zurückführen kann auf eine grundlegende Sprache. Dies ist für ihn die Sprache der Physik (vgl. Art. 106 § 3.1.), und er will zeigen, mit welchen logischen Mitteln diese Rückführung möglich ist. Es handelt sich dabei nicht um eine Übersetzung, die mit Hilfe der Beziehung der logischen Äquivalenz erfaßbar ist, da dann auch umgekehrt etwa die Sätze der Physik in Sätze der Biologie übersetzbar wären. In den dreißiger Jahren schlägt Carnap daher eine neue Operation vor, die er „Reduktion“ nennt (vgl. „Testability and Meaning“, 1936/37). Dabei geht Carnap davon aus, daß die Einzelwissenschaften in einem hierarchischen Verhältnis stehen, insofern die Sätze der Soziologie auf die der Psychologie, diese wiederum auf die Sätze der Biologie, und in weiterer Folge auf die der Chemie und der Physik „reduzierbar“ sind. Bereits in den dreißiger Jahren sah man die Problematik dieses Ansatzes (vgl. Popper 1934 und Kokoszyn´ska 1937: 333).
2210 In den dreißiger Jahren betrachtet Carnap noch die syntaktischen Beziehungen zwischen Zeichen als einzige Zeichendimension. Wenn Carnap die Sprache der Wissenschaften untersucht, dann kann er daher nur versuchen, sie mit den Mitteln einer „logischen Syntax“ (so der Titel seines Buches von 1934) zu analysieren. Auch die Frage nach der Möglichkeit der Reduktion der Wissenschaften aufeinander wird hier nur mit syntaktischen Mitteln behandelt. Für Morris hingegen, dem durch sein Studium des Pragmatismus auch andere semiotische Bezüge als die der Syntax geläufig sind, umfaßt die Wissenschaftsphilosophie auch viel weiter reichende Themen. Die Verbindung stellt Morris in den letzten drei Abschnitten der Grundlagen (1938 a ⫽ 1972) her, die „Probleme und Anwendungen“ betreffen. Als erste Forderung hebt Morris die Vereinigung („unification“) der semiotischen Wissenschaften hervor. Morris betont den interdisziplinären Charakter der Semiotik, da sowohl Empiriker, die klären, unter welchen Bedingungen Zeichenprozesse vorkommen, wie Systematiker benötigt werden, wobei jeder Material für den anderen bereitstellt. Als besonders wichtiges theoretisches Problem nennt Morris die Klärung der verschiedenen Regelsorten, wobei er auf die Biologie, die Psychologie, die Psychopathologie, die Linguistik und die Soziologie hinweist (1938 a: 54 ⫽ 1972: 83). Morris betont ferner die Bedeutung der Geschichte der Semiotik als Stimulans und Anwendungsbereich. So läßt sich das ehrwürdige Projekt einer universalen Grammatik (vgl. Art. 62 § 7.) verfolgen, indem untersucht wird, wie die unterschiedlichen Sprachen mit verschiedenen Mitteln verwandte Zeichenprozesse ausführen. Die Formalwissenschaften Logik, Mathematik und Linguistik sind seiner Überzeugung nach nicht nur in semiotischen Begriffen neu interpretierbar ⫺ „die logischen Paradoxien, die Typentheorie, die Gesetze der Logik, die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Unterscheidung von Deduktion, Induktion und Hypothesenbildung, die Modallogik […] lassen sich innerhalb der Zeichentheorie diskutieren“ ⫺, sie können sogar „ohne Abstriche in die Semiotik übernommen werden“. Die Wissenssoziologie und die Rhetorik gehen nach Morris in der Pragmatik auf. „Die Semiotik ist der Rahmen, in den die heutigen Äquivalente des alten Triviums Logik, Grammatik und Rhetorik einzuordnen sind“ (1938 a: 56 ⫽ 1972: 83 f). Daß Morris
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
auch die Wissenssoziologie in die Semiotik einbezieht, ist bemerkenswert; sie hat in der Bewegung der Einheitswissenschaft keine ganz unbedeutende Rolle gespielt (vgl. die Beiträge von Dewey: „Unity of Science as a Social Problem“ (1938), Santillana und Zilsel: „The Development of Rationalism and Empiricism“ (1941) und Thomas Kuhn: „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962) zur International Encyclopedia of Unified Science). Für Morris ist die Semiotik nicht nur eine Wissenschaft unter anderen. Sie ermöglicht es auch, die etablierten Wissenschaften den semiotischen Teildisziplinen zuzuordnen. Formalwissenschaften wie die Mathematik und Logik werden der Syntaktik zugeordnet, die meisten Naturwissenschaften der Semantik und die Sozial- und Humanwissenschaften der Pragmatik (vgl. Morris 1936: 124). Dabei betont Morris, daß die drei Teildisziplinen nichtreduzierbare und gleichwertige Perspektiven liefern (1938 a: 53 ⫽ 1972: 81). Der in der Literatur häufig anzutreffende Vorwurf, das Zeichenmodell der Grundlagen sei additiv, wird dem Werk nicht gerecht (vgl. Apel 1973 a: 10 f und Trabant 1976: 45 f). Diese Darstellung orientiert sich an der Interpretation von Carnap (1942), der seinerseits auf Morris Bezug nimmt (siehe unten § 5.). Morris dagegen legt Wert auf die Feststellung, daß die Semiotik „mehr ist als die Summe dieser drei Disziplinen“, da sie deren Wechselbeziehungen thematisiert und „mit dem ganzheitlichen Charakter des Zeichenprozesses zu tun [hat], den diese Disziplinen für sich genommen außer Acht lassen“ (1938 a: 52 f ⫽ 1972: 80; siehe auch Art. 5 § 1.).
4.
Verhaltensorientierte Theorie der Zeichen
Durch die politischen Entwicklungen der 30er Jahre ⫺ die Unterdrückung ihrer Ziele und die Vertreibung ihrer Vertreter vom europäischen Kontinent ⫺ verlor die Bewegung der Einheitswissenschaft viel von ihrer Kraft. Die Kontinuität ging verloren, der Faden riß, so daß nach dem zweiten Weltkrieg nur noch Überreste erhalten waren. Hinzu kamen interne theoretische Probleme, da sich das von Carnap für die Begründung der Einheitswissenschaft verfolgte Programm des Reduktionismus als praktisch undurchführbar erwies. In der Weiterentwicklung der Semiotik von Morris hat das die Konsequenz, daß in
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger
seinen späteren Arbeiten, etwa in seinem zweiten semiotischen Hauptwerk, Zeichen, Sprache und Verhalten (1946 ⫽ 1973) die Semiotik nicht mehr als eine Formalwissenschaft, sondern als eine Naturwissenschaft konzipiert wird. Dabei orientiert er sich an seinen eigenen pragmatischen Ursprüngen und greift zurück auf die damals aktuellen Arbeiten der gemäßigt behavioristischen Psychologie insbesondere von Clark L. Hull (1884⫺1952) und von Edward C. Tolman (1886⫺1959), der versuchte, Behaviorismus und Gestaltpsychologie zu verbinden. War in den Grundlagen der Begriff der mittelbaren Notiznahme zentral, so ist es nun der Begriff des Zeichenverhaltens. Dabei lehnt sich Morris wie bereits in seiner Dissertation an die Chicagoer Schule an; insbesondere die Handlungstheorie seiner Lehrers Georg Herbert Mead gewinnt an Bedeutung (vgl. Posner 1981). Das wichtigste Zeichensystem, die Sprache, wird verstanden als eine Form sozialen Verhaltens, die im Rahmen des Meadschen Ansatzes (vgl. Art. 74 § 22.) analysiert wird. Dies führt Morris in der Konsequenz unter anderem zu einer verhaltensorientierten Grammatik. 4.1. Handlungsphasen Mead definiert Handlungen als zielorientiertes Verhalten („behavior“). Das Ziel ist dabei durch einen Impuls gegeben, der als ein Antrieb verstanden werden kann, welcher in seinem Ablauf nicht vollständig festgelegt ist. Im Hinblick auf die Erfüllung dieses Ziels unterscheidet Mead in Anlehnung an Aristoteles (vgl. Art. 40 § 3.2.2.) bei einer Handlung drei Stadien: die Orientierungsphase, die Bearbeitungsphase und die Erfüllungsphase (vgl. Mead 1938: 3⫺25 ⫽ 1969: 102⫺129). In der Orientierungsphase wird etwa ein Hungriger seine Wahrnehmungen auf Eßbares hin selektieren. In dieser Phase spielen die Fernsinne (Sehen, Hören) eine besondere Rolle. Sie geben dem Handelnden Orientierungshilfen und veranlassen ihn etwa, sich auf den intendierten Gegenstand zuzubewegen. In der Bearbeitungsphase werden die Möglichkeiten, die eine derart orientierte Wahrnehmung eröffnet hat, verwirklicht. Die Suppe, die man gerochen und auf Genießbarkeit überprüft hat, wird nun aufgewärmt und der Löffel in Startposition gelegt. Es kann jedoch auch eine komplexere Handlung, etwa die Herstellung eines Gegenstandes (Suppe, Werkzeug) stattfinden. Die Bearbeitung des Gegenstandes erfolgt zumeist in der unmittel-
