Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10. bis 12. März 2008 [1 ed.] 9783428532162, 9783428132164

Beiheft 19 zur Zeitschrift DER STAAT enthält neun für den Druck überarbeitete und mit Fußnoten versehene Vorträge, die w

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German Pages 360 [361] Year 2010

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Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10. bis 12. März 2008 [1 ed.]
 9783428532162, 9783428132164

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DER STAAT ZEITSCHRIFT FU¨R STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPA¨ISCHES O¨FFENTLICHES RECHT

Beiheft 19

Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch, Barbara Stollberg-Rilinger, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl

Heft 19

Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 10. bis 12. März 2008

Für die Vereinigung herausgegeben von

Helmut Neuhaus

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Redaktion: Helmut Neuhaus, Erlangen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-13216-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung Vorliegender Band enthält die Vorträge, die vom 10. bis 12. März 2008 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar gehalten, für den Druck überarbeitet und mit Fußnoten versehen wurden. Abgedruckt werden auch die mitgeschnittenen Aussprachen zu den einzelnen Vorträgen sowie die Schlussdiskussion. Bedauerlicherweise lag der Vortrag von Herrn Professor Dr. Ludwig Vones, Universität zu Köln, mit dem Thema „Der verwaltete Andersgläubige. Juden und Muslime zwischen Segregation, Administration und Vertreibung im spanischen Spätmittelalter“ zu Beginn der Drucklegung nicht vor. Infolgedessen wird auch die, sich an diesen Vortrag anschließende Aussprache nicht abgedruckt. Bei den redaktionellen Arbeiten unterstützten mich dankenswerterweise Maria Galas und Daniel Stanin. Erlangen, im Juli 2009

Helmut Neuhaus

Inhalt Gerhard Dilcher Zum Verhältnis von Autonomie, Schriftlichkeit und Ausbildung der Verwaltung in der mittelalterlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ludwig Elle Die Sorben – (Selbst-)Verwaltung einer nationalen Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Asche Hugenotten und Waldenser im frühmodernen deutschen Territorialstaat zwischen korporativer Autonomie und obrigkeitlicher Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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J. Friedrich Battenberg Die jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften im Heiligen Römischen Reich. Zwischen landesherrlicher Kontrolle und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Christoph Schænberger Der Kampf der Parlamente mit dem Königtum in Frankreich vor der Revolution. Gerichtshöfe zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, ständischer Opposition und moderner Nationalrepräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Jærg-Detlef Kçhne Freiherr vom Stein – berechtigtes Feiern seiner Selbstverwaltungs- und Autonomievorstellungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Hans-Christof Kraus „Selfgovernment“ – Die englische lokale Selbstverwaltung im 18. und 19. Jahrhundert und ihre deutsche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

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Inhalt

Thomas Simon Die Föderalisierung des Kaisertums Österreich nach 1860 und der Gedanke der Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Dieter Kugelmann Idee und Realität von Selbstverwaltung in der Europäischen Kooperation und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Schlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Zum Verhältnis von Autonomie, Schriftlichkeit und Ausbildung der Verwaltung in der mittelalterlichen Stadt Von Gerhard Dilcher, Frankfurt am Main

Wenn wir überlegen: wo Verwaltung überhaupt angefangen habe, so sehen wir vor unseren Augen vielleicht ägyptische oder babylonische Beauftragte des Herrschers, die die eingehenden Abgaben der Untertanen begutachten und schriftlich verzeichnen. In der deutschen Geschichte wird uns wohl weniger das Reich oder auch die Grundherrschaften, als vielmehr der entstehende spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Territorialstaat einfallen. Ganz anders bei dem Stichwort Selbstverwaltung. Hier ist es, diesseits aller weltgeschichtlichen Assoziationen, die mittelalterliche Stadt, und vor allem die deutsche mittelalterliche Stadt, die uns als erstes in den Sinn kommt und die wir wohl auch ohne allzu großes Zögern als Ursprung der Selbstverwaltung, als Ursprung sogar der Idee der Selbstverwaltung, benennen würden. Ursprung – oder invention of tradition? Es entstammen ja diesem historischen Kontext keineswegs Wort und Begriff Selbstverwaltung. Beide sind viel jünger. Die Wortprägung geht wohl auf das späte 18. Jahrhundert zurück1, und das Grimm’sche Wörterbuch gibt nur einige, jedoch sehr aufschlussreiche Zitate aus dem 19. Jahrhundert, nämlich aus Heinrich von Treitschkes „Deutscher Geschichte“: „So ward er [nämlich Niebuhr] wie Stein ein abgesagter Feind aller politischen Systemsucht und fand wie Jener den Eckstein der Freiheit in der Selbstverwaltung, die den Bürger gewöhne mannhaft auf eigenen Füszen zu stehen und das Regieren [ . . . ] handanlegend zu lernen“. Otto von Bismarck dagegen sieht, wie ein entsprechendes weiteres Zitat bei Grimm belegt, durch die Selbstverwaltung die Zahl der Beamten und ihre Geschäftslast erheblich gesteigert und darin bloß eine Verschärfung der Bürokratie. 1 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch [Nachdruck], München 1984, Bd. 16 (= Bd. 10 Abt. 1 der Erstausgabe von 1905), Sp. 502; das Zitat nach Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Leipzig 1882, S. 64. Das insgesamt etwas längere Zitat aus Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1, Stuttgart 1898, S. 11 f., auf das oben Bezug genommen wird, bei Grimm, ebd.

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Die Zitate stellen uns mit großer Kürze und Prägnanz in Auseinandersetzungen über die Gestaltung des deutschen Staates im 19. Jahrhundert: Freies Bürgertum und Selbstverwaltung oder Monarchie und bürokratische Herrschaft. Darüber wird jedoch noch an späterer Stelle im Rahmen unserer Tagung gehandelt werden. Innerhalb dieser Auseinandersetzungen war die Geschichte eine Waffe, die einen hohen Grad von Legitimation vermittelte. Treitschke verband, wie wir sahen, die Selbstverwaltung direkt mit dem Freiherrn vom Stein und nennt sie einen Eckstein der Freiheit des Bürgers und eine Schule zum Erlernen des Regierens, also der demokratischen Selbstregierung. Das ist es sicher, was für Bismarck den tieferen Anlass für seine nörgelnde Kritik bildete. Mit dem Freiherrn vom Stein aber sind wir schon im historischen Thema. So knapp und nüchtern er selbst seine Städterordnung auf ihren Weg entlässt, so ausgiebig nimmt sich seiner die historische Interpretation an. Sogleich sah man Verbindungen zu Justus Möser, der das Verhältnis von Politik und gesellschaftlichen Strukturen bis in die germanische Vorzeit gesponnen hatte.2 Am eindrucksvollsten fasste Otto von Gierke diese Verbindung in seiner großen Würdigung der Städtereform des Freiherrn vom Stein zusammen3, wenn er den von anderen behaupteten Einfluss der französischen Revolution, aber auch aus England zurückwies zu Gunsten des Vorbildes der mittelalterlichen Städtefreiheit. Die Stadt nämlich, so Gierke, stelle die erste Verwirklichung des Gedankens eines freien staatlichen Gemeinwesens auf deutschem Boden dar.4 Allerdings strebte sie, so sagt er, nie, anders als die italienische Stadt, nach staatlicher Souveränität, musste deshalb die von ihr erarbeiteten Errungenschaften wie etwa das Verwaltungsrecht, in der historischen Entwicklung im Laufe der Neuzeit an den deutschen Territorialstaat weitergeben.5 Gierke entwirft also, wenn wir die entsprechenden Passagen seines Deutschen Genossenschaftsrechts hinzunehmen6, sowohl historisch-empirisch wie geschichtstheoretisch eine unmittelbare Verbindung zwischen der Verfassung der mittelalterlichen Stadt und der auf die Idee der Selbstverwaltung gegründeten Kommunalverfassung des Freiherrn vom Stein. Sie beruht darauf, dass die mittelalterliche Stadt als selbstbestimmtes bürger2

So etwa bei Otto von Gierke, Die Steinsche Städteordnung (FN 3), S. 54. Es handelt sich um die Festrede vom 27. Januar 1909 in der Aula der Berliner Universität: Die Steinsche Städteordnung, hier zitiert nach der Ausgabe von Julius von Gierke, Darmstadt 1957. 4 Gierke, Die Steinsche Städteordnung (FN 3), bes. S. 44 ff. 5 Gierke, Die Steinsche Städteordnung (FN 3), S. 46 oben. 6 Hierzu vor allem Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs [Neudruck], Darmstadt 1954, 4. Kapitel: Die Stadtpersönlichkeit, S. 573 ff., bes. § 28: Die Stadtpersönlichkeit im öffentlichen Recht, dort D. Die Stadt als Subjekt staatlicher Gewalt nach innen. 3

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liches Gemeinwesen schon die Merkmale des Staates entwickle; dazu gehöre eben die Verwaltung und das Verwaltungsrecht. Über das Vorbild für die Selbstverwaltung der Kommunen hinausweisend sieht Gierke damit in der mittelalterlichen Stadt ein historisches Vorbild, ja wir können sagen die Utopie eines auf bürgerliche Partizipation gegründeten deutschen Staatswesens.7 Dieses unterscheidet sich damit deutlich von dem Vorbild des Selfgovernment, wie es sein Altersgenosse und späterer Berliner Fakultätskollege Rudolph Gneist aus der englischen Geschichte konstruiert.8 Bei ihm ist von vornherein der monarchische Staat der Ausgangspunkt, indem er durch die Heranziehung der örtlichen Honoratioren zu Ämtern und Steuerpflicht eine Verbindung von Staat und Gesellschaft vermittelt. Schon die Reduktion des englischen selfgovernment zu „Selbstverwaltung“ indiziert die Zurücknahme politischer Zielvorstellungen in dem Modellentwurf. Wir sind nun bei unserer historischen Rückfrage an die mittelalterliche Stadt in Sachen Selbstverwaltung weder an Gierke noch an Gneist gebunden. Doch verweisen die Kommentare zur Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz selbst auf die Geschichte.9 Die abstrakte Definition dieses Artikels, nämlich einer eigenverantwortlichen Führung der Geschäfte in allen eigenen Angelegenheiten, hat eher selbstreferentiellen Charakter. Darum hat der inhaltliche Verweis der Kommentierungen auf die geschichtliche Entwicklung besondere Bedeutung, zumal in ihnen ausdrücklich auf die Reform des Freiherrn vom Stein Bezug genommen wird. Ein staatsähnliches Gemeinwesen, aber ohne die Souveränität, die die italienische Stadt im Mittelalter erlangte – diese Abgrenzung Gierkes weist uns darauf hin, dass heute die Bezeichnung als „Selbstverwaltung“ immer nur einer Korporation unterhalb der staatlichen Gewalt, als Autonomiebereich gegenüber dem Staate zugewiesen wird10: Das gilt für die Selbstver7 Dies wird deutlich in der Würdigung der Steinschen Städteordnung, aber auch in seinem Genossenschaftsrecht und in seiner späten Rede zur Staatsidee der Weimarer Republik; dazu Gerhard Dilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein „Juristensozialismus“ Otto von Gierkes?, in: Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno 3 – 4 (1974 – 75): Il socialismo giuridico, t. 1, S. 319 – 365. 8 Siehe dazu den Beitrag von Hans-Christof Kraus in diesem Bande sowie Erich J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816 – 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, Frankfurt am Main 1995. 9 So die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit Entsch. 1, 178 und ihm folgend die Grundgesetz- Kommentare, vgl. bes. Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Auflage München 2005, Art. 28 II GG Rn. 126 ff. 10 Michael Stolleis, Art. Selbstverwaltung, in: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 1621 – 1625, hier Sp. 1621.

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waltung nicht nur der Kommunen, sondern auch berufsständischer Vertretungen oder der Sozialversicherungsträger. In der Tat konnte man diese Konstellation mit dem historischen Befund des deutschen Mittelalters in Übereinstimmung bringen: Selbst die Freien und Reichstädte unterstanden ja dem König und Kaiser und Reich, und die Mehrzahl der übrigen Städte hatte bei weitgehender Autonomie doch einen Stadtherren. Max Weber hatte deshalb analytisch schärfer bei seiner Stadtdefinition zwischen Autonomie und Autokephalie unterschieden11, wodurch deutlicher wird, dass Selbstbestimmung im normativen Bereich – und damit eben in der Verwaltung – abgekoppelt sein kann von voller Eigenmacht im Bereich der politischen Herrschaft. Allerdings müssen wir sehen: Es handelt sich bei diesen mittelalterlichen Verhältnissen nicht um den spezifischen Gedanken der Selbstverwaltung im anfangs angesprochenen modernen Sinne, denn dieser setzt „eine von ihr unterschiedene, antagonistische Staatsverwaltung voraus“, wie Michael Stolleis feststellt12, der deshalb den Bezug auf das mittelalterliche Genossenschaftswesen als historisch unzutreffende Assoziationen des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. In der Sache handele es sich, so Stolleis, um „eigenverantwortliche Regelung der Angelegenheiten kleinerer sozialer Einheiten“. Zurück zu Gierke: Er beanspruchte für die Stadt einen Vorsprung bei der Ausbildung von Staatlichkeit und Verwaltung gegenüber den Bereichen sonstiger Herrschaft, also König und Reich, Fürsten und Territorium. Dies sollte für uns ein interessanter Punkt sein: Welche Rolle spielte bürgerliche Autonomie nicht nur bei der Ausübung, sondern bei der Ausbildung, der Genese also von Verwaltung? Das „Selbst“ und die „Verwaltung“ der Stadt wären durch diese Fragestellung in ein ganz eigenes, dynamisches Verhältnis gebracht, eine dialektische Spannung, die aus sich heraus historische Entwicklungen hervorbringen könnte. Als Metapher mag man gemäß dieser Konzeption die Selbstverwaltung eine Ellipse nennen, in der das „Selbst“ und die „Verwaltung“ die beiden Brennpunkte darstellen, von denen her sich Ausdehnung und Form beschreiben lässt. Damit wäre aus unserem Gegenstand, der mittelalterlichen Stadt, nicht nur historisch, sondern grundsätzlich etwas zum Thema zu lernen. Ganz anders sieht allerdings die maßgebende „Deutsche Verwaltungsgeschichte“ in ihrem ersten Band von 1983 die historischen Relationen.13 11 Max Weber trifft diese Unterscheidung für die Stadt des Okzidents, insbes. für die italienische mittelalterliche Stadt, in: Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Auflage 1972 u. ö. (Studienausgabe), S. 788 – 791, kürzer auch schon S. 749. Dazu auch Gerhard Dilcher, Max Webers Stadt und die historische Stadtforschung der Mediävistik, in: Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, hrsg. von Hinnerk Bruhns und Wilfried Nippel (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 140), Göttingen 2000, S. 119 – 143. 12 Stolleis, Art. Selbstverwaltung (FN 10).

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Hier bekommen die Städte in Paragraph sieben lediglich einen bescheidenen Rang hinter König und Reich, hinter dem breit behandelten Territorialstaat und der Kirche. Historischen Vorrang im Sinne Gierkes wird ihnen also keineswegs zugestanden. Doch liest man die entsprechenden Kapitel parallel, so wird doch ein zeitlicher Vorrang der Ausbildung städtischer Verwaltung deutlich. Peter Moraw lässt seine Betrachtung des Reiches mit etwa 1350 einsetzen, allerdings mit dem Vorbehalt: „Ohne Zweifel ist auch zuvor schon im Reich verwaltet worden“.14 Seine ersten Überlegungen gelten allerdings der Erörterung der Bedingungen, unter denen man für das nichtstaatliche Gebilde des Reiches überhaupt von Verwaltung sprechen kann. Seinen zeitlichen Einsatz begründete er damit, dass mit dem Regierungswechsel zu Karl IV. 1346 / 1347 entgegen der herrenständischen Struktur des Reiches durch Verschriftlichung und Verwissenschaftlichung eine Bürokratisierung der königlichen Kanzlei stattgefunden habe. Im Vordergrund der Tätigkeit des Reisekönigtums stehen Versammlungen und festliche Hoftage im Dienste von pax et justitia, Schlichtung und Rechtsprechung in Streitsachen, Belehnungen, Gnadenerweisen, Schenkungen und Privilegien, die zum Teil von der Kanzlei in der Form von Diplomen verschriftlicht wurden. Mandate und Briefe, deren Schriftlichkeit eher an Verwaltung erinnert, sind demgegenüber je früher desto seltener. Angesichts dessen scheint es mir zutreffender, mit der poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts für die ältere Zeit von einem „Walten“ des Königs und Kaisers im Reich, denn von einem Verwalten des Reiches zu sprechen. Dietmar Willoweit sammelt in der genannten Darstellung der territorialen Verwaltung zunächst die einzelnen Elemente, aus denen sich seit der Karolingerzeit Landesherrschaft aufgebaut hat.15 Von daher kann er dann Verwaltung generell als die Mittel und Wege der Herrschaftsverwirklichung verstehen – eine der wenigen angebotenen Arbeitsdefinitionen für unseren Gegenstand überhaupt. Aus den Elementen von Grundherrschaft, Gericht, Vogtei und Regalien erwachsen, stellt sich ihm Verwaltung erst dadurch dar, dass sie sich auf ein Ämterwesen stützt, welches sich aber erst langsam aus den personalen Beziehungsgeflechten von Lehnswesen und Ministerialität im Laufe des Spätmittelalters herauslösen konnte. Während für das Reich, ein Reich ohne Hauptstadt und ohne staatlichen Charakter bis zum Ende 1806, sich das Problem eines durch Verwaltung zu erfassenden und zu 13 Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg Christoph von Unruh, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983. 14 Peter Moraw, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches und ihre Rahmenbedingungen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1 (FN 13), §§ 1 – 4, S. 21 – 65. 15 Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1 (FN 13), § 5, S. 66 – 143.

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durchdringenden Raumes erst gar nicht stellte, bedeutete gerade dies, die Durchdringung des Landes, eine der Hauptaufgaben der Territorialverwaltung. Hier musste der Fürst an die unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten der genannten Art anknüpfen, um langsam eben durch Aufbau eines Ämterwesens mit objektiver Umschreibung der Befugnisse und Anbindung an die Zentrale jenes Gebilde zu schaffen, das wir den frühmodernen Staat nennen. Der eingeräumte Umfang und die Ausdifferenzierung des Artikels zeigen, wie die Anlage dieser Verwaltungsgeschichte auf diesen Letzteren ausgerichtet ist, den Willoweit sicher zutreffend am Anfang als „den Grundriß dessen, was bis 1806 in deutschen Landen als ,Staat‘ figuriert“, bezeichnet.16 Demgegenüber hatte Georg Droege ungemein knapp auf elf Seiten die Stellung der Städte zu beschreiben; dem angefügt ist noch ein kurzer Paragraph über die Bedeutung des bündischen Elements, sowie ein etwas längerer – 20 Seiten – zur ländlichen gemeindlichen Selbstverwaltung und Grundherrschaft. Zur Stadt ist kurz und klar – aufgrund der damaligen Forschungslage begründet auf Hans Planitz und Wilhelm Ebel – ausgeführt, wie im 11. / 12. Jahrhundert die Befugnis zur Regelung der städtischen Angelegenheiten weitgehend vom Stadtherren zunächst auf Kaufleute und Honoratioren und dann auf die Bürgerschaft überging. „Im Prinzip bildete nach der stadtherrlichen Periode, in der die Bürger noch Objekt stadtherrlicher Verwaltung und Gerichtsbarkeit waren, die Gemeinde das eigentliche Organ, das die Selbstverwaltung und die Gerichtsbarkeit festlegte.“17 Auch hier kann, wie in den vorausgehenden Beiträgen für das Reich und für die Landesherrschaften, nicht kategorial zwischen Gerichtsbarkeit, Gesetzgebung und Verwaltung geschieden werden. – Wenn wir mit Ernst Forsthoff „die Eigenart der Verwaltung darin begründet sehen, dass sie sich zwar beschreiben, aber nicht definieren lässt“18 – so fehlt uns infolge dessen im Mittelalter ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal für unser Thema, welches uns der moderne gewaltenteilende Staat zur Verfügung stellt. Doch scheint mir auch für die Stadt der von Willoweit herausgestellte Aspekt brauchbar, in der Verwaltung die Mittel und Wege der Herrschaftverwirklichung zu begreifen.19 Gericht und Rechtsetzung können dann unter diesem Aspekt, aber eben ausgerichtet auf diesen Aspekt miteinbezogen werden. 16

Willoweit, Die Entwicklung (FN 15), S. 66. Georg Droege, Die Stellung der Städte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1 (FN 13), § 7, S. 177 – 187, hier S. 180. Ebd., S. 188 – 193, § 8: Die Bedeutung des bündischen Elements; ebd., S. 193 – 213, § 9: Gemeindliche Selbstverwaltung und Grundherrschaft. 18 So Ernst Forsthoff in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1: Allgemeiner Teil, München, Berlin 1950 u. ö., § 1, S. 1. 19 Willoweit, Die Entwicklung (FN 15), S. 81. 17

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Die Bildung einer die Stadt umgreifenden, auf den Bürgereid gegründeten Kommune im 12. Jahrhundert ist ein Wendepunkt nicht nur der städtischen Verfassungs-, sondern auch Verwaltungsgeschichte: Dies ist heute wohl allgemein anerkannt.20 Von nun an kann man von Selbstverwaltung sprechen, denn die Bürgerschaft ist als Subjekt handlungsfähig. Doch diese Phase schließt unmittelbar und organisch, von Stadt zu Stadt zeitlich verschieden, an die stadtherrliche Periode an. Die wichtigsten Städte, ja die einzigen, die diesen Namen im frühen Mittelalter, also vor der kommunalen Zeit, voll verdienten und auch stets als civitas bezeichnet wurden, sind in Deutschland die westlichen Bischofsstädte, alles alte Römerstädte. Die Kontinuität der Urbanität in Südeuropa und das Überdauern von Städten nördlich der Alpen war in hohem Maße der Verbindung zu danken, die die Kirche mit der Stadt in der Gestalt des Bischofs in der Spätantike eingegangen war.21 Bischof und Stadt waren und sind kirchenrechtlich durch ein eheähnliches Band aneinander gebunden. Damit war die Stadt der Ort kirchlicher Zentralität, Ort lateinischer Schriftlichkeit und kirchlichen Rechts, von Recht und Verwaltung der Diözese und der Kommunikation mit Kirche und Reich nach außen. Indem Bischof und Domstift seit der Karolingerzeit auch weitgehend die weltlichen Rechte über die Stadt (und daneben über ländliche Grundherrschaften) übertragen erhielten22, kamen dazu die Aufgaben der weltlichen Gerichtsbarkeit und der Einziehung von Abgaben, vor allem aber auch die Ordnung der spezifisch städtischen Verhältnisse. Das betraf vor allem den städtischen Markt und die handwerklich produzierende Wirtschaft. Hier hatten sich allerdings schon durch die Königsprivilegien des 11. Jahrhunderts für die Kaufmannschaften sowohl der Bischofsstädte wie auch freier Märkte Zuständigkeiten und Mitwirkungsrechte eben dieser Kaufmannschaften gebildet und gefestigt. Bei allem, was die Regalien Markt, Zoll und Münze betraf, waren Kaufleute zuständig und hatten mitzureden. Stadt und Territorium entwickelten so unter derselben kirchlichen Herrschaft unterschiedlich Ämter- und Verwaltungsstrukturen. Der Bischof fühlte sich noch als Herr der wirtschaftlich erstarkenden und sich ausdifferenzierenden Stadt. In diesem Sinne sind Stadtrechte des 12. und noch des 13. Jahrhunderts als Bischofsrechte bezeichnet wor20 Vgl. die Aufsatzsammlung von Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln [u. a.] 1986; ders., Die Rechtsgeschichte der Stadt, in: Karl S. Bader / Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt – Bürger und Bauer im Alten Europa, Berlin, Heidelberg 1999, hierzu bes. S. 366 – 404 und 426 – 444. Es sei mir erlaubt, auf diese zusammenfassende Darstellung im Folgenden zu verweisen. 21 Gerhard Dilcher, Die Bischofsstadt. Zur Kulturbedeutung eines Rechts- und Verfassungstypus, in: Bischofsstädte als Kultur- und Innovationszentren (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Bd. 7, H. 3 [2002]), S. 13 – 38 mit Literatur. 22 Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), 292 ff.

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den.23 Besonders deutlich ist hier das erste Straßburger Stadtrecht, in welchem der Bischof deklaratorisch die Macht und Besetzungsbefugnis über alle städtischer Ämter beanspruchte: Omnes magistratus huius civitatis ad episcopi spectant potestatem.24 Dies wird sodann in 118 Paragraphen vom Schultheiß und Burggrafen, vom Zöllner und Münzmeister bis zu den Vorstehern der einzelnen Gewerbe und ihren jeweiligen Zuständigkeiten durchdekliniert. Als ein wichtiges Prinzip wird dabei die hierarchische Ämterordnung genannt: Maiores ordinabunt minores, prout sibi subiecti sunt. Angesichts dessen ist es nicht zu viel gesagt, wenn wir hier von einer städtischen Verwaltung in der Hand des Bischofs sprechen, ist doch Ämterwesen und -hierarchie eines unserer Definitionsmerkmale für Verwaltung überhaupt. Die höheren Amtsträger müssen dabei aus der städtischen Ministerialität stammen, dürfen nicht Fremde sein – städtische Honoratiorenverwaltung also unter der Gewalt des bischöflichen Stadtherren. – Eine ähnlich ausgebildete bischöfliche Stadtverwaltung tritt uns noch ein Jahrhundert später im großen Kölner Schied von 1258 entgegen25, in welchem unter Vorsitz des Dominikaners Albertus – des Großen – sorgsam die Zuständigkeiten von Bischof und Bürgerschaft geschieden werden. Allerdings gingen kurz darauf nach dem Sieg in der Schlacht von Worringen alle diese Zuständigkeiten an die Bürgerschaft – nur die vom Reich abgeleitete Hochgerichtsbarkeit blieb beim Erzbischof. Diese Zeugnisse, nur die markantesten aus einer großen Reihe, zeigen deutlich, wie sich in den westlichen Bischofsstädten eine vor allem im Ämterwesen manifeste, nach Zuständigkeiten ausdifferenzierte städtische Verwaltung in der Hand und mit Hilfe der Kirche, aber in Wechselwirkung mit den städtischen Bedürfnissen und unter Mitwirkung der führenden kaufmännischen und ministerialischen Schichten vom 11. bis zum 13. Jahrhundert ausgebildet hatte. Dieses Ämterwesen folgte eher kirchlichen denn weltlichen Vorbildern, war es doch die Zeit des Aufbaus der Amtskirche als hierarchischen Rechtskörpers. Das weltliche Lehnswesen, wichtigste Struktur der Herrschaft spätestens seit dem 12. Jahrhundert, kannte zwar Amtsbelehnungen, beruhte insgesamt aber doch eher archaisch auf der Verbindung von personalen Treuebeziehungen mit Rechten am Land. – Doch der Gegenstand des Verwaltens in der Stadt war nicht kirchlich geschaffen; 23 Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 298 f. Dazu gehört vor allem das genannte Straßburger Stadtrecht, wohl von 1131 / 32, das Augsburger Stadtrecht von 1156, das Kölner Burggrafenrecht von 1169, die Trierer Rechtsaufzeichnung von 1220 sowie diejenigen von Worms und Basel von 1260 bzw. 1262. 24 Friedrich Keutgen, Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte [Neudruck], Aalen 1965, Nr. 126, c. 5, S. 93. 25 Keutgen, Urkunden (FN 24), No. 147; siehe dazu Edith Ennen, Erzbischof und Stadtgemeinde in Köln bis zur Schlacht von Worringen, in: dies., Gesammelte Abhandlungen, Bonn 1977, S. 388 ff., bes. S. 401 – 403.

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die Herausforderung zum Verwalten bestand vielmehr in den Strukturen und Bedürfnissen der entstehenden städtischen Wirtschaft und Gesellschaft: Markt, Handel, gewerbliche Produktion, engem Zusammenleben und ständiger Interaktion einer größeren Zahl von Menschen. Auch wenn in Markt- und Handelssachen aufgrund alter königlicher Marktprivilegien wie auch der Selbstorganisation der Gilde kaufmännische, bei der Verwaltung des Handwerks städtisch-ministerialische Mitwirkung bei der Verwaltung gegeben war, so handelte es sich nur um Mitwirkung städtischer Honoratiorengruppen, nicht aber um Selbstverwaltung der Bürgerschaft. Ein weiteres Merkmal ausgebildeter Verwaltungen fehlte jedoch noch weitgehend: die Schriftlichkeit. Die ältesten schriftlichen Rechtsakte bezüglich der Stadt, die wir dann auch in städtischen Archiven finden, sind königliche und stadtherrliche Privilegien, Verleihungen von Vorrechten, zum Teil auch schon normierter Stadtrechte. Es handelt sich um Urkunden, aufwändig und in feierlicher Form auf das kostbare Material Pergament geschrieben. Es handelt sich um die Form von Schriftlichkeit, wie sie mit Hilfe des schriftgeschulten Standes der Kleriker in der Kanzlei des Königs, nur langsam auch der Fürsten gepflegt wurde. Es handelt sich um Dokumente von normativem, aber noch wichtigerem symbolischen Gehalt. Als Akte schriftlicher Verwaltung im Sinne eines internen Festhaltens einzelner Akte zur laufenden Ordnung des täglichen Lebens können sie nicht angesehen werden. Dieses alltägliche Ordnen erfolgte, zum Teil sicher nach den Vorgaben dieser normativen Ordnungen, weitgehend noch mündlich. Wir befinden uns hier noch ganz in der Welt der Oralität.26 Die Träger der Verwaltung, Ministeriale also und Kaufleute, sind bis ins 12. Jahrhundert noch weitgehend des Schreibens unkundig, und eigene Schreiber gab es für sie noch nicht. Verwalten erfolgt also durch mündliche Anweisungen, und die Regelhaftigkeit des Verwaltens ist auf die Kontinuität der Tradition und damit auf das menschliche Gedächtnis angewiesen. In der vor- und frühkommunalen Stadt des 11. und 12. Jahrhunderts erfolgte diese Form mündlicher Verwaltung wohl auch im Rahmen dinggenossenschaftlicher Gemeinschaften27, die es gewohnt waren, die Regeln und Einzelakte in ihrem kollektiven Gedächtnis festzuhalten und zu überliefern. So müssen wir uns wohl für das Köln des 12. Jahrhunderts das Funktionieren der vorkommunalen Organe, nämlich der Sondergemeinden, des Schöffenkollegs und der Richerzeche und ihre Zusammenarbeit mit dem Stadtherren und den 26 Dazu Gerhard Dilcher, Oralität, Verschriftlichung und Wandlung der Normstruktur in den Stadtrechten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung (FN 20), S. 281. 27 Zur dinggenossenschaftlichen Rechtsstruktur Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Bde., Köln, Wien 1985; zu den Kölner Sondergemeinden: Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 365.

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stadtherrlichen Amtsträgern vorstellen. Ein hübsches Zeugnis dessen bietet die vielzitierte Gründung der Bruderschaft der Bettziechenweber von 1149, bei der die zum Teil namentlich genannten Gründer in frommer Gesinnung in domo civium öffentlich handeln in Gegenwart des Vogtes Ricolf, des Grafen Hermann, der Senatoren und Melioren mit deren und des gesamten Volkes der Stadt Zustimmung.28 Grundlegende Änderungen in diesem Zustand treten seit dem 13. Jahrhundert auf. Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert vollzieht sich die dramatische Entwicklung einer städtischen Verwaltungstätigkeit mit hoher Ausdifferenzierung und einem reichen Schriftwesen.29 Dies gilt natürlich vor allem für die großen und wichtigen Städte, nämlich Bischofsstädte und zunehmend auch königliche und fürstliche Gründungsstädte, die in dieser Zeit auch überwiegend den Status einer Freien und Reichsstadt gewonnen haben.30 Die mittleren Städte übernahmen das, was ihren Bedürfnissen entsprach, und die kleineren Landesstädte gewannen allenfalls Bedeutung als Ort einer fürstlichen Verwaltungsstelle, etwa eines Amtmannes. Erst durch die grundlegende Arbeit von Ernst Pitz „Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter“ von 1959 ist die enge Verbundenheit von Verfassung, Verwaltung und Schriftlichkeit in der Stadt deutlich herausgestellt31, damit die Verwaltungsgeschichte in einen übergreifenden Zusammenhang eingebettet worden. Pitz stützt seine Untersuchung auf die drei Städte Köln, Nürnberg und Lübeck, bedeutende Städte also mit jedoch sehr verschiedenen Verfassungsgrundlagen. Gerade weil sich dadurch auch die Verwaltungsgeschichte anfangs verschieden 28 Keutgen, Urkunden (FN 24), Nr. 255; Quellensammlung zur Frühgeschichte der Deutschen Stadt (bis 1250), bearb. von Bernhard Diestelkamp, in: Elenchus Fontium Historiae Urbanae, Bd. 1, hrsg. von Jan Frederik Niermeyer und Cor van de Kieft, Leiden 1967, Nr. 61. 29 Einen knappen, aber präzisen Überblick zu den deutschen Verhältnissen gibt Jean Schneider, Les Villes allemands au moyen âge – Competence administrative et judiciaires de leurs magistrats, in: La Ville. Institutions administratives et judiciaires. (= Recueils de la Societè Jean Bodin, Bd. VI), Brüssel 1954, S. 467 – 516. 30 Einen Eindruck vermittelt die grundlegende Sammlung: Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, bearb. von Walther Stein, 2 Bde., Bonn 1893 [Neudruck Düsseldorf 1993]. Eine klassische Studie zum Zusammenhang von Gewerbepolitik, Verfassung und Verwaltung und Ämterwesen bietet Gustav Schmoller, Strassburg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im XV. Jahrhundert, Strassburg 1875, ebenfalls mit Edition grundlegender Urkunden. Eine weitere wichtige Monographie zum Thema: Theodor Goerlitz, Verfassung, Verwaltung und Recht der Stadt Breslau, Teil 1: Mittelalter, hrsg. von Ludwig Petry, Würzburg 1962. 31 Ernst Pitz, Schrift- und Aktenwesen der städtischen Verwaltung im Spätmittelalter. Köln, Nürnberg, Lübeck. Beitrag zur vergleichenden Städteforschung und zur spätmittelalterlichen Aktenkunde (= Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, hrsg. von Erich Kuphal, Bd. 45), Köln 1959.

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entwickelt, kann er die grundlegenden Übereinstimmungen herausarbeiten. Hier kurz seine Ergebnisse. Köln besitzt die schon angesprochene Vielfalt vorkommunaler Organe mit entsprechenden Befugnissen unter dem Dach erzbischöflicher Stadtherrschaft, infolge deren der Rat erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts seine übergreifende Zuständigkeit durchsetzen kann. Die Hochgerichtsbarkeit, das symbolisch stärkste doch für die Entfaltung der Verwaltung weniger bedeutende Hoheitsrecht, verbleibt sogar auf Dauer beim Erzbischof. In der staufischen Pfalzstadt Nürnberg werden dagegen bis ins 13. Jahrhundert die obrigkeitlichen Rechte durch den königlichen Schultheißen ausgeübt. Die Bürgerschaft und ihre Vertreter, die consules, gewinnen teils Mitwirkungsrechte, etwa bei der Steuererhebung, entwickeln teils daneben eigene Zuständigkeiten kraft des Zusammenschlusses der Kommune, die als Genossenschaft im mittelalterlichen Verständnis autogene Befugnisse aufgrund der Selbstbindung durch den Eid besitzt. Das betrifft besonders den unteren Bereich der Ordnung des Gemeinwesens, also den des Verwaltens. Mit dem 14. Jahrhundert gewinnt die Stadt durch königliche Privilegien weitgehende Autonomie und durch Pfandschaft schließlich auch das Schultheißenamt und damit die Hochgerichtsbarkeit. Der städtische Rat, in dem sich Schöffen und consules vereinen, hatte nunmehr eine sehr starke Funktion, die er sich auch nicht von den Zünften nehmen ließ. Der Rat verhinderte auch die Entstehung einer Zunftverfassung, so dass die Handwerker weder Zugang zum Rat noch eine autonome Selbstverwaltung besaßen. In Lübeck schließlich steht mit der Privilegierung als freie Reichsstadt 1219 die Form der Ratsregierung in der Hand der Kaufmannschaft von Anfang an fest. Entsprechend musste der Ausbau der Verwaltung auch nicht auf vorkommunale Formen wie in Köln oder auf stadtherrliche Rechte wie zunächst in Köln und lange in Nürnberg Rücksicht nehmen. In dieser jüngsten Gründungsstadt konnte der Ausbau der Verwaltung deshalb besonders geradlinig vonstatten gehen und früh zu fester Form gelangen. Die auf der Eidesbindung der Bürgerschaft gebildete Ratsverfassung stellt also die Grundlage der Einheit und der stürmischen Entfaltung städtischer Verwaltung seit dem 13. / 14. Jahrhundert dar.32 Zwar setzte sie sich auch in den bedeutenden Städten erst in einem längerdauernden Prozess durch, doch saugte sie dann alles Ältere an stadtherrlichen wie an vorkommunalen Verwaltungsformen in sich auf oder verdrängte und ersetzte diese. Das markanteste Hoheitsrecht des Mittelalters, die Gerichtsbarkeit, bleibt zwar als Hochgerichtsbarkeit am längsten in der Hand des Stadtherren; 32 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 442, 446 ff.; Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 592 – 599: Die Entfaltung der städtischen Verwaltung, sowie Gerhard Dilcher, Art. Verwaltung II (Städte), in: HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 871 – 875.

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gerade sie ist jedoch als Teil der dinggenossenschaftlichen oralen Rechtskultur besonders wenig „verwaltungsträchtig“, vollzieht sich die Tätigkeit des Hochgerichts doch weitgehend im Medium der Mündlichkeit und bedarf auch keiner weiteren Ausdifferenzierung der Ämter. Auch ihre eher kargen Formen von Schriftlichkeit, seit der Gerichtsreform Friedrichs II. vor allem Ächtungsbücher33, werden mit Übernahme der Hochgerichtsbarkeit durch die Stadt oder durch die Entwicklung einer eigenen friedenswahrenden städtischen Gerichtsbarkeit in die städtische Schriftlichkeit einbezogen. Auf das Zeichen der Hochgerichtsbarkeit, den eigenen Galgen, legte man mehr aus herrschaftssymbolischen Gründen wert. Andererseits ist es im Bereich der Gerichtsbarkeit überhaupt bemerkenswert, wie die Bürgerschaft entweder durch Einbeziehung der Schöffen des Hochgerichts oder durch Entwicklung einer eigenen Ratsgerichtsbarkeit und durch Aneignung und Ausbau des Niedergerichtswesens all jene Bereiche in die eigene Kompetenz zu ziehen vermag, die für das Alltagsleben und damit für Verwaltung von Bedeutung waren.34 Die Regalien, ein anderer traditioneller Bereich von Verwaltung, waren durch die erwähnten frühen Privilegien schon weitgehend der Stadt übertragen worden und können nun Grundlage weiter ausgebauter bürgerlicher Verwaltungen werden. Beispiele sind Markt, Münze, Zoll, Befestigung und Wehrwesen, Steuer und Abgabe.35 Damit sind wir auch bei dem einen, dem rechtlichen Kernpunkt der Ausbildung städtischer Verwaltung im Spätmittelalter. Die Bürgerschaft hat sich als auf den Eid begründeter Verband über allen ursprünglich ständischen Gruppen und Genossenschaften als politische Einheit etabliert. Der Stadtrat ist, durch wechselseitige Eide mit der Bürgerschaft verbunden, deren Organ und Repräsentant, wie es auf dem Schwörtag oft auch öffentlich dargestellt wird. Bürgerschaft und Rat können also Ordnung und Recht des städtischen Lebens frei, durch Einung und Willkür ausgestalten – eine Veränderung, die Max Weber als revolutionär bezeichnet im Sinne der Durchbrechung der traditionalen herrenständischen Rechtsordnung zu einer auf Willensentschluss der Beteiligten gegründeten rational legitimierten Ordnung.36 Wie wir sahen, hatten die großen Städte teils durch Privilegierung, teils durch Duldung und teils in kämpferischer Auseinandersetzung mit dem Stadtherren sich die traditionalen Rechtspositionen von 33 Die Gerichtsreform war eine Folge des Mainzer Reichsfriedens von 1235 und der Einsetzung des Reichskammerrichters. 34 Für Nürnberg eingehend Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 244 ff., für Lübeck ebd., S. 357 ff.; die Entwicklung im Überblick Dilcher in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 583 – 592. 35 Dilcher, in: Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), bes. S. 320 – 326. 36 Max Weber setzt die Ausbildung der städtischen Rechtsordnung deutlich unter das Zeichen des Übergangs von einer traditionalen zu einer rationalen Legitimation. Dazu Dilcher, Die historische Stadtforschung (FN 11) mit weiteren Nachweisen.

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Gerichtsbarkeit und Regalien so weitgehend angeeignet, dass sich hieraus keine ernstlichen Begrenzungen ihrer Kompetenzen ergaben. Das Prinzip des städtischen Rates beruht auf dem republikanischen Amtsgedanken des römischen Konsulats, wie er in Deutschland aus Italien seit etwa 1200 übernommen worden ist, nachdem die Geschworenen (iurati) als Organ der Gilde schon den Weg bereitet hatten.37 Der gelehrte Bischof und Onkel Friedrich Barbarossas Otto von Freising hat dies Prinzip für die lombardischen Städte in einer äußerst klaren und hellsichtigen Stelle seiner Chronik als soziales und politisches Prinzip erkannt.38 Das Konsulat, das Amt des städtischen Rates beruhte auf drei Prinzipien39: Erstens der Wahl, damit der Repräsentanz, zweitens der Kollegialität im Amt und drittens der Annuität oder Zeitlichkeit der Amtsbefugnisse. Dadurch unterscheidet es sich, aufgrund republikanischer Prinzipien40, deutlich vom lehnrechtlichen und herrschaftlichen Ämterwesen wie auch dem der Kirche. Genau diese drei Prinzipien sind von größter Bedeutung für die Eigenart und Dynamik der Entwicklung städtischer Verwaltung seit dem späten 13. Jahrhundert. Die durch die Wahl und eigene Amtseide des Rates umschriebene Repräsentanz für den Eidesverband der Bürger verleiht jenem die umfassende Kompetenz für alle Angelegenheiten des Lebens der Bürger und darüber hinaus der nichtbürgerlichen Einwohner der Stadt, soweit sie der Ordnung und des Rechtes bedürfen. Der Bürgereid, vom Bürger als Individuum und oft auch von der Bürgerversammlung am Schwörtag kollektiv geleistet, beinhaltet als „gewillkürte“ Selbstbindung die Folgepflicht gegenüber den Anordnungen des Rates. Damit ist die rechtliche Grundlage und Legitimation für eine Ausdehnung und Erweiterung der Bereiche verwalteten Lebens in der Autonomie der Stadt gegeben. Aus dem Prinzip der Kollegialität ergibt sich die Einheit der Regierungsund Verwaltungsgewalt des Rates, die nach den Untersuchungen von Ernst Pitz das grundlegende Prinzip für die folgende Ausdifferenzierung der Ver37 Gerhard Dilcher, Kommune und Bürgerschaft als politische Idee der mittelalterlichen Stadt, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Iring Fetscher und Herfried Münkler, Bd. 2: Mittelalter: Von den Anfängen des Islam bis zur Reformation, München, Zürich, 1993, S. 311 – 350. 38 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs (= Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, Bd. 17), hrsg. von Franz-Josef Schmale, cap. II, 14; dazu Dilcher, Kommune (FN 37), S. 314. Otto verschränkt hier überlegt und hellsichtig römischen Republikanismus, Konsulatsverfassung, bürgerliche Sozialordnung mit den Prinzipien der Liebe zur Freiheit und der Machtkontrolle. 39 Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 540 – 555: Die Ratsverfassung als politische Ordnung. 40 Siehe dazu Helmut Georg Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien, Bd. 11), München 1988.

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waltungszweige und auch der Schriftlichkeit darstellte. Pitz sieht sogar das Bedürfnis nach Verwaltung als Ursache für die Einführung der Ratsverfassung an41, und was die Bedeutung des Amtsprinzips betrifft, würde ich ihm zustimmen. Als rechtliche Grundlage jeder Maßnahme gilt grundsätzlich der, nach dem Prinzip des kanonischen Rechts mit Mehrheit gefasste Ratsbeschluss42, in den jedes Ratsmitglied eingebunden ist. Die Ausführung der Ratsbeschlüsse ist grundsätzlich Sache der Bürgermeister, die also die eigentliche Exekutive darstellen.43 Es gibt damit im Rat kein Ressortprinzip. Wohl aber können einzelne Ratsmitglieder mit der Ausführung der Ratsbeschlüsse auf einem Sondergebiete dauernd beauftragt werden; eine solche Zuweisung in weniger wichtigen Sachen ist aber auch an Ratsdiener, also sozusagen ausführende Beamte, möglich. Dieses also sind die Wege einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der Verwaltung. Doch maßgebende Rechtsquelle bleibt der Rat als Kollegium. Die ursprüngliche Vorgehensweise des Rates, gemeinsame Beratung und Beschluss und Beauftragung der Durchführung, stammte, wie die Menschen die ihm angehörten, aus der oralen Kultur. Allerdings gehören die städtischen Kaufleute zu den ersten Laien, die sich die Fähigkeiten des Schreibens und schriftlicher Rechnungslegung im Rahmen ihres Berufes aneignen und dann auch schulmäßig an ihre Söhne weitergeben.44 Doch bleibt das maßgebende Verhandlungsprinzip des Rates die Mündlichkeit. Infolge der Annuität, dem steten Wechsel im Amt, kann aber nicht darauf gerechnet werden, dass stets Beteiligte die fraglichen Vorgänge aus ihrem Gedächtnis reproduzieren können, wenn auch durch die Regeln der Mehrschichtigkeit von amtierenden und sitzenden Räten und Regeln der Kooptation dafür gesorgt war, dass ein Erfahrungspotential erhalten blieb und tradiert wurde. Deshalb ist, neben „Kisten“ zum Aufbewahren der Urkunden und Privilegien, das erste und zentrale schriftliche Register des Rates ein Gedächtnisbuch, ein denkelbok oder liber memorialis.45 In dieses werden nun vor allem 41

Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 444, 446. Siehe dazu Hans-Jürgen Becker, Art. Mehrheitsprinzip, in: HRG, Bd. 3 (1984), Sp. 431 – 438, und Dilcher, in: Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 596. 43 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 450. 44 Dazu etwa Edith Ennen, Stadt und Schulwesen in ihrem wechselseitigen Verhältnis, vornehmlich im Mittelalter, jetzt in: dies., Gesammelte Abhandlungen (FN 25), S. 154 – 168. Weiterhin Bernd Möller [u. a.] (Hrsg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge, Bd. 137), Göttingen 1983. 45 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 466 ff.; eine eingehende Übersicht bei Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter. Stuttgart 1988, S. 166 ff. (4.3 Das Schriftwesen), weiterhin S. 170 ff. (4.4 Die städtischen Finanzen: Haushaltsund Rechnungswesen). Dort zu den entsprechenden Kapiteln auch weitere Literatur. 42

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jene Vorgänge eingetragen, die von längerer Wirksamkeit sein sollen und dem Gedächtnis zu entfallen drohen. Das sind vor allem Ordnungen normativer Art, also vom Rat beschlossene Einungen und Willküren, später auch Einzelanordnungen oder Policeyordnungen.46 Insofern schließt das Ratsbuch direkt an die Aufbewahrung stadtherrlicher Stadtrechte und Privilegien in städtischen Archiven an. Als langfristig wichtig galt auch der Erwerb des Bürgerrechts und die Ableistung des Bürgereides, die in Ratsaufzeichnungen und später eigenen Bürgerbüchern schriftlich aufgezeichnet wurden.47 Vor allem in Norddeutschland war es weiterhin Aufgabe des Rates, wichtige Rechtsgeschäfte von Bürgern, die vor dem Rat um dessen Zeugnis willen abgeschlossen wurden, festzuhalten.48 Dazu gehörten Grundstücksübertragungen, Darlehensgeschäfte und Abschlüsse von Gesellschaftsverträgen, wie letztere etwa im Lübecker Niederstadtbuch als wichtiger Quelle erhalten sind.49 Anders in Süddeutschland: Hier hat man, dem italienischen Vorbild folgend, eher zunächst die Siegel- und dann zunehmend die Notariatsurkunde benutzt50, so dass der Rat in seiner Funktion als Organ der „freiwilligen Gerichtsbarkeit“ hier nicht in Erscheinung zu treten brauchte. Dass aus der eher archaisch-obrigkeitlichen Form der Registrierung der Grundstücksgeschäfte durch den Rat später das moderne Grundbuch hervorgehen sollte51, sei hier nur am Rande bemerkt. Aus der Memorialfunktion der Schriftlichkeit und der zentralen Zuständigkeit des Rates erschließt sich nicht nur der bunte und vielfältige Aufbau der Ratsbücher, sondern auch die Verteilung des Schriftwesens auf die verschiedenen Ausdifferenzierungen der städtischen Verwaltung.52 Im Ratsbuch wurden oft nur die Tatsache und das Zustandekommen eines Beschlusses vermerkt, während der volle Inhalt des Beschlusses bei jener Verwaltungsstelle schriftlich niedergelegt wird, die für die Ausführung zuständig war. Insofern ist das Schriftwesen der Stadt zwar für uns unüber46 Die spätmittelalterlichen Gesetzessammlungen von Frankfurt am Main rekonstruiert Armin Wolf, Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter, Frankfurt am Main 1969. Es handelt sich überwiegend um aktuelle Anordnungen, Policeyordnungen, gemischt mit Eidesformularen u. ä. Die Rekonstruktion gibt einen guten Eindruck von der Vielfalt der städtischen Normproduktion des Rates. 47 Einen guten Eindruck gibt exemplarisch die Edition: Die Bürgerbücher der Reichsstadt Frankfurt 1311 – 1400, hrsg. von Dietrich Andernacht und Otto Stamm, Frankfurt am Main 1955. 48 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 60 ff. zu Köln (Schreinsbücher), S. 405 ff. zu Lübeck (Oberstadtbuch und Niederstadtbuch). 49 Daraus schöpft etwa Albrecht Cordes, Spätmittelalterlicher Handel im Hanseraum, Köln [u. a.] 1998. 50 Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 167. 51 Vgl. Hermann Nehlsen, Art. Grundbuch, in: HRG, Bd. 1 (1971), Sp. 1817 – 1821. 52 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), jeweils zu den untersuchten Städten und zusammenfassend S. 452 – 465.

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sichtlich, aber sehr funktional und dynamisch; es konnte ohne weiteres den Schwerpunkten der Verwaltungstätigkeit folgen. Allerdings sind nur in der zentralen Kanzlei des Rates berufsmäßige Schreiber angestellt, erst unter der Aufsicht eines Klerikers, dann eines Juristen.53 Die Schriftlichkeit breitete sich vielmehr in die einzelnen Zweige der Verwaltung aus, indem die mit der Verwaltungstätigkeit Beauftragten, seien es einzelne Ratsherren oder städtische Bedienstete, seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts zunehmend selbst die schriftlichen Einträge vornahmen. Grundlage ist der Ausbau des städtischen Schulwesens zur Ausbildung für eine kaufmännische Tätigkeit; dieses bildete gleichzeitig selbst einen Zweig städtischer Verwaltungstätigkeit.54 Am Anfang der Schriftlichkeit stehen neben Gerichtsbüchern und Ratsbüchern als eigener Typ, wie Pitz festgestellt hat55, Rechnungsbücher; etwa über Steuererhebungen, städtische Forderungen und Schulden. Rechnungslegung und Rechenschaftspflicht, wie sie aus der Struktur des städtischen Gemeinwesens sich ergibt, hängen hier eng zusammen, wenn diese auch erst langsam als schriftliche zu erfolgen hat. Hier hat das kaufmännische Rechnungswesen einen großen Einfluss, und die Kontrolle und Verantwortung für Gelder des Gemeinwesens forderte Genauigkeit und Schriftlichkeit. Auch hier wirkt die Rechenhaftigkeit als Motor der Rationalisierung.56 Aber wie im kaufmännischen Rechnungswesen handelt es sich für lange Zeit um die Notierung von Merkposten, noch nicht um einen wirklichen bilanzierten Haushalt. Die verschiedenen Ansätze und Wege des städtischen Schriftwesens enden in den drei von Pitz untersuchten großen Städten – also Köln, Nürnberg, Lübeck – im 15. Jahrhundert in einer ähnlichen Struktur: nämlich in einer Dreiteilung in das Schriftgut der zentralen Kanzlei des Rates, das Schriftgut der einzelnen Ämter und schließlich das Rechnungswesen der Rentkammer.57 Nur kurz sei hier erwähnt die Entwicklung des Schriftwesens mit der Wende zum 15. Jahrhundert vom Pergament zum Papier und von der Rolle, dem Buch oder Heft zu den Akten, die damit Ausdruck geordneter Verwaltung werden.58 53 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), passim.; Erich Döhring, Art. Schreiber, in: HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 1488 – 1496. 54 Vgl. FN 44; Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 181 ff. (4.5 Das Schulwesen). 55 Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 451 u. ö. 56 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 11), Sachverzeichnis S. 920 s. v. Rechenhaftigkeit. 57 Vgl. die Schemata für die drei Städte bei Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), S. 453, 455, 456. 58 Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 170.

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Wir haben auf diese Weise genauer den einen Brennpunkt der Ellipse, das „Selbst“ städtischer Verwaltung, die rechtliche Legitimation und die darauf beruhende Ausgestaltung in Ämterwesen und Schriftlichkeit, kennen gelernt und haben dabei von diesem Gesichtpunkt aus den Ausbau einer breiten Verwaltung beobachten können. Nun gilt es noch einen Blick auf den anderen Brennpunkt dieser Ellipse, nämlich die tatsächlichen Bedürfnisse der städtischen Gesellschaft nach Verwaltung zu entwickeln. Wie wir wissen, waren selbst die großen und bedeuteten Städte des deutschen Mittelalters nicht besonders groß, auch sie hatten nur etwa 10.000 bis maximal 40.000 Einwohner. Dennoch ergab sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert ein enorm wachsender Verwaltungsbedarf. Lebte doch die städtische Gesellschaft nicht aufgrund einer Selbststeuerung nach liberalen Prinzipien, sondern sie war nach sozialen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen aufgebaut, die ständiger Regelung und Überwachung bedurften.59 Die bürgerlich-städtische Gesellschaft stellte innerhalb der agrarisch-feudalen Ordnung ein Kunstgebilde dar, das sich ständig selbst stabilisieren musste.60 Es gab keinen ordnenden Staat, gar einen Rechtsstaat als stabilisierendes Element im Hintergrund wie in der modernen kommunalen Selbstverwaltung. Ein Grundbedürfnis der stadtbürgerlichen wirtschaftenden Gesellschaft, die Bewahrung von Frieden durch Recht mit dem Ausschluss von Gewalt und Fehde, musste von der Stadt nach innen gegenüber den Bürgern durchgesetzt und nach außen verteidigt werden. Die Durchsetzung nach innen gelang aufgrund des friedenssichernden Bürgereides und der städtischen Gerichtsbarkeit mit öffentlichem Strafanspruch in hohem Maße61, während sich außerhalb das grundsätzliche Verbot fehdeführender Gewalt erst nach dem Ewigen Landfrieden von 1495 durchsetzte. Die innere Befriedung beruhte aber auch darauf, dass durch Maßnahmen der Markt59 Die eigenen Prinzipien städtischer Wirtschaft, zwischen feudalen, merkantilistischen und liberalen, wurden von der Wirtschaftsgeschichte dort angesprochen, wo sie kulturgeschichtliche Ansätze aufnahm. Vgl. Dilcher, in Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 487 ff. Beispiele sind etwa Werner Sombart, Die vorkapitalistische Wirtschaft (Der moderne Kapitalismus I, 1), 2. Aufl. Stuttgart 1916 [Neudruck München 1987], oder neuestens Alfred Bürgin, Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschichtliche und dogmenhistorische Betrachtungen, Marburg 1993, dort bes. Kap. 3: Die sozioökonomische Bedeutung der mittelalterlichen europäischen Stadt, S. 151 – 178. Übersicht bei Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), Kap. 9: Wirtschaftsformen und Wirtschaftsleben, S. 341 – 402. 60 Frühere Überlegungen dazu bei Gerhard Dilcher, Die mittelalterliche Stadt in ihrer Heraushebung aus der grundherrschaftlich-agrarischen Welt des Hochmittelalters, in: ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung (FN 20), S. 95 – 113. 61 Dazu Dilcher in Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 640 – 649: Friede und Strafe; Barbara Frenz, Frieden, Rechtsbruch und Sanktion in deutschen Städten vor 1300 (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen, Bd. 8), Köln [u. a.] 2003. Die Reihe, in das Werk von Frenz erschien, hat den Durchbruch des Strafgedankens im Mittelalter zum Gegenstand.

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und Wirtschaftsaufsicht, der Polizeiordnungen und der Zurverfügungstellung von Institutionen der Daseinsvorsorge, von Markt und Wage, von der Schule über Backofen und Bad bis zum Bordell, dem Leben der Bürger die rechten Wege gewiesen wurden.62 Für jeden dieser Zweige war eine Verwaltung unter der Zuständigkeit meist eines oder zweier Ratsherren und von entsprechenden Bediensteten notwendig.63 Schon um diesen Verwaltungsaufbau finanziell zu erhalten, musste das innerstädtische Steuerwesen der indirekten und direkten Steuern, von Akzise und Ungeld, von Gebühren und Abgaben in einem kunstvollen Maße ausgebaut werden64, wie es erst wieder im bürgerlichen modernen Staat eine Entsprechung besitzt. Die grundlegende direkte Vermögensteuer, ohne ständische Ausnahmen wie sonst beim Adel, beruhte auf dem Bürgereid und der ehrenhaften Selbsteinschätzung, also auf dem Prinzip der Selbstverantwortung und Selbstbeteiligung.65 Die Friedenswahrung nach außen, eben wegen des Fehlens eines friedewahrenden Staates, erforderte die Aufstellung einer städtischen Miliz neben einer Bürgerwehr und aufwändige Maßnahmen des Mauerbaus. Das Wehrwesen stellte somit einen wichtigen Teil der Aufgaben des Rates und der Finanzverwaltung dar.66 Die Aufgabe der Friedewahrung nach außen umfasste auch die städtische Politik und Diplomatie, die wiederum eines Verwaltungsunterbaus bedurften. Hier übrigens ergaben sich wichtige Aufgaben der Juristen, die im 15. Jahrhundert zunehmend in die städtische Verwaltung einzogen.67 Schließlich war die Friedewahrung und der wechselseitige Schutz der städtischen Verfassung ein Hauptanliegen der Städtebünde, wie sie für das deutsche Städtewesen des Spätmittelalters so bezeichnend sind; in ihnen bündelte sich das bürgerschaftliche Interesse.68 62 In Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 574 ff. unter c) Die Stadt als Gemeinschaft der Daseinsvorsorge und Fürsorge, habe ich bewußt diese den modernen Sozialstaat kennzeichnenden Begriffe aufgenommen. Dazu auch Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 183 – 190: 4.6 Das Fürsorgewesen. 63 Hierzu Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31), jeweils zu den untersuchten Städten und zusammenfassend ebd., S. 450 ff. Zum städtischen Ämterwesen gibt es in den entsprechenden Monographien eine reiche Literatur. 64 Die auf Selbstverantwortung gegründete städtische Steuererhebung stellt dar Adalbert Erler, Bürgerrecht und Steuerpflicht im mittelalterlichen Städtewesen, mit besonderer Untersuchung des Steuereides, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1963. Zu den drei untersuchten Städten zum Verhältnis von Steuererhebung und Verwaltung genauer Pitz, Schrift- und Aktenwesen (FN 31); Übersicht bei Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 171 – 174. 65 Vgl. Erler, Bürgerrecht (FN 64). 66 Dilcher, in: Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 569 ff.: Die Bürger als Wehrverband; Isenmann, Die deutsche Stadt (FN 45), S. 148 ff. 67 Exemplarisch hat anhand der stadtadligen Familie der Vener aus Gmünd dies geschildert Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162 – 1447, 3 Bde., Göttingen 1982.

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Was bleibt ist nun die Aufgabe, die zu Anfang aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Inwiefern können wir bei der mittelalterlichen Stadt von Selbstverwaltung sprechen, inwieweit ist andererseits die Stadt ein Pionier bei dem Entwickeln von Verwaltung überhaupt, mit eventuellem Vorsprung gegenüber dem Reich und dem Territorialstaat? Die Verwaltung der Stadt beginnt – wie wir sahen – mit traditionalen Formen der Gerichtsbarkeit, der Regalienverwaltung und auch der Aufzeichnung von Rechtsnormen. Diese Praxis wurde zunächst aus der Sphäre des Stadtherren übernommen. Einen Startvorteil haben hier die alten Bischofsstädte durch die kirchliche Verwaltung, die gerade für die Stadt schon eine frühe, auch weltliche Ämterhierarchie entwickelte. Mit der Bildung der Stadtgemeinde als eidgenossenschaftlicher Kommune, mit der ihr eigenen Autonomie und mit der von ihr erkämpften, auf dem Amtsgedanken des italienischen Konsulats beruhenden Ratsverfassung besaß die Stadt eine eigene Verfassung, aufgrund deren sie eine ausdifferenzierte, auf Schriftlichkeit gegründete Verwaltung zur Ordnung der spezifisch städtischen Gesellschaft entwickeln konnte. Im Gegensatz zur königlichen und fürstlichen Verwaltung ist damit die städtische Verwaltung nicht aus einer Hausherrschaft hervorgegangen69, sondern beruht auf einem kollegialen Amt als Organ und Repräsentanz der Bürgerschaft, dem Konsulat oder Stadtrat. Der Rat hat, aufgrund der eidgenossenschaftlichen Bindung der Bürgerschaft, eine umfassende Kompetenz zur Regelung aller Angelegenheiten der Stadt. Er ist aber der Bürgerschaft als Gemeinwesen verantwortlich, vor allem, aber nicht nur in Bezug auf die Finanzen. Aufgrund dessen ist hier der Einzelne nicht nur Objekt der Verwaltung, wie es Max Weber als allgemeines Prinzip annimmt70, sondern es darf sich der Bürger als Rechtssubjekt, als Träger der Verwaltung fühlen. Unzufriedenheit kann sich in rituellen Widerstandshandlungen bis hin zum bürgerlichen Aufruhr äußern.71 68 Dazu jetzt Eva-Marie Distler, Städtebünde im deutschen Spätmittelalter, Frankfurt am Main 2006. 69 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 11), S. 389: „Der urwüchsige Träger aller ,Verwaltung‘ ist die Hausherrschaft.“ Dazu die oben zitierten Abschnitte der Deutschen Verwaltungsgeschichte von Moraw zum Reich (FN 14) und von Willoweit zum Territorialstaat (FN 15). Generell dazu Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 11), S. 551 ff. (Wesen, Vorausetzungen und Entfaltung bürokratischer Herrschaft, Patriarchale und patrimoniale Herrschaft, Feudalismus, Ständestaat und Patrimonialismus). 70 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 11), S. 389: „Der Einzelne und seine Interessen sind für die ,Regierung‘, dem juristischen Sinn nach, grundsätzlich Objekt, nicht Rechtssubjekt“. Die von Weber erst für den modernen Staat beobachtete Bindung der Verwaltung an Rechtsprinzipien findet sich aber schon in der mittelalterlichen Stadt als Bürgergemeinde: siehe Barbara Frenz, Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts (= Städteforschung, Bd. A / 52), Köln [u. a.] 2000. 71 Dilcher, in Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), bes. S. 561 f.

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Widerstand und Aufruhr wird oft durch eine neue Verfassung in Form eines „Friedebriefes“ beigelegt, wenn Niederwerfung und Bestrafung offenkundig das zugrundeliegende Problem nicht lösen können.72 An der Spitze der städtischen Verwaltung stehen mit Rat und Bürgermeistern Amtsträger, gewählte und nicht geborene Machthaber. Sie tragen anfangs fast die ganze, auch nach Schaffung eines Unterbaus an Bediensteten aber immer noch die Hauptlast der städtischen Verwaltung, was ein hohes Maß von Abkömmlichkeit für die Übernahme des Amtes zur Voraussetzung hat. Damit wird die Rekrutierung der Leitungsämter in durchaus gewünschter Weise sozial auf die auskömmlich lebende Bürgerschicht beschränkt. Allerdings wissen sich in der sogenannten Zunftverfassung auch die Mittelschichten der Handwerker Zugang zum Rat zu verschaffen. Durch diese Zugangsstruktur, die eben auf der kommunalen Verfassung beruht, wird die Bedeutung eines bürokratischen Verwaltungsstabes, wie ihn Max Weber als typisch für die Entstehung einer patrimonialen Verwaltung beschreibt73, für die Stadt stark eingeschränkt. Nicht Bildungspatente, Fachqualifikation, Ernennung und Hierarchie sind die Kennzeichen für die tragenden Personen der städtischen Verwaltung, sondern politischsoziale Kompetenz, Wahl und Kollegialität. Erst unterhalb der obersten Führungsschicht der Verwaltung beginnt der Ausbau eines technischen Verwaltungsstabes. Diese nicht bürokratisch entfremdete Form hat wohl die Faszination der mittelalterlichen Stadt als Beispiel einer Selbstverwaltung ausgemacht. In diesem Sinne mag der Begriff der Selbstverwaltung wohl Anwendung finden, er hat aber mehr eine politisch-republikanische Grundlage denn eine verwaltungsrechtliche. Eine genaue Analyse, inwieweit die Stadt technisch-verwaltungsrechtlich einen Vorsprung gegenüber dem Territorialstaat – gegenüber dem Reiche sicher allemal – hat, bedürfte eines kenntnisreicheren Verwaltungshistorikers als ich es bin. Doch kann der Stadthistoriker auf die besonderen Bedingungen der städtischen Gesellschaft hinweisen, die Verwaltung nicht nur ermöglichte, sondern verlangte. In der Stadt haben wir zuerst im Mittelalter eine societas civilis, eine stark individualisierte Gesellschaft, die weder als segmentäre Gesellschaft aus Primärgruppen besteht noch sich aus Geburtsständen zusammensetzt.74 Letzteres gilt trotz der Sonderung des Patriziats, des Zusammenhalts der Kaufmannschaft und der eigenen Organisation der Handwerker. Die genossenschaftlichen Zusammenschlüsse 72 Bernd Kannowski, Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Konfliktbeilegung in spätmittelalterlichen Städten, Köln, Weimar 2001. 73 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (FN 11), S. 126 ff.; dort die im Folgenden angesprochenen Kennzeichen. 74 Frühere Studien zusammenfassend Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20). S. 481 ff.: Zum Begriff einer städtischen Gesellschaft.

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innerhalb dieser Schichtungen der städtischen Gesellschaft, also Patriziergesellschaften, Kaufmannsgilden, Handwerkerzünfte und Bruderschaften aller Art, bleiben stets auf das Gemeinwesen der Stadt ausgerichtet, stellen zum Teil sogar eigene Selbstverwaltungskörperschaften dar, die einerseits der Ordnung des Gemeinwesens dienen, andererseits die Repräsentation der Bürgerschaft im Regierungssystem ermöglichen.75 Arm und Reich unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gleich zu behandeln, bleibt oberste Verpflichtung des Rates und der Amtsträger.76 Zu diesem Gerechtigkeitsprinzip gehört die Sicherung der auf den jeweiligen Beruf bezogenen Nahrung.77 Auch hieran zeigt sich, wie die Bürgerschaft neben der Aufgabe der Friedenssicherung vor allem einen Verband zur Sicherung der kunstvollen städtischen Wirtschaftsform und der ihr entsprechenden Gesellschaftsform darstellte. Handel und gewerbliche Produktion, Markt und Werkstatt sind deren tragende Säulen. Sie bedurften in einer Umwelt, die auf Feudalität, auf kriegerischem Herrenstand und Land bearbeitender Bauernschaft beruhte, sowohl des Schutzes nach außen wie einer besonderen inneren Ordnung. Dem diente vor allem die besondere Ausbildung einer städtischen Verwaltung. Sie aber konnte sich rechtlich nur aus dem „Selbst“, dem Eigen-Sinn, der Autonomie und der Selbstregierung der Bürgerschaft formen, der eine Abgrenzung gegenüber der andersartigen Umwelt und eine Formung der städtischen Verfassung nach den eigenen Lebensprinzipien forderte. Es ist auf diese Weise deutlich, wie dieses Eigenwesen, wenn man will diese spezifische Form von Selbstverwaltung und Selbstregierung, mit der rechtlichen und tatsächlichen Angleichung von Stadt und Land nach Revolution und Reform der Sattelzeit um 1800 ein Ende haben musste. Danach aber beginnt die Geschichte der „modernen Selbstverwaltung“ innerhalb des modernen Staates und einer „bürgerlichen Gesellschaft“.

75 Dilcher, in: Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), S. 540 ff., 555 ff. in Verbindung mit S. 504 ff., 519 ff. 76 Frenz, Gleichheitsdenken (FN 70). 77 Bader / Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte (FN 20), Sachverzeichnis s. v. Nahrungsprinzip, Nahrung (auch mit S. 806 Anm. 336).

Aussprache Gesprächsleitung: Lück

Gusy: Sie hatten ziemlich am Anfang Ihres Vortrags gesagt, dass die Entwicklung der Gemeinden und namentlich der Gemeinden in Deutschland ein wesentlicher Faktor, wenn nicht der bestimmende Faktor für die Ausbildung von Selbstverwaltung gewesen sei. Mich würde natürlich jetzt sehr interessieren: Gibt es Forschungen dazu, die parallele oder andersartige Entwicklungen in den europäischen Nachbarländern beleuchten und hier charakteristische Gemeinsamkeiten oder Unterschiede aufweisen? Ich frage nicht zuletzt deshalb, weil Sie an einigen Stellen darauf hinwiesen, dass einige Institutionen des deutschen Selbstverwaltungswesens in den Gemeinden – beispielsweise die Stellung des Rates – abgeleitet sei aus republikanischen Gesichtspunkten, wie sie etwa in italienischen Stadtstaaten schon damals auffindbar gewesen seien. Dies deutete darauf hin, dass über die einzelnen Nationsgrenzen hinweg offensichtlich ein gewisser Austausch von Ideen und wahrscheinlich auch Rechtsinstitutionen stattgefunden hat. Von daher würde mich die Frage interessieren, wie hier der vergleichende Stand zu sehen ist, anders ausgedrückt: Wenn man alles zusammen nimmt, ist es dann so, dass man hier wirklich sagen kann, die Deutschen seien so führend gewesen, oder waren sie nicht Teil einer sozusagen gemeinsamen Entwicklung, die auf Verstädterung hinaus ging und die dann die Selbstverwaltung als eine mögliche – wenngleich nicht notwendige – Form der Selbstregelung städtischer Angelegenheiten ermöglichte? Dilcher: Ja, vielen Dank für diese Frage, die natürlich sehr wichtig ist. Ich hatte das ja am Anfang nur als Assoziation erwähnt im Zusammenhang mit der Bedeutung, die die deutsche mittelalterliche Stadt für die Stein’schen Reformen und diese dann für das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums und der Kommunalverfassung gewonnen haben. Die Stadtentwicklung ist natürlich ein europäischer Prozess, in welchem die romanischen Länder einen Vorsprung an Urbanität haben und auch in der Formierung der Stadtgemeinde, allerdings keinen sehr weiten. Um 1100 stehen die lombardischen Stadtkommunen da – Süditalien ist eine andere Sache, weil da die spezifische Konstellation auch des Fehlens von Staatlichkeit nicht vorhanden ist. In Südfrankreich ist es ganz ähnlich wie in Oberitalien. Das Interessante aber ist, dass sich in den nordeuropäischen Gebieten, das ist seit den Arbeiten der Historikerin Edith Ennen im euro-

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päischen Überblick sehr klar, fast gleichzeitig Stadtkommunen bilden. So ist es in den Niederlanden, in Deutschland am Rhein, mit einem leichten Rückstand, der vor allem durch die Stärke der bischöflichen Stadtherren begründet ist. Ich glaube das Bild ist nicht ganz falsch, dass einerseits lateinische, römische Urbanität und andererseits das, was Gierke „Genossenschaftswesen“ genannt hat, was man aber auch Abwesenheit von Staatlichkeit nennen kann und daraus folgende Selbstorganisation von Bevölkerungsteilen, den Ansatz zur kommunalen Entwicklung in ganz Europa zwischen 1100 und 1200 gibt. Das geht dann weiter nach England, das geht nach Skandinavien und geht dann auch mit der Ausbreitung des deutschen Städtewesens in den europäischen Osten hinüber. Also ganz sicher eine ähnliche Entwicklung. Warum man für den deutschen Bereich besonders von der Selbstverwaltung sprechen kann, das liegt – glaube ich – daran, dass das Reich die überwölbende Struktur bildet. In Italien entwickeln sich die Kommunen innerhalb sehr kurzer Zeit von selbstregierten kommunalen Gemeinwesen unter Konsuln zu Stadtstaaten unter Stadttyrannen oder monarchischen Dynastien, die sich da bilden. Dann sollte man – glaube ich – nicht mehr von Selbstverwaltung sprechen. Es gibt natürlich eine ausgebildete Verwaltung, aber die eines staatlichen Bereiches in einem kleineren Raum. In Frankreich haben wir im Süden ähnliche Entwicklungen wie in Italien, im Osten ähnliche wie in Deutschland, aber dort versteht es das Königtum stärker als in Deutschland, die Städte an sich zu binden, obwohl die kommunalen Verfassungen auch dort existieren und auch im ancien régime eine sehr wichtige Rolle spielen, aber nicht so deutlich wie etwa in den freien und Reichsstädten. Eine solche lange Existenz einer selbst- oder fast selbstregierten Stadt, aber doch unter einem übergreifenden Gewölbe wie dem Reich oder zum Teil auch dem Territorialstaat, gibt es eben nur in Deutschland, weshalb es hier besonders nahe liegt, daran den Gedanken der modernen Selbstverwaltung anzuknüpfen. Lück: Vielen Dank. Ich habe vier Wortmeldungen, muss aber auf die Uhr hinweisen und bitte um Zeitdisziplin. Heun: Herr Dilcher, drei vielleicht ganz knappe Fragen im Hinblick auch auf die Zeit. Zunächst doch noch einmal zu Ihrem Begriff der Selbstverwaltung. Sie spielen an auf das Reich als überwölbende Einheit, aber die Frage ist doch gerade, ob die Verdichtung der Herrschaft im Reich im Spätmittelalter schon so stark ist, dass es wirklich sinnvoll ist, hier von Selbstverwaltung zu sprechen, die einer im Wesentlichen staatlichen und doch sehr stark verdichteten Herrschaft gegenübersteht. Auch wenn die Entwicklung in Deutschland nicht zu eigenen Stadtstaaten geführt hat, scheint es mir fraglich, ob man wirklich von Selbstverwaltung in dem Sinne sprechen sollte, wie Sie es eingangs auch in dem Stolleis-Zitat eigentlich ziemlich treffend gesagt haben. Da passt dann die mittelalterliche Stadt als Selbstverwaltungsmodell nicht so gut hinein.