2211 baren Umgebung des Handelnden, so daß auch die Nahsinne (Riechen, Schmecken, Tasten) zum Einsatz kommen. In der Erfüllungsphase wird schließlich der Impuls, der den Handlungsablauf in Gang brachte, beseitigt ⫺ im Beispiel: die Suppe wird verzehrt. Dabei kann es zu Komplikationen kommen, wenn etwa der Impuls nicht völlig befriedigt wird (zu wenig Suppe) oder wenn ein konkurrierender Impuls über den ursprünglichen dominiert (der nächste Termin verhindert das Zu-Ende-Essen). In dieser Phase spielen im allgemeinen die Nahsinne die primäre Rolle. Bei einem derartigen Handlungsablauf bestimmen sich Handlung, behandelter Gegenstand und Handelnder wechselseitig. Diese Handlungskomponenten können alle an Komplexität gewinnen. Der Handlungsimpuls verfeinert sich zu Interesse, Neigung, Absicht, Bedürfnis, Lust oder Laune (vgl. Tranöy 1972/75: 143 ff). Als impulsbefriedigender Gegenstand braucht nicht mehr notwendig ein einzelnes sinnlich-konkret gegebenes Objekt aufzutreten, sondern es kann sich auch um mehrere Gegenstände handeln, die zudem abstrakt und allgemein sein können. Die Impulsbefriedigung geschieht nicht mehr allein durch die Nahsinne, sondern auch durch die Fernsinne, durch Vorstellungen oder gar durch innere oder äußere Handlungen, die wiederum mehrphasig sind. Diese Entwicklung kann so weit gehen, daß schließlich alle inhaltlichen Bestimmungen der Handlungsphasen ungültig werden und nur die phasenspezifischen Funktionen Orientierung, Bearbeitung und Erfüllung erhalten bleiben. So können bereits in den späteren Entwicklungsstufen des Kleinkindes die Nahsinne als Träger von Orientierungsreizen und die Fernsinne als Träger von Erfüllungsreizen eingesetzt werden (wenn es zum Beispiel das Kissen wegschiebt, um einen ungestörten Blick auf die Mutter zu haben). Jede manifeste Eigenschaft eines Gegenstandes kann auf diese Weise für die verschiedenen Handlungsphasen eine eigene Funktion übernehmen. Dabei haben insbesondere Teile der Bearbeitungsphase die Tendenz, in die Erfüllungsphase der Handlung einzugehen. Mead hat diese Handlungskonzeption verwendet, um seine Theorie der Gemeinschaftshandlung („social act“), der Kommunikation und der Entwicklung des Selbst auszuarbeiten. 4.2. Zeichentypen Auf Meads Handlungsanalyse baut Morris seine Zeichentheorie auf, wobei er den Begriff des Zeichenverhaltens zunächst für den Rezi-
2212 pienten des Zeichens (vgl. Art. 5 § 1.3.) bestimmt. Der Meadsche Ansatz bietet sich dafür an, da es zwischen den Handlungsphasen Verweisungszusammenhänge gibt. So verweisen die Orientierungsreize auf die Bearbeitungseigenschaften und diese auf den impulsbefriedigenden Gegenstand. Diese finale Verweisungsstruktur nutzt Morris, um mit Hilfe des Dispositionsbegriffs den Zeichenbegriff einzuführen. Generell bestimmt Morris das Zeichenverhalten als ein zielgerichtetes Verhalten, bei dem Zeichen Kontrolle ausüben (Morris 1946: 6 f ⫽ 1973: 80). „Wenn A ein vorbereitender Reiz ist, der bei Abwesenheit von Reizobjekten, welche Reaktionsfolgen einer bestimmten Verhaltensfamilie zu initiieren pflegen, eine Disposition in einem Organismus verursacht, unter bestimmten Bedingungen mit Reaktionsfolgen dieser Verhaltensfamilie zu reagieren, dann ist A ein Zeichen“ (Morris 1940: 10 f ⫽ 1973: 84). Dabei versteht Morris unter „vorbereitender Reiz“ einen Reiz, der eine Reaktion auf einen Reiz beeinflußt, und unter „Verhaltensfamilie“ eine „Gruppe von Reaktionsfolgen, die durch gleichartige Reizobjekte eingeleitet werden und die bei diesen Objekten als gleichartigen Zielobjekten für gleichartige Bedürfnisse enden“ (1946: 10 ⫽ 1973: 83). Als Zeichen fungiert primär ein Sinnesreiz, der in der Orientierungsphase der Handlung auftritt und über die Fernsinne wahrgenommen wird. Als Bezeichnetes („Denotat“) fungiert primär ein impulsbefriedigender Gegenstand, der in der Erfüllungsphase der Handlung auftritt und durch eine Menge von Erfüllungseigenschaften („Signifikat“) charakterisiert ist, die über die Nahsinne wahrgenommen werden. Als Zeichenzusammenhang („Interpretant“) fungiert primär die Disposition des Handelnden, durch geeigneten Umgang mit dem Bezeichneten den Handlungsimpuls zu beseitigen. Geht man von der genetisch primären Zeichensituation aus, so sind Orientierungsreize noch sehr spezielle Zeichen. Sie sind modalitätsabhängig, da sie nicht von demselben Organismus produziert werden, von dem sie rezipiert werden. Sie sind rezipientenabhängig, da das Bezeichnete mit dem Handlungsimpuls des Rezipienten wechselt. Sie sind situationsabhängig und funktionsabhängig, da sie nur im Rahmen einer impulsorientierten Handlungskette im Rezipienten eine spätere Phase seiner Handlung auslösen und ihre Zeichenfunktion verlieren, wenn diese Kette unterbrochen wird. Allge-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
mein werden Reize, die im Rezipienten eine spätere Phase seiner Handlung auslösen, indem sie ihn auf einen impulsbefriedigenden Gegenstand hinweisen, als „Signale“ bezeichnet (1946: 24 f ⫽ 1973: 101). Signale funktionieren weitgehend automatisch, denn die Auslösung einer späteren Handlungsphase geschieht, ohne daß der Rezipient Gelegenheit zur Überlegung hat. Zwischen dem Gegenstand, von dem der Signalreiz ausgeht, und dem Gegenstand, der in der Erfüllungsphase den Impuls befriedigt, muß über die funktionale Handlungskette hinaus kein inhaltlicher Zusammenhang bestehen. Es gibt jedoch auch den Sonderfall, bei dem die beiden Gegenstände identisch sind. Hier verweist der Orientierungsreiz den Rezipienten auf eine Erfüllungseigenschaft des gleichen Gegenstandes. In Situationen, in denen der wahrgenommene Gegenstand ein Lebewesen ist, kann eine frühe Phase einer Bewegung dieses Lebewesens dem Rezipienten als Orientierungseigenschaft dienen, die auf eine spätere Phase derselben Bewegung als Erfüllungseigenschaft des Lebewesens verweist (vgl. Morris in Mead 1934: XX f ⫽ 1968: 23 f). Das Schürzen der Lippen weist den Rezipienten auf den Kuß hin, der gleich danach erfolgt ⫺ hier ist der Küssende Denotat und der Kuß Signifikat der Handlung. Das Ausstrecken der Hand weist ihn auf das Ergreifen des Gegenstandes hin, der sich in der Richtung der ausgestreckten Hand befindet ⫺ hier sind Handelnder und Gegenstand Denotate, das Ergreifen ist Signifikat der Handlung. Indem die wahrgenommene Bewegung dem Rezipienten zeigt, was der Handelnde als nächstes tun wird, ermöglicht sie ihm die vorwegnehmende Reaktion auf eine Handlung, die noch gar nicht ausgeführt ist. Durch die Wahrnehmung der frühen Phase einer Handlung als Zeichen für deren Fortsetzung erscheint der Handelnde dem Rezipienten als „Sender“. Reize, die im Rezipienten eine spätere Phase seiner Handlung auslösen, indem sie ihn auf eine spätere Phase einer Handlung des Senders hinweisen, werden allgemein als „Gesten“ bezeichnet. Bei vielen unserer Körperbewegungen werden wir uns dessen gar nicht bewußt, daß andere sie als Zeichen rezipieren; und selbst wenn wir uns dessen bewußt werden, können sie für uns andere Signifikate haben als für die Rezipienten. Nach Mead und Morris ist nun die Sprache ein Zeichensystem, dessen Zeichen für den Sender dieselbe Signifikation haben wie für den Rezipienten. Morris nennt
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derartige Zeichen „Comzeichen“ (siehe unten). Ihrer verhaltenstheoretischen Fundierung galt die lebenslange Aufmerksamkeit von Mead. Als biologisch fundamental sah er dabei wie sein Lehrer Wilhelm Wundt die Gesten an (vgl. Art. 77 § 2.2.). Wenn der Rezipient das Ballen der Faust als Geste versteht, die einen Fausthieb gegen ihn vorbereitet, so wird seine Reaktion im Ausweichen bestehen. Wenn der Schläger den Beginn der Ausweichbewegung des Rezipienten seinerseits als Geste versteht, die die Ausweichbewegung vorbereitet, wird er den Fausthieb unterlassen oder in eine andere Richtung lenken. Derartige gegenseitige Handlungsbeeinflussung ist ein Beleg für Meads Behauptung, daß der Verlauf einer länger dauernden Handlung durch von ihr selbst ausgelöste schneller ablaufende Handlungen gesteuert werden kann (Morris in Mead 1934: XX ⫽ 1968: 24). Mead spricht hier von „gestischer Interaktion“ („conversation of gestures“) und sieht in ihr eine Vorstufe der Gemeinschaftshandlung („social act“; vgl. Mead 1934: 44 ⫽ 1968: 83). Gesten der geschilderten Art beeinflussen zwar die Handlungen des jeweils anderen, sie dienen aber nicht der Steuerung des eigenen Verhaltens, denn sie werden meist blind und ohne kommunikative Absicht vollzogen. Für den Sender bleibt die Geste ohne Signifikat und damit sinnlos, so daß der Rezipient einer Geste den Sender besser versteht als dieser sich selbst („unintelligent gesture“; vgl. Mead 1922: 162). Diese Asymmetrie kann nur dadurch überwunden werden, daß auch der Sender seine Handlungen antizipiert. Dies geschieht, indem zwei aufeinanderfolgende Handlungen verschiedener Personen als Phasen einer einzigen Handlung aufgefaßt werden. Wer die Handlung seines Interaktionspartners als Fortsetzung seiner eigenen Handlung auffaßt, für den wird seine eigene Handlung als frühe Phase einer Gemeinschaftshandlung erkennbar. Er kann von der späteren Phase dieser Gemeinschaftshandlung auf die frühere Phase zurückschließen und diese als Reaktion auf jene verstehen. Durch die Reaktion des Partners erhält für ihn auch die eigene Geste einen Sinn, sie wird zur signifikanten Geste („significant gesture“; vgl. Mead 1934: 81 f ⫽ 1968: 121 f sowie Morris 1946: 33 f und 43 f ⫽ 1973: 117 ff und 122 ff). Es finden sich hier bereits die Grundstrukturen der später von Grice ausgearbeiteten (vgl. Grice 1957, 1968, 1969 und
2213 1982) kommunikationsbasierten Theorie der Bedeutung (siehe Blanke und Posner 1998). Signifikante Gesten sind somit vom Sender selbst als solche erkannte Gesten; der Sender wird zum Rezipienten seines eigenen Zeichens. Ein Sender dieser Art heißt „Zeichenproduzent“. Allgemein wird ein Reiz als „signifikante Geste“ bezeichnet, wenn er nicht nur im Rezipienten eine spätere Phase seiner Handlung (Reaktion) auslöst, indem er auf eine spätere Phase im Handeln des Senders hinweist, sondern auch im Sender eine spätere Phase seiner Handlung auslöst, indem er auf eine spätere Phase im Handeln des Rezipienten (dessen Reaktion) hinweist (vgl. Morris 1946: 43 ff ⫽ 1973: 141 f). Die zu erwartende Handlungsfortsetzung des Senders fungiert als Signifikat der Geste für den Rezipienten, und die zu erwartende vorwegnehmende Reaktion des Rezipienten darauf als Signifikat der Geste für den Sender. Die gegenseitigen Handlungserwartungen (Signifikate) sind aber von den tatsächlich vorliegenden Handlungsdispositionen (Interpretanten) zu unterscheiden. Andernfalls wäre der bewußte Einsatz von Drohgebärden oder von Täuschungen (der sich in Bewegungsspielen wie Fußball, Tennis und Fechten findet) nicht möglich. Der Zweck einer Drohung liegt ja meist darin, dem Zeichenproduzenten die Verwirklichung des Angedrohten zu ersparen. Selbst wenn der Drohende gar nicht die Disposition hat, die angedrohte Handlungsfortsetzung auszuführen, muß er sich doch darauf verlassen können, daß der Bedrohte sie erwartet, also den Drohenden ernst nimmt. Dies ist aber nur möglich, wenn beide etwa die gleichen Vorstellungen von der Handlungsfortsetzung des Zeichenproduzenten haben. Umgekehrt verliert eine Drohung ihren Zweck, wenn der Bedrohte nicht weiß, wie er der drohenden Handlungsfortsetzung des Zeichenproduzenten begegnen kann. Selbst wenn der Bedrohte also gar nicht die Disposition hat, die vom Drohenden nahegelegte Reaktion auszuführen, muß er sich doch darauf verlassen können, daß der Drohende sie von ihm erwartet, also den Bedrohten ernst nimmt. Dies ist wiederum nur möglich, wenn beide auch ungefähr gleiche Vorstellungen von der Handlungsfortsetzung des Zeichenrezipienten haben. Interaktion mit signifikanten Gesten funktioniert also um so besser, je mehr sich die Signifikate einer Geste für den Produzenten und den Rezipienten gleichen (zu den
2214 daran beteiligten Reflexionsstufen vgl. Posner 1993). Es ist nun nur noch ein kleiner Schritt von der Produktion einer signifikanten Geste zur Produktion eines Comsignals im Sinne von Morris (1946: 253 f ⫽ 1973: 131 Anm. 7). Als „Comsignal“ bezeichnet Morris ein Signal, das vom gleichen Lebewesen produziert und rezipiert werden kann und für Produzent und Rezipient gleiche Signifikate hat. Produzenten und Rezipienten von Comsignalen heißen „Interpreten“. Comsignale sind modalitätsneutral und interpersonell, denn sie werden per definitionem von allen Kommunikationspartnern gleich interpretiert. Sie sind noch immer Signale, da sie situations- und funktionsabhängig sind: Ihre Interpretation wechselt mit dem Handlungszusammenhang, da das Signifikat jeweils eine erwartete spätere Phase der bisherigen Handlung des Interpreten ist; zudem verlieren sie ihre Zeichenfunktion, wenn der Handlungszusammenhang unterbrochen wird, bevor er abgeschlossen werden kann. Wenn beispielsweise ein Autofahrer als Antwort auf die Frage nach der Lage eines öffentlichen Gebäudes die Anweisung erhält: „Biegen Sie an der dritten Kreuzung rechts ein“, so muß er sicherstellen, daß ihm das Signifikat dieser Anweisung bis zur Erfüllungsphase präsent bleibt. Dies kann er erreichen, indem er drei Finger der linken Hand hochhält und an jeder folgenden Kreuzung einen senkt oder indem er den Wortlaut der Anweisung leise für sich wiederholt, bis er an der dritten Kreuzung eintrifft und sie somit ausführen kann. Fingerheben und stilles Wiederholen der Anweisung sind Zeichen, die vom Rezipienten an die Stelle des ursprünglichen Signals gesetzt werden. Sie stellen für den Fahrer einen neuen Handlungszusammenhang her, der über die zeitliche Unterbrechung des Zusammenhangs von Anweisungsempfang und -ausführung hinweghilft. Dies leisten Symbole; sie werden von Morris nun als Zeichen bestimmt, welche von ihren Interpreten selbst produziert werden und in beliebigen Handlungszusammenhängen ein Signal mit gleichem Signifikat ersetzen können (vgl. Morris 1946: 24 ff, 33 f und 39 f ⫽ 1973: 100 ff, 111 und 117 f). Symbole sind weder an bestimmte Handlungszusammenhänge noch an bestimmte Signale gebunden, sie sind vollkommen situations- und funktionsunabhängig („autonom“; vgl. Morris 1946: 26 f ⫽ 1973: 104). Hiervon leitet sich die Arbitrarität von Zeichen ab. Denn da die Wahl des Zei-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
chenträgers nicht durch einen Handlungszusammenhang bestimmten Typs gefördert oder beschränkt wird, ist sie Sache bloßer Konvention. Wenn ein Zeichen die Eigenschaften von Comsignalen und Symbolen in sich vereinigt, dann bezeichnet Morris es als „Comsymbol“. Comsymbole sind nicht nur situationsund funktionsunabhängig (wie die Symbole), sondern auch modalitätsunabhängig und interpersonell (wie die Comsignale). Sie sind der leistungsfähigste Zeichentyp und in allen natürlichen Sprachen vorzufinden. Wie aus all diesen Beispielen hervorgeht, haben Zeichen eine biologische Funktion. Sie erweitern den Horizont des Individuums (i) (a) von dem durch die Nahsinne Wahrnehmbaren (b) auf das durch die Fernsinne Wahrnehmbare und (c) auf das durch die Fernsinne Signalisierbare; (ii) (a) von den durch Signale antizipierbaren Gegenständen und Vorgängen (b) auf die durch Gesten antizipierbaren Handlungen anderer und (c) auf die durch signifikante Gesten antizipierbaren eigenen Handlungen; (iii) (a) von durch Comsignale mitteilbar gewordenen Signifikaten (b) auf durch Symbole fixierbar gewordene Signifikate und (c) auf durch Comsymbole konstruierbar gewordene interpersonelle Signifikatzusammenhänge (vgl. Art. 27). Sie potenzieren die Verhaltensmöglichkeiten des Individuums (i) von der ad hoc vollzogenen einseitigen Anpassung an unveränderliche Gegebenheiten, die durch Wahrnehmungen und Signale erfaßbar sind, (ii) zur ad hoc vollzogenen wechselseitigen Anpassung an die Interaktionspartner auf Grund von Gesten und weiter (iii) zur bleibenden Verhaltensformung im Rahmen der Sprachgemeinschaft mit Hilfe von Comsymbolen. Auf diese Weise wird durch sie die verhaltensrelevante Umwelt des Individuums und der Gemeinschaft schrittweise vergrößert und umstrukturiert (i) von der unmittelbar gegebenen engeren Umgebung, die durch die Nahsinne erschlossen wird,
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(ii) auf die unmittelbar gegebene weitere Umgebung, die durch die Fernsinne erschlossen wird, und weiter (iii) auf die mittelbar gegebene impulsabhängige Umgebung, die durch Signale erschlossen wird, und schließlich (iv) auf die mittelbar gegebene impulsunabhängige Umgebung, die durch Comsymbole erschlossen wird. Diese Entwicklung hat eine größere Freiheit des Organismus gegenüber seiner Umwelt, gegenüber den Artgenossen und gegenüber sich selbst zur Folge, was wiederum eine Verfeinerung der Handlungsimpulse ermöglicht (siehe den Ansatz von Jakob von Uexküll; vgl. Art. 110). Hiermit ist eine ethische Dimension eröffnet. Denn wenn die Freiheit einer Person auf ihrer Fähigkeit beruht, die Konsequenzen ihres Verhaltens mit Hilfe von Zeichen zu antizipieren, dann wächst mit der Freiheit auch die Verantwortung für ihr Verhalten. Dieser Verantwortung wird man nach Morris nur dadurch gerecht, daß man bei Entscheidungen nicht Partikulärinteressen, sondern jeweils das Wohl aller Beteiligten im Auge hat (vgl. Morris 1927: 261, 1940: 583 ff und 1946: 274 f ⫽ 1973: 275; siehe auch Mead 1912). 4.3. Bezeichnungsdimensionen Zeichen können in jeder Phase einer Handlung eine Rolle spielen. Entsprechend der Handlungsphase, in der sie auftreten, übernehmen sie eine eigentümliche Funktion (für das Folgende vgl. Art. 4 § 1.3.). In der Orientierungsphase geht es dem Handelnden darum, Informationen über die Umgebung zu sammeln, um so Eigenschaften der Situation im Hinblick auf die Befriedigung des Handlungsimpulses zu ermitteln. Zeichen, die in dieser Weise auf feststellbare Situationseigenschaften hinweisen, heißen „designative“ Zeichen. In der Bearbeitungsphase haben Zeichen die Funktion, den Rezipienten anzuweisen, wie er sich dem aufgefundenen Gegenstand gegenüber verhalten soll; sie heißen „präskriptive“ Zeichen. In der Erfüllungsphase, in der es darum geht, den bearbeiteten Gegenstand in einer Weise zu verwenden, die den die Handlung einleitenden Impuls löscht, haben Zeichen schließlich die Funktion, auf den Wert des entsprechenden Gegenstandes hinzuweisen. Sie heißen „appreziative“ Zeichen (vgl. Morris 1964: 3 ff ⫽ 1975: 202 ff). Die designativen, präskriptiven und appreziativen Zeichen bezeichnen unterschiedliche