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Die zweite Frage ist folgende: Sie haben en passant noch auf die Frage der oligarchischen Herrschaft hingewiesen. Kann man eigentlich wirklich so ein Idealbild zeichnen, wie Sie es jetzt gezeichnet haben, von der Stadt als Selbstverwaltung, auch eigentlich etwas angenähert an moderne Situationen, in einer Zeit, in der die oligarchischen Strukturen sehr viel beherrschender waren, auch in der Stadtverwaltung, als Sie es jetzt nur ganz am Rande angedeutet haben. Die dritte Frage ist eine mehr technische Frage: Sie haben vom Steuerwesen der Städte und da auch bereits von der Akzise gesprochen. Meines Wissens nach ist die Akzise jedoch erst eine relativ späte Entwicklung, das heißt erst dem 17. / 18. Jahrhundert zugehörig, und die erste Biersteuer als indirekte Steuer wird nach meiner Erinnerung etwa zu Beginn des 15. Jahrhunderts, aber noch nicht in den Städten, als indirekte Steuer erhoben. Ist das wesentlich vorzuverlagern und haben Sie auch für die Begriffsverwendung Akzise im Mittelalter irgendwelche Anhaltspunkte, was mich jetzt terminologisch etwas überrascht hat. Danke. Lück: Vielleicht darf ich vorschlagen, dass wir noch Herrn Härter hören, dann Herrn Dilcher bitten zu antworten und ganz zum Schluss noch die beiden letzten Diskussionsredner zu Wort kommen lassen: Herrn Mohnhaupt und Herrn Brauneder. Härter: Herr Dilcher, vielen Dank für diesen Vortrag und das großartige Bild, das Sie uns gezeichnet haben. Sie haben im Grunde zwei Wurzeln der Ausdifferenzierung der Verwaltung benannt: einerseits die soziale Problematik, Verdichtung und Friedenssicherung, andererseits der Rat im Zentrum und die Ratsbeschlüsse. Streckenweise haben Sie auch dargelegt, dass diese Ratsbeschlüsse beziehungsweise deren Umsetzung zur Ausdifferenzierung von einzelnen Ämtern führten. Wenn man sich nun beispielsweise Ratsbeschlüsse der Reichsstadt Köln anschaut, wird man aber auch feststellen können, dass – bevor materielles Recht geschaffen wird – sich bereits zahlreiche Ratsbeschlüsse auf einzelne Ämter fokussieren und deren Aufgaben festlegen, natürlich auch im Zusammenhang mit materiellem Recht. Insofern kann das Modell „Rat und Ratsbeschlüsse“ vielleicht differenziert werden. Meine Frage wäre also dahingehend, ob sich nicht vor der Rechtssetzung bereits einzelne Ämter bildeten, die erst hinterher normiert wurden und deren Aufgaben man erst dann festschrieb; also als Gegenbild eine eher „wildwüchsige“ Ausdifferenzierung von Verwaltung, der das Recht nachfolgt. Dazu passt noch eine zweite Beobachtung: Sie hatten ja an zwei Stellen auch Schule und Schulwesen unter der Verwaltung des Rates subsumiert. Wenn man sich viele spätmittelalterliche Städte anschaut, wird man allerdings sehr viele kirchliche wie auch private Schulen finden, die überhaupt nicht durch den Rat verwaltet oder normiert wurden, sondern autonom – außerhalb dieser Sphäre des Rates – entstanden. Insofern könnte dieses Bild der

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Stadtverwaltung vielleicht noch differenziert werden durch weitere Kreise von Selbstverwaltung, die sich „privat“ bildeten, die aber durchaus auch moderne Verwaltungsaufgaben übernahmen, die allerdings nicht durch den Rat kontrolliert und normiert wurden, wie zum Beispiel das Schulwesen. Dilcher: Vielen Dank für die Anregungen. Zunächst zu Herrn Heun: Sie haben ja gesehen, dass ich sehr vorsichtig mit den Begriffen arbeite und eigentlich keine Definitionen gebe, statt dessen mehr das „Selbst“ und die „Verwaltung“ trenne und in Beziehung setze, als dass ich von Selbstverwaltung spreche, also die Eigenständigkeit der mittelalterlichen Stadt in einem dynamischen Verhältnis zum Ausbau von Verwaltung sehen möchte. Ich meine in der Tat, dass es etwas qualitativ anderes ist gegenüber der Selbstverwaltung wie Stolleis sie in dem Zitat skizziert hat, weil das Reich natürlich nicht – wie ich das auch gesagt habe – einen dahinter stehenden Staat darstellt. Andererseits stellt es doch eine politische Ordnung dar, wenn man etwa sieht, dass Anordnungen des Reiches, wie etwa der Ewige Landfrieden, sowie Eingriffe des Kaisers überall möglich sind sind. Das ist eben doch eine etwas andere Lage als in den italienischen Städten. Nun zum Punkt oligarchische Herrschaft. Die Stadt versteht sich selber, das habe ich auch vielfach an anderer Stelle dargelegt, als ein Gemeinwesen der Bürgerschaft und die Stellung des Rates ist anders als die von feudalen Organen sowohl des Reiches wie der Fürsten. Natürlich handelt es sich um keine moderne Demokratie; wenn wir das daran herantragen wollen, dann stimmt das alles nicht. Es sind eher oligarchische Formen. Mit Aristoteles spricht man ja auch davon, dass die Stadt eine gemischte Staatsform zwischen Aristokratie und Demokratie sei, und in diesem Rahmen passen durchaus Oligarchien, die aber ihrerseits dem Gemeinwesen verpflichtet sind. Städtische Aufstände rekurrieren immer deshalb auf ein Widerstandsrecht, weil das Gemeinwesen durch die ratsässige Oligarchie nicht so verwaltet sei wie es sich gehöre. Deswegen beginnen diese Aufstände auch mit rituellen Aufmärschen vor dem Rathaus, wie es etwa der Münsteraner Historiker Wilfried Ehbrecht dargelegt hat, wo sie eventuell durch Verhandlungen beigelegt werden. Wie am Ende als rechtliche Streitbeilegung durch „Friedensbriefe“ neue Verfassungsordnungen entstehen, hat Bernd Kannowski in seinem Buch von 2001 dargelegt. Also auch regierende Oligarchien sind dem Gemeinwesen der Bürgerschaft verpflichtet und gehören deshalb in den Begriff des städtischen Selbst und einer Selbstverwaltung. Die Kontrollen für diese Bindung sind auch mental und politisch in der Stadt vorhanden. Zum Stichwort „Akzise“: Es gab die direkten und indirekten Steuern in der Stadt, innerhalb deren schon im Mittelalter die Verbrauchssteuer der Akzise auch Ungeld genannt wird. Zu Herrn Härter: Ja, ich habe in meinem Vortrag gesagt, dass die älteren Formen stadtherrlicher Verwaltung und auch vorkommunaler Ämter, wie

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sie besonders in Köln sehr häufig sind, dann von der Ratsverfassung aufgesaugt werden. Also insofern sehe ich das so wie Sie, aber ich meine, und das hat Pitz gerade auch für das Kölner Beispiel gezeigt, dass der Rat das vereinnahmt und schließlich die zentrale Instanz ist. Der historische Prozess ist natürlich vielfältig. Dass es private Schulen gab, zeigt gerade die tiefe Verankerung der Schriftlichkeit vor allen Dingen in der kaufmännischen Führungsschicht; von dort her kommt es ja erst in die Stadt. Die Stadt als solche ist für die Schriftlichkeit nicht primär, sondern Kaufleute, die Schriftwesen brauchen, sind primär und kommen diesen Bedürfnissen natürlich auch privat nach. Die Bedeutung des „Selbst“ der Stadt, das auf Handel und Kaufmannschaft fußt, wird dadurch noch stärker betont. Lück: Vielen Dank, meine Damen und Herren. Es gab noch zwei Wortmeldungen: Herr Mohnhaupt und Herr Brauneder. Bitte, Herr Mohnhaupt. Mohnhaupt: Vielen Dank, Herr Dilcher, für Ihren schönen Vortrag. Sie haben an einer Stelle gesagt: Zuerst war der Stadtherr. Ich denke, das ist eine sehr bemerkenswerte Einschätzung dergestalt, dass man wohl Selbstverwaltung zunächst auch einmal über den Gegenbegriff „Fremdverwaltung“ bestimmungssicher machen könnte. Und dazu rechne ich eben das, was Sie gesagt haben: „Zuerst war der Stadtherr.“ Nun fragt man sich da natürlich, wie von der übergeordneten Ebene der Stadtherrschaft die Ämter – und das ist ja die dominierende Kategorie, nach der Sie Verwaltung zu Recht definiert beziehungsweise beschrieben haben –, wie von dieser stadtherrlichen Ebene dann die Ämter und die Aufgaben auf die Ebene der Stadt gelangen. Hier könnte man noch darauf hinweisen, dass dies ja weitgehend auch durch Ämterverkauf beziehungsweise Ämterverpfändung geschehen ist. Das war eine große Einnahmequelle für die Territorialherren, weil diese natürlich ein riesiges Gebiet durch Verwaltung oder Regierung zu beherrschen hatten und dann natürlich aus den bekannten finanziellen Gründen Verwaltungsaufgaben auf die Städte übertragen haben. Damit kommt ihnen so etwas wie „Autonomie“ zu, was sie so vorher noch nicht hatten. Auf der anderen Seite gibt es natürlich innerhalb der Stadt auch noch eine Ebene, die Sie auch angesprochen haben: Es sind die Zünfte oder Gilden, die nun keineswegs von Anfang an mit an der Stadtregierung beteiligt waren, sondern eigene Verwaltungseinheiten innerhalb einer Stadt darstellten, bis sie auch in den Rat hineindrängten. Und es wäre vielleicht auch ganz interessant zu sehen, inwiefern sich Stadtverwaltung beziehungsweise Ratsverwaltung ihrerseits in den Verwaltungseinheiten der Gilden und Zünfte widerspiegelt. Also ich wollte auf diese Doppelebene etwas abstellen, deren Beachtung zur Straffung des Begriffs „Selbstverwaltung“ und „Fremdverwaltung“ nicht unnütz erscheint.

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Eine weitere Bemerkung betrifft die von Ihnen angesprochenen drei Elemente: Wahlrepräsentanz, Kollegialität und Zeitlichkeit der Amtsbefugnisse. Zum Punkt der Zeitlichkeit frage ich mich, ob Sie dieses Element vielleicht etwas zu ideal sehen. Die Ratsverfassung war ja doch in vielen Städten so gestaltet, dass es das Prinzip der Kooptation innerhalb der ratsfähigen Bürgerschicht gab. Es gab im Wechsel einen amtierenden Rat und dann den ruhenden Rat. Aber es war sehr, sehr schwierig, in diese Ratsherrenhierarchie aufzusteigen. Sie hatten das Wort „Oligarchie“ verwendet. Ich würde die aristotelische Staatsformgattung hier vermeiden und eher vom Honoratiorentum sprechen, so dass auf dieser Ebene eigentlich nicht so sehr das Element der Zeitlichkeit galt, sondern die zeitlich unbeschränkte Amtsführung der im allgemeinen bis in das 17. Jahrhundert nahezu festgefügten und geschlossenen Ratsherrenschicht. Nur durch den Wechsel vom amtierenden zum ruhenden und wieder zum amtierenden Rat innerhalb dieses Ratshonoratiorentums gab es eine zeitliche Unterbrechung, die aber die allein ratsfähige Schicht nicht aufbrach und öffnete. Dilcher: Ja, vielen Dank. Ich glaube, ich habe nichts Konträres dazu zu sagen. Man kann natürlich und muss – wenn man genauer hinschaut – diese Prozesse historisch ungeheuer ausdifferenzieren, außerdem sind sie von Stadt zu Stadt sehr verschieden. Das Interessante ist, ein Ämterwesen gab es vorher aus der stadtherrlichen Epoche, und es gab spezifisch städtische Verwaltungsbedürfnisse vorher, die standen schon untereinander in einer Wechselbeziehung. Wichtig war mir auch, dass von Anfang an die ländliche Verwaltung ganz andere Wege geht, selbst unter der Herrschaft desselben Herren, etwa kirchlicher Herren. Die Eigenständigkeit städtischer Bedürfnisse hat es also von Anfang an gegeben. Die Arbeit von Pitz zeigt, dass die Ratsverwaltung der Punkt ist, in dem die städtische Verwaltung ein Zentrum bekommt und diese Explosion und Ausdifferenzierung dadurch möglich wird. Dabei ist auch interessant, dass die älteren Formen von gildenartiger, genossenschaftlicher Verwaltung von den Städten bis nach Skandinavien hinein im 13. Jahrhundert abgelöst werden von diesem eigentlich italienischen oder – wenn man so will – römischen Modell eines Amtsbegriffs, auf den sich dann eine Objektivierung bauen ließ, die aus den Personenverbänden nicht herauszudestillieren war. Das spätere Verhältnis der Ratsverfassung zu den Untereinheiten, Gilden und Zünften, ist sehr interessant, aber ich glaube am Grundsätzlichen ändert es nicht so viel. Bei der Verpfändung ist es ja so, dass vor allen Dingen das SchultheißenAmt über Verpfändung von der Stadt erworben wird als Amt der hohen Gerichtsbarkeit. Wie ich ausgeführt habe, ist aber die hohe Gerichtsbarkeit für die Verwaltung selbst nicht so bedeutsam. Sie ist für die Selbstherrschaft der Stadt wichtig, und man setzt auch gerne als deren Symbol einen Galgen vor die Stadt, der dann auch in den Merian-Stichen ja sichtbar ist, als Symbol der Hochgerichtsbarkeit, aber als ein Verwaltungsbereich ist

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das nicht von so großer Bedeutung: erst einmal darum, weil hier die Mündlichkeit eine große Rolle spielt, zum anderen, weil es nicht die alltäglichen Verläufe des städtischen Lebens betrifft, darum weniger verwaltungsrelevant ist. Die Prinzipien des Ratsamtes, Wahl, Kollegialität und Zeitlichkeit sind gerade am Anfang besonders deutlich bei der Einführung nach dem Vorbild des italienischen Konsulats. Nachher werden sie aus Herrschaftsinteressen der führenden Schichten eingeebnet. Aber auch wenn die Leute in den sitzenden Rat überwechseln und dann wieder zurückwechseln, bleibt das Amt selbst begrenzt. Das Amt und die Amtsverantwortlichkeit des amtierenden Rates sind zeitlich begrenzt, was alljährlich mit Einsetzungsritualen und Verpflichtung auf dem „Schwörtag“ begangen wird. Das ist etwas ganz anderes als die Prinzipien der fürstlichen und der städtischen Verwaltung. Und das bezieht sich auf die Beauftragung durch das Gemeinwesen. Das ist mir das Wichtige. Historisch wird das später oft erst im Laufe der Neuzeit eingeebnet, am Anfang ist es besonders deutlich sowohl in Italien mit dem Konsulat wie in Deutschland mit der Ratsverfassung. Lück: Vielen Dank! – Herr Brauneder ist der nächste. Brauneder: Zuerst zu einem kleinen Detail. Sie haben erwähnt, dass sogenannte Rechtsgeschäftsbücher vor allem in Norddeutschland vorhanden sind und in Süddeutschland Siegelurkunden als Merkmal für das frühe Mittelalter gelten. Aber so ab 1250 gibt es zwischen Nord- und Süddeutschland keinen Unterschied mehr. Die süddeutschen Städte haben ihre Stadtbücher, größere Städte wie Wien ein Gewerbuch, ein Satzbuch, ein Kaufbuch, ein Testamentenbuch, das geht bis hinüber ins Ungarische, wo Städte wie Ödenburg solche Bücher kombinieren. Das betone ich deswegen, weil sich in diesen Büchern die städtische Selbstverwaltung in ganz besonderem Maße manifestiert. Etwas anderes noch: Sie haben ja den Begriff „Selbstverwaltung“ für das Mittelalter auch ein bisschen in Zweifel gezogen, wenn ich das recht sehe. Selbstverwaltung setzt eigentlich als Gegenbegriff die Fremdverwaltung voraus. Sie sagten an einer Stelle, Stadtrecht sei Bischofsrecht im 12. / 13. Jahrhundert. Jetzt ist der Bischof in der Regel auch Landesherr, er wird vielfach auch Grundherr sein, so dass man ja nicht von einer Selbstverwaltung sprechen kann, die er in einem Bereich gegen seine andere Verwaltung ausübt. Vielmehr wäre das Bild vermutlich richtiger beschrieben – und so verstehe ich auch in etwa das Zitat von Stolleis – mit einer differenzierten Verwaltung. Selbstverwaltung gegen staatliche Verwaltung, das kommt später, aber im Mittelalter gab es – so würde ich das sagen – verschiedene differenzierte Verwaltungen, die sich ergänzen, wobei die Landesverwaltung hie und da subsidiär zu den anderen Verwaltungen eine Rolle spielt. Herr Mohnhaupt hat es zuletzt gesagt, ich glaube Herr Härter auch: Wir

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haben dann noch die Verwaltung der Zünfte, der Universitäten, die vielen Stiftungen, Schule, Spital, die sich dem Rat eigentlich völlig entziehen, in Regensburg die Selbstverwaltung der Donaubrücke als Stiftung, und es gibt in manchem Gebiet die Weinbergverwaltung, die von der Stadtverwaltung völlig losgelöst ist und mehrere Gemeinden umfassen kann eben zur Verwaltung all dessen, was mit den Weingärten zusammenhängt. Und bei den Zünften sollte man noch denken an die Zunftrevolutionen, ich glaube hauptsächlich im 14. Jahrhundert, wo doch die Zünfte in vielen Städten massiv entweder in den Stadtrat eindringen oder als äußerer Rat zum bestehenden Stadtrat hinzutreten. Das soll keine Kritik an Ihrem Referat sein, sondern nachfragen, ob man nicht eine andere Terminologie und eine andere Sicht jedenfalls für das Mittelalter haben sollte. Kurze Bemerkung zum Schluss: Nürnberg hat ein kleines Territorium und in der Schweiz die Zähringer-Städte. Ich würde da nicht so trennen und sagen, in Deutschland – in einem beschränkteren Sinn – sei die Entwicklung anders. Und vielleicht darf ich noch eine Frage anschließen: Reichsstädte haben ja, wie wir alle wissen, formal den Kaiser zum Stadtherrn, aber wie war das eigentlich in den oberitalienischen Städten? Zu Herrn Mohnhaupt noch eine Ergänzung: Ich will ganz kräftig unterstreichen, daß es dieses Abkaufen oder „Abpfänden“ von Rechten auch in anderen Gebietskörperschaften gab. Grundherrschaften kaufen dem Kloster die grundherrlichen Rechte ab, ein Beispiel, das uns vielleicht immer ein bisschen aus den Augen gerät, nämlich die Schweizer Urkantone. Sie kaufen im Prinzip ihrem Grundherrn die Rechte ab. Eine zweite Frage: Soll man in Bezug auf diese Grundherrschaften von Selbstverwaltung sprechen? Danke. Dilcher: Sie springen in die Fülle der historischen Phänomene. Ich hatte mir Mühe gegeben, in Bezug auf die Stadt in einer etwas idealtypischen oder typisierenden Überhöhung Strukturen herauszustellen. Das kann und muss man bei historischer Beschreibung natürlich durchaus dann wieder relativieren. Ich meine aber gerade einige Beispiele, die Sie gebracht haben, bestätigen mein Bild. In einer geistlichen Herrschaft eines Bischofs gibt es ja den Stadtbereich und den territorialen Bereich. Sie folgen aber unterschiedlichen Regeln. Was ich eigentlich noch in den Vortrag bringen wollte ist dies, dass ja nach etwa 1200 geistliche Stadtherren durchaus sehen, dass sie versuchen können, teilweise bürgerliche Selbstbestimmung und bischöfliche Herrschaft über die Stadt zu vereinbaren. Es gibt bürgerschaftliche Ämter und Verwaltungen auch in stadtherrlichen bischöflichen Städten, Würzburg, Trient, dann später Mainz und anderen. Man sieht, dass die Bürger die Dinge sachnäher unter sich sehr gut regeln können und wenn man irgendwie gewisse Schlüsselentscheidungen in der Hand behält, dann kann man in Ruhe Stadtherr bleiben und muss sich nicht überall dort einmischen. Ich glaube, dies zeigt besonders gut die sachliche Grundlage städtischer „Selbstverwaltung“ im Mittelalter, die eben aus der Sachnähe und

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aus der Ausdifferenzierung städtischer Bedürfnisse herrührt, die der dem Feudalbereich angehörende Stadtherr und seine Beamten gar nicht so übersehen können; sie können aber sehr wohl eine Grundherrschaft gut verwalten, weil sie aus diesem Lebensbereich stammen. Also, ich möchte das, was Sie angesprochen haben, gerade dazu benutzen, um zu betonen: Diese idealtypische Trennung hat durchaus ihren Sinn. Auch dort, wo die Stadt selbst ein Territorium hat, ist ja das eine der städtische Bereich der Bürgerschaft; das andere, der territoriale Bereich, kann in der Schweiz sehr typisch die „Untertanenlande“ heißen. Diese werden nach den Regeln des Feudalsystems, wenn wir es mal pauschal sagen, verwaltet. Gerade das zeichnet ja aus, was ich den Eigensinn des städtischen Lebens nannte, der im Mittelalter erkannt und anerkannt worden und in eigene Rechtsformen gekleidet worden ist. Natürlich gibt es auch genossenschaftliche Verwaltungen in verschiedener Weise in Bauernschaften, vor allen Dingen in den freien Bauernschaften der Schweiz und Tirols. Das könnte ein eigener Tagungsgegenstand sein, aber dort gibt es andere Ämter und keine solchen Ausdifferenzierungen und auch andere Verwaltungsbedürfnisse, auf die eingegangen werden müsste. Lück: Vielen Dank. Damit können wir diese Diskussion vorerst abschließen. Schönen Dank noch mal für den Vortrag, der ja auch bei den Diskutanten auf großes Interesse traf. Ich denke, ein gelungener Auftakt, und ich habe die Freude, nun den zweiten Vortrag und Referenten anzukündigen: Herrn Prof. Dr. Ludwig Vones.

Die Sorben – (Selbst-)Verwaltung einer nationalen Minderheit Von Ludwig Elle, Bautzen I. Sorbische Minderheit in Deutschland Die Lausitzer Sorben (sorbisch Łuzˇiscy Serbja oder Serbja, deutsch auch als Wenden bezeichnet) sind neben den Dänen in Schleswig-Holstein als nationale Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Die Minderheit der Sorben geht auf die slawische Besiedlung des Gebiets zwischen Oder und Elbe sowie zwischen der östlichen Ostsee und den Mittelgebirgen seit der Völkerwanderung zurück. Die Slawen wurden seit dem 10. Jahrhundert durch die Zuwanderung flämischer, fränkischer, thüringischer und sächsischer Bauern und in Folge der Unterwerfung unter die deutsche Herrschaft bis zum 15. Jahrhundert nahezu vollständig assimiliert. Die noch bis dahin belegte Verwendung der sorbischen Sprache vor bäuerlichen Gerichts- und Verwaltungsinstanzen wurde an der unteren Saale, um Altenburg, Zwickau, Leipzig und Meißen ab dem 13. Jahrhundert verboten.1 In zahlreichen Regionen wurden seit dem 14. Jahrhundert in den Zunftstatuten sogen. „Wendenparagraphen“ aufgenommen, die den Slawen den Zugang zu Zünften verwehrten.2 Nur im Hannoverschen Wendland konnte sich die dravänopolabische Sprache (das Elbslawische) bis in das 17. Jahrhundert erhalten. In der weniger und später von der deutschen Kolonialisation betroffenen Lausitz, dem Siedlungsgebiet der slawischen Stämme der Milzener und Lusizer, Vorfahren der heutigen Sorben, bewahrte sich ihre Identität und Sprache weitgehend. Sie konnten eine Hochkultur, einschließlich eines eigenen Schrifttums (vollständige Bibelübersetzung 1728), entwickeln. Seit dem 19. Jahrhundert begannen die Sorben in einer „nationalen Bewegung“ eigene politische Interessen zu artikulieren. Dadurch vermochten es die Lausitzer Sorben in gewissem Maße dem zwangsläufigen Assimilationsdruck der deutschen Mehrheitsbevölkerung und bis 1945 der staatlichen Politik der Germanisierung 1 Jan Brankc ˇ k / Frido Meˇtšk, Geschichte der Sorben, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1789, Bautzen 1975, S. 145. 2 Winfried Schich, Zur Diskriminierung der wendischen Minderheit im späten Mittelalter. Die Ausbildung des „Wendenparagraphen“ in den Zunftstatuten nordostdeutscher Städte, in: Europa Regional 2 (2002), S. 57.

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zu widerstehen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genießen die Sorben Schutz und staatliche Förderung als nationale Minderheit in der DDR bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Aktuelle rechtliche Grundlagen hierfür sind entsprechende Festlegungen in den Landesverfassungen, gesetzliche Regelungen der Länder sowie durch die Bundesrepublik eingegangene internationale Verpflichtungen zum Minderheitenschutz.

II. Zur Berücksichtigung der Sorben in Verwaltungsstrukturen in der Frühen Neuzeit Für die Frühe Neuzeit sind in den zunächst fast ausschließlich von Sorben besiedelten Gebieten relativ zahlreiche Verwaltungen nachweisbar, die die ethnischen Eigentümlichkeit der Bevölkerung in irgendeiner Weise berücksichtigten: „Nicht allein im hohen und späten Mittelalter, sondern noch im 16. und den folgenden Jahrhunderten, also zum Teil in relativ junger Vergangenheit, nachdem seit der Okkupation des sorbischen Siedlungsbodens durch den deutschen Feudalismus doch schon annähernd ein halbes Jahrtausend verflossen war, finden wir in nicht geringer Zahl belegt sogenannte wendische Pflegen, Distrikte, Kreise, Zirkel, Sprengel, Viertel oder wie immer im einzelnen solche Verwaltungseinheiten bezeichnet wurden, in welchen der Tatsache der Existenz einer sorbischen Bevölkerung in der einen oder anderen Weise Rechnung getragen werden mußte“.3 Dies erfolgte in der Niederlausitz etwa dadurch, „dass es am Sitz der Landesregierung und bei der ständischen Verwaltung wie überhaupt bei allen behördlichen Instanzen, die mit der wendischen Bevölkerung zu tun hatten, hinreichend Leute gab, die des Wendischen mächtig waren [ . . . ].“4 In einigen Territorien des slawischen Gebiets, die neben den Sorben von einer beträchtlichen Zahl deutscher Bauern besiedelt wurden, sind hingegen ethnisch spezifische Gliederungen belegt.5 So waren etwa in der Standesherrschaft Sorau die deutschen Siedlungsgebiete in einem „deutschen Kreis“, die der Sorben in einem „wendischen Kreis“ zusammengefasst. Die Interessenwahrnehmung der Herrschaft wurde jeweils von einem deutschen bzw. sorbischen Amtsvorsteher ausgeübt, unterstützt von Vögten des jeweiligen Ethnikums. Solche ethnisch-spezifischen Verwaltungsstrukturen sind ferner in der an Sorau angrenzenden Region des Fürstentums 3 Frido Me ˇ tšk, Die Stellung der Sorben in der territorialen Verwaltungsgliederung des deutschen Feudalismus. Ein Beitrag zur Rechts- und Verfassungsgeschichte im Sorbenland (= Schriftenreihe des Instituts für sorbische Volksforschung, Bd. 43), Bautzen 1968, S. 13. 4 Rudolf Lehmann, Geschichte des Wendentums in der Niederlausitz bis 1815 im Rahmen einer Landesgeschichte, Langensalza 1930, S. 64. 5 Me ˇ tšk, Die Stellung der Sorben (FN 3), S. 18 ff.

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Sagan zu finden. Im Amtseid werden sie in sorbisch als „Sserpski Kreß“, in deutscher Sprache als „wendische Pflege“, bezeichnet. Für das Amt Stolpen sowie das Markgrafentum Oberlausitz sind gleichfalls wendische bzw. deutsche Pflegen – mit sich im Laufe der Zeit zuungunsten der sorbischen Dörfer verschiebenden Grenzen – bekannt. Die Ortenburg in Bautzen war im 16. Jahrhundert Sitz des „Wendischen Landgerichts“ mit ursprünglich als Starosten bezeichneten sorbischen Schöppen. Den Tagungen des ansonsten in seinen Kompetenzen nicht beschränkten wendischen Landgerichts wohnte ein Offiziant des Budissiner (Bautzener) Schlosses als Vertreter der deutschen Obrigkeit bei. Aus Bautzen ist eines der ältesten sorbischen amtlichen Schriftdokumente belegt, eine Bürgereidsformel aus dem Jahr 1532.6 Meˇtšk dokumentierte sorbischsprachige Bürgereide auch aus den Städten Lieberose (1550) und Kamenz (1752) sowie sorbische Treueide auf den sächsischen Kurfürsten aus Senftenberg (1607) und Finsterwalde (1625).7 Die Berücksichtigung ausschließlich sorbischsprachiger Untertanen erfolgte, wie Meˇtšk illustrierte, zuweilen selbst im Heereswesen. In einem Befehl des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. aus dem Jahre 1710 wird festgelegt, dass „die Wendische Untertanen, so nicht deutsch verstehen, von den übrigen separieret und ihnen Offiziere, die ihrer Sprache kundig, gegeben, oder – wenn dergleichen nicht völlig zu haben, auch einige aus ihnen selbst, sonderlich was die Unteroffiziere betrifft, welche hierzu tüchtig, genommen.“8 In der Mehrzahl der Fälle beendeten germanisatorische Maßnahmen oder kriegsbedingte Verschiebungen der ethnischen Grenzen die Existenz besonderer, den sorbischsprachigen Bevölkerungsteil berücksichtigender Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen bereits vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Für die Oberlausitz, als einer bis zur Gegenwart durch das Zusammenleben der sorbischer Minderheit mit der deutscher Mehrheit geprägten Region, konnte Meˇtšk feststellen: „Erst nach der territorialen Neuordnung, die im Gefolge der Bestimmungen des Wiener Friedensvertrags eintrat, scheint die systematische Verdrängung des Sorbischen als in der unteren Ebene tolerierte Amtssprache in der Oberlausitz durchgehend stattgefunden zu haben. Doch selbst jetzt erwies sich dieses Vorgehen als schwierig, und von der Zulassung von Dolmetschern ist in Einzelfällen noch lange Gebrauch gemacht worden.“9 6 Rudolf Jenc ˇ , Stawizny serbskeho pismowstwa I (= Geschichte des sorbischen Schrifttums I), Bautzen 1954, S. 10 f. 7 Me ˇ tšk, Die Stellung der Sorben (FN 3), S. 110 ff. 8 Befehl des Kurfürsten Friedrich August I. vom 27. Oktober 1710 an die „Geheimden Kriegsräthe“, Wojewodzkie Archiwum Pan´stwowe Wroc|law, Archiwum miasta Zogrzelca Nr. 29, Bl. 9, Rückseite. Zit. nach Meˇtšk, Die Stellung der Sorben (FN 3), S. 24. 9 Ebd.

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Die Errichtung der sorbischen Sonderinstitutionen stellte freilich keine irgendwie geartete sorbische Selbstverwaltung dar. Vielmehr wurde den sprachlichen Realitäten der bäuerlichen Bevölkerung Rechnung getragen, soweit dies den jeweils Herrschenden als notwendig erschien. Für die städtische bürgerliche Bevölkerung galt dies jedoch nur bedingt. „Zwar räumte auch für ihn (dem Stand der Bürger – L. E.) das Sachsenrecht zunächst durchaus die Möglichkeit sorbischer Herkunft ein, bestand aber andererseits auf der Nichtzulassung der sorbischen Sprache in Gericht und Verwaltung. Ursprünglich sorbisch sprechende Leute bürgerlichen Standes waren nach Auffassung des in erster Linie durch Magdeburg repräsentierten sächsischen Stadtrechts verpflichtet, mit ihrer ethnischen Vergangenheit zu brechen und sich in offiziellen Verhandlungen ausschließlich der deutschen Sprache zu bedienen.“10 Ergänzend anzumerken ist, dass nach der Reformation in den Verwaltungsstrukturen einiger Territorialorganisationen der lutherischen Kirche in der Oberlausitz – in Gestalt sorbischer Zirkel evangelischer Superintendenturen – die ethnischen Gegebenheiten Beachtung fanden. Die Herausbildung des Pietismus hatte, nicht zuletzt durch die Gründungen Herrnhuts im südlichen deutsch besiedelten Teil der Oberlausitz, sowie Nieskys unmittelbar am Rande des sorbischen Sprachgebiets, Einfluss auf die sorbische Bevölkerung. Bei Bautzen entstand nach 1749 eine „Wendische Diaspora“ der Unität. 1751 kam es zur Gründung einer sorbischen Brüdergemeine im anfänglich auch als „Wendisch Niesky“ bezeichneten heutigen Kleinwelka. Die Statuten der „Wendischen Diaspora“ von 1754 besagten: „Allmaßen dieser Ort zum Behuf einer Brüdergemeine und Anstalt für die Wendische Nation erbauet worden, als soll unveränderlich darauf gegeben werden, daß derselbe unter herrschaftlicher Genehmigung dazu gewidmet sei. Es soll sich also niemand, der dieser Nation nicht zugetan wäre, hier anzubauen Erlaubnis haben, oder in die Gemeinschaft der Wendischen Brüder aufgenommen werden können, wenn es nicht mit der durchgängigen Genehmigung und zum offenbaren Besten der hiesigen Ortseinwohner der Wendischen Nation geschieht.“11 Allerdings kehrte sich die Lage bereits wenige Jahre später um, die Einrichtungen der Unität wurden zunehmend zu einem Germanisierungsfaktor inmitten des sorbischen Sprachgebiets.

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Ebd., S. 53. Ebd., S. 87.

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III. Rechte und Verwaltung der Sorben im 19. Jahrhundert Die genannten Strukturen und Institutionen der Berücksichtigung des sorbischen Ethnikums in Verwaltung und Gerichtsbarkeit endeten im Wesentlichen um 1815. Im Ergebnis des Wiener Kongresses verlor Sachsen das Markgrafentum Niederlausitz sowie die nördlichen Teile der Oberlausitz an Preußen. Damit wurden ca. 110 Tausend Sorben unter preußischer Herrschaft neuen territorialen Verwaltungsstrukturen, Gerichts- und Polizeiverhältnissen unterworfen. Insgesamt führten die Veränderungen nach 1815 dazu, dass sich die „Sorben in einer Zeit der Entfaltung von Wirtschaft und Handel [nicht] zu einem festen Ganzen zusammenschließen, gemeinsam ihre Sprache und Kultur pflegen und ein gemeinsames kulturelles Zentrum bilden konnten. [ . . . ] All das bewirkte, dass der Prozess der Nationbildung bei den Sorben unterbrochen wurde.“12 Die Verdrängung der sorbischen Sprache aus Kirche und Schule wurde zum Kernelement preußischer Sorbenpolitik, unterbrochen nur von kurzen Phasen einer Mäßigung in den 1840er und am Ende der 1850er Jahre. Die sorbische Minderheit Sachsens fand erstmals im Jahr 1835 positive Berücksichtigung in einem modernen Rechtsdokument. Nachdem 1832 / 33 aus den Entwürfen für eine neue Schulordnung für die Oberlausitz einige zunächst vorgesehene Zugeständnisse für die Beachtung der sorbischsprachigen Bevölkerung getilgt wurden, kam es zu Protesten. Diese hatte der sorbische konservative Landtagsabgeordnete und Bautzener Stadtrat Bjedrich Adolf Klin initiiert. Neunzehn sorbische evangelische Geistliche übergaben 1834 im Namen von mehr als 50 Tausend Sorben eine Petition an die Zweite Kammer des Sächsischen Landtags. Sie forderten, den Gebrauch der sorbischen Sprache gesetzlich zu garantieren.13 An den Schulen sollten demnach Religion und weitere Fächer sorbisch unterrichtet werden. Das nachdrückliche Eintreten von Klin und weiterer Sorben war durchaus erfolgreich. Das generelle Ziel, die sprachliche Assimilierung der sorbischen Bevölkerung, bestand allerdings weiterhin, sollte aber moderater verfolgt werden. „Ist es auch in vieler Hinsicht zu wünschen, dereinst dahin zu gelangen, dass alle Staatsangehörigen der deutschen Sprache vollkommen mächtig sind, so kann es doch keineswegs in der Absicht der Staatsbehörden liegen, die Wenden durch direkte oder indirekte Zwangsmittel zur Aufgabe ihrer Nationalsprache zu nötigen“14, heißt es in einem Schreiben der Oberamtsregierung in Bautzen. 12 Peter Kunze, Die Sorbenpolitik in der Ober- und Niederlausitz vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg, in: Edmund Pech / Dietrich Scholze (Hrsg.), Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart (= Schriften des Sorbischen Instituts, Bd. 37), Bautzen 2003, S. 15. 13 Ebd., S. 24 f. 14 Zit. nach Kunze, Die Sorbenpolitik (FN 12), S. 27.

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Eine neue Qualität im Ringen um positiven Minderheitenschutz wurde in der Zeit der Revolution von 1847 / 48 erreicht. Die Forderung, in einem geeinten Deutschland – unter Einbeziehung des Habsburger Vielvölkerstaats – die sprachliche Vielfalt der Bevölkerung zu beachten, wurde auch von sorbischer Seite artikuliert. Jan Arnošt Smoler, führender Vertreter der sorbischen nationalen Bewegung, wandte sich in dieser Angelegenheit an Robert Blum: „Bei Ihrem Bestreben, durch Vermittlung des deutschen Parlaments eine neue, bessere Ordnung der Dinge in Deutschland einzuführen, würde es wahrlich höchst verdienstvoll sein, wenn Sie hierbei auch einen Blick auf die an vollständige nationale Rechtlosigkeit grenzenden Zustände der in Deutschland wohnenden Slawen werfen und eine Verbesserung dieser Zustände in Erwägung ziehen wollten. Ich erlaube mir hierbei vorzüglich auf die in Sachsen und Preußen sich vielfältig in gedrückter Lage befindlichen Lausitzer Wenden, welche sich selbst Sorben nennen, aufmerksam zu machen mit der gehorsamsten Bitte, Sie wollten Ihren mächtigen Einfluß geneigtest auch dazu verwenden, daß bei dem vom Parlament soeben in Beratung genommenen und nach ihrer Feststellung in Deutschland gebenden Grundrechten eine Bestimmung eingefügt würde, vermöge welcher die Erlösung der slawischen Bewohner Deutschlands aus dem geistigen, durch die Verkümmerung ihrer nationalen Sprache in Kirche, Schule und vor Gericht entstandenen Elende erfolgen könnte.“15 Die Antwort Blums: „Indem ich den Empfang Ihres Schreibens, die von Ihnen seitens der Deutschen Nationalversammlung gewünschte Berücksichtigung betreffend, hiermit bescheinige, bemerke ich zugleich, daß diesem Wunsche wahrscheinlich schon in nächster Zeit gewillfahrt werden dürfte.“16 Tatsächlich erfolgte dies im Artikel 188 der Paulskirchenverfassung, der da lautete: „Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, dem Unterricht, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege.“17

Unter dem Eindruck der Revolution konstituierte sich in der Lausitz eine sorbische Nationalbewegung in Gestalt einer wissenschaftlichen Gesellschaft „Mac´ica Serbska“. Einer ihrer Mitbegründer und erster Vorsitzender war Bjedrich Adolf Klin. Ihre Forderungen – unter anderem in einer großen 15 Erhard Hartstock / Peter Kunze, Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 / 49 in der Lausitz. Dokumente zum Verlauf und zur Wirkung der Revolution im deutsch-sorbischen Gebiet. Eine Quellenauswahl, Bautzen 1977, S. 142, Dokument 62. 16 Ebd., Dokument 63. 17 Ebd., S. 143, Dokument 65.

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Petition von 5.000 Hauhaltsvorständen an die sächsische Regierung – bezogen sich vor allem auf die Gewährung besonderer Rechte hinsichtlich der Sprache im Gerichts- und Schulwesen, jedoch noch nicht auf irgendwie geartete autonome politische Strukturen. Nach der Reichsgründung 1871 wurde der germanisatorische Druck auf die sorbische Bevölkerung wieder verstärkt, bestehende Zugeständnissen wurden aufgehoben. 1888 verbot das preußische Kultusministerium den erst 1861 genehmigten fakultativen sorbischen Sprachunterricht am Gymnasium in Cottbus. Das sächsische Schulgesetz aus dem Jahre 1873 schränkte die Erteilung sorbischen Unterrichts deutlich ein, so dass für das ausgehende 19. Jahrhundert insgesamt eine Verschärfung der antisorbischen Politik zu konstatieren ist. Die sorbische nationale Bewegung setzte trotz der offensichtlichen Unterdrückungspolitik auf Ausgleich und Verständigung, nicht zuletzt, weil eine reale Alternative in Form von autonomen Regelungen oder nationaler Selbstverwaltung nicht bestand. 1912 schlossen sich die meisten örtlichen Vereinigungen der Sorben zu einem bis heute bestehenden Dachverband – Domowina – zusammen, um mit gebündelter Energie wirken zu können. Erster Vorsitzender wurde der unabhängige sächsische Landtagsabgeordnete Arnošt Bart.

IV. Selbstverwaltungsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ersten Weltkrieg veränderten sich die minderheitenpolitischen Konstellationen in Europa. Der amerikanische Präsident Wilson propagierte das Selbstbestimmungsrecht der Völker; es entstanden neue vermeintliche National-Staaten denen der Völkerbund Maßnahmen zum Minderheitenschutz auferlegte; in einigen Minderheitenregionen (Schleswig, Oberschlesien, Kärnten) wurden Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit durchgeführt; Beschwerden über Verletzung von Minderheitenrechten konnten in einem Petitionsverfahren an den Völkerbund herangetragen werden. Die Lausitzer Sorben erhofften sich unter diesen Konstellationen eine Verbesserung ihrer Lage. Im November 1918 konstituierte sich unter Führung von Arnošt Bart ein Wendischer Nationalausschuss. Anfängliche Bemühungen, in Verhandlungen mit der sozialdemokratisch geführten sächsischen Regierung Verbesserungen für die sorbische Minderheit zu erwirken, wurden allerdings abgewiesen. Daraufhin trat der Nationalausschuss im Dezember 1918 erstmals mit Forderungen nach Selbstverwaltung auf. In einem Zehn-Punkte-Programm wurde erklärt: „Wir fordern kirchliche, schulische, wirtschaftliche und politische Selbstverwaltung und kulturelle

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Selbständigkeit“18, verlangt wurde desgleichen die Beseitigung der Aufsplitterung des sorbischen Territoriums in drei Verwaltungsregionen bzw. Wahlgebiete. In einem Memorandum an die Mitglieder der Friedenskonferenz in Paris wurde im gleichen Monat die Anerkennung der „Lausitzer Wenden als unabhängige Nation“ sowie Hilfe bei der Durchsetzung ihrer „nationalen Autonomie“ gefordert. Am 1. Januar 1919 wandte sich schließlich der Nationalausschuss an das sorbische Volk: „Der Nationalausschuss fordert auf der Grundlage der Wilson’schen Grundsätze einen selbständigen Lausitzer Wendenstaat, denn die Lausitzer Wenden sind ein besonderes slawisches Volk ,das das Recht hat, wie andere freie Völker, sich selbst seine Zukunft zu bauen und für seine selbständige Behauptung und Entwicklung zu sorgen. Hierüber entscheidet die Friedenskonferenz, der die Wenden ihre Sache unterbreiten.“19 Die Sorben fanden in der neu entstandenen Tschechoslowakei einen gewichtigen Fürsprecher für ihre Anliegen. Den Pariser Friedensverhandlungen wohnte Arnošt Bart als Gast der tschechischen Delegation bei, was ihm später einen Hochverratsprozess und Festungshaft einbrachte. Die sorbischen Erwartungen an die Friedenskonferenz wurden jedoch nicht berücksichtigt und dem Kriegsverlierer Deutschland wurde auch nicht, wie anderen Staaten, die Verpflichtung zum Minderheitenschutz auferlegt. Allerdings wurde in die Weimarer Verfassung ein am Artikel 188 der Paulskirchenverfassung orientierter Minderheitenartikel 113 aufgenommen. „Die fremdsprachigen Volksteile des Reichs dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.“ Dieser Artikel wurde jedoch nicht durch ausführende Bestimmungen verwirklicht. Er blieb daher für die Minderheiten in Deutschland ein ,Muster ohne Wert‘. Der Wendische Nationalausschuss wandte sich unter Berufung auf die Verfassung noch einmal im Oktober 1919 an die Reichskanzlei, den Reichspräsidenten und das Reichsministerium des Innern mit der erfolglosen Forderung nach Selbstverwaltungsrecht in einem einheitlichen Verwaltungsgebiet. Die Lausitzer Sorben konnten sich im Rahmen des bürgerlichen Rechts betätigen, ihre sprachlichen und schulischen Bedürfnisse blieben jedoch weitgehend unbeachtet. In den Verwaltungsstrukturen wurde auf die Belange der Minderheit keine Rücksicht genommen. Zur geheimdienstlichen 18 Zehn-Punkte-Programm des Wendischen Nationalausschusses vom 8. Dezember 1918, in: Serbske Nowiny 49 (8. Dezember 1918), S. 390. 19 Proklamation des Wendischen Nationalausschusses an das wendische Volk. 1. Januar 1919, in: Serbske słowo 1 (21. Januar 1919), S. 2.

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Überwachung ihrer politischen Aktivitäten wurde 1920 von den Regierungen Preußens und Sachsens unter Einbeziehung deutschnationaler Organisationen in Bautzen eine Behörde, die bis 1945 tätige „Wendenabteilung“, eingerichtet. Selbstverwaltungsbestrebungen wurden von den Sorben in den folgenden Jahren nicht weiter verfolgt. Der Verband der nationalen Minderheiten in Deutschland, dem neben Vereinigungen der polnischen, dänischen, nordfriesischen und der litauischen Minderheit der aus Wendischer Volkspartei, Domowina und Mac´ica Serbska bestehende Wendische Volksrat angehörte, vertrat – in Abgrenzung von Autonomiebestrebungen deutscher Minderheiten im Ausland – den Standpunkt: „Anstatt der problematischen und generell nicht realisierbaren Kulturautonomie möge kultureller Mutualismus (billige Gegenseitigkeit) unter voller Achtung aller nationalen Kulturelemente treten. An Stelle einer kulturellen Selbstverwaltung, die zur kulturellen und staatsbürgerlichen Isolierung führt, ist die Gleichberechtigung innerhalb der staatlichen Kulturpflege zu setzen. Mutualismus und Gleichberechtigung der Kulturgruppen garantieren das Leben der europäischen Kulturgemeinschaften.“20

V. (Selbst-)Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der DDR Nach Zerschlagung des Hitlerregimes boten sich 1945 vermeintlich erneut Chancen einer autonomen Verwirklichung sorbischer Interessen. Bereits zwei Tage nach Kriegsende wurde die von den Nationalsozialisten verbotene Domowina wieder belebt. Am 17. Mai 1945 wurde sie von den regionalen sowjetischen Besatzungsbehörden offiziell zugelassen. Sorben im Prager Exil konstituierten in der gleichen Zeit einen Lausitzisch-sorbischen Nationalausschuss, auf dessen Basis in der Lausitz ein Sorbischer Nationalrat tätig wurde. Verbreitet waren in sorbischen politischen Kreisen Befürchtungen, dass die Sorben als eigenständige Volksgruppe endgültig untergehen würden, wenn sie weiterhin unter deutscher Herrschaft verblieben. Daher wurde in ersten Positionierungen Eigenstaatlichkeit verlangt und alternativ ein Anschluss der Lausitz an die Tschechoslowakei erwogen. Entsprechende Memoranden an die Siegermächte wurden verschickt, die Besetzung der Lausitz durch tschechische Truppen gefordert, weitere außenpolitische Aktivitäten entfaltet. Zugleich gab es praktische Unterstützungen seitens des Nachbarlandes – im grenznahen tschechischen Varnsdorf wurden eine sorbische Schule und ein sorbisches Gymnasium eingerichtet und sorbische Arbeitskräfte in relativ großer Zahl in die Tschechoslowakei 20 Deklaration des Verbandes der nationalen Minderheiten in Deutschland zur europäischen Minderheitenfrage, in: Kulturwehr 5 (1929) 8, S. 299.

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angeworben. Jungen Sorben wurde die Möglichkeit eines Studiums an tschechischen Universitäten eröffnet. Innerhalb der sorbischen Bewegung kam es zwischen dem Nationalrat und der Domowina, die sich seit 1948 zunehmend der SED unterordnete, zu Auseinandersetzungen über die weitere Strategie. In der Domowina setzte sich der Standpunkt einer Lösung der sorbischen Fragen innerhalb Deutschlands, verbunden mit regionalen Selbstverwaltungsbefugnissen, durch. In einem um 1948 entstandenen Papier zu den Perspektiven der Lausitz heißt es: „Es genügt nicht, eine theoretische Bestimmung in einer Konstitution zu schaffen. Eine solche war in der Weimarer Verfassung enthalten. Nur durch die Schaffung eines öffentlich rechtlichen Zustandes, der die Existenz der Lausitzer Sorben erst einmal dokumentiert und anerkennt, – und ihnen die Möglichkeit einer Entwicklung gibt – durch die Errichtung einer Selbstverwaltungseinheit – gewinnt jede Lösung die konkrete Form, die unerlässlich ist [ . . . ]. Wenn die Lausitz als territoriale Selbstverwaltungseinheit, als „Land Lausitz“ mit Budyšin als Hauptstadt eingerichtet wird [ . . . ] –, dann spielt es keine Rolle mehr, ob die Lausitzer Sorben wirtschafts-, finanz-, zollund aussenpolitisch noch weiterhin mit Deutschland vereint bleiben.“ Der Text endet mit den Worten: „Um diese Ziele wurde bereits 1848 gekämpft und auch 1918. Werden diese Forderungen jetzt endlich verwirklicht werden um das Jahr 1948 herum. Einer der diese Dinge oberflächlich betrachtet, könnte sagen: 100 Jahre Kampf um so eine Kleinigkeit.“21 In Verhandlungen mit der Führung der Domowina wurde vom SED-Parteivorstand im Herbst 1947 zugesichert, dass zur Gewährleistung der einheitlichen kulturellen Betätigung eine über die Landesgrenzen hinweggehende Kulturgemeinschaft der sorbischen Bevölkerung mit einer selbständigen Leitung geschaffen werden sollte.22 Dies würde faktisch kultureller Autonomie bedeuten. Ein von der Domowina gefordertes Land Lausitz wurde dagegen strikt abgelehnt. In den bereits zuvor angenommenen Landesverfassungen Brandenburgs bzw. Sachsens war – entgegen sorbischen Forderungen – noch kein Minderheitenschutz aufgenommen worden. Der brandenburgische SED-Landesvorsitzende Friedrich Ebert lehnte für sein Land irgendwelche Beachtung der Sorben mit der Bemerkung ab, „wir wollen hier keine Treibhausgewächse großziehen.“23 In Sachsen wurde der Domowina zugesagt, an Stelle 21 Die Perspektiven der Lausitz. Sorbisches Kulturarchiv Bautzen, Archiv der Domowina, Sign. D 5 – 9, Bl. 9. 22 Ludwig Elle, Sprachenpolitik in der Lausitz. Eine Dokumentation 1949 bis 1989 (= Schriften des Sorbischen Instituts, Bd. 11), Bautzen 1995, S. 72. 23 Peter Schurmann, Die sorbische Bewegung 1945 – 1948 zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung (= Schriften des Sorbischen Instituts, Bd. 18), Bautzen 1998, S. 222.

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eines Verfassungsartikels ein spezielles Gesetz zu erlassen. Dies erfolgte am 23. März 1948 mit der einstimmigen Verabschiedung des „Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung“ durch den Landtag. Mit diesem Gesetz erhielt erstmals eine Minderheit in Deutschland rechtlichen Schutz, verbunden mit der Garantie staatlicher Förderung sowie der Möglichkeit, ihre kulturellen und sprachlichen Angelegenheiten in einer eigenen Behörde, einem Sorbischen Kultur- und Volksbildungsamt (SKVA), zu verwalten. Das „Sorbengesetz“ beinhaltete Grundsätze des Minderheitenschutzes wie sie vom Völkerbund nach 1919 vertreten wurden: Schutz und Förderung von Kultur und Sprache, Einrichtung von Schulen und kulturellen Institutionen, Zulassung der Minderheitensprache bei Verwaltungen und Behörden, Einbeziehung der Minderheit in die öffentliche Verwaltung. Ausgenommen blieb jedoch das Recht auf eine eigene politische Repräsentanz. Mit der Einrichtung des Sorbischen Kultur- und Volksbildungsamtes, personell besetzt durch von der Domowina vorgeschlagene Angestellte und in den ersten Jahren vom Vorsitzenden der Domowina geleitet, erlangten die Sorben die geforderte Selbstverwaltungsbehörde. Diese, gemeinhin als „Serbski zarjad“ [= „Sorbisches Amt“] bezeichnete Institution war mit bis zu 50 Angestellten für alle Bereiche des sorbischen Lebens zuständig. Innerhalb kurzer Zeit etablierte das SKVA, nicht ohne Widerstände anderer regionaler Gremien, zahlreiche sorbische kulturelle Institutionen und Bildungseinrichtungen und schuf Grundlagen für die Gewährleistung elementarer öffentlicher Zweisprachigkeit in der Lausitz. 1949 wurde in die Verfassung der DDR auf Initiative der Sorben ein am Weimarer Artikel 113 ausgerichteter, jedoch durch die Verpflichtung zur Förderung qualifizierter Minderheitenartikel aufgenommen. Artikel 11 lautete: „Die fremdsprachigen Volksteile der Republik sind durch Gesetzgebung und Verwaltung in ihrer freien und volkstümlichen Entwicklung zu fördern; sie dürfen insbesondere im Gebrauch ihrer Muttersprache im Unterricht, in der inneren Verwaltung und in der Rechtspflege nicht gehindert werden.“24 Ein von der Domowina geforderter zweiter Satz im Artikel 11, der die Sicherstellung einer parlamentarischen Vertretung beinhalten sollte, wurde im Vorfeld abgewiesen.25 24 In die Verfassung der DDR von 1968 (Artikel 40) wurde gleichfalls ein „Minderheitenartikel“ aufgenommen: „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität haben das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. Die Ausübung dieses Rechts wir vom Staat gefördert.“ Im Unterschied zu 1949 wird hier nicht generell von fremdsprachigen Volksteilen gesprochen, sondern nur auf die Sorben Bezug genommen. Die konkreten Bereiche der Pflege von Sprache und Kultur werden nicht mehr erwähnt. 25 Ludwig Elle, Sorben in deutschen Verfassungen, Le ˇ topis 2 (2004), S. 81.

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1950 übernahm Brandenburg die wesentlichen Bestimmungen des sächsischen Sorbengesetzes inhaltlich, jedoch lediglich in Gestalt einer Regierungsverordnung. Nach der Auflösung der Länder im Jahre 1952 blieb das SKVA als Hauptabteilung bzw. Abteilung für Sorbenfragen im DDR-Innenministerium bestehen, 1961 wurden die Verantwortungsbereiche für Volksbildung bzw. Kultur in entsprechende Sektoren der jeweiligen Ministerien ausgegliedert, wobei die Abteilung für Sorbenfragen im Innenministeriums als Koordinierungsstelle fungierte. Die Leiter dieser Abteilung waren jeweils Sekretariatsmitglied im Bundesvorstand der Domowina. Mit der Verfestigung der zentralistischen, stalinistischen Herrschaftsstrukturen in der DDR wurden auch die sorbischen Angelegenheiten der ideologisch determinierten und dirigistischen Parteipolitik der SED unterworfen. Bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit der sorbischen staatlichen Gremien übte die für Staats- und Rechtsfragen zuständige Abteilung im Apparat des ZK der SED aus. In dieser waren – im Gegensatz zu den für das Sorbische zuständigen staatlichen Institutionen – keine Angehörigen der Minderheit tätig. Die Domowina wurde gleich den anderen Massenorganisationen des Landes zum „Transmissionsriemen“ von Politik und Ideologie der SED. Unter diesen Verhältnissen wurden die Möglichkeiten einer Selbstverwaltung sorbischer Angelegenheiten zunehmend eingeengt. In einem von Außen vorgegebenen ideologischen Rahmen gezwängt gingen sie jedoch nicht gänzlich verloren. Von sorbischer Seite wurden auch nach Entstehung der DDR Ambitionen nach territorialer Selbstverwaltung weiter verfolgt. 1957 wurden sie von der Domowina und der Hauptabteilung Sorbenfragen erneut zur Diskussion gebracht. Gefordert wurde, das gesamte Gebiet der sorbischen Minderheit in einer Verwaltungseinheit, einem „Bezirk Lausitz“ (dem damaligen Bezirk Cottbus unter Einschluss der deutsch-sorbischen Gebiete des Bezirks Dresden), zusammenzufassen. Gefordert wurde des Weiteren für die Domowina das Recht, gleich den politischen Parteien und großen Massenorganisationen als Mandatsträger bei Wahlen zugelassen zu werden. Obgleich im zentralen SED-Apparat die sachliche Berechtigung solcher Forderungen eingeräumt werden musste und sie durchaus nicht im Widerspruch zu marxistisch geprägten Auffassungen von der Verwaltungs- und Gebietsorganisation standen26, blieben sie unberücksichtigt. Wenig später wurden die sorbischen Forderungen dann als „nationalistisch“ diffamiert 26 In der marxistisch geprägten Theorie zur Verwaltungs- und Gebietsorganisation, wie sie in der DDR gelehrt wurde, fanden nationale Besonderheiten durchaus ihre Erwähnung. So nannte Menge 1959 unter in der Verwaltungsgliederung zu beachtenden Faktoren „die Eigenarten und die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung“ (Wolfgang Menge, Die Übereinstimmung von regionalen Einheiten der Wirtschaft und der Verwaltung im Sozialismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Ökonomie, 1959, S. 354).

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und bekämpft. Selbst Vorschläge der Domowina, für das sorbische Schulwesen besondere Regelungen zu erwirken, wurden nun mit dem Verweis zurückgewiesen, dass man von sorbischer Seite versuche, „über Fragen der Volksbildung einen Vorstoß in der Schaffung eines autonomen Gebietes Lausitz zu unternehmen.“27 Neben vielen anderen Faktoren spielte für die schließliche Ablehnung einer Territorialautonomie eine Rolle, dass der für die sorbischen Angelegenheiten zuständige und durchaus positiv eingestellte Parteifunktionär Fred Oelßner, er war Politbüromitglied und stellvertretender Ministerpräsident, wegen seiner oppositionellen Haltung gegen Parteichef Walter Ulbricht 1958 aus seinen Partei- und Staatsämtern ausgestoßen wurde. In den folgenden Jahren bis 1989 wurden Fragen einer Selbstverwaltung und territorialen Autonomie für das deutsch-sorbische Gebiet nicht mehr aufgeworfen. VI. Gegenwart In der Wendezeit 1989 / 90 artikulierte Forderungen – erneut die Bildung eines einheitlichen Verwaltungsgebiets für die sorbische Bevölkerung (Bundesland Lausitz oder Sachsen in den Grenzen von vor 1815) bzw. die Zusammenführung aller Gemeinden mit mehr als 50-prozentigen Anteil sorbischer Einwohner zu einem gesonderten sorbischen Nationalitätenkreis – waren angesichts der veränderten ethnischen und demografischen Verhältnisse unrealistisch und Ausdruck einer gewissen Umbrucheuphorie. Deutschlandpolitisch wurde 1994 im Zusammenwirken mit den Verbänden der dänischen, nordfriesischen und Sinti / Roma-Minderheit – allerdings erfolglos – in Anlehnung an die Paulskirchenverfassung und die Verfassungen von Weimar und der DDR, die Aufnahme eines Minderheitenartikels in das Grundgesetz gefordert. Minderheitenrechte und Förderung sind heute in beiden Bundesländern in den Landesverfassungen, speziellen „Sorbengesetzen“ bzw. weiteren Rechtsvorschriften weit reichend geregelt. Jedoch bestehen gesonderte staatliche Behörden mit relativ autonomen Befugnissen, vergleichbar dem „Sorbischen Kultur- und Volksbildungsamt“ anfangs der 1950er Jahre, nicht mehr. Gebietsreformen haben dazu geführt, dass sich die Proportionen von sorbischen und deutschen Einwohnern in vielen Gemeinden und in allen Landkreisen zuungunsten der Minderheit verändert haben. Dies beeinträchtigt nach Auffassung der Domowina trotz eindeutiger Rechtslage die Artiku27 Ludwig Elle, Zur Entwicklung des sorbischen Schulwesens in der DDR, Hamburg 1993, S. 18.

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lation und Realisierung spezifischer sprachliche, schulischer und kultureller Interessen der Minderheit. Insbesondere einige Probleme in der Schulpolitik der beiden Bundesländer und von der Domowina als unzureichend bewertete Möglichkeiten der Artikulation sorbischer Interessen und der politischen Mitwirkung lassen bis heute in Kreisen der sorbischen Dachvereinigung immer wieder Forderungen nach „Selbstbestimmung“, „Kulturautonomie“ und „Minderheiten-Selbstverwaltung“, vergleichbar mit den aktuellen Regelungen im ungarischen Minderheitenrecht, aufkommen.

Aussprache Gesprächsleitung: Lück

Kühne: Es ist neuerer Standard, der etwa in Kärnten verfolgt wird, dass man zum Schutz der Minderheit keine Zählung mehr vornimmt. Sie haben uns eine Zahl vom Wiener Kongress genannt, wonach 110.000 Sorben an Preußen gekommen seien. Sie sagen, heute würden 60.000 Sorben geschätzt. Ich hatte noch aus früheren Veröffentlichungen über die Domowina 70.000 im Kopf. Meine Frage geht dahin, wie sich angesichts solcher Zahlen die Forderungen in Paris 1919 nach einem Nationalstaat erklären lassen? Denn auch in den Gemeinden lag der Sorbenanteil weitgehend – ich sehe von Kleinstgemeinden ab – seit langem unterhalb von 15%. Welche Nationalstaatsidee hatte man 1919? Oder wollte man einen Nationalstaat mit starken Minderheiten-Rechten für Deutschsprachige, da man die Deutschsprachigen in Wahrheit als Sorben ansah? – Meine weitere Frage ist ganz aktuell: Es gibt doch inzwischen eine Sorben-Partei, die bei der Landtagswahl angetreten ist. Vielleicht können Sie dazu noch etwas sagen. – Schließlich noch die Frage nach dem mir bisher noch nicht untergekommenen Modell eines Nationalitätenkreises ohne einheitliches Territorium. Ist das nur noch ein Bündnis, so eine Art neuer Lausitzer Städtebund mit Sorbengemeinden als eine Mischlage zwischen personeller und territorialer Autonomie? Elle: Zunächst zu den Zahlen. Es ist tatsächlich so, dass die Minderheiten in den meisten europäischen Staaten heute nicht mehr gezählt werden. Es gibt in Österreich bei den Volkszählungen eine Ermittlung der Sprachkenntnisse, aber das ist nicht gleich der Minderheitenzugehörigkeit. In Deutschland wurde eine Zählung der Sorben zuletzt in Sachsen 1946 durchgeführt, zuvor in der NS-Zeit. Die damaligen Zahlen sind natürlich aus heutiger Sicht nicht mehr relevant. Zur Situation 1919: 1919 war die Lage noch so, dass faktisch das gesamte ländliche Gebiet der Lausitz sorbisch war. Zu dieser Zeit betrug der sorbische Bevölkerungsanteil in den ländlichen Regionen zwischen 80 und 95 %. Die Städte, vor allem Bautzen als Verwaltungs- und Garnisonsstadt, waren dagegen bereits deutsch geprägt. Die Idee vom sorbischen Nationalstaat war sicherlich von vornherein eine Illusion. Die Frage der Anbindung an die Tschechoslowakei, die auch eine Rolle gespielt hatte, ging darauf zurück, dass die Lausitz bis 1635 zur böhmischen Krone gehört hatte und man da bestimmte historische Beziehungen herstellen konnte. Ich denke, dass man die Idee des sorbischen

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Nationalstaats nicht ernsthaft vertreten hat, sondern dass man das als politisches Druckmittel nutzen wollte, um zumindest autonome Regelungen oder sonstige Zugeständnisse zu bekommen. Ich sagte ja im Vortrag, die erste sächsische republikanische Regierung unter sozialdemokratischer Führung habe keine andere Politik gemacht wie zuvor die Monarchie. Daher haben sich die Dinge so zugespitzt, dass man bis zur Nationalstaatsidee kam. Ähnlich war das nach 1945; da war die Situation demographisch gesehen aber noch komplizierter, da in der Lausitz nach dem Kriege eine große Zahl von Vertriebenen ansässig wurde. Es hat sich in einigen Dörfern der Anteil deutschsprachiger Einwohner in kurzer Zeit gegenüber der Zeit vor dem Krieg verdoppelt. Aus dieser Sicht war es auch nach 1945 unrealistisch. In der Wendezeit entstand in einer sorbischen Basisbewegung (sie nannte sich Sorbische Volksversammlung) außerhalb der Domowina die Idee von einem sorbischen nationalen Kreis. Die „sorbischen Gemeinden“ mit einem Bevölkerungsanteil von über 50 % Sorben sollten zu einem Verwaltungsgebiet zusammengefasst werden. Das wäre geographisch möglich gewesen, weil diese Dörfer aneinander grenzten. Fraglich wäre jedoch, ob ein ländliches Gebiet mit maximal 20 000 Einwohnern als autonomer Kreis funktionieren könnte. Zu Ihrer Frage hinsichtlich der sorbischen Partei: Diese ist 2005 entstanden, etwa vier Wochen, nachdem in Schleswig-Holstein Landtagswahlen waren und der Südschleswigsche Wählerverband als politische Partei der dänischen Minderheit zum Zünglein an der Waage zu werden schien. Es war ja eine Patt-Situation, und mit den zwei Stimmen der dänischen Minderheit hätte sich Frau Simonis zur Ministerpräsidentin wählen lassen können. Diese Ereignisse haben dann unter einer kleinen Gruppe von Sorben zu dieser Parteigründung animiert. Die „Wendische Volkspartei“ hat etwa 60 Mitglieder und spielt faktisch keine Rolle. Sie steht außerhalb der sonst bestehenden sorbischen Vereinigungen. Wie sie jetzt auftreten wird – es stehen in Sachsen und Brandenburg Kommunalwahlen an –, ist zur Zeit völlig offen. Mir ist nicht bekannt, dass sie sich überhaupt auf diese Wahlen vorbereitet.* Ich will keine politische Initiative herunter reden, aber ich glaube, diese Partei hat keine Chance, sie hat keine Basis, weder in der sorbischen und erst recht nicht in der deutschen Bevölkerung. Was wir haben, sind in einigen Gemeinden sorbische freie Wählervereinigungen, die auch kommunale Mandate besetzen. Im Unterschied zur Partei der dänischen Minderheit, die 2005 in Schleswig-Holstein in den Wahlkampf gegangen ist mit dem Wahlslogan vom „nordischen Beispiel“, die sich also in der Sozial-, Wirtschafts- und Umweltpolitik usw. an den nordischen Staaten orientiert und mit dem skandinavischen Vorbild wirbt, besteht ein attraktives „slawi* An den Kreistagswahlen im Juni 2008 in Sachsen und an den Kommunalwahlen in Brandenburg im September 2008 hat sich die Wendische Volkspartei nicht beteiligt.

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sches“ oder „sorbisches Beispiel“ nicht. Damit können die Sorben nicht operieren. Und deshalb sehe ich da auch keine großen Chancen für solch eine Bewegung. Lück: Herr Brandt. Brandt: Darf ich bitte noch einmal auf das Minderheiten-Schutzprogramm der Pariser Friedenskonferenz zurückkommen: Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, dass alle ostmitteleuropäischen Staaten, namentlich die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und Polen, die Verpflichtung zum Minderheitenschutz sozusagen mit der Geburtsurkunde ihrer völkerrechtlichen Anerkennung auferlegt bekamen. Das entscheidende Problem war die Interpretation dieser Verpflichtung. Nach dem klassischen französischen Modell basierte der Minderheitenschutz auf dem System der individuellen Grundrechte. Dies lässt sich zum Beispiel im Prinzip der Assoziationsfreiheit jedes Bürgers verwirklichen: Jedermann hat das Recht, auf privatrechtlicher Basis Vereine für alle möglichen Zwecke zu bilden; in diesem Rahmen ist dann selbstverständlich auch die Pflege kultureller Besonderheiten zur Selbstbehauptung von Ethnien möglich. Das andere Modell besteht darin, einer Volksgruppe als Kollektiv den öffentlich-rechtlichen Status eines Rechtssubjekts zu geben. Das hat weit gravierendere Konsequenzen, und deshalb haben die genannten Staaten dies auch stets vermieden. Meine Frage an Sie wäre: Könnten Sie die von Ihnen geschilderte Sorben-Politik der Weimarer Republik noch einmal auf diese von mir skizzierte Alternative beziehen? Auf welcher Ebene sollten die Forderungen nach Autonomie verwirklicht werden? Elle: Diese Frage der Autonomie oder Selbstverwaltung bestand für die Sorben faktisch in der Zeit von 1918 bis etwa 1920. Da ging es tatsächlich zunächst einmal darum, in einem ersten Schritt – das waren diese Kontakte mit der sächsischen Landesregierung – konkrete Zugeständnisse zu bekommen in Bezug auf die Verwendung der Sprache vor Gericht, die Vermittlung der Sprache in der Schule und die Zweisprachigkeit in der Verwaltung. Das sind Dinge, die kann man sowohl individualrechtlich als auch gruppenrechtlich interpretieren. Das waren Dinge, die eigentlich innerhalb eines demokratischen Staatssystems realisierbar wären. Da dies abgelehnt wurde, kam dann die zugespitzte Forderung – Autonomie, Selbstverwaltung – faktisch als ein Herangehen im Sinne von Gruppenrechten hinzu. Nun sagte man, wir sind eine Nation, wir erwarten von einer Friedenskonferenz, dass sie uns als Nation anerkennt und dementsprechend die Freiheit der Loslösung gewährt. Diese Position haben die Sorben später aufgegeben. Nach 1920 spielten diese Fragen keine Rolle mehr. Sie traten erneut nach dem Zweiten Weltkrieg auf: Einmal unter dem Eindruck, dass in der NS-Zeit die Sorben verfolgt wurden und weil man meinte, da Slawen die Lausitz befreit hatten (die Lausitz wurde durch polnische und sowjetische Truppen freige-

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kämpft), dass die Orientierung auf das Slawentum ihnen bessere Möglichkeiten geben würde. Diese Position wurde vor allem von Leuten vertreten, die aus dem Prager Exil kamen und die engere Verbindungen zur tschechoslowakischen Regierung hatten. Es gab hochrangige Regierungsvertreter in der Tschechoslowakei, die den sorbischen Nationalrat unterstützt haben. Die Domowina, die an der Basis wirkte und keine solch engen Bindungen nach Prag hatte, musste sich dann zwangsläufig mit den gegebenen Verhältnissen arrangieren: mit der sowjetischen Besatzung, der SED-Herrschaft und dann mit dem SED-Staat. Die Regelungen der DDR-Zeit waren eher individualrechtlich zu sehen. Es waren keine Gruppenrechte, sondern es waren Individualrechte, und das ist eigentlich auch bis heute in Deutschland bei allen Minderheiten, soweit ich das beurteilen kann, die Hauptrichtung. Es steht natürlich im Raum, dass bestimmte Individualrechte nur in Gemeinschaft, als Gruppe, realisiert werden können – etwa Sprachpflege kann man nur in Gemeinschaft betreiben –, aber das ändert am Grundcharakter dieser Herangehensweise nichts. Lück: Vielen Dank. Herr Brauneder. Brauneder: Ich möchte an die Minderheitenschutz-Verträge anknüpfen. Es gibt einen Staat, in dem durch eine Verweisung in der Verfassung der Minderheitenschutzteil eben Verfassungsbestandteil wurde – und das ist Österreich. Im Vertrag von Saint-Germain gibt es genau diese Passagen, die in den Minderheitenschutz-Verträgen mit der Tschechoslowakei, mit Polen usw. stehen, und bei uns sind wie gesagt durch eine Verweisung etwa fünf Artikel aus dem Vertrag von Saint-Germain Verfassungsrecht geworden. Das hat die Folge, dass sie Bestandteil des Grundrechtskatalogs wurden und dass sie daher als subjektive öffentliche Rechte beim Verfassungsgerichtshof eingeklagt werden können. Das ist in allen anderen Staaten nicht der Fall gewesen, und die Beschwerden, die zum Beispiel aus Oberschlesien an den Völkerbundsrat gekommen sind, sind alle im Sande verlaufen. Dann zur Lausitz: Ich möchte noch unterstreichen, was Sie gesagt haben. Es gehörte ja zur tschechoslowakischen Staatsdoktrin, dass es mal den Staat der böhmischen Krone gab. Darüber kann man nachlesen in einem unserer Sammelbände – ich glaube von 2001 –, und zu dem gehörten unter anderem die beiden Lausitzen und natürlich Schlesien. Dazu tritt ein Übersetzungsproblem: Im Tschechischen gibt es das Wort „böhmisch“ an sich nicht, sondern was wir als böhmisch bezeichnen ist in der tschechischen ˇ esky´“. Wenn man also bei dieser tschechischen Version bleibt, Sprache „C war die Lausitz tschechisch, woraus man ableiten kann, sie sollte / könnte Teil des tschechoslowakischen Staates sein, und das ist besonders 1919 forciert worden. Wenn man das tschechische Parlament besucht, ist in einem der ersten Räume auf einer großen Wand ein alter Stich reproduziert: Da

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sieht man sozusagen, wie der tschechische Staat eigentlich ausschauen sollte; da sind natürlich die beiden Lausitzen dabei. Überlegen Sie sich mal, was man bei Ihrem Parlament an historischen Landkarten produzieren könnte oder bei uns in Österreich oder sonstwo. – Das Zweite, was zur Tschechoslowakei bemerkenswert ist, ist natürlich die Situation nach 1945 / 1948: ein Staat in seinen Randgebieten vorübergehend quasi ohne Bevölkerung! Hier war natürlich die Frage akut, wie man die leeren Dörfer und zum Teil die leeren Städte auffüllen sollte, und da hat man offenbar so ein bisschen auch an die Sorben gedacht. Dann noch eine Frage: In der DDR-Verfassung von 1968 gab es doch einen Sorben-Artikel. Hatte der irgendeine Wirkung? Schließlich möchte ich folgendes in den Raum stellen: den Schutz der Sprache. Da müsste doch einmal hinterfragt werden, inwiefern sich so eine Bestimmung im Laufe der letzten 100 bis 150 Jahre massiv verändert hat: 1848 – auch in Österreich in der Verfassung von 1867 – war das insofern sinnvoll, weil tatsächlich ein großer Teil der Slowenen, ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung in Böhmen und in Mähren nur der eigenen Sprache mächtig war. In so einer Situation hat der Schutz der Sprache einen ganz bestimmten Sinn: Die Sprache, in der ich mich verständigen kann, soll geschützt werden. Man sollte nicht gezwungen sein, in einer Sprache, die man nicht kennt, vor Gericht, vor den Verwaltungsbehörden auftreten zu müssen. Aber das ist doch heutzutage ganz anders. Ich nehme an, dass alle Sorben auch der deutschen Sprache mächtig sind, so wie bei uns in Österreich alle Slowenen. Man sollte mal den Unterschied der Sprachenschutzregelung ein bisschen näher beleuchten, die von zwei ganz verschiedenen Sinninhalten erfüllt zu sein scheint. Elle: Ja, für Ihre Ergänzung zur Rolle der Tschechoslowakei beziehungsweise Böhmens kann ich Ihnen nur danken. Zum Sorbenartikel in der 1968er Verfassung der DDR: Mit Artikel 40 gab es eine Bestimmung in Bezug auf die Sorben. Sie lautete: „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität haben das Recht, zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. Die Ausübung dieses Rechts wird vom Staat gefördert.“ Das war sehr allgemein gehalten, im Unterschied zum Artikel von 1949, der auch unter dem Gesichtspunkt entstand, dass es eine Verfassung für ganz Deutschland sein sollte. Dort war die ausdrückliche Verpflichtung zur Förderung der Sprache in Schule, Gericht und Verwaltung festgelegt, es wurden also die Bereiche, in denen die fremdsprachigen Volksgruppen besondere Rechte haben sollten, explizit benannt. Der sehr allgemein gehaltene Minderheitenartikel der zweiten Verfassung von 1968 hatte dann noch weniger rechtliche Wirkungen wie der vorangegangene. Die DDR besaß ja keine Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit, man konnte die Einhaltung dieser Rechte nicht einklagen.