2215 Eigenschaften des entsprechenden Gegenstandes, die auch mit unterschiedlichen Sinnen wahrgenommen werden (siehe oben die Rolle von Fernsinnen in den verschiedenen Handlungsphasen). Außerdem lösen die Orientierungseigenschaften im Handelnden andere Reaktionsweisen aus als die Bearbeitungs- und Erfüllungseigenschaften. Auf ein designatives Zeichen antwortet der Rezipient mit der Disposition, sich gegenüber dem entsprechenden Gegenstand so zu verhalten, als besitze dieser die Eigenschaft, als sei er das, als was er durch das designative Zeichen bezeichnet wird. Wer etwa durch die Universität geführt wird und dabei an einem Gebäude das Bibliothekszeichen sieht, bei dem bildet sich dadurch die Disposition, dieses Gebäude zu betreten, wenn er ein Buch sucht. Ein präskriptives Zeichen bildet die Disposition aus, den entsprechenden Gegenstand in einer bestimmten Weise zu behandeln. Ein grüner Punkt oder der Schriftzug „Drücken“ an einer Tür sollte es dem Rezipienten ermöglichen, diese Tür zu öffnen, ohne vergeblich an ihr zu ziehen. Ein appreziatives Zeichen schließlich bringt die Disposition hervor, den Gegenstand im Hinblick auf die Impulsbefriedigung zu bewerten. Das Zitat eines renommierten Wissenschaftlers auf dem Rückendeckel eines Buches, das lautet „One of the most brillant books on semiotics I have ever read“ wird in einem Semiotikstudenten typischerweise das Verlangen und damit die entsprechende Disposition wecken, dieses Buch zu lesen. Während sich die Bezeichnungsdimension eines Zeichens ursprünglich aus dem Kontext ⫺ insbesondere dem Auftreten des Zeichens in einer bestimmten Handlungsphase ⫺ ergab, differenzierten sich in komplexeren Zeichensystemen wie der Sprache, die auch kontextfreie Zeichen (Comsymbole) besitzt, später die Zeichen hinsichtlich ihrer Bezeichnungsdimension. In diesen Zeichensystemen ist eine entsprechende Zeichenklassifikation möglich, wobei „Designatoren“ (etwa „Wild“), „Präskriptoren“ (etwa „sollte“) und „Appreziatoren“ (etwa „fein“) zu unterscheiden sind (vgl. Morris 1946: 63 f ⫽ 1973: 146 und 1964: 4 f ⫽ 1975: 203 f). Durch die feste Zuordnung einer bestimmten Bezeichnungsdimension zu jedem Comsymbol wird es möglich, diese Zeichen auch außerhalb ihrer spezifischen Handlungsphase zu verwenden, womit der Handlungsspielraum sich erweitert. Bereits in der Orientierungsphase kann etwa ein Autofahrer rele-
2216 vante Informationen für eine geplante Fahrt erhalten. Wenn diese die Verkehrsbedingungen allgemein betreffen, gehören sie zur Orientierungsphase und sind designativ; sie können aber auch bereits auf die Erfüllungsphase Bezug nehmen und den Verkehr auf einer bestimmten Strecke als stockend beurteilen (appreziativ) und sie können (präskriptiv) eine Umleitung empfehlen und so auf die Bearbeitungsphase Einfluß nehmen. Das in den amtlichen Verkehrsansagen im Radio verwendete Zeichen ist selbst wiederum komplex, es enthält etwa Zeichen für die Straße, die Abfahrten und die Fahrtrichtung sowie Prädikate, die auf unterschiedliche Handlungssituationen anwendbar sind. Dies führt zu der Aufgabe, eine verhaltenstheoretische Fundierung der Grammatik zu liefern. Zeichen, die in komplexen Zeichen, wie es die Sätze einer Sprache sind, die Identifizierung der denotierten Gegenstände ermöglichen, nennt Morris „Identifikatoren“ (1946: 64 ff und 75 ff ⫽ 1973: 147 ff und 158 ff). Sollen an ein und demselben Gegenstand sowohl bestimmte Orientierungseigenschaften festgestellt als auch bestimmte Erfüllungseigenschaften bewertet und bestimmte Bearbeitungseigenschaften anempfohlen werden, so liegt es nahe, denselben Identifikator (I) zu benutzen und ihn jeweils mit einem geeigneten Designator (D) bzw. Appreziator (A) bzw. Präskriptor (P) zu verknüpfen. Komplexe Ausdrücke dieser Art bezeichnet Morris als „Askriptoren“; sie schreiben alle einem Gegenstand gewisse impulsrelevante Eigenschaften zu. Die Minimalform eines Askriptors lautet „ID“ bzw. „IA“ bzw. „IP“. Da die Komponenten selbst wieder komplex sein können, muß geklärt werden, weshalb ein komplexes Zeichen die Funktion etwa eines Präskriptors hat, obwohl in ihm auch Designatoren vorkommen. Eine zentrale Rolle spielen hierbei „Formatoren“. Eine Verknüpfung etwa von „sollte“ mit „koch-“ unter Verwendung der Formatoren für den Infinitiv Passiv (bei schwachen Verben: „ge-“ „-t werden“) lenkt die Aufmerksamkeit von der Orientierungseigenschaft des Kochens (wie in „Die Suppe kocht“) auf eine Bearbeitungseigenschaft des betreffenden Nahrungsmittels (wie in „Die Suppe sollte gekocht werden“) und macht somit das gesamte Zeichen zu einem Präskriptor. Morris selbst ist der Frage, wie Formatoren in einer Sprache wie dem Deutschen zu beschreiben sind, nicht im einzelnen nachgegangen; sie wird jedoch in der heutigen Lin-
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guistik zunehmend behandelt (vgl. Posner 1972 sowie Untersuchungen zur Grammatikalisierung wie die von Heine, Claudi und Hünnemeyer 1991, Hopper und Traugott 1993 sowie Pagliuca 1994). 4.4. Gebrauchsdimensionen In der verhaltensorientierten Semiotik haben neben den Signifikaten die Interpretanten der Zeichen eine zentrale Stellung. Morris versteht unter ihnen die Verhaltensdispositionen des Zeichenproduzenten und -rezipienten. In Zeichenprozessen, die durch Signale und nichtsignifikante Gesten ausgelöst werden, spielt es für die Interpretation keine große Rolle, ob diese Zeichen natürlichen Ursprungs oder Artefakte sind, von wem sie produziert werden und mit welcher Absicht dies geschieht. Entscheidend ist der Handlungszusammenhang des Rezipienten. So können Fußspuren dem Rezipienten entsprechend seiner eigenen Handlungsphase Aufschluß über die Bewegungen des Senders geben, ihm Vorsichtsmaßnahmen nahelegen oder ihm zu einer bestimmten Einschätzung des Senders Anlaß geben, ohne daß sie in dieser Absicht produziert worden wären. Zeichenprozesse, an denen Comsymbole mit fest kodierten Bezeichnungsdimensionen beteiligt sind, sind weniger abhängig vom Handlungszusammenhang des Rezipienten. Sie eröffnen dadurch dem Zeichenproduzenten die Möglichkeit, Zeichen als Instrumente zur Verwirklichung seiner eigenen Ziele zu gebrauchen (vgl. Morris 1946 ⫽ 1973: 179 f). Ein Politiker, der besonders sachliche Erklärungen abgibt, um sich vor einem intellektuellen Publikum als ebenbürtig zu erweisen, verwendet designative Zeichen, um diese Wertung zu erreichen. Eltern, die meinen, daß ein Kind autoritär erzogen werden sollten, verwenden präskriptive Zeichen, damit das Kind weiß, woran es ist. Eine Arbeitssuchende, die sich bei einer Firma bewirbt, wird appreziative Zeichen bei der Bezugnahme auf die Firma einfließen lassen, um den Chef dazu zu bewegen, sie einzustellen. Wenn ein Lebewesen ein Ziel verfolgt und dafür ein Zeichen verwendet, spricht Morris vom „Gebrauch“ dieses Zeichens. Das Ziel kann eine Verhaltensänderung des Rezipienten oder des Produzenten sein, die beide als Interpreten fungieren. Entsprechend der Handlungsphase des Interpreten, auf die der Produzent es abgesehen hat, kann man nun auch im Zeichengebrauch drei Dimensionen unterscheiden (Morris 1946: 95 ⫽
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1973: 182 f). Der Produzent kann Zeichen gebrauchen, damit der Interpret über die Orientierungseigenschaften des identifizierten Gegenstandes informiert ist (informativer Zeichengebrauch), damit der Interpret die Bearbeitungseigenschaften des identifizierten Gegenstandes in bestimmter Weise vervollkommnet (inzitiver Zeichengebrauch) oder damit der Interpret den Erfüllungseigenschaften des identifizierten Gegenstandes eine bestimmte Wertschätzung zuteil werden läßt (valuativer Zeichengebrauch). Um dies zu erreichen, kann der Zeichenproduzent Zeichen verwenden, deren Bezeichnungsdimension seiner Gebrauchsabsicht entspricht. Dann wird er einen Designator informativ einsetzen und damit auf eine Frage vom Typ „Was ist das für ein Gegenstand?“ („Was ist?“) antworten; einen Präskriptor wird er inzitiv einsetzen und damit auf eine Frage vom Typ „Was ist mit dem Gegenstand zu tun?“ („Was tun?“) antworten; einen Appreziator wird er valuativ einsetzen und damit auf eine Frage vom Typ „Wie gut ist der Gegenstand?“ („Wie gut?“) antworten. Eine derartige Verwendung der Zeichen mit fester Bezeichnungsdimension nennt Morris „primären Zeichengebrauch“. Zu ähnlichen Taxonomien der Funktionen des Zeichengebrauchs bei Mannoury vgl. Art. 104 § 3., bei Bühler vgl. Art. 112 § 2.4., bei Sˇklovskij vgl. Art. 114 § 1.1., bei Mukarˇovsky´ vgl. Art. 115, bei Jakobson vgl. Art. 116 § 3.1.; zusammenfassend siehe Art. 5 § 4. Zeichen können auch in einer Weise gebraucht werden, die ihrer Bezeichnungsdimension nicht entspricht. In einer geeigneten Handlungsphase kann ein Zeichenbenutzer einen designativen Askriptor, der primär informativ gebraucht wird, auch in inzitiver (Beifahrerin: „An der nächsten Ampel bin ich schon einmal geblitzt worden“, womit sie meint ‘Fahr nicht wieder bei Rot über die Ampel!’ oder: „Links kommt gleich das Parkhaus“, womit sie dem Fahrer rät, ‘Ordne Dich schon mal links ein!’) oder in appreziativer Weise verwenden (Ehemann zu seiner Frau: „Dies ist die letzte Flasche von dem Wein, den wir aus dem Urlaub mitgebracht haben“, womit er den Wein und die Situation besonders hervorhebt). Ein präskriptiver Askriptor kann in informativer Weise (Freund am Telefon: „Paul, stell schon mal den Sekt kalt!“, wodurch er mitteilt, daß sein Sportverein das entscheidende Spiel gewonnen hat und er bald vorbeikommt) oder in valuativer Weise gebraucht werden (die große
2217 Schwester zu ihrem Bruder: „Jetzt sieh nur, was du gemacht hast!“). Ein appreziativer Askriptor kann in informativer Weise (das von einer Testzeitschrift vergebene Ikon für den Testsieger dient dazu, den Käufer über die Qualität des so ausgezeichneten Produkts zu informieren) oder in inzitiver Weise gebraucht werden (Gastgeber: „Wie schön, daß wir heute abend eine Pianistin unter uns haben!“, womit er die angesprochene Person auffordert, etwas vorzuspielen). Die Verwendung von Zeichen mit fester Bezeichnungsdimension zu davon abweichenden Zwecken nennt Morris „sekundären Zeichengebrauch“ (vgl. auch die Beispiele in Art. 4 § 1.4.). Der sekundäre Zeichengebrauch findet sich nicht nur bei einzelnen Äußerungen, sondern es können auch ganze Texte und Diskurse auf diese Art gebildet werden. Morris (1946: 123 ff ⫽ 1973: 215 ff) weist darauf hin, daß die Inhaltsanalyse die Vorteile des sekundären gegenüber dem primären Zeichengebrauch herausgearbeitet habe. Von dieser Forschungsrichtung war bereits in den vierziger Jahren nachgewiesen worden, daß das Rezipientenverhalten nicht allein davon abhängt, zu welchen Zwecken ein Diskurs geführt wird, sondern auch davon, welche Bezeichnungsweise in seinen Askriptoren dominiert. Die Führung eines designativen Diskurses zu valuativen Zwecken (Morris 1946: 128 ff ⫽ 1973: 222 f: „fiktiver Diskurs“) wirkt sachlicher und ist damit in vielen Fällen wirkungsvoller als der Gebrauch eines appreziativen Diskurses. Die Führung eines appreziativen Diskurses zu inzitiven Zwecken (Morris 1946: 138 ff ⫽ 1973: 233 ff: „moralischer Diskurs“) wirkt weniger aufdringlich und ist häufig persuasiver als ein präskriptiver Diskurs. Die Führung eines präskriptiven Diskurses zu informativen Zwecken (Morris 1946: 143 f ⫽ 1973: 238 ff: „technologischer Diskurs“) wirkt weniger theoretisch und ist daher in vielen Fällen überzeugender als ein designativer Diskurs. Diese Feststellungen lassen sich weiter differenzieren, wenn man die prozentuale Verteilung der Bezeichnungsweisen aller Teilzeichen über den Gesamtdiskurs ermittelt (vgl. Morris 1946: 74 f und 123 f ⫽ 1973: 159 und 215 ff). Welchen Einfluß diese strukturunabhängig bestimmte Distribution von Bezeichnungsweisen gegenüber den durch Satzgrammatik und Textlinguistik bestimmbaren dominanten Bezeichnungsweisen in einer Rezeptionssituation auf die Verhaltensformung
2218 des Rezipienten hat, ist jedoch auch heute noch theoretisch weitgehend ungeklärt. Daß es nicht genügt, einfach die Prozentzahlen zu nehmen, wie sie sind, hat Morris (etwa 1946: 264 f ⫽ 1973: 217 Anmerkung 3) selbst mehrfach betont. Mit der doppelten Charakterisierung von Zeichen nach Bezeichnungs- und Gebrauchsdimensionen hat Morris (1946: 123 ff ⫽ 1973: 215 ff) ein leistungsfähiges Instrument zur Klassifikation von Diskursen geschaffen. Es ist ungeachtet der angedeuteten theoretischen und methodischen Schwierigkeiten besonders in der Publizistik und Medienforschung bis heute unersetzbar (vgl. Art. 169). Die Beurteilung von Diskursen im Hinblick auf ihre Wirkung (Morris 1946: 96 ⫽ 1973: 185; „Angemessenheit“) ist jedoch scharf zu trennen von ihrer Beurteilung im Hinblick auf ihre Wahrheit (vgl. Morris 1946: 105 ff ⫽ 1973: 194 ff). Nach Morris ist ein Askriptor wahr, wenn er denotiert. Und ein Askriptor denotiert, wenn der durch den Identifikator denotierte Gegenstand auch von dem dominierenden Designator, Präskriptor und Appreziator denotiert wird, das heißt, wenn dem Askriptor ein bestehender Sachverhalt entspricht. Diese Korrespondenztheorie der Wahrheit hat große Gemeinsamkeiten (vgl. Art. 3 § 2.) mit den Konzeptionen beim frühen Wittgenstein (1922), bei Tarski (1935) und Carnap (1947 ⫽ 1972); sie geht jedoch in einem entscheidenden Punkt weiter. Morris spricht nicht nur von der Wahrheit von Aussagen, sondern auch von der Wahrheit von Aufforderungen und Wertungen. Auch dies ist eine Konsequenz der verhaltenstheoretischen Grundlegung der Semiotik. Denn da Morris wie Mead die Phasen einer Handlung auf die Eigenschaften des behandelten Gegenstandes projiziert, gibt es für ihn nicht nur den Sachverhalt, daß einem Gegenstand im Hinblick auf einen Handlungsimpuls bestimmte Orientierungseigenschaften zukommen, sondern auch den Sachverhalt, daß einem Gegenstand im Hinblick auf einen Handlungsimpuls bestimmte Bearbeitungseigenschaften und Erfüllungseigenschaften zukommen. Alle diese Sachverhalte können durch geeignete Askriptoren denotiert werden: • Ein designativer Askriptor ist wahr, wenn der durch den Identifikator denotierte Gegenstand die durch den Designator mitgeteilte Orientierungseigenschaft tatsächlich besitzt.
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
• Ein präskriptiver Askriptor ist wahr, wenn der durch den Identifikator denotierte Gegenstand die durch den Präskriptor mitgeteilte Bearbeitungseigenschaft besitzt. Dies bedeutet, daß die Behandlungsweise, die dieser Askriptor für den impulsbefriedigenden Gegenstand vorschreibt, dessen Befriedigungspotential für den Handlungsimpuls des Rezipienten tatsächlich erhöhen würde. • Ein appreziativer Askriptor ist wahr, wenn der durch seinen Identifikator denotierte Gegenstand die durch den Appreziator mitgeteilten Erfüllungseigenschaften besitzt. Dies bedeutet, daß der Wert, den dieser Askriptor dem impulsbefriedigenden Gegenstand zuspricht, diesem tatsächlich im Hinblick auf sein Befriedigungspotential für den Handlungsimpuls des Rezipienten zukommt. Diese Verallgemeinerung des Wahrheitsbegriffs unterscheidet sich von den gängigen Alternativen, wie zum Beispiel der interaktionistischen Lösung, die einen präskriptiven Askriptor dann für wahr erklärt, wenn die durch ihn vorgeschriebene Handlung tatsächlich ausgeführt wird (Lewis 1969: 150 ff und 187 ff ⫽ 1975: 152 ff und 190 ff) oder von der performativen Lösung, die einfach jede sinnvolle Äußerung für wahr erklärt, da ihre kommunikative Funktion durch Sätze expliziert werden kann, die alle entweder unsinnig oder wahr sind (vgl. Lewis 1970: 56 f). Ein großer Vorteil der von Morris vorgenommenen Verallgemeinerung des Wahrheitsbegriffs besteht darin, daß sie einen allgemein üblichen Wortgebrauch expliziert, der fest in der Intuition der Sprachbenutzer verankert ist. So ist es nicht unüblich, Aufforderungen wie „Wir sollten endlich zu einer Entscheidung kommen!“ mit einem „richtig“ beizupflichten. Auch auf Wertungen der Art „Wie dröge dieser Vortrag doch wieder ist!“ reagiert man im Alltag mit „Das stimmt“ oder „Das ist nicht wahr“. 4.5. Wertdimensionen In einer Handlung zeigt sich nicht nur, welche Zeichen der Handelnde beherrscht, sondern auch, welche Werte er hat. Zeichenprozesse sind nach Mead und Morris phylo- und ontogenetisch durch Konditionierung der Fernsinne entstanden, und gehören somit primär in die Orientierungsphase einer Handlung. Wertungen haben dagegen ihren natürlichen Ort in der Erfüllungsphase von Hand-