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Die Rolle der Sprache hat sich ganz deutlich gewandelt. Die Sorben sind seit Mitte der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durchgehend zweisprachig geworden (vielleicht bis auf einige wenige ältere Leute in den 30er Jahren). Seitdem ist Zweisprachigkeit völlig normal, und deshalb sind die Sprachenrechte, die heute von den Sorben – und auch von den Kärntner Slowenen oder anderen Minderheiten – gefordert werden, in erster Linie Rechte mit dem Ziel, zur Identitätsbewahrung als Minderheit beizutragen. Man will sich abgrenzen durch die Sprache, man will die eigene Identität durch die Sprache stärken, und natürlich sind die Sprachkenntnisse ein wichtiges Mittel um die Kultur zu pflegen. Der größte Teil der entwickelten Kultur und vor allem der Hochkultur, Literatur usw. ist ja sprachlich gebunden. Wenn man die Sprache nicht mehr in der Schule vermittelt, dann verschwindet die Kultur. Das zu verhindern, darum geht es vor allem. Es gibt, wenn ich jetzt an den Ortstafelkonflikt in Österreich anknüpfe, zweisprachige Ortstafeln in der Lausitz seit 1946 / 47. Zunächst spontan entstanden dadurch, dass die Sorben sie einfach aufgestellt haben, und dann später amtlich sanktioniert. Diese Ortstafeln werden vor allem auch als ein historisches Dokument gesehen. Viele Orte in der Lausitz – und in Kärnten wird das ähnlich sein – haben unterschiedliche deutsche und sorbische Namen. Ich bin in einem Ort geboren, der heißt in deutscher Sprache Königswartha. Das geht auf eine Durchgangsstation, eine Warthe, des böhmischen Königs zurück. In sorbischer Sprache heißt der Ort Rakecy – Rak ist der Krebs –, das verweist auf eine Gegend mit sehr vielen Gewässern. Es sind zwei verschiedene Geschichten, die dahinter stecken. Wenn man Ortsnamen verschwinden lässt, dann lässt man auch Geschichte verschwinden. Deshalb ist dieses Problem in Kärnten kulturell schon brisant, und es ist berechtigt, dass man zweisprachige Ortstafeln fordert und versucht durchzusetzen. Lück: Vielen Dank. – Herr Kugelmann. Kugelmann: Sie haben die Völkerbundszeit angesprochen. Aus völkerrechtlicher Sicht kann man sagen, wir waren nie mehr so weit wie damals. Die Rechtssprechung an den internationalen Gerichtshöfen zum Minderheitenschutz kann man 1:1 abschreiben, wenn es um die aktuellen Fragen geht, weil dort durch völkerrechtliche Verträge Staaten Verpflichtungen auferlegt wurden, die heute noch viele Staaten nicht bereit sind zu übernehmen. Gerade, was die Gruppenrechte anbetrifft, ist es in der Tat so, dass manche Staaten das aus freier Entscheidung machen – wenn ich etwa an Kanada denke, die den Inuit weitgehende Rechte eingeräumt haben. Aber völkerrechtliche Verpflichtungen abzuleiten, dazu ist letztlich kein Staat bereit, sondern da bleibt es bei der individualrechtlichen Sicht, gegebenenfalls, dass man kollektiv Individualrechte ausübt, aber mehr dann eben auch nicht. Dann wollte ich auch anknüpfen an das, was Sie gesagt haben, um zu verdeutlichen, dass aus meiner Sicht Autonomie der weitere Begriff ist zur

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Selbstverwaltung, weil es auch in der völkerrechtlichen Diskussion immer um Sprache, Schule und Verwaltung als große Themen des Minderheitenschutzes geht. Es gibt einschlägige Verträge insbesondere im Rahmen des Europarates, die keiner unterschreibt, weil in ihnen solche Sachen identitätswahrender Natur drin stehen und die Sorge besteht, Autonomie könnte immer auch Abspaltung bedeuten, und um das zu vermeiden, werden weitgehende Autonomierechte nicht gewährt. Einzelne Gewährleistungen zum Schutz der Sprache oder auch zur Bildung werden anerkannt, oder auch zur Schule, damit die Kinder in der Muttersprache aufwachsen und die Minderheit erhalten bleiben kann. Das wird sicher eher gemacht, insbesondere in der Europaratskonvention zum Schutz der nationalen Minderheiten, die von sehr vielen Staaten, wie von Frankreich und der Türkei, aber von vielen anderen nicht unterschrieben und in Kraft gesetzt worden ist. Deshalb meine Frage an Sie, Herr Elle: Diese Troika „Sprache, Schule und Verwaltung“ aus Sicht der Sorben, wie stand es mit ihr in der Weimarer Zeit, und wie war es in der DDR-Zeit? Eigene Selbstverwaltung in dem Sinne hatte man in vielen Bereichen nicht, das war der Bereich, wo der Staat gesagt hat, das lassen wir nicht zu. Das heißt also, der Erhalt der Identität lief dann in der Tat über die Sprache, über die Kultur, und inwieweit gab es Möglichkeiten, schulisch anzuknüpfen, also die Gewährleistung eigener Schulen oder zumindest des Unterrichts in der sorbischen Sprache? Elle: Man muss feststellen, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen Preußen und Sachsen gab. In Preußen gab es ein sorbisches Schulwesen im Prinzip nicht, es gab wenige Pastoren, die Sorbisch unterrichtet und sorbischen Gottesdienst gehalten haben, aber das war äußerst unentwickelt und rechtlich nicht klar geregelt. In Sachsen war es etwas anders, in Sachsen gab es seit 1835 eine gewisse Tradition sorbischen Schulunterrichts. Die ist weitergeführt worden und erst 1937 endgültig abgebrochen. Das heißt es gab immer wieder sorbischen Unterricht, sorbischen Sprachunterricht an den Volksschulen in den Dörfern. Unsere Historiker sagen aber auch, dass dieser Schulunterricht oftmals eher auf die Germanisierung ausgerichtet war. Die Kinder kamen oftmals nur sorbischsprachig in die Schule und um an sie heranzukommen, hat man mit Sorbisch angefangen, um dann zum Deutschen überzugehen. Aber immerhin, es gab diesen Sorbisch-Unterricht und auf dieser Grundlage konnte auch ein gewisses kulturelles Leben entstehen. Nach 1945, in der Zeit der DDR, war es dann so, dass ein zweigliedriges sorbisches Schulsystem entstand. Es gab Schulen mit Sorbisch als Fremdsprachenunterricht, also neben Russisch und Englisch konnte man zusätzlich Sorbisch als Fremdsprache belegen. Darüber hinaus gab es sorbische Schulen, in denen in der Grundstufe, also bis zur 4. Klasse, alle Fächer in Sorbisch unterrichtet wurden. Deutsch wurde als zweite Muttersprache vermittelt. Ab der 5. Klasse wurden dann die naturwissenschaftlichen Fächer in deutscher Sprache und die musischen und

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geisteswissenschaftlichen in sorbischer Sprache unterrichtet. Das funktionierte bis Mitte der 90iger Jahre, ist aber heute durch Schließungen von sorbischen Mittelschulen wegen vermeintlich zu geringer Schülerzahlen in Frage gestellt. Jetzt gibt es neue Schulmodelle, etwa eine Initiative, die von der Domowina und vom sorbischen Schulverein entwickelt worden ist. Es werden Kindergärten betrieben, in denen Kinder aus deutsch- oder gemischtsprachigen Elternhäusern sorbisch betreut werden, damit sie bessere Vorkenntnisse erwerben, um eine sorbische Schule besuchen zu können. Das ist heute etwas differenzierter als zu DDR-Zeiten, da war das alles streng reguliert. Der Effekt des sorbischen Fremdsprachenunterrichts in der DDR war außerordentlich gering. Die Schüler haben bestenfalls einfache Wendungen verstanden oder eine Kulturveranstaltung verfolgen können, aber sorbisch kommunizieren, das war nicht möglich. Lück: Vielen Dank. – Herr Härter. Härter: Herr Elle, kann man im Hinblick auf die Sorben die Herausbildung einer dörflichen Selbstverwaltung feststellen und gab es, oder gibt es noch, ensprechende gesetzliche Regelungen hierzu? Elle: Ich sagte schon, bis ins 17. / 18. Jahrhundert gab es in den Dörfern bestimmte Formen der Selbstverwaltung in dem Sinne, dass – da die Sorben die deutsche Sprache nicht beherrschten – bestimmte Verwaltungsbefugnisse von Sorben ausgeübt wurden. Aber von einer eigentlichen Selbstverwaltung kann man nicht sprechen, da es keine sorbische Oberschicht gab. Zur Gegenwart: In den kommunalen Gesetzgebungen in Sachsen und Brandenburg ist festgelegt, dass in den Kommunen des deutsch-sorbischen Gebietes (diese sind in den Rechtsvorschriften benannt) in den Hauptsatzungen der Gemeinden (in Brandenburg) beziehungsweise in speziellen Satzungen zur Förderung der sorbischen Sprache und Kultur (in Sachsen) sorbische Belange geregelt werden sollen. Solche Satzungen existieren meist, aber die Wirkung ist außerordentlich unterschiedlich. Es hängt dann am Ende davon ab, in welchem Maße die sorbische Bevölkerung in Form von Vereinen, von Abgeordneten usw. präsent ist. Das ist sehr unterschiedlich. Es ist aber so, dass in allen Belangen, die die Sorben betreffen, die Domowina als Interessenvertretung Mitspracherechte hat. In Gremien, wo bürgerschaftliche Mitwirkung erwartet wird (zum Beispiel in den Rundfunkräten der Länder, in den Landesbildungsräten, im Braunkohleausschuss des Landes Brandenburg usw.) hat die Domowina in der Regel auch die Möglichkeit, Vertreter zu entsenden. Es gibt somit verschiedene Mitwirkungsmöglichkeiten, aber ich würde das nicht mit dem Begriff „Selbstverwaltung“ in Verbindung bringen. Das ist, glaube ich, eine andere Kategorie. Lück: Vielen Dank. – Herr Pape.

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Pape: Wie sind die Kulturleistungen der Sorben einzuschätzen? Bestehen sie aus mehr als Sprache im Alltag? Gibt es in Literatur, Musik oder Kunst Beiträge zur Hochkultur oder liegen diese Beiträge auf der Ebene der Volkskultur? Entstehen bei einer Minderheit von 60.000 Sorben noch literarische Werke, etwa ein Roman? Und führen deutsche und sorbische Kultur miteinander einen gleichberechtigten Dialog? Elle: Ja, man kann mit Fug und Recht sagen: Es gibt eine sorbische Hochkultur, es gibt eine sorbische Literatur bis hin zum Roman. Es gibt professionelle sorbische Musik, natürlich. Komponisten, die Vokalmusik mit sorbischen Texten produzieren, wie auch moderne sorbische Musik, die an Traditionen der sorbischen Volkskultur anknüpft. Es gibt in allen Bereichen, in allen Genres eine sorbische Hochkultur bis hin zur Wissenschaft. Wenn wir unser Institut nehmen – wir publizieren wissenschaftliche Literatur in deutscher und in sorbischer Sprache. Es gibt sorbische Zeitungen und Zeitschriften, es gibt sorbische Rundfunk- und Fernsehsendungen, also es gibt alles das, was eine Hochkultur heute ausmacht. Es ist natürlich alles von kleinerer Quantität und über die Qualität kann man diskutieren, das sind unterschiedliche Dinge. Sie können Sorabistik, die Wissenschaft von der sorbischen Sprache und Kultur, in Leipzig studieren, in Saarbrücken arbeitet ein engagierter Sorabist und in den Jahren 2007 / 2008 wurde an der Slawistischen Fakultät der Universität München Sorbisch-Unterricht angeboten. Das Interesse ist also da, das geht über die Lausitz hinaus. Lück: Vielen Dank. – Herr Mohnhaupt. Mohnhaupt: Nur eine ganz kurze Frage was die Zweisprachigkeit anbelangt: Heißt das auch, dass Gesetze in doppelter Fassung veröffentlicht wurden? Wer war von sorbischer Seite daran beteiligt, waren es Juristen, die des Sorbischen mächtig waren? Wie waren sie in das Gesetzgebungsverfahren integriert? Elle: Amtliche Gesetzestexte in sorbischer Sprache waren in der DDR nicht üblich. Nur in einigen Fällen hat das sorbische Amt ausgewählte Texte übersetzen lassen. Am Gesetzgebungsverfahren für das Sorbengesetz von 1948 waren die Sorben beteiligt, die Domowina war faktisch der Initiator und hat auch die Inhalte entscheidend mitgeprägt. Spätere Gesetzgebungsverfahren liefen in der DDR nicht auf demokratischer Grundlage. Beispielsweise waren Wissenschaftler aus unserem Institut an der Formulierung des „Sorbenartikels“ in der zweiten Verfassung der DDR nicht mit beteiligt. Die Sorben haben das vorgesetzt bekommen. Das ist systembedingt gewesen. Heute ist es so, dass in Sachsen quasi das Sorbische als zweite Amtssprache im deutsch-sorbischen Gebiet gilt. Es ist zum Beispiel im Wahlgesetz festgelegt, dass bestimmte Wahlunterlagen zweisprachig auszufertigen sind, die

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entsprechend übersetzt werden. Die Ortstafeln sind zweisprachig. Es ist festgelegt, dass Sorbisch als Amtssprache verwendet werden kann; das heißt wenn ein Bürger mit einer Behörde eine Vereinbarung in sorbischer Sprache trifft, ist sie rechtlich genauso gültig wie eine in deutscher Sprache. Das ist gesetzlich geregelt. Aber die Veröffentlichung von Rechtsdokumenten erfolgt (bis auf diese Wahlunterlagen) nur in deutscher Sprache. Es gibt lediglich eine nichtamtliche Übersetzung der sächsischen Landesverfassung in sorbischer Sprache, die von unserem Institut angefertigt worden ist. Die Gemeinden können Veröffentlichungen deutsch und sorbisch ausgeben, es gibt einige Gemeinden, die das tun, zum Beispiel Aushänge, das betrifft aber derzeit nur vier oder fünf Gemeinden. Das ist eine freiwillige Entscheidung, und Angestellte mit sorbischen Sprachkenntnissen sind eine Voraussetzung dafür. Das Problem besteht darin, dass die Europäischen Abkommen zur Minderheitenförderung einen sehr großen Spielraum zulassen. Sie enthalten meist „Kann-Bestimmungen“ (es heißt etwa: „im Rahmen der Möglichkeiten“ oder „bei genügendem Interesse“), so dass man sich aus Verpflichtungen herauswinden kann. Es gibt zum Teil auch Diskussionen, in denen man meint, wenn Sorbischsprachige etwa bei der Besetzung von öffentlichen Stellen stärker berücksichtigt würden, sei dies gegenüber Deutschsprachigen eine Verletzung des Gleichheitsgebots. Wir sehen das anders: Sorbischsprachigkeit ist ein Qualifikationsmerkmal und nicht ein Differenzierungsmerkmal im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes. Lück: Vielen Dank meine Damen und Herren.

Hugenotten und Waldenser im frühmodernen deutschen Territorialstaat zwischen korporativer Autonomie und obrigkeitlicher Aufsicht Von Matthias Asche, Tübingen

Der traditionelle Tagungsort der „Vereinigung für Verfassungsgeschichte“ war ein urbanes Zentrum der Hugenotten-Kolonisation1 des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Die Gründer der französischen Kolonie im Ackerbürgerstädtchen Hofgeismar gehörten zu denjenigen westeuropäischen Réfugiés, die während der „ersten Einwanderungswelle“ seit dem Frühjahr 1686 in die Landgrafschaft kamen2, mithin zu den ersten, bereits sechs Monate vor der förmlichen Widerrufung des Edikts von Nantes durch den französischen König Ludwig XIV. erlassenen Einladungspatent des reformierten Landesherrn – der „Freiheitskonzession“ vom 18. April 16853 – 1 Im folgenden wird der Terminus „Hugenotten“ verwendet, obwohl er definitorisch unscharf ist und heute als Sammelbegriff für alle frankophonen Glaubensflüchtlinge der Jahrzehnte um 1700 verstanden wird, vgl. dazu knapp zusammenfassend den Handbuchartikel von Matthias Asche, Hugenotten in Europa seit dem 16. Jahrhundert, in: Klaus J. Bade / Pieter C. Emmer / Leo Lucassen / Jochen Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn, München, Wien, Zürich 2007, S. 635 – 643, mit weiterführender Literatur. 2 Jochen Desel, Hofgeismar, in: ders. / Walter Mogk (Hrsg.), Hugenotten und Waldenser in Hessen-Kassel, Kassel 1978, S. 113 – 122, und ders., Hugenotten in und um Hofgeismar, in: Helmut Burmeister (Hrsg.), Auf Einladung des Landgrafen. Beiträge zur Geschichte der Hugenotten und Waldenser in Nordhessen, Kassel 1985, S. 33 – 46, vgl. auch Theo Kiefner, Die erste Flüchtlingswelle 1686 im Raum Hofgeismar, in: Der Deutsche Hugenott 41 (1977), S. 130 – 132. 3 Hierzu ausführlich Thomas Klingebiel, Die hessische „Freiheitskonzession“ vom 18. April 1685, in: Karl-Hermann Wegner (Hrsg.), 300 Jahre Hugenotten in Hessen. Herkunft und Flucht, Aufnahme und Assimilation, Wirkung und Ausstrahlung. Ausstellungskatalog, Kassel 1985, S. 85 – 94, und Walter Mogk, Die Hugenottenprivilegien des Landgrafen Carl von Hessen-Kassel aus dem Jahre 1985, in: Gewissen und Freiheit 25 (1985), S. 18 – 25. Zur Einordnung der Privilegienpolitik des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel vgl. Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land – Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 437 ff., und Susanne Lachenicht, Die Freiheitskonzession des Landgrafen von Hessen-Kassel, das Edikt von Potsdam und die Ansiedlung von Hugenotten in Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel, in: Guido Braun / Susanne Lachenicht (Hrsg.), Hugenotten und deutsche Territorialstaaten. Immigrationspolitik

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folgten. Neben Brandenburg-Preußen, wo knapp die Hälfte von den schätzungsweise insgesamt 38.000 bis 40.000 dauerhaft in den Territorien und Städten des Reiches eingewanderten Réfugiés Aufnahme fanden, wurden in der Landgrafschaft Hessen-Kassel in mehreren Einwanderungswellen bis in die 1720er Jahre die meisten dieser aus Glaubensgründen verfolgten Migrantengruppe aufgenommen – insgesamt etwa 4.000 Personen, die sich vorwiegend im Niederfürstentum angesiedelt haben.4 Neben der Residenzstadt Kassel wurde die anfangs noch zahlenmäßig große, im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings quantitativ zur Bedeutungslosigkeit geschrumpfte französisch-reformierte Gemeinde in Hofgeismar zumindest in den Jahren um 1700 zu einem zweiten, wichtigen Mittelpunkt der Hugenotten- und Waldenser-Kolonien in der Landgrafschaft Hessen-Kassel – und das, obwohl sie zu keiner Zeit über eigene Kirchengebäude verfügte, sondern stets die deutsch-reformierte Neustädter Kirche simultan mitbenutzte.5 Der erste französisch-reformierte Pfarrer von Hofgeismar – der bis 1725 amtierende, umtriebige und vielfältig engagierte Waldenser David Clément, dem seit 1928 auf einer Gedenktafel neben dem Westportal der Neustädter Kirche gedacht wird – organisierte nicht nur den Aufbau der französischen Stadtschule, sondern betreute notgedrungen auch seelsorgerlich zahlreiche der umliegenden französisch-reformierten Landgemeinden.6 Ansonsten erinnert im heutigen Stadtbild allerdings nur noch wenig an die einstmalige zentralörtliche Bedeutung Hofgeismars zur Zeit des großen Hugenotten- und Waldenser-Exodus. Die folgende Darstellung konzentriert sich vorwiegend auf die verfassungs- und kirchenrechtlichen Probleme und Konsequenzen, welche die massenhafte Einwanderung von Hugenotten und Waldensern an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert den zahlreichen Aufnahmeterritorien und -städten im Alten Reich bescherte. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die Thematik der Entstehung, Entwicklung und Grenzen vormoderner Selbstverwaltung gelegt werden. Ausgehend von der Etablierungszeit in den Jahrzehnten um 1700 wird die sehr heterogen verlaufende Typenbildung verwaltungs- und kirchenrechtlicher sowie jurisdiktioneller Autonomie der französischen Gemeinden, mithin deren innere Verfaßtheit und und Integrationsprozesse / Les états allemands et les huguenots. Politique d’un immigration et processus d’intégration, München 2007, S. 71 – 83. 4 Die Aufnahmezahlen des Refuge sind schwer zu ermitteln; vgl. hier die Angaben nach den wohl insgesamt realistischen Schätzungen von Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2006, S. 50 ff. 5 Jochen Desel, Die Neustädter Kirche in Hofgeismar, Hofgeismar 1984, außerdem ders., Hugenottenkirchen in Hofgeismar, Hofgeismar 1986, und ders., Hugenottenkirchen in Hessen-Kassel, Bad Karlshafen 1992, S. 39 ff. 6 Ders., Der Waldenserpfarrer David Clément, Braunschweig 1976; vgl. auch die Hinweise bei Charles Adolphe Clément, Notice historique sur la famille vaudoise Clément de Valcluson. Aux amis de la famille, Kopenhagen 1914.

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deren Verhältnis zum frühmodernen Staat zu thematisieren sein. Die zentralen Fragestellungen lauten: Wie hoch war der Grad der Selbstverwaltung und Autonomie, welche die implantierten Fremdenkolonien gegenüber dem Staat für sich reklamieren konnten, und inwieweit traten diesbezüglich über einen längeren Zeitraum von über einem Jahrhundert – bis zur formalen Aufhebung ihrer Sonderstellung, die allerorts spätestens am Beginn des 19. Jahrhunderts verfügt wurde – Veränderungen ein? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen zunächst einige Grundüberlegungen vorausgeschickt werden, die angesichts der Fülle an dargestellten detaillierten Einzelbeobachtungen7 den Untersuchungsgegenstand eingrenzen. Mit der Konzentration auf die Folgen der Hugenotten- und WaldenserEinwanderung in den Jahren um 1700 müssen notgedrungen alle zeitlich vorher stattgefundenen konfessionell motivierten Immigrationsbewegungen ins Reich notgedrungen ausgeklammert werden.8 Dies ist freilich insofern problematisch, da insbesondere die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts massenhafte Einwanderung von Niederländischen Exulanten calvi7 Angesichts der kaum mehr überschaubaren Fülle der Literatur zur Geschichte der Hugenotten und Waldenser wird im folgenden weitgehend auf die Nennung der lokalen Spezialliteratur zu einzelnen Hugenotten- und Waldenser-Kolonien verzichtet, die sich allerdings im nützlichen Nachschlagewerk von Johannes E. Bischoff, Lexikon deutscher Hugenotten-Orte mit Literatur- und Quellen-Nachweisen für ihre evangelisch-reformierten Réfugiés-Gemeinden von Flamen, Franzosen, Waldensern und Wallonen, Bad Karlshafen 1994, findet. 8 Zum Typus der konfessionell bedingten Migrationen vgl. Thomas Klingebiel, Vorreiter der Freiheit oder Opfer der Modernisierung? Zur konfessionell bedingten Migration im frühneuzeitlichen Europa, in: Christoph Friederich (Hrsg.), 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen. Vom Nutzen der Toleranz. Ausstellungskatalog, Nürnberg 1986, S. 21 – 28, Andrew Pettegree, Protestant Migrations during the Early Modern Period, in: Simonetta Cavaciocchi (Hrsg.), Le migrazione in Europa, Secc. XIII – XVIII. Atti della „Venticinquesima Settimana di Studi“, Prato 3 – 8 maggio 1993, Florenz 1994, S. 441 – 458, Heinz Schilling, Confessional Migration as a distinct Type of Old European longdistance Migration, in: ebd., S. 175 – 189, ders., Religion, Politik und Kommerz. Die europäische Konfessionsmigration des 16. Jahrhunderts und ihre Folgen, in: Edgar J. Hürkey (Hrsg.), Kunst, Kommerz und Glaubenskampf. Frankenthal um 1600, Worms 1995, S. 29 – 36, ders., Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: Klaus J. Bade (Hrsg.), Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Vorträge auf dem Deutschen Historikertag in Halle a. d. Saale, 11. September 2002, Osnabrück 2002, S. 67 – 89, Michael Maurer, Mit Ausländern Staat machen. Glaubensflüchtlinge im Absolutismus, in: Essener Unikate 6 / 7 (1995), S. 75 – 85, Rainer Postel, Asyl und Emigration in der Frühen Neuzeit, in: Hans Wilhelm Eckardt / Klaus Richter (Hrsg.), Bewahren und Berichten. Festschrift für HansDieter Loose zum 60. Geburtstag, Hamburg 1997, S. 201 – 223, Alexander Schunka, Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 56 (2005), S. 547 – 564, und Matthias Asche, Religionskriege und Glaubensflüchtlinge im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Typendiskussion, in: Franz Brendle / Anton Schindling (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Münster 2006, S. 435 – 458.

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nistischen Bekenntnisses in deutsche Territorien und Städte auf vielfältige Weise den späteren Hugenotten- und Waldenser-Exodus beeinflußt hat.9 So gab es nicht nur zahlreiche personelle Kontinuitäten zwischen dem sogenannten „Ersten“ und „Zweiten Refuge“. Exemplarisch verwiesen sei etwa auf die Nachkommen der seit den späten 1550er Jahren in der Kurpfalz ansässigen calvinistischen Wallonen und Flamen, welche sich zu Hunderten während des Pfälzischen Erbfolgekrieges den fast zeitgleich ablaufenden Hugenotten-Zügen in die rechtsrheinischen, mithin den vor der Expansionspolitik König Ludwigs XIV. vermeintlich geschützteren Reichsterritorien anschlossen, etwa der nahezu geschlossene Abzug der 1607 etablierten Mannheimer Wallonen-Kolonie im Jahre 1689 nach Magdeburg, wo sie noch bis 1950 als eigenständige wallonisch-reformierte Kirchengemeinde neben der nur wenige Jahre zuvor entstandenen französisch-reformierten Gemeinde fortexistierte.10 In ihren Anfängen besaßen die Mitglieder der „Église française de Mannheim, établie à Magdebourg“ eine eigene Verwaltung, die im übrigen gänzlich unabhängig von der allgemeinen französischen Kolonieverwaltung in Berlin war, eigene Privilegien, deren Inhalte vom Potsdamer Edikt und dessen Ausführungsbestimmungen gravierend abwichen – etwa das Zugeständnis, das den Mannheimern aus ihrer

9 Exemplarisch aus der reichen Forschung zu den Niederländischen Exulanten vgl. die knappe Überblicksdarstellung von Heinz Schilling, Innovation through Migration. The Settlements of calvinistic Netherlanders in sixteenth- and seventeenthCentury Central and Western Europe, in: Histoire sociale / Social History 16 (1983), S. 7 – 33, und den Handbuchartikel von Dagmar Freist, Südniederländische calvinistische Flüchtlinge in Europa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade / Emmer / Lucassen / Oltmer, Enzyklopädie Migration (FN 1), jeweils mit weiterführender Literatur. 10 Zur Pfälzer-Kolonie in Magdeburg vgl. Ludwig Götze, Die Französische und Pfälzer Colonie in Magdeburg zu Anfang des 18. Jahrhunderts, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 8 (1873), S. 83 – 100, 134 – 166, 219 – 244, Henri Tollin, Die Wallonen-Gemeinde vor ihrer Einwanderung nach Magdeburg, in: Mannheimer Geschichtsblätter 11 (1876), S. 345 – 423, ders., Die hohenzollernschen Colonisationen und die Wallonische Gemeinde zu Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 11 (1876), S. 192 – 208, Karl Heinz Bode, Urkundliche Nachrichten über die wallonisch-reformierte Kirchen-Gemeinde zu Magdeburg, Magdeburg 1889, Adolf Bode, Geschichte der wallonisch-reformierten Kirchengemeinde zu Magdeburg, Magdeburg 1892, Ernst Thiele, Zur Übersiedlung der französischen Gemeinde nach Magdeburg 1689, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 39 (1904), S. 143 – 157, Ralph Meyer, Geschichte der deutsch-reformierten Gemeinde zu Magdeburg. Von den Anfängen bis auf die Gegenwart, 2 Bde., Magdeburg 1914, Johannes Maresch, Die Wallonisch-Reformierte Gemeinde zu Magdeburg. Festschrift zum 250jährigen Bestehen in Magdeburg, Magdeburg 1939, Julius Boehmer, Wallonen in Magdeburg. Festschrift zur Feier des 250jährigen Bestehens, Magdeburg 1939, Johannes Fischer, Die Pfälzer Kolonie zu Magdeburg. Zum Andenken an ihre vor 250 Jahren erfolgte Begründung, Magdeburg 1939, Dieter Elsner, Pfälzer in Magdeburg. „Fremde, bessere Wesen“ in der Stadt? Von Mannheim nach Magdeburg, in: Eva Labouvie (Hrsg.), Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 57 – 76.

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Heimat vertraute Kurpfälzische Landrecht anwenden zu dürfen –, und sogar einen eigenen Bürgermeister für die von der deutschen Obrigkeit sogenannte „Pfälzer Kolonie in Magdeburg“. Überhaupt spielte die Kurpfalz als Aufnahmeland für Hugenotten und Waldenser gegen Ende des 17. Jahrhunderts angesichts der Kriege, von denen diese Grenzregion am Oberrhein betroffen war, und des mit dem Dynastiewechsel von 1685 verbundenen Konfessionswechsel der pfälzischen Kurfürsten anders als noch hundert Jahre zuvor praktisch keine Rolle mehr – sieht man einmal von der grundsätzlichen Bedeutung der Rheinpfalz als Transitland für westeuropäische Réfugiés ab. Die noch um 1600 starke Position der Kurfürsten von der Pfalz im Reich innerhalb eines Netzwerkes calvinistischer Mächte in Europa war gegen Ende des 17. Jahrhundert eindeutig auf die brandenburgischen Hohenzollern übergegangen, welche – gewissermaßen als kleinerer „Tandempartner“ der oranischen Generalstatthalter – die Führungsrolle unter den protestantischen Reichsfürsten wahrnehmen wollten.11 Hingewiesen sei auch auf den bemerkenswerten Umstand, daß die älteren Flüchtlingsgemeinden die Migrantenströme aus Frankreich und dem Herzogtum Savoyen nach deren Transit durch die Schweiz und die Niederlande innerhalb des Reiches kanalisierten, indem sie mit ihren bereits entwickelten sozial-karitativen Netzen eine gewisse Erst- und Grundversorgung der Ankommenden gewährleisteten und somit hier auch die Funktion einer zentralen „Drehscheibe“ übernehmen konnten. Nicht ohne Grund haben die aufnahmebereiten Landesherren nach 1685 an solchen zentralen Orten wie Frankfurt, Mannheim, Heidelberg, Emden oder Wesel – alles Orte mit älteren Erfahrungen von Exulantenaufnahme und einer langen Existenz von reformierten Kirchengemeinden – ihre Agenten placiert und ihre Einladungsschreiben verteilen lassen.12 11 Zu dem von den brandenburgischen Hohenzollern fortgeführten, ideellen Erbe der Kurfürsten von der Pfalz vgl. die Überlegungen von Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 444 ff. 12 Exemplarisch zur Bedeutung Frankfurts für den Hugenotten-Exodus vgl. Friedrich Scharff, Die Niederländische und die Französische Gemeinde in Frankfurt a. Main, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst N.F. 2 (1862), S. 245 – 317, Rudolf Jung, Der Große Kurfürst und die Frankfurter Reformierten, in: Festgabe für Friedrich Clemens Ebrard zur Vollendung seines 70. Lebensjahres am 26. Juni 1920 gewidmet von seinen Freunden, Frankfurt am Main 1920, S. 37 – 50, Wilhelm Beuleke, Hugenotten auf der Durchreise durch Frankfurt / Main von und nach Preußen, in: Altpreußische Geschlechterkunde 24 (1976), S. 319 – 322, Michelle Magdelaine, Frankfurt am Main – Drehscheibe des Refuge, in: Rudolf von Thadden/Michelle Magdelaine (Hrsg.), Die Hugenotten 1685 – 1985, 2. Aufl., München 1986, S. 26 – 37, dies., Le Refuge huguenot à Francfort-sur-le-Main 1685 – 1695, in: Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Hugenottengeschichte /Association Suisse pour l’Histoire du Refuge Huguenot. Bulletin 6 (1988), S. 6 – 25, Hans Bots, Une source importante pour le refuge huguenot. La correspondance diplomatique des résidents néerlandais à Francfort, Cologne et Ratisbone (1685 – 1687), in: Frédéric Hartweg / Stefi Jersch-

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Wichtig waren zudem auch ganz konkret kolonisatorische und praktisch organisatorische Erfahrungen betreffend Anwerbung, Logistik, Privilegierung und Konfliktlösung, welche zumindest einige protestantische Landesherrn und Stadtmagistrate seit mehreren Generationen mit der Existenz von Fremdenkolonien gemacht hatten – allen voran die streng lutherischen Stadtmagistrate von Frankfurt13 und Hamburg14, die zwar seit der Mitte Wenzel (Hrsg.), Die Hugenotten und das Refuge. Deutschland und Europa, Berlin 1990, S. 57 – 65, und ders., L’écho du refuge huguenot dans quelques villes allemandes. La correspondance diplomatique des résidents néerlandais à Francfort, Cologne et Ratisbone (1685 – 1687), in: Guillaume van Gemert / Hans Ester (Hrsg.), Grenzgänge. Literatur und Kultur im Kontext, Amsterdam 1990, S. 419 – 437, vgl. auch Theodor Schott, Frankfurt als Herberge fremder protestantischer Flüchtlinge. Vortrag, Halle 1886, und Ernst Karpf, „Und mache es denen hiernächst Ankommenden nicht so schwer . . .“ Kleine Geschichte der Zuwanderung nach Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1993, S. 49 ff. 13 Hermann Dechent, Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, Bd. 1, Leipzig, Frankfurt am Main 1913, S. 198 ff., Karl Bauer, Der Bekenntnisstand der Reichsstadt Frankfurt a. M. im Zeitalter der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 19 (1922), S. 194 – 251; 20 (1923), S. 127 – 174; 21 (1924), S. 1 – 36, 205 – 238; 22 (1925), S. 39 – 101, ders., Die Einstellung des reformierten Gottesdienstes in Frankfurt a. M. im Jahre 1561, Diss., Münster 1924, und Wolfgang Klötzer, Das Willfahrungsdekret für die reformierten Kirchen vom 15. November 1787, Frankfurt am Main 1987, vgl. außerdem die Hinweise bei Friedrich Clemens Ebrard, Die französisch-reformierte Gemeinde in Frankfurt am Main 1554 – 1904, Frankfurt am Main 1906, Gustav Adolf Besser, Geschichte der Frankfurter Flüchtlingsgemeinden 1554 – 1558, Halle 1906, Rudolf Jung, Die englische Flüchtlingsgemeinde in Frankfurt a. M. 1554 – 1559, Frankfurt am Main 1910, Karl Bauer, Die Beziehungen Calvins zu Frankfurt a. M., Leipzig 1920, Helmut E. A. Monnard, La fondation de l’église réformée française de Francfort s. M. Documents historiques, in: Der Deutsche Hugenott 17 (1953), S. 66 – 87, 108 – 128; 18 (1954), S. 11 – 32, 47 – 59, Ernst Herrenbrück, 400 Jahre Französisch-Reformierte Gemeinde Frankfurt / Main 1554 – 1954, Frankfurt am Main 1954, Helmut Cellarius, Aspekte der Hugenottenforschung. Hugenotten in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung Frankfurts und des Landes Hessen, in: Der Deutsche Hugenott 30 (1966), S. 4 – 16, 43 – 48, und Hermann Meinert, Die Eingliederung der Niederländischen Glaubensflüchtlinge in die Frankfurter Bürgerschaft 1554 – 1596. Auszüge aus den Frankfurter Ratsprotokollen, Frankfurt am Main 1981, vgl. auch Abraham Mangon, Kurze doch wahrhafftige Beschreibung der Geschichte der Reformierten in Frankfurt 1554 – 1712, hrsg. von Irene Dingel, Leipzig 2004. 14 Johann Martin Lappenberg, Von der Ansiedlung der Niederländer in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 1 (1841), S. 241 – 248, Carl Mönckeberg, Die Ausweisung der Englischen Exulanten aus Hamburg im Jahre 1553, in: ebd. 5 (1866), S. 186 – 201, Otto Beneke, Zur Geschichte der nichtlutherischen Christen in Hamburg 1575 bis 1589, in: ebd. 6 (1875), S. 318 – 344, Wilhelm Sillem, Zur Geschichte der Niederländer in Hamburg von ihrer Ankunft bis zum Abschluß des Niederländischen Contracts 1605, in: ebd. 7 (1883), S. 481 – 598, Jakob Müller, Zur Feier des 300jährigen Bestehens der evangelisch-reformierten Gemeinde Hamburg. Ein Rückblick auf ihre Anfänge, Hamburg 1902, Rudolf Hermes, Aus der Geschichte der Deutschen evangelisch-reformierten Gemeinde in Hamburg, Hamburg 1934, Robert von Roosbroeck, Die Niederlassung der Flamen und Wallonen in Ham-

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des 16. Jahrhunderts innerhalb ihrer Stadtmauern eine obrigkeitlich geschützte, für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens unverzichtbare calvinistische Minderheit besaßen, die ihrerseits jedoch bezüglich ihrer personen-, bürger- und kirchenrechtlichen Stellung starken Beschränkungen unterworfen war. Aber auch die brandenburgischen Hohenzollern verfügten über einen Schatz älterer kolonisatorischer Erfahrungen.15 Nicht nur im Herzogtum Kleve gab es beispielsweise aus der Zeit vor dem Übergang der Herrschaft auf die Hohenzollern mehrere calvinistische Flüchtlingsgemeinden, deren Kern die Nachkommen Niederländischer Exulanten bildeten16, sondern auch im Herzogtum Preußen waren schon in den frühen 1530er Jahren Mennoniten angesiedelt worden.17 Nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges wurden – mit mehr oder weniger Erfolg – in der Kurmark aus Zwecken der Repeuplierung Siedlungsprojekte mit calvinistischen Kolonisten aus den Niederlanden und der Eidgenossenschaft durchgeführt.18 Gerade die bemerkenswerten – und im Spektrum der Hugenotten-Privilegien deutscher Fürsten sehr weitreichenden – Zugeständnisse des Kurfürsten Friedrich Wilhelm an die Réfugiés im Potsdamer Edikt resultierten aus einer Summe kolonisatorischer Erfahrungen von rund anburg (1567 – 1605). Ein Überblick, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 49 / 50 (1964), S. 53 – 76, Karl-Egbert Schulze, Die Vorläufer der Hamburger Hugenotten 1622 – 1686. Bausteine zu einer wahren Geschichte der Hamburger französisch-reformierten Gemeinde, in: Archiv für Sippenforschung 28 (1968), S. 267 – 281, und Hans W. Wagner (Hrsg.), Hugenotten in Hamburg, Stade, Altona. Tagungsschrift zum Deutschen Hugenottentag, Hamburg, 23. – 26. April 1976, Obersickte 1976. 15 Zusammenfassend Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 426 ff. 16 Das Zentrum der niederländischen Exulantenansiedlungen im Herzogtum Kleve bildete die Stadt Wesel, vgl. Friedrich Wilhelm Cuno, Geschichte der wallonischund französisch-reformierten Gemeinde zu Wesel, Magdeburg 1895, Wilhelm Sarmenhaus, Die Festsetzung der niederländischen Religionsflüchtlinge im 16. Jahrhundert in Wesel. Ihre wirtschaftliche Bedeutung, Wesel 1913, Werner Simons, Die Einwanderung niederländischer Religionsflüchtlinge im 16. Jahrhundert an den Niederrhein und ihre Bedeutung für das Wirtschaftsleben, Diss., Köln 1955, Wilhelm H. Neuser, Die Aufnahme der Flüchtlinge aus England in Wesel, in: Weseler Konvent 1568 – 1968. Eine Jubiläumsschrift, Düsseldorf 1968, S. 28 – 49, Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972, und Achim Dünnwald, Konfessionsstreit und Verfassungskonflikt. Die Aufnahme der niederländischen Flüchtlinge im Herzogtum Kleve 1566 – 1585, Bielefeld 1998; vgl. auch Emil Stein, Geschichtliches über die evangelisch-reformierte Gemeinde Orsoy, Moers 1893, Walther Bösken, Geschichte der evangelischen Gemeinde zu Xanten im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, Wesel 1900, und ders., Die Niederländische Flüchtlingsgemeinde Goch und ihre „Ordinantien“ vom 18.3.1570, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins N.F. 26 (1903), S. 188 – 210. 17 Zusammenfassend der Handbuchartikel von Stefi Jersch-Wenzel, Mennoniten in Westpreußen seit dem 16. Jahrhundert, in: Bade / Emmer / Lucassen / Oltmer, Enzyklopädie Migration (FN 1), mit weiterführender Literatur. 18 Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 218 ff., 261 ff., 349 ff.

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derthalb Jahrhunderten hohenzollernscher Siedlungs- und Landeskultivierungspolitik und haben sicherlich maßgeblich dazu beigetragen, daß sich die auch zahlenmäßig große „Französische Kolonie“ in Brandenburg-Preußen insgesamt günstig entwickeln konnte. Ferner muß betont werden, daß die frankophonen Hugenotten und die einen okzitanischen Dialekt sprechenden Waldenser in allen – im übrigen ausschließlich protestantischen – Aufnahmeländern zu den Minderheiten zählten, nicht nur im Hinblick auf ihre fremde Sprache und Kultur, sondern auch in konfessioneller Hinsicht.19 Als Calvinisten waren sie nicht nur in lutherischen, sondern eben auch in reformierten Territorien beziehungsweise in lutherischen Territorien mit reformierten Landesherrn, wie Brandenburg-Preußen oder der Landgrafschaft Hessen-Homburg, insofern isoliert, weil sich die in ihrer Heimat auf der Grundlage der „Discipline écclesiastique“ und der „Confession de Foi“ entwickelte Kirchenorganisation und Kirchenpraxis der Hugenotten und Waldenser grundlegend von der im Reich ausgebildeten Form lutherischer und deutsch-reformierter Kirchentümer unterschied.20 Die Etablierung der calvinistischen Hugenotten und Waldenser war jedenfalls in dem nach dem Westfälischen Frieden ausgebildeten System des deutschen Konfessionsstaates, also auch mit dem Problem der Akzeptanz von konfessionellen Minderheiten, verbunden – und zwar nicht nur in den orthodox-lutherischen Aufnahmeländern, deren Stände und Geistlichkeit in aller Regel die Sorge umtrieb, daß mit der Niederlassung von Calvinisten der Bekenntnisstand des Landes gefährdet sei. Zu diesem konfessionellen beziehungsweise kirchenorganisatorischen Gegensatz kamen allerdings auch Konflikte, die sich aus der privilegierten Stellung der Hugenotten und Waldenser speisten.21 19 Zusammenfassend Matthias Asche, Religiöse und konfessionelle Minderheiten als Eliten in der Frühen Neuzeit – ein Widerspruch?, in: Markus Denzel / Matthias Asche / Matthias Stickler (Hrsg.), Religiöse und konfessionelle Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2006 und 2007 [erscheint St. Katharinen 2009]. 20 Auf die verschiedenen Varianten französisch-reformierter Kirchenorganisation in den Aufnahmeländern des Refuge, mithin der Lösung des zentralen Konflikts der synodal-presbyterialen Traditionslinie des französisch-reformierten Kirchenwesens mit den hierarchisch verfaßten lutherischen und deutsch-reformierten Landeskirchen – verbunden mit dem Anspruch der Landesherrn auf einen umfassenden Summepiskopat – wird an späterer Stelle ausführlicher eingegangen. 21 Das lange Zeit wirkmächtige historiographische Bild eines erfolgreichen Kulturtransfers und der konfliktfreien Aufnahme der Hugenotten wurde überzeugend in Frage gestellt; vgl. etwa die Studien von Andreas Reinke, Die Kehrseite der Privilegierung. Proteste und Widerstände gegen die hugenottische Niederlassung in den deutschen Territorialstaaten, in: Thomas Höpel/Katharina Middell (Hrsg.), Réfugiés und Emigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, S. 39 – 55 [leicht überarbeitet nochmals veröffentlicht unter dem Titel: „Man fügt ihnen unendlich Schmach zu.“ Proteste und Widerstände gegen die Huge-

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Die schon vor dem Widerruf des Edikts von Nantes erlassenen, in großer Zahl überlieferten Hugenotten- und Waldenser-Privilegien22, die neben deren Ausführungsbestimmungen, Präzisierungen und Verlängerungen23 zweifellos die wichtigsten normativen Quellen für die Beschäftigung mit der Thematik von Autonomie und Selbstverwaltung der im frühmodernen Staat etablierten Fremdengemeinden darstellen, bildeten ein wichtiges Instrument der Landesherren zur Durchsetzung spezifischer politischer Ziele.24 Landesherrliche Privilegienpolitik – ein Ausdruck des Fortwirkens des „Personenverbandsstaates“ in der Frühen Neuzeit – konnte weitgehend unabhängig von Einspruchsmöglichkeiten konkurrierender politischer Entscheidungsträger in Territorien neue, unmittelbar dem Landesherrn unterstellte, loyale Untertanenverbände in Territorien implantieren, auf jeden Fall jedoch tragfähige landesherrliche Klientelsysteme schaffen.25 Dieselnotten in den deutschen Staaten, in: Sabine Beneke / Hans Ottomeyer (Hrsg.), Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten. Ausstellungskatalog, Berlin, Wolfratshausen 2005, S. 65 – 72], Katharina Middell, Interessenkonflikte zwischen Magistrat und Regierung? Gestaltungsspielräume der reformierten Kaufleute bei der Verbesserung ihrer Wirtschafts- und Lebensbedingungen 1750 – 1800, in: Ulrich Heß (Hrsg.), Wirtschaft und Staat in der Industrialisierung Sachsens 1750 – 1930, Leipzig 2003, S. 251 – 267, Jens Häseler, Französisch sein im Deutschland des 18. Jahrhunderts – Fluch oder Privileg?, in: ders. /Albert Meier (Hrsg.), Gallophobie im 18. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 221 – 228, oder Barbara Dölemeyer, Privileg – Konflikt – Integration. Die Aufnahme der Hugenotten in Hessen-Homburg und Nassau-Usingen, in: Jahrbuch Hochtaunuskreis 16 (2008), S. 255 – 269. Ein gelungener Abriß der gerade in diesem Punkt problematischen hugenottischen Historiographietradition findet sich bei Ulrich Niggemann, Konflikte um Immigration als „antietatistische“ Proteste? Eine Revision der Auseinandersetzungen bei der Hugenotteneinwanderung, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 37 – 61, hier S. 40 ff. 22 Eigentümlicherweise gibt es nur wenige Sammeleditionen von Hugenotten- und Waldenser-Privilegien; vgl. insbesondere Dieter Mempel (Hrsg.), Gewissensfreiheit und Wirtschaftspolitik. Hugenotten- und Waldenser-Privilegien 1681 – 1699, Trier 1986, Theo Kiefner (Hrsg.), Die Privilegien der nach Deutschland gekommenen Waldenser, Stuttgart, Berlin, Köln 1990, und Thomas Klingebiel (Hrsg.), Die Hugenotten in den welfischen Landen. Eine Privilegiensammlung, Bad Karlshafen 1994. 23 Hier sei nur knapp auf den wichtigen Umstand verwiesen, daß sich die Inhalte einmal erteilter Privilegien durchaus ändern konnten, vgl. hierzu etwa die Hinweise von Heinz Mohnhaupt, Confirmatio privilegiorum, in: Barbara Dölemeyer / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt am Main 1999, S. 45 – 63. 24 Hierzu vgl. die Überlegungen von Asche, Religiöse und konfessionelle Minderheiten (FN 19), und ders., Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer. Perspektiven für die Forschung aus der Sicht der sozialhistorischen Migrations- und der vergleichenden Minderheitenforschung, demnächst in: Michael North (Hrsg.), Kultureller Austausch in der Frühen Neuzeit / Cultural Exchange in the Early Modern Period [erscheint Köln, Weimar, Wien 2009]. 25 Dies wurde exemplarisch für Brandenburg-Preußen herausgearbeitet, wo es unter dem Großen Kurfürsten einen regelrechten Elitenaustausch gegeben hatte; vgl. die mit prosopographisch-kollektivbiographischen Methoden erstellte Studie von

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ben Ziele verbanden sich auch mit der Anwendung des ebenfalls älteren Fremdenrechts26, das – etwa im Falle des Kurfürsten von Sachsen27, aber auch seitens der Stadtmagistrate von Frankfurt, Hamburg oder Lübeck28 – an die Stelle von förmlich gewährten Privilegien trat, aber den Réfugiés insofern deutlich schwächere Rechtspositionen einräumte, als jene den minderen Status von Schutzverwandten oder Beisassen erhielten. Obrigkeitliches Eigeninteresse – verbunden mit spezifischen etatistischen Erwartungen an die angeworbenen, teils hochprivilegierten, fremden Einwanderergruppen, wie etwa Kapitalzustrom, Technologietransfer, Kulturimport, Erhöhung des Steueraufkommens und Bevölkerungswachstum, zudem auch das Motiv der praktizierten christlichen Nächstenliebe gegenüber einer bedrängten Minderheit von Glaubensverwandten – war in vielen Fällen Auslöser für die Gründung von privilegierten Handels- und Festungsstädten, von Vor- und Neustädten auf dem von ständischer Mitsprache freien Domanium oder auf dem exemten Bezirk von Residenzen. Die nach 1685 gegründeten Berliner Vorstädte, die Kasseler Oberneustadt, die Erlanger Neustadt, die Gewerbestadt Hameln, aber auch die Residenzstädte Celle und Lüneburg, ja sogar die Miniaturstadt Charlottenberg in der Grafschaft Holzappel-Schaumburg im Westerwald, erhielten durch den Zuzug von Hugenotten und Waldensern den Charakter von privilegierten – zumal jurisdiktionell exemten – Exulantenstädten.29 Parallel dazu entstanden auf

Peter Bahl, Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur Amtsträgerschaft Brandenburg-Preußens, Köln, Weimar, Wien 2001, zudem auch Ernst Opgenoorth, „Ausländer“ in Brandenburg-Preußen als leitende Beamte und Offiziere 1604 – 1871, Würzburg 1967, und Jens Häseler, Franzosen im Dienste des Aufstiegs Preußens, in: Günther Lottes (Hrsg.), Vom Kurfürstentum zum „Königreich der Landstriche“. Brandenburg-Preußen im Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung, Berlin 2004, S. 175 – 192. 26 Hierzu vgl. den Handbuchartikel von Karl Härter, Fremde, Fremdenrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 8 (2008), Sp. 1791 – 1798. 27 Hierzu vgl. die Hinweise bei Katharina Middell, Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur, Leipzig 1998, mit weiterführender Literatur. 28 Zur Hugenotten-Aufnahme in Frankfurt vgl. die Literaturhinweise in FN 12. Zur Hugenotten-Aufnahme in Hamburg: Théodore Barrelet, L’èglise réformée française de Hambourg. Notice historique publié à l’occasion du 300e anniversaire de l’étabissement des réfugiés sur la rive droite de l’Elbe 1602 – 1902, Lausanne 1902, Rudolf Hermes, Aus der Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde in Hamburg, Hamburg 1934, Peter Boué, Die französisch-reformierte Gemeinde in Hamburg, in: Der Deutsche Hugenott 32 (1968), S. 49 – 55, und die Beiträge im Sammelband von Wagner, Hugenotten in Hamburg, Stade, Altona (FN 14). Zur Hugenotten-Aufnahme in Lübeck: Paul Grundmann, Französische Flüchtlinge in Lübeck. Réfugiés und Emigrès (Hugenotten und Emigranten), Schönberg 1920, ders., Französische Flüchtlinge in Lübeck, in: Der Deutsche Hugenott 21 (1957), S. 73 – 92, und Wilhelm Beuleke, Die landsmannschaftliche Gliederung der drei hanseatischen Réfugiégemeinden Bremen, Hamburg und Lübeck, in: Wagner, Hugenotten in Hamburg, Stade, Altona (FN 14), S. 49 – 56.

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dem Lande, sofern die Réfugiés nicht in bereits bestehenden Orten – entweder als Minderheit oder als Mehrheit – angesiedelt wurden30, separierte, planmäßig angelegte „welsche Dörfer“.31 29 Dabei gaben übrigens in vielerlei Hinsicht die bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts planmäßig angelegten Exulantenstädte das Vorbild für die auf dem Reißbrett entstandenen Hugenottenstädte des späteren 17. Jahrhunderts ab; vgl. exemplarisch zur Gründung der Neustadt Erlangen Andreas Jakob, Die Neustadt Erlangen. Planung und Entstehung, Erlangen 1986, und ders., Zur Planung und Entstehung der Neustadt Erlangen. Die Bedeutung von Hanau und Mannheim als Vorbild, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 37 (1989), S. 185 – 205. Zu dem in der Forschung eingeführten Terminus der sogenannten „Exulanten-“ oder „Hugenottenstadt“ vgl. Margret Zumstrull, Die Gründung von „Hugenottenstädten“ als wirtschaftspolitische Maßnahme merkantilistischer Landesherrn. Am Beispiel Kassel und Karlshafen, in: Volker Press (Hrsg.), Städtewesen und Merkantilismus in Mitteleuropa, Köln, Wien 1983, S. 156 – 221, Franz Petri, Heinz Stoobs Begriff der „Exulantenstadt“ im Lichte der neueren Forschung. Zur Entstehung frühneuzeitlicher Festungen und Stadtbefestigungen in den nördlichen Niederlanden zwischen 1570 und 1680, in: Helmut Jäger (Hrsg.), Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, Bd. 2, Köln, Wien 1984, S. 844 – 874, Hans Reuther, Hugenottensiedlung und Städtebau in Deutschland, in: Wegner, 300 Jahre Hugenotten in Hessen (FN 3), S. 175 – 200, Rudolf Endres, Das „Moderne“ bei den hugenottischen Städtegründungen, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Exodus der Hugenotten. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis, Köln, Wien 1985, S. 155 – 175, Volkmar Greiselmayer, Zur Form der Hugenottenstädte in Deutschland, in: Friederich, 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen (FN 8), S. 43 – 52, Andreas Jakob, Die Legende von den „Hugenottenstädten“. Deutsche Planstädte des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Michael Maaß (Hrsg.), „Klar und lichtvoll wie eine Regel.“ Planstädte der Neuzeit. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1990, S. 181 – 198, Monika Vogt, Die Ansiedlungen der französischen Glaubensflüchtlinge in Hessen nach 1685. Ein Beitrag zur Problematik der sogenannten Hugenottenarchitektur, Darmstadt, Marburg 1990, und Willi Stubenvoll, Die deutschen Hugenottenstädte, Frankfurt am Main 1990. 30 Dies war insbesondere die Praxis der brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und Friedrich III. in den noch immer von den verheerenden demographischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges gezeichneten Dörfern der Uckermark der Fall; vgl. Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 208 ff., 302 ff., außerdem Margarete Pick, Die französischen Kolonien in der Uckermark, Prenzlau 1935, und Karl Manoury, Die Geschichte der französisch-reformierten Provinzgemeinden, Berlin 1961. 31 Dies wird beispielsweise auch in der Namensgebung für die Neusiedlungen deutlich. Bischoff, Lexikon deutscher Hugenotten-Orte (FN 7), S. 280 ff., nennt zahlreiche Exulantensiedlungen, welche bei ihrer Gründung den Ortsnamenszusatz „Welsch-“ erhalten hatten, allerdings diesen später wieder verloren haben. So wurden etwa anfangs die Réfugiés-Siedlungen bei Neu-Isenburg, und Oppenheim, aber auch die spätere Waldenser-Kolonie Waldensberg in der Grafschaft Isenburg-Büdingen-Wächtersbach „Welschdorf“ genannt. Explizit als „Welsche Dörfer“ wurden die hessen-darmstädtischen Kolonien Rohrbach, Wembach und Hahn im Odenwald sowie die zur Grafschaft Nassau-Saarwerden gehörigen Siedlungen niederländischer Exulanten in Altenweiler, Burbach, Diedendorf, Eyweiler, Goerlingen, Kirrberg und Rauweiler bezeichnet. Als „Welsche Gasse“ verstanden die Einheimischen die Region mit zahlreichen Waldenser-Dörfern entlang der Enz zwischen Mühlacker und

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Die reich überlieferten und in aller Regel sogar mehrfach edierten Hugenotten- und Waldenser-Privilegien, die übrigens eigentümlicherweise nur in Ausnahmefällen Gegenstand echter komparatistischer Forschung gewesen sind32, beinhalteten neben kirchenorganisatorischen auch zivil- und Dürrmenz. Lediglich bei einem Ort – der 1701 neben der älteren Siedlung (Deutsch-) Neureut bei Karlsruhe entstandenen Kolonie Welschneureut in der Markgrafschaft Baden-Durlach – ist noch heute der ältere Namenszusatz „Welsch-“ erhalten geblieben; vgl. Friedrich Askani, Welschneureut. Die Waldenser-Kolonie bei Karlsruhe, Karlsruhe 1924, Gustav Neef, Zur 250-Jahrfeier der Waldensergemeinde NeureutSüd (früher Welschneureut), Karlsruhe 1951, Heinrich Gros, Geschichtliches über die Waldensergemeinde Welschneureut, Neureut 1951, Wolfgang H. Collum, Die fremdländischen Protestanten in der Kolonie Welsch-Neureut, in: Der Deutsche Hugenott 34 (1970), S. 107 – 113; 35 (1971), S. 14 – 22 [auch in: Badische Familienkunde 15 (1972), S. 86 – 96], ders., Hugenotten in Baden-Durlach. Die französischen Protestanten in der Markgrafschaft Baden-Durlach, insbesondere in Friedrichstal und Welsch-neureut, Ubstadt-Weiher 1999, und Mark Häberlein, „Welsche“ und „Teutsche“ in nordbadischen Gemeinden des frühen 18. Jahrhunderts, in: André Holenstein / Sabine Ullmann (Hrsg.), Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit, Epfendorf 2004, S. 101 – 123. Die Praxis der separierten französischen Dörfer war die Regel bei den Waldenser-Ansiedlungen, vgl. etwa Louis Boucher, Les villages français en Allemagne, Rouen 1885, Georg Freudenberger, Vom „welschen Dorf“ zur Industriestadt. Ein heimatkundlicher Beitrag zur 250-Jahrfeier der Stadt Neu-Isenburg vom 23. Juli bis zum 31. Juli 1949, Neu-Isenburg 1949, Friedrich Vogt, „Welsche“ Dörfer, „welsche“ Namen und „welsche“ Sprache in Württemberg-Baden. Zu den Jubiläumsfeiern unsrer Waldenser, in: Schwäbische Heimat 1 (1950), S. 217 – 219, Kurt Scharlau, Planerische Gesichtspunkte bei der Anlage der Hugenottensiedlungen in Hessen-Kassel, in: Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 6 (1956), S. 100 – 130, Lothar Zögner, Hugenottendörfer in Nordessen. Planung, Aufbau und Entwicklung von siebzehn französischen Emigrantenkolonien. Eine Studie zur historisch-geographischen Landeskunde, Marburg 1966, und Gudrun Petasch, Das „welsche Dorf. Zur Gründung NeuIsenburgs und seiner weiteren Entwicklung im 18. Jahrhundert, in: Heidi Fogel / Matthias Loesch (Hrsg.), „Aus Liebe und Mitleiden gegen die Verfolgten.“ Beiträge zur Gründungsgeschichte Neu-Isenburgs, Neu-Isenburg 1999, S. 167 – 256, vgl. auch Brigitte Köhler, Deutsche als „Fremde“ unter den französischen Waldensern in Wembach, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde N.F. 55 (1997), S. 177 – 186. 32 Zu nennen sind insbesondere die zahlreichen komparatistischen Studien von Barbara Dölemeyer, Aspekte zur Rechtsgeschichte des deutschen Refuge, Sickte 1988, dies., Die Aufnahme der Hugenotten in deutschen Territorien. Allgemeine politische, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen, in: Fogel / Loesch, „Aus Liebe und Mitleiden gegen die Verfolgten.“ (FN 31), S. 21 – 81, dies., Aspects juridiques de l’accueil des Huguenots dans les principautés allemandes, in: Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Hugenottengeschichte /Association Suisse pour l’Histoire du Refuge Huguenot. Bulletin 25 (2004), S. 17 – 30, und dies., Rechtliche Rahmenbedingungen der Hugenottenaufnahme in deutschen Territorien, in: ebd., S. 31 – 42; vgl. außerdem Martin Preetz, Die Privilegien für die deutschen Hugenotten, in: Der Deutsche Hugenott 12 (1940), S. 18 – 30, 102 – 112, 150 – 159; 13 (1941), S. 29 – 43; 25 (1961), S. 76 – 85, 107 – 123; 26 (1962), S. 7 – 22, Jürgen Weitzel, Landesherrliche Administrationsmaßnahmen zur Eingliederung hugenottischer Flüchtlinge, in: Duch-

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strafrechtliche sowie wirtschaftliche Vergünstigungen und Sonderrechte. Dazu gehörte vor allem die Zusicherung der Ausübung des Religionsexerzitiums und die Erlaubnis zur Bildung französisch-reformierter Kirchengemeinden, aber auch die Errichtung korporativ verfaßter und institutionell ausgestalteter Gemeinwesen (Kolonien) – vielfach mit speziellen zivilund strafrechtlichen Regelungen das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung und zu anderen Fremdengruppen betreffend, mithin die Mitwirkung bei beziehungsweise die völlige Exemtion von der lokalen Rechtsprechung. Dazu kamen bedeutende personenrechtliche Vergünstigungen, wie individuelle Niederlassungsfreiheit und freier Abzug oder die Befreiung von Leibeigenschaft, Militärdienst und Einquartierung sowie vielfältige obrigkeitliche „Starthilfen“ bei der Etablierung, vor allem Steuer-, Abgabenund Zollfreiheit, meist begrenzt auf einen bestimmten Zeitraum (Freijahre), finanzielle Subventionen beim Hausbau, beim Erwerb von Grundstücken, Vieh und Saatgut. Spezialprivilegien gewährten Gewerbetreibenden großzügige Darlehen und regelten deren Stellung zu den örtlichen Zünften.33 Allerdings muß ausdrücklich betont werden, daß nur ein kleinerer Teil der Réfugiés zur obrigkeitlich umworbenen Oberschicht gehörte, während die meisten von diesen, insbesondere die Waldenser aus den im französischsavoyischen Grenzraum liegenden Tälern in den Cottischen Alpen, als einfache Bauern und Handwerker in die Aufnahmeländer kamen – ein Unterschied übrigens, der für die konkrete inhaltliche Ausgestaltung der territorialen Privilegienpolitik und den gewährten Grad von Autonomie nicht unterschätzt werden darf. Dagegen gab es für Manufakturisten, spezialisierte Handwerker, erfolgreiche Offiziere, Prinzenerzieher und Sprachlehrer einen internationalen Arbeitsmarkt.34 Nur dadurch erklärt sich die Anwerbung der konfessionsfremden Hugenotten auch seitens der lutherischen Lanhardt, Der Exodus der Hugenotten (FN 29), S. 121 – 140, Thomas Klingebiel, Aspekte zur Ansiedlung von Hugenotten in den norddeutschen Territorien, in: Hartweg / Jersch-Wenzel, Die Hugenotten und das Refuge (FN 12), S. 67 – 79, Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 437 ff., Lachenicht, Die Freiheitskonzession des Landgrafen von Hessen-Kassel (FN 3), und Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681 – 1697), Köln, Weimar, Wien 2008. 33 Zusammenfassend Barbara Dölemeyer, „Tractat“ oder „Begnadigung“? Vertragselemente in Exulantenprivilegien, in: Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie / Liberté sociale et lien contractuel dans l’histoire du droit et la philosophie. Zweites deutsch-französisches Symposion vom 12. bis 15. März 1997 in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Frankfurt am Main 1999, S. 143 – 164, vgl. auch dies., Privileg oder Vertrag? Valkeniers Verhandlungen mit den deutschen Fürsten, in: Albert de Lange / Gerhard Schwinge (Hrsg.), Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser um 1700, Ubstadt-Weiher 1989, S. 159 – 174. 34 Zusammenfassend Asche, Glaubensflüchtlinge und Kulturtransfer (FN 24), mit weiterführender Literatur.

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desherren. Kapitalkräftigkeit, technologische Spezialqualifikationen oder geistige Höchstleistungen konnten vielen Angehörigen der bereits in Frankreich zur protestantischen Oberschicht zählenden Hugenotten – freilich mit Hilfestellung ihrer meist fürstlichen Förderer –, den sozialen Aufstieg in den Kreis der gesellschaftlichen Eliten des jeweiligen Aufnahmelandes ermöglichen.35 Entgegen des in der stark hagiographisch gefärbten hugenottischen Geschichtsschreibung entworfenen Bildes von armen, vertriebenen, dankbar die fürstliche Gunst eines sicheren Zufluchtsortes empfangenden Exulanten36 kamen viele Hugenotten nicht als Bittsteller ins Land, sondern wurden gezielt als Elite angeworben und konnten sich folglich als selbstbewußte Investoren beziehungsweise Produzenten oder Anbieter von im Aufnahmeland begehrten Waren verstehen. Mit dem Recht auf persönliche Freiheit und freien Abzug hatten sie also probate Druckmittel gegen obrigkeitliche Privilegienverstöße in der Hand. Über solche Möglichkeiten verfügten die – deutlich geringer geschätzten und zunächst nicht speziell umworbenen – bäuerlichen und kleinhandwerklichen Hugenotten und Waldenser in aller Regel nicht. Doch auch hier konnte eine Drohung mit Abzug Privilegienverletzungen abstellen, wie in den 1720er Jahren die Beispiele zahlreicher nach Hessen-Kassel abziehender Waldenser aus Württemberg und Baden-Durlach37 oder die Auswan35

Zusammenfassend ders., Religiöse und konfessionelle Minderheiten (FN 19). Zur hugenottischen Geschichtsschreibung vgl. Myriam Yardeni, Erudition et enseignement. L’historiographie huguenote dans la Prusse des lumière, in: Francia 9 (1981), S. 584 – 601, dies., Repenser l’histoire. Aspects de l’historiographie huguenote des Guerres de Religion à la Révolution française, Paris 2000, Viviane Prest, Prediger, Aufklärer, Hugenotten und Preußen. Identitätsfragen am Ende der französischen Kolonie anhand der Mémoires pour servir à l’histoire des réfugies français dans les etats du Roi (1782 – 1799), in: Höpel / Middell, Réfugiés und Emigrés (FN 21), S. 76 – 94, und dies. [= Viviane Rosen-Prest], L’historiographie des huguenots en Prusse au temps des Lumières. Entre mémoire, histoire et légende. J. P. Erman et P. C. F. Reclam, Mémoires pour servir à l’histoire des réfugiés françois dans les Etats du Roi (1782 – 1799), Paris 2002. 37 Ausführlich zu den verschiedenen Auswanderungsplänen vgl. Theo Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg aus dem Val Cluson durch die Schweiz nach Deutschland 1532 – 1820 / 30, Bd. 3, Göttingen 1995, S. 907 ff.; vgl. auch Siegfried Maire, Über württembergische Waldenserkolonisten in den Jahren 1717 bis 1720, Berlin 1911, und ders., Ph. Reinhold Hecht, preußischer Resident in Frankfurt am Main, in seiner Tätigkeit für Kolonistenanwerbungen in den Jahren 1717 – 1720, in: Zeitschrift der Altertumsgesellschaft Insterburg 15 (1914), S. 1 – 14. In Hessen-Kassel entstanden im Jahre 1722 – während der „dritten Einwanderungswelle“ – die letzten genuinen Waldenser-Kolonien Gottstreu und Gewissenruh, vgl. Friedrich Herwig, Gottstreu und Gewissenruh. Zwei Waldenserkolonien an der Weser 1722 – 1922. Zur Feier des 200jährigen Bestehens, Uslar 1922 [ND Berlin 1936], Kassel 1922, Jochen Desel, Waldensergemeinde Gewissenruh. Wege in die neue Heimat, Hofgeismar 1963 [in erweiterter Neufassung wieder veröffentlicht unter dem Titel: Gewissenruh und Gottstreu 1722 – 1972, Hofgeismar, Melsungen 1972], ders., Gewissenruh und Gottstreu, Landkrs. Kassel, in: ders. / Mogk, Hugenotten und Waldenser (FN 2), S. 258 – 267, 36

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derung uckermärkischer und hessen-kasselscher Réfugiés-Nachkommen in die neugegründete dänische Gewerbestadt Fredericia zeigt.38 Für Kleinstterritorien jedenfalls konnte die Etablierung oder der Abzug von ländlichen Kolonisten von enormer wirtschaftlicher Bedeutung sein. Es war eben ein Unterschied, wenn 400 Waldenser in der kleinen, nur dreizehn Dörfer umfassenden Grafschaft Holzappel-Schaumburg oder 2.000 von diesen im großen Herzogtum Württemberg mit Abzug drohten. Unter diesem zuletzt skizzierten Gesichtspunkt betrachtet, wird einmal mehr deutlich, daß das ältere migrationsgeschichtliche Modell der sogenannten „push-“ und „pullFaktoren“ nur unzureichende Erklärungsmuster bietet, sondern bei Migrationsphänomenen vielmehr neben den obrigkeitlich gewährten Aufnahmebedingungen gleichermaßen die Akteursebene der Migranten und Migrantengruppen zu betrachten ist, mithin von individuellen und gruppenspezifischen Erwartungshaltungen und damit von ganz unterschiedlichen „Migrationsoptionen“ auszugehen ist.39 Anhand der skizzierten günstigen Rechtspositionen sollte deutlich geworden sein, daß die französischen Immigranten und ihre Angehörigen im Vergleich zu den sie umgebenden deutschen Untertanen jedenfalls hochprivilegiert waren, was im Alltag freilich zu einer Vielzahl von Konflikten, etwa mit den Zünften, den lokalen Amtleuten oder der örtlichen Geistlichkeit, führte.40 In einem gesamteuropäischen Vergleich der Hugenotten-PrivileThomas Ende, Gottstreu und Gewissensruh. Zwei Waldenserkolonien an der Oberweser, Oberweser 1988, ders., Waldenserdörfer Gottstreu und Gewissenruh. Beiträge zur Orts- und Heimatgeschichte und zum Dorfleben 1722 – 1997, Oberweser 1997, und Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (wie oben), S. 907 ff. 38 Helmut Burmeister, „Gott bewahre uns davor, nach Fredericia zu kommen.“ Zur Gründung und Geschichte einer dänischen Asylantenstadt, in: Wegner, 300 Jahre Hugenotten in Hessen (FN 3), S. 121 – 128, vgl. auch Jacob Ludwig, Die reformierte Gemeinde in Fredericia. Ein Beitrag zur Geschichte der französisch-reformierten Kolonien im heutigen Dänemark, Bremen, Leipzig, Fredericia 1886 [mit einer Übersicht über die aus der Uckermark stammenden Réfugiés, S. 30 f.], Wilhelm Staehelin, Von den Reformierten in Fredericia 1719 – 29. September – 1919. Erinnerungsblatt, Fredericia 1919, und Alfred Jeppensen, Kongens kolonister. De fransk-reformerte i Fredericia, Kopenhagen 1982. 39 In diesem Sinne vgl. die Überlegungen von Schunka, Glaubensflucht als Migrationsoption (FN 8). 40 Die zahlreichen Konflikte im Kontext der Etablierung der Hugenotten wurden von der älteren Forschung zumeist auf konfessionelle oder wirtschaftliche Gegensätze zwischen der Minderheits- und der Mehrheitsgesellschaft beziehungsweise auf Widerstände der Immigranten gegen die Obrigkeiten zurückgeführt. Gegen solche monokausalen Erklärungsmuster richtet sich die jüngst erschienene Studie von Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 115 ff., in welcher herausgearbeitet wurde, daß die Konflikte doch letztlich punktuell begrenzt blieben und Ausdruck der mühsamen Verhandlungen über die Grenzen des Tolerierten und Tolerierbaren zwischen der Mehrheits- und Minderheitskultur waren, vgl. noch expliziter ders., Konflikte um Immigration (FN 21).

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gien41 kann eine bemerkenswerte kirchen-, verwaltungs-, personen- und besitzrechtliche Sonderstellung der in den Territorien und Städten des Reiches aufgenommenen Réfugiés beobachtet werden – und zwar sowohl gegenüber anderen Fremdengruppen und Minderheiten, wie Katholiken, Mennoniten oder Juden, als auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung. In zumindest einem belegten Fall – nämlich in dem 1722 ausgestellten Freiheitsbrief des Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braufels für die beiden einzigen Fremdenkolonien in seinem kleinen Territorium in Daubhausen und Greifenthal – ging die Bevorzugung der Réfugiés sogar so weit, daß ein ganzes Dorf (Daubhausen bei Wetzlar) von der einheimischen Bevölkerung geräumt und den aus der Kurpfalz stammenden Nachkommen der wallonischen Flüchtlinge überlassen werden mußte.42 41 Ein solcher Vergleich kann freilich an dieser Stelle nicht erfolgen. Hingewiesen sei jedoch auf die zahlreichen Studien von Barbara Dölemeyer, Die Aufnahmeprivilegien für Hugenotten im europäischen Refuge, in: dies. / Mohnhaupt, Das Privileg (FN 23), S. 303 – 328, dies., Hugenotten im europäischen Refuge. Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Aufnahme, in: Der Deutsche Hugenott 63 (1999), S. 75 – 85, dies., Huguenots and their legal Conditions in the european Countries of Refuge, in: Huguenot Foundation of South Africa, Bulletin 39 (2002), S. 120 – 129, dies., Ökonomie und Toleranz. Wirtschaftliche Ziele, Mittel und Ergebnisse der Hugenottenaufnahme in europäischen Ländern, in: Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Wirtschaft und Wirtschaftstheorien in Rechtsgeschichte und Philosophie / Économie et théories économiques en histoire du droit et en philosophie. Viertes deutsch-französisches Symposion vom 2. – 4. Mai 2002 in Wetzlar, Frankfurt am Main 2004, S. 63 – 92, dies., Rechte religiöser Minderheiten in Deutschland und Frankreich in historischer Sicht, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Multireligiosität im vereinten Europa. Historische und juristische Aspekte, Göttingen 2003, S. 16 – 29, dies., Aufnahme und Integration der Hugenotten im europäischen Refuge. Rechtliche Rahmenbedingungen, in: Beneke /Ottomeyer, Zuwanderungsland Deutschland (FN 21), S. 35 – 43, dies., Sonderrechte reformierter Flüchtlingsgemeinden und ihre Behauptung über Jahrhunderte, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung, Göttingen 2005, S. 14 – 30, und dies., Die Hugenotten (FN 4), S. 50 ff., vgl. außerdem Paul-Lucien Néve, Le statut juridique des réfugiés huguenots. Quelques remarques comparatives, in: Anton Struycken / Victor Marie (Hrsg.), La condition juridique de l’étranger, hier et aujourd’hui. Actes du Colloque organisé à Nimègue 9 – 11 mai 1988, Nijmegen 1988, S. 223 – 246, Thomas Klingebiel, Huguenot Settlements in Central Europe, in: Hartmut Lehmann / Hermann Wellenreuther/Renate Wilson (Hrsg.), In Search of Peace and Prosperity. New Settlements in eighteenth-Century Europe and America, University Park [Pa.] 2000, S. 39 – 67, und Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32). 42 Johannes Manskopf, Die Gründung der Hugenottengemeinden Daubhausen und Greifenthal, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 11 (1929), S. 58 – 74 [auch in: Der Deutsche Hugenott 2 (1930), S. 19 – 30], Theo Kiefner, DaubhausenGreifenthal bis 1720, in: Der Deutsche Hugenott 51 (1987), S. 77 – 85, und ders., Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 879 ff.; vgl. außerdem Wilhelm Arabin, Festschrift der Hugenottengemeinden Daubhausen und Greifenthal. 250 Jahre 1685 – 1935, o. O. 1935, und ders., Hugenottensiedlung Daubhausen-Greifenthal seit 1685. Ursprung und Entwicklung. Festschrift zum 300jährigen Bestehen der Siedlung, Daubhausen 1985.