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lungen. Dabei ist der impulsbefriedigende Gegenstand selbst der primäre Wert für den Handelnden („Objektwert“; vgl. Morris 1939 a: 134 ⫽ 1972: 95 und 1964: 20 ⫽ 1975: 224). Die Werteigenschaften eines Gegenstandes sind gleichzusetzen mit seinen Erfüllungseigenschaften. Da diese nicht unabhängig von dem Handlungszweck bestimmt werden können, sind auch Werte relativ. Der Wert eines Gegenstandes liegt weder allein in dem Gegenstand noch allein in den Interessen des Handelnden, sondern in der Fähigkeit des Gegenstandes, die Interessen des Handelnden zu erfüllen. Der Wert eines Gegenstandes für einen Organismus zeigt sich darin, ob der Organismus ihn anderen Gegenständen für die Befriedigung seines Handlungsimpulses vorzieht. Dieses Vorziehen geschieht zunächst blind und wird erst mit dem Aufkommen von Zeichen zu einem Entscheidungsprozeß, der schließlich auch bewußt ablaufen kann (siehe oben § 4.2.). Dabei verläuft die Entwicklung von Werten weitgehend parallel mit der Entwicklung von Zeichen. Denn in dem Maße, wie sich die Orientierungsreize im Laufe der Entwicklung von dem impulsbefriedigenden Gegenstand abgelöst haben und so zu Zeichen für die Erfüllungseigenschaften dieses Gegenstandes geworden sind, konnten sich beim Handelnden Wertvorstellungen bilden („conceived values“) und zu Zeichen für die Werteigenschaften des Gegenstandes werden. Mit Hilfe seiner Wertvorstellungen konnte der Handelnde die Entscheidung über die Wahl eines impulsbefriedigenden Gegenstandes schließlich von der Erfüllungsphase in die Orientierungsphase vorverlegen. In der Form von Wertvorstellungen sind Werte genauso wie Zeichen zum Instrument für alle drei Handlungsphasen geworden. Ähnlich wie bei den Zeichen hat sich auch bei den Werten eine Arbeitsteilung herausgebildet. Dies ist erforderlich, da der Handelnde nicht in allen Handlungsphasen auf Werte der gleichen Art eingestellt ist. Es gibt ⫺ analog zu den Bezeichnungsdimensionen ⫺ Wertdimensionen, die ursprünglich den Handlungsphasen entsprechen: Distanziertheit, Dominanz, Rezeptivität. In der Orientierungsphase ist der Handelnde auf Informationen aus der Umwelt eingestellt. Er ist dafür am leichtesten aufnahmebereit, wenn er weder versucht, die Umwelt zu dominieren, noch sich selbst von ihr dominieren zu lassen. In diesem Sinne kommt es beim Handelnden in der Orientie-
2219 rungsphase auf Distanziertheit an. In der Bearbeitungsphase dagegen versucht der Handelnde die Umwelt zu beeinflussen. Er muß Gegenstände seiner Wahl für die Befriedigung seines Handlungsimpulses herrichten oder herstellen. Dies gelingt ihm am besten, wenn er seinen Einflußbereich ganz auf sie ausdehnt. In diesem Sinne kommt es in der Bearbeitungsphase auf Dominanz des Handelnden an. In der Erfüllungsphase ist der Handelnde schließlich darauf aus, seinen Handlungsimpuls von einem Gegenstand der Umwelt löschen zu lassen. Er muß sich ihr gegenüber öffnen, so daß in der Erfüllungsphase der Rezeptivität eine entscheidende Rolle zukommt. Am Anfang steht also das distanzierte Zeichen, dem die Tat und schließlich die Ruhe folgt, in der der Blick mit Wohlgefallen auf dem gelungenen Werk ruht. Dieses Muster von Planung, Ausführung, Genuß gilt auch für Gemeinschaftshandlungen, bei denen mehrere Handelnde im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel arbeitsteilig zusammenarbeiten. Morris ist zu den Wertdimensionen durch ausführliche kulturhistorische Studien gekommen. In seiner ersten weltanschauungsbezogenen Schrift Paths of Life (1942) bezeichnet er sie noch als „buddhistisch“, „prometheisch“ sowie „dionysisch“ und macht die Dimensionen zur Grundlage eines Wertprofils für die Weltreligionen. Die christlichen Wertvorstellungen werden in abnehmender Stärke durch Distanziertheit, Rezeptivität und Dominanz, die mohammedanischen Wertvorstellungen durch Rezeptivität, Dominanz und Distanziertheit und die buddhistischen Wertvorstellungen durch Distanziertheit, Dominanz und Rezeptivität charakterisiert. Später ist es Morris gelungen, operationale Beschreibungen für die Wertdimensionen zu finden und sie zur Basis eines empirischen Kulturvergleichs zu machen (vgl. Morris 1956: 27 ff). Dabei stellte sich heraus, daß sich die Wertvorstellungen von Menschen aller Kulturen nach diesen Dimensionen klassifizieren und voneinander unterscheiden lassen. Empirischen Untersuchungen (Morris und Jones 1956) über das Verhältnis der Wertvorstellungen zu den unterschiedlichen Handlungsphasen, die in den verschiedenen Berufen eine besondere Rolle spielen, ergaben folgende Typik. Beim Typus des Wissenschaftlers konzentriert sich die Tätigkeit auf die Orientierungsphase von Gemeinschaftshandlungen, wie etwa die Landver-
2220
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
messung beim Brückenbau. In den Wertvorstellungen ist die Distanziertheit, im Zeichenverhalten der informative Zeichengebrauch vorherrschend. Dieser Typus pflegt auch in der Bearbeitungs- und Erfüllungsphase einer Handlung designativen Zeichen den Vorzug zu geben. Der Typus des Technikers ist in seinem Beruf vorwiegend mit der Bearbeitung der Umwelt beschäftigt. Er räumt in seinen Wertvorstellungen der Dominanz die führende Rolle ein, ist im Zeichenverhalten inzitiven Zeichengebrauch gewohnt und pflegt selbst dann, wenn er sich in der Orientierungs- und Erfüllungsphase befindet, präskriptiven Zeichen den Vorzug zu geben. Dem Typus des Künstlers gelingt es schließlich, sich in seinem Leben auf die Erfüllungsphase von Gemeinschaftshandlungen zu konzentrieren. Er räumt in seinen Wertvorstellungen der Rezeptivität die führende Rolle ein, ist in seinem Zeichenverhalten valuativen Zeichengebrauch gewohnt und pflegt selbst dann, wenn er sich in der Orientierungs- oder Bearbeitungsphase befindet, appreziativen Zeichen den Vorzug zu geben. Die für diese Typen charakteristischen Problemlösungsmuster wurden von Morris bis ins einzelne analysiert (1964: 22 f und 26 f ⫽ 1975: 227 und 332 f). Den Zusammenhang von Handlungsphasen, Bezeichnungs-, Gebrauchs- und Wertdimensionen hat Morris in verschiedenen Versionen schematisch dargestellt (vgl. Abb. 113.2). Das Schema von Abb. 113.2 faßt die Antwort zusammen, die sein Lebenswerk auf die Frage gibt, welche Zeichen und Werte ein Mensch beherrschen muß, um handeln zu können. Diese Antwort besteht nicht in einer präskriptiven Grammatik oder einer normativen Ethik. Sie propagiert keine bestimmten Werte wie die materialen Wertlehren eines Aristoteles oder Max Scheler, noch liefert sie in Kantischer Manier fertige Formeln zum Verwerfen von Handlungen als unmoralisch. Trotzdem läßt sie den Handelnden nicht
ohne Hilfe, da sie ihn darauf hinweist, wie er sich am zweckmäßigsten einstellt, wenn er seine Handlungsimpulse befriedigen will. Und sie läßt den Handelnden in seinen Reflexionen, warum er gerade jener Wertdimension zuneigt, nicht ohne Erklärung. Sie hilft ihm zudem, seine Handlungsimpulse so zu organisieren, daß sie mit denen seiner Mitmenschen möglichst wenig in Konflikt geraten. Die Morrissche Ethik ist eine Situationsethik. Moralität besteht für ihn in der Harmonisierung der Interessen des einzelnen mit denen der Gesellschaft (vgl. 1927 b). Die Verantwortung für die dafür notwendigen speziellen Entscheidungen bleibt jedoch bei dem Handelnden selbst. Gleiches gilt von der Antwort, die Morris in Bezug auf die Zeichen gibt. Er propagiert weder Zeichenhandlungen spezieller Art im Stil der „General Semantics“ von Korzybski (1933) oder Hayakawa (1941), noch liefert er absolute Kriterien für das Verwerfen bestimmter Zeichenhandlungen wie der Logische Empirismus (vgl. Art. 106 § 3.2.). Trotzdem läßt er den Handelnden nicht ohne Hilfe, denn er zeigt ihm, wie er sich am zweckmäßigsten ausdrückt, wenn er seine Handlungsimpulse befriedigen will. Und er läßt den Handelnden in seiner Überlegung, warum er gerade jener Bezeichnungs- und Gebrauchsdimension zuneigt, nicht im Stich. Morris bietet bewußt keinen endgültigen Standpunkt an und liefert keine absolut gültige Perspektive. Vielmehr weist er als Pragmatist auf die Vielfalt möglicher Standpunkte und Perspektiven hin. Dabei versucht er die Außenperspektive des Behaviorismus mit der Innenperspektive des Introspektionismus zu verbinden ⫺ ein Harmonisierungsversuch, der sich bereits in seiner Dissertation findet. Er kann mit seinem integrativen Weg sowohl die Selbst- als auch die Fremderfahrung und die Selbsterfahrung der Fremderfahrung berücksichtigen und sie in seinen Aufbau einer semiotischen Theorie einbeziehen (vgl. Morris 1927 a: 255 ff ⫽ 1975: 72 ff, 1938 a: 45 ff ⫽
Handlungsphase
Bezeichnungsdimension
Gebrauchsdimension
Wertdimension
Orientierung Bearbeitung Erfüllung
designativ präskriptiv appreziativ
informativ inzitiv valuativ
distanziert dominant rezeptiv
Abb. 113.2: Das Verhältnis der Handlungsphasen zu den Bezeichnungs- und Gebrauchsdimensionen der Zeichen und den Wertdimensionen nach Morris (1934: 8, 22 und 27 ⫽ 1975: 208, 227 und 234).
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger
1972: 72 ff, 1946: 228 f ⫽ 1973: 337 ff, 1964: 29 ff ⫽ 1975: 236 ff). Da es nach Morris keine allumfassende Perspektive gibt, ist es notwendig, die Einheit der Welt durch geeignete Organisation der vielen möglichen Perspektiven zu rekonstruieren. Dies ist ein genuin semiotischer Zugang. Morris hat ihn 1932 unter der Bezeichnung „objektiver Relativismus“ eingeführt und bis zum Schluß daran festgehalten (vgl. Fiordo 1977: 14). Dabei ist ihm bewußt, daß auch theoretisches Rekonstruieren nur eine Spielart wissenschaftlichen Handelns ist und als solches unseren Blickwinkel ebenfalls einschränkt. Zum Ausgleich schreibt er Gedichte: „Science deepens all our surfaces / Yet it is but one surface of our depths“ (Morris 1966: 5).
5.
Rezeption und Weiterentwicklung der verhaltensorientierten Semiotik
Die Grundlagen der Zeichentheorie avancierten sehr bald zum Klassiker. Insbesondere die dort vorgeschlagene Einteilung der Semiotik in die Teildisziplinen Syntaktik, Semantik und Pragmatik wurde zum Allgemeingut der verschiedenen Zeichenwissenschaften. Zunächst erfolgte die Rezeption im Rahmen des Logischen Empirismus, mit dem Morris in der Folge eher identifiziert wurde als mit der Semiotik. So heißt es bei Tadeusz Kotarbin´ski (1947 ⫽ 1979: 31): „With regard to the semantic aspect of language, the division of logical [!] research into three branches (Morris, Carnap) is beginning to be fairly well established“; vgl. auch die Skizze des Werks von Morris durch Witold Marciszewski im Überblick von Jerzy Pelc (1971: 206⫺208) über Grundpositionen zur logischen Sprachtheorie. Insbesondere Carnap war für diese Rezeption verantwortlich. In seiner Introduction to Semantics (1942) erweitert er den Bereich der formalen Logik, die bis dahin nur eine „Logische Syntax der Sprache“ (Carnap 1934) war, um die Semantik. Denn bis zu den klassischen Arbeiten von Tarski galten semantische Ausdrücke wie „Wahrheit“ und „Falschheit“ als unwissenschaftlich (vgl. Popper 1934 ⫽ 1976: 274). Unter Berufung auf Morris sieht Carnap die Semantik als eine der in den Grundlagen vorgeschlagenen semiotischen Teildisziplinen an. Dabei findet eine wichtige Abwandlung statt. Nach Carnap konstituieren sich die drei Teildisziplinen, indem von Faktoren der Semiose abstra-
2221 hiert wird. Die Pragmatik behandelt noch alle drei Faktoren, den Zeichenbenutzer, das Zeichen und das Designat in ihrem Verhältnis zueinander. In der Semantik wird vom Zeichenbenutzer und in der Syntaktik zusätzlich vom Designat abstrahiert (1942: § 14). Die Semiotik wird als Summe dieser drei Teildisziplinen konzipiert und hat keinen über sie hinausgehenden Gegenstand. Carnap ist 1942 anders als Morris 1938 an der Etablierung einer neuen logischen Disziplin, der Semantik, interessiert, nicht aber an einer allgemeinen Zeichentheorie. Charakteristisch ist, daß nur bei Morris die Unterscheidung „rein“ versus „deskriptiv“ auf alle drei Teildisziplinen Anwendung findet, während Carnap die Pragmatik hierbei ausgenommen hat. Sie umfaßt nach ihm den empirischen Teil der Semiotik: „in this way descriptive semantics and syntax are, strictly speaking, parts of pragmatics“ (1942: § 13). Auf Carnap trifft zu, was Morris gelegentlich vorgeworfen wurde, daß er die Pragmatik als eine „reine empirische Restproblematik (oft „[waste] paper basket“ genannt) der logisch systematischen Rekonstruktion der Wissenschaftssprache“ behandelt hat (Apel 1973 a: 10 f). Zudem beschränkt Carnap den Gegenstandsbereich der Semiotik auf die Sprache (vgl. Carnap 1942: 9), was ihm von Morris (1946: 218 ff ⫽ 1973: 325 f) auch vorgeworfen wird (vgl. Art. 1 § 2.). Mit der pragmatischen Wende in der Philosophie und den Geisteswissenschaften (vgl. Stachowiak 1986⫺95) wurde später die eigenständige und grundlegende Bedeutung der Pragmatik erkannt und die Rolle, die Morris in der Entwicklung dieser Disziplin zukommt, gewürdigt. So beginnt die Einleitung zu dem neueren Reader Pragmatics mit den Worten: „The term ‘pragmatics’ was first introduced in Foundations of the Theory of Signs by Charles W. Morris“ (Davis 1991: 3; vgl. auch Levinson 1983: 1 f). Der Morrissche Entwurf der Pragmatik wurde generell begrüßt; Kritik wurde allenfalls an den Konsequenzen geübt, die sich daraus für das Verhältnis von Pragmatik und Semantik ergeben (vgl. Art. 4 § 6.). Zeichen, Sprache und Verhalten ist dagegen von Anfang an umstritten gewesen. Die zeitgenössischen Rezensionen (etwa Black 1949) bemängelten, daß die Konzepte der von Morris (1946 ⫽ 1973) vorgestellten verhaltensorientierten Semiotik weitgehend unscharf seien (vgl. auch die Replik in Morris 1948 b). Andererseits wurde Zeichen, Sprache und
2222 Verhalten von Forschern verschiedener Fachdisziplinen, die im Paradigma der behavioristischen Lerntheorie arbeiteten, mit großer Zustimmung aufgegriffen, zumal Morris selbst zu zeigen vermochte, daß sich derartige Ansätze in seine Semiotik integrieren ließen (vgl. etwa Morris 1964: Kap. 4, wo er u. a. auf den soziologischen Ansatz von Parsons und die Informationstheorie von Shannon und Weaver eingeht). Insbesondere die Morrissche Auffassung des Interpretanten als Disposition war folgenreich. Diese Deutung des Interpretanten, die eine empirische Erforschung des Zeichenverhaltens ermöglichte, beeinflußte neben Skinner (vgl. Diebold 1965: 241) vor allem Charles E. Osgood (*1916), mit dem Morris auch persönlich zusammenarbeitete (Morris, Osgood und Ware 1961). Der Psycholinguist Osgood machte sich den Dispositionsbegriff von Morris zu eigen und versuchte, die Lerntheorie mit Hilfe des Konzepts eines RepräsentationsMediations-Prozesses auf das Zeichenverhalten anzuwenden (vgl. Osgood, Suci und Tannenbaum 1957). Wenn etwa einer Ratte leichte Stromströße verabreicht werden und die Stromstöße durch das Ertönen eines Summers eingeleitet werden, dann zeigt das Verhalten der Ratte mit der Zeit bereits beim bloßen Ertönen des Summers einen Teil der Stromstoßreaktion (rm). Diese Teilreaktion rm kann nun wiederum Reiz für ein Verhalten sein, das etwa den Effekt hat, den Stromstoß zu verhindern (z. B. durch Drücken einer Taste). Eine derartige Teilreaktion rm ist nach Osgood der „Sinn“ des Summers für die Ratte, insofern sie zum einen den Stromstoß repräsentiert und zum andern das den Stromstoß verhindernde Verhalten vermittelt (Mediation). Das von Osgood vorgeschlagene Mittel zur empirischen Untersuchung der Zeichenbedeutung im Rahmen einer verhaltensorientierten Semiotik ist das „semantische Differential“. Es besteht aus einer Gruppe von bipolaren Skalen wie „gut⫺schlecht“, „stark⫺schwach“. Jedem Konzept können empirische Werte auf diesen Skalen zugeordnet werden, dem Konzept „Held“ etwa „gut“ und „stark“, dem Konzept „Teufel“ „schlecht“ und „stark“. Nach Maßgabe der Ähnlichkeit zu einem gegebenen Konzept kann nun ein numerisches Maß für die Distanz zwischen Konzepten angegeben werden, die Osgood „konnotative Bedeutung“ nennt (vgl. Snider und Osgood 1969). Bemerkenswert an dieser psycholinguistischen Rezeption ist, daß Bedeutung nicht im
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
Kontext der Semantik, sondern im Kontext der Pragmatik behandelt wird, und zwar mit empirischen Mitteln. Auch wenn sich Morris nicht an dem methodologischen Behaviorismus von Watson, sondern an dem sozialen (oder „operationalen“) Behaviorismus von Tolman und Hull orientiert, erscheint diese Orientierung für viele als kardinaler Fehler. Auch Thomas A. Sebeok (Petrilli 1991: 98) macht ihm dies zum Vorwurf. Sebeok meint: „Behaviorist psychology simply doesn’t work, and so Morris’ semiotics of that time simply doesn’t work“ (vgl. dagegen Graumann 1965). Festzustellen ist jedoch mit Sebeok (1972), daß die verhaltensorientierte Semiotik von Morris, die den Interpreten als Organismus bestimmt, die Entwicklung der Tiersemiotik (Zoosemiotik) förderte (vgl. auch Tembrock 1971 sowie Art. 27). Auch außerhalb der Vereinigten Staaten wurde Morris rezipiert. Sehr früh setzte die Rezeption in Italien ein; eine Übersetzung von Signs, Language, and Behavior erschien dort bereits 1949. Besondere Bedeutung kommt hierbei Ferruccio Rossi-Landi (1921⫺ 1985) zu, der nicht nur Morris, sondern auch die Semiotik in Italien bekannt machte (vgl. Petrilli 1988; siehe auch Art. 101 § 3.3.4.). Im Jahre 1953 veröffentlichte er eine Monographie über Morris (1975 gab es eine zweite, erweiterte Auflage, die auch die in der Zwischenzeit von Morris publizierten Schriften behandelt), ein Jahr später erschien seine Übersetzung der Foundations (Lineamenti di una teoria dei segni). 1967 wurde auf Initiative von Rossi-Landi eine italienische Ausgabe der ästhetischen Schriften von Morris publiziert, zu der dieser ein Vorwort verfaßte (Morris 1967). Rossi-Landi (1975 a: 161) stellt heraus, daß es bei Morris zwei konkurrierende Konzeptionen der Semiotik gibt. Nach der einen, die in den Foundations vorherrscht, soll sie die Erbin der Philosophie und ein neues Organon der Wissenschaft sein, nach der zweiten ist sie eine biologische Wissenschaft vom Verhalten. Die letztere Konzeption dominiert in Signs, Language, and Behavior, wo die Analyse des semiotischen Grundkonzepts des mediated-taking-account-of „resolves this primitive term into the stimulus, response, and organic state terminology of behavioristics“ (Morris 1946: 250 f ⫽ 1973: 96). Die Semiotik wird so zu einer eigenständigen Wissenschaft, die den Rahmen der Philosophie verläßt. In der verhaltensorientierten Sicht-