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Lediglich eine flüchtige Durchsicht der Hugenotten- und Waldenser-Privilegien kann zum wenig differenzierten Schluß verleiten, daß sich die jeweiligen Regelungen einander ähneln. Eine tiefere Beschäftigung mit einem dezidiert komparatistischen Ansatz zeigt rasch, daß die in den Privilegien gewährten Einzelpositionen, mithin die konkrete landesherrliche Politik gegenüber den Hugenotten und Waldensern erheblich voneinander abwichen. Die breite Varianz landesherrlicher Hugenotten- und Waldenser-Politik spiegelt somit die territoriale und konfessionelle Vielgestaltigkeit des Alten Reiches und seiner Glieder wider. Freilich gab es Privilegientexte, die öfter als Muster für andere herangezogen wurden, was sich allein schon durch die enge Kommunikation zwischen den die Flüchtlinge aufnehmenden, zudem noch eng miteinander verwandten protestantischen Reichsfürsten erklärt. Bei den Waldenser-Privilegien der Jahre um 1700 kann man sogar eine sehr enge inhaltliche Parallelität – gewissermaßen „PrivilegienFamilien“ – feststellen. Dies rührt freilich daher, daß die Ausschaffung der sich bereits zuvor einige Zeit lang in den evangelischen Kantonen der Eidgenossenschaft aufhaltenden Waldenser durch die Vermittlung des niederländischen Flüchtlingskommissars Pieter Valkenier43 wesentlich geordneter vollzogen hatte als ein Jahrzehnt zuvor der mangels königlicher Erlaubnis letztlich illegale, überstürzte und zeitlich gedehnte Hugenotten-Exodus aus Frankreich.44 So wurde die im Frühjahr 1699 maßgeblich von Valkenier in Zusammenarbeit mit Deputierten einzelner Waldenser-Brigaden ausgehandelte „Déclaration en faveur des Vaudois“ des Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt zum Vorbild entsprechender Privilegien in HessenHomburg, Holzappel-Schaumburg, Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach und schließlich auch in Württemberg.45 Vor diesem skizzierten Hintergrund betrachtet, müssen die Hugenottenund Waldenser-Privilegien, deren weitere inhaltliche Ausgestaltung durch Folgeverordnungen sowie schließlich die verwaltungs-, rechts- und kirchenorganisatorische Realität in den einzelnen französischen Kolonien als Produkte fortwährender, keineswegs mit der Privilegienvergabe abgeschlossener kommunikativer Prozesse interpretiert werden.46 Diese skizzierte Pro43 Zu Pieter Valkenier vgl. zuletzt den wichtigen Sammelband von de Lange/ Schwinge, Pieter Valkenier (FN 33), außerdem Matthias Senn, Petrus Valkenier. Erster niederländischer Gesandter in Zürich und Mahner der Eidgenossenschaft, Zürich 1990. 44 Hierzu vgl. knapp den Handbuchartikel von Matthias Asche, Waldenser in Mitteleuropa seit der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer, Enzyklopädie Migration (FN 1), S. 1087 – 1090, mit weiterführender Literatur. 45 Dölemeyer, Privileg oder Vertrag? (FN 33). Die komplizierten Privilegienverhandlungen werden detailliert rekonstruiert bei Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), passim. 46 Dies ist ein wichtiges Ergebnis der Studie von Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32); vgl. auch ders., Die Hugenotten in Branden-

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zeßhaftigkeit muß im Auge behalten werden, wenn im folgenden am Beispiel der schon bald nach der Etablierung der Hugenotten und Waldenser beginnenden Institutionalisierung in den Bereichen Verwaltung, Rechtsprechung und Kirchenorganisation der Frage nach Entstehung, Entwicklung und Grenzen von Selbstverwaltung der französischen Kolonien nachgegangen wird. Es soll versucht werden, eine Typologie zu präsentieren, die freilich wegen der im Detail von Territorium zu Territorium sehr variantenreichen und doch stark differenzierten Entwicklungen notgedrungen einen holzschnittartigen Charakter tragen muß. Allerdings werden nur auf diese Weise die unterschiedlichen Formen der obrigkeitlich gewährten Autonomie deutlich. Die Konzentration auf die drei ausgewählten Bereiche trägt der Überlegung Rechnung, daß Verwaltung, Rechtsprechung und Kirchenorganisation der Réfugiés-Kolonien Kernelemente vormoderner Selbstverwaltung bildeten, zumal die verschiedenen Institutionen der Kolonieaufsicht und -verwaltung, der Koloniegerichte sowie der jeweiligen Kirchenverfassung in den französischen Gemeinden unmittelbar das Problem des Verhältnisses des Rechtsgebildes der privilegierten französischen Kolonien zum frühmodernen Staat tangiert.47

Kolonieverwaltung und französische Gerichtsbarkeit Die Aufnahme und Etablierung der Réfugiés vollzog sich von Beginn an in allen Territorien nicht im Wildwuchs, sondern unter staatlicher Aufsicht. Am Anfang des Institutionalisierungsprozesses für die entstehenden französischen Kolonien standen allerorts „Flüchtlingskommissare“ – unter diesen nicht selten bereits einige Zeit im Lande lebende Franzosen – mit mehr oder weniger umfassenden, aber wenig konkret umrissenen Verwaltungskompetenzen, deren Zahl bei Bedarf flexibel erhöht wurde. Auffällig ist, daß alle Flüchtlingsangelegenheiten – Registrierung, Versorgung, Unterbringung und Arbeitsbeschaffung – ganz eindeutig in die Zuständigkeit der burg-Bayreuth. Immigrationspolitik als „kommunikativer Prozeß“, in: Braun / Lachenicht, Hugenotten und deutsche Territorialstaaten (FN 3), S. 107 – 124. 47 Das Problem des rechtlichen Verhältnisses von französischen Kolonien zum Staat wurde bislang nur in wenigen Studien explizit thematisiert; vgl. etwa Karl Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben und Rechtsstellung der Franzosen im Rahmen der Erlanger Hugenotten-Kolonisation von 1686 bis 1708, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 34 (1986), S. 37 – 162, Weitzel, Landesherrliche Administrationsmaßnahmen (FN 32), Jürgen Wilke, Rechtstellung und Rechtsprechung der Hugenotten in Brandenburg-Preußen (1685 – 1809), in: von Thadden / Magdelaine, Die Hugenotten (FN 12), S. 100 – 114, oder Rudolf Endres, Selbstverwaltung und Rechtsstellung der Hugenotten in Erlangen (1685 – 1708), in: Peter Johanek (Hrsg.), Sondergemeinden und Sonderbezirke in der Stadt der Vormoderne, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 173 – 196, vgl. auch die einschlägigen Beiträge im wichtigen Sammelband von Braun / Lachenicht, Hugenotten und deutsche Territorialstaaten (FN 3).

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auch für die Wirtschaftsförderung verantwortlichen Behörden verwiesen waren. In Brandenburg-Preußen etwa war die Flüchtlingskommission folglich eine Abteilung des Generalkriegskommissariats.48 In BrandenburgBayreuth fiel die Einwanderung der Réfugiés in die Kompetenz desjenigen Kommissariats, welches für den Aufbau der Erlanger Neustadt zuständig war.49 Dieser Befund unterstreicht noch einmal ganz eindrücklich die vorwiegend wirtschaftlich-gewerblichen Ziele, die sich mit der Etablierung von Réfugiés verbanden. Aus dieser rudimentären Institution der Flüchtlingskommissare entstanden später lediglich in denjenigen Territorien kontinuierlich arbeitende Oberaufsichtsbehörden, in denen sich dauerhaft eine große Zahl von Réfugiés niederließ – konkret in Hessen-Kassel seit 1686 die „Französische Kanzlei“50, in Brandenburg-Preußen seit 1689 das „Französische Kommissariat“, welches 1718 seine endgültige Form als „Französisches Oberdirektorium“ fand51, in Brandenburg-Bayreuth seit 1692 das „Französische Oberdirektorium“ am hugenottischen Hauptansiedlungsort Erlangen52 und in Württemberg seit 1699 die „Waldenser-Deputation“.53 Die genannten Oberbehörden setzten sich – mit Ausnahme der württembergischen – sowohl aus deutschen wie aus französischen Räten zusammen, wobei allerdings den letzteren nirgendwo das Direktorium, allenfalls das Vize-Direktorium überlassen wurde. In die Kompetenz der Oberbehörden fielen alle Fragen, die mit der Niederlassung der Réfugiés im Lande verbunden waren, vor allem aber die Aufsicht über das Justizwesen der französischen Kolonien – bezeichnenderweise trug die Kasseler Behörde, die jedoch nur für die Réfugiés im Niederfürstentum zuständig war, nicht aber für die Kolonien um Marburg, welcher der Rechtsprechung lokaler Amtleute unterworfen waren, den Titel „Französische Justiz-Kanzlei“. Auf kommunaler Ebene entstanden zudem vielerorts eigene Stadtverwaltungen der Réfugiés neben der einheimischen Gemeindeverwaltung. So 48 Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 417 ff., 504 ff., und Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 101 ff. 49 Ebd., S. 106 ff. Zur überragenden Rolle des französischen Flüchtlingskommissars in Erlangen vgl. Michael Peters, Joseph August du Cros als Agent des Markgrafen Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Hugenotten-Kolonisation in Franken, in: Erlanger Bausteine zur fränkischen Heimatforschung 34 (1986), S. 163 – 174. 50 Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 104 ff. 51 Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 504 ff., und Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 101 ff. 52 Ebd., S. 106 ff. 53 Zur „Waldenser-Deputation“ vgl. die Erläuterungen von Eberhard Gönner zum einschlägigen Findbuch des Hauptstaatsarchivs Stuttgart [als Online-Ressource verfügbar unter https: // www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/einfueh.php?bestand=3214].

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wurde beispielsweise die Neustadt Erlangen aus der allgemeinen Amtsverwaltung herausgelöst und dem „Französischen Oberdirektorium“ zugewiesen, wodurch sie direkt der Regierung unterstellt und zudem in juristischer Hinsicht für alle Réfugiés im Lande zuständig war.54 Derartige kommunale französische Sonderverwaltungen, welche durch ihre umfangreichen Kompetenzen die Rechte des einheimischen Magistrats zum Teil erheblich beschnitten, gab es beispielsweise auch in der Gewerbestadt Hameln55, in der Kasseler Oberneustadt und in Magdeburg56, aber auch in kleineren Territorien, wie etwa der isenburg-birsteinischen Residenzstadt Offenbach.57 Auffallend ist allerdings, daß alle kommunalen französischen Sonderverwaltungen direkt dem Landesherrn unterstellt waren. Bezeichnenderweise wurde lediglich den Waldenser-Kolonien in aller Regel keine über das übliche Maß hinausreichende kommunale Selbstverwaltung zugesprochen, wie die Beispiele Württembergs und Baden-Durlachs zeigen, wo den Kolonisten nicht einmal die Wahl eines französischen Schultheißen zugestanden wurde, ja häufig sogar den französischen Gemeinden ein deutscher Schultheiß vorgesetzt wurde.58 Dagegen wurde im württembergischen Cannstatt, Dürrmenz, Wurmberg und Gochsheim, wo die Hugenotten zahlenmäßig über die wenigen Waldenser dominierten, immerhin erlaubt, französische Deputierte in den ansonsten deutschen Gemeinderat zu entsenden, so daß den Kolonisten zumindest ein gewisses Mitspracherecht gewährt wurde.59 Von echter kommunaler Selbstverwaltung oder auch nur paritätischer Mitbestimmung konnte jedenfalls in den um 1700 entstandenen Kolonien der Waldenser nicht die Rede sein. Auch die jurisdiktionellen Zuständigkeiten haben sich in den RéfugiésSiedlungen erst im Laufe der Zeit entwickelt. Faktisch waren jedoch von Beginn an Hugenotten und Waldenser in vielfältiger Weise an der Rechtsprechung beteiligt – meist in Form von Schiedsrichtern bei Konflikten zwischen den französischen Kolonisten. Mit der wachsenden Zahl von Einwanderern stieg auch die Konfliktdichte – auch und gerade zwischen Franzosen und Einheimischen, was exaktere rechtliche Regelungen erforderte, die in einigen prominenten Fällen zur Entstehung einer selbständigen französischen Gerichtsbarkeit führte. Diese war besonders ausgeprägt in Brandenburg-Preußen, wo mit dem – zunächst durch das Naturalisations54

Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 106 ff. Ebd., S. 108 f.; vgl. außerdem die Hinweise bei Franz G. Villaret, Das französische Koloniegericht und der Koloniekommissar zu Hameln, Magdeburg 1901, und Thomas Klingebiel, Weserfranzosen. Studien zur Geschichte der Hugenottengemeinschaft in Hameln 1690 – 1757, Göttingen 1992. 56 Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 109 ff. 57 Dölemeyer, Die Hugenotten (FN 4), S. 124 ff., mit weiterführender Literatur. 58 Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 757 ff. passim. 59 Ebd., S. 367 f., 387, 456, 691. 55

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edikt von 1709 und dann durch die Einführung des Koloniebürgerrechts im Jahre 1772 – definitorisch klar umrissenen Rechtsgebilde der „Französischen Kolonie“60 sich bereits seit 1687 eine parallel zur einheimischen Rechtsprechung losgelöste, mehrinstanzliche französische Gerichtsbarkeit aus Kolonierichtern und einem Kolonie-Oberrichter, seit 1709 mit dem „Tribunal d’Orange“61 sogar auch eine höchste Appellations- und Revisionsinstanz ausbildete, die nach traditionellen französischen Rechtsbräuchen und auf der Grundlage des „Code Louis XIV“ Recht sprach.62 Im Jahre 1750 wurden alle gültigen Edikte und Verordnungen die „Französische Kolonie“ betreffend schließlich sogar zu einem eigenen Gesetzbuch kompiliert.63 60 Dies erforderte freilich exakte Statistiken über die Zugehörigkeit zu diesem Rechtskreis. Die jährlichen Mitgliederlisten der „Französischen Kolonie“ sind zwar seit 1697 überliefert, aber bislang liegt lediglich eine ediert vor; vgl. Richard Béringuer (Hrsg.), Die Colonieliste von 1699. Role Générale des François Refugiez dans les Etats de S.A Sérénité Electorale de Brandebourg, comme ils se sont trouvez 31. Dècembre 1699, Berlin 1888 [ND Berlin 1990]. Systematisch statistisch ausgewertet wurden sie von François David, Les colonies françaises en Brandebourg-Prusse 1685 – 1809. Étude statistique de leur population, 2 Bde., Mémoire de maîtrise, Tours 1992; vgl. die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie bei Dems., Les colonies des réfugiés protestants français en Brandebourg-Prusse (1685 – 1809). Institutions, géographie et évolution de leur peuplement, in: Bulletin de Société de l’Histoire du Protestantisme français 140 (1994), S. 111 – 142, und Dems., Les colonies françaises en Brandebourg-Prusse. Un étude statistique de leur population, in: Manuela Böhm / Jens Häseler / Robert Violet (Hrsg.), Hugenotten zwischen Migration und Assimilation. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin 2005, S. 69 – 93. 61 Das französische Obergericht bestand aus geflohenen Parlamentsjuristen aus dem südfranzösischen Fürstentum Orange. Zu den sogenannten „Orangeois“ vgl. Pierre Gaitte, Émigration protestante de la principauté d’Orange en 1703 arrivée sous le règne de Louis XIV et racontée par un historien contemporain, Orange 1859, Victor L. Bourilly, Les protestants de Provence et d’Orange sous Louis XIV, in: Bulletin de Société de l’Histoire du Protestantisme français 71 (1922), S. 7 – 40; 74 (1925), S. 210 – 219; 75 (1926), S. 365 – 388; 76 (1927), S. 7 – 22, 167 – 200, Fred W. Felix, „Orange – Berlin, aller et retour.“ Zum Schicksal zweier Protestanten aus Orange im 18. Jahrhundert, in: Der Deutsche Hugenott 55 (1991), S. 95 – 100, und ders., Die Ausweisung der Protestanten aus dem Fürstentum Orange 1703 und 1711 – 13, Bad Karlshafen, Bern 2000. 62 Zur Rechtsprechung in der „Französischen Kolonie“ in Brandenburg-Preußen vgl. Werner Grieshammer, Studien zur Geschichte der Réfugiés in BrandenburgPreußen bis 1713, Diss., Berlin 1935, S. 68 ff., und Wilke, Rechtstellung und Rechtsprechung (FN 47). Allerdings sah die Rechtswirklichkeit der Hugenotten außerhalb Berlins – trotz ihrer unbestrittenen Zugehörigkeit zum Rechtskreis der „Französischen Kolonie“ – ungünstiger aus; vgl. Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 501 ff. 63 Christian Otto Mylius, Recueil des Edits, Ordonnances, Règlements et Rescripts, contenant les privilèges et les droits attribués aux François Réfugiés, dans les États du Roy de Prusse, et reglant tant pour l’ecclesiastique que pour l’administration de la justice, ce qui concerne les Colonies Françoises établies dans les États de sa Majesté. Auxquels sont joints la Discipline des Églises Réformées de France; et quelques autres édits traduits de leur langue originale pour l’usage de ses Colonies, Berlin 1750.

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Soweit kamen andere Landesherrn ihren französischen Untertanen nicht entgegen. Allenfalls in Fragen des Erbrechts wurde nach französischen Rechtsbräuchen entschieden. Abgesehen von den territorial sehr unterschiedlich ausgestalteten jurisdiktionellen Einzelregelungen, ist es wichtig herauszustellen, daß allerorts in den Aufnahmeländern das Personalitätsprinzip Berücksichtigung fand, mithin langfristig in allen Fällen, in denen Franzosen – auch in Streitfällen mit Einheimischen – vor Gericht standen, französische Richter oder zumindest französische Anwälte hinzugezogen werden mußten, wenn die Prozesse nicht sogar ausschließlich von Franzosen geführt wurden.64 Langfristig zeigte sich – besonders in den hochprivilegierten Gründungs-, Neu- und Vorstädten sowie den Gewerbesiedlungen – die Tendenz, die alleinige Zuständigkeit französischer Gerichte auf alle Einwohner der Kommune zu übertragen.65 Die letzte Appellationsinstanz für alle juristischen Streitfälle blieb freilich stets der Landesherr oder die für die Réfugiés zuständigen, ihm direkt unterstehenden Behörden.

Französisch-reformierte Kirchenorganisation und Gemeindeverfassung Zunächst ist vorauszuschicken, daß alle das Kirchenwesen der Hugenotten und Waldenser betreffenden Regelungen der Landesherren nirgendwo den bestehenden und durch das „Normaljahr“ des Westfälischen Friedens garantierten Bekenntnisstand des Landes verändert haben, mithin aus reichsrechtlicher Sicht völlig unbedenklich waren. Dies war gerade für diejenigen Landesherren von zentraler Bedeutung, bei denen die Aufnahme der Calvinisten zu teilweise heftigen Konflikten mit den lutherischen Ständen und der Geistlichkeit geführt hatten. Die Réfugiés wurden in aller Regel entweder auf den von ständischer Mitsprache freien Gebieten der landesherrlichen Domänen angesiedelt – beispielsweise in der im Schweriner Stiftsland liegenden Stadt Bützow66, die württembergischen, baden-dur64 Exemplarisch zu Hessen-Kassel vgl. Franz Anton Kadell, Die Hugenotten in Hessen-Kassel, Darmstadt, Marburg 1980, S. 377 ff., 409 ff., zu Brandenburg-Bayreuth vgl. Hintermeier, Selbstverwaltungsaufgaben und Rechtsstellung (FN 47), S. 79 ff., 102 ff. 65 So beispielsweise in Hameln oder in Friedrichsdorf (Hessen-Homburg); vgl. Villaret, Das französische Koloniegericht (FN 55), Maria-Carla Milléquant, Die Hugenottenkolonie Friedrichsdorf im Spiegel ihrer Gemeinde- und Gerichtsverfassung, in: Dietrich Briesemeister (Hrsg.), Sprache, Literatur, Kultur. Romanistische Beiträge, Bern, Frankfurt am Main 1974, S. 171 – 182, und dies., Administration communale et jurisdiction à Friedrichsdorf, colonie huguenote en Hesse, in: Linguistique Picarde 14 (1974) / II, S. 4 – 24. 66 Fritz Galle, Die mecklenburgischen Privilegien für die französisch-reformierten Glaubensflüchtlinge, Bad Karlshafen 1998, S. 7 ff. Zur Hugenotten-Kolonie in Bützow vgl. A. Brunier, Memoiren über die Gründung der reformierten Gemeinde in

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lachischen und hessen-darmstädtischen Waldenser sogar auf wüst liegenden Feldmarken67 –, oder aber sie ließen sich in gänzlich neu aufgebauten oder erweiterten Residenz-, Gewerbe- und Festungsstädten nieder, wie neben den bereits mehrfach genannten Beispielen etwa auch die Hugenotten-Kolonien in Hannover, Lüneburg oder Celle zeigen.68 Falls den Réfugiés Bützow, gesammelt und zusammengestellt zur Säcularfeier ihrer Kirche am 1. September 1871, Hamburg 1875, Wilhelm Stieda, Eine Hugenotten-Kolonie in Meklenburg, in: Zeitschrift des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 61 (1896), S. 81 – 164, Rudolf Koch, Geschichte der Französisch-reformierten Gemeinde Bützow (Mecklenburg-Schwerin). Vortrag, 2. Aufl., Bützow 1897 [diese Studien wurden nochmals abgedruckt in: 300 Jahre Hugenotten in Bützow. 300 Jahre Evangelisch-Reformierte Kirche in Mecklenburg. Beiträge aus der Geschichte der Gemeinde, Bützow 1999], ders., Die Reformirten in Mecklenburg. Festschrift zum Jubiläum des 200jährigen Bestehens der evangelisch-reformirten Gemeinde zu Bützow. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Schwerin 1899, vgl. auch die Hinweise bei Walter Eckermann, Die Entwicklung der Wollmanufaktur im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung Mecklenburgs im 18. Jahrhundert und die Einwirkungen der Bützower Hugenottensiedlung auf diesen Prozeß. Ein methodologischer Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung der Heimatgeschichte, Habil., Berlin 1955. 67 Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), passim. 68 Die Hugenotten in den welfischen Territorien standen praktisch durchweg in einer engen Beziehung zur höfischen Gesellschaft in Hannover, Lüneburg und Celle, vgl. zu Hannover: Henri Tollin, Die adeligen und bürgerlichen Hugenotten von Lüneburg, Magdeburg 1901, Eduard de Lorme, Die ehemalige französisch-reformierte Gemeinde von Hannover, in: Zeitschrift für Niedersächsische Familienkunde 8 (1926), S. 49 – 54, Ludwig Wölker, Blüte und Verfall der französisch-reformierten Gemeinden in Hannover und Celle, in: Der Deutsche Hugenott 10 (1938), S. 5 – 10, 14 – 18, und Walter Mogk, Die Entstehung der französisch-reformierten und deutsch-reformierten Kirchengemeinde Hannovers, in: Heimatland. Zeitschrift für Heimatkunde, Naturschutz, Kulturpflege 1978 / III, S. 77 – 79, zu Lüneburg: Henri Tollin, Die adligen und bürgerlichen Hugenottenfamilien von Lüneburg, Magdeburg 1901, ders., Die Hugenotten am Hofe zu Lüneburg und das Edikt des Herzogs Georg Wilhelm, Magdeburg 1898, Hans-Wilfried Haase, Reformierte in Lüneburg, in: Reformation vor 450 Jahren. Lüneburger Gedenkschrift, Lüneburg 1980, S. 211 – 214, Walter Mogk, Zur Geschichte der Evangelisch-Reformierten in Lüneburg vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 55 (1983), S. 381 – 394, und Hartwig Notbohm, Geschichte der Französisch-reformierten Gemeinde – Hugenotten – in Lüneburg 1684 – 1839, Lüneburg 2001, sowie zu Celle: Adrian Justus Enschede, L’église Française de Celle en Allemagne, in: Bulletin de Société de l’Histoire du Protestantisme français 41 (1892), S. 247 – 251, Henri Tollin, La fondation de l’église réformée de Celle, in: ebd. 42 (1893), S. 247 – 251, ders., Geschichte der hugenottischen Gemeinde von Celle, Magdeburg 1893, Ludwig Wölker, Blüte und Verfall der französisch-reformierten Gemeinden in Hannover und Celle, in: Der Deutsche Hugenott 10 (1938), S. 5 – 10, 14 – 18, Andreas Flick, Die Geschichte der Evangelischreformierten Gemeinde in Celle, in: Manfred Leenders/Hans-Walter Schütte (Hrsg.), Kirche in Celle. Beiträge zur Kirchengeschichte, Celle 1992, S. 113 – 144, ders. / Angelica Hack/Sabine Maehnert (Hrsg.), Hugenotten in Celle. Ausstellungskatalog, Celle 1994, und ders., 1700 – 2000. 300 Jahre Evangelisch-reformierte Kirche in Celle, in: Celler Chronik 9 (2000), S. 58 – 101. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch die anderen Hugenotten-Kolonien in den welfischen Territorien, vgl. zu Göttingen: Friedrich H. Brandes, Die reformirte Kirche in Göttingen, Magdeburg 1894, und 225

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anfangs keine eigenen Gotteshäuser zur Verfügung gestellt werden konnten, wurde zeitweise oder dauerhaft eine – freilich nicht immer spannungsfreie – simultane Nutzung der deutsch-reformierten oder lutherischen Kirchenräume praktiziert. Enteignungen von Kirchenbesitz zugunsten der französisch-reformierten Gemeinden gab es nirgendwo. Beim Durchgang durch die Aufnahmeländer des Refuge finden sich allerdings sehr unterschiedliche Lösungen des Problems der in allen Hugenotten- und Waldenser-Privilegien vorgesehenen Gewährung des französischreformierten Religionsexerzitiums. Für die meisten – aber keineswegs für alle – Réfugiés war die freie und öffentliche Religionsausübung eine unverhandelbare Bedingung für Niederlassung. Dies zeigt nicht zuletzt die Entscheidung von Hugenotten zur Ansiedlung in Kursachsen, in Frankfurt, Hamburg oder Lübeck, wo ihnen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein weder der Bau von eigenen Kirchen, noch die öffentliche Ausübung ihrer Religion zugestanden wurde.69 Da die Hugenotten in ihrer französischen Heimat wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, ist diese Feststellung zunächst einmal überraschend, erklärt sich allerdings mit den auch unter diesen offenbar verbreiteten wirtschaftlichen Gründen für das Verlassen Frankreichs. Auch in den anderen lutherischen Aufnahmeländern wurde das öffentliche französisch-reformierte Religionsexerzitium oder der meist noch restriktiver gehandhabte Kirchenbau auf diejenigen Orte beschränkt, in denen sich die Réfugiés auch tatsächlich niedergelassen hatten. Einzig in deutschreformierten Territorien gab es praktisch keinerlei Einschränkungen des Religionsexerzitiums. Bemerkenswert ist wiederum die Aufnahmepolitik der reformierten brandenburgischen Kurfürsten. Im Potsdamer Edikt, welches ja die generelle Niederlassungsfreiheit für Réfugiés vorsah70, versprach Kurfürst Friedrich Wilhelm, für jede Stadt einen französisch-reforJahre Reformierte Gemeinde Göttingen, Göttingen 1978, sowie zu Braunschweig: Friedrich H. Brandes, Die Hugenotten-Kolonie in Braunschweig, Magdeburg 1897, Eberhard Frielinghaus, Das Bild der Evangelisch-Reformierten Gemeinde zu Braunschweig in der Geschichte, Braunschweig 1966, und Wilhelm Beuleke, Die Hugenottengemeinde Braunschweig, in: Braunschweigisches Jahrbuch 42 (1961), S. 99 – 124; 43 (1962), S. 102 – 130; 44 (1963), S. 85 – 118; 46 (1965), S. 24 – 77, vgl. zusammenfassend zu den Hugenotten in den welfischen Territorien auch ders., Waldenser in Niedersachsen und den Hansestädten, in: Der Deutsche Hugenott 14 (1950), S. 51 – 54, ders., Die Hugenotten in Niedersachsen, Hildesheim 1960, Herbert Bilshausen-Lasalle, Niedersächsische Hugenottenkolonien, in: Der Deutsche Hugenott 50 (1986), S. 19 – 24, Klingebiel, Aspekte zur Ansiedlung von Hugenotten (FN 32), Andreas Flick, Die Niederlassung der Hugenotten in Norddeutschland. Ein weithin unbekanntes Kapitel, in: Der Deutsche Hugenott 68 (2004), S. 51 – 82, und ders., Huguenots in the Electorate of Hanover and their British Links, in: Proceedings of the Huguenot Society of Great Britain and Ireland 27 (2000), S. 335 – 350. 69 Hierzu vgl. die Literaturhinweise in FN 12 und 14. 70 Eine Gesamtwürdigung des Potsdamer Edikts findet sich bei Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 409 ff., mit weiterführender Literatur.

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mierten Pfarrer zu berufen und zu besolden sowie an jedem Niederlassungsort einen Raum für die Gottesdienste bereitzustellen, was freilich vor dem Hintergrund der Bemühungen des Aufbrechens der konfessionellen Isolation der reformierten Hohenzollern im eigenen – lutherischen – Lande interpretiert werden muß.71 Die Gewährung der traditionellen Verfassung der etablierten französisch-reformierten Kirchengemeinden mit der typischen Ämterordnung gemäß der „Discipline écclesiastique“ Calvins bereitete nicht nur den aufnehmenden reformierten, sondern auch den lutherischen Landesherren kaum Probleme, sofern sie auf Personalfragen, vor allem auf die Wahl der Pfarrer, Einfluß nehmen konnten. Schwieriger und vor dem Hintergrund des bereits angedeuteten Gegensatzes bezüglich der äußeren Verfaßtheit der lutherischen und deutsch-reformierten Kirchentümer – nämlich hierarchisch-episkopal – einerseits und der französisch-reformierten Kirchen aus der Heimat der Réfugiés, die nicht nur presbyterial, sondern auch synodal verfaßt waren72, gestaltete sich die Organisation der Gemeinden auf territorialer Ebene. Das Kernproblem der Etablierung von französisch-refor71 Die massenhafte Aufnahme von Glaubensflüchtlingen in Brandenburg-Preußen war – entgegen älterer historiographischer Traditionen – somit gerade kein Ausdruck einer toleranten Politik; vgl. etwa Gerd Heinrich, Religionstoleranz in BrandenburgPreußen. Idee und Wirklichkeit, in: Manfred Schlenke (Hrsg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur, Reinbek 1981, S. 61 – 88, François David, Frédéric Guillaume à la recousse des huguenots. Liberté de conscience et réalisme politique en Brandebourg dans al seconde moitié du XVIIe siècle, in: Guy Saupin / Rémi Fabre / Marcel Launay (Hrsg.), La Tolérance. Colloques international de Nantes (mai 1998). Quatrième centenaire de l’Édit de Nantes, Rennes 1999, S. 161 – 169, Heinz-Dieter Heimann, Brandenburger Toleranz zwischen Anspruch, Mythos und Dementi. Historisch-politische Annäherungen an das „Edikt von Potsdam“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 52 (2000), S. 115 – 125, Eckart Birnstiel, Die Aufnahme hugenottischer Glaubensflüchtlinge in Brandenburg-Preußen. Ein Akt der Toleranz?, in: Andreas Flick / Albert de Lange (Hrsg.), Von Berlin bis Konstantinopel. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte der Hugenotten und Waldenser, Bad Karlshafen 2001, S. 9 – 33, Jürgen Luh, Zur Konfessionspolitik der Kurfürsten von Brandenburg und Könige in Preußen 1640 – 1740, in: Horst Lademacher / Renate Loos / Simon Groonvelt (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster, New York, München, Berlin 2004, S. 306 – 324, Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 129 ff., oder ders., Kirchliches Leben und Identitätskonstruktion von ländlichen Réfugiés und Schweizerkolonisten in der nördlichen Mark Brandenburg, in: Joachim Bahlcke / Rainer Bendel (Hrsg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 19 – 38. 72 Zu diesem Problemkomplex vgl. die einschlägige komparatistische Studie von Marie-Antoinette Gross, Das Kirchenregiment und der Status von religiösen Minderheiten in Brandenburg und Frankreich, in: Heinz Schilling / Marie-Antoinette Gross (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Staat und Kirche. „Minderheiten“ und „Erziehung“ im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich 16. – 18. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 89 – 117.

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mierten Kirchengemeinden betraf somit das Problem der Ausübung des landesherrlichen Kirchenregiments, also die Wahrnehmung des Summepiskopats seitens der protestantischen Fürsten – oder anders gewendet: die Frage nach dem Maß der gewährten kirchlichen Autonomie der französisch-reformierten Kirchengemeinden bezüglich Pfarrerwahl, Kirchenzucht und Liturgie. Nach anfänglichen Unsicherheiten und teilweise lediglich vagen Versprechungen der Landesherrn in den Privilegien entwickelten sich im Kern zwei – freilich jeweils im Detail unterschiedlich ausgestaltete – Modelle französisch-reformierter Kirchenorganisation in den Aufnahmeländern73, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen: In Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel gelang erfolgreich die Einbindung der französisch-reformierten Kirchengemeinden in die vorhandenen landeskirchlichen Behörden, mithin die Schaffung einer entgegen der calvinistischen Kirchentradition stehenden hierarchischen Verfassung der französisch-reformierten Kirchengemeinden, die sich den kirchlichen Oberbehörden unterordnen mußten. In Brandenburg-Preußen entstand im Jahre 1694 die mit der weltlichen Oberbehörde der „Französischen Kommission“ in Personalunion verbundene „Commission ècclesiastique“, welche fortan die kirchliche Oberaufsicht über alle Französisch-Reformierten im Lande besaß und bei allen kirchenrechtlichen Streitigkeiten in zweiter Instanz entschied.74 Mit der Umwandlung dieser Behörde zu einem „Tribunal écclesiastique“ 1701 und der Einrichtung von Inspekturbezirken 1737 entstand praktisch ein ganz analog zur lutherischen Kirchenorganisation konzipiertes – und übrigens dieser gegenüber völlig gleichberechtigtes – französischreformiertes Konsistorium mit Superintendenturen. In Hessen-Kassel wurden die französisch-reformierten Kirchengemeinden von Beginn an der gültigen deutsch-reformierten Kirchen- und Konsistorial-Ordnung von 1657 unterworfen.75 Die Einsetzung eines geistlichen Inspektors über alle fran73 Zusammenfassend Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 493 ff. 74 Asche, Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 501 ff., und Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 501 ff., vgl. auch Ernst Mengin, Das Recht der französisch-reformierten Kirche in Preußen. Urkundliche Denkschrift, Berlin 1929, Michael Beintker, Konsequenzen der „Discipline ecclésiastique“ für die Kirchenverfassung und Gemeindeordnung in Brandenburg-Preußen, in: Manfred Stolpe/Friedrich Winter (Hrsg.), Wege und Grenzen der Toleranz. Das Edikt von Potsdam 1685 – 1985, Berlin 1987, S. 51 – 68, Marie-Antoinette Gross, Das Kirchenregiment und der Status von religiösen Minderheiten in Brandenburg und Frankreich, in: Schilling/Gross, Im Spannungsfeld von Staat und Kirche (FN 72), S. 89 – 117, und Ute Lotz-Heumann, Staatskirchenbeziehungen und die Stellung der hugenottischen Minderheit. Irland und Brandenburg im Vergleich, in: ebd., S. 141 – 165. 75 Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 507 ff.; vgl. auch Walter Mogk, Kirchengeschichtliche Aspekte zur Situation der französisch-reformierten Gemeinden im hessen-kasselischen Refuge, in: Desel / Mogk, Hugenotten und Waldenser (FN 2), S. 395 – 435.

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zösisch-reformierten Gemeinden nach 1722, dem auch Visitationsrechte und die Präsentation der französischen Pfarrerkandidaten vor dem Konsistorium zustanden, markierte den Abschluß der – im Vergleich zur Koexistenz der beiden Kirchenbehörden in Brandenburg-Preußen noch konsequenteren – Integration der französisch-reformierten Kirchengemeinden in die deutsch-reformierte Landeskirche. Beide eben vorgestellten Lösungen zugunsten einer hierarchisierten Kirchenverwaltung – zu ergänzen wären noch die wesentlich lockerer organisierten Oberaufsichtsbehörden in Hessen-Homburg (1715)76 und Baden-Durlach (1727)77 – mit allenfalls rudimentär vorhandenen presbyterialen Elementen waren aus der Sicht der calvinistischen Kirchentradition zweifellos problematisch, auch wenn Widerstände dagegen offenbar nicht energisch genug vorgetragen wurden. Sie illustrieren jedoch sehr eindrücklich, daß die Réfugiés ihre dauerhafte Niederlassung eben nicht primär von der Gewährung einer spezifischen äußeren Kirchenverfassung abhängig gemacht hatten. Das zweite Modell französisch-reformierter Kirchenorganisation im deutschen Refuge, welches sowohl starke presbyteriale wie auch synodale Strukturen berücksichtigte, findet sich vor allem in Territorien mit lutherischen Landeskirchen, aber auch in den kleinen reformierten Aufnahmeländern der Hugenotten und Waldenser, die nur über wenige französische Kolonien verfügten. Abgesehen von den seit dem 16. Jahrhundert bestehenden niederländisch-reformierten Synodalverbänden – darunter die vormals einflußreiche „Emder Synode“ (seit 1571)78 oder der „Weseler Konvent“ (seit 1568), dessen Provinzial- und Klassikal-Synoden im Herzogtum Kleve übrigens von den Hohenzollern auch während des gesamten 18. Jahrhun76 Barbara Dölemeyer, Die „reformierte Landeskirche“ in der Landgrafschaft Hessen-Homburg. Zur Rechtsgeschichte der französisch-reformierten Gemeinden, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde zu Bad Homburg vor der Höhe 40 (1991), S. 5 – 51; vgl. auch Klaus Wetzel, Die reformierten Pfarrer und die reformierte Lehre in der Landgrafschaft Hessen-Homburg (1671 – 1866), in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 30 (1979), S. 295 – 331. 77 Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 762 f. 78 Zur „Emder Synode“ vgl. Johann Nicolaus Pleines, Die französisch-reformirte Kirche in Emden, 2. Aufl., Magdeburg 1894, Johann Hinrich Garrels, Die Entwicklung der reformierten Presbyterial- und Synodalverfassung in den zu Emden und Wesel zusammengeschlossenen Flüchtlingsgemeinden, Leipzig 1920, Die Emder Synode von 1571. Beiträge aus dem Jubiläumsband 1571 – Emder Synode – 1971, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1981, Erich von Reeken, Hugenotten in Emden, in: Der Deutsche Hugenott 50 (1986), S. 43 – 49, und Jan Remmers Weerda, Der Emder Kirchenrat und seine Gemeinde, hrsg. von Matthias Freudenberg /Alasdair Heron, Wuppertal 2000. Die Protokolle der „Emder Synode“ sind ediert bei Johann Friedrich Gerhard Goeters (Hrsg.), Die Akten der Synode der Niederländischen Kirchen zu Emden vom 4. – 13. Oktober 1571. Im lateinischen Grundtext mitsamt den alten niederländischen, französischen und deutschen Übersetzungen, Neukirchen-Vluyn 1971, und Heinz Schilling (Hrsg.), Die Kirchenratsprotokolle der reformierten Gemeinde Emden, 2 Bde., Köln 1989 / 92 [Edition der Protokolle der Jahre 1557 – 1620].

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derts nicht angetastet wurden79 – etablierten sich nach dem großen Hugenotten- und Waldenser-Exodus vier neue, bemerkenswerterweise überterritorial organisierte Synodalverbände, die freilich von unterschiedlicher Bedeutung und Dauer waren80: 1688 bis 1732 die mindestens vierzehn Mal einberufene „Fränkische Synode“81, bestehend aus den französisch-reformierten Gemeinden in den fränkischen Markgraftümern, und seit 1720 auch der benachbarten Gemeinde Hildburghausen; seit 1703 die schon früh eine Union mit den deutsch-reformierten Gemeinden eingegangene, in Resten noch heute bestehende „Niedersächsische Konföderation“82, 79 Wilhelm Martens, Das Kirchenregiment in Wesel zur Zeit des letzten clevischen und der ersten brandenburgischen Fürsten, Diss., Göttingen 1913, und Wolfgang Petri, Die reformierten klevischen Synoden im 17. Jahrhundert, 3 Bde., Köln 1973 / 81, vgl. insgesamt zum „Weseler Konvent“ auch Eduard Simons, Niederrheinisches Synodal- und Gemeindeleben „unter dem Kreuz“, Freiburg / Leipzig 1897, Johann Hinrich Garrels, Die Entwicklung der reformierten Presbyterial- und Synodalverfassung in den zu Emden und Wesel zusammengeschlossenen Flüchtlingsgemeinden, Leipzig 1920, Johann Bredt, Die Verfassung der reformierten Kirche in Cleve-JülichBerg-Mark, Neukirchen 1938, Weseler Konvent 1568 – 1968 (FN 16), Friedrich Gerhard Venderbosch (Hrsg.), 400 Jahre Weseler Konvent. Ausstellungskatalog, Mülheim an der Ruhr 1968, und Andreas Mühling, Der Weseler Konvent von 1568, in: Joachim Conrad/Stefan Flesch/Nicole Kuropka / Thomas Martin Schneider (Hrsg.), Evangelisch am Rhein. Werden und Wesen einer Landeskirche, Düsseldorf 2007, S. 175 – 177. Die entsprechenden Synodal-Protokolle sind ediert bei Johann Friedrich Gerhard Goeters (Hrsg.), Die Beschlüsse des Weseler Konvents von 1568, Düsseldorf 1968, Walter Hollweg / Alfred Zillessen/ Albert Rosenkranz (Hrsg.), Generalsynodalbuch von Jülich-Cleve-Berg und Mark. Die Akten 1610 – 1793, 3 Bde., Düsseldorf 1923 / 70, Wolfgang Petri (Hrsg.), Sitzungsberichte der Convente der Reformierten Klever Klassis von 1611 – 1670, Düsseldorf 1971, und Hermann Kleinholz / Wolfgang Petri (Hrsg.), Sitzungberichte der Convente der Reformierten Weseler Classis, 2 Bde., Köln, Bonn 1980 / 88 [Edition der Protokolle der Jahre 1611 – 1715]. 80 Knappe Übersichten finden sich bei Mogk, Kirchengeschichtliche Aspekte (FN 75), S. 412 f., und Jochen Desel, „Sie achten auf ihre Kirchenzucht, weil sie ihre Prediger schätzen.“ Gemeinde und Gottesdienst im deutschen Refuge, in: Beneke / Ottomeyer, Zuwanderungsland Deutschland (FN 21), S. 17 – 24, vgl. auch Henri Tollin, Übersicht über die Synoden. Urkunden aus Frankfurt / Oder, Niedersächsische Konföderation, Magdeburg, Walldorf, Hessen-Homburg, Hanau, Offenbach, Magdeburg 1897, und ders., Die sieben hugenottischen Synodalverbände in Deutschland, in: Reformierte Kirchenzeitung 21 (1898), S. 54 – 56. 81 Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 495 ff.; vgl. auch die Hinweise bei Johann Heinrich August Ebrard, Christian Ernst von Brandenburg-Baireuth. Die Aufnahme reformirter Flüchtlingsgemeinden in ein lutherisches Land 1686 – 1712. Eine kirchengeschichtliche Studie zugleich als Festschrift zum 200jährigen Bestehen der reformirten Gemeinden in Franken, Gütersloh 1885, Karl Eduard Haas, Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Bayern. Ihr Wesen und ihre Geschichte, 2. Aufl., Neustadt an der Aisch 1982, S. 117 ff., und Michael Peters, L’èglise francaise à Erlang. Lehre und Kirchendisziplin der Hugenotten im Refuge, in: Friederich, 300 Jahre Hugenottenstadt Erlangen (FN 8), S. 135 – 141. 82 Theodor Hugues, Die Conföderation der reformierten Kirchen in Niedersachsen, Celle 1873, Friedrich H. Brandes, Die Konföderation Reformirter Kirchen in Nieder-

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beschickt durch die französisch- und deutsch-reformierten Gemeinden in den welfischen Territorien und im Fürstentum Schaumburg-Lippe.

Dazu kommen die beiden erst im Kontext der Waldenser-Niederlassung entstandenen, der Idee der ersten Generation der Waldenser-Pfarrer nach eng miteinander verbundenen, aber nur in der Frühzeit wirklich funktionstüchtigen „Waldenser-Synoden“, denen sich allerdings auch HugenottenGemeinden anschlossen und die über den Flüchtlingskommissar Pieter Valkenier auch anfangs Kontakte zu den großen, bedeutenden niederländischen Synodalverbänden besaßen:83 1699 bis 1704 die nur dreimal in Frankfurt einberufene „Südhessische WaldenserSynode“84, zu denen Pfarrer und Anciens der Waldenser-Kolonien aus HessenHomburg, Hessen-Darmstadt, Nassau-Usingen, den beiden isenburgischen Grafschaften sowie aus der Grafschaft Schaumburg-Holzappel entsandt wurden; 1701 bis 1769 die immerhin dreizehn Mal zusammengetretene „Württembergische Waldenser-Synode“85 mit Deputierten aus den württembergischen und baden-

sachsen, Magdeburg 1896, Walter Mogk, Das Archiv der „Niedersächsischen Konföderation“ in Göttingen. Entstehung und Bestandsübersicht, in: Göttinger Jahrbuch N.F. 23 (1975), S. 99 – 106, Wolfgang Schneider, Französisch-reformierte und deutschreformierte Gemeinden. Aus der Tätigkeit der Niedersächsischen Konföderation – eines presbyterial-synodalen Kirchenverbandes – im 18. / 19. Jahrhundert, in: Elwin Lomberg/Gerhard Nordholt (Hrsg.), Die Evangelisch-Reformierte Kirche in Nordwestdeutschland. Beiträge zu ihrer Geschichte und Gegenwart. Zum 100jährigen Jubiläum der Evangelisch-Reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Weener 1982, S. 229 – 253, und zuletzt ausführlich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens (FN 32), S. 499 ff., vgl. auch die Hinweise bei Franz G. Villaret, Die hugenottische Pfarrgemeinde zu Hameln, Magdeburg 1900. 83 Zusammenfassend hierzu vgl. noch immer Henri Tollin, Die Unterstützung der französischen, wallonischen und waldensischen Colonien, insbesondere in Deutschland, durch die niederländischen General-Synoden von 1686 bis 1740, in: Die Französische Colonie 6 (1892), S. 96 – 102, 114 – 123. 84 Brigitte Köhler, Pieter Valkenier in Hessen, in: de Lange / Schwinge, Pieter Valkenier (FN 33), S. 175 – 199, hier: S. 195 f., Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 95 ff., und Walter Mogk, „Les conviés en Dieu“, die „Gottberufenen“, der Gemeinde zu Neu-Isenburg. Aspekte kirchlichen Lebens von Réfugiés und deren Nachkommen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Fogel/Loesch, „Aus Liebe und Mitleiden gegen die Verfolgten.“ (FN 31), S. 257 – 311, hier: S. 298 ff., vgl. auch Hermann Junker, Das Consistoire der französisch-reformierten Gemeinde Neu-Isenburg um die Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Der Deutsche Hugenott 4 (1932), S. 20 – 27. Ediert sind lediglich folgende Konsistorienbücher der vormals zur „Südhessischen Waldenser-Synode“ gehörigen französisch-reformierten Gemeinden: Alfred Rosenberger / Claire Bernard (Hrsg.), Das älteste Protokollbuch und Register der Französisch-Reformierten Gemeinde Offenbach am Main in Auszügen, in Originalsprache und deutscher Übersetzung, Offenbach 1999, und Gudrun Petasch (Hrsg.), Le livre de consistoire 1706 – 1754. Das erste Konsistorienbuch der Französisch-Reformierten Gemeinde Neu-Isenburg, Neu-Isenburg 1998. 85 Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 762 f., 864 f. Die Protokolle der „Württembergischen Waldenser-Synode“ sind ediert bei Alexandre Vinay, Actes des

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Matthias Asche durlachischen Gemeinden, wobei dieser Synodalverband nach dem Ausscheiden der letzteren nach 1714 faktisch zu einer rein württembergischen Landessynode wurde.

Mit Ausnahme der „Niedersächsischen Konföderation“ scheiterte das Modell der überterritorial organisierten Synoden, deren Glieder nahezu frei von obrigkeitlichem Einfluß die innergemeindliche Kirchenzucht ausüben konnten. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie sind einerseits – so muß man wohl das Verbot von Synoden in der Markgrafschaft BrandenburgBayreuth im Jahre 173286 oder das Ausscheiden der hessen-homburgischen Gemeinden aus dem südhessischen Synodalverband87 werten – im Bestreben der absolutistisch regierenden Landesherrn zu suchen, der eben langfristig keine Beschneidung seiner kirchenregimentlichen Rechte akzeptieren wollte. Andererseits klagten gerade die armen Waldenser-Gemeinden über die hohen Kosten, die eine Reise zu den Synoden mit sich brachten.88 Schließlich ist zu vermuten, daß besonders bei den Waldenser-Synoden das soziale Gefälle der armen Waldenser-Gemeinden gegenüber den wohlhabenderen Hugenotten-Gemeinden eine Rolle für eine mangelnde Interessenskongruenz gespielt hat, die allenfalls noch durch das Engagement von Gestalten wie Pieter Valkenier oder dem offenbar charismatischen Waldenser-Pfarrer Henri Arnaud89 mühsam überspielt werden konnte. Mit der dauerhaften Rückkehr Valkeniers in die Niederlande (1702) und dem Tod Arnauds (1721) traten diese Verwerfungen wohl offen zutage. Die überlieferten Synodal-Protokolle jedenfalls deuten auf Dauerstreitigkeiten zwischen den einzelnen Deputierten hin.90 Festzuhalten bleibt jedoch, daß das Experiment überterritorial und synodal-presbyterial organisierter französisch-reformierter Gemeindeverfassung zwar keinen Summepiskopat kannte, aber dennoch auch bei dieser Variante die Landesherrn nicht völlig ihr Kirchenregiment gegenüber den weitgehend autonomen Kirchengemeinden aufgegeben hatten, denn sie behielten sich freilich stets das Recht zur Bestätigung der gewählten Pfarrer vor und konnten den Besuch von Synoden durch ihre französischen Untertanen natürlich auch verhindern.

synodes des colonies vaudoises du Wurtemberg et pays voisin (1701 – 1769), in: Bulletin de la Société d’Histoire Vaudoise 18 (1900), S. 45 – 185. 86 Dölemeyer, Die Hugenotten (FN 4), S. 141. 87 Hierzu vgl. die Literaturhinweise in FN 76. 88 Einzelnachweise bei Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg (FN 37), S. 95 ff., 762 f., 864 f. 89 Die maßgebliche, weitgehend von hagiographischen Verklärungen freie Biographie Arnauds stammt von Dems., Henri Arnaud. Pfarrer und Oberst bei den Waldensern. Eine Biographie, Stuttgart, Berlin 1989. 90 Zahlreiche Hinweise finden sich in den überlieferten Protokollen der „Württembergischen Waldenser-Synode“, vgl. Vinay, Actes des synodes (FN 85).

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Schlußbetrachtung Ein Gesamtfazit fällt wegen der disparaten Befunde zu den einzelnen Territorien und Städten ambivalent aus. Blickt man etwa auf die Verhältnisse in Brandenburg-Preußen – das mit Abstand bedeutendste Aufnahmeland des Refuge –, so steht neben der weitgehenden Autonomie der „Französischen Kolonie“ im Bereich der allgemeinen Verwaltung und Rechtsprechung eine restriktive französisch-reformierte Kirchenorganisation. Im lutherischen Herzogtum Württemberg standen die Hugenotten und Waldenser in kirchlicher Hinsicht nur unter geringer staatlicher Aufsicht, dagegen allerdings waren deren Kolonien als kommunale Einheiten in rechtlicher Hinsicht kaum von den benachbarten einheimischen Dörfern zu unterscheiden. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, doch sind sie zunächst einmal Ausdruck territorialer und konfessioneller Vielfalt des Alten Reiches. Auch wenn nur ein gesamteuropäischer Vergleich die auffallend großen Autonomie- und Selbstverwaltungsrechte der Hugenotten- und WaldenserKolonien im Reich sichtbar machen würde91, hätten die Réfugiés jedoch nirgendwo einen gänzlich von staatlicher Aufsicht freien Raum für sich beanspruchen können – und wohl auch nicht wollen –, mithin gar einen „Staat im Staate“ bilden können, wie die ältere Hugenotten-Forschung gerne in völliger Verkennung der historischen Realitäten propagiert hat92, denn das Gedeihen ihrer Siedlungen hing in entscheidendem Maße vom Wohlwollen ihrer Landesherrn ab. Die Nachkommen der Réfugiés verweigerten sich vielmehr vehement dem Aufgehen in die Aufnahmegesellschaft.93 Ein Sen91 Hier sei nochmals verwiesen auf die wenigen vorliegenden komparatistischen Studien; vgl. FN 41. 92 Beispielsweise bei Meta Kohnke, Das Edikt von Potsdam. Zu seiner Entstehung, Verbreitung und Überlieferung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 9 (1985), S. 241 – 275, hier: S. 258, und Eckart Birnstiel / Andreas Reinke, Hugenotten in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel/Barbara John (Hrsg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 13 – 152, hier: S. 51, vgl. aber auch schon Helmut Erbe, Die Hugenotten in Deutschland, Essen 1937, S. 90 ff. 93 Dies wurde exemplarisch für die Hugenotten in Brandenburg-Preußen herausgearbeitet; vgl. Etienne François, Die Traditions- und Legendenbildung des deutschen Refuge, in: Duchhardt, Der Exodus der Hugenotten (FN 29), S. 177 – 193, ders., Vom preußischen Patrioten zum besten Deutschen, in: von Thadden / Magdelaine, Die Hugenotten (FN 12), S. 198 – 212, Rudolf von Thadden, Vom Glaubensflüchtling zum preußischen Patrioten, in: ebd., S. 186 – 197, ders., Hugenotten und Hugenottengedenken 1685 – 1985, in: Stolpe / Winter, Wege und Grenzen der Toleranz (FN 74), S. 15 – 20, Frédéric Hartweg, Die Hugenotten in Deutschland. Eine Minderheit zwischen zwei Kulturen, in: von Thadden/Magdelaine, Die Hugenotten (FN 12), S. 172 – 185, ders., Hugenotten(tum) und Preußen(tum), in: Ingrid Mittenzwei (Hrsg.), Hugenotten in Brandenburg-Preußen, Berlin 1987, S. 313 – 352, Eckart Birnstiel, „Dieu protège nos souverains.“ Zur Gruppenidentität der Hugenotten in Brandenburg-Preußen, in: Hartweg/Jersch-Wenzel, Die Hugenotten und das Refuge (FN 12), S. 107 – 128, ders. / Reinke, Hugenotten in Berlin (FN 92), ders., Les Réfugiés huguenots en Alle-

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sorium für Probleme von Integration gab es im frühmodernen Fürstenstaat nicht. Zudem besaßen weder die Landesherrn noch die Hugenotten und Waldenser selbst ein Interesse am völligen Aufgehen in die Mehrheitsgesellschaft des Aufnahmelandes, denn mit ihrer privilegierten Stellung konnten deren Nachkommen dauerhaft bedeutende personen- und besitzrechtliche Vorteile gegenüber der einheimischen Bevölkerung behaupten.94 Integration, Assimilation und Akkulturation waren jedoch zwangsläufig und kamen schleichend durch das allmähliche Aufbrechen endogamer Heiratskreise, die Lockerung des Zuzugsverbotes von Einheimischen in die vielfach separierten Hugenotten- und Waldenser-Siedlungen und der sich ständig vermehrenden Kontakte mit den deutschen Nachbarn, die auch zu einem allmählichen Verlust der französischen Sprache führten, zudem noch beschleunigt durch die Begleiterscheinungen landesherrlicher Maßnahmen, wie etwa die Vereinigung französisch- mit deutsch-reformierten Kirchengemeinden. Am Beginn des 19. Jahrhunderts – unter den Bedingungen grundlegender Reformen in Staat, Kirche, Gesellschaft und Kultur – war dieser Prozeß schon so weit fortgeschritten, daß viele Réfugiés-Nachkommen nicht einmal mehr den von ihnen nach wie vor energisch eingeforderten französischsprachigen Gottesdienst verstehen konnten. Die von einer kleinen hugenottischen Oberschicht in den Jahren um 1800 auffallend vehement, freilich vergeblich geführten Gefechte um die Beibehaltung ihrer Privilegien und der französischen Behördenstruktur, aber auch die dezidiert ablehnende Haltung gegenüber Kirchenunionen95 waren letztlich Ausdruck einer tiefen Verunsicherung, die auch das Problem der eigenen Identität betrafen – nämlich die Infragestellung ihrer spezifischen religiösen und französischen Wurzeln. magne au XVIIIe siècle, in: Jean Mondot / Jean-Marie Valentin / Jürgen Voss (Hrsg.), Deutsche in Frankreich – Franzosen in Deutschland 1715 – 1789. Institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austausches, Sigmaringen 1992, S. 73 – 87, Ursula Fuhrich-Grubert, Hugenotten in Preußen 1685 – 1945. Von den verachteten „Paddenschluckern“ zu den besten Deutschen, in: Der Deutsche Hugenott 66 (2002), S. 3 – 27, und Asche, Kirchliches Leben und Identitätskonstruktion (FN 71). Auch bezüglich der Identitätskonstruktion der Hugenotten in Kursachsen liegen bereits wegweisende Studien vor, vgl. Katharina Middell, Hugenotten in Leipzig. Etappen der Konstruktion einer „hybriden“ Identität, in: Höpel / Middell, Réfugiés und Emigrés (FN 21), S. 56 – 75, dies., Der „Deutsch-Franzos“, in: Thomas Höpel (Hrsg.), Deutschlandbilder – Frankreichbilder 1700 – 1850. Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen, Leipzig 2001, S. 199 – 220, dies., „Refugirte“ im Kernland der Reformation. Die Integration der Hugenotten in Sachsen, in: Beneke / Ottomeyer, Zuwanderungsland Deutschland (FN 21), S. 73 – 80, und dies., Hugenotten in Kursachsen. Einwanderung und Integration, in: Braun / Lachenicht, Hugenotten und deutsche Territorialstaaten (FN 3), S. 51 – 70. 94 Asche, Religiöse und konfessionelle Minderheiten (FN 19). 95 Exemplarisch zum Kampf der französisch-reformierten Kirchengemeinden gegen die „Altpreußische Union“ vgl. ders., Neusiedler im verheerten Land (FN 3), S. 605 ff., mit weiterführender Literatur.

Aussprache Gesprächsleitung: Heun

Heun: Ich darf um kurze Wortmeldungen bitten, wir haben zehn Minuten für die ganze Diskussion. Härter: Vielen Dank. Sie haben ja am Ende selbst die Vielgestaltigkeit im Alten Reich angesprochen und die These vertreten, dass sich die kommunalen Einheiten dieser Minderheiten nicht wirklich von den Einheiten der Einheimischen unterscheiden. Gleichwohl hatten Sie an anderen Stellen die Sonderstellung betont. Dahin geht auch meine Frage: Wie können wir einen Maßstab entwickeln, um den Grad der Selbstverwaltung und der Autonomie zu beurteilen, und handelt es sich wirklich um eine Sonderstellung im Hinblick auf den Grad von Autonomie und Selbstverwaltung, den Waldenser- und Hugenottengemeinden eingenommen haben? Ich glaube nicht. Im Grunde ähnelte diese Stellung derjenigen vieler anderer kommunaler, lokaler und regionaler Einheiten, die auch sehr unterschiedlich waren. Es gibt ja im Vergleich keine wirklich homogene Verwaltung in den Territorien des Reiches, sondern diese ist hoch differenziert, häufig mit Privilegien verbunden, in Städten wie auch in anderen regionalen Einheiten. Es gibt folglich große Unterschiede in den Verwaltungsstrukturen und auch in den rechtlichen Grundlagen, so dass ich die Sonderstellung der Waldenser- und Hugenottengemeinden doch relativieren und im Grunde behaupten würde, da es eben gar keine einheitliche Verwaltung in den Territorien des Alten Reiches auf kommunaler und regionaler Ebene gab. Aber das scheint mir eben eine noch offene Frage im Hinblick auf den Maßstab. Und noch eine zweite, speziellere Sache: Sie haben an einer Stelle gesagt, den Hugenotten und Waldensern kämen auch in strafrechtlicher Hinsicht eine Ausnahme oder Privilegien zu, haben das aber nicht weiter erläutert. Ich glaube, dass dies nicht der Fall ist. Weitzel: Ich habe eine Frage und eine Bemerkung. Die Frage ist eher ein ganzer Komplex. Wir wissen ja über die Gründungsbedingungen, über das, was in den Privilegien steht, seit zwei, drei Jahrzehnten relativ gut Bescheid. Das ist weithin aufgearbeitet. Wo ich denke, dass noch eine Lücke ist, das ist die Entwicklungsperspektive, die Sie ja auch angesprochen haben. Verwaltung ist etwas, das in der Zeit liegt, und wir müssen, zumindest bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches, wenn wir mal diese Spanne

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nehmen, mit 100 Jahren rechnen. Wie hat sich das entwickelt, mit welchen Instrumenten wurden die Privilegierungen fortgebildet? Wie lange bestanden sie? Zum Beispiel in den Niederlanden – das ist jetzt nicht Ihr Thema – sind die Privilegien nach wenigen Jahrzehnten alle abgebaut worden, offenbar eine andere Entwicklung als in Deutschland. Das muss in den einzelnen Ländern unterschiedlich verlaufen sein, was konkret anzugehen wäre. Die Bemerkung ist die zu den reichen Hugenotten. Natürlich gab es solche, und die sind dahin gegangen, wo sie die besten Angebote bekommen haben. Sie haben zu Recht gesagt, das Ganze war gewerblich organisiert wie auch in der mittelalterlichen Ostkolonisation; da waren immer Unternehmer eingeschaltet, aber es gab natürlich auch jede Menge Arme, nämlich alle die, die nicht Gewerbe getrieben haben, die von der Landwirtschaft leben mussten. Die sind in den ländlichen Kolonien angesiedelt worden, und diese Kolonien haben häufig nicht funktioniert, auch hier in der Gegend. Und dann sind die Leute nach zwei Jahrzehnten des Hungers wieder weggezogen, also da fand ich Ihre Aussage, dass die alle so proper daherkommen, etwas überzogen. Mohnhaupt: Ich fand Ihren Vortrag einen wunderbaren Anwendungsfall für unser Thema, weil er die Vielgestaltigkeit des Privilegs und die gestellten Fragen in Bezug auf das, was das juristische Instrument „Privileg“ bedeutet oder bedeuten kann, sehr schön ausleuchtete. Bemerkenswerterweise ist eben die Aufnahme der Hugenotten und die Regulierung nicht durch Gesetz oder durch Satzung gemacht worden, sondern eben durch das Rechtsinstrument des Privilegs. Und wahrscheinlich deshalb, weil es eben sehr viel flexibler zu handhaben ist. Es ist mobiler und geschmeidiger in der Anpassung an Probleme und Situationen. Daraus ergibt sich natürlich auch die Folge dessen, was hier angemahnt wurde als Vielgestaltigkeit, die Sie allerdings für das Heilige Römische Reich auch betont haben. Das Gesetz kann das eben alles so nicht regulieren. Insofern ist das Privileg hier ein verwaltungsbegründendes und verwaltungsgestaltendes Instrument gewesen. Festzuhalten bleibt vielleicht noch – oder nur noch zu unterstreichen –, dass das Privileg in seiner Grundeigenschaft vor allen Dingen ein Schutzinstrument war: „Tutela a privilegio inseparabilis est.“ Das ist einer der wichtigsten Grundsätze und insofern von Ihnen natürlich auch zu Recht betont, dass der Landesherr immer das letzte Wort hat, denn er ist der Schutzherr, und er ist dafür verantwortlich. Das waren dann mehr begleitende Bemerkungen zu Ihrem sachlich fundierten Vortrag. Heun: Vielen Dank. – Herr Mußgnug. Mußgnug: Was Herr Asche über die Gerichtsautonomie der Hugenotten in Preußen berichtet hat, findet in der Gegenwart seine Parallelen. Vor kurzem meldete die Presse, ein hoher Kleriker der Church of England habe an-

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geregt, den islamischen Gemeinden in der säkularisierten englischen Diaspora eine ähnliche autonome Gruppen-Gerichtsbarkeit und mit ihr das Recht zu konzedieren, statt nach dem englischen Recht ihrer neuen nach dem Scharia-Recht ihrer alten Heimat zu leben. Das ist auf viel Kritik bis hin zur hellen Empörung gestoßen. Die Rückschau auf die preußische Großzügigkeit gegenüber den Hugenotten läßt das englische Plädoyer für den autonomen Scharia-Richter freilich eher als diskutabel, denn als absurd erscheinen. Zu bedenken bleibt allerdings, daß zwischen dem preußischen und dem französischen Recht keine sonderlich aufregenden Unterschiede bestanden haben, während zwischen dem Recht der Scharia und dem Recht der europäischen Nationen, wenn auch nicht in allen, so doch in einigen besonders wichtigen Punkten – vor allem im Familienrecht; die Stichworte: Polygamie, personen- und vermögensrechtliche Stellung des Ehemannes gegenüber der Ehefrau markieren die gravierendsten Unterschiede, zwischen denen nachgerade Welten klaffen. Mit der rechtlichen Eigenständigkeit der Hugenotten im Preußen des 18. Jahrhunderts lagen die Dinge dagegen ungefähr so, wie sie auch heute noch liegen, wenn in Deutschland lebende Franzosen ihre vertraglichen und familienrechtlichen Beziehungen unter sich nach französischem Recht gestalten möchten. Unser Internationales Privatrecht macht das ohne weiteres möglich. Es erlaubt entsprechende Vereinbarungen, die in der Gestalt eines Schiedsgerichts auch eine autonome Gerichtsbarkeit etablieren können. Unverträglichkeiten mit unverzichtbaren deutschen Rechtsauffassungen sind nicht zu befürchten. Sollten sie wider Erwarten dennoch auftreten, so sorgte der Vorrang des deutschen ordre public vor dem mit ihm unvereinbaren fremden Recht und die Unvollstreckbarkeit der Schiedssprüche, die dem deutschen ordre public widersprechen für Abhilfe. So gesehen war die hugenottische Gerichtsautonomie längst nicht so erstaunlich, wie sie uns heute auf den ersten Blick anmutet. Sie war in ihrer körperschaftlichen öffentlichrechtlichen Konstruktion anders strukturiert. Heute bemühen wir privatrechtliche vertragliche Konstruktionen, die selbstverständlich auch den Muslimen offen stehen. Was an deren Scharia-Recht für uns inakzeptabel ist, bleibt freilich alle Mal ebenso draußen vor, wie es in Preußen draußen vor geblieben wäre, wenn denn das hugenottische Recht Unzuträglichkeiten erheblicherer Tragweite heraufbeschworen hätte. Heun: Vielen Dank für den Aktualitätsbezug, Herr Mußgnug. Jetzt haben wir noch drei Wortmeldungen – ich darf um kurze Diskussionsbeiträge bitten. Zunächst Herr Brandt. Brandt: Ich möchte in derselben Linie argumentieren wie der erste Diskutant, Herr Härter. Man hat sich den frühneuzeitlichen Fürstenstaat selbstverständlich nicht als homogenen Untertanenverband vorzustellen, dem dann Fremde mit Sonderprivilegien angegliedert werden; vielmehr ist

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das Ganze sozusagen ein Ensemble von Sonderrechten. Ihr Vortrag hat ja sehr deutlich gezeigt, dass der Landesherr eigentlich nur dort gestalten konnte, wo er Eigenberechtigungen mit entsprechenden Freiräumen hatte. Das betrifft bereits die räumliche Ansiedlung. Dies würde noch deutlicher werden, wenn man die gewerblichen Privilegien einbezieht, was Sie aus Mangel an Zeit ausklammern mussten. Der Landesherr konnte in die Gerechtsame der etablierten Zünfte ohne Provokation großer Konflikte gar nicht eindringen. Die gesamte Erwerbstätigkeit der Hugenotten beruhte auf fürstlicher Spezialprivilegierung außerhalb der Zunftverfassung und war nicht zufällig auch von der Nachfrage her in hohem Maße höfisch orientiert. Das Ganze spielt sich also im Eigenbereich des Landesherrn ab, und die Frage der relativen Selbstverwaltung ist im Rahmen dieser Grundstruktur einer Vielfalt von Selbstverwaltungen zu sehen. Kampmann: Ich möchte nur eine kurze Anmerkung machen zu Ihren Ausführungen zu der kirchlichen Selbstverwaltung, die ja einen großen Teil Ihres Vortrags eingenommen haben. Ich fand es beachtlich, wie geräuschlos die kirchliche Selbstverwaltung der Hugenotten in den reformierten Territorien des Reichs hat beseitigt werden können. Eine Jahrhunderte alte gewachsene Tradition der hugenottischen Gemeinden verschwand, während sie in lutherischen erhalten geblieben ist. Das deutet meines Erachtens darauf hin, welche Funktion die kirchliche Selbstverwaltung für die Hugenotten hatte, nämlich eine Schutzfunktion gegen eine Landesherrschaft, die konfessionell feindlich gesonnen war. Ist eine solche nicht vorhanden, gibt man sie ohne weiteres auf – das geschieht geräuschlos, es gibt keinerlei Konflikte um die Aufgabe –, während in lutherischen Territorien die kirchliche Selbstverwaltung eine grundlegend andere Funktion hat. Und hierin liegt meines Erachtens nach für die Selbstverwaltung ein wichtiger Punkt: Kirchliche Selbstverwaltung hat eine völlig andere Funktion als kommunale Selbstverwaltung. Die eine, die kirchliche, hat keinen Eigenwert für die Gemeinden. Dies ist ein ganz wichtiges Argument gegen einen gewissen „Hugenottenmythos“, der gerade diese Verbindung sehr hervorhebt: Demokratie, Selbstverwaltung, Calvinismus. In Wirklichkeit ist sie für die Hugenotten selbst relativ bedeutungslos. Heun: So, Herr Brauneder, Sie sind der letzte Redner auf meiner Liste. Ich hoffe, ich habe niemanden übersehen. Brauneder: Es ist nur eine kurze Frage: Ich glaube, Sie haben einmal erwähnt, dass die Franzosen ihr eigenes Recht mitbrachten und danach auch noch weiter lebten. Die Frage: Das war wohl eine Ausnahme? Danke. Heun: Herr Asche, Sie haben jetzt das Schlusswort. Versuchen Sie bitte nicht, auf alle Fragen im Detail einzugehen – so viel Zeit haben wir nicht. Danke.

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Asche: Das befürchte ich auch, es wäre ja viel dazu zu sagen. Also erstmal vielen Dank für die Hinweise – teilweise sind es ja auch Statements gewesen, etwa von Herrn Mußgnug. Ganz herzlichen Dank! Das ganz zentrale Thema der Diskussionsbeiträge ist die Sonderstellung der Hugenotten und Waldenser. Dies wurde angesprochen von Herrn Härter gleichermaßen wie von Herrn Brandt. Ich bin ebenfalls dieser Meinung, das heißt Autonomie und Selbstverwaltung von Hugenotten und Waldensern sowie deren Privilegierung sind typischer Ausdruck der Altständischen Gesellschaft, die eben verschiedene, nebeneinander bestehende Rechtskreise kannte. Diese waren im Detail unterschiedlich ausgestaltet. Es handelt sich eben nicht um eine Sonderstellung, keine Autonomie im weitesten Sinne, sondern um ein Nebeneinander von Rechtskreisen. Es gab freilich auch Hugenotten, die eben nicht unter die französischen Gerichtsbarkeiten fielen, sondern unter die jeweilige Hofgerichtsbarkeit oder die Militärgerichtsbarkeit usw. Ob dies so etwas Besonderes in der Altständischen Gesellschaft ist, weiß ich nicht, zumal das entscheidende Instrument ja doch die Privilegienpolitik war, die nun für viele soziale Gruppen zu beobachten ist – aber dies hat ja Herr Mohnhaupt schon vielfach in seinen Studien dargestellt. Die Entwicklung der Privilegien ist in der Tat ein Thema, das im größeren Kontext behandelt werden muß – Herr Weitzel, da haben Sie natürlich recht. Für Brandenburg-Preußen können wir tatsächlich eine zunehmende Nivellierung der privilegierten Rechtsstellung der Hugenotten feststellen. Es ist keineswegs so, daß 1809 mit der formalen Auflösung des Rechtsgebildes der „Französischen Kolonie“ in Brandenburg-Preußen diese Sonderstellung ein Ende gefunden hätte, sondern das geschah schon vorher. In Brandenburg-Preußen wurde 1772 ein Koloniebürgerrecht eingeführt. Dieses Koloniebürgerrecht gab allen Neusiedlern die Möglichkeit, sich zu entscheiden, ob sie sich zu Bedingungen der üblichen einheimischen Untertanen oder zu denen der „Französischen Kolonie“ niederlassen wollten. Damit fielen auf einmal Deutsche in großer Zahl unter das Koloniebürgerrecht. Dies wäre ein Beispiel für eine schleichende Auflösung der Sonderstellung der Hugenotten – da hat Herr Weitzel recht. Heftig widersprechen möchte ich dagegen – und ich hoffe, das ist auch nicht so bei Ihnen angekommen –, daß ich gesagt hätte, bei den Hugenotten sei allein zwischen reichen Hugenotten und armen Waldensern zu unterscheiden. Das habe ich nie gesagt und möchte dies auch deutlich zurückweisen. Gerade in meiner Habilitationsschrift habe ich mich ja bewußt mit den bäuerlichen Hugenotten in der Uckermark beschäftigt. Also, wenn das nicht deutlich geworden ist, dann sage ich das hier noch einmal ganz klar: Unter die tonangebende hugenottische Elite fällt lediglich eine ganz schmale Oberschicht von vielleicht 5 %, vielleicht auch nur 2 % der Glaubensflüchtlinge. Es gab Hugenotten aus Frankreich – und das war der weit-

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aus größte Teil –, die eben nicht spezialisierte Handwerker gewesen sind. Und fast alle Waldenser waren bäuerlicher Herkunft. Herr Mohnhaupt, vielen Dank! Ihre Ausführungen zur Flexibilität und der Schutzfunktion von Privilegien, diese würde ich sofort so unterschreiben. Kurz noch zum eigenen französischen Recht, das Herr Brauneder angesprochen hat: In der Tat, in Brandenburg-Preußen wurde tatsächlich nach französischem Recht abgeurteilt. Zumindest gab es eine entsprechende Ordonance, die nach dem „Code Louis Quatorze“ Recht gesprochen hat. Es gab ein eigenes französisches Gesetzbuch, das im Jahre 1750 kompiliert wurde. Es ist wert, nochmals darauf hinzuweisen, daß das Recht der „Französischen Kolonie“ natürlich eine wichtige Rolle für die Gesamtstaatsbildung in Brandenburg-Preußen gespielt hat. Es ist offenkundig, daß dieses Gesetzbuch wie überhaupt die Einrichtungen, die durch das Potsdamer Edikt und deren Folgeverordnungen für die „Französische Kolonie“ entstanden sind, einen wichtigen Beitrag zur Staatsbildung in Brandenburg-Preußen geleistet haben, das ja in der Zeit um 1750 noch kein Gesamtstaat war, sondern noch immer eine „monarchische Union von Ständestaaten“. Die Gerichtsorganisation, die Kirchenorganisation usw., diese zentralen Dinge deuten – zumindest wenn man dies im Rückblick betrachtet – auf eine Gesamtstaatsbildung hin. Ob das vom Großen Kurfürsten so intendiert war, ist allerdings fraglich. Ich bezweifle das eher. Auf jeden Fall schuf der spezifische Rechtskreis der „Französischen Kolonie“ einen einheitlichen Rechtsraum für immerhin eine bestimmte Gruppe zwischen Kleve und Königsberg. Ich glaube, das ist ein Punkt, den man deutlich machen sollte: Ein Hugenotte in Kleve hatte die gleichen Rechte und stand vor Gericht unter denselben Gesetzen wie ein Hugenotte in Königsberg. Und was die Gewerbeprivilegien, Herr Brandt, und die wirtschaftlichen Vergünstigungen angeht: Dies habe ich bewußt aus meinen Ausführungen herausgelassen, denn dann hätte ich ein „Riesenfaß“ aufgemacht. Zu den Hugenottenprivilegien gehörten eben auch Gewerbeprivilegien – ich will das auch jetzt nicht zu sehr ausführen, wir können das gern bei einer Tasse Kaffee besprechen. Es gab zunftrechtliche Besonderheiten, die Exemtion von Zünften oder das explizite Recht, Zünften beizutreten, eigene Zünfte zu bilden usw. Dies ist alles sehr komplex. Das habe ich beiseite gelassen, weil das auch nicht in den Kernbereich des Verhältnisses der Hugenotten zum Staat fällt. Herzlichen Dank, daß ich Stellung nehmen durfte! Heun: Vielen herzlichen Dank.