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weise dieser Semiotik erscheint die Philosophie lediglich als bestimmte Form des Sprachverhaltens (Rossi-Landi 1975 a: 168). Morris geht nach Rossi-Landi zu weit, wenn er in Signs, Language, and Behavior Zeichen und Zeichenverhalten identifiziert und dabei alles Zeichenverhalten als eine bestimmte Form von zielgerichtetem Verhalten („goal seeking behavior“) bestimmt, „in which signs exercise control“ (Morris 1946: 7 ⫽ 1973: 80). Rossi-Landi sieht das Verhältnis zwischen Zeichen und Verhalten umgekehrt und betont, daß jedes Verhalten Zeichenverhalten sein kann; indem man sich verhält, kommuniziert man, und „all behavior is always programmed ⫺ that is, based on codes“ (Rossi-Landi 1975 a: 174). Obwohl diese Einsicht, die von der neueren Semiotik herausgearbeitet worden sei, gegen den Ansatz von Signs, Language, and Behavior spreche, so sei sie doch erst durch Morris ermöglicht worden, da er eine enge Verbindung zwischen dem Begriff des Zeichens und dem des Verhaltens hergestellt habe. In seinen eigenen Arbeiten geht es RossiLandi darum, den Marxismus (vgl. Art. 74 § 19.) mit Elementen der Analytischen Philosophie (vgl. Art. 109) ⫺ insbesondere von Gilbert Ryle, dessen Hauptwerk er ins Italienische übertrug ⫺ zu verbinden, und er versucht ausgehend von Morris das Problem des Verhältnisses von Basis und Überbau einer Gesellschaft („structure and superstructure“) zu lösen, indem er mit den Zeichensystemen eine vermittelnde Ebene einführt. Das menschliche Verhalten ist demnach auf drei Ebenen programmiert, der Ebene der Produktionsmittel, der Ebene der Zeichen und der Ebene der Ideologien. „It would seem that in this way the enormous contribution of twentieth century semiotics, linguistics, and communication theory can become a part of a Marxist theory of society in general […]. Here the field is open for the discussion of the ways in which means of production, ideologies, and sign systems variously interact, assuming different dialectical positions in different moments. The mediating element is mediated in its turn“ (1975 a: 186). In Westdeutschland wurden die Arbeiten von Morris erst seit den siebziger Jahren stärker rezipiert (Grundlagen der Zeichentheorie, übersetzt von R. Posner und J. Rehbein 1972; Zeichen, Sprache und Verhalten, übersetzt von A. Eschbach und G. Kopsch 1973). In der Folge besorgte Achim Eschbach deutsche Übersetzungen der meisten Schriften von
2223 Morris und gab darüber hinaus einen wichtigen Sammelband zu Morris heraus (Eschbach 1981 b). Roland Posner veröffentlichte verschiedene Untersuchungen zu Morris, die die Eignung des Spätwerkes für die Fundierung einer empirischen Pragmatik herausstellen (Posner 1979, 1981, 1992; siehe Art. 4). Ingeborg Ullmann (1975) versucht den Nachweis zu führen, daß der Kompetenzbegriff von Chomsky nicht haltbar ist, und entwickelt im Anschluß an Morris ein semiotisches Sprachkonzept (insbesondere 1975: 639⫺678). Die erste ausführliche deutsche Besprechung erfuhr Morris durch Karl Otto Apel (*1922), der neben Habermas der Hauptvertreter der Neuen Frankfurter Schule und Herausgeber einer deutschsprachigen Ausgabe ausgewählter Werke von Charles S. Peirce ist. 1959 veröffentlichte er in der Philosophischen Rundschau eine Sammelrezension, welche die Morrissche Semiotik im Untertitel als „Vollendung der neopositivistischen Sprachphilosophie“ bezeichnet. In diesem Essay stellt Apel eine Parallele zwischen der inneren „Wandlung der Wahrheitsproblematik von Husserl zu Heidegger“ und der Dreistadienentwicklung der Analytischen Philosophie her (von Carnaps logischer Syntax über die logische Semantik von Tarski und Carnap zu dem dreidimensionalen Zeichenmodell von Morris). Inspiriert von Heidegger sieht Apel in dem pragmatischen Ansatz von Morris eine „poietisch-inkarnative Wahrheitsfunktion der Sprache“ vorausgesetzt, und zwar „in dem Sinne, in dem der Durchschnittsmensch bzw. der Mensch in seiner behavioristisch erforschbaren Durchschnittlichkeit bereits zur Miete wohnt in dem ‘Haus des Seins’, das in geisteswissenschaftlich relevanten Sinnereignissen der Sprachgeschichte entstanden ist“ (Apel 1959 ⫽ 1973 b: 166). Eine ausführliche Kritik von Zeichen, Sprache und Verhalten findet sich in Apels umfangreicher Einleitung zur deutschen Übersetzung dieses Werks (vgl. Apel 1973 a). Apel sieht in Zeichen, Sprache und Verhalten im Unterschied zu den Grundlagen das Programm einer „pragmatisch integrierten Semiotik“ formuliert. Die Bedeutung seines Aufsatzes liegt darin, daß in ihm der wissenschaftsgeschichtliche und -systematische Zusammenhang herausgearbeitet und der Morrissche Ansatz mit der Theorie der kommunikativen Kompetenz von Habermas (1971) konfrontiert wird.
2224 Apel betont, daß zwischen der pragmatisch integrierten Semiotik und dem methodischen Behaviorismus von Morris unterschieden werden muß. Die Relevanz der pragmatisch integrierten Semiotik ergibt sich aus der Grundlagenproblematik der strukturalistischen Linguistik von Saussure bis Chomsky. So ist bei beiden die Pragmatik als Untersuchung der parole bzw. Performanz der formalen Analyse der langue bzw. Kompetenz nachgeordnet (vgl. Art. 79 §§ 2.2. und 2.3.). Demgegenüber hebt Apel die Rolle pragmatischer Bedingungen des Verstehens hervor, die besonders bei kontextabhängigen Ausdrükken wie Deiktika deutlich werde. Zudem gebe es nicht nur „systembezogene Sprachregeln“, sondern auch systembedingenden oder systembegründenden Sprachgebrauch, der eine pragmatische Metakompetenz erforderlich mache (1973 a: 14 f). Sprachen versteht Apel als „reale Entäußerungen und Verdinglichungen der menschlichen Kommunikations-Potenz, die auf diese Potenz als Regel-Systeme maßgeblich zurückwirken“ (1973 a: 16). In den späteren Arbeiten, in denen Morris über den informativen Gebrauch designativer Zeichen hinausgeht und auch wertend-einschätzende, vorschreibend-instruktive und diskurs-formative Signifikationen anerkennt (vgl. Art. 4 § 3.4.), sieht Apel die Bedeutung der pragmatischen Ebene richtig erkannt. Er charakterisiert sie als das „szientifisch-systematische Gegenstück zu Wittgensteins sokratisch-platonischer Methode der Besinnung auf die Mannigfaltigkeit des Sprachgebrauchs“ (1973 a: 21). Apels Kritik konzentriert sich auf zwei Punkte. Es sei unmöglich „auf der Grundlage des methodischen Behaviorismus, das Problem des Verstehens (und Mißverstehens) von Handlungs-Intentionen und Zeichen-Bedeutungen aufzulösen“ (1973 a: 27). Dieser Kritikpunkt ist angesichts neuerer Begründungsversuche der Kognitionswissenschaft, die auf einem intentionalen Realismus insistieren und bei der Handlungserklärung durchaus im Rahmen des methodischen Behaviorismus bleiben, diskussionsbedürftig (vgl. etwa Fodor 1987; siehe Münch 1997). Apels zweiter Kritikpunkt setzt bei dem Wahrheitsbegriff an (siehe oben § 4.4.). Es sei unmöglich, das Problem der Legitimation von Zeichenwahrheit im Rahmen eines wertneutralen Szientismus zu lösen (1973 a: 27). Zwar sehe Morris, daß es auch einen pathologischen Zeichengebrauch gibt ⫺ etwa die Verwendung von Dingen als Fetisch ⫺, Mor-
XII. Gegenwartsströmungen der Semiotik
ris behandele ihn jedoch im Rahmen einer biologischen Systemtheorie, bei der der Maßstab für den pathologischen Charakter eines Zeichengebrauchs ein idealer Funktionszustand sei, der lediglich eine statistisch nicht häufige Verletzung der normalen Ereignisse zuläßt. Demgegenüber insistiert Apel unter Bezugnahme auf Peirce und die zeitgenössische Auseinandersetzung von Habermas und Luhmann (vgl. Habermas und Luhmann 1971), daß die verstehenden Humanwissenschaften „implizite moralische Ansprüche aller Kommunikationsteilnehmer an die ideale Kommunikationsgemeinschaft im Sinne einer ‘idealen Sprechsituation’ voraus[setzen], um die realen Gegebenheiten im Sinne einer angemessenen Beurteilung von Gelingen und Mißlingen rekonstruieren zu können“ (1973 a: 65 f). So sieht Apel in der Universalpragmatik von Habermas ein Modell, „wie das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik ⫺ das freilich in diesem Jahrhundert zuerst von C. W. Morris systematisch entfaltet wurde ⫺ auf der Ebene der menschlichen Semiosis vielleicht einmal in angemessener Form realisiert werden könnte“ (1973 a: 66). In seinen jüngeren Arbeiten verfolgt Apel das Projekt einer „pragmatischen Sprachphilosophie in transzendentalsemiotischer Begründung“, wie der Titel seines programmatischen Aufsatzes lautet (1993). Er vertritt hierbei die These, daß es einen methodischen Primat des Sprach-Apriori gibt gegenüber den anderen als nichthintergehbar behaupteten Standpunkten (Leib-Apriori der Perspektiven, Praxis-Apriori erkenntnisleitender Interessen, Apriori der Faktizität und Geschichtlichkeit des In-der-Welt-Seins). Dieses sei durch eine transzendentalsemiotische Umformulierung der Transzendentalphilosophie zu begründen ⫺ eine Aufgabe, die Apel im Ausgang von Peirce und Morris in Angriff nimmt (Apel 1993). Auch in Osteuropa fand eine Auseinandersetzung mit Morris statt. In Polen wurde Morris bereits in den fünfziger Jahren diskutiert (Kotarbin´ska 1957); bekannt wurde er dort insbesondere durch Adam Schaff (*1913), der wie Sebeok den Ansatz der Grundlagen für entschieden fruchtbarer hält als das spätere Werk (Schaff 1960). Positiv bewertet Schaff die Ablehnung eines Platonismus und Mentalismus in bezug auf Bedeutungen sowie die Strategie, Interpretanten als objektivierbare Reaktionen des Organismus zu fassen. Andererseits wird ein genereller
113. Morris, seine Vorgänger und Nachfolger
Vorwurf der „Fetischisierung des Zeichens“ erhoben und die behavioristische Grundhaltung abgelehnt. In der Sowjetunion wurde 196