Die jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften im Heiligen Römischen Reich Zwischen landesherrlicher Kontrolle und Autonomie* Von J. Friedrich Battenberg, Darmstadt I. In seiner Epoche machenden, 1781 erstmals in Berlin und Stettin erschienenen und sogleich außerordentlich Aufsehen erregenden1 Streitschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ hatte der preußische Kriegsrat und Reformer Christian Wilhelm Dohm die Autonomie der jüdischen Gemeinden als weiterhin notwendigen Bestandteil der Verfassung bezeichnet, die seiner Ansicht nach der Gewährung bürgerlicher Freiheiten nicht im Wege stünde.2 Da seine bald schon heftig diskutierte Stellungnahme von grundsätzlicher Bedeutung für die weitere Diskussion war, soll sie im Folgenden wörtlich wiedergegeben werden3: Wenn man ihnen [scilicet den Juden] also einen vollkommenen Genuß der Rechte der Menschheit bewilligen will, so ist es nothwendig, ihnen zu erlauben, dass sie * Der Beitrag gibt den Text des auf der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte am 11. März 2008 in der Ev. Akademie in Hofgeismar gehaltenen Vortrags in erweiterter Form wieder. Ich danke insbesondere Frau Dr. Saskia Rohde für ihre weiterführenden Hinweise. 1 Horst Möller, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden: Christian Wilhelm Dohm und seine Gegner, in: Marianne Awerbuch / Stefi Jersch-Wenzel (Hrsg.), Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 75), Berlin 1992, S. 59 – 79, hier: S. 59. 2 Hierzu und zum Streit um die Reichweite der Emanzipation der Juden siehe: J. Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 2: Von 1650 bis 1945, 2. Aufl. Darmstadt 2000, S. 90 – 95. 3 Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin und Stettin 1781, Nachdruck 1973 (Faksimile), S. 125 – 128. Zur Kontroverse um Dohm siehe: Möller, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (FN 1); David Sorkin, The Transformation of German Jewry 1780 – 1840, New York, Oxford 1987, S. 23 – 28; Anna-Ruth Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717 – 1791), Frankfurt am Main [u. a.] 1995, S. 149 – 178.

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nach diesen Gesetzen leben und gerichtet werden. Sie werden hiedurch von den übrigen Bürgern des Staats nicht mehr getrennt, als eine Stadt oder Gemeine, welche nach besondern Statuten lebt. Und die Erfahrung sowohl in den ersten Zeiten des römischen Reichs als auch in manchen neuern Staaten, hat auch schon gelehrt, daß von der den Juden verstatteten Autonomie gar keine unbequeme[n] oder nachtheilige[n] Folgen zu besorgen sind. Wird es hierbey auch gleich nicht nothwendig erfordert, die Rechtspflege nach diesen Gesetzen durch Richter aus der Nation selbst verwalten zu lassen, so wird doch dieses derselben allemal angenehmer seyn, und auch dadurch manchen Schwierigkeiten begegnet werden, die aus der Unkunde der jüdischen sehr verwickelten und viele hebräische und rabbinische Sprachkenntnisse fordernden Rechtsgelehrsamkeit bey christlichen Richtern entstehn dürften. Es scheint daher zuträglicher zu seyn, wenn man in allen Privatstreitigkeiten der Juden mit Juden ihren eignen Richtern die Erkenntniß in erster Instanz, dabey aber den Juden allenfalls erlaubte, auch bey den ordentlichen Richtern ihre Klagen anzubringen. Diese aber sowohl als die höhern Instanzen, an welche von der Entscheidung des jüdischen Richters appellirt würde, müßten natürlich nach keinen andern als jüdischen Gesetzen entscheiden, weil sonst, wenn diese nach dem gemeinen Recht sprechen wollten, eine grosse Verwirrung unvermeidlich wäre, und der Kläger allemal den unbilligen Vortheil hätte, seine Klage nur bey dem Richter anzubringen, dessen Entscheidung er sich die günstigste vermuthete. [ . . . ]. Eine nach diesen Grundsätzen eingerichtete Verfassung würde, dünkt mich, die Juden unter die nützlichen Glieder der Gesellschaft einführe, und zugleich dem mannichfachen Übel abhelfen, dass man ihnen angethan, und dessen sich schuldig zu machen man sie gezwungen hat.

Soweit das Zitat. Dieses sozusagen systemimmanent argumentierende Modell, das sich ganz der korporativen Struktur des Heiligen Römischen Reichs verpflichtet wusste, hat man in der Forschung auch das „aufgeklärtetatistische“ genannt, da hier die Emanzipation der Juden nicht einem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte, sondern der Regulierungskompetenz des Staates und seiner Beamtenschaft überlassen werden sollte.4 Obwohl Dohm mit dieser Ansicht zahlreiche Anhänger, vor allem im Kreise der reformorientierten Beamtenschaft, hatte – in Frankreich übrigens auch Graf Mirabeau, ein glühender Verehrer Dohms5 – setzte sich schließlich 4 Diese idealtypisch gemeinte Begrifflichkeit („aufgeklärt-etatistische“ vs. „liberal-revolutionäre“ Emanzipation) wurde geprägt von: Reinhard Rürup, Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ,Judenfrage‘ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975 (Nachdruck Frankfurt am Main 1987), S. 13 – 45, hier: S. 17 f.; hierzu auch die Forschungsdiskussion bei: J. Friedrich Battenberg, Zur Geschichte der Judenemanzipation in der Französischen Revolution, in: Hans-Christoph Schröder / Hans-Dieter Metzger (Hrsg.), Aspekte der Französischen Revolution (= Wissenschaft und Technik, Schriftenreihe der Technischen Hochschule Darmstadt, Bd. 55), Darmstadt 1992, S. 59 – 110, hier: S. 63 f.; auch: ders., Die Französische Revolution und die Emanzipation der Juden im Elsaß und in Lothringen, in: Volker Rödel (Hrsg.), Die Französische Revolution und die Oberrheinlande, 1789 – 1798 (= Oberrheinische Studien, Bd. 9), Sigmaringen 1991, S. 245 – 273, hier: S. 247 f. 5 Hierzu Battenberg, Judenemanzipation (FN 4), S. 81 – 87.

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doch das „liberal-revolutionäre“ Modell der Französischen Revolution durch, das mit der Aufhebung aller Korporationen des Ancien Régime konsequenterweise auch die Aufhebung der Autonomie jüdischer Gemeinden fordern musste. Auf diesem basierte die Emanzipationserklärung der Französischen Nationalversammlung vom 27. September 1791.6 Dies ergibt sich unmissverständlich aus der Rede des wortgewandten Pariser Deputierten der Nationalversammlung, Stanislas Comte de Clermont-Tonnerre7, der die Segnungen der im August 1789 verabschiedeten Menschenrechtserklärung den Juden nur unter der Bedingung zukommen lassen wollte, dass diese den Korporationscharakter ihrer Gemeinden aufgaben. Auch aus dieser Rede möchte ich, um die Gegenposition zu Dohm deutlich zu machen, wörtlich zitieren, zum besseren Verständnis allerdings in deutscher Übersetzung8: „Indem ihr in der Erklärung der Menschenrechte festgestellt habt, dass niemandem, selbst seiner religiösen Überzeugungen wegen, Beschränkungen auferlegt werden dürfen, habt ihr euch bereits festgelegt [ . . . ]. Die Macht des Gesetzes erstreckt sich lediglich auf die Handlungen des Menschen, die es, soweit sie der Gesellschaft nicht abträglich sind, auch in Schutz nehmen muss [ . . . ]. Den Juden wird so manches vorgeworfen. Die schwerwiegendsten dieser Vorwürfe entbehren indes jeglicher Grundlage, und der Rest betrifft geringfügige Übertretungen. Es heißt, die Juden seien Wucherer [ . . . ]. Wie sollten indes Menschen, deren einziger Besitz flüssiges Geld ist, anders bestehen, als, indem sie ihre Barschaft in Umlauf bringen, und etwas anderes zu besitzen habt ihr ihnen ja nie gestattet [ . . . ]. Aber, so behauptet man, die Juden haben besondere Richter und besondere Gesetze (des juges et des loix particulières). Jedoch, so antworte ich: [Dies zugelassen zu haben] ist euer Fehler und ihr müsst das nicht dulden. Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, als Menschen aber ist ihnen alles zu gewähren (il faut refuser tout aux juifs comme nation et accorder tout aux juifs comme individus). Man soll ihre Richter missachten, da die Juden stets nur den anderen, nämlich den christlichen Richtern unterstehen sollen (il faut méconnaitre leurs juges, ils ne doivent avoir que les autres). Man soll der Aufrechterhaltung ihrer korporativen jüdischen Gesetze den gesetzlichen Schutz versagen (il faut refuser la protection légale au maintien des prétendues loix de leur corporation judaique). Sie dürfen im Staat weder einen politischen Körper noch eine eigenständige Klasse bilden (il faut, qu’ils ne fassent dans l’état ni un corps politique ni un ordre). Sie sollen vielmehr einzig und allein Bürger [wie alle anderen] sein.“

6 David Feuerwerker, L’émancipation des Juifs en France de l’Ancien Régime à la fin du Second Empire, Paris 1976, S. 389 f. 7 Zu ihm: Simon Schama, Der zaudernde Citoyen. Rückschritt und Fortschritt in der Französischen Revolution, München 1989, S. 278 ff. 8 Originaltext bei Feuerwerker, L’émancipation (FN 6), S. 323 f.; deutsche Übersetzung bei: Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes: Das Zeitalter der ersten Emanzipation, 1789 – 1815 (= ders., Weltgeschichte des jüdischen Volkes, von seinen Uranfängen bis zur Regenwart, Bd. 8), 2. Aufl. Berlin 1929, S. 119. Danach: Battenberg, Judenemanzipation (FN 4), S. 100 f.

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Was sich hier im ersten Augenblick als eine Beschneidung älterer Autonomierechte der Juden darstellt, die von diesen als Preis für ihre sofort zu gewährende Emanzipation gezahlt werden sollte, ist bei Clermont-Tonnere als notwendiges Mittel gedacht, etwaigen antijüdischen Invektiven den Wind aus den Segeln zu nehmen: Der korporative Charakter der jüdischen Gemeindeverfassung sollte nicht mehr als Vorwand dafür dienen, den Juden undurchsichtige Geschäftspraktiken vorzuwerfen. Unter den deutschen Reformern schloss sich – wen wundert es – insbesondere der preußische Kultusminister Wilhelm von Humboldt an.9 In einem 1809 entstandenen umfangreichen Gutachten zu dem Entwurf eines Emanzipationsgesetzes von Friedrich Leopold v. Schrötter10 plädierte er sehr deutlich für eine Aufhebung aller innerhalb der jüdischen Gemeinden bestehenden Sondergesetze bzw. für eine Beschränkung ihrer Zuständigkeiten auf religiöse Angelegenheiten: Meiner Überzeugung nach wird daher keine Gesetzgebung über die Juden ihren Endzweck erreichen – so meint er11 – als nur diejenige, welche das Wort Jude in keiner anderen Beziehung mehr auszusprechen nöthigt, als in der religiösen, und ich würde daher allein dafür stimmen, Juden und Christen vollkommen gleich zu stellen. Dies hat für ihn zur Folge, dass die jüdischen Gemeinden nur eine kirchliche Gesellschaft sind12, und auch dass Streitigkeiten zwischen diesen und ihren Rabbinern, sofern sie nicht als Rechtsstreitigkeiten vor die ordentlichen Gerichte gehören, von der Provinzialregierung zu entscheiden sind. Eben diese Behörden verfügen auch – wie Humboldt weiter ausführt13 – über die Absetzung der Rabbiner, jedoch – wo nicht ein besonderes Staatsinteresse eintritt, mit Rücksicht auf den Willen der Gemeine. Diese einleitenden Bemerkungen waren nötig, um damit deutlich zu machen, dass die Frage der Autonomie jüdischer Gemeinden für die Reformer seit der Aufklärungszeit zu einem der Schlüsselprobleme bei den unterschiedlichen Modellen zur Emanzipation der Juden wurde. Für die einen war die Beibehaltung der Autonomie Voraussetzung jeder „bürgerlichen Verbesserung“, da für sie die korporative Eingebundenheit notwendiges Mittel zur weiteren Bewahrung eigenständiger Traditionen erschien. Für sie sprach, dass die in der Halacha [d. h. den Rechtsvorschriften des Talmud] 9 Hierzu: Albert A. Bruer, Geschichte der Juden in Preußen, 1750 – 1820, Frankfurt am Main, New York 1991, S. 287 – 289; Rainer Erb / Werner Bergmann, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780 – 1860, Berlin 1989, S. 36 f. 10 Abdruck des Gutachtens vom 17. Juli 1809 bei: Ismar Freund, Die Emanzipation der Juden in Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812, Bd. 2: Urkunden, Berlin 1912, S. 269 – 292. 11 Freund, Emanzipation der Juden 2 (FN 10), S. 273. 12 Ebd., S. 280. 13 Ebd., S. 280.

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niedergelegten jüdischen Religionsgesetze stets umfassenden Charakter hatten und niemals auf Fragen des Glaubens oder der Konfession beschränkt werden konnten.14 Für die andern war die Abschaffung der Autonomie Konsequenz des liberalen Staatsverständnisses und zugleich notwendige Voraussetzung für die Integration der Juden in den Staat: Da ihnen nur mehr der Charakter einer Konfessionsgruppe zugebilligt wurde, die dem Staat nicht mehr als Gruppe – oder im Sprachgebrauch der Zeit als „Nation“ – gegenübertreten sollten, sondern nur noch als einzelne Bürger mit individuellen Rechten, konnte sie den jüdischen Gemeinden keinen autonomen Status mehr zubilligen. Was für die Gemeinden galt, musste auch für alle diese ersetzenden Korporationen gelten, wie vor allem für die sog. Landjudenschaften als regionale Formen jüdischer Selbstverwaltung.15 So ergibt sich das Bild, dass letztlich die Frage der Beibehaltung oder Aufhebung der Autonomie als die Emanzipationsfrage schlechthin angesehen werden kann.16 Aber auch im innerjüdischen Diskurs spielte die Frage des Fortbestands oder des Wegfalls der gemeindlichen Autonomie eine große Rolle. Es soll nur auf die heftig diskutierte Schrift „Über die Autonomie der Rabbinen und das Prinzip der jüdischen Ehe“ des Reformrabbiners Samuel Holdheim aus Frankfurt an der Oder von 1844 hingewiesen werden, in der er halachische, also religionsgesetzliche Kategorien in moderne Definitionen von Staat und Verfassung umdeutet.17 Dahinter stand das Bemühen, den religionsgesetzlich geforderten Freiraum als eine Autonomie neuer Art in den vom Staat zur Verfügung gestellten Rechtsrahmen zu integrieren.18 Auf diesen Diskurs kann allerdings im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter eingegangen werden. 14 Siehe dazu: Mendell Lewittes, Principles and Development of Jewish Law. The Concepts and History of Rabbinic Jurisprudence from its Inception to Modern Times, New York 1987, S. 50 ff. Speziell zur Bedeutung der Halacha seit der Emanzipationszeit siehe: Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozess. Die Wahrnehmung der Halacha im Deutschland des 19. Jahrhunderts (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 55), Tübingen 1997, insb. S. 23 ff. 15 Hierzu vor allem Daniel J. Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung, in: Christiane Heinemann (Red.), Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; Bd. 6), Wiesbaden 1983, S. 151 – 214. 16 Shmuel Feiner, The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2004, S. 307. 17 Samuel Holdmann, Über die Autonomie der Rabbinen und das Princip der jüdischen Ehe. Ein Beitrag zur Verständigung über einige das Judenthum betreffende Zeitfragen, 2. Aufl. Schwerin 1847. Dazu die Rezension von Mendel Heß, in: Der Israelit des 19. Jahrhunderts 5 (1844), S. 1 – 4, 9 – 12, 17 – 21 und 25 – 28. Insgesamt dazu: Gotzmann, Jüdisches Recht (FN 14), S. 207 – 218. 18 Gotzmann, Jüdisches Recht (FN 14), S. 207 f.

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Verfolgt man als Rechts- und Verfassungshistoriker den in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts einsetzenden Reformdiskurs, so könnte man sehr schnell zur Auffassung gelangen, es habe seit eh und je eine unbeschränkte Autonomie jüdischer Gemeinden und Korporationen bestanden, die als solche von den christlichen Obrigkeiten – vom Kaiser ebenso wie von den Landesherren und sonstigen Schutzherren der Juden – geachtet worden sei. Und dies ist in der Tat auch die klassische, im wesentlichen von Jacob Katz begründete Auffassung19: Die Gemeindeautonomie war danach Konsequenz der sozialen und politischen Absonderung der jüdischen von der christlichen Gesellschaft, eben das, was man mit dem Schlagwort der Ghettoisierung treffend umschrieben hat.20 Es wurde sogar die These geäußert, die Autonomie der jüdischen Gemeinden sei bis zum Ende des Ancien Régime nicht angetastet worden.21 Längst jedoch sind Zweifel an dieser These geäußert worden. Ich selbst habe 1996 in einem exemplarisch konzipierten Beitrag22 feststellen können, dass es über die gesamte vormoderne Zeit hinweg integrative Entwicklungen zwischen jüdischen und christlichen Gemeinschaften und deren Mitgliedern gab, die Zweifel darauf aufkommen lassen, ob die jüdischen Gemeinden als autonome Korporationen unabhängig von ihrer Umwelt funktionierten. Andreas Gotzmann spricht für die Frühe Neuzeit von einer prinzipiellen Offenheit des jüdischen Rechtsraums23 und einem lediglich „kulturellen Ideal von Autonomie“24, die also rechtlich gar nicht vorhanden gewesen sei, jedenfalls nicht als eigenständig gedacht werden kann.25 Schon diese Beobachtungen müssen zu denken geben. 19 Zur Forschungsdiskussion hierzu siehe: J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (= Enzyklopädie deutscher Geschichte,Bd. 60), München 2001, S. 70 – 76. 20 Jacob Katz, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, München 2002 (zuerst hebräische Ausgabe 1958), S. 23 – 30 und öfter. 21 So hinsichtlich der elsässischen Juden: André-Marc Haarscher, Les Juifs du Comté de Hanau-Lichtenberg entre le XIVe siècle et la fin de l’Ancien Régime (= Collection „Recherches et documents“, tome 57), Straßburg 1997, S. 257. 22 J. Friedrich Battenberg, Zwischen Integration und Segregation. Zu den Bedingungen jüdischen Lebens in der vormodernen christlichen Gesellschaft, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 6 (1996), S. 421 – 454. Einzelne Gedanken dazu auch in: ders., Grenzen und Möglichkeiten der Integration von Juden in der Gesellschaft des Ancien Régime, in: Mathias Beer / Martin Kintzinger / Marita Krauss (Hrsg.), Migration und Integration Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, S. 87 – 110. 23 Andreas Gotzmann, Die Grenzen der Autonomie. Der jüdische Bann im Heiligen Römischen Reich im späten 18. Jahrhundert, in: Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 39), Berlin 2007, S. 41 – 80, hier: S. 54 f., 69, 77. 24 Gotzmann, Grenzen der Autonomie (FN 23), S. 69.

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Der Korporations- bzw. Nationscharakter der Juden als einer autonomen Minderheit innerhalb der christlichen Gesellschaft wurde übrigens spätestens seit der Zeit des Frühantisemitismus des 19. Jahrhunderts antijüdisch gewendet26 und gipfelte mit dem Konzept Friedrich Julius Stahls vom „Christlichen Staat“ in der Forderung nach Segregation der Juden27; Er erscheint als ein intellektuelles Konstrukt der Reformbeamten um Christian Wilhelm Dohm, das der Vielfältigkeit der historischen Wirklichkeit der älteren Zeit nicht im Entferntesten entsprach. Gewiss: Es gab unbestreitbar autonome Züge, wenn man das moderne rechtsdogmatische Instrumentarium als Messlatte der vormodernen Verfassung der Juden zugrunde legen würde. Aber es wäre ein anachronistischer Fehlschluss, würde man dem Landesherrn der Frühen Neuzeit, der allenthalben in die Korporationen seines Staates regulierend und kontrollierend eingriff und sie seinen Zwecken dienstbar machte, unterstellen, er habe den Judenschaften einen autonomen Freiraum gelassen und ihn etwa aus Achtung vor der halachischen Tradition nicht weiter angetastet. Wenn z. B. David Sorkin zur Beschreibung ökonomischer Veränderungen der jüdischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert schreibt28: „The Jews’ economic role in Germany society changed, then, as they became instruments of mercantilist raison d’état“, so kann dies auch auf die rechtliche Verfasstheit der jüdischen Gemeinden angewendet werden: Spätestens der merkantilistisch denkende Landesherr verursachte unter den jüdischen Korporationen einen strukturellen Wandlungsprozess, der von der älteren Autonomie, sofern diese überhaupt bestanden hatte, nichts mehr übrig ließ. Das Reformmodell konnte schon deshalb auch gar nicht funktionieren, weil die historische Entwicklung längst darüber hinweg gegangen war. Damit sind auch schon die Themenbereiche meiner folgenden Ausführungen benannt: Zunächst soll – nach einigen grundsätzlichen Vorbemerkungen zum Verhältnis der jüdischen Minderheits- zur christlichen Mehrheitsgesellschaft (Kap. II.) der Ausgangspunkt der Entwicklung im Spätmittelalter bis zur Entstehung der Landjudenschaften im 16. und 17. Jahrhundert beschrieben werden (Kap. III.). Danach sollen die strukturell- rechtlichen Veränderungen der jüdischen Gesellschaft unter dem Eindruck merkantilistisch motivierter obrigkeitlicher Konzepte seit dem späten 17. Jahrhundert in den Mittelpunkt gestellt werden (Kap. IV.). Am Schluss wird ein differen25

Gotzmann, Grenzen der Autonomie (FN 23), S. 47. Nicoline Hortzitz, ,Früh-Antisemitismus‘ in Deutschland 1789 – 1871 / 1872 (= Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 83), Tübingen 1988, S. 121, 255 – 262. 27 Wilhelm Füßl, Friedrich Julius Stahl, 1802 – 1861. Vom bayerischen Juden zum preußischen Konvertiten, in: Manfred Treml / Wolf Weigand (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Juden in Bayern: Lebensläufe, München 1988, S. 121 – 128; Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 130 f. 28 Sorkin, The Transformation of German Jewry (FN 3), S. 44. 26

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ziertes Bild der Strukturen der jüdischen Gesellschaft entstehen, das die Reformer seit dem späten 18. Jahrhundert je nach ihrer Zielsetzung als Vorbild oder als Gegenbild zu den eigenen Entwürfen überzeichneten (Kap. V.). Es wird sich zeigen, dass die Juden des Ancien Régime, ihre Korporationen und Zusammenschlüsse zwar eine gewisse Sonderstellung im Rahmen einer christlich orientierten Gesellschaft eingenommen hatten, dass sie aber dennoch eingebunden waren in das gesamtgesellschaftliche Gefüge der vormodernen Zeit. Wer sich mit der jüdischen Verfassungsgeschichte beschäftigt, darf demnach die christliche bzw. gesamtgesellschaftliche nicht außer Acht lassen. II. Zunächst sollen einige Grundfragen zum Verständnis jüdische Gemeindeautonomie geklärt werden, durch die der nachfolgend beschriebene Problembereich näher abgesteckt werden kann. Zu fragen ist dabei einerseits nach dem innerjüdischen Verständnis zum Recht der christlichen Obrigkeiten, andererseits auch nach den von diesen gesetzten Bedingungen für gemeindliche und übergemeindliche Aktivitäten der Juden des Heiligen Römischen Reichs. Begreift man Autonomie im rechtlichen Sinne als die von einer Obrigkeit einer definierten Gruppe aus der Untertanenschaft oder einer Institution durch gesetzgeberische Maßnahmen die eigenen Angelegenheiten zu regeln, so kann man streng genommen erst für den vormodernen Gesetzgebungsstaat von autonomen Korporationen sprechen.29 Für das späte Mittelalter von einem „Konflikt zwischen jüdischer Gerichtsautonomie und herrschaftlicher Bevormundung“ zu sprechen, wie dies Yacov Guggenheim tut30, ist zumindest missverständlich. Diese konnte nämlich nur dasjenige umfassen, was für den Schutzherrn ohne Interesse war. Folgerichtig griffen diese immer dann, wenn es ihnen möglich war, in Amtseinsetzungsverfahren, z. B. von Gemeindevorstehern oder Rabbinern, ein.31 Ohne auf die Gesetzgebungstheorien des 16. Jahrhunderts, durch die überhaupt erst der frühneuzeitliche Fürstenstaat konstituiert wurde, eingehen zu müssen, kann jedenfalls soviel festgestellt werden, dass erst die 29 Vgl. die knappe Definition bei Gerhard Kobler, Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte, 2. Aufl. Gießen 2004, S. 41. 30 Yacov Guggenheim, A suis paribus et non aliis iudicentur: jüdische Gerichsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christliche Herrschaft und die obersten rabi gemeiner Judenschafft im heiligen Reich, in: Christoph Cluse /Alfred Haverkamp / Israel J. Yuval (Hrsg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert (= Forschungen zur Geschichte der Juden, Bd. A 13), Hannover 2003, S. 405 – 439, hier: S. 438. 31 Guggenheim, Jüdische Gerichtsbarkeit (FN 30), S. 404 f.

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Anerkennung der Regelungskompetenz einer landesfürstlichen Obrigkeit32 den Weg dafür freimachte, dass bestimmte Bereiche und Personengruppen aus unterschiedlichen Gründen davon ausgenommen wurden. Der sich schrittweise unter Zusammenfassung älterer Rechte als ein territorium clausum konsolidierende Fürstenstaat33 war bestrebt, durch die Herstellung einer einheitsstiftenden Ordnung zur Objektivierung des politischen Willens oder die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Herrschaftsausübung möglichst alle in seinem Verband vorgefundenen Gruppen gesetzgeberisch zu erfassen.34 Das bewährte, alte Gewohnheitsrecht sollte zunächst keineswegs verdrängt werden. Indem man jedoch das alte Recht, das durch vielfältige Privilegien und Satzungen unübersichtlich geworden war, vereinheitlichte, das ius incertum in ein ius certum umwandelte35, schuf man im Ergebnis doch neues Recht. Man ermöglichte zugleich den von der Gesetzgebung der Landesordnungen und Policeyverordnungen betroffenen Gruppen, in diesem Gesamtspektrum der Regelungsfelder einen Platz zu finden, der statutarische Detailregelungen für etwaige, außerhalb obrigkeitlichen Interesses stehende Materien zuließ. Es erscheint aber sehr zweifelhaft, ob den jüdischen Gemeinden im Zuge der obrigkeitlichen Landesordnungen die Kompetenz zur Regelung eigener Angelegenheiten nachgelassen wurde. Zwar nahmen jüdische Gemeinden seit jeher das Recht in Anspruch, das Verhalten ihrer Mitglieder durch Statuten, den sog. takkanot, zu regeln.36 Josel von Rosheim, der von der gesamten Judenschaft des Heiligen Römischen Reiches anerkannte und sogar von Kaiser Karl V. geachtete Befehlshaber der deutschen Judenheit37, wagte es sogar, den auf dem Reichstag in Augsburg versammelten Reichsständen Abschriften der von ihm für die Judenheit des Reichs verfassten „Artikel und

32 Noch für das 16. Jahrhundert umstritten, Thomas Simon, ,Gute Policey‘. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 170), Frankfurt am Main 2004, S. 85, 191. 33 Vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln, Wien 1975, S. 286 ff. 34 Ursula Floßmann, Landrechte als Verfassung (= Linzer Universitätsschriften. Monographien, Bd. 2), Wien, New York 1976, S. 229 f. 35 Bernhard Diestelkamp, Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jahrhundert – aufgezeigt am Beispiel der oberhessischen Erbgewohnheiten von 1572, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Rechtshistorische Studien. Hans Thieme zum 70. Geburtstag, Köln, Wien 1977, S. 1 – 33, hier: S. 30. 36 J. Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650, 2. Aufl. Darmstadt 2000, S. 114 – 117. 37 J. Friedrich Battenberg, Art. „Rosheim, Josel von, ca. 1478 – 1554“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29, Berlin 1998, S. 424 – 427.

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Ordnung“ zu verteilen.38 Doch lassen weder die der Judenschaft gewährten Privilegien39 noch die neuen landesherrlichen Judenordnungen40 Hinweise darauf erkennen, dass den Juden des 15. und 16. Jahrhunderts das Recht zur Regelung eigener Angelegenheiten zuerkannt wurde. Im Gegenteil: Die Landesherren wie auch städtische Obrigkeiten und sonstige Herrschaftsinhaber nahmen für sich in Anspruch, die Lebensverhältnisse der ihrem Schutz unterstehenden Juden möglichst umfassend selbst zu regeln. Von der Anerkennung korporativer Rechte ähnlich denen der Zünfte oder anderer christlicher Bruderschaften, Klöster und Stifte kann keine Rede sein. Nicht zufällig ist seit dem Späten Mittelalter allgemein von Schutzjuden die Rede – also von Personen minderen Rechts, die einem konkreten Schutzverhältnis unterstellt waren.41 Wenn bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch eine faktische Autonomie der jüdischen Gemeinden des Heiligen Römischen Reiches bestanden haben sollte42, so war es auch damit seit der Zeit des Schwarzen Todes in der Mitte des 14. Jahrhunderts, vorbei. Die durch die Verfolgungen und Vertreibungen weitestgehend zerstörten oder marginalisierten Gemeinden43 konnten sich danach in der Regel nicht mehr mit obrigkeitlicher Billigung konstituieren, sondern entstanden danach eher zufällig, wenn sich an einem Ort die für eine Gebetsgemeinschaft erforderliche Anzahl von Juden zusammenfanden. Die Regel war jetzt, dass die dazu berechtigten Schutzherren, die über das kaiserliche Judenregal verfügten, einzelnen Juden bzw. jüdischen Familien durch spezielle Schutzbriefe zeitlich begrenzte Ansiedlungsrechte gewährten. Hinsichtlich der Kurfürsten von Mainz habe ich 38 Selma Stern, Josel von Rosheim. Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, Stuttgart 1959, S. 98 f. 39 J. Friedrich Battenberg, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Barbara Dölemeyer / Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1 (= Ius Commune, Sonderhefte: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 93), Frankfurt am Main 1997, S. 139 – 190. 40 J. Friedrich Battenberg, Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen, in: Heinemann (Red.), Neunhundert Jahre Geschichte (FN 15), S. 83 – 122. 41 Zusammenfassend dazu: J. Friedrich Battenberg, Art. „Schutzjuden“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 1990, Sp. 1535 – 1541. 42 Alfred Haverkamp, Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext: Konzeptionen und Aspekte, in: Cluse / Haverkamp / Yuval (Hrsg.), Jüdische Gemeinden (FN 30), S. 1 – 32, insb. S. 9 ff. 43 Frantisek Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987; ders., Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der Schwarze Tod, in: Bernd Martin / Ernst Schulin (Hrsg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1982, S. 68 – 84. Siehe insgesamt auch: Anna Foa, The Jews of Europe after the Black Death, Berkeley, Los Angeles, London 2000, insb. S. 13 – 16; zur Forschungssituation siehe Gerd Mentgen, Die Judenvertreibungen im mittelalterlichen Reich. Ein Forschungsbericht, in: Aschkenas 16 (2006) (erschienen 2007), S. 367 – 403.

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nachweisen können, dass hier die Landesherren, seit ihnen Kaiser Karl IV. in der Goldenen Bulle von 1356 das Judenregal erteilt hatte, gezielt und in Konkurrent mit den Kurfürsten von der Pfalz, Juden in ihren Städten unter günstigen Bedingungen wieder ansiedelten, um damit ein Gegengewicht zur alteingesessenen Bürgerschaft zu schaffen.44 Juden mussten seither unter denjenigen Bedingungen, die ihnen jeweils zugestanden wurden, ihren Lebensunterhalte verdienen. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde war spätestens in dieser Zeit eine rein innerjüdische Angelegenheit, die die Obrigkeit nicht weiter interessierte. Nicht zu Unrecht konnte deshalb Stefan Rohrbacher, einer der besten Kenner der jüdischen Gemeindestrukturen des 16. Jahrhunderts, feststellen, dass die Obrigkeiten dieser Zeit von den inneren Angelegenheiten der Juden und damit auch von den Ämtern und Personen der für die Gemeinden und Bezirke zuständigen Landesrabbiner kaum jemals Notiz genommen haben.45 Es mag zutreffen, dass die jüdische Gemeinde dieser Zeit, nach einer Definition Dean Philippe Bells, eine Gruppe war, an die sich die einzelnen Juden aus rituellen wie auch aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gebunden fühlten – dass also eine Einheit im Ritus oder das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals mit der Tendenz zur solidarischen Abwehr des von der christlichen Umwelt empfundenen Drucks bestand.46 Doch ist seine Behauptung, diese Gemeinde sei damit in gewissem Sinne ein Staat im Staate gewesen, der das Recht der Selbstverwaltung gehabt habe und dessen Autonomie aufgrund der Schutzzusagen der nichtjüdischen Regierung gewährleistet sein konnte47, angesichts der Quellenlage und aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht zu halten. Vielmehr waren gemeindliche Struktur, wenn sie in der halachischen Ordnung des Talmud begründet war, und rabbinisches Amt mit der staatlichen Ordnung der Zeit nicht kompatibel: Die in der Forschung behauptete Autonomie der Gemeinden war, jedenfalls für die Zeit nach dem 44 J. Friedrich Battenberg, Judenschutz und Judenbürgerschaft im spätmittelalterlichen Kurmainz. Zur landesherrlichen Funktionalisierung einer Bevölkerungsgruppe, in: Christoph Dipper (Hrsg.), Hessen in der Geschichte. Festschrift für Eckhart G. Franz zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1996, S. 51 – 69; auch ders., Minderheiten und städtische Identität: Das Beispiel der Juden, in: Giorgio Chittolini / Peter Johanek (Hrsg.), Aspetti e componenti dell’identità urbana in Italia e in Germania, secoli XIVXVI. Aspekte und Komponenten der städtischen Identität in Italien und Deutschland, 14. – 16. Jahrhundert, Bologna, Berlin 2003, S. 249 – 264. 45 Stefan Rohrbacher, Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: Rolf Kießling (Hrsg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (= Colloquia Augustana, Bd. 2), Berlin 1995, S. 80 – 109, hier: S. 103. 46 Dean Philippe Bell, Gemeinschaft, Konflikt und Wandel. Jüdische Gemeindestrukturen im Deutschland des 15. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling/Sabine Ullmann (Hrsg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit (= Colloquia Augustana, Bd. 10), Berlin 1999, S. 157 – 191, hier: S. 160 f. 47 Bell, Gemeinschaft (FN 46), S. 161.

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Schwarzen Tod und bis mindestens zum Dreißigjährigen Krieg, allenfalls eine faktische und nicht eine rechtliche – eine Art Selbstverwaltung, die nur deshalb bestand, weil sich die Obrigkeiten für das, was sich außerhalb des Bereichs der öffentlichen Ordnung und ohne Berührung von Interessen der christlichen Umwelt ereignete, nicht weiter interessierte. Dieses Ergebnis kann durch zwei Beobachtungen bestätigt werden, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Zum einen muss auf eine innerjüdische Perspektive hingewiesen werden, die auf das halachische Verständnis von nichtjüdischem, staatlichem Recht weist. Danach wurde, nach im Grundsatz übereinstimmender rabbinischer Ansicht, angenommen, dass die Juden seit der zweiten Zerstörung des Tempels im Exil (galut) unter fremden Völkern zu leben gezwungen seien. Dies wurde als „Knechtschaft unter den Königreichen“ (schi’awod malchuot) bezeichnet48 – ganz so, wie seit dem Hohen Mittelalter von christlicher Perspektive aus der Status der Juden als servitus perpetua charakterisiert wurde49, wenn auch hier in einer anderen Stoßrichtung. Die Existenzform des Galut, die zur festen Grundlage des rabbinischen Denkens im Mittelalter wurde50, hat zugleich zur Ausprägung einiger Rechtsprinzipien geführt, durch die das Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt definiert wurde. Das wichtigste halachische Prinzip wurde mit den Worten dina de’malchute dina ausgedrückt51, was soviel heißt wie: „Das Recht des Königs ist Recht“.52 Für die Verhältnisse des aschkenasischen, mitteleuropäischen Judentums in der Vormoderne könnte man dies mit den Worten frei übertragen: Das Recht, das von der christlichen Obrigkeit gesetzt wurde, lassen die Juden für sich als das für sie ebenso wie für andere geschaffene Landesrecht gelten. Amos Funkenstein hat davon gesprochen, dass es – so wörtlich – „kein sichtbareres Symbol für den Verlust der jüdi48 Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, Berlin 1993, S. 26. 49 J. Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlichsozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 545 – 599, hier: S. 558 f. 50 Hans-Joachim Schoeps, Die Religion der Juden, in: Franz Böhm / Walter Dirks (Hrsg.), Judentum. Schicksal, Wesen und Gegenwart, Bd. 1, Wiesbaden 1965, S. 369 – 398, hier: S. 387 – 390. 51 Siehe die Abhandlungen von: Shmuel Shilo, Dina d’malchute dina, Jerusalem 1971 [hebr.], und Leo Landman, Jewish Law in the Diaspora: Confrontation and Accomodation, Philadelphia 1968. 52 Das dem Mar Shmuel zugeschriebene Prinzip taucht in der Halacha an vier Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen auf: Babylonischer Talmud, Traktate Nedarim Bl. 28, Gittin Bl. 10, Baba Quama Bl. 111 – 111v und Baba batra Bl. 54v – 55. Vgl. die Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Bde. 1 – 12, Berlin 1930 – 1936, Nachdruck Frankfurt am Main 1995.

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schen Souveränität als dieses Prinzip“ gäbe.53 Zwar beansprucht das jüdische Recht der Halacha selbstverständlich auch im Galut Geltung. Zumindest im Hohen Mittelalter unter den karolingischen, ottonischen und salischen Herrschern wurde dies in verschiedenen Privilegien auch bestätigt, indem den jüdischen Gemeinden zugestanden wurde, nach ihrem eigenen Recht leben zu dürfen, secundum legem suam vivere.54 Doch blieb dieser sozusagen vom Gemeinen Recht ausgenommene Bereich undefiniert und damit disponibel. Das halachische Prinzip dina d’malchuta dina erkannte – und zwar im Rahmen einer Selbstbeschränkung der eigenen Existenz als „Knechtschaft“ – die Kompetenz der nichtjüdischen Herrschaftsinhaber an, Inhalt und Reichweite der Gesetze auch für die jüdischen Gemeinden und Korporationen festzulegen. Lediglich eine wichtige Differenzierung wurde vorgenommen: In der Halacha wurde vom „Recht des Königreichs“ der „Raub [des Rechts] durch den König“ abgehoben, dort bezeichnet als chamsanuta d’melech. Damit wurde zwischen dem gültigen Recht und dem willkürlichen Handeln des Herrschers unterschieden. Wo der Herrscher vom Landesrecht bzw. dem Gemeinen Recht abwich, bestand aus halachischer Sicht keine Verpflichtung, seinen Befehlen nachzukommen und sich damit dem zum Unrecht gewordenen Recht zu unterwerfen.55 Damit wurde aber das Grundprinzip der rechtlichen Selbstbeschränkung unter den Bedingungen des Exils nicht aufgegeben, sondern nur auf den Fall des rechtmäßigen Handelns der Obrigkeit beschränkt. Nicht ohne Berechtigung konnte deshalb Amos Funkenstein schreiben, dass das halachische Prinzip der Anerkennung des jeweils im Lande herrschenden Rechts „das moderne Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz“ vorweggenommen habe.56 Das bisweilen von den Herrschern abgetrotzte Recht, nach eigenem Recht leben zu dürfen, bezog sich nicht auf Prinzipien des Landesrechts oder des Gemeinen Rechts und erst recht nicht auf die in den Policeynormen des frühneuzeitlichen Staates zum Ausdruck kommende Ordnungskompetenz, sondern lediglich auf Angelegenheiten des Ritus, die seit dem 17. Jahrhundert allgemein als „Zeremonialsachen“ bezeichnet wurden. Es ist deshalb nichts Außergewöhnliches, dass 1312 etwa der Bischof von Worms die Einsetzung und Zusammensetzung des Judenrats der Wormser Gemeinde regelt – wenn auch zu dem Zweck, sich daraus eine regelmäßige Einnahmequelle zu verschaffen und um Kontrolle auszuüben.57 53 Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt am Main 1995, S. 120. 54 Lea Dassberg, Untersuchungen über die Entwertung des Judenstatus im 11. Jahrhundert, Paris, La Haye 1965, S. 60 ff., 73 – 87. 55 Funkenstein, Jüdische Geschichte (FN 53), S. 121. 56 Ebd., S. 154.

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Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich die Juden, zumindest diejenigen im aschkenasischen, also mitteleuropäischen Rechtsraum, nach eigenem Selbstverständnis als Teil der jeweiligen Rechtsordnung verstanden, der sie in abhängiger Stellung zugeordnet waren. Zum andern soll auf das Scheitern der im 16. und 17. Jahrhundert sichtbar werdenden Bestrebungen der jüdischen Gemeinden des Heiligen Römischen Reichs eingegangen werden, durch eine bessere reichsweite Vernetzung eine größere korporative Eigenständigkeit gegenüber den ihnen zugeordneten Schutzherren zu erreichen. Obwohl es schon seit dem 12. Jahrhundert im Reich Bestrebungen zu Absprachen und gemeinsamen Statuten bzw. einer übereinstimmenden Responsenpraxis unter den aschkenasischen Gemeinden gab – erinnert sei etwa an die von den drei sog. SCHUM-Gemeinden Speyer, Worms und Mainz beanspruchte Führungsrolle unter den aschkenasisch-jüdischen Gemeinden am Mittelrhein58 –, kam es erst nach der Neukonstituierung gemeindlicher Strukturen und der Wiedereinrichtung von Rabbinatssitzen zum Versuch einer reichsweiten Organisation – nicht zufällig ganz in zeitlicher Parallele zur korporativen Konstituierung der Reichsritterschaft.59 Eine 1542 von der „gemeinen Jüdischheit“ des Reichs auf einer Zusammenkunft in Frankfurt errichtete Ordnung60 blieb in der christlichen Umwelt weitgehend unbeachtet, weil sie die Interessen der Obrigkeiten offenbar nicht weiter tangierte. Von Kaiser Karl V. wurde sie mittelbar sogar abgesichert, wenn er – ohne die Statuten ausdrücklich zu erwähnen – zwei Jahre später der Judenschaft des Reichs umfangreiche Privilegien gewährte, mit der Maßgabe, dass sie bei ihren überkommenen Freiheiten bleiben solle.61 57 Urkunde Bischof Emmerichs von Worms vom 25. Juli 1312, Staatsarchiv Darmstadt, A 2 Nr. 255 / 674; Edition bei: Heinrich Boos (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Worms, Bd. 2, Berlin 1890, S. 45 – 47, Nr. 74. Im einzelnen dazu: Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 115 f. Das Zugeständnis, dass die zwölf Ratsleute nach jutischem reht rihten sollen, bedeutet nicht die Gewährung einer rechtlichen Autonomie, sondern nur das Zugeständnis, dass halachisches Recht innerhalb der jüdischen Gemeinde Anwendung finden könne. 58 Hierzu Rainer Barzen, ,Kehillot Schum‘: Zur Eigenart der Verbindungen zwischen den jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, in: Cluse / Haverkamp / Yuval (Hrsg.), Jüdische Gemeinden (FN 30), S. 389 – 404; zusammenfassend auch: Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 114 f. Edition der Takkanot der drei Gemeinden Speyer, Worms und Mainz bei: Julius H. Schoeps / Hiltrud Wallenborn (Hrsg.), Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, Darmstadt 2001, S. 154 – 157, Nr. 72. 59 Hierzu: Volker Press, Reichsritterschaften, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 679 – 689. 60 Eric Zimmer, Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages, 1286 – 1603, New York 1978, S. 138 – 147; Analyse ebd., S. 67 – 72.

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Daran knüpften die aschkenasischen jüdischen Gemeinden im Reich unter Führung der Gemeinden von Frankfurt am Main und Worms an, als sie sich 1603 am Rande der Frankfurter Herbstmesse mit ihren Ratsdelegierten versammelten, ausdrücklich mit dem Ziel, zu höchster Notturft der Gemaindt[en, um diese] zu kreftigen undt zu bevestigen, zue verordnen nach Gelegenheit der Zeit, von wegen, dass nicht soll sein das Heilige Volk als wie Schafe ohne Hürten.62 Nach Ansicht der historischen Forschung wurde in dieser sog. Frankfurter Rabbinerverschwörung der Versuch gemacht, eine Art organisatorische Verbindung der deutschen Judenheit herbei zu führen und damit gleichsam den faktischen Autonomiestatus der Gemeinden auf eine übergemeindliche Korporation ähnlich der der in der selben Zeit konstituierten Reichsritterschaften zu übertragen.63 Ob diese confoederatio Judaeorum scheiterte, weil sie der Judenpolitik des Kölner Kurfürsten Ernst von Bayern – der sich durch seinen Hofjuden Levi von Bonn umfassend hat informieren lassen – als einem dynastischen Konkurrenten des habsburgischen Kaisers Rudolf II. widersprach64, oder weil sie dem fortgeschrittenen Territorialisierungsprozesse entgegen stand, dem sich auch die theoretisch als reichsunmittelbar geltenden Juden nicht entziehen konnten65, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Im Hinblick auf das Autonomieproblem ist ein anderer Gesichtspunkt wichtiger: Die Ordnung wurde offenbar als eine Bedrohung der Gesetzgebungsautorität der christlichen Obrigkeit aufgefasst, weil sie nach Ansicht der betroffenen Landesfürsten Rechtsmaterien regelte, die über das für die überkommenen inner61 Staatsarchiv Darmstadt, A 2 Nr. 255 / 2057 (in Transsumpt von 1663). Eine Edition fehlt bislang. Beschreibung und Regest bei: J. Friedrich Battenberg (Bearb.), Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080 – 1650 (= Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven, Bd. 2), Wiesbaden 1995, S. 343, Nr. 1285. 62 Zimmer, Jewish Synods (FN 60), S. 147 – 191 (Abdruck der Takkanot von 1603), hier: S. 149 (nach der überlieferten Version B). Auch: Marcus Horovitz, Die Frankfurter Rabbinerversammlung vom Jahre 1603 (= Beilage zur Einladungsschrift der Israelitischen Religionsschule), Frankfurt am Main 1897, S. 9 und 20. 63 So Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hrsg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243 – 293, hier: S. 244 f., 252 u. a. Danach: Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 95. Zur Diskussion insgesamt jetzt: Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich (= Netiva, Wege deutsch-jüdischer Geschichte. Studien des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts, Bd. 5), Hildesheim, Zürich, New York 2003, S. 18 – 27. 64 So Klein, Wohltat und Hochverrat (FN 63), S. 485 – 489. 65 So Press, Kaiser Rudolf II. (FN 63), S. 244 – 247; danach auch Herzig, Zur Geschichte der Juden (FN 63), S. 102 f.; Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 241.

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gemeindlichen Statuten, die takkanot, Übliche hinaus gingen. Dies bedarf einer kurzen Erläuterung. Regelungsgegenstände der takkanot waren üblicherweise die sog. minhagim; das sind Gewohnheiten der religiös-rituellen Praxis, aber auch ethische Verhaltensregeln des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Solche Regeln waren selbstverständlich auch in den Frankfurter Beschlüssen von 1603 enthalten.66 Sie hatten vor allem den Zweck, die Kommunikation untereinander, aber auch im Verkehr mit christlichen Geschäftspartnern, mit halachischen Grundsätzen in Übereinstimmung zu bringen. Darüber hinaus aber wurden jetzt auf der Grundlage älterer Einrichtungen fünf jüdische Gerichtshöfe als Appellationsinstanzen für die gesamte Judenschaft des Reiches festgelegt, nämlich zu Frankfurt am Main, Worms, Friedberg, Fulda und Günzburg. Neben ihnen wurden sog. Legstätten zur gemeindeweisen Erhebung von Steuern zum Besten der Judenschaft festgelegt, nämlich zu Frankfurt am Main, Worms, Mainz, Bingen, Friedberg, Schnaittach bei Nürnberg, Wallerstein im Ries und Günzburg. Von den eingenommenen Steuergeldern, die von den Gemeindevorstehern verwaltet werden sollten, sollten besonders die Fürsprecher der Judenschaft bei den christlichen Obrigkeiten, die sog. schtadlanim, bezahlt werden. Um die rabbinische Rechtsprechung ebenso wie finanzielle Versorgung der Gemeinden zu gewährleisten, wurden darüber hinaus detaillierte Organisations- und Zuständigkeitsregeln geschaffen. Da auch schon in älteren Absprachen und Ordnungen der Judenschaften im Reich Regeln zur Wahrnehmung der Jurisdiktions- und Steuerhoheit, soweit sie von den christlichen Obrigkeiten zugestanden war, enthalten waren, kann bezweifelt werden, dass die Frankfurter Beschlüsse revolutionäre Neuerungen enthielten. Sie scheinen eher eine gewisse rechtliche Absicherung einer ohnehin schon bestehenden Praxis gebracht zu haben, vor allem in der Absicht erlassen, Reichweite und Grenzen der Autorität der jüdischen Gemeinden festzuschreiben. Aber gerade diese rechtliche Festlegung, die durch die Übersetzung der hebräischen Vorlage durch den Kurkölner Landesrabbiner Josef von Metz67 und die Berichte des Hofjuden Levi von Bonn den christlichen Obrigkeiten bekannt geworden war, konnte als Bedrohung empfunden werden. Das, was den jüdischen Gemeinden von ihren Schutzherrschaften durch Einzelprivilegien zugestanden werden konnte, wurde in der confoederatio iudaeorum von 1603 nach Ansicht der christlichen Obrigkeiten eigenmächtig in Anspruch genommen. Man kann also mit Fug und Recht aus der Reaktion auf die sog. Frankfurter Rabbinerverschwörung schließen, dass seitens der christlichen Ob66 Ein detaillierter Überblick über die Regeln bei Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 238 f. 67 Zu ihm Klein, Wohltat und Hochverrat (FN 63), S. 131 – 134.

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rigkeit mitnichten ein Autonomiestatus für die jüdischen Gemeinden des Heiligen Römischen Reichs anerkannt wurde. Ich will damit nicht ausschließen, dass in Privilegien und Einzelverträgen eine Art Rechtsautonomie ausdrücklich zugestanden werden konnte. Ein Beispiel dafür ist etwa das Generalprivileg des Domstifts Bamberg für die jüdische Gemeinde zu Fürth von 171968 – auffallender Weise aber erst anderthalb Jahrhunderte nach ihrer Gründung.69 Die Regel war es aber nicht, und der nach langen Vorverhandlungen vom Hamburger Stadtrat mit der sefardischen Gemeinde in der Stadt ausgehandelte Niederlassungskontrakt aus dem Jahre 1612 schloss ausdrücklich für verschiedene Angelegenheiten die Autonomie der Gemeinde aus, da diese in allen zivilrechtlichen und strafrechtlichen Angelegenheiten der Jurisdiktion des Rates und den Reichsgesetzen unterworfen sei.70 Eine Art gemeindlicher Selbstverwaltung mit Bestandteilen rechtlicher Autonomie war nur dort möglich, wo sie von der christlichen Schutzherrschaft ausdrücklich zugestanden wurde – freilich stets unter dem Vorbehalt herrschaftlicher Kontroll- und Eingriffsrechte.71 Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass sich in der Frühen Neuzeit mit dem Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden und Rabbinate, vielleicht auch in Verarbeitung der Erfahrungen aus den großen städtischen und landesherrlichen Judenvertreibungen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts72, ein neues Selbstbewusstsein der bestehen gebliebenen oder neu 68 J. Friedrich Battenberg, Juden am Reichskammergericht in Wetzlar – Der Streit um die Privilegien der Judenschaft in Fürth, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 24), Köln, Weimar, Wien 1993, S. 181 – 213, hier: S. 189 f. Außerdem ders., Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Bd. 13), Wetzlar 1992, S. 10 – 15. Detailliertere Analyse der Ordnung und weiterer Statuten aus Fürth bei: Friedrich Neubürger, Verfassungsrecht der gemeinen Judenschaft zu Fürth und in dessen Amt im achtzehnten Jahrhundert, Fürth 1902, insb. S. 22 ff. unter dem Titel „Die Selbstregierung“. 69 Hierzu Gernhard Renda, Die Fürther Judengemeinde von ihren Anfängen bis 1670, in: Werner J. Heymann (Hrsg.), Kleeblatt und Davidstern. Aus 400 Jahren jüdischer Vergangenheit in Fürth, Emskirchen 1999, S. 9 – 19. 70 Jutta Braden, Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590 – 1710 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 23), Hamburg 2001, S. 111. 71 Dies wird von Marwedel für die von den Königen von Dänemark privilegierten Juden der Gemeinde Altona für die Zeit ab dem 17. Jahrhundert angenommen: Günter Marwedel (Hrsg.), Die Privilegien der Juden in Altona (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. V), Hamburg 1976, S. 74 f. 72 Siehe dazu die Kartenmaterialien und Übersichten bei: Markus J. Wenninger, Man bedarf keiner Juden mehr. Ursachen und Hintergründe ihrer Vertreibung aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 14), Wien, Köln, Graz 1981; Franz-Josef Ziwes, Territoriale Judenver-

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gegründeten jüdischen Gemeinden entstand, durch das früher oder später Bestrebungen zur autonomen Selbstverwaltung befördert wurden. Die extrem starke Zerstreuung der damals existierenden jüdischen Ansiedlungen73 und damit verbunden die weiterhin auf die Erteilung von Einzelschutz- und Geleitbriefen konzentrierte Ansiedlungspolitik der Schutzherren hatte allerdings zur Folge, dass sich Autonomiebestrebungen nur in den führenden Großgemeinden wie Frankfurt am Main, Worms, Friedberg, Fulda und Günzburg feststellen lassen, die deshalb auch die tragenden Säulen der confoederatio iudaeorum von 1603 waren.

III. Durch die Bemerkungen zur Situation der jüdischen Gemeinden im 16. und frühen 17. Jahrhundert ist der weiten Entwicklung schon etwas vorgegriffen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die nach eigenem Verständnis in der Diaspora lebenden Juden des aschkenasischen Deutschland sich als Abhängige fühlten, die dem Landesrecht wie auch dem Gemeinen Recht im Heiligen Römischen Reich unterworfen waren. Ganz dem entsprechend sprach die Kirche von der servitus perpetua iudaeorum und unter Aufgreifung dieses Gedankens der Kaiser seit staufischer Zeit von der servitus camere imperialis, der kaiserlichen Kammerknechtschaft.74 Das aus diesem Rechtsinstitut entstandene Judenregal – das die Folge hatte, dass die jeweiligen Inhaber des Judenregals das Recht in Anspruch nahmen, durch Schutz- und Geleitbriefe die Bedingungen jüdischer Existenz in jedem Einzelfall festzulegen75, führte dazu, dass das Abhängigkeitskonstrukt auch jüdische Siedlungsgemeinschaften erfasste, die vollkommen in die christlich geprägten Rechtsräume der Städte oder des Landes eingeordnet waren. treibungen im Südwesen und Süden Deutschlands im 14. und 15. Jahrhundert, in: Friedhelm Burgad / Alfred Haverkamp / Gerd Mentgen (Hrsg.), Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit (= Forschungen zur Geschichte der Juden, Bd. A 9), Hannover 1999, S. 165 – 187. Im letztgenannten Sammelband außerdem die Beiträge von Rotraud Ries, ,De joden to verwisen‘ – Judenvertreibungen in Nordwestdeutschland im 15. und 16. Jahrhundert (ebd., S. 189 – 224), und von Fritz Backhaus, Die Vertreibung der Juden aus dem Erzbistum Magdeburg und angrenzenden Territorien im 15. und 16. Jahrhundert (ebd., S. 225 – 240). 73 Zum Strukturwandel der Gemeinden im 16. Jahrhundert siehe Stefan Rohrbacher, Die jüdischen Gemeinden in den ,Medinot Aschkenas‘ zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, in: Cluse / Haverkamp / Yuval (Hrsg.), Jüdische Gemeinden (FN 30), S. 451 – 463. Zur demographischen Entwicklung der Juden in dieser Zeit siehe Battenberg, Die Juden in Deutschland (FN 19), S. 10 – 13. 74 Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte (FN 49), S. 563 – 574; ders., Zur Rechtsstellung der Juden am Mittelrhein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 6 (1979), S. 129 – 183, hier: S. 133 – 136. 75 Battenberg, Schutzjuden (FN 41). Zusammenfassend J. Friedrich Battenberg, Art. „Juden“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Heft 47 (Gruppe 1 / 700), S. 1 – 4.

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Die sich daraus ergebenden Hindernisse für die Entwicklung autonomer Strukturen wurden bereits geschildert. Dass sich dennoch, zumindest in den Großgemeinden seit dem 16. Jahrhundert, Anzeichen einer Selbstverwaltung feststellen ließen, hängt mit einem in der Rezeptionszeit eingeleiteten Paradigmenwechsel zur Rechtsstellung der Juden zusammen, auf den deshalb an dieser Stelle näher eingegangen werden soll. In einem 1526 dem Reichskammergericht eingereichten Schriftsatz äußerte sich der Prokurator Anton Helfferich zur Stützung eines Anspruchs des von ihm vertretenen Juden Mordechai Oppenheimer auf Ausübung der väterlichen Gewalt, mit folgenden Worten: Juden sind des natürlichen und des Völkerrechts fähig, auch den Gemeinen kaiserlichen Rechten fähig, ja [sie werden] nach dem Stylo dieses Reichskammergerichts für Bürger erachtet.76 Helfferich konnte dies behaupten, nachdem wenige Jahre zuvor der humanistisch gebildete Jurist Johannes Reuchlin dieses Rechtsinstitut in den Juristendiskus eingeführt und zu seiner Durchsetzung am Kammergericht – nach hebräischem Sprachgebrauch dem „Gerichtshof des Kaisers“ (beit ha-din ha-kaiseri)77 – verholfen hatte.78 Soweit bekannt, wurde der Begriff der kaiserlichen Kammerknechtschaft der Juden letztmals in einem Privileg Kaiser Karls V. zugunsten des Judenschaft des Reichs gebraucht.79 Begriff und Sache hatten sich überlebt und waren deshalb auch aus dem zeitgenössischen Juristendiskurs gestrichen.80 1626 bezeichnet der Rechtsgelehrte und spätere Reichshofrat Christoph 76 Dagmar Freist, Recht und Rechtspraxis im Zeitalter der Aufklärung am Beispiel der Taufe jüdischer Kinder, in: Gotzmann / Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht (FN 23), S. 109 – 137, hier: S. 131. 77 Nachweis bei Chava Fraenkel-Goldschmidt (Hrsg.), Rabbi Yosef Ish Roshaim: Kitavim Historiym, Jerusalem 1996 (Rezension dazu von Dean Philippe Bell, in: Sixteenth Century Journal 29 / 1 [1998], S. 206 – 208), S. 10 und S. 402. 78 Hierzu im Einzelnen: J. Friedrich Battenberg, Rechtliche Aspekte der vormodernen aschkenasischen Judenschaft in christlicher Umwelt. Zu einem Pradigmenwechsel im ,Judenrecht‘ im frühen 16. Jahrhundert, in: Eveline Brugger / Birgit Wiedl (Hrsg.), Ein Thema – zwei Perspektiven. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit, Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S. 9 – 33; ders., Juden als ,Bürger‘ des Heiligen Römischen Reichs im 16. Jahrhundert. Zu einem Paradigmenwechsel im ,Judenrecht‘ in der Reformationszeit, in: Rolf Decot / Matthieu Arnold (Hrsg.), Christen und Juden im Reformationszeitalter (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 72), Mainz 2007, S. 175 – 197; ders., Josel von Rosheim, Befehlshaber der deutschen Judenheit, und die kaiserliche Gerichtsbarkeit, in: Jost Hausmann / Thomas Krause (Hrsg.), ,Zur Erhaltung guter Ordnung‘. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 183 – 224, hier: S. 199 – 208. 79 Battenberg, Quellen (FN 61), S. 329, Nr. 1224. 80 Wilhelm Güde, Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1981, S. 45.

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Besold es nur noch als Reminiszenz, dass die Juden nach einer älteren Rechtsfigur für kaiserliche Kammerknechte gehalten werden, veteri instituto camerae imperialis servi habentur.81 Die Juristen des kaiserlichen Rechts allerdings empfanden den durch Wegfall des Kaiserbezugs entstandenen Zustand, der die Juden vollständig der Schutzgewalt regionaler Herrschaftsgewalten unterstellte82, als unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund, und auch im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Reaktivierung einer von Kaiser und Ständen gemeinsam getragenen Gerichtsbarkeit83, muss die neue Theorie der römischen Bürgerschaft der Juden gesehen. Sie entsprach gewissermaßen einem Bedürfnis der Zeit, mehr noch: Dem Legitimationsbedürfnis des römisch-deutschen Kaisers, der den alten Rechtstitel der Kammerknechtschaft der Juden durch einen im ius commune begründeten und damit nicht weiter anzweifelbaren neuen Rechtstitel ersetzen konnte. Und nun zu den Thesen Johannes Reuchlins: Seine rechtliche Positionierung hat ihren Hintergrund in dem von dem Kölner Apostaten Johannes Pfefferkorn ausgelösten und vom päpstlichen Inquisitor Jacobus Hoogstraeten kirchenrechtliche verfolgten Streit um die Vernichtung oder Erhaltung hebräischer Schriften.84 Reuchlin verfasste dazu unter anderem im Jahre 1510 ein unter dem Namen „Augenspiegel“ bekannt gewordenes Gutachten, den sog. „Ratschlag, ob man den Juden alle ire Bücher nemen, ab81

Güde, Die rechtliche Stellung (FN 80), S. 45. Als Zustand der Rechtsverwahrlosung bezeichnet von Dietmar Willoweit, Vom Königsschutz zur Kammerknechtschaft. Anmerkungen zum Rechtsstatus der Juden im Hochmittelalter, in: Karlheinz Müller / Klaus Wittstadt (Hrsg.), Geschichte und Kultur des Judentums (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 38), Würzburg 1988, S. 71 – 89, hier: S. 89. 83 Hierzu J. Friedrich Battenberg, Königliche Gerichtsbarkeit und Richteramt nach der Kammergerichtsordnung von 1495: Realisierung eines Reformanliegens oder politischer Kompromiss?, in: Serge Dauchy / Jos Monballyu/Alain Weijffels (Hrsg.), Auctoritates. Xenia R.C. van Caenegem Oblata: De Auteurs van de Rechtsontwikkeling / La Formation du Droit et ses Auteurs / Law Making and Its Authors / Die Auktoren der Rechtsentwicklung (= Iuris Scripta Historica, Bd. 13), Brüssel 1997, S. 97 – 111; ders., Die Wormser Kammergerichtsordnung und die Neukonstituierung der Königlichen Justiz in Frankfurt 1495. Zur Reform des Königlichen Kammergerichts, in: Archiv für hessische Geschichte, NF, Bd. 64 (2006), S. 51 – 83. Siehe auch die Studie von Mattias G. Fischer, Reichsreform im Reichsinteresse? Die Diskussion über eine Reorganisation der Reichsjustiz und die Gründung des Reichskammergerichts im Spannungsfeld kaiserlicher und reichsständischer Interessenpolitik, in: Andreas Bauer / Karl H. L. Welker (Hrsg.), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte, Köln, Weimar, Wien 2007, S. 263 – 286. 84 Zur juristischen Kontroverse um die Erhaltung oder Verbrennung der ,Judenbücher‘ siehe: Winfried Trusen, Die Prozesse gegen Reuchlins ,Augenspiegel‘. Zum Streit um die Judenbücher, in: Stefan Rhein (Hrsg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit (= Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 5), Sigmaringen 1998, S. 87 – 132, hier insb. S. 88 ff. 82

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thun und verbrennen soll“.85 Hier bringt er zunächst eine präzise und eher distanzierte Auflistung der Argumente für und gegen eine Vernichtung hebräischer Schriften. Gleich als erstes argumentum contra abolitionem führt er wörtlich an: Dann die Iuden als Underthonen des Hailigen Römischen Reichs sollent b[e]y kayßerlichen Rechten belassen werden.86 Für den nach dem lateinischen Text hinzugefügten Grundsatz iudei communi Romano iure [viventes] fügt er als Allegation den Codex-Titel „De Iudaeis et Caelicolis“ hinzu, der sich in der Tat dort in Codex I.9.8. befindet. Nach einer ausführlichen Argumentationskette, die er nach der Art eines zeittypischen artikulierten Schriftsatzes vorträgt, kommt Reuchlin zum Ergebnis, dass weder nach kanonischem noch nach weltlichem Recht eine Vernichtung hebräischer Bücher zu begründen sei. Wörtlich schreibt er87: Darin nit anders gehandelt wird, dann wie mit ainem yeden Cristen in der gleichen Sach gehandelt soll werden, nachdem bayd Secten on Mittel Gelider des Hailigen Reichs und deß Kaißertumß Bürger synd: [Nämlich] wir Cristen durch unser Churfürsten Wal und Kür, und die Juden durch ir Verwilligung und offen Bekanntnus, als sy gesprochen hond: Wir haben kainen Künig dann den Kaißer. Hierumb so bindent kaißerliche Recht Cristen und Juden, jeglichs nach seiner Gestalt.88

Und an späterer Stelle, als er auf das ungleiche Verhältnis zwischen christlicher und jüdischer Lehre zu sprechen kommt, betont er nochmals nachdrücklich wörtlich, das wir und sie ains a i n i g e n Römischen Reichs Mitbürger synd und in ainem Burgerrecht und Burkfriden sitzen. Wie künden wir dann Feind sein?89 In der lateinischen Version des „Augenspiegels“, durch die er seinen Kontrahenten weitere Erläuterungen zur Verdeutlichung seines Standpunkts (pro evidentiore declarationes mentis meae 85 Edition und Übersetzung: Antonie Leinz-von Dessauer, Johannes Reuchlin: Gutachten über das jüdische Schrifttum (= Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 2), Konstanz, Stuttgart 1965. Neuere Edition: Widu-Wolfgang Ehlers / Hans-Gert Roloff / Peter Schäfer (Hrsg.), Johannes Reuchlin: Sämtliche Werke, Bd. IV: Schriften zum Bücherstreit, 1. Teil: Reuchlins Schriften, hrsg. von Widu-Wolfgang Ehlers, Lothar Mundt, Hans-Gert Roloff und Peter Schäfer, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 13 – 196 (lateinische und deutsche Ausgabe). 86 Edition Leinz-von Dessauer, Gutachten (FN 81), S. 31; Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 28; hierzu auch: Guido Kisch, Zasius und Reuchlin. Eine rechtsgeschichtlich-vergleichende Studie zum Toleranzproblem (= Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 1), Konstanz, Stuttgart 1961, S. 26. 87 Edition Leinz-von Dessauer, Gutachten (FN 85), S. 35 f.; Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 30; Kisch, Zasius und Reuchlin (FN 86), S. 26. 88 Unter Verweis auf das Evangelium des Johannes, Kap. 19, Vers 15 (in der LutherÜbersetzung wörtlich identisch). Es handelt sich um einen Ausspruch, der den Hohenpriestern im Prozess gegen Jesu zugeschrieben wird und mit dem sie die Ablehnung der Königsherrschaft Christi begründen und die Unterwerfung unter den römischen Kaiser zusichern wollen. 89 Edition Leinz-von Dessauer, Gutachten (FN 85), S. 45; Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 81).

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scripsi)90 geben wollte, stellt Reuchlin sogar die Verbindung zur alten kirchenrechtlichen servitus perpetua iudaeorum her, die er nun als für die Rechtsordnung nicht mehr maßgebend hinstellt: Obgleich die Juden nämlich Sklaven sein müssten, nehmen wir es doch hin, dass sie mit uns in Freiheit von dem gemeinsamen Römischen Recht Gebrauch machen (quamvis enim esse deberent servi, tamen eos patimur nobiscum communi Romano iure uti in libertate). Er habe, so führt er weiter aus, in seinem Gutachten lediglich die Auffassung vertreten, dass die Juden wie die Christen Bürger und damit Untertanen des Römischen Reiches seien (volui ergo tantum eos esse cives nobiscum, id est subiectos Romano imperio). Er habe den Juden damit keineswegs eine besondere Ehre erweisen wollen (non autem, ut aliquem eis honorem nobis convenientem praestatem).91 Noch deutlicher wird diese Einschränkung in einer etwas späteren deutschen Übersetzung des „Augenspiegels“, die wie folgt lautet92: Item, durch das Wort „Bürger“ hab ich den Juden kain sundere Ere erbotten; dann sie sind kaianer Eren werdt. Diew[e]yl sie aber in gemaianen Römerrechten, das gehaissen wurt ,ius civile Romanum‘, ledig gelassen sitzend und sich des auch gebrauchent, so werden sie genent ,cives Romani‘, das ist, des Römischen Rychs Burgere. Einerseits ist in dieser Interpretation nicht etwa eine Rücknahme der im „Ratschlag“ von 1510 geforderten römischen Bürgerschaft für die Juden zu sehen, wie es Winfried Trusen annahm93; denn als erfahrender Jurist und Richter des Schwäbischen Bundes war Reuchlin selbstverständlich mit den Verfassungsstrukturen des Heiligen Römischen Reichs vertraut, die eine allgemeine Bürgerschaft nur in modifizierter Form und in Anlehnung an die herrschaftsabhängige Untertanenschaft zugelassen hätte. Andererseits aber sollte durch die Annahme eines Bürgerrechts, das nach dem lateinischen Text mit der üblichen Untertanenschaft der Christen im Heiligen Römischen Reich gleichgesetzt wurde, kein zusätzlicher Vorteil für die Juden geschaffen werden, durch die diese aus den Beschränkungen des römischen und auch des kanonischen Rechts hätten entlassen werden können. Im Anschluss an eine Glosse des Bartolus, der den Juden die Fähigkeit der Ehre abspricht (iudei non possunt habere aliquem honorem seu dignitatem)94, 90 So in Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 10 f. (lateinischer Text mit moderner deutscher Übersetzung). 91 Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 72 – 75 (lateinischer Text mit moderner deutscher Übersetzung). 92 Zitiert nach: Güde, Die rechtliche Stellung (FN 74), S. 61; danach auch bei: J. Friedrich Battenberg, Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium, in: Kießling, Judengemeinden in Schwaben (FN 45), S. 53 – 79, hier: S. 67. Text mit Allegationen in der Edition bei Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 179. 93 Trusen, Die Prozesse (FN 84), S. 104.

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konstatiert auch er die Ehrlosigkeit der Juden. Diesem Grundsatz aber will er ebenso wie dem Prinzip der ewigen Knechtschaft keine Wirkung mehr für den Rechtsverkehr zuerkennen. Zusammenfassend hebt er deshalb in seiner Erläuterungsschrift von 1511 hervor: Item, ich laß die Iuden auch Glider sin des Römischen Richs nach ihr Gestalt, dann sie sind auch ain Volck des Römischen Rychs.95 Zumindest für den Rechtsverkehr und die forensische Praxis, vor allem der höchsten kaiserlichen Gerichte, war damit die Rechtsgleichheit der Juden mit den Christen eingefordert, ob man sie unter den überkommenen Begriff der „Untertanen“ fasste oder sie als „Bürger römischen Rechts“ bezeichnete. Die Juristen des Reichskammergerichts haben diese Theorie sogleich aufgegriffen und in die Prozesse eingeführt, wie sich aus der zitierten Äußerung des Kammergerichtsprokurators Anton Helfferich von 1526 ergibt. Ein 1564 in einem Reichskammergerichtsprozess abgegebenes Votum kann dies belegen.96 Es wird hier gesagt, dass den Juden alles dasjenige zustehe, was römischen Bürgern zuerkannt werde (iudei habent ea, que sunt civium Romanorum). Sie können deshalb vor einem christlichen Richter klagen und beklagt werden (et coram christiano iudice agere et conveniri debent). Infolgedessen sei auch mit ihnen ebenso wie mit den Christen nach Gerechtigkeit zu verfahren, wenngleich sie verachtenswürdig und mitunter von den Regeln der Billigkeit ausgeschlossen sind (igitur iis perinde atque christiani iusticia iudice administranda est, licet maiori odio digni sint et quaandoque a regulis equitatis excludantur). Um in diesem Widerspruch eine sachdienliche Lösung zu finden, sei das Augenmerk auf die Eigenheiten des Rechtsfalls und nicht auf diejenigen der Prozessparteien zu richten, also etwa darauf, ob auch ein Jude Anspruch auf Gerechtigkeit habe (considerande sund igitur nobis magis causae qualitatis quam persone, hoc est, an iudeus iusticiam foveat). In erster Linie komme es auf den geltend gemachten Anspruch an (inprimis de actione dicendum). Vorgeschlagen wird damit eine geradezu modern anmutende Differenzierung, die das positivistische Rechtsdenken bis in die jüngste Vergangenheit beherrscht hat: Die Trennung zwischen Prozesspartei und Streitgegenstand, zwischen persona und causa, und zwar in der Absicht, letztere von der ersteren so weit zu emanzipieren, dass eine deduktive Argumentation durch Anwendung von abstrakten Rechtsregeln möglich sein sollte, kam einem zeitgenössischen Bedürfnis entgegen. Noch immer standen die Juden unter einem theologischen Verdikt – nämlich dem der Ehrlosigkeit und dauernden Knechtschaft, der sie wegen ihrer angeblichen Schuld am Gottesmord unterworfen waren. 94 Zitiert nach: Hans-Martin Kirn, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts (= Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism, vol. 3), Tübingen 1989, S. 123. 95 Edition Ehlers [u. a.], Johannes Reuchlin (FN 85), S. 179. 96 Zitiert nach Güde, Die rechtliche Stellung (FN 84), S. 51.

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Für die weltliche Rechtsordnung und die in Prozessverfahren realisierte juristische Argumentation sollte dies aber nicht mehr maßgebend sein.97 Ich fasse zusammen: Das Anfang des 16. Jahrhunderts auf Betreiben Johannes Reuchlins eingeführte Institut der Bürgerschaft römischen Rechts, der Juden wie Christen gleichermaßen teilhaftig werden sollten, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Juden – zumindest formal – gleichberechtigte Glieder der Rechtsordnung des Heiligen Römischen Reichs werden konnten. Erst im Zuge dieses fortgeschrittenen Verrechtlichungsprozesses konnte jüdischen Gemeinden und übergemeindlichen Organisationen das, dessen sie sich im Hohen Mittelalter in der Zeit vor dem Schwarzen Tod durch Privilegien faktisch erfreuten, gewährt werden: Nämlich rechtliche Autonomie. Dass es dazu in der Regel bis zum Dreißigjährigen Krieg nicht mehr kam, habe ich anhand der sog. Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 deutlich machen können.

IV. Es wurde schon angedeutet, dass sich in der Spätzeit des Alten Reiches, ungefähr seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, im Zuge des merkantilistischen Staatsdenkens, im Hinblick auf die Reichweite jüdischer Einrichtungen der Selbstverwaltung Veränderungen vollzogen. In sehr vielen Regionen wurden jetzt Juden aus ökonomischen Gründen angesiedelt, weil man sich von ihnen eine Wiederbelebung von Handel und Gewerbe erhoffte und vor allem an ihrer Steuerkraft interessiert war.98 Um nur zwei Beispiele aus der Vielzahl der den Juden zugute kommenden landesfürstlichen Peuplierungsmaßnahmen zu nennen: Nach der Vertreibung der Juden aus Wien durch Kaiser Leopold I.99 setzte unter den deutschen Fürsten geradezu ein Wettlauf um die Wiederansiedlung der Vertriebenen ein, sofern sie nur ausreichend ökonomische Potenz und das notwendige Kapital zur gewerblichen Betätigung mitbrachten. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg konnte die meisten der Wiener Juden anwerben und verschaffte ihnen 1671 ein sehr weitreichendes Privileg.100 97 Zu dieser Argumentation im einzelnen siehe Battenberg, Das Reichskammergericht (FN 68), S. 5. 98 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550 – 1750, Oxford 1985, S. 163 – 170 u. a. Neuerdings siehe den Beitrag von Peter Rauscher, ,Auf der Schipp‘. Ursachen und Folgen der Ausweisung der Wiener Juden 1670, in: Aschkenas 16 (2006) (erschienen 2007), S. 421 – 438. 99 David Kaufmann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich. Ihre Vorgeschichte (1625- 1670) und ihre Opfer, Wien 1889, insb. S. 65 ff. 100 Zu allem siehe J. Friedrich Battenberg, Tolerierte Juden in Berlin. Zur Ansiedlung Wiener Juden in der Mark Brandenburg unter dem Großen Kurfürsten, in: Jörg

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Dieses sah unter anderem einen Ausschluss der Gerichtsbarkeit des Berliner Rats über die Juden vor. Diese sollten vielmehr in Zivilsachen ausschließlich vor dem Bürgermeister, in Strafsachen vor dem Kurfürsten immediate zu Recht stehen.101 Spätere Regelungen der kurfürstlichen Verwaltung, wie die Einführung einer Solidarhaftung der Gemeinde für Schutzgeldschulden der Gemeindeglieder und die Befugnis der Gemeinde zur Ausstellung von Leumundszeugnissen zur Entscheidung über die Schutzaufnahme102, haben zusätzlich dazu beigetragen, dass aus einer lockeren Ansiedlung eine korporativ organisierte Gemeinschaft wurde. Als zweites Beispiel sei die kurpfälzische Festungsstadt Mannheim genannt, die Kurfürst Karl Ludwig, der Sohn des unglücklichen ,Winterkönigs‘ Friedrich V. von der Pfalz, unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg mit bedeutsamen Ansiedlungsprivilegien ausstattete.103 Karl Ludwig, der für seine betont merkantilistisch geprägte Staatswirtschaft bekannt geworden ist und damit auch den Wiederaufbau des Landes nach dem Fiasko des böhmischen Abenteuers seines Vaters vorantreiben konnte104, bediente sich für sein Wiederaufbauwerk in hohem Maße der Juden. Sie erhielten von ihm 1660 eine umfangreiche Ansiedlungskonzession, ein sehr stark von Hugo Grotius beeinflusstes Privileg.105 Die Gleichstellung mit den christlichen Stadtbürgern, die Verselbständigung gegenüber der Landjudenschaft und anderen jüdischen Gemeinden, die Befreiung von Zöllen und Schutzgeldern und eine fast unbeschränkte Gewerbe- und Handelsfreiheit, trugen dazu bei, dass aus einer bloßen Ansiedlung von wirtschaftlich potenten Einzeljuden eine Gemeinschaft mit Korporationscharakter wurde, die ihre Angelegenheiten weitgehend selbständig regeln konnte.

Deventer / Susanne Rau /Anne Conrad (Hrsg.), Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag, Münster, Hamburg, London 2002, S. 71 – 91. 101 Abdruck des Privilegs vom 21. Mai 1671 bei: Selma Stern, Der Preußische Staat und die Juden, Teil 1: Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I., 2: Akten, Tübingen 1962, S. 13 ff., Nr. 12. Danach (gekürzt) auch bei: Rachel Livné-Freudenthal, 1671 – 1786: Im Dunkel der Aufklärung, in: Annegret Ehemann [u. a.], Juden in Berlin 1671 – 1945. Ein Lesebuch, Berlin 1988, S. 15 f. 102 Battenberg, Tolerierte Juden (FN 100), S. 88 f. 103 Udo Wennemuth, Zuwanderungserfolge und Integrationsprobleme nach der zweiten Gründung durch Kurfürst Karl Ludwig, in: Ulrike Nieß / Michael Caroli (Hrsg.), Geschichte der Stadt Mannheim, Bd. 1, Heidelberg [u. a.] 2007, S. 152 – 231, hier: S. 155 – 158. 104 Volker Sellin, Die Finanzpolitik Karl Ludwigs von der Pfalz. Staatswirtschaft im Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart 1978, insb. S. 84 ff. 105 Britta Waßmuth, Im Spannungsfeld zwischen Hof, Stadt und Judengemeinde. Soziale Beziehungen und Mentalitätswandel der Hofjuden in der kurpfälzischen Residenstadt Mannheim am Ausgang des Ancien Régime (= Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim, Nr. 32), Ludwigshafen 2005, S. 54 f.

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Das entscheidend Neue der in merkantilistischem Geist den Juden verliehenen Ansiedlungsprivilegien bestand darin, dass die – in den meisten Fällen allerdings weiterhin erteilten Schutz- und Geleitbriefe – nun von einer diese überwölbenden Privilegienpraxis ergänzt wurden.106 Im Mittelpunkt standen nicht mehr die einzelnen Juden – auch wenn diesen auffallender Weise seit dieser Zeit ein sog. inferendum, der Nachweis eines bestimmten Mindestvermögens aus Voraussetzung für die Schutzaufnahme, abverlangt wurde.107 Im Rahmen der nun als innovativ verstandenen Peuplierungspolitik108 stand die zu einer Einheit geformte Ansiedlungsgemeinschaft, die das Ihre zum ökonomischen Wachstum des Landes beitragen sollte. Der Perspektivenwechsel vom Individuum zur Korporation, der in Brandenburg-Preußen erstmals 1650 mit dem Generalgeleit des Großen Kurfürsten für die Juden in Halberstadt sichtbar wird109, in der Mannheimer Konzession von 1660 seine deutlichste Ausprägung erhalten hatte und schließlich im Berliner Privileg von 1671 die folgenreichste Gestalt angenommen hatte, schuf neue Spielräume für die korporative Weiterentwicklung der jüdischen Gemeinden. Angesichts der großen Vielfalt in der Ausgestaltung des korporativen Elements erscheint es fast unmöglich, allgemeingültige Aussagen darüber zu treffen, inwieweit sich in ihnen das Prinzip der rechtlichen Autonomie allgemein durchsetzte. Es sollte allerdings mit aller Vorsicht die Behauptung gewagt werden, dass nur dort ein autonomieähnlicher Rechtsstatus entstehen konnte, wo dies im Interesse des jeweiligen Landesfürsten stand, beispielsweise zur Entlastung der eigenen Administration und zur besseren Absicherung und Eintreibung der Staatseinnahmen. Indes entwickelten sich parallel zu den jüdischen Gemeinden die regionalen Landjudenschaften, die die korporative Verfassung der Gemeinden alter Prägung übernahmen oder kopierten und angesichts ihrer größeren Nähe zu den Landesfürsten gezwungenermaßen einheitlichere Strukturen entwickelten. Ihnen wurde, soweit mir bekannt, erstmals von dem Gießener Rechtsprofessor und späteren landgräflich-hessischen Staatsminister und Geheimratspräsidenten Dr. Christian Samuel Gatzert110 eine juristische 106 Anhand der Altonaer Privilegien dargestellt bei Battenberg, Die Privilegierung von Juden (FN 39), S. 165 – 172. 107 J. Friedrich Battenberg, Judenverordnungen in Hessen-Darmstadt. Das Judenrecht eines Reichsfürstentums bis zum Ende des Alten Reiches. Eine Dokumentation (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. 8), Wiesbaden 1987, S. 2, mit Nachweisen S. 331 unter dem Stichwort „inferendum“. 108 Dazu: J. Friedrich Battenberg, Fürstliche Ansiedlungspolitik und Landjudenschaft im 17. / 18. Jahrhundert. Merkantilistische Politik und Juden im Bereich von Sachsen-Anhalt, in: Aschkenas 11 (2001), S. 59 – 85, hier insb. S. 70 ff. 109 Edition bei Stern, Der Preußische Staat 1,2 (FN 101), S. 92 ff., Nr. 104; dazu auch: Battenberg, Fürstliche Ansiedlungspolitik (FN 108), S. 72

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Abhandlung gewidmet.111 Diesen Landjudenschaften in erster Linie möchte ich mich daher im Folgenden zuwenden. Die Landjudenschaften waren nach einer Definition von Daniel Cohen Gesamtverbände aller Schutzjuden in einem Lande, die ihnen unmittelbar, das heißt nicht über die Ortsgemeinden, angehörten.112 Entstanden auf der Basis der im 16. Jahrhundert als lockere regionale Vereinigungen organisierten Länder, der sog. medinot113, die den zerstreut wohnenden Juden einen gewissen organisatorischen Rahmen boten, formten sich die sog. Landjudenschaften unter dem Druck der Landesfürsten seit dem 17. Jahrhundert näher aus.114 Maßgebend dafür war häufig, dass diese letzteren Ansprechpartner suchten, um allgemeingültige Regelungen gegenüber den Juden ihres Landes durchzusetzen, um effektiv ihre Steuern eintreiben zu können, aber auch, um erfolgreicher unter ihnen missionieren zu können.115 Ob die Landjudenschaften, die im Falle ihres kollektiven Zusammentritts auch Judenlandtage oder Judenkonvente genannt wurden, als Nachfolgerinnen der seit dem Mittelalter bekannten Zusammenkünfte der Rabbiner und Gemeindevorsteher charakterisiert werden können, wie dies Mordechai Breuer annimmt116, erscheint mir doch sehr zweifelhaft. Es mag Vorformen gegeben haben, und auch die zuvor erwähnten Versammlungen von jüdischen Delegierten auf Reichsebene, wie sie für 1542 und 1603 nachgewiesen sind, können in diese Reihe gestellt werden. Doch waren diese älteren Versammlungen stets von Delegierten der jüdischen Gemeinden beschickt,

110 Zu ihm: Julius Reinhard Dieterich, Ein Gießener Professor als hessischer Staatsminister, in: Archiv für hessische Geschichte, NF, 5 (1907), S. 462 – 530. 111 Christian Hartmann Samuel Gatzert, Tractatus Juris Germanici de Iuribus Iudaeorum eorumque obligationibus praecipve Parochialibus, Gießen 1771, dort das Kapitel „De Comittis Provincialibus Judaicis in Hassia“. Siehe Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 7 und S. 40, Anm. 46, und Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 153. 112 Daniel J. Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 184. 113 Zu ihnen siehe Rohrbacher, Medinat Schwaben (FN 45), S. 81 – 84. 114 Forschungsüberblick dazu bei: Battenberg, Die Juden in Deutschland (FN 19), S. 105 – 107. 115 In der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt traten die Landjudenschaften zu diesem Zweck seit Mitte des 17. Jahrhunderts zu sog. Judenkonventen zusammen: J. Friedrich Battenberg, Schutz, Toleranz oder Vertreibung. Die Darmstädter Juden in der frühen Neuzeit (bis zum Jahre 1688), in: Eckhart G. Franz (Hrsg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt 1984, S. 33 – 49, hier: S. 48; Wilhelm Diehl (Bearb.), Kirchenbehörden und Kirchendiener in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt von der Reformation bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts (= Wilhelm Diehl [Hrsg.], Hassia sacra, Bd. 2), Darmstadt 1925, S. 605 – 630. 116 Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: ders. / Michael Graetz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, hrsg. von Michael A. Meyer, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600 – 1780, München 1996, S. 85 – 247, hier: S. 187 f.

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ganz anders als die neueren Landjudenschaften. Diese Letzteren ersetzten geradezu vielerorts die Gemeinden. Der hebräische Ausdruck für die Landjudenschaft, nämlich kahal medinah, also Gemeinde des Landes, bestätigt dies.117 Nicht ohne Berechtigung wurde deshalb von „Supra-kehillot“ gesprochen, also übergeordneten Gemeinden, deren Organisation ganz in Parallele zu diesen gebildet worden sei.118 So finden sich auf dieser organisierten regionalen Ebene statt der Gemeindevorsteher die Landesvorsteher, die wie diese parnassim genannt wurden. Statt des Gemeinderabbinats gibt es das Landesrabbinat, und je nach Größe der Landjudenschaft gab es weitere Ämter, genau die gleichen wie auf Gemeindeebene. Und selbst dem eigentlichen Judenlandtag, der Versammlung der vollberechtigten Schutzjuden eines Landes, entsprach exakt die Gemeindeversammlung als Beschlussorgan aller berechtigten Glieder einer Gemeinde.119 Die bis heute herrschende Ansicht über die Rechtsstellung der Landjudenschaften geht auf Fritz Baer zurück, der in seiner grundlegenden Monographie zur Landjudenschaft im Herzogtum Kleve sich wie folgt äußert120: „Sie besitzt wie jede andere jüdische Gemeinde der Zeit die Autonomie der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung, die zwar im Laufe des 18. Jahrhunderts durch den Staat eingeschränkt, aber erst durch die bürgerliche Gleichstellung der Juden wirklich aufgehoben wird.“ Bei Breuer wird daraus ein konstituierendes Prinzip und Hauptmotiv für den Zusammenschluss der Juden auf Landesebene gemacht, wenn er sagt: „Grundlegend für die Herausbildung der Landjudenschaften war der uralte Wunsch nach Autonomie sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber Gemeinden und Vereinigungen außerhalb des eigenen Territoriums. Streben nach Selbständigkeit und Widerstand gegen Einmischung von außen waren machtvolle Motive für den Zusammenschluss, namentlich im Zeitalter der erstarkenden Territorialherrschaften“.121 117

Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 151. Katz, Tradition und Krise (FN 20), S. 128 f.; Der Ausdruck „Supra-Kehila“ findet sich nur in der englischen Version der Monographie: Jacob Katz, Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages, New York 1993, S. 107 f. 119 Zu den Organen exemplarisch für Hessen-Darmstadt: Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 171 ff., 178 ff. 120 Fritz Baer, Das Protokollbuch der Landjudenschaft des Herzogtums Kleve (= Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Historische Sekton, Bd. 1), Berlin 1922, S. 81. So wörtlich übernommen von Daniel J. Cohen, einem Schüler Fritz Baers: Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 151 f. Auch Rosy Bodenheimer neigt in ihrer 1931 erschienenen Dissertation dieser Ansicht zu: „Noch weiter [als bei den jüdischen Gemeinden] aber gingen die Sonderrechte der hessischen Juden bei allen Angelegenheiten, die ihre Gesamtheit betrafen“, siehe: Rosy Bodenheimer, Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation, Gießen 1931, S. 28. 121 Breuer, Frühe Neuzeit (FN 114), S. 189. 118

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Soweit die Zitate aus der Forschungsliteratur. Trotz der inzwischen vorliegenden dreibändigen Aktenedition, die noch von Daniel Cohen über die Israelische Akademie der Wissenschaften angestoßen und nach seinem Tode zu Ende geführt worden ist122, hat sich die Verfassungsgeschichte mit dem Thema der landjudenschaftlichen Autonomie noch nicht wirklich beschäftigt und eigentlich nur die älteren Behauptungen stereotyp wiederholt. Damit soll nicht behauptet werden, dass es nicht Elemente der Autonomie bei den Landjudenschaften – ebenso wie bei den seit dem Dreißigjährigen Krieg konstituierten jüdischen Gemeinden – gegeben habe. Es bestehen aber Zweifel an dem überkommenen Modell, es habe ursprünglich eine umfassende Autonomie gegeben, die erst allmählich durch die Landesherrschaften eingeschränkt worden sei.123 Dagegen spricht schon, dass als Mitglieder von Beginn an lediglich die Schutzjuden galten, also diejenigen Juden, die kraft ihres Schutzbriefs vom Landesherrn oder einem anderen Inhaber der Schutzrechte erst zu vollberechtigten Mitgliedern gemacht worden waren. Letztlich entschied also der Landesfürst, wer zur Landjudenschaft gehören sollte und wer nicht. Es fällt darüber hinaus auf, dass es von Anfang an, also seit Mitte des 17. Jahrhunderts, tendenziell eine Deckungsgleichheit von Landjudenschaft bzw. dem Landesrabbinat mit dem Landesfürstentum gab.124 Diese Tendenz wurde durch allmähliche Abspaltung territorienübergreifender Beziehungen seitens der Juden selbst ergänzt.125 Dies geschah nicht immer ganz freiwillig. Ein Paradebeispiel dafür bietet die Gemeinschaft Umstadt im Odenwald. Diese – die heutige Stadt Groß-Umstadt mit ihrem Umland – wurde gemeinschaftlich von der Landgrafschaft Hessen und den Kurfürsten von der Pfalz verwaltet, die jeweils ihren eigenen Amtmann mit konkurrierenden Hoheitsrechten hatten. An sich hätte es nun nahe gelegen, dass die ringsum von Darmstädter Gebiet umschlossene Herrschaft sich der Landjudenschaft der Obergrafschaft Katzenelnbogen, dem südlichen Landesteil der Landgrafschaft Darmstadt, angeschlossen hätte. Da aber die in Umstadt wohnenden Juden unterschiedliche Schutzherren hatten, nämlich die 122 Daniel J. Cohen (Hrsg.), Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert. Eine Quellensammlung, Bde. 1 – 3, Jerusalem, Göttingen 1996 – 2001. Der angekündigte Indexband steht noch aus. 123 So aber Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 169; nach Baer, Das Protokollbuch (FN 114), S. 81. 124 Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in den Dörfern der Markgafschaft Burgau 1650 – 1750 (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, Bd. 151), Göttingen 1999, S. 195, 207; Robert R. Luft, Landjudenschaft und Judenlandtage in Kurmainz, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Mainzer Juden in der Frühneuzeit, Mainz 1981, S. 7 – 32, hier: S. 16. 125 Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 185 f.

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Landgrafen von Hessen und die Pfalzgrafen bei Rhein, wurde auch die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Landjudenschaften entsprechend aufgeteilt. Mit anderen Worten: Das Schicksal der Landjudenschaft folgte dem Bestand der Schutzherrschaft.126 Konsequenterweise wurden auch die etwa noch bestehenden Beziehungen der einer Landjudenschaft angehörenden Schutzjudenschaft zu anderen Landjudenschaften außerhalb des zuständigen Landes unterbunden. Landgraf Moritz von Hessen-Kassel verbot bereits 1625 der in seinem Fürstentum wohnenden Landjudenschaft die Anrufung des Friedberger Rabbiners und veranlasste zugleich die Einrichtung eines eigenen Landrabbinats.127 Als Landgraf Georg II. 1650 seiner Landjudenschaft in der Obergrafschaft die Erlaubnis erteilte, sich in Zeremonialsachen an einen auswärtigen Rabbiner zu wenden, legte er zugleich fest, dass alle übrigen Angelegenheiten vor die jeweils zuständige Ortsobrigkeit gehöre: Was aber Sachen seynd, so wider unsere Judenordnung oder auch die göttliche Gesetze laufen, sodann Malefiz- oder Bürgerliche Hände, welche durch obrigkeitliches Ambt zu erörtern oder zu bestrafen stehen, betreffen, dieselbe sollen keineswegs bey ohnnachläßiger scharfer Bestrafung vor die Juden oder Rabbinen gezogen, sondern je und allewege vor die ordentliche Obrigkeit jedes Orts gebracht werden.128 Achtzig Jahre später wurde diese noch in der Art erweitert, dass der Rabbiner – der spätestens seit 1685 in Darmstadt amtierte und als eigenständiger Landrabbiner für die Obergrafschaft zuständig wurde129 – auch für geringwertige Angelegenheiten als Schiedsinstanz zuständig sein sollte, mit der Einschränkung jedoch, dass – so wörtlich – einem jeden frey stehe, falls er sich wider derselben Spruch beschwehret befindet, die Sache vor unsere Beamte oder Regierung zu bringen berechtigt sein solle.130

126 Zum Streit um die Zugehörigkeit der Umstädter Juden zu den beiden Landjudenschaften siehe Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 185 f.; ein Schiedsspruch des Wormser Rabbiners Simson Bacharach von 1650 in diesem Streit abgedruckt bei: Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 619 – 621, Nr. 9:3. 127 Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt (FN 15), S. 181; Edition der hier einschlägigen Verordnungen und Berichte vom 25.-29. Juli 1625 bei Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland (FN 120), S. 433 – 439, Nr. 8:1 bis 8:4. 128 Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 618 f., Nr. 9:2. 129 Der erste namentlich bekannte Darmstädter Landrabbiner wurde der Leiter des Frankfurter Lehrhauses (Klaus-Synagoge) Samuel Schotten. Sein Nachfolger ab 1719 bis 1761 war Moses Bing, ebenfalls Klausrabbiner in Frankfurt und Schwiegersohn des kaiserlichen Hoffaktors Samson Wertheimer in Wien und später des polnisch-sächsischen Hoffaktors Behrend Lehmann zu Halberstadt, siehe im einzelnen Cohen, Die Landjudenschaften in Hessen-Darmsadt (FN 15), S. 179. 130 Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 655 f., Nr. 9:28; Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 171 f., Nr. 147.

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Der Eindruck, dass die Landjudenschaften im Grunde Instrumente landesfürstlicher Politik zur Disziplinierung der in ihrem Lande wohnenden Juden waren, verstärkt sich, wenn man sich das landesherrliche Verordnungswesen des 17. und 18. Jahrhunderts ansieht. Adressaten bzw. Begünstigte der Reskripte wie auch territorialen Policeyverordnungen, soweit sie Angelegenheiten der Juden betrafen, waren entweder die Beamtenschaft des Landes oder die Vorsteher der Judenschaft, also landjudenschaftlicher Organe, die wie selbstverständlich in die landesherrliche Administration eingebunden wurden. Nur einige Beispiele will ich zitieren: 1701 etwa gebot Landgraf Ernst Ludwig von Hessen der Landjudenschaft, sich ordnungsgemäß zu den Judenlandtagen einzufinden und gebührlich gegenüber den Vorstehern zu verhalten, andernfalls diese das Recht haben sollten, Strafen zu verhängen und diese durch die landesfürstlichen Amtleute eintreiben zu lassen.131 1713 regelte der gleiche Landgraf in einem Reskript an die Judenschaft der Obergrafschaft deren Rechnungswesen, die Vorsteherwahl durch Wahlmänner, die Bestellung von Rechnungsführern und die Abhörung bzw. Aufbewahrung der Rechnungen selbst.132 Gleichzeitig wurde die als Kollegialorgan ausdrücklich anerkannte landjudenschaftliche Vorsteherschaft gerichtlich der Regierung tanquam in prima instantia unterstellt und von der Gerichtsbarkeit der Ämter befreit. Auch die zahlreichen Anordnungen des Landesfürsten zur Absicherung der Verhandlungen auf den Judenlandtagen und Amtshilfe bei der Eintreibung der judenschaftlichen Steuern gehören in diesen Zusammenhang, meist mit dem Zusatz, die sich damit eröffnenden Kontrollmöglichkeiten auszuschöpfen. So wurde 1720 der Groß-Gerauer Landkommissar und Zentgraf angewiesen, den Vorstehern der Judenschaft der Obergrafschaft Katzenelnbogen bei ihrer bevorstehenden Zusammenkunft Hilfe zu leisten, zugleich aber über den Ablauf zu berichten. Sie sollten dabei darauf achten, dass den Juden unter sich die geringste speciem jurisdictionem [ . . . ] nicht gestattet werde.133 Man hat den Eindruck, dass der Landjudenschaft die Garantie eines geregelten Ablaufs ihrer Versammlungen durch die landesfürstliche Administration nur unter der Bedingung gegeben wurde, dass diese mit allen der Obrigkeit zur Verfügung stehenden Mitteln überwacht wurden. Der Weg zur Einsetzung eines eigens zur Kontrolle der Judenland131 Verordnung vom 7. Mai 1701: Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 632 f., Nr. 9:12; unter dem Datum 1702 (Abschreibfehler der Vorlage) bei Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 102, Nr. 48. 132 Verordnung vom 9. November 1713: Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 635 f., Nr. 9:14; Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 136 f., Nr. 80. 133 Verordnung vom 3. Januar 1720: Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 639 f., Nr. 14; Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 145, Nr. 109.

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tage eingesetzten Judenkommissars war damit nicht mehr weit. In HessenDarmstadt wurde dieser Schritt 1783 vollzogen, als die Regierungsräte Georg Friedrich Süß134 für den Bereich des Oberfürstentums (also Oberhessen) und Dr. Konrad Stockhausen für den Bereich der Obergrafschaft zu Beständigen Kommissaren in Judenangelegenheiten eingesetzt wurden, dessen Hauptaufgabe war, das Rechnungswsen zu überprüfen.135 Zwei Jahre später wurde letzterer vom hessischen Geheimen Rat sogar als unser zur Direction der jüdischen Landtage in unserer Obergrafschaft bestellter Commissarius bezeichnet.136 Und in der Tat übernahm dieser den Vorsitz der Judenlandtage, oder wie es Gatzert in seinem Traktat ausdrückte: auctoritate et praesidente commissario principis.137 Damit waren letztlich die Judenvorsteher selbst nur noch ausführende Organe der landesfürstlichen Verwaltung.138 Die Reihe der Beispiele könnte beliebig fortgesetzt werden. Sie machen aber immer wieder das Gleiche deutlich: Die Landjudenschaften wurden als corpora verstanden, die in die jeweils landesfürstliche Administration fest eingebunden waren. Im Idealfall wurde die Deckungsgleichheit zwischen ihnen und dem Land selbst erstrebt oder zumindest eine solche mit den Provinzen des Landes – in Hessen-Darmstadt mit der Obergrafschaft um Darmstadt und dem Oberfürstentum um Gießen. Bedeutende jüdische Gemeinden waren in der Regel von der eigentlich zuständigen Landjudenschaft eximiert, weil sie ganz im landesherrlichen Interesse eine eigenständige, effektive und kontrollierbare Verwaltung aufbauen konnten. Das Beispiel der Gemeinde Mannheim, die von der kurpfälzischen Landjudenschaft eximiert war, hatte ich erwähnt. Ähnliches galt für Berlin, Frankfurt, Worms und Fürth, um einige wichtige Gemeinden zu nennen. Dort, wo eine Deckungsgleichheit mit dem Land nicht erreicht werden konnte, weil ältere landjudenschaftliche Traditionen in einer Region bestanden, sorgten die Landesherren dafür, dass etwa bestehende Bindungen zu Rabbinaten und Vorsteherschaften außerhalb des eigenen Territoriums aufgehoben wurden. Dies galt in ähnlicher Weise für solche Landjudenschaften kleinerer Regionen, die dem landesfürstlichen Interesse nicht entsprachen. Als die Juden der Ganerbschaft Buseckertal, die reichsritterschaftlichen Status für sich 134 Einsetzungsurkunde für Süß nicht erhalten, doch amtierte er ab 1783; vgl. Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 6 und S. 40, Anm. 43. 135 Verordnung vom 25. Oktober 1783: Cohen, Die Landjudenschaften in Deutschland 1 (FN 122), S. 718 f., Nr. 9:55; Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 270 f., Nr. 279. 136 Verordnung vom 29. Oktober 1785: Battenberg, Judenverordnungen (FN 107), S. 275 f., Nr. 286 137 Gatzert, Tractatus (FN 111), S. 100 ff. 138 Dies belegen auch die Akten der landgräflich-hessischen Landjudenschaftlichen Kommission, die sich im Staatsarchiv Darmstadt erhalten haben (Bestand G 17; zum Inhalt siehe www.hadis.hessen.de).

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beanspruchte, auf Anweisung ihrer Schutzherren, nämlich der Ritter v. Buseck, von den Judenlandtagen im Oberfürstentum Hessen fernblieben, verzichtete Landgraf Ludwig X. v. Hessen-Darmstadt auf die weitere Einberufung der Versammlungen139, um die damit verbundene und von ihm nicht zu verhindernde Verletzung seiner Hoheitsrechte nicht öffentlich eingestehen zu müssen. Die Einberufung des – übrigens von den betroffenen Juden zur Klärung ihrer Steuerverhältnisse dringend geforderten – Judenkonvents lag hier nicht im landesfürstlichen Interesse, und eine Selbstversammlung, die eigentlich Ausfluss eines Autonomierechts hätte sein müssen, wurde von den Juden gar nicht erst in Erwägung gezogen.

V. Im Ergebnis ist noch einmal grundsätzlich danach zu fragen, inwieweit man für die Vormoderne von autonomen jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften sprechen kann. Hierbei kann der Blickwinkel noch etwas erweitert und eine Verbindung zum Selbstbestimmungsrecht hergestellt werden. In einem ganz anderen Zusammenhang hat Heinz Duchhardt in einem noch ungedruckten Münchener Vortrag davor gewarnt, den Selbstbestimmungsbegriff in der Frühen Neuzeit schon für die Zeit vor dem aufgeklärten 18. Jahrhundert dingfest zu machen.140 Nun ist das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht gewiss etwas Anderes als die autonome Selbstverwaltung im Rahmen eines organisierten Staatswesens. Doch sind Parallelen unübersehbar, da die Gewährung autonomer Rechte zugleich die Anerkennung des Rechts bedeuten kann, über das Schicksal des eigenen Landes selbst zu bestimmen. Insofern kann man Duchhardt zustimmen und seine Meinung auf die Gewährung autonomer Rechte für jüdische Gemeinden und Landjudenschaften des Ancien Régime übertragen. Noch mehr ist daraus zu folgern: Eine rechtlich begründete Autonomie für die Zeit vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bereich der Landesfürstentümer und anderer Herrschaften des Alten Reiches anzunehmen, muss als unhistorischer Anachronismus abgelehnt werden. Damit ist aber die Frage nach dem Autonomiestatus der jüdischen Korporationen des Ancien Régime nicht gelöst. Es wurde schon eingangs darauf hingewiesen, dass die Reformer des 18. Jahrhunderts dieses Problem in ihren Fokus nahmen und je nach Standpunkt die Aufhebung oder Beibehaltung der Autonomie forderten. Auch wenn sie damit ein bestimmtes verfassungsrechtliches Bild vor Augen hatten, wie es in der Aufklärungszeit 139 Bodenheimer, Beitrag zur Geschichte der Juden (FN 120), S. 28, auf der Basis von heute verlorenen Akten des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt. 140 Siehe den Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. Februar 2008 über einen Vortrag im Historischen Kolleg München.

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disputiert wurde, hatten sie für die ältere Zeit zumindest Spuren eines Autonomiestatus erkennen können. Die daraus gezogenen Folgerungen mögen unhistorisch gewesen sein und konstruiert angemutet haben; die vorgefundenen Elemente könnten aber doch richtig beschrieben worden sein. Es hängt eben davon ab, was man unter den Autonomiebegriff für die ältere Zeit fassen will. Was in dem noch nicht institutionell verdichteten Herrschaftsraum vor der Mitte des 14. Jahrhunderts noch möglich war – nämlich die eigenverantwortliche, faktisch autonome Wahrnehmung von Gemeindeangelegenheiten – wurde im späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bis zum beginnenden 17. Jahrhundert durch die neue Schutzpolitik gegenüber den Juden zunächst unmöglich gemacht. Da nun in der Regel nur noch einzelnen Juden Ansiedlungsprivilegien und Schutzrechte erteilt wurden, konnten sich Gemeinden nur noch als interne religiöse Gemeinschaften, etwa zum Betrieb eines Friedhofs und zur Unterhaltung einer Synagoge, bilden – ausgenommen nur die überlebenden Großgemeinden wie die von Frankfurt am Main, Wien und Prag. Erst der merkantilistische Staat, der den Nutzen der Juden zur Erlangung einer positiven Handelsbilanz erkannt hatte, leitete den Perspektivenwechsel von der Einzelprivilegierung zur Privilegierung von Korporationen ein. Erst jetzt wurden autonome Entwicklungen möglich, jedoch von vorne herein unter gezielten Reichweitenbegrenzungen unter Aufsicht der landesherrlichen Administration. Versteht man unter Autonomie die Satzungsgewalt einzelner gesellschaftlicher Verbände und Organe im öffentlich-rechtlichen Bereich141, so könnte man jüdische Gemeinden ebenso wie Landjudenschaften als autonome Korporationen in Anspruch nehmen. Denn mit der Aufzeichnung von minhagim, also Rechtsgewohnheiten, sowie von takkanot, den Statuten der Gemeinden, gab es zweifellos stets die Chance des eigenständigen Satzungsrechts zur Regelung eigener Angelegenheiten. Und auch die Responsen der Gemeinde- oder Landrabbiner, mit denen zu Fragen des Alltags Stellung bezogen wurde142, sind als eine Art richterliche Rechtsfortbildung in diesen Zusammenhang zu stellen. Doch wäre dies zu formal gedacht: Mit diesen wurde stets nur das geregelt, was seit dem 17. Jahrhundert in der Policeygesetzgebung als Zeremo141 So im Juristendiskurs seit dem 17. Jahrhundert und in der Aufklärungszeit, etwa bei Johann Stepahn Pütter; siehe dazu: Friedrich Vollhardt, Art. „Autonomie“, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Lexikon der Aufklärung: Deutschland und Europa, München 1995, S. 52 f.; zu Pütter siehe: Dietmar Willoweit, Art. „Pütter, Johann Stephan“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. IV, Berlin 1990, Sp. 114 – 118. 142 Siehe dazu etwa Solomon B. Freehof, The Responsa Literature, Philadelphia 1959, insb. S. 49 – 65; Breuer, Frühe Neuzeit (FN 112), S. 207 – 209; Überblick bei Battenberg, Die Juden in Deutschland (FN 19), S. 51.

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nialsache bezeichnet wurde. Anders gewendet: Das den Juden als einer religiösen Gemeinschaft vorgegebene halachische Recht erfuhr in den minhagim und takkanot spezifisch regionale Ausprägungen. An deren Inhalten hatten die Schutzherren der Juden kaum Interesse, solange nicht der christliche Glaube oder zentrale christliche Werte wie die Sonn- und Feiertagsheiligung tangiert waren.143 Erließen die jüdischen Gemeinden oder die Landjudenschaften jedoch Satzungen zur Organisation, zum Steuer- und Rechnungswesen oder etwa zur Gewerbe- und Handelspraxis, so mussten sie stets mit kontrollierenden Eingriffen, mit Beschränkungen oder gar mit Verboten der Obrigkeit rechnen. In der Frage der Gerichtsbarkeit gilt übereinstimmend für alle Landjudenschaften, dass die Landesfürsten die Jurisdiktionsgewalt der Landrabbiner auf Zeremonialsachen beschränkten und ihnen darüber hinaus nur bei geringen Streitwerten, bei Bußangelegenheiten und innerjüdischen Prozessen (in den Quellen „jud contra jud“) Kompetenzen überließen, regelmäßig mit der Einschränkung, dass Appellationen an die staatlichen Gerichte möglich sein sollten.144 Die Elemente von Autonomie, die die Landes- und Schutzherren ihren jüdischen Gemeinden und den Landjudenschaften gewährten, wurden demnach stets durch Kontroll- und Eingriffsvorbehalte konterkariert. Anders, als in der Forschungsliteratur zumeist behauptet, gab es nicht eine ursprüngliche Autonomie der jüdischen Korporationen, die erst im Laufe der Zeit von den staatlichen Administrationen eingeschränkt worden seien. Vielmehr gab es in der vormodernen Zeit stets gerade soviel Autonomie, wie es mit dem landes- oder schutzherrlichen Interesse vereinbar schien. Die institutionelle Verdichtung, die sich in den zahlreichen Policeyordnungen des 18. Jahrhunderts niederschlägt, lässt zwar die Regelungsdichte zunehmen, bedeutete aber keine qualitative Verschiebung von bestehenden Freiräumen hin zu Verfasstheit im landesfürstlichen Interesse. Die jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften wurden von den Landesfürsten und 143 Versuche, wie etwa die des gebürtigen Mannheimers und Heidelberger Orientalisten Johann Andreas Eisenmenger zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Schädlichkeit talmudischer Rechtsvorstellungen für den christlichen Glauben nachzuweisen, wurden von den Obrigkeiten der Zeit nur selten aufgegriffen und in politische Maßnahmen umgesetzt. Die Obrigkeiten wie auch die Geistlichkeit griff erst dann ein, wenn christliche Werte betroffen schienen, wie etwa die Sonn- und Feiertagsruhe, oder die Verunglimpfung zentraler Dogmen und Glaubenslehren befürchtet wurde, etwa der Jungfrauengeburt Christi. Zu Eisenmenger siehe Battenberg, Das Europäische Zeitalter (FN 2), S. 176 – 179. 144 Im Ergebnis ebenso Werner Marzi, Judentoleranz im Territorialstaat der Frühen Neuzeit. Judenschutz und Judenordnung in der Grafschaft Nassau-WiesbadenIdstein und im Fürstentum Nassau-Usingen (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. 16), Wiesbaden 1999, S. 231, wenn er davon spricht, dass der frühneuzeitliche Saat in jüdische Autonomie auf den zeremonialrechtlichen Bereich beschränkt habe und die rabbinische Jurisdiktion zunehmend zurückgedrängt habe.

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anderen Herrschaftsinhabern seit dem späten 17. Jahrhundert nicht gefördert, weil etwa ein Bedürfnis nach Selbstverwaltung der Juden anerkannt oder zugestanden wurde, sondern vielmehr, weil diese Korporationen im landesherrlichen Interesse waren, da sie die eigene Administration entlasten und eine Selbstbindung der Juden bewirken konnten. Anderes wäre in einem tendenziell absolutistisch verwalteten Obrigkeitsstaat auch gar nicht denkbar gewesen. Der gesteigerte Ordnungsanspruch des Staates war eng dem Anspruch verbunden, zur Erhaltung von pax et tranquillitas rei publicae die Gewaltausübung und damit auch die Kompetenz zur Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten im Landesfürstentum zu konzentrieren.145 Unter dieser Vorgabe waren lediglich noch delegierte Normsetzungskompetenzen möglich – etwa der Provinzialregierungen, der Ämter und Städte. Was für die christlichen Obrigkeiten galt, wurde auch für die jüdischen Korporationen angenommen. Auch sie wurden tendenziell eingebunden in das Gewaltund Gesetzgebungsmonopol des christlichen Obrigkeitsstaates. Von einer Autonomie im rechtlichen Sinne, wie sie von den Reformern der Aufklärungszeit herbeigeredet wurde, konnte unter diesen Umständen keine Rede mehr sein.146

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Simon, ,Gute Policey‘ (FN 32), S. 222. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte die Monographie Andreas Gotzmanns über „Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum“, Göttingen 2008. Hier kommt Gotzmann anhand des Beispiels der jüdischen Gemeinde Frankfurt zu ähnlichen Ergebnissen wie der obige Aufsatz. Er spricht von „begrenzter korporativer Eigenständigkeit“ jüdischer Gemeinden (S. 37) und der Duldung eines Freiraums, solange dies den landesherrlichen Interessen entsprochen habe (S. 190), aber auch vom Bestehen eines „offenen jüdischen Rechtsraums“, der der Gemeinde besondere Handlungsspielräume eröffnete (S. 358). 146

Aussprache Gesprächsleitung: Heun

Asche: Herr Battenberg, ich finde, auch bei Ihnen ist etwas, was ich bei mir nicht so habe ausformulieren können. Ich habe etwas wiederentdeckt: die deutliche Unterscheidung zwischen den Juden, die an die Residenzen angebunden waren – also im Grunde genommen die urbanen Juden –, und die Landjuden. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt – hier spreche ich nochmal in Richtung von Herrn Weitzel. Also das Problem, inwiefern Residenzjuden respektive Residenzhugenotten oder andere residenznahe Gruppen stärker privilegiert waren, autonomer als Einzelpersonen oder vielleicht auch als Gruppe gegenüber denjenigen, die im agrarischen Raum angesiedelt wurden beziehungsweise eher fern der Residenz standen, verstehe ich als eine Anmerkung, die ich machen wollte, weil ich hier wieder über die einzelnen Gruppen hinaus Vergleichbares sehe. Danke schön! Heun: Vielen Dank, wir machen das wieder so, dass wir die Wortmeldungen sammeln und Sie, Herr Battenberg, dann ein Schlusswort haben. Ich habe jetzt auf meiner Liste Herrn Steiger, Herrn Härter, Herrn Vones, Herrn Mohnhaupt. Habe ich jemanden übersehen? Wenn das nicht der Fall ist, können wir in dieser Reihenfolge vorgehen – Herr Steiger. Steiger: Vielen Dank. Sie haben auch zum Schluss noch einmal, sehr deutlich für mich, eine Trennung gezogen zwischen inneren Angelegenheiten, vor allen Dingen religiösen Angelegenheiten, und den organisatorischen Angelegenheiten. Nun befinden wir uns in einer Zeit, in der diese Angelegenheiten so strikt wie heutzutage nicht getrennt waren. Organisation hatte mit den religiösen Angelegenheiten sehr viel zu tun, und das eine bedingte das andere, gegenseitig. Insofern geht meine Nachfrage dahin: Kann man das eigentlich für diese Zeit so deutlich unterscheiden, und welche Folgen hat das konkret für die religiösen Angelegenheiten, wenn der Staat derart auf die Autonomie zugreift? Das hängt zudem umfassend mit der Gesamtlage zusammen: Wir befinden uns nach 1648. Zwar sind die Juden nicht ausdrücklich in den Frieden einbezogen worden. Trotzdem spielen sie – wenn auch nicht in dem Umfange wie die unterschiedlichen christlichen Konfessionen – eine erhebliche Rolle für die religiöse Landkarte im Reich, die – das würde dann ja auch für das gelten, was Herr Asche uns vorgetragen hat –

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offenbar sehr viel vielfältiger ist, als man das so gemeinhin ausdrückt. Also dahingehend meine zweite Frage. Danke. Heun: Herr Härter. Härter: Du [Battenberg] hast die großen Linien und auch die Kontroversen so gezeichnet, wie auch ich sie sehe. Es gab diese Autonomie der Judengemeinden nicht, das ist im Grunde eine Fiktion. Es gab sie nicht in rechtlicher Hinsicht, und die Landesherren wollten mit Ordnungsgesetzgebung, mit vielen Verwaltungsinstrumenten, Instrumenten sozialer Kontrolle sozusagen, in diesen Bereich der inneren Verwaltung der Judengemeinden hineinregieren und sie kontrollieren. Das ist sicher richtig so. Wenn man allerdings nach der Selbstwahrnehmung der Juden und der zeitgenössischen Wahrnehmung schauen würde, ergäbe sich vielleicht ein anderes Bild – ich gebe nur ein Beispiel: Ende des 18. Jahrhunderts gab es ein Hin und Her zwischen Darmstadt und Mainz: Wie handhabte man die Sexual- und Sittlichkeits- beziehungsweise Unzuchtsdelikte der Juden? Eigentlich hätte die landesherrliche Ordnungs- und Polizeigesetzgebung gelten und Juden hätten so bestraft werden müssen wie christliche Untertanen. Dann stellte man in der Korrespondenz fest, dass es so gar nicht gemacht und der eigene normative Anspruch nicht erfüllt wurde. Vielmehr überließ man die Bestrafung – sogar die Bestrafung des Ehebruchs – den Juden, weil die Verfolgung nicht im landesherrlichen Interesse lag. In der Praxis wurde der normative Anspruch also gar nicht eingelöst und stattdessen de facto Autonomie gewährt. In der Wahrnehmung der Juden war das auch so. Es gab in der Mainzer Landjudenschaft lange Auseinandersetzungen über die Einsetzung von Rabbinern und anderer Amtsträger. Irgendwann griff der Landesherr ein und bestimmte jemanden, denn den Anspruch dazu hatte er. Aber dies erzeugte umgehend Widerstand der Landjudengemeinden, die das Recht des Landesherrn in Zweifel zogen. Also, in der Selbstwahrnehmung – und das wäre eigentlich meine Anmerkung –, in der Selbstwahrnehmung der jüdischen Gemeinden existierte durchaus eine relativ weitgehende Autonomie nach dem eigenen Selbstverständnis. Heun: Zunächst Herr Vones, dann Herr Mohnhaupt. Vones: Herr Battenberg, ich danke Ihnen für diesen schönen Vortrag, der eine ganze Menge aufgebracht hat. Ich habe nur eine Nachfrage nach den Takkanot. Wir haben gestern das spanische Beispiel etwas genauer angeschaut und da gibt es ja auch Takkanot von übergeordneten Zusammenkünften, wie Sie ja auch hier einige vorgestellt haben. Auf der Iberischen Halbinsel, also in den spanischen Reichen, scheitern diese übergeordneten Takkanot von Großversammlungen normalerweise daran, dass sie dann von den einzelnen Gemeinden nicht mitgetragen oder abgelehnt werden. Bei Ihnen – jedenfalls habe ich das so entnommen – ist es so, dass diese Takkanots

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dann durchaus die Meinung der gesamten Judenschaft wiedergeben und im Grunde genommen auch insgesamt mitgetragen worden sind. Hat sich da an der Struktur der Gemeinden, die eben die Grundlage für das Ganze bilden, etwas geändert? Ist da ein Mitspracherecht unter Umständen verloren gegangen, das in früherer Zeit noch existiert hat? Das wäre meine Frage. Mohnhaupt: Ich habe eine gewisse Parallelität in der Form und in der Absicht, kontrollierend und aufsichtstechnisch zu wirken, bemerkt zu dem, was man ja auch auf der Ständeebene im Verhältnis zum Landesherrn auch bemerken kann. Insofern ist da eigentlich eine generelle Tendenz des absolutistischen Staates oder Landesherrn – „absolutistisch“ setzte ich in Anführungsstriche, Sie haben den Begriff auch einmal verwendet – zu sehen. Das heißt auch, dass sich das Instrument „Privileg“ jetzt etwas auf das Element „Konzession“ verschiebt. Sie hatten auch den Begriff „Konzession“ verwendet für das Ansiedlungskonzessionswesen 1660 – allerdings sehr früh. Im 18. Jahrhundert wird weitgehend das Privileg auch durch die Konzession ersetzt. Sie ist teilidentisch, aber sie wirkt auf einer anderen Entscheidungsgrundlage: Das Privileg ist gratia, ist Gnade ohne Anspruch. Die Konzession dagegen beruht auf dem ius supremi inspectionis, also auf der Oberaufsicht des Landesherrn, der alle rechtlichen Gestaltungselemente innerhalb des Staates im Sinne auch einer polizeilichen, einer wohlfahrtsstaatlichen Haltung versucht einzusetzen. Insofern ist das, was jetzt hier bei der Judenschaft zu beobachten ist, vielleicht gar keine Besonderheit, sondern ist eine Parallelentwicklung zu dem, was der „Staat“ – in Anführungsstrichen – in dieser Zeit ohnehin zu tun vorhat. Heun: Vielen Dank. Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen, so dass Sie das Schlusswort haben, Herr Battenberg. Battenberg: Ja, vielen Dank für die Anmerkungen und Fragen zu meinem Referat. Die Fragen hängen ja glücklicherweise alle irgendwie miteinander zusammen, so dass ich nicht einzeln und stufenweise darauf eingehen muss, sondern auch pauschal antworten kann. Zunächst zu dieser von Ihnen, Herr Asche, eingebrachten Unterscheidung zwischen Land- und Residenzjuden: Ganz so kann man die Unterscheidung nicht treffen. Es ist in der Tat so, dass die Rechtsposition der „Residenzjuden“ meistens sehr viel günstiger war als die der Landjuden, weil Landjuden natürlich keine Kompetenz hinter sich mitbringen konnten. Sie siedelten zerstreut und fassten sich zusammen, hatten zum Teil eine gute Kommunikation untereinander, zum Teil aber auch weniger, während innerhalb der Stadt der Rahmen völlig anders war. Allerdings gab es bei den Residenzjuden und den Stadtjuden in großen städtischen Gemeinden sehr, sehr große Unterschiede. Es gab Gemeinden – wie Halberstadt etwa und Mannheim –, die sehr vorteilhafte Privilegien hatten, während Gemein-

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den wie Frankfurt und Worms – die auf älterer Tradition beruhten – noch altes Recht mit sich schleppten, das nicht sehr günstig war und nur langsam gewandelt wurde. Aber es ist deutlich, dass die Unterschiede zwischen den – ich würde statt Residenz- eher Stadtjuden sagen –, zwischen den großen städtischen Gemeinden und den Landjuden doch erheblich waren. Die Differenzierung zwischen den inneren Angelegenheiten, den religiösen Angelegenheiten – das, was in den Quellen „Zeremonialsachen“ heißt – und den äußeren Angelegenheiten, den organisatorisch-strukturellen Angelegenheiten ist natürlich nicht strikt zu ziehen. Es kam immer wieder vor – und das geht auch auf andere Fragen ein –, dass die Landesherrn und die Schutzherren auch in die religiösen Angelegenheiten eingriffen, sich die entsprechenden innerjüdischen Vorschriften, Vereinbarungen und Urteile übersetzen ließen oder versuchten, diese zu beurteilen. Es kam darüber hinaus vor, dass auch Juden selbst, die sich in Zeremonialsachen – ich nehme mal diesen alten Begriff – beschwert fühlten, sich kurzerhand an den Landesherrn wandten und ihn damit zwangen, sich über diese Angelegenheiten, die eigentlich innerjüdische waren, Gedanken zu machen. Auch die Angelegenheiten „Jud contra Jud“, also innerjüdische Streitigkeiten, gingen sehr häufig trotz rabbinischer Verbote und Responsen, die das eindeutig ablehnten, immer wieder an den Landesherrn oder an die christliche Obrigkeit, weil man sich von dort einen besseren Rechtsschutz erwarten und erhoffen konnte. Also diesbezüglich ist keine strikte Trennung zu ziehen, und auch die Interpretation darüber, was als religiös anzusehen war, was zeremoniellen Charakter hatte und was nicht, was strukturellen Charakters war, ist sehr uneinheitlich. Das wechselte im Laufe der Zeit, und insofern hat der Landesherr oder der Schutzherr, die Obrigkeit, immer die Möglichkeit, hier ganz massiv in die inneren Angelegenheiten der Gemeinden einzugreifen. Ich denke, es wurde danach differenziert: Was hatte den Landesherrn interessiert? Was hatte er unter Umständen als eine eigene Angelegenheit betrachtet? Wo hatte er kein Interesse? Was war ihm gleichgültig? Es gibt natürlich – und das ist völlig richtig – keine sehr großen Unterschiede zwischen der allgemeinen Situation, der sozusagen objektiven Rechtssituation – wenn man davon überhaupt sprechen kann – und der Selbstwahrnehmung der Juden. Ich habe zu Beginn das Prinzip der „dina d’malchute dina“, also der Anerkennung des fremden Rechts zitiert. Das ist aber zunächst nur eine Art Überbau, der rabbinisch feststeht und der die Möglichkeit lässt, einen Rahmen zu setzen, der über das eigentliche innerjüdische Recht hinausgeht. Man war dennoch – und das ist völlig klar – daran interessiert, möglichst viel selbstständig zu regeln und hat deshalb Autonomiestatus im rechtlichen Sinne – jetzt vielleicht modern gesprochen – für sich in Anspruch genommen. Aber das funktionierte nicht, und hier knüpfe ich nochmal an das an, was ich Herrn Steiger schon gesagt hatte: Der Eingriff des Landesherrn war

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nicht genau definiert. Also: Wo war die Grenze und wo konnte er wirken? Natürlich nahm er für sich in Anspruch, den Rabbiner einzusetzen, auch abzusetzen, das Rechnungswesen und Steuerangelegenheiten zu regeln bis hin dazu, dass er selbst die Versammlungen leitete. Nicht zufällig ist von Judenlandtagen die Rede, also in Parallele zu einem christlichen Gremium. Auch wenn es kein Landtag in diesem Sinne war, es war immerhin ein Organ, in dem nur vollberechtigte Einzelmitglieder beziehungsweise Haushaltsvorstände vertreten waren – übrigens ganz im Gegensatz zur polnischlitauischen Situation. Dort waren die Landtage – die „Waadim“ – ganz anders zusammengesetzt, und zwar: Es waren nur die Gemeindevorsteher beteiligt, so dass man von einem Überorgan über den Gemeinden sprechen könnte, während die Landjudenschaften stattdessen an die Stelle der Gemeinden traten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kommt es sogar vor, dass Eheverträge zwischen zwei Juden vor dem Landesherrn geschlossen werden. Das heißt, es wurde ein Ehevertrag aufgesetzt, der vom Landesherrn bestätigt wurde. Natürlich wurde auch die Strafkompetenz, das, was im christlichen Bereich in der Konsistorialgerichtsbarkeit ausgeübt wurde, in Anspruch genommen. Es entwickelten sich sehr große Eingriffsmöglichkeiten, die sich im Laufe der Zeit auch erweiterten. Ungeachtet dessen ist es das Prinzip, dass die Autonomie von vornherein nur soweit gewährt wurde, insoweit es im Interesse des Landesfürsten und des jeweiligen Schutzherrn lag. Zu den Takkanot: Die Frage der Durchsetzung von Takkanot, von Statuten der Gemeinden, hing ganz davon ab, wer daran beteiligt war. Für die Frühe Neuzeit sind es die großen Gemeinden Frankfurt am Main, Worms, Friedberg, Günzburg und Fulda, die die wichtigsten Normgeber von Takkanot waren. Sie konnten erwarten, dass sie jeweils ihr Umland mitregelten. Da gab es auch keinen Widerstand. Auch die reichsübergreifende Takkana, die Josel von Rosheim als „Befehlshaber der Gemeinen Judenheit“ 1530 erlassen hatte, scheint innerhalb der jüdischen Gemeinden keinen Widerspruch erlangt zu haben. Um die Gemeindeorganisation war es damals allerdings sehr dürftig bestellt. Anders sah es aus bei den älteren Takkanot der sogenannten SCHUM-Gemeinden, also die drei Gemeinden Speyer, Worms und Mainz, die im 13. Jahrhundert eine große Rolle spielten. Sie hatten Durchsetzungsprobleme. Aber die späteren Takkanot waren ohne weiteres offenbar getragen von der Zustimmung der Gemeinden. Und nun zu Ihnen, Herr Mohnhaupt: Dem kann ich nur zustimmen. Die Kontrolle, Aufsicht wurde ganz in Parallele zur christlichen Umwelt ausgeübt. Das ist für mich ein weiteres Argument dafür, dass Forschungen zur jüdischen Geschichte nicht ohne Kenntnis der christlichen Umwelt betrieben werden können. Dies ist ein Grundsatz, der lange Zeit missachtet wurde. Lange Zeit – vom 19. Jahrhundert bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein – wurde Forschung zur Geschichte der Juden und der

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jüdischen Gemeinden praktisch isoliert betrieben, weil man gemeint hat, die Juden seien ja sowieso gettoisiert, es habe einen abgeschlossenen Lebensbereich der Juden gegeben, mit dem man sich auch wissenschaftlich eigenständig beschäftigen könne. Es ist gerade das Gegenteil der Fall. Es gab intensive Querverbindungen zwischen den Juden und ihrer christlichen Umwelt. Ich knüpfe hier an die große monographische Untersuchung von Israel Yuval (Jerusalem) an, der jetzt aufgedeckt hat, dass eine ganze Reihe von christlichen Schmähschriften, christlichen Stereotypen sogar, etwa die ganzen Blut- und Ritualmord-Beschuldigungen gegen die Juden, innerjüdische Wurzeln hatten. Es gab Querverbindungen. Es gab Wahrnehmungen von außerhalb, in der christlichen Umwelt, wenn auch keine offizielle Kommunikation. Man kann sogar feststellen, dass innerjüdisch bestimmte Organe plötzlich den gleichen Namen tragen wie christliche Organe, auch da gibt es Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Alles in allem: Jüdische Geschichte kann nicht ohne die Geschichte der christlichen Gesellschaft insgesamt gesehen werden.

Der Kampf der Parlamente mit dem Königtum in Frankreich vor der Revolution Gerichtshöfe zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, ständischer Opposition und moderner Nationalrepräsentation Von Christoph Schönberger, Konstanz

Am 3. November 1789 traf die revolutionäre Nationalversammlung eine grundlegende Entscheidung. Bis zu einer Neuorganisation der gesamten Justiz schickte sie die Parlamente (Parlements)1 in außerordentliche Gerichtsferien.2 Aus diesen Ferien sollten die Gerichtshöfe nicht wieder zurückkehren.3 Das Dekret stieß in den Parlamenten naturgemäß auf Widerstand.4 Am stärksten wehrte sich das Parlament der Bretagne in Rennes. Seine Chambre 1 Die Bezeichnung der Gerichtshöfe als „Parlamente“ (Parlements) wirkt aus heutiger Perspektive befremdlich, weil es sich nicht um gewählte Repräsentativversammlungen handelte. Da diese Äquivokation aber auch im modernen Französisch besteht, verzichtet der Beitrag darauf, die entsprechende Distanz durch die Verwendung des französischen Wortes Parlement immer wieder hervorzuheben und dadurch den Lesefluss zu hemmen. Die Eigenheit der Institution wird durch die Darstellung im Text ohnehin deutlich. 2 „L’Assemblée nationale décrète qu’en attendant l’époque peu éloignée où elle s’occupera de la nouvelle organisation du pouvoir judiciaire: 1. Tous les Parlements continueront de rester en vacances, et ceux qui seraient rentrés reprendront l’état de vacances; que les Chambres de Vacations continueront, ou reprendront leurs fonctions, et connoîtront de toutes causes, instances et procès, nonobstant toutes Lois et Règlements à ce contraires, jusqu’à ce qu’il ait été autrement statue à cet égard . . .“ Der Text des Dekrets ist abgedruckt in: Henri Carré, La Fin des Parlements (1788 – 1790), Paris 1912, S. 138. Die ordentliche Sitzungsperiode der Parlamente begann im Ancien Régime – nach Abschluss der Erntezeit – am Tag nach Martini, dem 12. November, und dauerte bis in den Sommer. Durch das Dekret wurde die entsprechende Rentrée der Parlamente verhindert. Die jeweilige Chambre de Vacation, die in den einzelnen Parlamenten während der Gerichtsferien die dringlichen Justizangelegenheiten erledigte, wurde beauftragt, für die Übergangszeit bis zur Neuorganisation der gesamten Justiz die gerichtlichen Aufgaben der Parlamente wahrzunehmen. 3 Einer der entschiedenen Verfechter des Dekrets in der Nationalversammlung, Alexandre de Lameth, soll beim Verlassen der Sitzung gesagt haben, nun habe man die Parlamente „lebendig begraben“: Ernest Glasson, Le Parlement de Paris. Son rôle politique depuis le règne de Charles VII jusqu’à la Révolution, Bd. 2, Paris 1901, S. 503; Jean-Pierre Royer, Histoire de la justice en France, 3. Aufl., Paris 2001, S. 264. 4 Zu den verschiedenen Reaktionen auf das Dekret in den Chambres de Vacation der einzelnen Parlamente näher Carré (FN 2), S. 138 ff., Paolo Alatri, Parlamenti e lotta politica nella Francia del Settecento, Rom, Bari 1977, S. 508 ff.

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de Vacation, die während der herbstlichen Gerichtsferien die Justizgeschäfte versah, weigerte sich, das Dekret zu registrieren. Vor der Nationalversammlung verwahrte sich der Präsident des bretonischen Parlaments im Namen der historischen Rechte dieser Provinz gegen die Kaltstellung seines traditionsreichen Gerichtshofs.5 Diesem Protest begegnete Mirabeau in der folgenden Debatte mit beißendem Spott.6 Wer seien denn eigentlich, so fragte er, diese „Pygmäen“ aus dem Parlament von Rennes, die es aus „feudalem Hochmut“ und „adeliger Eitelkeit“ wagten, sich dem Lauf der neuen Zeit entgegenzustellen. In der im Jahr 1790 beschlossenen Gerichtsverfassung war für die Parlamente denn auch kein Platz mehr; die neuen Gerichte wurden strikt auf die Funktion einer äußerst eng verstandenen Rechtsprechung beschränkt.7 Ohne Sang und Klang trat so eine der markantesten Institutionen des Ancien Régime von der politischen Bühne ab. Auch im Rückblick wird bis heute noch häufig Mirabeaus Vorwurf erhoben, die Parlamente seien allein verstockte Verteidiger aristokratischer Privilegien gewesen. Schon die zeitgenössischen Aufklärer waren sich allerdings in der Beurteilung der Parlamente keineswegs einig gewesen. Während etwa Voltaire die Parlamentsräte schlicht für selbstsüchtige Reaktionäre hielt, unterstützte Diderot sie bei aller Kritik im Einzelnen durchaus deshalb, weil sie für ihn ein Hemmnis gegenüber dem monarchischen „Despotismus“ bildeten.8 5 Die Ansprache des Präsidenten La Houssaye vom 8. Januar 1790 ist abgedruckt in: Archives Parlementaires de 1787 à 1860. Première Série, 1787 – 1799, Paris 1867 – 1972 (im Folgenden: Archives Parlementaires), Bd. 11, S. 125 – 27; Text auch bei Carré (FN 1), S. 161 ff., FN 3. 6 Rede Mirabeaus vom 9. Januar 1790, Archives Parlementaires, Bd. 11, S. 145 – 149; auch abgedruckt in: François Furet / Ran Halévy, Orateurs de la Révolution Française, Bd. 1, Paris 1989, S. 721 – 732; vgl. dagegen die der Rede Mirabeaus unmittelbar vorausgehende Verteidigung des Verhaltens der bretonischen Parlamentsräte durch Duval d’Éprémesnil, einen der früheren Heroen der parlamentarischen Kämpfe gegen die Monarchie, in: Archives Parlementaires, Bd. 11, S. 141 – 145, auch abgedruckt in: Furet / Halévy, S. 331 – 343; zur Debatte in der Nationalversammlung insgesamt Carré (FN 2), S. 164 ff. 7 Die negative Abgrenzung zur bisherigen Stellung der Parlamente findet sich auch in der zusammenfassenden Beschreibung der neuen, stark reduzierten Rolle der Gerichte in Titel III, Kapitel V, Artikel 3 der Verfassung vom 3. September 1791: „Les tribunaux ne peuvent, ni s’immiscer dans l’exercice du Pouvoir legislatif, ou suspendre l’exécution des lois, ni entreprendre sur les functions administratives, ou citer devant eux les administrateurs pour raison de leurs fonctions.“ Zur Neuorganisation der Justiz durch die Nationalversammlung umfassend Royer (FN 3), S. 271 ff.; Isser Woloch, The New Regime. Transformations of the French Civic Order, 1789 – 1820s, New York u. a. 1994, S. 302 ff. Zu den bis heute wirksamen Konsequenzen der Tradition des Misstrauens gegenüber einer Verfassungsgerichtsbarkeit siehe unten bei FN 74 – 76. 8 Zur ambivalenten Haltung der Aufklärer gegenüber den Parlamenten siehe Michael Wagner, Artikel: Parlements, in: Rolf Reichardt / Eberhard Schmitt (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 – 1820, Bd. 10, München 1988, S. 1 – 52 (21 ff.); eingehend Alatri (FN 4), S. 34 ff. Zu den heutigen unterschiedlichen Deutungen näher unten IV.

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Im Folgenden soll der Bedeutung der Parlamente im 18. Jahrhundert vor der Revolution näher nachgegangen werden. Dabei vermischen sich aus der Sache heraus Aspekte der Verfassungs-, Verwaltungs- und Justizgeschichte. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über Stellung und Tätigkeit der Parlamente (I.) und erörtert deren institutionelles Selbstverständnis (II.). Es geht dann um die Art der Konflikte mit der Krone (III.) und schließlich um Überlegungen zur Deutung der Position der Parlamente im späten Ancien Régime (IV.). Die Parlamente erweisen sich dabei als ambivalente Institutionen, deren traditionalistisches Rechtsbewusstsein ein Gegengewicht zur bourbonischen Bürokratie bildete, ohne doch deren wachsendes Legitimitätsdifizit auf Dauer ausgleichen zu können.

I. Wer waren die Parlamente und was taten sie? 1. Das Parlament von Paris und die Parlamente der Provinzen

Die Parlamente waren königliche Gerichtshöfe. Im Hochmittelalter aus der Curia Regis hervorgegangen, waren sie vom 13. bis 16. Jahrhundert wirksame Instrumente in der Hand des Königtums gewesen, das in Auseinandersetzung mit Adel, Papsttum und geistlicher Gerichtsbarkeit den monarchischen Staat errichtete.9 Zusätzlich zum Parlament von Paris hatten die französischen Könige seit Karl VII. in den neu erworbenen Ländern an der Peripherie des Königreichs jeweils Provinzialparlamente eingerichtet; damit trugen sie in gewissem Umfang auch dem Partikularismus dieser Provinzen und den dort zuvor bestehenden Feudalgerichtsbarkeiten Rechnung.10 Am Ende des Ancien Régime bestanden schließlich dreizehn Parlamente. Außer in Paris gab es derartige Gerichtshöfe in Toulouse, Grenoble, Aix, Bordeaux, Dijon, Rouen, Rennes, Pau, Metz, Besançon, Douai und Nancy.11 Die Zuständigkeitsbereiche der Parlamente variierten stark. 9 Serge Dauchy, Cours souveraines et genèse de l’État. Le Parlement de Paris, in: Bernhard Diestelkampf (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, Köln u. a. 1996, S. 45 – 72; Ulrike Müßig, Höchstgerichte im frühneuzeitlichen Frankreich und England – Höchstgerichtsbarkeit als Motor der frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, in: Rolf Lieberwirth / Heiner Lück (Hrsg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages, Halle an der Saale, 10. – 14. September 2006, Baden-Baden 2008, S. 544 – 577 (547 ff.). 10 Hedwig Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution (1928), Frankfurt am Main 1989, S. 133 f. Zu den Provinzialparlamenten etwa Jacques Poumarède / Jack Thomas (Hrsg.), Les Parlements de Province: pouvoirs, justice et société du XVe siècle au XVIIIe siècle, Toulouse 1996; Olivier Chaline / Yves Sassier, Les parlements et la vie de la cité (XVIe – XVIIIe siècle), Rouen 2004; William Doyle, The Parlement of Bordeaux and the end of the old regime 1771 – 1790, London 1974. 11 Vgl. dazu Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München, Berlin 1910, S. 335 ff.; Alatri

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So hatten etwa die Gerichtshöfe von Toulouse oder Bordeaux einen vergleichsweise heterogenen Einzugsbereich. Andere wie das Parlament von Grenoble (Dauphiné) oder Rouen (Normandie) waren nur für eine Provinz zuständig und neigten schon deshalb dazu, sich gerade auch als Vertretungen regionaler Privilegien und Interessen zu verstehen, zumal dann, wenn es in der jeweiligen Provinz keine Provinzialstände (mehr) gab.12 Das Parlament von Paris war unter ihnen das älteste und bedeutendste. Es war den später errichteten Parlamenten, die seine Geschäfte für ihre jeweiligen Provinzen übernommen hatten, rechtlich aber nicht über-, sondern gleichgeordnet. Auch die Parlamente der Provinzen richteten in oberster Instanz, und es gab von ihnen aus nicht etwa ein Rechtsmittel an das Parlament von Paris.13 Von Philipp dem Schönen am Anfang des 14. Jahrhunderts in Paris ansässig gemacht, leitete das Pariser Parlament sich unmittelbar aus der älteren Institution der Curia Regis ab und stand traditionell in engem Kontakt mit Hof und Regierung. Seiner Gerichtsbarkeit unterlag etwa ein Drittel des französischen Gebiets14; es hatte damit den größten Einzugsbereich aller Parlamente. Für bestimmte Angelegenheiten war das Parlament von Paris in erster und letzter Instanz zuständig, etwa für Prozesse, an denen der Hochadel beteiligt war. Dem Pariser Parlament gehörten auch Mitglieder des regierenden Hauses und weitere Vertreter des hohen Adels als Pairs an, die aber regelmäßig nicht an regulären Gerichtsverfahren teilnahmen, sondern nur bei politisch bedeutsamen Angelegenheiten mitwirkten.15

(FN 3), S. 89 f.; Jean Egret, Louis XV et l’opposition parlementaire, Paris 1970, S. 10 f. mit FN 8. Hinzu kamen weniger bedeutende „Conseils souverains“ bzw. „Conseils supérieurs“ in Colmar, Perpignan, Arras und schließlich – nach der Annexion Korsikas 1768 – in Bastia. 12 Zur Rolle der Parlamente als Institutionen regionaler Autonomie näher unten IV. 2. 13 Zur Bedeutung des Pariser Parlaments allgemein Alatri (FN 4), S. 93 f.; zu seiner rechtlichen Gleichordnung mit den Parlamenten der Provinzen Holtzmann (FN 11), S. 335; Müßig (FN 9), S. 549. 14 Dazu gehörte insbesondere auch das Lyonnais, denn der zweitgrößten französischen Stadt Lyon wurde trotz bzw. gerade wegen ihrer großen Bedeutung der Sitz eines Parlaments vorenthalten. 15 Die Mitgliedschaft von Mitgliedern des Hochadels und die damit verknüpfte Bedeutung des Pariser Parlaments als „Cour des Pairs“ spielte in der parlamentarischen Publizistik des 18. Jahrhunderts eine bedeutsame Rolle, weil sie das Alter der Institution ebenso bezeugte wie dessen Anspruch auf Unabsetzbarkeit seiner Mitglieder; vgl. dazu Catherine Maire, De la cause de Dieu à la cause de la Nation. Le jansénisme au XVIIIe siècle, Paris 1998, S. 450 f., 458. Es kam deshalb auch gegenüber dem „Staatsstreich“ Maupeous 1771 zu Protesten mehrerer Prinzen: Egret (FN 11), S. 219 ff.

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2. Die Mitgliedschaft in den Parlamenten

Die Mitgliedschaft in den Parlamenten war – mit Ausnahme der weiterhin vom König ernannten gens du roi, zu denen insbesondere der Erste Präsident (premier président) gehörte, und der Pairs – käuflich und vererblich; sie führte nach einer gewissen Amtszeit überdies zur Nobilitierung.16 Aufgrund der Käuflichkeit und Vererblichkeit der Ämter besaß der König kaum Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Parlamente, zumal ihm auch die Abschaffung von Ämtern nur bei Erstattung des Erwerbspreises möglich war; faktisch waren die Parlamentsräte deshalb unabsetzbar.17 Die parlamentarische noblesse de robe wies einen beachtlichen Korpsgeist auf, der durch die besondere Traditionsbezogenheit der gerichtlichen Tätigkeit noch verstärkt wurde. Sie brachte Dynastien von Parlamentsräten hervor – die Joly de Fleury, Maupeou, Molé, Lamoignon, Le Peletier usf. –, die die entsprechenden Grundhaltungen tradierten. Die verbreitete Endogamie in Parlamentskreisen bestärkte diesen esprit de corps nachdrücklich.18 Montesquieu etwa, der die Position eines président à mortier im Parlament von Bordeaux von einem Onkel geerbt hatte, war ein durchaus typisches Produkt dieses Milieus.19 Innerhalb der Parlamente bestanden gleichwohl er16 Zusammenfassend Holtzmann (FN 11), S. 342 ff.; Julian Swann, Politics and the Parlement of Paris under Louis XV, 1754 – 1774, Cambridge 1995, S. 7 ff.; eingehend François Bluche, Les magistrats du Parlement de Paris au XVIIIe siècle, 2. Aufl., Paris 1986, S. 9 ff.; Alatri (FN 4), S. 176 ff. Der finanzielle Aspekt zeigte sich auch im Gerichtsverfahren selbst, in dem die Parlamentsräte sich von den Parteien erhebliche Gerichtsgebühren (épices) bezahlen ließen. Ursprünglich war es dabei, wie der dauernd beibehaltene Name zeigt, nur um freiwillige Kleinnaturalien wie Gewürze und Süßigkeiten gegangen; vgl. Holtzmann (FN 11), S. 239, 345. 17 Dazu Holtzmann (FN 11), S. 345; William Doyle, The Parlements, in: Keith Michael Baker (Hrsg.), The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, Bd. 1: The Political Culture of the Old Regime, Oxford u. a. 1989, S. 157 – 167 (158); François Furet, La Révolution française. De Turgot à Napoléon (1770 – 1814), Paris 1988, S. 23 f. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass gerade unter den Bedingungen der Ämterkäuflichkeit die Inhaber der jeweiligen offices ein großes Interesse daran besaßen, dass eine starke Monarchie Stabilität und Werterhalt der Ämter garantierte; vgl. dazu Andrea Iseli, „Bonne police“. Frühneuzeitliches Verständnis von der guten Ordnung eines Staates in Frankreich, Epfendorf 2003, S. 89 f. 18 Zu den Parlamentsdynastien am Beispiel der Familie Lamoignon plastisch Ute Huber, Zum politischen Konflikt zwischen Krone und Parlament in der Vorrevolution Frankreichs. Eine Untersuchung zur Einflussnahme des Großsiegelbewahrers Chrétien-François de Lamoignon auf die Regierungspolitik gegenüber dem Parlament von Paris in der Zeit vom April 1787 bis zum September 1788, Diss. phil., München 2000, S. 20 ff.; zu den entsprechenden ehelichen Verbindungen Swann (FN 16), S. 8 ff. 19 Die neun „présidents à mortier“ – der Name stammt von dem mörserförmigen Samtbarret, das diese zu ihrer Robe trugen – waren die herausgehobensten Persönlichkeiten des Parlaments hinter dessen Erstem Präsidenten. Zu Montesquieus Verknüpfung mit dem Milieu der parlamentarischen robins siehe Alatri (FN 3), S. 72 ff. Zur Bedeutung seines Esprit des Lois für die parlamentarische Publizistik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingehend Elie Carcassonne, Montesquieu et le prob-

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hebliche soziale und wirtschaftliche Unterschiede20, und es gab auf der anderen Seite durchaus eine hohe soziale Homogenität zwischen den führenden Parlamentsräten und der sonstigen monarchischen Verwaltungselite.21

3. Die Aufgaben der Parlamente: Gerichtsbarkeit, Verwaltungsangelegenheiten, Registrierung der Gesetze

Die Parlamente22 waren in erster Linie Appellationsgerichtshöfe in allen Rechtsstreitigkeiten, in manchen bedeutsamen Angelegenheiten auch Gerichte erster Instanz.23 Aber sie waren nicht auf diese Rechtsprechungsfunktion im engeren Sinne beschränkt.24 Eine strenge Abgrenzung jurisdiktioneller, administrativer und legislatorischer Tätigkeit hatte bei den Parlamenten seit dem Spätmittelalter nie bestanden und war dem Ancien lème de la constitution française au XVIIIe siècle (1927), Neudruck Genf 1970. Montesquieus Formulierungen zu den „pouvoirs intermédiaires“ und dem „dépôt des lois“ im Esprit des Lois (Livre II, Art. 4) lassen sich allerdings nur indirekt als Unterstützung der parlamentarischen Machtansprüche lesen; vgl. dazu Wagner (FN 8), S. 14; Alatri (FN 4), S. 73 f.; affirmativer François Olivier-Martin, Les Parlements contre l’absolutisme traditionnel an XVIIIe siècle, Paris 1988, S. 32 f. 20 Plastisch dazu James D. Hardy, Judicial Politics in the Old Regime. The Parlement of Paris during the Regency, Baton Rouge 1967, S. 21, der insbesondere die typischen sozialen Differenzen zwischen mächtigen und wohlhalbenden présidents à mortier und den jungen Mitgliedern der chambres de requêtes hervorhebt. 21 So betont Ernst Hinrichs, dass etwa die Intendanten der gleichen, relativ homogenen sozialen Schicht entstammten und oft bis zu einem bestimmten Punkt auch die gleiche berufliche Laufbahn durchliefen wie die Parlamentsräte: Justice versus Administration. Aspekte des politischen Systemkonflikts in der Krise des Ancien Régime in Frankreich, in: ders. u. a. (Hrsg.), Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution. Forschungen und Perspektiven, Göttingen 1978, S. 125 – 150 (133 f.); vgl. dazu auch François Furet, Le catéchisme révolutionnaire (1971), in: ders., Penser La Révolution française, Paris 1978, S. 133 – 207 (167 f.): Neun von zehn Intendanten waren vorher Mitglied der Parlamente. Sowohl die Parlamentsräte als auch die Intendanten wurden hingegen wiederum vom Hochadel häufig verachtet; vgl. dazu am Beispiel Saint-Simons Glasson (FN 3), Bd. 1, S. 460 ff. 22 Zu ihrer inneren Organisationsstruktur (grand’ chambre, chambres de requêtes, chambres d’enquêtes, présidents à mortier, gens du roi usf.) und Abstimmungsweise näher John Rogister, Louis XV. and the Parlement of Paris, 1737 – 1755, Cambridge 1995, S. 5 ff. 23 Appelliert werden konnte insbesondere gegen Urteile der den Parlamenten nachgeordneten bailliages und sénéchaussées bzw. présidiaux; vgl. zusammenfassend Iseli (FN 17), S. 78 ff. Spannungsreich war dabei das Verhältnis der Parlamente zum Conseil du Roi, der im Namen einer königlichen justice retenue bzw. évoquée beanspruchte, beliebige Angelegenheiten von den Parlamenten durch Evokation aus eigenem Antrieb oder auf Ansuchen der Parteien an sich ziehen zu können; hierzu Holtzmann (FN 11), S. 251 f., 362; Alatri (FN 4), S. 102 ff. 24 Zu den unterschiedlichen Aufgaben der Parlamente zusammenfassend Doyle (FN 17), S. 157 f.

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Régime ohnehin fremd.25 Vielmehr waren sie zugleich mit Verwaltungsangelegenheiten befasst, weil sie in gewissem Umfang Verordnungen (arrêts de règlement) erlassen konnten. Diese waren innerhalb des jeweiligen Gerichtsbezirks verbindlich; sie galten freilich nur vorläufig, bis der König die betreffende Materie selbst durch Gesetz regelte, und durften das bestehende Recht nur ergänzen, nicht ändern. Zu den arrêts de règlement gehörten vor allem Rechtsvorschriften im großen Bereich der police générale, die etwa so unterschiedliche Fragen wie die Zensur von Veröffentlichungen, die Kontrolle von Fremden, Protestanten und Juden, die Überwachung von Märkten und Getreideversorgung, kirchliche Angelegenheiten oder das Bildungsund Armenwesen betrafen.26 Die Verwaltungsbefugnisse der Parlamente im Bereich der grande police waren noch im 18. Jahrhundert eine häufige Quelle von Konflikten mit der Intendantenverwaltung.27 Besonders bedeutsam war darüber hinaus die Beteiligung der Parlamente an der königlichen Gesetzgebung. Alle wichtigen königlichen Gesetzgebungsakte28 – wie auch die völkerrechtlichen Verträge – bedurften der 25 Vgl. Lothar Schilling, Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege, Frankfurt am Main 2005, S. 215 ff.; Holtzmann (FN 11), S. 217 f., 252; Iseli (FN 17), S. 72. 26 Zusammenfassend Holtzmann (FN 11), S. 219; Bailey Stone, The Parlement of Paris, 1774 – 1789, Chapel Hill 1981, S. 16; Grégoire Bigot, Introduction historique au droit administratif depuis 1789, Paris 2002, S. 24; näher Hinrichs (FN 21), S. 136 ff.; Philippe Payen, Les arrêts de règlement du Parlement de Paris au XVIIIe siècle. Dimension et doctrine, Paris 1997; Virginie Lemoinier-Lesage, Les arrêts de règlement du Parlement de Rouen, fin XVI – XVIIIe siècle, Paris 1999; zum Polizeiverständnis im Ancien Régime umfassend Iseli (FN 17). Es gab dabei zwei Arten derartiger arrêts de règlement: solche, die aus Anlass eines konkreten Prozesses die dort gefundene rechtliche Lösung für die nachgeordneten Gerichte verbindlich machten, und allgemeine Vorschriften der police générale; vgl. näher André Gouron, Jurisprudence de la Cour de Cassation et arrêts de règlement, in: ders. u. a. (Hrsg.), Europäische und amerikanische Richterbilder, Frankfurt am Main 1996, S. 53 – 82 (61). In Abgrenzung zu dieser Praxis des Ancien Régime verbot der Code Civil dann in seinem bis heute gültigen Artikel 5 jeglichen Erlass allgemeiner Bestimmungen durch die Gerichte: „Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.“ 27 Dazu eindringlich Hinrichs (FN 21), S. 132 ff. Sie wurden von den Parlamenten beispielsweise gegenüber einer Liberalisierung des Getreidemarkts und –handels durch die Pariser Ministerialbürokratie gezielt im Sinne eines patriarchalisch-populistischen Dirigismus eingesetzt; hierzu Hinrichs (FN 21), S. 143 ff.; Iseli (FN 17), S. 352 ff. Zur Deutung derartiger Konflikte näher unten S. 165 ff. 28 Die zeitgenössischen königlichen Gesetze wurden in der Regel als lettre patente, ordonnance, édit oder déclaration bezeichnet. Schon die Vielfalt der Bezeichnungen zeigt das Fehlen einer einheitlichen Vorstellung von gesetzgebender Gewalt im Ancien Régime; dazu etwa Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune 4 (1972), S. 188 – 239 (213 ff.). Zudem ist zu berücksichtigen, dass es daneben noch arrêts des Conseil du Roi gab, die nicht notwendigerweise der Registrierung durch die Parlamente bedurften, und eine Fülle von

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Registrierung (enregistrement) durch die Parlamente.29 Die Registrierung durch das jeweilige Parlament stellte im Ancien Régime Publikation und Aufbewahrung der Gesetze sicher.30 Damit wurde der entsprechende Text authentifiziert und dauerhaft vorgehalten, was letztlich seine Anwendung gewährleistete. Durch sein arrêt d’enregistrement gab das jeweilige Parlament für seinen territorialen Zuständigkeitsbereich und die ihm nachgeordneten Gerichte die Zustimmung zur Ausführung des Gesetzes. Es konnte diese Registrierung mit Vorbehalten und Modifikationen versehen. Vor der Registrierung konnte das Parlament dem König in sogenannten remontrances Einwände und Gegenvorstellungen im Hinblick auf ein ihm vorgelegtes Gesetz vortragen.31 Die Parlamente bewerteten es am Maßstab Vorschriften etwa im Bereich des Militärs ebenfalls ohne Registrierung erging. Dies schuf eine Quelle vielfältiger Spannungen mit den Parlamenten; vgl. näher Michel Antoine, Le Conseil du Roi sous le Règne de Louis XV, Genf 1970, S. 580 ff.; Arnaud Vergne, La notion de Constitution d’aprês les cours et assemblées à la fin de l’Ancien Régime (1750 – 1789), Paris 2006, S. 446 ff.; Alatri (FN 4), S. 119 ff. 29 Umfassend zur Registrierung Herbert Wehrhahn, Die Verkündung und das Inkrafttreten der Gesetze in Frankreich 1789 und danach, in: Theodor Eschenburg u. a. (Hrsg.), Festgabe für Carlo Schmid, Tübingen 1962, S. 213 – 297 (217 ff., 223 ff.); vgl. auch Roger Bickart, Les Parlements et la Notion de Souveraineté Nationale au XVIIIe siècle, Paris 1932, S. 194 ff.; Olivier Chaline, Le Roi, les Parlements et la Nation, in: Jean Garrigues (Hrsg.), Histoire du Parlement de 1789 à nos jours, Paris 2007, S. 4 – 36 (10 ff.). Zur historischen Entstehungsgeschichte der Registrierung – insbesondere zu ihrem ursprünglich auch bestehenden Sinn, von Privaten erwirkte lettres patentes des Königs (sogenannte lettres sur requête) darauf zu prüfen, dass sie Rechte Dritter nicht verletzten – vgl. François Olivier-Martin, Les lois du Roi, Paris 1997, S. 132 ff., 290 ff.; ders. (FN 19), S. 10; Marie-France Renoux-Zagamé, Du Droit de Dieu au Droit de l’Homme, Paris 2003, S. 212 ff. (mit eingehender Darlegung der Übernahme von Techniken der kaiserlichen Reskripten aus dem römischen Recht); Holtzmann (FN 11), S. 218. Völkerrechtliche Verträge mit auswärtigen Mächten wurden für das gesamte Königreich ausschließlich durch das Parlament von Paris registriert (was der einzige rechtliche Vorzug dieses Parlaments gegenüber den provinzialen Parlamenten war): Holtzmann (FN 11), S. 349; zu frühen Beispielen dafür aus der Zeit Franz I. siehe Glasson (FN 3), Bd. 1, Paris 1901, S. 14 ff. 30 François Saint-Bonnet, Le Parlement, juge constitutionnel (XVIe – XVIIIe siècle), Droits 34 (2001), S. 177 – 197 (178 f.); Holtzmann (FN 11), S. 218. Dies war zumal deshalb von großer Bedeutung, weil das Ancien Régime noch keine zentralen Archive – oder gar Gesetzblätter – kannte; vgl. dazu Wehrhahn (FN 29). In der jansenistisch geprägten parlamentarischen Publizistik wurde die feierliche Gesetzesaufbewahrung („dépôt“) durch die Parlamente häufig mit der Aufbewahrung der Evangelien durch die Apostel und ihre Nachfolger verglichen; vgl. dazu Renoux-Zagamé (FN 29), S. 175 f.; Maire (FN 15), S. 384 ff. 31 Bis zur Revolution behielten die Parlamente dabei die traditionelle Formel der „très humbles et très respectueuses remontrances“ bei. Für das 18. Jahrhundert sind die remontrances des Parlaments von Paris in einer umfangreichen Sammlung ediert: Jules Flammermont, Les Remontrances du Parlement de Paris au XVIIIe siècle, Paris, drei Bde., 1888 – 1898; diese wichtige Edition ist auch digitalisiert abrufbar unter: http: // infobu.u-3mrs.fr. Über die Quellengattung der remontrances insgesamt siehe Michel Antoine, Les remontrances des cours supérieures au XVIIIe siècle. Essai de

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der gesamten bereits bestehenden Rechtsordnung einschließlich der ungeschriebenen „lois fondamentales“ und benutzten dabei auch Argumente allgemeiner Nützlichkeit und Gerechtigkeit.32 Die feierlichen remontrances der obersten Gerichtshöfe hatten ein besonderes Gewicht33, zumal sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend veröffentlicht wurden und damit aus dem Bereich traditioneller Arkanpolitik in den der öffentlichen Propaganda hinüberwanderten.34 Der König war jedoch in der Lage, den Widerstand des jeweiligen Parlaments gegen die Registrierung eines neuen Gesetzes zu überwinden. Zunächst konnte er durch eine lettre de jussion die Registrierung ausdrücklich befehlen. Wenn auch das nichts fruchtete, konnte er dessen Widerstand durch ein sogenanntes lit de justice brechen. Dies bedeutete, dass der König durch sein persönliches Erscheinen im Pariser Parlament – oder die Anwesenheit von Beauftragten in den Provinzialparlamenten – in einem besonderen Zeremoniell die Registrierung erproblématique et d’inventaire, Bulletin de la section d’histoire moderne et contemporaine 8 (1971), S. 7 – 81. Das Remonstrationsrecht besaßen neben den Parlamenten auch andere Spezialgerichtshöfe wie die Rechnungs- und Finanzhöfe (Chambres des Comptes, Cour des Aides); vgl. Egret (FN 11), S. 15 f., 96 ff. Diese arbeiteten in der Regel eng mit den Parlamenten zusammen. Unter ihnen war die für das Abgabenwesen zuständige Cour des Aides der bedeutendste. Deren Präsident war über lange Jahre Malesherbes, der für die Cour des Aides bedeutende Remontrances verfasste und später den König in seinem Prozess verteidigte; vgl. Elisabeth Badinter, Les „Remontrances“ de Malesherbes 1771 – 1775 (1978), Paris 2008. 32 Zusammenfassend dazu Vergne (FN 28), S. 438 ff. Vgl. etwa die folgende Beschreibung seiner Aufgabe durch das Parlament von Grenoble, Remontrances vom 10. April 1756, zitiert bei Bickart (FN 29), S. 207 f.: „Votre Parlement, Sire, sans avoir jamais pensé à s’attribuer aucune part dans le pouvoir législatif qui réside en entier dans la personne sacrée du Souverain, est néanmoins, par son institution, son conseil légal en matière de législation. Il est chargé, par devoir et par serment, de juger de l’utilité de la loi pour l’avantage du Monarque et de ses sujets. Il la compare aux lois anciennes et fondamentales; il s’assure qu’elle n’a rien de contraire à ces lois primitives, d’où dépendent la sûreté du Trône, le repos et le bonheur des peuples. Ce jugement de comparaison, dans lequel entrent encore les considerations prises des temps et des circonstances, ne peut être que le fruit d’une délibération parfaitement libre et pleinement réfléchie, parce qu’il doit former, dans l’esprit des peuples, en faveur de la loi, un préjugé certain de justice et d’utilité qui accompagnent toujours la volonté propre du Prince; il doit garantir au Prince même comme au peuple, que cette volonté est exempte de surprises et de préventions; et c’est, Sire, ce jugement que nous appelons vérification de la loi. Quand la loi est vérifiée, ou quand ce jugement dont nous avons parlé est rendu, on la transcript au livre des ordonnances, qui fait partie des registres de la Cour; et c’est ce qu’on appelle proprement enregistrement, à la suite duquel se fait la publication . . .“ 33 Sie unterschieden sich von allgemeinen Hinweisen und Gegenvorstellungen (représentations) oder noch weniger formalisierten lettres, zu denen auch niedrigere Institutionen wie etwa die unteren Gerichte (bailliages, sénéchaussées, présidiaux) berechtigt waren. Zu den entsprechenden Kommunikationsformen zwischen Gerichten und Königtum insgesamt Antoine (FN 31), S. 18 ff.; Alatri (FN 4), S. 123 ff. 34 Dazu Hinrichs (FN 21), S. 143 f.

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zwang.35 Da die Justiz der Parlamente als vom Monarchen abgeleitet galt, sollte deren Gerichtsbarkeit mit dem persönlichen Erscheinen des Königs zurücktreten („apparente rege cessat magistratus“).36 Die Parlamente hielten ein derartiges lit de justice freilich häufig ebenfalls für unzulässig oder jedenfalls für unfähig, eine freiwillige parlamentarische Registrierung zu ersetzen37, behandelten die entsprechenden Gesetze aber doch ganz überwiegend gleichwohl als rechtsverbindlich. Sie reagierten häufig mit anderen Mitteln: etwa der Einstellung der Gerichtstätigkeit – auf die die Monarchie wiederum mit Verhaftungen und Verbannungen von Parlamentsräten antwortete – oder Kollektivrückritten, die vom König bereits aus Gründen der dann nötigen finanziellen Entschädigung in der Regel nicht angenommen werden konnten. Schon Robert Holtzmann hat hierzu angemerkt: „Wer in diesen Kämpfen siegte, das war im letzten Ende immer eine einfache Machtfrage. Ein Zustand, wie er recht charakteristisch für das Ancien Régime war: auf der einen Seite der königliche Absolutismus, der zum mindesten in dem lit de justice ein unanfechtbares Rechtsmittel besaß, jeden Widerstand zu beugen; auf der anderen Seite die Ansprüche der Parlamente, von denen Ludwig XV. (Dezember 1770) sagte, sie würden in ihrer Konsequenz die legislatorische Gewalt des Königs auf ein Vorschlagsrecht beschränken und die man mit zäher Ausdauer und immer neuen Einwendungen und Auswegen auch gegen den ausgesprochenen Willen der Krone zu verteidigen wusste.“38 Die Kämpfe zwischen Krone und Parlamenten im 18. Jahrhundert hatten dabei eine gewisse Vorgeschichte in der Zeit der Fronde, als die Parlamente zeitweilig eine ständisch-adelige Opposition gegenüber der absolutistischen Verwaltung anführten.39 In Reaktion darauf hatte Ludwig XIV. seit 1673 das Remonstrationsrecht der Parlamente seiner praktischen Wirksamkeit 35 Zusammenfassend Wehrhahn (FN 29), S. 227; Holtzmann (FN 11), S. 350. Zur wechselvollen Entwicklung des lit de justice als Rechtsinstituts eingehend Sarah Hanley, The Lit de Justice of the Kings of France. Constitutional Ideology in Legend, Ritual, and Discourse, Princeton 1983; Elizabeth A. Brown/Richard C. Famiglietti, The Lit de justice: Semantics, ceremonial and the Parlement of Paris 1300 – 1600, Sigmaringen 1994. Das Wort lit de justice bezog sich ursprünglich auf den erhöhten, von einem Baldachin überwölbten und mit Kissen ausgeschmückten Bereich im Parlament, wo der König bei dieser Gelegenheit Platz nahm. 36 Vgl. zur Bedeutung dieser Maxime bereits für die lits de justice der frühen Neuzeit Schilling (FN 25), S. 236 ff. 37 Vgl. dazu Bickart (FN 29), S. 231 ff.; Vergne (FN 28), S. 484 ff.; zur theoretischen Absicherung dieser Position durch die Parlamente vgl. sogleich unter II. 38 Holtzmann (FN 11), S. 350 f.; vielfältige Beispiele dazu etwa bei Swann (FN 16). 39 Alanson Lloyd Moote, The Revolt of the Judges. The Parlement of Paris and the Fronde 1643 – 1652, Princeton 1971; Albert N. Hamscher, The Parlement of Paris after the Fronde, 1653 – 1673, Pittsburgh 1976; zu älteren Konflikten schon seit der Zeit Franz I. zusammenfassend Jacques Krynen, À propos des Treze Livres des parlemens de France, in: Poumarède / Thomas (FN 10), S. 691 – 705 (696 f.).

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weitgehend dadurch beraubt, dass die remontrances der Registrierung nicht mehr vorausgehen durften.40 Erst nach dem Tod des Königs im Jahr 1715 gewannen die Parlamente neue politische Bedeutung. Philipp von Orléans brauchte das Parlament von Paris, um entgegen den Einzelbestimmungen im Testament des Sonnenkönigs seine umfassende Regentschaft für den damals fünfjährigen Ludwig XV. erreichen zu können. Im Gegenzug erlaubte der Regent wieder das traditionelle Remonstrationsrecht41, das dann für die Auseinandersetzungen zwischen Parlamenten und Königtum im 18. Jahrhundert zentrale Bedeutung gewann.

II. Das institutionelle Selbstverständnis der Parlamente Das Selbstbewusstsein der Parlamente im 18. Jahrhundert gründete sich auf ein bestimmtes Selbstverständnis, auf eine Deutung ihrer Stellung in der Verfassungsordnung des Ancien Régime, die ihrerseits auf einer bestimmten Interpretation ihrer historischen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte beruhte. Nach diesem „historischen Roman“ (Olivier-Martin) waren die Parlamente nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie oberste Gerichtshöfe, die konkrete Rechtsstreitigkeiten entschieden. Vielmehr war das Parlament von Paris gleichursprünglich mit der französischen Monarchie. Es war in seinen Anfängen identisch mit dem königlichen Rat gewesen, in dem der König die Prinzen, Amtsträger, Prälaten und Feudalherren versammelte, um Gericht zu halten und über die bedeutenden Staatsgeschäfte zu beraten. Das Parlament von Paris war der einzige und wirkliche königliche Rat, eine Art Senat Frankreichs. Die Provinzialparlamente waren für ihren Zuständigkeitsbereich in diese Stellung eingetreten. Aus diesem Verständnis der historischen Anfänge leiteten die Parlamente ab, dass ihre Rolle nicht nur die von Gerichten war, sondern sie auch eine zentrale politische Rolle zu spielen hatten.

40 In seinen lettres patentes vom 24. Februar 1673 hatte Ludwig XIV. den Parlamenten befohlen, alle königlichen Rechtsakte – mit Ausnahme der von Privaten erwirkten lettres sur requête – sofort und ohne jegliche Modifikation oder Restriktion zu registrieren. Zugleich hatte er die bis dahin übliche Möglichkeit einer Wiederholung unerhört gebliebener Remonstrationen (itératives remontrances) untersagt; vgl. dazu Glasson (FN 3), Bd. 1, S. 434 ff.; eingehend zur Situation zwischen 1673 und 1715, die den Parlamenten in der Praxis durchaus Spielräume beließ: Michel Antoine, Les remontrances des cours supérieures sous le règne de Louis XIV (1673 – 1715), in: Bibliothèque de l’École des Chartes 151 (1993), S. 87 – 122. 41 Philippe von Orléans gestattete dem Parlament als Regent durch Deklaration vom 15. September 1715 erneut „de nous représenter ce qu’elle [sc. das als „Compagnie“ bezeichnete Parlament, d. V.] jugera à propos, avant que d’être obligée de procéder à l’enregistrement des édits et déclarations que nous lui adresserons“; vgl. Flammermont, ebd., S. VI; umfassend dazu Hardy (FN 20), S. 30 ff.

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Diese Deutung findet sich bereits zusammengefasst in Bernard de La Roche-Flavins 1617 erschienenen umfangreichen Treze Livres des Parlemens de France.42 Sie wird dann im 18. Jahrhundert noch einmal umfassend in den vielgelesenen Lettres historiques sur les fonctions essentielles du Parlement, sur le droit des pairs et sur les Loix fondamentales du Royaume entfaltet, die der Anwalt am Pariser Parlament Louis Adrien Le Paige im Jahr 1753 anonym veröffentlichte. Le Paige, graue Eminenz und Hausideologe der parlamentarischen Opposition in der Zeit Ludwigs XV.43, unterstreicht dort die Kontinuität des Pariser Parlaments zu den frühesten königlichen Räten44: „Le Parlement et la Monarchie datent du même jour et sont nés dans le même instant.“ Nach Le Paige45 gehört es zur „constitution fondamentale“ des französischen Staates, dass der König zwar die gesamte Gesetzgebungsgewalt auf sich vereinigt, sich dieser aber nicht ungerecht oder willkürlich bedient. Das Parlament, Nachfolger der fränkischen Ratsversammlungen, verwahrt und bewahrt die Gesetze („le dépositaire et le conservateur des lois et des maximes de l’Etat“) und hat die legitime Aufgabe, frei über jedes neue Gesetz zu beraten und es zu promulgieren. Es berät den Monarchen und leistet ihm nötigenfalls in dessen eigenem, höherem Interesse Widerstand. Le Paige greift dabei eine für die zeitgenössische parlamentarische Publizistik bedeutsame, auch von den Königen verwendete Formulierung auf und spricht davon, der Monarch befinde sich in der „glücklichen Ohnmacht“ (heureuse impuissance), gegen die fundamentalen Gesetze des Staates nicht verstoßen zu können.46 Das Parlament hat die Aufgabe „nie etwas zu tun oder zu registrieren, das den Gesetzen des Königreichs, dem wahrhaften Interesse des Monarchen und der Monarchie, dem Schrei seines Ge42 Zu diesem umfangreichsten Werk über die Institution des Parlaments in der Zeit des Ancien Régime näher Krynen (FN 39); vgl. auch schon André Lemaire, Les Lois Fondamentales de la Monarchie Française d’après les Théoriciens de l’Ancien Régime, Paris 1907, S. 164 ff. 43 Über ihn nunmehr eingehend Maire (FN 15), S. 404 ff., 421 ff.; vgl. bereits André Cocatre-Zilgien, Les doctrines politiques des milieux parlementaires dans la seconde moitié du XVIIIe sècle ou: Les avocats dans la bataille politique idéologique prérévolutionnaire, in: Annales de la faculté de droit et des sciences économiques de Lille, 1963, S. 29 – 154 (53 ff.); J. M. J. Rogister, The crisis of 1753 – 4 in France and the debate on the nature of the Monarchy and of the Fundamental Laws, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977, S. 105 – 130 (108 ff.); Carcassonne (FN 19), S. 271 ff. 44 Louis Adrien Le Paige, Lettres historiques sur les fonctions essentielles du Parlement, sur le droit des pairs, et sur les Loix fondamentales du Royaume, zwei Bände, Amsterdam (Paris?) 1753 / 54, Bd. 1, S. 274; vgl. dazu Rogister (FN 43), S. 110; zur entsprechenden Argumentation in den remontrances der Parlamente siehe OlivierMartin (FN 19), S. 49 ff. 45 Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Le Paige (FN 44), Bd. 1, S. 150 ff.; siehe näher dazu Maire (FN 15), S. 428 ff. 46 Vgl. dazu Maire (FN 15), S. 432.

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wissens widerspräche; dem König mutig zu sagen zu wissen: Sire, das ist nicht gerecht, Sie können und dürfen das nicht. Und eher alles zu opfern, ja sogar wenn nötig zu sterben, als dazu in irgendeiner Weise beizutragen.“47

Aus dieser Perspektive deutet Le Paige das parlamentarische Registrierungs- und Remonstrationsrecht und lehnt daher auch die Rechtswirksamkeit einer durch lit de justice erzwungenen Registrierung ab.48 Das entspricht der damals in den Parlamenten verbreiteten Auffassung, nur das parlamentarische Registrierungsverfahren biete aufgrund seines justizförmigen Charakters und der freien richterlichen Beratung überhaupt die Gewähr dafür, dass ein königliches Gesetz wahr und gerecht sein könne; die Registrierung wurde dabei als ein Gerichtsurteil über das vorgelegte Gesetz verstanden.49 Das Parlament besitzt deshalb für Le Paige aber nicht etwa einen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt. Es ist vielmehr allein das prekäre Gewissen der Monarchie, das einen willkürlich oder unwissend handelnden König an die übergeordneten Gesetze des Königtums erinnert.50 Seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts modernisierten die Parlamente in ihren remontrances diese Argumentation überdies erheblich. Sie reicherten die gewohnheitsrechtliche, ungeschriebene und deshalb in vielem ungeklärte Verfassung des französischen Ancien Régime mit neuen 47 „à ne jamais rien faire, ni registrer qui soit contraire aux lois du royaume, à l’intérêt veritable du monarque et de la monarchie, au cri de sa conscience; à savoir dire avec courage: Sire, cela n’est pas juste, vous ne le pouvez, ni le devez. Et à tout sacrifier, mourir même, s’il le faut, plutôt que d’y contribuer en rien“: Le Paige (FN 44), Bd. 1, S. 96 f., Hervorhebung dort. Die im Haupttext angeführten Übersetzungen französischer Zitate ins Deutsche stammen jeweils vom Verfasser. 48 Es gebe ein fundamentales Gesetz, „qui, dans tous les âges de la Monarchie, a requis l’avis et le suffrage du Parlement comme une condition essentielle & qui refuse le caractère de Loi publique, à tout Édit qu’il n’a pas vérifié ni consenti d’enregistrer“: Le Paige (FN 44), Bd. 1, S. 89 f.; siehe auch Louis Adrien Le Paige, Lettre sur les lits de justice. Du 18 août 1756, o. O., S. 3, wo er von einer konstanten Maxime spricht, „que toute loi qui n’est enregistrée que par la voie d’autorité dans un Lit de Justice, n’est point reconnue dans l’Etat pour une Loi, et qu’elle est tenue pour non registrée“; vgl. näher Carcassonne (FN 19), S. 274 f. 49 Eindringlich dazu nunmehr Elina Papadopoulos-Lemaire, Les doctrines parlementaires des Lumières et les institutions libérales. Contribution à une histoire du libéralisme français, thèse, Université de Paris II (Panthéon-Assas), Manuskript, Mai 2007, Teil 1, Kapitel 2, die auch die zugrundeliegende antivoluntaristische Rechtsvorstellung klar herausarbeitet. Einige Parlamente sind in Ausnahmefällen besonders zugespitzter Krisensituationen dabei so weit gegangen, königliche Gesetze, deren Registrierung durch ein lit de justice erzwungen worden war, für nichtig zu erklären: Vergne (FN 28), S. 421 ff. 50 Eine Analyse der jansenistischen Prägung dieser Denkfigur bei Maire (FN 15), S. 434 ff., die insoweit von rein „negativer Resistenz“ spricht; zur Konstruktion der entsprechenden Argumentationen näher auch Jacques Krynen, Qu’est-ce qu’un Parlement qui représente le roi?, in: Bernard Durand u. a. (Hrsg.), Excerptiones juris. Studies in Honor of André Gouron, Berkeley, 2000, S. 353 – 366.

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Gehalten an. In Korrespondenz zu manchen Theoremen der zeitgenössischen Aufklärungsphilosophie entwickelten sie im Rahmen der gewohnheitsrechtlichen Struktur nach und nach ein neuartiges Verständnis von „Verfassung“ – der moderne Verfassungsbegriff bahnte sich seinen Weg gerade in den parlamentarischen Äußerungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts51 – und einer Bindung der königlichen Gesetzgebung daran. So weiteten die Parlamente insbesondere das traditionelle Verständnis der lois fondamentales des Königreichs – zu denen lange Zeit allein die Regeln über den Thronerwerb, die Unveräußerlichkeit des Kronguts und die Unabhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Gewalt gezählt worden waren – schrittweise aus und fassten darunter nun etwa auch die Unabsetzbarkeit der Richter, die Unverletztlichkeit des Privateigentums und die Freiheit der Person gegenüber willkürlicher Verhaftung durch lettres de cachet, nicht zuletzt aber auch das Registrierungs- und Remonstrationsrecht der Parlamente selbst.52 In den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime versuchten die Parlamente zudem, sich selbst als „États Généraux au petit pied“ oder sogar schlicht als Repräsentation der Nation gegenüber dem König zu verstehen.53 Sie gaben damit das Argument preis, nach dem die Parlamente den eigentlichen, dauerhaften Willen des Königs gegenüber seinem zufällig-faktischen verkörperten. Vielmehr verließen sie nun mehr und mehr die traditionelle Logik einer Selbstbindung des absoluten Monarchen, der „heureuse impuissance“ des Königs, zugunsten eines offenen Dualismus von Königtum und Nation.54 Es versteht sich, dass die Monarchie dies nicht akzeptierte. Ludwig XV. hob denn auch 1766 in der „Séance de la Flagellation“ im Parlament von Paris empört seine alleinige Rolle als Gesetzgeber und Repräsentant der gesamten Nation hervor: 51 Dazu nunmehr umfassend Vergne (FN 28); vgl. auch Wolfgang Schmale, Les parlements et le terme de constitution au XVIIIe siècle en France: une introduction, Il Pensiero Politico 20 (1987), S. 415 – 424; allgemein zur Entwicklung von den Fundamentalgesetzen zur modernen Verfassung Heinz Mohnhaupt, Von den „leges fundamentales“ zur modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs- und dogmengeschichtlichen Befund (16. – 18. Jahrhundert), in: Ius Commune 25 (1998), S. 121 – 158. 52 Vgl. dazu Sigmar-Jürgen Samwer, Die französische Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 / 91, Hamburg 1970, S. 324 ff.; Annemarie Mattschaß, Die Entwicklung der politischen Ansichten des Pariser Parlaments in den Jahren 1715 – 1789, Diss. phil., Tübingen 1929, S. 52 ff.; Vergne (FN 28), S. 129 ff., 148 ff.; OlivierMartin (FN 19), S. 64 ff., 139 ff.; Saint-Bonnet (FN 30), S. 190 ff.; Matthew Levinger, La rhétorique protestataire du Parlement de Rouen (1753 – 1763), in: Annales ESC 1990, S. 589 – 613. 53 Dazu Eberhard Schmitt, Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter. Zur Frage nach dem Zusammenbruch des französischen Ancien Régime und der Durchsetzung moderner parlamentarischer Theorie und Praxis im Jahr 1789, in: HZ 213 (1971), S. 529 – 576 (551 ff.); Mattschaß (FN 52), S. 44 ff.; Olivier-Martin (FN 19), S. 42 ff.; Bickart (FN 29). 54 Treffend dazu Saint-Bonnet (FN 30), S. 196 f.

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„Als ob man vergessen dürfte . . . dass meine Gerichtshöfe ihre Existenz und Autorität mir allein verdanken . . . dass mir allein die gesetzgebende Gewalt unabhängig und ungeteilt zusteht. Dass die Amtsträger meiner Gerichtshöfe nur aufgrund meiner Autorität die Gesetze nicht etwa geben, sondern sie registrieren, veröffentlichen und ausführen, und dass es ihnen gestattet ist, mir Vorstellungen zu machen, wie es die Aufgabe guter und treuer Berater ist. Dass die gesamte öffentliche Ordnung von mir ausgeht und dass die Rechte und Interessen der Nation, aus der man es wagt, einen vom Monarchen getrennten Körper zu machen, notwendig mit den meinigen vereint sind und allein in meinen Händen liegen.“55

Die neue Selbstbeschreibung der Parlamente als Vertretung der gesamten Nation gegenüber dem König konnte eine Institution nicht gewählter, unabsetzbarer und adeliger Richter aber ohnehin kaum durchhalten. Diese traten hier lediglich kurzzeitig als „Ersatzrepräsentation“56 in die Lücke, die durch das Fehlen eigentlich repräsentativer Institutionen bestand. Die letzte Selbstdeutung der Parlamente wurde denn auch schnell vom Ruf nach den Generalständen überholt.

III. Die Konflikte zwischen Krone und Parlamenten im 18. Jahrhundert Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hat es zwischen Krone und Parlamenten vielfältige, zunehmend heftigere Konflikte gegeben. Diese betrafen vor allem religiöse und steuerlich-finanzielle Angelegenheiten. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wehrten sich die Parlamente insbesondere gegen aus ihrer Sicht kirchenpolitisch problematische Tendenzen der Monarchie. Hierbei spielte innerhalb der noblesse de robe der Jansenismus eine erhebliche Rolle. Es handelte sich dabei um eine nach dem flämischen Theologen Cornelius Jansen benannte Reformbewegung, die innerhalb des französischen Katholizismus eine an Augustinus angelehnte rigorose Gnadentheologie verfocht und sich damit protestantischen 55 Die in der „Séance de la Flagellation“ am 3. März 1766 in Anwesenheit des Königs verlesene Rede ist abgedruckt bei Flammermont (FN 31), Bd. 2, S. 556 – 560, Zitat S. 557 f.: „Comme s’il était permis d’oublier . . . que c’est de moi seul que mes cours tiennent leur existence et leur autorité . . . que c’est à moi seul qu’appartient le pouvoir législatif sans dépendance et sans partage. Que c’est par ma seule autorité que les officiers de mes cours procèdent non à la formation, mais à l’enregistrement, à la publication et à l’exécution de la loi, et qu’il leur est permis de me remontrer ce qui est du devoir de bons et fidèles conseillers. Que l’ordre public, tout entier, émane de moi et que les droits et les interêts de la Nation, dont on ose faire un corps séparé du monarque, sont nécessairement unis avec les miens et ne reposent qu’en mes mains.“ Zur Position des Königtums gegenüber dem Mitwirkungsanspruch der Parlamente insgesamt Mattschaß (FN 52), S. 36 ff. 56 Formulierung nach Denis Richet, La France moderne. L’Esprit des Institutions, Paris 1973, S. 158: „représentation de substitution“.

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Denkfiguren zumindest annäherte.57 Orientierte sich die Mehrheit der französischen Katholiken in erster Linie am Papst und einer hierarchischen Bischofskirche und standen sie kirchlichen Mitbestimmungsrechten der französischen Krone zurückhaltend gegenüber, so bezogen die Jansenisten ihre Gnadenfrömmigkeit stärker auf den einfachen Pfarrklerus und akzeptierten die Zuständigkeit des Staates für alle weltlichen Angelegenheiten der Kirche. Auf Initiative Ludwigs XIV. hatte der Papst 1713 in der Bulle Unigenitus eine Reihe von dem Jansensismus zugeschriebenen Lehrsätzen verurteilt. Die Parlamente sahen die Bulle sehr kritisch und bekämpften in unterschiedlicher Weise deren Umsetzung in das französische Recht.58 Zu einem großen Konflikt kam es hier, als der Erzbischof von Paris, Christophe de Beaumont, im Jahr 1749 dazu überging, allen Personen die Sterbesakramente und die kirchliche Beerdigung zu verweigern, die nicht nachgewiesen hatten, dass ihr Beichtvater die Bulle Unigenitus akzeptiert hatte (billets de confession).59 Das Parlament hob entsprechende Entscheidungen kirchlicher Gerichte auf und unterband diese Praxis schließlich sogar mit einem arrêt de règlement. Als der König versuchte, dem Parlament dies gesetzlich zu untersagen, verweigerte es die Registrierung und wehrte sich mit umfangreichen remontrances.60 Es folgten die Verhaftung und Exilierung einer großen Zahl von Parlamentsräten und der scheiternde Versuch der Monarchie, eine willfährigere Ersatzgerichtsbarkeit einzurichten. Im Ergebnis nahm das Parlament von Paris 1754 seine Arbeit wieder auf und registrierte eine königliche Erklärung, die in allen Fragen der Bulle Unigenitus Stillschweigen verordnete. Später wurde die Frage unter Einschaltung des Papstes endgültig geschlichtet. Noch richtete sich die Tätigkeit des Pariser Parlaments hier nicht unmittelbar gegen den König, und nominell hat sie das im gesamten 18. Jahrhundert nicht getan. Vielmehr ging es hier in gallikanisch-nationalkirchlicher Tradition darum, das Königtum gegen Einflussnahmen der römischen Kurie abzuschirmen61, was ein Jahrzehnt später sogar zur Ausweisung des Jesuitenordens aus Frankreich führte.62 57 Vgl. dazu umfassend Dale Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution: From Calvin to the Civil Constitution, 1560 – 1791, Yale 1996, hier zitiert nach der französischen Ausgabe: Les Origines Religieuses de la Révolution Française, 1560 – 1791, Paris 2002, S. 123 ff. Catherine Maire spricht in ihrer ausgezeichneten Studie über den Jansenismus im 18. Jahrhundert (FN 15) davon, es habe sich um eine „Reformation innerhalb der Gegenreformation“ gehandelt (S. 11). Maire zeigt auch näher, dass der Jansenismus gleichwohl eine erhebliche Distanz zum Protestantismus aufwies, was das Verständnis des Priestertums und der Eucharistie anging (S. 65 ff.). 58 Zur Bulle Unigenitus und den Anfängen der Auseinandersetzung der Parlamente mit ihr eingehend Van Kley (FN 57), S. 118 ff.; Maire (FN 15), S. 49 ff.; Hardy (FN 20), S. 51 ff., 142 ff.; Olivier-Martin (FN 19), S. 18 ff. 59 Hierzu umfassend Rogister (FN 22), S. 101 ff.; Egret (FN 11), S. 50 ff. 60 Grandes Remontrances vom April 1753, abgedruckt bei Flammermont (FN 31), Bd. 1, S. 521 – 609. 61 Dazu sehr treffend Schmitt (FN 53), S. 549.

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Aber hier zeichneten sich doch die Verhaltensmuster ab, mit denen die Parlamente zunehmend gegen die Monarchie und ihre bürokratische Intendantenverwaltung vorgingen. Nach diesem Muster sind viele der entsprechenden Auseinandersetzungen verlaufen, zumal solche um die Steuergesetzgebung im kostspieligen und ruinösen Siebenjährigen Krieg (1756 – 1763).63 Der Kanzler Maupeou versuchte schließlich im Jahr 1771, den Dauerkonflikt mit den Parlamenten im Sinne eines bürokratischen Absolutismus aufzulösen.64 Ihm gelang es tatsächlich, die herkömmliche Struktur der Parlamente zu zerschlagen. Maupeou trieb die Pariser Parlamentsräte ins Exil, strukturierte das Parlament von Paris grundlegend um, schaffte Ämterkäuflichkeit wie Gebührenpflicht der Rechtsuchenden ab und setzte neues Personal ein; in der Folge reformierte er in ähnlicher Form auch die Provinzparlamente. Diese Reform war aber nur von kurzer Dauer, denn nach dem Tod Ludwigs XV. 1774 stimmte der junge König Ludwig XVI. der Wiedereinsetzung der angestammten Parlamente zu. Ihren vorherigen Einfluss und ihr vorheriges Prestige konnten die Parlamente aber nun nicht mehr zurückgewinnen. Nach 1787 versuchten sie noch einmal, die Steuergesetzgebung der modernisierenden Monarchie abzuwehren65, und beförderten damit das Heraufkommen der französischen Revolution. Die Revolution hat die Parlamente dann alsbald ebenso verschlungen wie wenig später das Königtum selbst.

IV. Zur Deutung der Rolle der Parlamente und ihrer Konflikte mit dem Königtum im späten Ancien Régime In der Deutung des Konflikts zwischen Krone und Parlamenten findet man seit dem 19. Jahrhundert häufig zwei gegensätzliche Interpretationsmuster.66 Zum einen wird gesagt, die Parlamente hätten nur aristokratische Privilegien verteidigt und damit das Scheitern einer aufgeklärt-absolutistischen Reformpolitik bewirkt; so hatte in der Sache bereits der Kanzler 62 Dale Van Kley, The Jansenists and the Expulsion of the Jesuits from France, 1757 – 1765, New Haven u. a. 1975. 63 Dazu näher Egret (FN 11), S. 93 ff., 133 ff.; Swann (FN 16), S. 156 ff. 64 Dazu zusammenfassend Holtzmann (FN 11), S. 353 ff.; vgl. auch Egret (FN 11), S. 182 ff.; Swann (FN 16), S. 314 ff.; William Doyle, The Parlements of France and the Breakdown of the Old Régime 1771 – 1788, in: French Historical Studies 9 (1970), S. 415 – 458. 65 Hierzu Jean Egret, La Pré-Révolution Française 1787 – 1788, Paris 1962; Stone (FN 26), S. 154 ff.; Rolf Reichardt, Die revolutionäre Wirkung der Reform der Provinzialverwaltung in Frankreich 1787 – 1791, in: Hinrichs u. a. (Hrsg.), Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution (FN 21), S. 66 – 125. 66 Guter Überblick über die historiographische Diskussion bei Swann (FN 16), S. 27 ff.

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Maupeou argumentiert. Zum anderen wird der Repräsentationsanspruch der Parlamente im 18. Jahrhundert ernster genommen und ihnen ein Beitrag zu einer liberalen Zähmung der bourbonischen Monarchie zuerkannt. Beide Deutungen treffen einen Teilaspekt, sind aber als Gesamtinterpretation jeweils problematisch. Die erste idealisiert die bourbonische Ministerialbürokratie und verkennt dabei, wie problematisch deren Legitimität im 18. Jahrhundert geworden war. Die zweite nimmt nur unzureichend war, dass die Parlamente die Krise des französischen Absolutismus eher ausdrückten und verstärkten, als dass sie zu deren Lösung etwas beitrugen. Für das Verständnis der Bedeutung der Parlamente im späten Ancien Régime scheinen mir drei Aspekte besonders bedeutsam zu sein: der Beitrag der Parlamente zur Herausbildung und Konsolidierung neuer verfassungsrechtlicher Techniken und Konzepte; die Rolle der Parlamente als Institutionen regionaler Autonomie; schließlich ihre Bedeutung im Strukturwandel des Verwaltens im Ancien Régime.

1. Die Parlamente als frühe Form der Verfassungsgerichtsbarkeit?

Die Beteiligung der Parlamente an der königlichen Rechtsetzung durch das Registrierungs- und Remonstrationsverfahren und die dabei ausgeübte Kontrolle der Gesetze legt die Frage nahe, ob es sich hier um eine frühe Form von Verfassungsgerichtsbarkeit gehandelt hat.67 Dabei lässt sich der Vergleich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht schon deshalb von vornherein abweisen, weil es sich um eine Kontrolle am Maßstab der gewohnheitsrechtlichen Verfassung des Ancien Régime handelte. Ansonsten würde man die Verfassungsgerichtsbarkeit durch eine Vorabdefinition auf die Kontrolle in einer Urkunde schriftlich niedergelegter und „starrer“ Verfassungen beschränken, was schon allein angesichts des erheblichen Maßes richterlicher Rechtsschöpfung nicht sinnvoll ist, das sich auch bei der Auslegung derartiger Verfassungen regelmäßig einstellt. Ebenso wenig genügt es, auf die Pluralität der Parlamente und die Vielfalt unterschiedlicher Rechtsgrundlagen in den einzelnen Provinzen zu verweisen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass hier in einem gerichtsförmigen Verfahren Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit für sie maßgeblichem sonstigem 67 Dazu Saint-Bonnet (FN 30); ders., Un droit constitutionnel avant le droit constitutionnel?, in: Droits 32 (2000), S. 7 – 20; Renoux-Zagamé (FN 29), S. 240 f.; JeanLouis Mestre, L’évocation d’un contrôle de constitutionnalité dans les Maximes de droit public français (1775), in: Etat et Pouvoir. L’idée européenne. Actes du colloque de Toulouse, avril 1991, Aix en Provence, Marseilles 1992, S. 21 – 36; Olivier-Martin (FN 19), S. 26; Cocatre-Zilgien (FN 43), S. 76; vgl. auch die Hinweise auf die Parlamente als Vorläufer der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle bei Karl Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 248; Gerhard Robbers, Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JuS 1990, S. 257 – 263 (259 f.).

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Recht überprüft wurden. In den remontrances der Parlamente vollzog sich ein Prozess der Positivierung von Naturrecht68 und der entsprechenden Konstruktion eines den Gesetzen vorgeordneten Verfassungsrechts. Denn die Parlamente machten hier den folgenreichen Schritt von der im Ancien Régime immer anerkannten sittlich-religiösen Bindung des Königs an die Fundamentalgesetze der Monarchie zur Annahme justiziabler Rechtsgrundsätze, über deren Einhaltung durch die königliche Gesetzgebung sie als Gerichtshöfe zu wachen beanspruchten.69 Dieser Prozess blieb freilich in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Denn das auch von der Monarchie anerkannte Prozedere führte zunächst nur zu einem Aufschub des Inkrafttretens von Gesetzen, der aber letztlich immer durch ein lit de justice überwunden werden konnte. Die weitergehende Position mancher Parlamente und Parlamentstheoretiker, die den unter Zwang registrierten Gesetzen die rechtliche Geltung ganz absprechen wollten, konnte sich in der Praxis gegenüber dem Königtum kaum durchsetzen. Andererseits war die Monarchie auf die Kooperation der Parlamente und der ihnen nachgeordneten Gerichte für die Rechtsdurchsetzung in so großem Umfang angewiesen, dass die erzwungene Registrierung der Ausnahmefall bleiben musste. Die Praxis des späten Ancien Régime hielt das Verfahren von remontrances und enregistrement daher letztlich zwischen suspensivem und absolutem Veto der Parlamente in der Schwebe.70 Mit diesem Verfahren verbunden war zudem eine gewisse Unsicherheit über die rechtlichen Maßstäbe der Prüfung, die nicht allein in der gewohnheitsrechtlichen Natur der Verfassung begründet lag. Gerade weil die Parlamente dem König ihre Position regelmäßig vor der Registrierung vortrugen und sich als justizförmiger Senat der Monarchie verstanden, beriefen sie sich gern auch auf allgemeine Gesichtspunkte der Vernünftigkeit und Angemessenheit, die in ihrem überkommenen mittelalterlichen Argumentationshaushalt ohnehin nie ganz verloren gegangen waren.71 Die 68 So treffend Mauro Cappelletti / Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: JöR N.F. 20 (1971), S. 65 – 109 (79), die aber den entscheidenden Schritt zu dieser Positivierung gleichwohl erst im Konstitutionalismus der Vereinigten Staaten gemacht sehen; vgl. auch Mauro Cappelletti, Il controllo giudiziario di costituzionalità delle leggi nel diritto comparato, Mailand 1968, S. 37 ff. 69 Vgl. dazu schon Holtzmann (FN 11), S. 347 f.; Mattschaß (FN 52), S. 15 f. Die Parlamentsräte begründeten diese Pflicht häufig auch mit ihrem Amtseid; vgl. dazu Vergne (FN 28), S. 415 f. 70 Treffend Wehrhahn (FN 29), S. 228 ff. 71 Dazu Saint-Bonnet (FN 30), S. 193 f. Hinzu kam, dass die Argumentation der remontrances mögliche Hierarchiebeziehungen zwischen den herangezogenen Rechtssätzen nicht immer herausarbeiten musste, weil es ihr zumeist um die umfassende Einordnung des neuen Gesetzes in das gesamte bestehende Recht ging; vgl. dazu Renoux-Zagamé (FN 29), S. 240 f.; Saint-Bonnet, Un droit constitutionnel (FN 67), S. 20; Olivier-Martin (FN 19), S. 29 ff. („l’assimilation des lois ordinaires aux lois fondamentales“).

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strukturelle Situation der remontrances ersparte ihnen ein Nichtigkeitsurteil; sie konnten die Verfassungsmäßigkeitsprüfung vielmehr als Teil eines umfassenden Beratungsdialogs mit dem König im Verfahren der Gesetzgebung verstehen.72 Bei manchen Eigenheiten waren in dieser Prüfung durch die Parlamente Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit bereits verwirklicht. Man kann sicherlich fragen, ob diese Verfassungsgerichtsbarkeit nicht historisch gewissermaßen zu früh kam, weil sie auch dazu dienen konnte, ständische Privilegien gegenüber einer modernisierenden Gesetzgebung in Schutz zu nehmen. Gerade der langsame Einbau von Individualrechten in die alte Lehre von den lois fondamentales führte häufig zu einer „widersprüchlichen Mischung von freiheitlichen Grundsätzen und aristokratischen Ansprüchen“.73 Aber das mindert die in diesem Kontrollmechanismus enthaltene institutionelle Modernität nicht. Es war im Übrigen gerade diese archaische Modernität der justizförmigen Gesetzesüberpüfung im Ancien Régime, die dann im nachrevolutionären Frankreich die Idee einer gerichtlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen auf lange Zeit diskreditiert hat.74 Sie hat jene Furcht vor einem „gouvernement des juges“75 entstehen lassen, die auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit der Fünften Republik noch insoweit nachgewirkt hat, als eine Verfassungskontrolle von Gesetzen zunächst nur vor deren Inkrafttreten möglich war. Erst die Verfassungsreform des Jahres 2008 hat nun zusätzlich ein Verfahren der konkreten Normenkontrolle vorgesehen, in dessen Rahmen zukünftig auch bereits geltende Gesetze vom Verfassungsrat überprüft werden können.76 Die 72 Treffend dazu Vergne (FN 28), S. 419. In einigen Ausnahmefällen haben Parlamente aber nach einer durch lit de justice erzwungenen Registrierung das entsprechende Gesetz für nichtig erklärt: Vergne (FN 28), S. 421 ff. 73 Samwer (FN 52), S. 329; vgl. dazu auch Cocatre-Zilgien (FN 43), S. 75 f. mit FN 36. 74 Dazu Wilhelm Buerstedde, ,Le comité constitutionnel‘ der französischen Verfassung von 1946, in: JöR N.F. 7 (1958), S. 167 – 190 (168 f.); Adolf Kimmel, Der Verfassungsrat in der V. Republik. Zum ungewollten Erstarken der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, in: ZParl 1986, S. 530 – 547 (530); Peter Ernst Goose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, Berlin 1973, S. 23 f. 75 Klassisch Édouard Lambert, Le gouvernement des juges et la lutte contre la législation sociale aux États-Unis, Paris 1921 (Neudruck 2005), in kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des US-amerikanischen Supreme Court der Lochner-Ära. Ausdrückliche Parallelisierung zwischen einer „reaktionären“ Verfassungsmäßigkeitsprüfung durch die Parlamente im späten Ancien Régime und der Rechtsprechung des Supreme Court gegenüber dem beginnenden New Deal bei Cocatre-Zilgien (FN 43), S. 76 mit FN 36. 76 Vgl. den nunmehr geltenden Artikel 61 – 1 Französische Verfassung, nach dem die Gerichte – gefiltert durch den Conseil d’État und die Cour de Cassation – Gesetze nach dem Inkrafttreten eines entsprechenden Ausführungsgesetzes in einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle dem Verfassungsrat vorlegen können; siehe dazu

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französische Eigenheit einer präventiven Normenkontrolle steht durchaus in einer gewissen Kontinuität zum älteren, der Registrierung vorausgehenden droit de remontrance der Parlamente.77 2. Die Parlamente als Institutionen regionaler Autonomie?

In gewisser Hinsicht waren die Parlamente der peripheren Provinzen auch Institutionen regionaler Autonomie.78 Sie waren nur für einen Teil des Territoriums des Königreichs zuständig und gingen entwicklungsgeschichtlich auf die Vereinigung des jeweiligen Gebiets mit der französischen Krone zurück. Deshalb verstanden sie sich häufig als Verteidiger der besonderen Rechte und Privilegien in den einzelnen Provinzen, zumal dann, wenn es dort keine anderen ständischen Vertretungskörperschaften mehr gab. Die Provinzialparlamente griffen in ihrer Argumentation denn auch nicht selten auf die historischen Eingliederungskapitulationen zurück, die sie zunehmend als vertragliche Instrumente ausdeuteten, als zwischen Provinz und König vereinbarte „Verfassungen“ der jeweiligen Region.79 Sie überbrückten so in gewissem Umfang die Spannungen, die durch die wachsende Zentralisierung der Verwaltung auftraten und verteidigten die territoriale Pluralität des Ancien Régime. Freilich waren die Parlamente in ihren Möglichkeiten zu einer regionalen Interessenvertretung durchaus begrenzt80 und gerieten damit zudem in eine mögliche Konfliktlage mit noch bestehenden Provinzialständen.81 Auch hier traten die Parlamente vor allem in die Lücke, die durch das Fehlen wirklich repräsentativer Institutionen bestand. Zudem schwankten sie aus institutionellen wie taktischen Gründen insoweit häufig in ihrer Position. Denn je mehr sich die Auseinandersetzungen zwischen Krone und Parlamenten im Verlauf des 18. Jahrhunderts verstärkFriederike V. Lange, Stärkung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechten in Frankreich, DVBl. 2008, S. 1427 – 1429. Zur bisherigen Beschränkung auf die präventive Normenkontrolle: Axel Spies, Verfassungsrechtliche Normenkontrolle in Frankreich: der Conseil constitutionnel, in: NVwZ 1990, S. 1040 – 1045. 77 Dazu treffend Wehrhahn (FN 29), S. 231 f. 78 Dazu nunmehr eingehend Papadopoulos-Lemaire (FN 49), Zweiter Teil, Kapitel 1: Les „lois particulières“ des provinces et la conception fédérative de l’État; vgl. auch Egret (FN 11), S. 43 ff. 79 Vgl. näher Vergne (FN 28), S. 263 ff. 80 Dazu Hinrichs (FN 21), S. 135 f. 81 Vgl. dazu am Beispiel der Bourgogne Daniel Ligou, La dernière session des États de Bourgogne (1787). Représentation et conflit d’ordres, in: Vierhaus (FN 43), S. 121 – 130 (123 ff.); siehe auch Egret (FN 11), S. 130 f. Oft wirkten Parlamente und Provinzialstände aber auch im Sinne regionaler Anliegen zusammen; vgl. für den Fall der Bretagne Mattschaß (FN 52), S. 46 f.; Alatri (FN 4), S. 170; für die Normandie Hintze (FN 10), S. 137.

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ten, desto stärker entwickelten die Parlamente auch eine – aus Sicht der Monarchie besonders gefährliche82 – Solidarität untereinander. Sie argumentierten, das Parlament sei zwar territorial aus historischen und praktischen Gründen in verschiedene „Klassen“ aufgeteilt worden, die verschiedenen Parlamente bildeten aber weiterhin insgesamt nur einen einzigen Körper.83 Nach dieser Theorie von der „Union der Klassen“ war das Parlament insgesamt letztlich ebenso unteilbar wie das Königtum, von dem es seine richterliche Gewalt ableite, und die ganze Nation. So führte etwa das Parlament von Bordeaux in seinen remontrances vom 21. Mai 1760 aus: „Alles, Sire, beweist gemeinsam die Einheit jedes dieser Teile mit diesem Hauptgerichtshof in Paris, das als Hauptort des universellen Parlaments erscheint. Identität des Namens . . . Identität der Funktionen . . . Identität der Vorrechte . . . Identität der Privilegien . . . Ja, Sire, es gibt in Frankreich nur ein einziges Parlament; und die verschiedenen Gerichtshöfe, die unter diesem Namen auf Ihre Staaten verteilt sind, sind nur integrale Teile dieses einen Körpers.“84

Je nach Bedarf stellten die Parlamente also in spannungsreicher Weise die Wahrung regionaler Partikularität oder die Einheit aller Parlamente mit dem Parlament von Paris in den Vordergrund ihrer Argumentation. Schon allein in der Pluralität der Parlamente und der Notwendigkeit der separaten Registrierung und Publikation eines königlichen Gesetzes in den jeweiligen Parlamentsbezirken lag im Übrigen ein mächtiger Faktor regionaler Besonderheit. Erst der Revolution gelang es, durch die Einführung eines modernen Gesetzblattes die einheitliche Veröffentlichung von Gesetzen für ganz Frankreich durchzusetzen.85 Hiermit wurde nicht allein, ja 82 Ludwig XV. wandte sich denn auch in der bereits erwähnten großen Rede in der „Séance de la Flagellation“ 1766 besonders nachdrücklich gegen diese Solidarisierung der Parlamente untereinander: „Je ne souffrirai pas qu’il se forme dans mon royaume une association qui ferait dégénérer en une confédération de résistance le lien naturel des mêmes devoirs et des obligations communes . . .“ (abgedruckt bei Flammermont [FN 31], Bd. 2, S. 556 – 560 [556 f.]); diese spielte dann auch noch für die Reformen Maupeous eine wesentliche Rolle: Hintze (FN 10), S. 136. 83 Bickart (FN 29), S. 143 ff.; vgl. auch Olivier-Martin (FN 19), S. 44 ff. (dort auch zu Vorläufern unter der Fronde, S. 11, 44, und zum Problem fortbestehender Spannungen zwischen den einzelnen Parlamenten, S. 47 f.). Diese Theorie hatte ältere Vorläufer, denn das Pariser Parlament hatte sich ursprünglich gegen die Einrichtung von Provinzialparlamenten gewehrt, weil es eine Einschränkung seiner einzigartigen Stellung befürchtete. Es hatte deshalb zumindest auf eine offizielle Konzeption hingewirkt, nach der sich die Provinzialparlamente nur als Glieder eines großen Parlaments mit dem Haupt Paris betrachten sollten; vgl. Hintze (FN 10), S. 134. 84 „Tout concourt, Sire, à prouver l’unité de chacune de ces parties avec cette Cour principale séant à Paris, qui est comme le chef-lieu du Parlement universel. Identité de nom . . . Identité de fonctions . . . Identité de prerogatives . . . Identité de privileges . . . Oui, Sire, il n’y a qu’un seul Parlement en France; et les différentes Cours répandues, sous ce nom, dans vos États, ne sont que des parties intégrantes de ce corps unique“, zitiert bei Bickart (FN 29), S. 164 f.

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nicht einmal in erster Linie dem rechtsstaatlichen Aspekt der sicheren Kenntnisnahme des Bürgers von neu erlassenem Recht Rechnung getragen. Vielmehr ging es bei der Schaffung eines zentralen Publikationsorgans für die Gesetze in erster Linie darum, die Zentralgewalt zu stabilisieren und jene mächtigen partikularen Widerstände zu überwinden86, die im Ancien Régime gerade auch in der dezentralen Registrierung durch die verschiedenen Parlamente ihren Ausdruck gefunden hatten.

3. Die Bedeutung der Parlamente im Strukturwandel des Verwaltens im Ancien Régime

Insgesamt lassen sich die Kämpfe zwischen Krone und Parlamenten im Ancien Régime auch und gerade als eine Konkurrenz zwischen zwei Arten des Verwaltens begreifen: der neuartigen Bürokratie der Intendanten und einer älteren, patrimonialen Form von Verwaltung, wie sie gerade in den Parlamenten in gewissem Umfang fortlebte. Hier ging es nicht in erster Linie um soziale Konflikte – etwa solche zwischen „Aristokratie“ und „Bürgertum“ –, denn dafür waren die Eliten in Parlamenten und königlicher Ministerialverwaltung sozial viel zu homogen.87 Vielmehr handelte es sich um die Konkurrenz unterschiedlicher Funktionseliten im Wandel der Herrschaftsformen des Ancien Régime. Die Parlamente standen hier für die ältere Traditionsschicht eines justizförmigen Verwaltens, die sie insbesondere im Bereich ihrer Befugnisse im Bereich der Polizei im alten Sinne, aber auch durch ihr Remonstrationsrecht gegenüber den Gesetzen weiterhin zur Geltung brachten; sie waren zwar der Intendantenverwaltung im Alltag strukturell kaum noch gewachsen, aber ihr entsprechendes Einwirkungspotential war doch weiterhin nicht zu unterschätzen.88 Man muss sich dabei vor Rückprojektionen der Vorstellung von einem bürokratischen Anstaltsstaat im Sinne der Begriffsbildungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts hüten und sehen, wie viel Potential aus der Tradition patrimonialen Verwaltens die Parlamente durchaus auch im 18. Jahrhundert noch für sich nutzen konnten. Das Legitimitätsdefizit der bourbonischen Bürokratie wurde damals zunehmend empfunden, und in diese Lücke stießen die Parlamente – gelegentlich durchaus demagogisch – hinein, ohne sie doch mangels Reprä85

Dazu eingehend Wehrhahn (FN 29). Sehr treffend dazu Martin Drath, Der Verfassungsrang der Bestimmungen über die Gesetzblätter, in: Otto Bachof u. a. (Hrsg.), Forschungen und Berichte aus dem Öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955, S. 237 – 257 (252 ff.), mit aufschlussreicher Parallelisierung zur deutschen Situation der Notwendigkeit der Durchsetzung von Bundes- bzw. Reichsrecht gegenüber den Einzelstaaten durch ein einheitliches Publikationsorgan am Beginn des Bismarckreichs (S. 244 ff.). 87 Vgl. dazu schon oben bei FN 21. 88 Hierzu insgesamt Hinrichs (FN 21). 86

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sentativität wirklich auf Dauer ausfüllen zu können. Eine Bevölkerung ohne Mandatare und eine Repräsentation ohne Mandat verbündeten sich dabei provisorisch miteinander.89 Letztlich antworteten die Parlamente dabei auf die durchaus moderne Frage, wie – politische und individuelle – Freiheit und zentralistische Verwaltung miteinander zu vereinbaren sind. Das ist ein Problem, das auch das nachrevolutionäre Frankreich noch beschäftigt hat und bis heute beschäftigt. Die Parlamente hatten es mit Formen und Formeln aus der alten Privilegienwelt umkreist. Aber es blieb Frankreich auch nach dem Abschied vom Ancien Régime erhalten, ja trat nach dem rechtlichen Ende aller ständischen und regionalen Gegengewichte überhaupt erst in voller Schärfe hervor. Eine spezifische Dialektik von zentralistischer Herrschaft und revoltierendem Freiheitssinn sollte auch und gerade das republikanische Frankreich prägen.90 Hatte sich das ältere, justizförmige Verwalten im Stil der Parlamente am Ende des 18. Jahrhunderts auch überlebt, so hatte es doch eine Form dargestellt, in der herrschaftliche Autorität von rechtlicher Bindung durchdrungen blieb. Das nachrevolutionäre Verwaltungsrecht musste diese rechtliche Bindung erst neu gewinnen. Wenn es auch die (ordentliche) Justiz radikal aus der Einmischung in die Verwaltung verbannte, so übertrug es doch im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugleich zunehmend Ideen, die die alte Justiz der Parlamente hervorgebracht hatte, in die Verwaltung selbst hinein. In dieser Übertragung hat Otto Mayer denn auch im Rückblick 1895 durchaus einen posthumen Sieg der Parlamente sehen können: „So können wir sagen, dass aus dem jahrhundertelangen Kampfe der französischen Parlamente mit der königlichen Verwaltung, der auch sonst manche bedeutsame Spuren im französischen Rechte zurückgelassen hat, schließlich doch die Parlamente als Sieger hervorgegangen sind. Es ist nicht gelungen, die Verwaltung der Macht der Justiz äußerlich zu unterwerfen. Aber sie hat sich zu den Ideen bekennen müssen, deren Trägerin die Justiz war. Die Rechtsordnung, in welcher diese sich darstellte, beruhte auf einem ganz bestimmten System von rechtlicher Gebundenheit: das Gesetz über alles, das Urteil gebunden an das Gesetz, die Tat der Vollstreckung gebunden an das Urteil. In der Übertragung dieser Gebundenheiten auf die Verwaltung liegt die Grundidee des neuen französischen Verwaltungsrechts.“91

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Formulierung nach Edgar Faure, zitiert bei Richet (FN 55), S. 158. Zur Frage entsprechender Kontinuitätslinien zum Ancien Régime und den Parlamenten anregend Cocatre-Zilgien (FN 43), S. 64 f., mit Vergleich zu Alains republikanischer Konzeption eines „citoyen contre les pouvoirs“. Zu dieser Dialektik für den Parlamentarismus der Dritten Republik näher Christoph Schönberger, Die Krise der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit: Französische Dritte Republik und Weimarer Republik im Vergleich, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratie in der Krise: Europa in der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2008, S. 263 – 280 (267 ff.). 90

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Die Revolutionäre von 1789 glaubten hingegen, diese Frage sei mit dem Ende des Ancien Régime gelöst. Mitglieder der Nationalversammlung wie Bergasse und Thouret hoben zwar durchaus die Verdienste der Gerichtshöfe im Kampf gegen den monarchischen „Despotismus“ hervor; sie meinten aber, deren Aufgabe habe sich in der nachrevolutionären politischen Ordnung erledigt und diese könnten nun der neuen Freiheit nur noch gefährlich werden.92 Indirekt bestätigten sie damit noch einmal, eine wie bedeutsame Rolle die Parlamente als Gegengewicht zur bourbonischen Bürokratie gespielt hatten. Alexis de Tocqueville, der melancholisch-scharfsinnige Analytiker des Ancien Régime, den seine Familientradition eng mit dem parlamentarischen Amtsadel verband93, hat diesen Sachverhalt lapidar auf den Punkt gebracht. Die Einmischung der Parlamente in Verwaltung und Gesetzgebung des Ancien Régime, so schrieb er, sei ein großes Übel gewesen, ein Übel allerdings, das ein noch größeres eingehegt habe94: „Cétait un grand mal qui en limitait un plus grand.“

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Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 60. Bergasse, Rapport sur l’organisation du pouvoir judiciaire vom 17. August 1789, Archives Parlementaires, Bd. 8, S. 440 – 450, hier zitiert nach Furet / Halévy (FN 6), S. 103 – 133 (131): „Notre magistrature était fortement instituée pour résister au despotisme, mais maintenant qu’il n’y a plus de despotisme, si notre magistrature conservait toute la force de son institution, l’emploi de cette force pourrait facilement devenir dangereuse (sic!) à la liberté“; vgl. auch ebd., S. 108: „Car, s’il est convenable pour un peuple qui ne jouit d’aucune liberté politique, qu’il existe des compagnies puissantes de magistrats, capables de tempérer par leur résistance l’action toujours désastreuse du despotisme, cet ordre des choses, au contraire, est funeste pour tout peuple qui possède une véritable liberté politique . . .“; Thouret, Rede vom 24. März 1790, Archives Parlementaire, Bd. 12, S. 344 – 348, hier zitiert nach Furet / Halévy (FN 6), S. 1123 – 1135 (1124): „N’examinons pas . . . s’il fut sage de ne donner aux droits de la nation d’autre sauvegarde contre l’autorité arbitraire du gouvernement que l’autorité aristocratique des corporations judiciaires . . .“ 93 Hierzu eindringlich jetzt Lucien Jaume, Tocqueville, les sources aristocratiques de la liberté, Paris 2008, S. 397 ff.; siehe auch Hugh Brogan, Alexis de Tocqueville. A Life, New Haven 2006, S. 9 ff., 569 ff. Tocqueville war ein Urenkel von Malesherbes, der als Präsident der Cour des Aides eine der großen Figuren des parlamentarischen Kampfes gegen den „Despotismus“ des Königtums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewesen war, den König in seinem Prozess verteidigt hatte und später hingerichtet wurde; zu Malesherbes bereits oben FN 31 am Ende. 94 Alexis de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution (1856), Paris 1988, Livre II, Chapitre XI, S. 207: „L’intervention irrégulière des cours dans le gouvernement, qui troublait souvent la bonne administration des affaires, servait ainsi parfois de sauvegarde à la liberté des hommes: c’était un grand mal qui en limitait un plus grand.“ Das entsprechende Kapitel trägt die bezeichnende Überschrift: „De l’espèce de liberté qui se rencontrait sous l’Ancien Régime et de son influence sous la révolution.“ 92

Aussprache Gesprächsleitung: Heun

Kampmann: Vielen Dank für den Vortrag, ich habe zwei kurze Fragen. Zunächst: Sie haben sehr stark betont die Entwicklung des 18. Jahrhunderts, die zunehmende Opposition der Parlamente gegen die zentralistische Monarchie. Ich habe den Eindruck, dass dies bereits im 17. Jahrhundert in voller Form vorhanden ist, wenn man sich den Verlauf der Fronde anschaut. Die Errichtung einer zentralen Monarchie und die ablehnende Reaktion des Parlaments sind schon vor der Herrschaft Ludwigs XIV. vorhanden. Greifen da die Parlamente nicht etwas auf, was bereits vorhanden gewesen ist? Und dann ein weiterer Punkt: Die neuere französische Historiographie, aber auch deutsche Beiträge – Mager – haben sehr schön gezeigt, wie in den Verfahren vor den Parlamenten der Begriff der „Nation“ an Bedeutung gewinnt, und zwar über den Begriff der „nation chrétienne“. Das heißt, die christliche Nation in den Kämpfen um den Jansenismus wird dann zur Basis des nationalen Denkens. Das heißt in der Gerichtspraxis gewinnt der Nationalstaatsgedanke, der später solche Bedeutung hat, früh erhebliche Dynamik. Heun: Vielen Dank. Als nächsten haben wir jetzt Herrn Asche. Asche: Nur eine kurze Frage aus reiner Unkenntnis. Könnten Sie bitte einmal eine Abgrenzung vornehmen, damit mir die Situation noch mal deutlich wird: Warum ist das Pariser Parlament das entscheidende, und in welcher Hinsicht steht das Pariser Parlament möglicherweise auch über den Provinzialparlamenten? Heun: Gleich anschließend Herr Grothe. Grothe: Ich hätte auch die Bitte um Ergänzungen, und zwar einmal die Frage: Wie funktionierte genau die Ernennung der Parlamentsmitglieder zu dem Zeitpunkt, als die Ämter noch nicht erblich waren – und welche Qualifikationen mußte man vorweisen? Zweite Frage: Wie war das Verhältnis der Parlamente zu den sonstigen Provinzialverwaltungen und zu den Ständevertretungen? Heun: Vielen Dank, Herr Grothe. Nun Herr Schönberger. Schönberger: Ich beginne mit der Frage von Herrn Kampmann. Also, selbstverständlich, eine bestimmte Kontinuität zum 17. Jahrhundert und

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den Auseinandersetzungen in der Fronde ist da. Auch viele der juristischen Argumentationsfiguren, die die Parlamente haben, sind ja Traditionsfiguren, wie auch etwa das ganze Zeremoniell des lit de justice viel älter ist. Natürlich haben die Parlamente sich nach der Niederlage der Fronde zunächst einmal zurückgehalten. Ludwig XIV. ist es auch weitgehend gelungen, für eine gewisse Zeit von einigen Jahrzehnten dieses Problem erst einmal klein zu halten. Und man kann sagen, dass es subkutan durchaus weiterhin vorhanden war und dann im 18. Jahrhundert wieder zu voller Entfaltung kam. Zur „nation chrétienne“ gebe ich Ihnen völlig recht. Es gibt jetzt interessante neuere Forschungen zu der Frage eines politischen Jansenismus, also zu dem Übergang ursprünglich theologischer Figuren in den politischen Argumentationshaushalt. Da sind die Parlamente sicherlich ganz entscheidend. Bei einem der führenden Parlamentsideologen, Le Paige, der ein Anwalt im Parlament von Paris gewesen ist, ist es sehr deutlich, dass das jansenistische Erbe ursprünglich theologischer Art zunehmend transformiert wird in den politischen Prozess. Der Nationbegriff ist hier allerdings doch recht ambivalent. Gerade wenn man sich einen Autor wie Le Paige ansieht, ist der Appell doch letztlich immer noch der an den vernünftigen Monarchen. Das Parlament versteht sich als Parlament des Königs – es schreibt immer: „Votre parlement“ – und es macht dem König klar, dass er eigentlich das nicht wollen kann, was er jetzt hier konkret befielt. Und hier wird der Begriff der Nation hineingeleuchtet, also der vernünftige König wird sich im Interesse der gesamten Nation an die lois fondamentales und an die Rechtstradition halten und kann doch jetzt nicht dies oder jenes wollen. Auch die Parlamentstheoretiker kommen von der Monarchie eigentlich nicht wirklich los. Man kann zum Teil vielleicht fragen, ob es nicht sogar ihr Problem ist, dass sie eigentlich kein Alternativkonzept entwickeln, sondern eigentlich immer nur die bessere Monarchie vor Augen haben – ein wenig so wie der jansenistische Gott, an den appelliert werden kann, dann doch unsichtbar bleibt. Nun zum Verhältnis von Pariser Parlament und den anderen Parlamenten: Ein hierarchisches Verhältnis zwischen dem Pariser Parlament und den anderen Parlamenten bestand nicht. Sie waren im Prinzip gleichgeordnet. Es gab keine Rechtsmittel von Provinzparlamenten an das Pariser Parlament. Dennoch ist das Pariser Parlament insofern von besonderer Wichtigkeit gewesen, als es eben durch die Bedeutung von Paris mit seiner Ausstrahlung auf ganz Frankreich in der Regel eine Art Motorfunktion entwickelt hat und dass häufig die remontrances, wenn sie vom Parlament von Paris kamen, dann auch in der Provinz leichter aufgegriffen wurden. Und dann gibt es natürlich auch Fragen der „préséance“. Nur im Parlament von Paris sitzen zum Beispiel einige Mitglieder des Herrscherhauses, princes du sang haben eine rechtliche Mitgliedschaft im Parlament von Paris. Das ist in den Provinzparlamenten nicht der Fall.

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Zu Ständen und Ernennung der Parlamente: Für das 18. Jahrhundert – muss man sagen – stellt sich die Frage nicht mehr, weil durch die Einführung der Erblichkeit und der Verkäuflichkeit im Grunde ein Nachrücken nur durch Familientradition oder eben Verkauf und Erwerb möglich ist. Auch da hat das Parlament allerdings versucht, durch bestimmte Mindestqualifikationsanforderungen noch ein bisschen Einfluss zu nehmen, teilweise sogar die Monarchie noch. In der Zeit davor, in der Tat, hat es ursprünglich monarchische Ernennungen gegeben, ist der Einfluss also am Anfang größer gewesen. Der Einfluss geht zurück, und im 18. Jahrhundert ist ein Teil des Konfliktpotentials auch deswegen so groß, weil der König auf die Parlamente in personeller Hinsicht eben nicht mehr einwirken kann. Und das führt dazu, dass er eigentlich nach Möglichkeit versucht, seine Verwaltung diesen unberechenbaren Gerichtshöfen zu entziehen. Gerade die Käuflichkeit und die Erblichkeit der Ämter führt also zu dieser besonders starken Stellung der Parlamente. Zur Konkurrenz mit den Ständevertretungen: Dort, wo es solche noch gegeben hat, hat es eine derartige Konkurrenz gegeben. Das ist insbesondere zu beobachten am Ende des Ancien Régime, als manche Provinzialvertretungen zum Teil wieder zum Leben erweckt werden. Die Parlamente machen nun plötzlich ganz eifersüchtig diesen Ständevertretungen klar, dass sie doch eigentlich die Vertretung sind. Aber man merkt es sofort: Sobald die Parlamente mit dieser Art von Vertretungskörpern in Konkurrenz kommen – was sie ja lange Zeit nur wenig oder gar nicht mussten – unterliegen sie sofort, weil ihre Legitimationsgrundlage natürlich viel schwächer war. Und all die Theorien, die sie entwickelt hatten, um ihre Rechtsstellung zu begründen, verschwinden dann gewissermaßen in der Konfrontation einerseits mit den Provinzialständen, erst recht aber dann mit den Generalständen. Heun: Vielen Dank. Ich habe inzwischen eine lange Liste von Wortmeldungen. Ich darf diese Liste vortragen und fragen, ob ich jemanden übersehen habe: Herr Härter, Herr Dilcher, Herr Steiger, Herr Battenberg, Frau Manca, Herr Mohnhaupt, Frau Barmeyer, Herr Simon. Habe ich jemanden übersehen? – Herr Härter, bitte. Härter: Vielen Dank für diesen ausgezeichneten Überblick, den Sie stark zugespitzt haben auf den Konflikt zwischen Parlament und Königtum. Ich wollte – auch im Hinblick auf unser Tagungsthema – nochmals nach dem Verhältnis der Parlamente zu den Städten beziehungsweise zu den regionalen Verwaltungen fragen. Sie hatten ja erwähnt: Auch diese erließen Reglements, also Ordnungsgesetze, die eigentlich Grundlage der regionalen und kommunalen Verwaltungen sein könnten. Nun gibt es eine neuere Arbeit von Andrea Isely, Schülerin von Peter Blickle, und sie argumentiert: Weder das, was die Parlamente erlassen haben, noch das, was der König wollte, war Grundlage der Praxis städtischer Verwaltung. Vielmehr haben

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die Städte diese als Selbstverwaltung begriffen, die auf ihren eigenen normativen Grundlagen, Statutarrecht, eigene Ordnungsgesetze, Policeygesetze usw. basierte. Und dahingehend wollte ich fragen: Welche Bedeutung hatten diese Reglements tatsächlich für die konkrete Verwaltungspraxis? Gab es auch Konflikte zwischen den städtischen oder regionalen Verwaltungen und den Parlamenten? Also für Paris kann ich mir zum Beispiel kaum vorstellen – aber ich weiß es nicht genau –, dass die Reglements des Parlement de Paris wirklich eine zentrale Rolle für die Verwaltungspraxis der Stadt gespielt haben. Heun: Herr Dilcher. Dilcher: Herr Schönberger, vielen Dank für den schönen Vortrag. Sie haben am Anfang schon angeleuchtet, dass wir in einen anderen Bereich unserer Gesamtthematik eintreten, und da wollte ich nochmal darauf hindeuten und das unterstreichen. Das ist ja auch eventuell für unsere Schlussdiskussion wichtig, wenn wir versuchen wollen, noch einmal das Thema als Ganzes zu umgreifen und zu fragen: Was für ein Thema hatten wir eigentlich? Ich möchte mal anfangen: Was ist Substrat dessen, was wir Selbstverwaltung oder Autonomie oder noch suchend anders nennen? Bei den bisherigen Themen waren – es glaube ich – immer Personengruppen in einer umfassenderen Gesellschaft. Verbände, die Autonomie oder was auch immer beanspruchen. Und mir scheint in den letzten Diskussionen vielleicht ein bisschen verloren gegangen zu sein die starke Verbindung, die diese Konzeption im Mittelalter hat, in der Auffassung, die gerade am Ende der Antike, mit dem Beginn des Frühmittelalters kommt: Dass Personengruppen, Kollektivitäten nach dem Personalitätsprinzip zu beurteilen sind, das heißt, dass ihre Identität sich nach religio, lex, lingua, mores richtet – und das passt ja eigentlich auf all die Gruppen, die wir im ersten Teil behandelt haben. Darauf beruht ja die ganze Rechtsordnung bis ins Hoch- und Spätmittelalter, und ich möchte auch sagen, dass ein Bereich, den wir hier nicht betrachten – nämlich die Siedlung von deutschen Bauern, Kaufleuten und Bürgern im östlichen Mitteleuropa – bis in die Zeit der beginnenden Nationenwerdung und Schärfung des Nationalbewusstseins nach diesen Regeln relativ friedlich funktioniert hat. Das Privileg war das Mittel des mittelalterlichen Herrschens, und das Gesetz – oder die generelle Norm – hat ja einen ganz anderen Adressaten, nämlich den Untertanen. Mir scheint der Konflikt mit dem modernen Staat auf diese Weise noch grundsätzlicher, als er hier schon in vielen Facetten dargelegt worden ist. Meine Frage an den Referenten: Was ist hier in dieser Thematik wohl das Substrat der Autonomie oder Gegengewalt zur Zentrale? Ich meine, es sei die Region, das Land, eine Rechtstradtion einer größeren Einheit, die man aber nicht als eine personale Gruppe wie bisher beschreiben kann. Frage: Sehen Sie auch diesen Unterschied?

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Heun: Vielen Dank. Als nächster Herr Steiger, dann Herr Battenberg. Steiger: Vielen Dank. Ich habe eigentlich zunächst einmal eine Ergänzung: Die Registrierungen waren auch erforderlich für die außenpolitischen oder internationalen Verträge. Auch da wurde unter Umständen remonstriert. Der Friede von Crépy 1544 scheiterte letzten Endes daran, dass a) der Dauphin, also der spätere Heinrich II., ihn nicht akzeptiert hatte, und b) er auch im Parlement de Paris nicht registriert wurde – ich weiß es nicht, ob er dann schließlich nicht doch noch registriert wurde, das erinnere ich im Augenblick nicht. Das heißt also, auch hier war ein eigentümlich früher Zusammenhang mit dem innerem Verfassungsrecht gegeben; denn die Berufung erfolgte auf die loi fondamentale: Der König kann nicht über Gebiet verfügen, er darf kein Gebiet abtreten. Es ging ja unter anderem um die Grafschaft Artois und andere Teile der burgundischen Herrschaft. Das Zweite: Wie war das eigentlich am Ende der französischen Monarchie 1788 / 89? Wenn ich mich recht erinnere – aber vielleicht trügt diese Erinnerung – war es doch so, dass der König versuchte, über eine Notablenversammlung seine Steuerprobleme zu lösen, dass dieses ihm vom Pariser Parlament untersagt wurde und an dessen Stelle von dorther schon die Forderung nach den Generalständen kam, weil eben Steuern – siehe Bodin – nicht ohne Generalstände gewährt werden konnten. Bodin hatte das ausdrücklich zu den lois fondamentales gerechnet und war ja dann in den Generalständen von Blois 1576 beteiligt. Also, insofern ist diese Position von Mirabeau – Comte de Mirabeau, Zugehöriger zum Adel – vielleicht auch etwas zu relativieren. Tatsächlich aber auch normativ war gerade die Berufung auf die Verfassung der Auslöser – wenn ich das recht erinnere – für den weiteren Gang der Dinge. Natürlich haben die nicht daran gedacht, dass die Stände sich dann zur Nationalversammlung konstituieren würden, beziehungsweise der Dritte Stand, das ist klar. Heun: Vielen Dank. – Herr Battenberg. Battenberg: Sie hatten an einer Stelle darauf Wert gelegt, die Funktion der Parlamente mit einer stärkeren Betonung des älteren Elements der Verbindung zwischen Administration und Justiz zu identifizieren im Gegensatz zu den eher modernisierenden Tendenzen im Königtum. Nun meine Frage: Es ist natürlich immer etwas schwer und methodisch auch zweifelhaft, Landschaften wie Frankreich mit solchen wie dem Heiligen Römischen Reich zu vergleichen, da die Administration natürlich gänzlich andere Grundlagen hatte. Dennoch sind immer wieder Vergleiche hergestellt worden zwischen dem Parlement de Paris und etwa dem Reichskammergericht oder dem Großen Rat von Mecheln. Ich würde einmal einen ganz anderen Vergleich wagen: Es gibt ein altertümliches Instrument in den Landesherrschaften, nämlich die Regierungen beziehungsweise die Kanzleien. Mir scheinen da ziemlich große Ähnlichkeiten zu den französischen Parlamen-

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ten, jedenfalls zu den Provinzparlamenten, zu bestehen. Wenn ich mir jetzt als ein Beispiel – es kann sicher auch für sehr viele andere Beispiele stehen – die Regierung in Gießen anschaue, deren Akten sich erhalten haben: Man denkt bei einer Regierung zunächst mal an eine administrative Körperschaft. Das war sie sicherlich auch, aber die erhaltenen Aktenbestände bestehen vor allem aus Prozessakten, und zwar in sehr hohem Umfang. Ich schätze einmal, dass die judikative Tätigkeit mindestens zwei Drittel der Tätigkeit ausmachte – das sah bei anderen Kanzleien oder Regierungskanzleien sicher nicht anders aus. Es gab daneben natürlich für den jeweiligen Landesherren die Möglichkeit, dem andere administrative Einrichtungen entgegen zu setzen: Es entstanden die Ober-Appellationsgerichte als modernere Körperschaften, die im Grunde genommen ganz in Konkurrenz zu den Regierungen standen. Auch da gibt es also eine Entwicklung, die fortführt von dem, was der Landesherr eigentlich wollte. Es gab Regierungen, die eben das alte Prinzip weiterhin beibehielten, eine enge Verbindung zwischen Justiz und Verwaltung pflegten und entsprechend auch agierten. Heun: Vielen Dank, Herr Battenberg. Ich würde vorschlagen, dass wir noch Frau Manca hören, dann hat Herr Schönberger eine weitere Gelegenheit zu einem Zwischenwort geben, bevor wir in die letzte Runde einsteigen. Frau Manca. Manca: Herr Schönberger, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie gerade ausgeführt, dass die französischen Parlamente im Ancien Régime einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, die sogenannten ,Grundgesetze‘ (lois fondamentales) auf französischem Boden auszuarbeiten, zu definieren. Diesbezüglich würde ich gerne zwei Fragen stellen, die eigentlich in die Richtung einer partiellen Beschränkung der Tragweite des genannten Beitrags gehen. Zuerst möchte ich fragen, in welchem Sinne Sie das gemeint haben, und präziser noch: welchen konkreten Beitrag die damaligen Parlamente dazu geliefert haben, dass die Grundgesetze einen Inhalt beziehungsweise einen präziseren Inhalt bekamen. Weit bekannt ist nämlich der Umstand, dass das Pariser Parlament am 3. Mai 1788 die Grundgesetze des französischen Königreichs ,diktierte‘. Nicht außer Acht kann aber diesbezüglich bleiben, dass es dies nicht ganz uneigennützigerweise tat, indem zu den Grundgesetzen unter anderem die Unabsetzbarkeit der Richter, also selbst der Parlamentsmitglieder, sowie auch das Recht der Parlamente, die königlichen Anordnungen nur insoweit durch ihre Gegenzeichnung in Kraft treten zu lassen, als sie den Grundgesetzen des Landes beziehungsweise der Provinzen nicht widersprachen, gerechnet wurden. Bis dahin also, das heißt bis zum unmittelbaren Vorfeld der Revolution, blieb der Begriffsinhalt der „Grundgesetze“ des Landes noch ganz unbestimmt, wie es unter anderem auch aus dem Umstand hervorgeht, dass auch innerhalb der Société

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des Trente (1788 – 1789) lange darüber diskutiert werden konnte, welche Grundgesetze vor allem als solche zu betrachten seien sowie welche dieser Gesetze sich noch in Kraft befänden und welche nicht. In einem gewissen Zusammenhang mit dieser ersten Frage steht meine zweite Frage, welche zugespitzt dahin geht, ob Sie die Tendenz der Rechtssprechung der französischen Parlamente alles in allem als modernisierend oder aber als eher konservativ – den status quo bestätigend – beurteilen würden. Heun: Vielen Dank. – Herr Schönberger. Schönberger: Ich fange mal mit den arrêts de règlement an, also mit der Frage von Herrn Härter. Das ist natürlich eine interessante Frage und auch nicht gut erforscht. Es gibt neuere französische Arbeiten, die sich mit den arrêts de règlement intensiv beschäftigt haben. Diese Forschung kommt eher zu dem Schluss, dass im Lauf des 18. Jahrhunderts die Bedeutung der arrêts de règlement eher abgenommen habe, und dass sie insgesamt überhaupt ein nicht ganz regelmäßiges Instrumentarium waren, sondern dass sie häufiger in gewissen Krisensituationen – Brotpreis oder ähnliches – eingesetzt wurden. Man kann also nicht sagen, die Parlamente hätten damit den regelmäßigen Gang der Verwaltung gesteuert. Schon Tocqueville hatte eine ähnliche Einschätzung. Er war der Auffassung, gerade weil die Parlamente zunehmend ihrer ursprünglichen Verwaltungsfunktionen sozusagen beraubt wurden, hätten sie sich umso intensiver in die Politik eingemischt. In „L’Ancien Régime et la Révolution“ findet sich der schöne Satz, sie seien „toujour moins administreteurs, toujour plus tribuns“ gewesen. Je weniger sie verwaltend tätig waren, desto tribunizischer sind sie aufgetreten und haben sich in den politischen Prozess eingemischt. Zu Herrn Dilcher und dem Selbstverwaltungsbegriff: Die Berührungspunkte sind am ehesten bei den Parlamenten der Provinzen zu erkennen. Ob man das Parlament von Paris sinnvollerweise damit fassen kann, scheint mir zweifelhaft. Die Parlamente der im Lauf der Zeit zu Frankreich gekommenen Territorien, die sich ja häufig gerade auf diese Anschlussverträge, Kapitulationen und so fort beriefen, diese Parlamente weisen am ehesten ein Element von Selbstverwaltung eben im Sinne territorialer Autonomie gegenüber dem zentralistischen französischen Königtum auf. Ob das aber die Sache ganz trifft, ist eine schwierige Frage, weil es sich eben um eine besondere Art von Gerichtshöfen, die aber eben nicht nur klassische Justizfunktionen im heutigen Sinne hatten, handelt, und man dann auch über so etwas wie Autonomie von Gerichtsbarkeit nachdenken muss. Es stellt sich also auch die Frage, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch mit irgendwie gearteten Autonomievorstellungen erfasst werden kann. Herr Steiger: Ja, ganz recht, die Registrierung der Verträge durch das Pariser Parlament war eine weitere wichtige Aufgabe. Da spielte gerade auch

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der Grundsatz der Unveräußerlichkeit von Krongut und Territorium eine wichtige Rolle. Das war einer der wenigen unbestrittenen Grundsätze der lois fondamentales. Diese lois fondamentales waren ja in der Tat, wie Frau Manca betont hat, ihrem Inhalt nach ziemlich ungewiss. Gerade das gab den Parlamenten jedoch die Chance – im Grunde so, wie bei uns manche Verfassungen Verfassungsgerichten eine Chance geben – bestimmte Grundgedanken zu entwickeln und je nach Bedarf als loi fondamentale ein Prinzip herzuleiten, das dann gegen ein bestimmtes Edikt oder eine lettre patente in Stellung gebracht wurde. In der Tendenz gelingt den Parlamenten gewissermaßen die Hierarchisierung von Verfassung und Gesetz. Das haben sie in erster Linie erreicht durch ihr Remonstrationsrecht, durch die Notwendigkeit, eine höherrangige Norm zu behaupten, die gegen die Edikte galt. Der Inhalt dieser höherrangigen Normen ist aber eigentlich bis zum Ende des Ancien Régime in hohem Grad ungewiss geblieben. Herr Steiger, Sie hatten noch auf das Ende – 1787 ff. – angespielt. Man kann vielleicht sagen: Die Parlamente, die nach der Reform Maupeous zurückkehren, sind eigentlich nicht mehr ganz die Parlamente, die man vorher hatte. Und sie sind in gewisser Weise auch strenger in ihrer Privilegienverteidigung geworden, als sie es vorher waren. Das ist ein Teil dieser Endkrise der Monarchie, die die Parlamente dazu bringt, auch gegen die Notablenversammlung zu agieren, und damit den Ruf nach den Generalständen erst so richtig zu provozieren. Diese Verschärfung der Auseinandersetzung ist wahrscheinlich eher sogar eine Folge dieser Maupeou-Reform gewesen. Maupeou hatte die Parlamente einmal so richtig ins Exil geschickt und damit gedroht, durch eine Justizreform das ganze alte System zu beseitigen. Und als die Parlamente dann noch einmal zurückkommen unter Ludwig XVI., da befinden sie sich in einer ganz eigenwilligen Form von Schwäche und Verhärtung, die sicherlich einiges von dem erklärt, was dann Ende der 1780er Jahre passiert. Nun noch zur Frage von Herrn Battenberg. Ich glaube, es geht nur um ein allgemeineres Problem: Unsere heutige Unterscheidung von Verwaltung und Justiz ist ja eine sehr späte, und je länger wir zurückgehen, desto mehr vermischen sich diese beiden Formen, so das letztlich die Frage auftritt, ob wir diese Funktionen dann noch sinnvoll unterscheiden können. Jedenfalls ist in Frankreich immer sehr justizförmig verwaltet worden, und man kann vielleicht auch umgekehrt sagen, dass manches von diesen Formen später sogar noch auf die Intendantenverwaltung übergegangen ist. Die alte Form der Verwaltung, die ja in den Parlamenten zunächst einmal auch einen Ort hatte, hat durchaus später auch noch die Intendantenverwaltung geprägt. Da gibt es Elemente, die sich überschneiden, sich gegenseitig beeinflussen. Je länger man zurückgeht, desto mehr ist jedenfalls die Unterscheidung zwischen Verwaltung und Justiz eine sehr problematische Angelegenheit. Und die Parlamente sind ja ganz am Anfang als curia regis wirklich auch noch Teil der monarchischen Registraturapparate, und da sind die Vergleiche, die Sie für bestimmte deutsche Verhältnisse gezogen haben, durchaus möglich.

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Heun: Gut, vielen Dank. Dann steigen wir in die letzte Runde ein. Ich habe jetzt drei Wortmeldungen, würde mich dann auch noch selber mit auf die Rednerliste setzen, und dann haben Sie, Herr Schönberger, das Schlusswort. – Herr Mohnhaupt. Mohnhaupt: Ich möchte einige begleitende und vergleichende Bemerkungen machen. Das Erste ist der interessante Fall der arrêts de règlement. Da gibt es Parallelen auch zum deutschen Reichstag, wo die decreta communia auch als quasi-gesetzgeberische Maßnahmen vom Reichstag erlassen werden, und die assentos in Spanien. Beide sind aber als reine gerichtsorganisatorische Maßnahmen mit gesetzgeberischer Wirkung ausgestattet, nicht so sehr wie offensichtlich im Parlement de Paris als Verwaltungsmaßnahmen. Das Zweite betrifft die lois fondamentales: Sie haben gesagt, sie galten als Maßstab für die Entscheidung auch beim Registrieren der Gesetze. Es gab, wenn ich recht erinnere, drei lois fondamentales, die als unstrittig galten: erstens die männliche Erbfolge, zweitens die Sicherung der katholischen Kirche beziehungsweise der katholischen Konfession des Königs, drittens die Unveräußerlichkeit des Kronguts und des Landes schlechthin. Es ist dann im 18. Jahrhundert aber eine gewisse Anreicherung dieser drei Grundsätze zu beobachten, und es wäre meine Frage, ob es richtig ist, dass das Eigentum – wenn auch gedacht in der Figur des Privilegs – plötzlich zu einem schutzwürdigen und schutzbedürftigen Grundgesetz hochstilisiert wird? Das Eigentum ist ja dann nach 1789 zu einer der grundsätzlichen Rechtspositionen auch in der Verfassung aufgestiegen, allerdings natürlich nicht mehr in der Form des Privilegs. Mich würde jetzt noch interessieren, wie der Begriff der Verfassung – von dem Sie sagten, er würde durch das Parlement auch geschärft, neu begrifflich gefasst – eigentlich geformt worden ist. Das heißt wohl doch, dass dann der Begriff der „Constitution“ dann ins Spiel kommt, wobei ich jetzt frage: Ist „Constitution“ in diesem Zusammenhang nur die Addition von lois fondamentales, oder ist damit eine darüber hinausgehende Qualität verbunden? Das Andere betrifft auch ein interessantes vergleichbares Element, nämlich die Frage: Sind es aristokratische Rechte, die die „parlements“ haben und verteidigen, oder sind es Repräsentationsfunktionen, die weit über diese hinausgehen? Die gleiche Frage haben wir auch bei der Beurteilung der Landstände innerhalb des deutschen Reiches und einzelner Territorien, wo im 19. Jahrhundert genau dieser Punkt auch analysiert und behandelt wurde. Sowohl das eine wie das andere wurde bejaht, je nach dem politisch motivierten Forschungsziel, ob man parlamentarische Vorformen finden will im Sinne einer Repräsentation oder nicht. Schließlich: Sie hatten auch gemeint, die parlements als föderative Institution qualifizieren zu können. Gibt es denn eine über die parlements hinausgehende Kooperation, oder sind sie nur isoliert agierende Institutionen

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innerhalb der einzelnen Landesteile? Und spielt dabei jetzt – sagen wir mal – die Königsnähe und Königsferne eine Rolle? Heun: Vielen Dank, Herr Mohnhaupt. Jetzt kommen wir leider doch langsam wieder in Zeitnot. Wir haben jetzt als nächstes Frau Barmeyer. Barmeyer-Hartlieb: An die letzte Bemerkung kann ich direkt anknüpfen. Ich hätte gerne nach den Begriffen „föderativ“ und „regional“ gefragt. Es ist, meine ich, doch ein Unterschied, ob man vom Staatsganzen her die Parlamente als föderative Organe auf das Gesamte ausrichtet oder ob diese aus ihrer historischen Tradition mehr vom Regionalen her zu verstehen sind. Noch ein anderer Punkt ist mir als Hinweis während Ihrer Ausführungen durch den Kopf gegangen: Gerade wenn wir im europäischen Kontext hier vergleichend diskutieren wollen, dann scheint mir frappierend, wie viele Parallelen es fast genau hundert Jahre früher in der englischen Entwicklung gibt – wobei das englische Modell ja häufig als das Gegenmodell zum französischen auf dem Weg in die Moderne dargestellt wird. Denn das, was in den 70 / 80er Jahren des 17. Jahrhunderts unter den späteren Stuarts im Konflikt – allerdings mit dem Parlament – auch über religiösen Fragen entsteht, dazu gibt es im Grunde sehr viele Parallelen im Frankreich des 18. Jahrhunderts, und es wäre interessant, diese Parallelen vergleichend heranzuziehen. Heun: Vielen Dank. Herr Simon. Simon: Ja, ich hätte gerne nochmal gefragt nach dem Verhältnis dieser Reglements zu königlichen Gesetzen – Sie haben sie ja ein bisschen dargestellt wie Ausführungsverordnungen auf der Grundlage königlicher Gesetze. Da frage ich mich, ob das nicht vielleicht ein bisschen eine Projektion sozusagen moderner Vorstellungen von gesetzlicher Ermächtigung und Ausführungsverordnungen ist. Bei den Reglements wäre ja zunächst einmal die Frage: In welchem Namen werden die erlassen? Im Namen des Parlaments oder im Namen des Königs? Und dann wäre die Frage: Wie ausgeprägt ist die Bindung dieser parlements an die königlichen Gesetze, wenn sie ihre Verordnungen machen? Wird diese Bindung in irgendeiner Weise sichtbar oder kenntlich gemacht bei der Verordnungsgebung? Heun: Gut, vielen Dank. – Jetzt noch drei kurze Fragen von mir: Zunächst einmal die Frage nach den Interpretationsangeboten. Sie haben gesagt, dieser soziale Widerstand der noblesse de robe spielt eigentlich keine Rolle und Sie würden jetzt diese drei Interpretationsmuster, -modelle anbieten. Mir scheint das in keinem notwendigen Widerspruch zueinander zu stehen. Diese Interpretationen scheinen mir weniger an die Stelle des bekannten Verständnisses zu treten, sondern es sind ergänzende Interpretationsmuster, die dem gar nicht widersprechen, dass sich hier auch sozialer Widerstand

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der noblesse de robe äußert, und von daher war mir das nicht so ganz klar, wie das Verhältnis zwischen diesen Modellen ist. Das ist das Eine, das Zweite ist: Sie haben gesagt, es sind eigentlich zwei Momente: Einmal der Gedanke der nationalen Repräsentation – der nationalen Souveränität –, der hier ins Spiel kommt, haben gleichzeitig aber die Rolle des Föderativen – wahrscheinlich besser des Regionalen – herangezogen, und ich frage mich: Steht das nicht auch in einem gewissen Widerspruch zueinander? Denn man kann sich ja schlecht einerseits als Ausdruck der nationalen Souveränität darstellen, wenn man andererseits in erster Linie als föderatives Organ sprechen will. Stehen die beiden Elemente völlig parallel und unverbunden nebeneinander, oder widersprechen sie sich nicht zu einem gewissen Grad? Und ich wäre im Übrigen auch noch skeptisch – das als Drittes ganz kurz – zu sagen, dass hier der Begriff der Verfassung schon sinnvollerweise verwendet werden kann. Die Berufung auf die lois fondamentales ist eben noch keine Verfassung und auch die Hierarchie der Normen ist noch nicht so deutlich ausgeprägt, wie wir es dann in der modernen Verfassung haben. Also, ich wäre eher vorsichtig, den Verfassungsbegriff – der dann doch erst am Ende des 18. Jahrhunderts aufkommt – hier schon in diesem Maße heranzuziehen, wie Sie es im Hinblick auf die lois fondamentales getan haben. Nun haben Sie das Schlusswort. Schönberger: Dann versuche ich mal, das alles zu bündeln. Herr Heun, ich fange gleich mit Ihren Bemerkungen an. Der Begriff der Verfassung wird von den Parlamenten ausdrücklich verwendet. Sie sprechen von der „Constitution française“, und zwar sehr massiv seit den 1750ern. Die Begriffsverwendung ist in den Quellen. Es ist eine andere Frage, wenn Sie eine bestimmte Vorstellung oder ein bestimmtes Modell von Verfassung haben und sagen: Nur das nenne ich Verfassung. Mit diesem Begriff kommen Sie da dann vielleicht noch nicht weiter, aber da gibt es ja Übergänge. Und diese Übergänge sind doch gerade interessant. Die Parlamente verwenden eine Sprache, die dann auch nachher, nach 1789 emphatischer und mit einer neuen Form von Kodifikationsidee verwendet werden kann. Mit EntwederOder-Formeln kommt man hier nicht weiter. Und diese Constitution ist eben nicht nur Addition von lois fondamentales, sondern wird als ein Gesamtes verstanden. Insofern tauchen da neben den drei genannten klassischen Elementen durchaus auch gewissermaßen grundrechtliche Aspekte auf, oder jedenfalls Elemente von persönlicher Freiheit, die etwa gegen die lettres de cachet aktiviert werden. Gewisse Freiheitsaspekte werden in die lois fondamentales hineingedeutet, gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das intensiver zu beobachten. Nochmal zu den arrêts de règlement, nach denen ja mehrfach gefragt wurde: Man muss noch etwas präzisieren; es gibt in der Praxis der Par-

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lamente zwei Arten der arrêts de règlement. Die eine habe ich jetzt aus Zeitgründen nicht weiter ausgeführt. Es gibt ein arrêt de règlement, das einfach die in einem bestimmten Rechtsstreit getroffene Entscheidung für allgemeinverbindlich erklärt. Das ist also eine Form, die gewissermaßen justizförmig bleibt, im Bereich der Justiz. Die verwaltungstechnisch interessanteren sind natürlich die arrêts de règlement, die im Bereich des Polizeirechts ergehen. Die erste Art ist im Übrigen dann vom Code Civil ausdrücklich verboten worden – noch heute erhält Artikel 5 des Code Civil das ausdrückliche Verbot, dass die Gerichte keine „disposition générale et réglementaire“ treffen dürfen. Das ist eine Erinnerung, eine negative Erinnerung an diese Art der arrêts de règlement. Zum föderativen Element: Die Parlamente standen zunächst einmal nebeneinander. Sie waren auch nicht organisatorisch miteinander verknüpft, weder hierarchisch mit dem Parlament von Paris, noch untereinander. Es hat allerdings zunehmenden Austausch zwischen den Parlamenten gegeben im 18. Jahrhundert, und es hat zunehmend auch die Tendenz gegeben, dass sie sich untereinander solidarisierten, wenn der Monarch mal wieder im Konflikt mit einem bestimmten Parlament war. Und das ist aus Sicht der Monarchie auch die eigentliche große Gefahr dieser Entwicklung gewesen. Ludwig XVI. hat in einer berühmten Rede 1766 vor dem Parlament von Paris, die den schönen Titel „séance de flagellation“ trägt, dem Parlament klar gemacht, dass es sich um sein Parlament handele, dass es ganz spezifische Aufgaben habe und dass es eine Einheit der Parlamente insgesamt gegenüber der Monarchie natürlich nicht geben könne; die einzige Einheit, die Frankreich kenne, sei natürlich in der Person des Königs zu finden. 1766 ist das also noch einmal mit aller Deutlichkeit aus der Sicht des Königtums proklamiert worden. Zu den Interpretationsmustern und Deutungsangeboten: Ich denke schon, dass es ein Problem ist, wenn wir sagen, wir können nur interpretieren: Modernisierende Monarchie versus traditionalistische Parlamente, oder wir machen gewissermaßen die Parlamente als eine Art potentielle Gewaltenteilungsentwicklungen in einem möglichen Modernisierungssinn aus. Wahrscheinlich stimmt beides nicht. Die modernisierende Monarchie war nicht mehr in der Lage, genügend Legitimation aus sich heraus hervorzubringen – und genau das erklärt ja die Lücke, in die die Parlamente stoßen. Und die Parlamente waren auf der anderen Seite nicht in der Lage, diese Lücke auszufüllen, weil sie aufgrund ihrer Legitimationsstruktur dafür keine richtige Basis hatten. Genau das ist ja das Dilemma, in das das französische politische System dann am Ende des 18. Jahrhunderts hineingeraten ist, und das sicher einiges über die Vorgeschichte der Revolution erklärt. Zum Abschluss vielleicht noch zum England-Vergleich: Ich habe mit einem französischen Kollegen neulich das Palais de Justice besichtigt, den eigentlichen alten Ort des Parlaments von Paris. Dieser französische Kol-

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lege ist ein großer Anglophiler – solche gibt es in Frankreich auch –, und sagte bei dieser Gelegenheit: „Das hätte unser Westminster werden können!“ Ob das stimmt, ob das eine sinnvolle Überlegung ist, ob diese Entwicklung möglich gewesen wäre, zumal unter den Verhältnissen des 18. Jahrhunderts, würde ich eher bezweifeln. Aber wenn man weiter zurückgeht, hätte es vielleicht bestimmte Epochen gegeben, wo vielleicht das französische System eine solche Entwicklung von dort aus hätte nehmen können, zu einem „Westminster français“. Vielen Dank. Heun: Ja, auch meinerseits: vielen Dank.

Freiherr vom Stein – berechtigtes Feiern seiner Selbstverwaltungsund Autonomievorstellungen? Von Jörg-Detlef Kühne, Hannover I. Einleitung Angesichts einer sintflutartigen Literatur, aufgrund deren zu Stein1 inzwischen schwerlich noch Neues zu entdecken ist, gilt es fraglos, Langeweile oder zumindest Skepsis entgegenzuarbeiten. Deshalb seien zunächst die thematisch gebrachten Begriffe für unsere Zwecke konturiert. So ist Stein’sche Selbstverwaltung begriffliche Rückprojektion. Denn wie zuletzt Wunder2 in seiner historischen Wortanalyse gezeigt hat, gibt es den Begriff der Selbstverwaltung bei Stein in eindeutig kommunaler Konnotation ebenso wenig wie den Terminus Autonomie. Vielmehr spricht er durchaus nicht voll synonym mit heutigem Selbstverwaltungsverständnis von „Selbsttätigkeit“, wobei diese – für den thematischen Umriss wichtig – für die preußischen Reformer durchaus nicht auf die Kommunalebene beschränkt ist, sondern auf alle mittelbaren und unmittelbaren Staatsverwaltungsebenen bis hin zur Regierung ausgedehnt werden soll. Es ist eine gewisse Verstümmelung unserer Leitfigur, diese weiteren Dimensionen bei seinen Kommunalvorstellungen unberücksichtigt zu lassen. Da also insofern auch das Ringen um das preußische Verfassungsversprechen nicht ausgeklammert 1 Erstaunlicherweise gibt es bis heute keine Stein-Bibliographie; siehe schon Michael Hundt, Stein und die deutsche Verfassungsfrage in den Jahren 1812 bis 1815, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder Nation? Mainz 1998, S. 141 – 180, 141 FN 1. Neuester Einstieg in die Quellen- und Literaturlage etwa bei Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S. 509 ff.; dazu meine Besprechung in: Archiv für Kulturgeschichte 91 (2009), S. 250 – 253. Grundlegend nach wie vor die von Erich Botzenhart und Walther Hubatsch bearb. Quellensammlung: Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, 10 Bde., 2. Aufl., Stuttgart [u. a.] 1957 – 1974; dieses Werk wird im Folgenden nur durch Angabe der römisch bezifferten Bde. usw. zitiert. 2 Bernd Wunder, Verwaltung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. 69 – 96, 81 ff. und – bei ihm unberücksichtigt – zuvor bereits detailliert zur einschlägigen Stein’schen Terminologie Alfred Hartlieb von Wallthor, Der Frhr. v. Stein und die Selbstverwaltung, in: Westfälische Forschungen 15 (1962), S. 129 – 139, wo auf S. 132 f. noch weitere Parallelismen Steins zu ,Selbsttätigkeit‘ angeführt werden.

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werden kann3, ist im Sinne Steins, vorbehaltlich ihrer noch zu erörternden ethnisch-edukatorischen Grundierung, zutreffender von – freilich monarchisch gemäßigter – Selbstregierung zu sprechen. Entgegen der noch altliberalen Gleichsetzung von Selbstverwaltung und Selbstregierung erscheint dies indessen historisch verbreiteter in der vom preußischen König schon 1848 goutierten Vokabel des Selfgovernment.4 Es ist ein Wort, das der Nationalliberale Gneist der liberal-konservativen Wirklichkeit des deutschen Spätkonstitutionalismus entsprechend bei deutlich reduktiver Tendenz mit dem Terminus „Selbstverwaltung“ rückübersetzt und mit bleibenden Folgen einbürgert.5 Gegenüber solchem Rückschnitt gilt es, Stein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In ähnlicher Weise umfasst der heutige Begriff der Autonomie nicht nur Satzungskompetenzen kommunaler Selbstverwaltungseinheiten, sondern im weiteren Sinn auch sonst intermediäre bis – so schon bei Stein – individuelle Freiheitsvorstellungen.6 Dass sie bei beschränkter Sicht allein auf seine Städteordnung als „am schwächsten ausgebildet“7 bezeichnet worden sind, ändert daran nichts, fordert vielmehr im Blick auf das Gesamtœuvre unserer Hauptperson ebenfalls zur Defizitbehebung heraus. Damit geht es im Weiteren darum, betonter als sonst – sub specie der spezifischen Staatsbezogenheit8 unseres Themas – Steins Intentionen ganzheitlicher und dabei zugleich etwas staatstheoretischer, vergleichender und interdisziplinärer zu betrachten. – Doch zuvor sei noch auf unseren thematischen Ausgangspunkt eingegangen, das heißt die mögliche Suggestion, dass Stein nennenswert gefeiert werde.

3 Dazu Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., Stuttgart [u. a.] 1967, S. 290 ff. 4 Näher Wunder (FN 2), S. 81 f. 5 Vgl. Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Tübingen 1876, S. 95 ff. 6 So Stein in seiner Denkschrift ,Über die Städteordnung vom 19.11.1808‘, vom 11. September 1826, VII (FN 1), Nr. 37, wo er von der Autonomie der Hausväter (S. 31) und später von Autonomien der Gemeinde (S. 44) spricht. 7 So Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, Köln [u. a.] 1984, S. 13. 8 Das bedeutet indirekt, dass aus der Aspektfülle sonstiger Beschäftigungen Steins etwa seine sozialen (dazu Duchhardt [FN 1], S. 97, 387 f.), seine religiösen (dazu ebd., S. 355, 397 f.) und seine mäzenatischen Aktivitäten zurücktreten müssen. Letztere betreffen zugunsten der historischen Forschung namentlich die Gründung der ,Monumenta Germaniae Historica‘ (dazu ebd., S. 394 ff.) und entgegen dem Vorwurf mangelnder Kunstsinnigkeit (so Erich Botzenhart, Frhr. vom Stein, in: Die Großen Deutschen, Bd. 2, Berlin 1956, S. 413 – 432: „amusisch“) auch die Kunst. Hierzu nur Horst Appuhn, Das Bildnis des Frhrn. v. Stein, Köln [u. a.] 1975, S. 64 ff. betreffend seine Gemäldebestellungen bei namhaften Künstlern. Duchhardt (FN 1) findet bei ihm weiter beginnendes globales Denken (S. 425).

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II. Induktive Annäherungen 1. Idolatrische Realitäten

Während für Stein nicht mal ein Dutzend an Freidenkmälern nachweisbar ist9, sind für Bismarck in den nicht einmal 20 Jahren nach dessen Tode bis zum Ersten Weltkrieg über 400 Gedenktürme zu nennen, wovon allerdings 175 kriegsbedingt unausgeführt bleiben.10 Und der Minderbefund für Stein wird noch eklatanter, wenn man weiß, dass allein in einer mittleren deutschen Großstadt seit den Befreiungskriegen „mehr als 300 Kriegerdenkmäler . . . entstanden bzw. geplant“11 worden sind. Anders als unser Thema suggeriert, geht es bei Stein mithin eher um ein Zuwenig als um ein Zuviel. – Kommen für ihn durchweg selektive Denkmalwidmungen hinzu, die ebenso viel über Ausblendungen bestimmter Aktivitäten des Geehrten aussagen wie über die politischen Zeitgebundenheiten der Denkmalstifter. Die übergroße Stein-Figur in Wetter an der Ruhr von 1909 erinnert an die erste der drei Hauptlebensphasen Steins: seine vorministerielle MontanBeamtenzeit, die vom dortigen Bergamt aus sich durch die institutionelle und faktische Leitung der preußischen Industrialisierungspolitik in der Ruhr-Region einen Namen machte.12 Dies sei deshalb erwähnt, weil das dortige Denkmal durch seine rolandhafte Rathausanlehnung immerhin noch eine indirekte, freilich sehr unbestimmte freiheitliche Deutung erlaubt. Interessanter, freilich gleichfalls nicht umfassend ist auch das erste Großdenkmal Steins auf dem Nassauer Burgberg (1872), das 1945 dem alliierten Vormarsch zum Opfer fällt.13 Bei ihm geht es vorbehaltlich der Ausklamme9 Dazu im Einzelnen Appuhn (FN 8), S. 79 ff. und Übersicht S. 127 f., eine Arbeit, die leider nur die alte Bundesrepublik und Berlin behandelt, sodass weitere Denkmäler wie z. B. in Königsberg und Memel fehlen; siehe auch Marcus Weidner, Stein – seine Denkmäler (Stand 2007), http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/ Internet. 10 Im Einzelnen Günter Kloss/Sieglinde Seele, Bismarck-Türme und BismarckSäulen, Petersberg 1997, S. 6, 9 und näher S. 33 ff., wobei noch 165 Türme vorhanden sind. 11 So für Hannover: Gerhard Schneider, „. . . nicht umsonst gefallen“. Kriegerdenkmäler und Kriegstotenkult . . . , Hannover 1991, S. 6. 12 Dazu Duchhardt (FN 1), S. 61, und näher Appuhn (FN 8), S. 114 f. mit Abb. 13 Dazu Appuhn (FN 8), S. 110 ff. mit Abb., der das hier wiedergegebene Zitat zu entnehmen ist. Es wird zum Teil ungenau mit 11. Junius – ebd., S. 110 – wiedergegeben. Insoweit auch ungenau Marcus Weidner, Denkmal auf dem Burgberg zu Nassau (Stand: 2007), http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet. Die Zerstörung des Denkmals erfolgte nicht etwa nach Kriegsende durch die dann französische Besatzungsmacht, sondern während der amerikanischen Eroberung der Stadt; freundliche Auskunft des Vorsitzenden des Geschichtsvereins Nassau, Herrn Meinhard Olbrich vom 25. Januar 2008. Das Folgedenkmal auf dem Burgberg für Stein ist 1953 neu erschaffen worden; vgl. Abb. bei Appuhn, S. 128.

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rung Österreichs vor allem um den Heros der deutschen Einheit: „Vollendet im Jahre der Wiedererrichtung des Deutschen Reiches“ lautet die Inschrift unter anderem. Lediglich das in der rechten Hand halb zusammengerollte Heft mit dem nur für Kenner deutbaren Hinweis „Nassau im Junius 1807“ verweist auf mehr. Recht dezent ist damit die für uns zentrale Nassauer Denkschrift gemeint. Sie ist insoweit ein Meilenstein, als sie den innerpreußischen Paradigmenwechsel vom aufgeklärten Absolutismus hin zur Bürgerpartizipation einleitet. Und weiter belegt die Einweihung dieses Denkmals in Anwesenheit etlicher Personen der Reichsleitung einschließlich des Kaisers, dass das preußische Königshaus nach den halkyonischen Jahrzehnten der Distanz gegenüber seinem ebenso dominanten wie renitenten Minister eingelenkt hatte.14 Dies vor allem auch im Blick auf seinen dritten nachministeriellen Lebensabschnitt, der Stein noch fast ein Vierteljahrhundert nicht im Schmollwinkel, sondern staatspolitisch betrachtet als Oppositionsführer im Wartestand zeigt, ohne – meines Erachtens leider – zum Frondeur zu werden. Weiter sei noch kurz auf die selektive Würdigung des Stein-Denkmals in Berlin (1875) aufmerksam gemacht. Mit seinen allegorischen Eckfiguren werden bestimmte Charaktereigenschaften Steins herausgestellt. Auf dem Fries darunter finden sich neben weiteren Reformern wie Schrötter, Scharnhorst und Gneisenau als Höhepunkte des Stein’schen Reformministeriats: die neue Regierungsverfassung, die Städteordnung, die Aufhebung der Erbuntertänigkeit sowie die Militärreform.15 Kein Wort davon, dass dies nur die Ausgangspunkte für weitere staatliche Reformen sein sollten; auch ist die Platzierung des Denkmals auf einem Platz beredt, der nach einem monarchisch unverdächtigen Adelsvertreter benannt ist.16 Indessen blickt Stein 14 Dazu nur Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Stein-Rezeption in der Historiographie des „langen“ 19. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt / Karl Teppe (Hrsg.), Karl von und zum Stein: Der Akteur, der Autor, seine Leistungs- und Rezeptionsgeschichte, Mainz 2003, S. 159 – 178, 162 ff. Zu den Anwesenden der Reichsleitung näher Appuhn (FN 8), S. 113 mit Hinweis auf den Reichstagspräsidenten und früheren Präsidenten der Paulskirche, den Altliberalen Martin Eduard von Simson, während Weidner (FN 13) auf weitere 48er verweist sowie auf die Anwesenheit Bismarcks und Moltkes (Bl. 12 f.). 15 Näher Appuhn (FN 8), S. 99 ff. mit Abb. und weiteren Hinweisen, und Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133 – 173, 156 mit Hinweis auf eine ursprünglich stärker monarchiebekennende Widmungsinschrift. 16 Appuhn (FN 8) zum Dönhoffplatz, wobei die Benennung ab 1734 bis 1946 nach dem Berliner Stadtkommandanten Alexander von Dönhoff erfolgte; vgl. Hans-Jürgen Mende (Hrsg.), Lexikon. Alte Berliner Straßen und Plätze, Bd. 1, Berlin 1998, S. 425. Das Denkmal, das der Luftkriegszerstörung Berlins entging, steht seit 2003 vor dem jetzigen Berliner Abgeordnetenhaus, in dessen Mauern das Preußische Abgeordnetenhaus von 1899 bis 1933 residierte; siehe auch Heinz Duchhardt, „. . . weil ( . . . ) Stein die Sonne war, um welche alle die anderen kreisten“. Das Stein-Bild im Wandel der Zeiten, Mainz [u. a.] 2004, S. 9 mit FN 18.

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zugleich auf das damalige preußische Abgeordnetenhaus17, was nochmals feinsinnig die liberal-konservative Verfassungsbalance des monarchischen Spätkonstitutionalismus spiegelt. Der idolatrische Befund darüber hinaus ist ebenfalls mager. Büsten in den Rathäusern etwa von Königsberg und Münster. An diesen Hauptwirkungsstätten Steins geht es neben der Erinnerung an die Städteordnung auch um sein provinziales und reformministeriales Wirken. Und in Memel findet sich weiland auf dem Schmuckplatz vor dem Rathaus zur Dange hin ein Borussia-Denkmal, umsäumt von steinernen Bänken mit den Hermen Steins sowie sieben weiterer preußischer Reformer.18 Diese 1907 in Anwesenheit des Kaisers eingeweihte Anordnung lässt sich durchaus bedeutungsmindernd verstehen. Denn sie geht ein Jahr vor der Hundertjahrfeier der Städteordnung (StO) in die Richtung der Handlanger-These Wilhelms II., mit der er zugunsten seiner Vorfahren die Rolle von deren Ministern, Paradefall ist Bismarck, zu verkleinern suchte.19 – Summa summarum ist der idolatrische Befund zu Stein durchweg selektiv und im Hinblick auf das, was er noch vorhatte, vergleichsweise kleinere Münze, was übrigens nach dem Ersten Weltkrieg auch wortwörtlich zu nehmen ist. Stein wird zum Notgeld, um nicht zu sagen Notgroschen20 oder – entsprechend 1807 – zum Nothelfer bei drohendem Staatszusammenbruch.

2. Sonstige Kommemorationen

Dem bisher aufgezeigten Magerbefund entspricht, dass die Anzahl der vom Stadtarchiv Nassau mitgeteilten 318 einschlägigen Straßenbenennungen21 – älteren Usancen gemäß weitgehend ohne Vornamen und Adelsuffix – näherer Prüfung nicht standhält. Einschlägige Archivanfragen ergeben, dass etliche Steinstraßen und -dämme nur an frühere Leistungen wetterfes17 Das ist von Nipperdey (FN 15) übersehen, der von „abgelegenem Platz“ spricht. Allerdings ging dieser Denkmalbezug mit dem Umzug des Preußischen Abgeordnetenhauses in das heutige Berliner Parlamentsgebäude 1907 verloren, ein Ortswechsel, dem das Stein-Denkmal erst 2003 folgen sollte. Dazu näher Helmut Engel [u. a.], Der Preußische Landtag – Bau und Geschichte, Berlin 1993. 18 Zu Königsberg vgl. Meyers Reisebücher, Ostpreußen, Danzig, Memel-Gebiet, 2. Aufl. 1934, S. 92 im Kneipphöfschen Rathaus, das nach 1927 Stadtgeschichtliches Museum war. Zu Münster: Appuhn (FN 8), S. 96 ff. mit Abb., wo die Büste zuerst im Friedenssaal des Rathauses, d. h. dem seinerzeitigen Tagungsort des Provinziallandtages stand. Zu Memel: Meyers (wie oben), S. 180, wonach die übrigen Zivilreformer Hardenberg, Schroetter und Schön waren. Daneben noch die Militärreformer Scharnhorst, Gneisenau, Dohna und York. 19 Näher Ernst Johann (Hrsg.), Reden des Kaisers, München 1966, Einleitung ebd., S. 26, sowie Rede vom 26. Februar 1897, ebd., S. 68 ff. (S. 70). 20 Zum Notgeld der Provinz Westfalen 1921 / 22 siehe Appuhn (FN 8), S. 120 ff. 21 Mitteilung des Stadtarchivs Nassau vom 15. Januar 2008.

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ter Wege erinnern.22 Ebenso wenig hat das Steintor zu Rostock oder anderswo mit unserer Bezugsperson zu tun. Und im Positivfall zeigt sich wiederum das selektive Bild. Nicht etwa, weil Stein Sachsen wegen dessen Napoleonidenverhaltens auf dem Wiener Kongress beseitigt wissen wollte, heißt die Steinstraße in Leipzig so; vielmehr erinnert sie an ihn als Chef der Zentralverwaltung, die dort nach der Völkerschlacht von 1813 zeitweise ihren Sitz hatte.23 Und weiterhin entspricht der Zeitpunkt dieser Straßenbenennung, nämlich 1881, der bereits bemerkten langen monarchischen Reserve. So finden sich Stein-Straßen in Königsberg wie Breslau erst in den Stadterweiterungen des späten 19. Jahrhunderts.24 Und ähnlich wie bei den Denkmälern lässt sich auch hier eine klare geografische Radizierung feststellen. Südlich der Mainlinie bei ausdrücklicher Fehlanzeige zum Beispiel für Karlsruhe, München, Nürnberg, Stuttgart und weiland Straßburg sind einschlägige Straßennamen Rarität.25 Der Kontrast zu Steins berühmter Sentenz: „Ich kenne nur ein Vaterland und das heißt Deutschland“26, ist andauernd bemerkenswert. Bleibt unter dem Signum der Volkserziehung, die bei Stein als Grundlage und Ziel der Selbstregierung hochbedeutsam ist27, noch auf die inzwischen mit seinem Namen versehenen 68 Schulen einzugehen. Als die Stadt Nassau für sie vor einigen Jahren einen Schülerwettbewerb über das Thema Stein ausschrieb, war das Ergebnis mit drei Einreichungen ebenso desolat wie zuvor bei einem Stadtfest, zu dem alle Anwohner deutscher Steinstraßen eingeladen worden waren. Es fiel praktisch aus.28 Im Ergebnis vermittelt der 22 So z. B. Mitteilung der Stadtarchive Braunschweig vom 14. Januar 2008 und für Straßburg im Einzelnen vom 15. Februar 2008, das bis 1918 neben einer Steinstraße noch einen Steinplatz und einen Steinring aufwies. 23 Mitteilung des Stadtarchivs Leipzig vom 10. Januar 2008. 24 Zu Königsberg vgl. Meyers (FN 18), Plan nach S. 88, im Raster B1; trotz Steins hilfreicher Russland-Aktivitäten wurde der Straßenname anders als in der nahe gelegenen Schillerstraße (russischer Stadtplan Königsberg und Gebietsplan Ostpreußen, 60 Jahre Kaliningrader Oblast, o. O. 2006, im Raster C2) nicht übernommen. Für Breslau siehe Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Aufl., Bd. III, Leipzig [u. a.] 1907, nach S. 394. 25 Die Karlsruher Steinstraße heißt laut Mitteilung des dortigen Stadtarchivs vom 7. Februar 2008 nach „dem unter ihr hindurchführenden Landgraben“. Zu Straßburg bis 1918 (FN 22), wobei Stein im Zuge des Wiener Kongresses ohne Erfolg den Rückerhalt des Elsaß gefordert hatte, vgl. an den dortigen russischen Spitzendiplomaten Kapodistrias, 24. Juni 1815, V (FN 1), Nr. 327 (S. 394) und der russische Staatsmann Kankrin an Stein, 27. Juni 1815, V (FN 1), Nr. 329 (S. 398). Positivbeispiel in Speyer, freilich erst seit 1959; vgl. Wolfgang Eger, Die Speyerer Straßennamen, Speyer 1985. 26 So Stein an Münster am 1. Dezember 1812, III (FN 1), Nr. 559 (S. 818). 27 Dazu siehe unten III.4. 28 Freundliche Mitteilung des Vorsitzenden des Nassauer Geschichtsvereins; siehe oben FN 13.

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feststellbare Minderbefund nicht nur den Eindruck, als habe die kommemorative Wirklichkeit Wehlers29 bekanntes Verdikt der maßlosen Überschätzung Steins seit langem vorweggenommen. Vielmehr erweist sich die jüngst geäußerte Klage Duchhardts30 über den Ausfall zentraler Veranstaltungen zum 250. Geburtstag Steins letztlich nur als pars pro toto. Spätestens an dieser Stelle ist noch kurz auf die schon eingangs erwähnte Überfülle literarischer Befassungen mit Stein einzugehen. Sie zeigen wiederum weitgehend selektive, nun aber auch klare Positivwürdigungen, und zwar zu Steins 100. Todestag 1931 im politischen Spektrum von kommunistisch bis nationalsozialistisch. Dies ist so intensiv aufgearbeitet31, dass es hier nicht wiederholt sei. Weiter verwundert kaum, dass in der deutschen Nachkriegs- und Teilungszeit sein Name auch im Blick auf Flucht und Vertreibung zum Tragen kommt.32 – Festzuhalten ist indessen das Urteil des Berliner Staatsrechtslehrers und Liberalen Hugo Preuß, der sich auch wissenschaftlich mit unserer Hauptperson befasst hat und spiritus rector der Verfassung von Weimar war. In der dortigen Nationalversammlung empfahl er als Vorbild für ihre Arbeit Stein als Deutschlands größten inneren Staatsmann.33 Auch wenn man den Deutschlandbegriff darin nur mit den bereits angesprochenen Abstrichen im Süden hinnimmt, wird damit ein Ton angeschlagen, der auf unserem Feld den Verriss ebenso ausschließen 29 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1997, S. 399. 30 Heinz Duchhardt, Ein verschwiegenes Jubiläum, in FAZ vom 7. Februar 2008, S. 8. Für die Zeit zuvor ders., Die Stein-Jubiläen des 20. Jahrhunderts, in: ders. / Teppe (FN 14), S. 179 – 191. 31 Dazu Gerhard Ritter, Der literarische Ertrag des Stein-Gedächtnisjahres 1931, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 8 (1932), S. 264 ff. mit Entgegnung von Franz Schnabel, ebd., S. 279 ff. Siehe auch Wolfgang Stelbrink, . . . Stein und die Deutsche Gemeindeordnung von 1935, in: Duchhardt / Teppe (FN 14), S. 193 – 219. 32 Vgl. Archiv der Frhr.-vom-Stein-Gesellschaft zu Münster in Westfalen: Bericht über die Besprechung betreffs Gründung einer Frhr.-vom-Stein-Gesellschaft am 14. Januar 1952 auf Schloß Cappenberg, wonach „in seinem Geist einer konservativdynamischen Betrachtung“ (Bl. 4) „eigentlich alle Probleme der Gegenwart“ (Bl. 5) auf Stein bezogen werden einschließlich der – etwas sibyllinisch formulierten – Betrachtung der „im deutschen Osten vor sich gehenden Umwandlungen zur sozialen Struktur unseres Volkskörpers“. Zu Personenkontinuitäten hinsichtlich des konservativen Stein-Bundes von 1932 / 33 und der Nachkriegsgründung der Stein-Gesellschaft siehe Thomas Kleinknecht / Karl Teppe, Konsens als Programm, in: Duchhardt / Teppe (FN 14), S. 221, 248, 226 mit FN 17. 33 So in: Verhandlungen des Reichstags bzw. der Nationalversammlung (zit. VRT), Bd. 326, S. 292, 14. Sitzung vom 24. Februar 1919, und ders., Stein-Hardenbergsche Neuorientierung, 1917, erneut in: ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926 (ND 1964), S. 109 – 124. Zur Stein-Rezeption bei Preuß näher Paul Nolte, Stände, Selbstverwaltung und politische Nation, in: Duchhardt / Teppe (FN 14), S. 139 – 158, 153 ff.

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könnte wie eine weitere selektive Feieralternative Steins. Sie dürfte der heutigen Festwirklichkeit am ehesten entsprechen: seine fachbruderschaftlich kommunal-provinziale Applanierung. Dies, obwohl er selbst von kritischen Zeitgenossen schon als großer Mann tituliert wird34 und genauer ein deutscher Spitzenpolitiker der Neuzeit ist, der erstmals eine realistisch fundierte, volklich umfassende Gemeinwohlvorstellung erkennen lässt.

III. Leistungsvermessung 1. Unverkürzte Real- und alternativgeschichtliche Dimensionen

Die Frage, was gewesen wäre, wenn es nicht Ende 1808 zum französischen Verlangen der Entlassung Steins gekommen wäre, klingt bereits im begleitenden Handschreiben des Königs an. Darin versichert er dem Scheidenden, „der die gerechtesten Ansprüche und mein Vertrauen . . . und der zugleich das Vertrauen der Nation so lebhaft für sich hatte“, das Bewusstsein haben zu können, „den ersten Grund, die ersten Impulse zu einer erneuerten, besseren und kräftigeren Organisation des in Trümmern liegenden Staatsgebäudes gelegt zu haben“.35 Was wäre gewesen, wenn der so Gelobte noch weitere Impulse hätte geben, wenn er die Fülle weiterer vorbereiteter Pläne und Gesetze hätte verwirklichen können, wenn er also sein leitendes Ministeramt in Preußen behalten oder alsbald wiedererlangt hätte? Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, dass er diesen Staat mit Überwirkung auf etliche Nachbarländer wesentlich früher zu einer partizipationsoffenen Politik gebracht hätte als realiter geschehen. Erwähnt seien neben den durchgesetzten Dingen ohne Anspruch auf Vollständigkeit der weiter geplante Umbau der Staatsorganisation durch zügige Modernisierung der Kreisordnung, raschere und andere Einführung von Provinzialverfassungen und nicht zuletzt die unverzögerte Umsetzung des königlichen Verfassungsversprechens wie -gebots der Bundesakte.36 Dabei 34 So sein bedeutender Mitarbeiter Theodor Schön in Hoffnung auf Steins Wiederkehr ins Amt, 27. Juli 1810, III (FN 1), Nr. 243 (S. 336); siehe auch emphatisch Königin Luise 1807 (nach Duchhardt [FN 1], S. 184): „Gottlob, daß Stein hier ist. Das ist ein Beweis, daß uns Gott noch nicht ganz verlassen hat.“ 35 Vgl. Georg Holmsten, Der Frhr. vom Stein, Reinbek 1975, S. 76 f. mit Faksimile des Abschiedsbriefs von Friedrich Wilhelm III. an Stein vom 24. November 1808; siehe auch II (FN 1), Nr. 908 (S. 987 f.). 36 Zur Kreis- und Provinzialebene juristisch am besten der Überblick bei GeorgChristoph von Unruh, Veränderungen der Preußischen Staatsverfassung durch Sozial- und Verwaltungsreformen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, Stuttgart [u. a.] 1983, S. 399 – 470, 416 ff. Auf der Kommunalebene ging es einmal um die Kreisordnung: vgl. Entwurf vom 24. November 1808, und zugleich noch um die Organisation der Ortsbehörden auf dem platten Land: vgl. Entwurf Schroetter, abgedruckt bei Friedrich Keil, Die Landgemeinden in den östlichen Provinzen Preußens und die Ver-

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ist der mögliche Vorwurf alternativgeschichtlicher Spekulation jedenfalls insoweit zurückweisen, als sich bedeutsame Wirksamkeiten Steins nach seiner Ministerzeit auch realgeschichtlich nachweisen lassen. Gerade für unser Thema ist dazu auf sein immenses staatsbezogenes Œuvre aus Denkschriften, Berichten und Briefen über Staatsaufbau und Verfassungsbildung zu verweisen.37 Neben dem etwa gleichzeitig entstandenen berühmten Werk von Clausewitz ,Vom Kriege’38 ließe sich Steins Werk, das leider weder durch ihn noch bis heute entsprechend redigiert worden ist39, als ziviles Komplement mit der Überschrift ,Vom Staate‘ formen. Auch dann freilich bliebe Stein davor gefeit, künftig etwa primär als Staatspublizist gewürdigt zu werden. Spricht dagegen doch seine lange Vita activa in Ämtern und überdies, dass er auch im späteren Wartestand, wenngleich ohne hierarchisch erzwingbare Durchsetzbarkeit, lange, wie es bei Stammen40 zutreffend heißt, die Diskurshegemonie im Kreise führender Köpfe der preußischen Staatsleitung besaß. – Zugleich könnte man in diesem Zusammenhang von Steins Charisma sprechen, das zeitgenössisch bereits von Feuerseele hat sprechen lassen und das sein Berliner Denkmal ansatzweise mit der allegorischen Figur der Energie reflektiert.41 Jedenfalls sollte seine Vita activa stets zusammen mit seiner staatsbezüglichen Vita contemplativa gesehen werden, die sich in seinem überwältigenden Œuvre niedergeschlagen hat. Er ist herausragender Vordenker und Impulsgeber für eine evolutionäre Entwicklung des Staates. Dabei verkörpert er in einer Zeit großer unmitsuche, eine Landgemeindeordnung zu schaffen, Leipzig 1890 (ND 1989), Anl. S. 9 ff. Über von Unruh (wie oben), S. 422 ff., FN 56, hinaus ging es auch auch um Landgemeindeordnungen auf dem platten Land, für die Entwürfe freilich erst 1809 / 10 vorlagen; vgl. Keil (wie oben), Anl. S. 12 ff. Das Zentralproblem der verwaltungsberechtigten Gutsbezirke hinsichtlich der Kommunalebene wurde im Entwurf Schroetter (Ziff. 21) noch nicht, wohl aber im Entwurf des vormaligen Stein-Mitarbeiters Köhler angegangen; vgl. Keil (wie oben), S. 98 ff. und Anl. S. 22 ff.: §§ 3 – 8 Entwurf. 37 Grundlegend die Textsammlung Botzenhart/Hubatsch (FN 1); Weiteres bei Duchhardt (FN 1), S. 509 f. 38 Sein Werk entstand zwischen 1816 und 1830. 39 Einen gewissen Ansatz bieten indessen Erich Botzenhart / Gunther Ipsen (Hrsg.), Frhr. vom Stein, Ausgewählte politische Briefe und Denkschriften, 2. Aufl., Stuttgart [u. a.] 1986. Der Kritik von Hundt (FN 1), S. 143, der insoweit das unsystematische Arbeiten Steins kritisiert, ist entgegenzuhalten, dass bei solcher Zusammenstellung selbstverständlich zwischen politisch-pragmatischen Anpassungen an veränderte Lagen und Kernelementen zu unterscheiden wäre. Zutreffende Ansätze dazu jetzt bei Michael Hundt, Stein und die preußische Verfassungsfrage in den Jahren 1815 – 1817, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Stein. Die späteren Jahre des Reformers, Göttingen 2007, S. 59 – 82, 64, sowie bei Wolfram Siemann, Stein und der Konstitutionalismus der süddeutschen Verfassungsstaaten, in: Duchhardt, ebd., S. 83 – 97, 84 ff. 40 Näher Theo Stammen, „Denkschrift“ als literarische Form, in: Duchhardt / Teppe (FN 14), S. 105 – 124, 118. 41 Dazu näher siehe oben mit FN 15; die Charakterisierung als Feuerseele bei Steins erstem Biographen Pertz (FN 15), vgl. Duchhardt (FN 1), S. 12.

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telbarer und mittelbarer revolutionärer Umbrüche eine gewisse Kontinuität zwischen altreichischem und konstitutionellem Denken. In der Zeit des hiesigen Krypto- oder Protokonstitutionalismus der Rheinbundzeit steht er an der Wiege des deutschen monarchischen Konstitutionalismus, den er in einer sehr eigenen Balance zwischen Historismus und Pragmatismus weniger als Reformkonservativer42, denn als aristokratischer Frühliberaler oder deutscher Whig zu formen sucht.

2. Zu geistigen Hintergründen

Es ist ein Zeichen mangelnder Interdisziplinarität und verstellt die Leistung Steins im europäischen Kontext, dass ihm bis heute philosophische und theoretische Qualitäten abgesprochen werden.43 Dabei geht es, vergleichbar mit Jefferson, der sich zugegebenermaßen auf Locke und Wise gestützt hat, nicht darum, Stein philosophische Originalität zu bescheinigen. Indessen ist seit geraumer Zeit von Mikat und andern44 dargetan worden, wie sehr Stein, ohne damit weitere ausländische Einflüsse auszuschließen45, mit der damaligen angelsächsischen wissenschaftlichen und namentlich staatsphilosophischen Literatur vertraut war. Dies gilt insbesondere für seinen Empirismus sowie die calvinistisch angehauchte dortige moral sense-Philosophie, die die staatszugewandte, intensive Moralität Steins prägte bzw. untermauerte. Hierzu sei pauschal auf die detaillierte Aufarbeitung namentlich durch Schwab46 verwiesen. Ergänzend dazu ist das bildungsmäßige Bindeglied Göttingen zu nennen samt seines detailliert empirisch, international arbeitenden Statistikers Schlözer, der den jungen Stein nachhaltig beeindruckt.47 Wenn diese empirische Ausrichtung als philo42 So Stamm-Kuhlmann (FN 14), S. 162; ähnlich bereits Hundt (FN 1), S. 149: „ständisch-konservativer Konstitutionalismus“, später aber ders. (FN 39), S. 60 f., offen lassend; wie hier James A. Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches, Frankfurt a. M. [u. a.] 1994, S. 272, und Wilhelm Isenburg, Das Staatsdenken des Frhrn. v. Stein, Bonn 1968, S. 173. 43 So etwa Botzenhart (FN 8), S. 415, und Duchhardt (FN 1), S. 172. 44 Paul Mikat, Politische Theorie, pragmatisches Denken und historischer Sinn in den Reformideen des Freiherrn vom Stein, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz. Festgabe für Eric Voegelin zum 60. Geburtstag, hrsg. von Alois Dempf [u. a.], München 1962, S. 395 – 416; Dieter Schwab, Die „Selbstverwaltungsidee“ des Frhrn. v. Stein und ihre geistigen Grundlagen, Frankfurt a. M. 1971; Maximilian Herberger, Die Staats- und Gesellschaftstheorie des Frhrn. v. Stein, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, in: FS Adalbert Erler, Aalen 1976, S. 611 – 648. 45 Zum Streit insbes. um französische Einflüsse von Unruh (FN 36), S. 402 ff., 419, Hendler (FN 7), S. 9, und zuletzt Duchhardt (FN 1), S. 5 mit weiteren Nachweisen. 46 Schwab (FN 44), S. 35 ff. 47 Dazu Hundt (FN 1), S. 145 und Duchhardt (FN 1), S. 26, 29 ff.; zu Schlözer umfassend: Martin Peters, Altes Reich und Europa: der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (von) Schlözer (1735 – 1803), Münster [u. a.] 2003.

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sophischer Hintergrund unserer Hauptperson sich bis heute nicht allgemein herumgesprochen hat, so dürften insoweit spezifische deutsche philosophische Traditionen nachwirken. Diese Richtung steht nämlich zu hiesigen Dominanzen des Kantianismus und des beginnenden Idealismus quer, wobei Letzterer mit bleibenden Folgen zwischen Herabsetzung und Verachtung der philosophischen Qualität des Empirismus schwankte.48 Dieser blieb infolgedessen hierzulande lange ohne Anerkennung. Der solcherart dimensionierte Empirismus Steins ist vielfach belegbar, wobei seine frühe landeskundliche Schilderung der Provinz Westfalen deswegen angeführt sei, weil sie sich über Schlözer hinaus vom Ansatz her ohne weiteres in eine Linie mit Jeffersons berühmten ,Betrachtungen über Virginia‘ rücken lässt.49 Genannt sei auch seine Ablehnung der empirisch unhaltbaren Vertragslehre.50 Und weiterhin sei im Blick auf die Erziehung als Schlüsselkode der Stein’schen Vorstellungen zur politischen Selbsttätigkeit des Volkes darauf verwiesen, wie lebhaft er die praktischer Arbeit abgewonnenen erzieherischen Grundsätze Pestalozzis empfiehlt.51 Im Gegensatz zum naturphilosophischen Axiom Rousseaus, wonach der Mensch von Natur aus gut sei, ist Stein skeptischer, wie seine Erziehungsabsichten und sein Gegen- wie Schreckbild staatsabgewandten Müßiggangs bzw. Egoismus‘ belegen.52 Insofern steht er der in den Vereinigten Staaten damals und heute dominanten, von Locke gespeisten Auffassung nahe, dass der 48 Gerhard Ritter, Stein, 3. Aufl. Stuttgart 1958, S. 199, spricht bezeichnend von „englischen Popularphilosophen“. Gegen die schroffe Ablehnung Lockes etwa bei Fichte vgl. Schopenhauer, der allerdings auch vom „dürftigen Empirismus Lockes’“ spricht; siehe Artur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lüttgenhaus, Bd. III, Zürich 1988, S. 345 und 653. 49 Generalbericht . . . über den Zustand der Provinz Minden-Ravensberg vom 10. März 1801, I (FN 1), Nr. 454 (S. 503 – 524). Zu Jefferson, Notes on the State of Virginia, zuerst Paris 1785, deutsch: Betrachtungen über den Staat Virginia, Zürich 1989. 50 Vgl. Stein, Geschichte des Zeitraums von 1789 – 1799, um 1809 / 10, IX (FN 1), S. 742 ff., 748; siehe auch Schwab (FN 44), S. 151. 51 Stein zu Pestalozzi, in: Denkschrift für Hardenberg vom März 1810, III (FN 1), Nr. 206 (S. 297 f.), und Denkschrift über den Finanzplan Hardenbergs vom 12. / 13. September 1810, III (FN 1), Nr. 266 (S. 406). 52 Gegen Müßiggang z. B.: Stein, Nassauer Denkschrift vom Juni 1807, II (FN 1), Nr. 354 (S. 390), Denkschrift über die Herrenbank vom 12. Februar 1816, V (FN 1), Nr. 385 (S. 466), und Denkschrift für Schuckmann, 15. März 1829, VII (FN 1), Nr. 482 (S. 541). Gegen – ständischen wie individuellen – Egoismus vgl. die entsprechenden Stichwortnachweise in: Stein X (FN 1), S. 733, sowie Nennungen auch von Wilhelm von Humboldt und Schön (III [FN 1], Nr. 392, S. 569, und Nr. 442, S. 628). Darüber hinaus für Stein noch z. B.: Bericht vom 30. April 1804, in: I (FN 1), Nr. 581 (S. 764), an Reden, 3. Juli 1807, in: II (FN 1), Nr. 355 (S. 404), an Merckel, 16. Januar 1810, in: III (FN 1), Nr. 182 (S. 256); Denkschrift vom 5. November 1822, in: VI (FN 1), Nr. 536 (S. 569), an Adolf Heinrich Graf von Arnim-Boitzenburg vom 2. Juni 1825, VI (FN 1), Nr. 869 (S. 857).

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Mensch zwar nicht gut sei, aber auch nicht so schlecht, um sich nicht selbst verwalten bzw. regieren zu können. Untermauert wird dies weiterhin dadurch, dass der Empiriker Stein aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Beamtentum der zeitgenössischen Versuchung widersteht, dieses wie später bei dem Hegelianer Gans nukleusartig an die Stelle des Volkes zu setzen.53 Andererseits bedarf für ihn „das allgemeine Wohl eines . . . Volkes der Leitung der Veredelteren aus ihm . . .“54 Die weitere Kritik, kein theoretischer Kopf gewesen zu sein, ist für einen praktisch handelnden Staatsmann wie Stein durchaus ambivalent. Soweit sie nicht positiv lesbar ist, hat sie das bereits erwähnte immense staatswissenschaftliche Œuvre gegen sich. In ihm verbinden sich Theorie und Praxis untrennbar55, wobei die Freilegung der theoretischen Strukturen noch nicht als völlig abgeschlossen gelten kann. Indessen gilt dies weniger hinsichtlich der partizipationstheoretischen Struktur, die nicht nur von einem italienischen Autor als „sostanzialmente ademocratico“ gewertet worden ist: Steins so genannte Eigentumsideologie.56 Bezogen auf das Wahlrecht bedeutet sie ein partizipationsprognostisches Stabilisierungselement zugunsten des Staates, das allerdings nur das vorwegnimmt, was für die gesamte Folgezeit des deutschen monarchischen Konstitutionalismus, dann freilich mit steigend promonarchischer Ausrichtung verwandt werden sollte.57 Überdies sind Grund- und Mobiliareigentum politische Partizipationsvoraussetzungen, die bei Stein aufgrund empirischer Erfahrung zunehmend korrigiert bzw. ergänzt werden, nämlich durch einen Intelligenzanteil.58 – Dies ist meines Erachtens auch der Auffassung59 entgegenzusetzen, wonach

53 Näher Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 3. Aufl., Stuttgart 1981, S. 282; zu Steins Haltung gegenüber dem Beamtentum – ähnlich wie Bismarck – siehe Isenburg (FN 42), S. 74 ff., und bereits in der Nassauer Denkschrift (FN 52), S. 389, Denkschrift Herrenbank (FN 52), S. 385, und an Cotta, 12. März 1830, VII (FN 1), Nr. 585 (S. 790). 54 So Stein (FN 50), S. 748. 55 Schwab (FN 44), S. 35, nennt Steins politisches Denken von ethischen Theorien geprägt; siehe auch Herberger (FN 44), S. 627, FN 63. 56 Zitat in Stichwort „Stein“, in: Dicionario Enciclopedico Italiano, Bd. 11, Rom 1956, S. 677, ähnlich Duchhardt (FN 1), S. 203; von Eigentumsideologie spricht Schwab (FN 44), S. 150. 57 Dazu nur Peter-Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz, 2 Bde., Frankfurt a. M. [u. a.] 1979. 58 Vgl. etwa Denkschrift für Schuckmann, S. 542: ein Viertel; siehe auch seine bildungsorientierten Bemerkungen über den Entwurf einer landständischen Verfassung für Westfalen, 6. November 1822, VI (FN 1), Nr. 537 (S. 572) hinsichtlich Besetzung der Provinzialvertretung: den großen Gutsbesitzern – also keineswegs allen – 3 / 6 der Stimmen, den Städten 2 / 6, den Bauern 1 / 6. 59 So Schwab (FN 44), S. 138, und sehr betont Hundt (FN 39), S. 65, 73, vorsichtiger noch ders. (FN 1), S. 149 „in erster Linie“.

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die Eigentümergesellschaft, in die Stein die Feudalgesellschaft verwandeln wollte, relativ geschlossen geblieben sei. Überdies widerspricht dem die von Stein favorisierte Wirtschaftstheorie von Adam Smith60, die ihn im Blick auf Deutschland zu erstaunlich weitgreifenden und unüberhörbaren Sozialforderungen führt: „Nur da ist eine blühende Ackerkultur, wo der Boden von freien Menschen bearbeitet wird.“61 Hierfür ist der Niederschlag im Oktoberedikt seiner Reformzeit nur ein Anfang. Mit unüberhörbarem Staatsbezug und bemerkenswertem Entwicklungssoptimismus, dem man auch ethisch-evolutionären Charakter62 attestiert hat, heißt es später: „Eine zweckmäßige Verteilung des Grundeigentums ist von wesentlicher Bedeutung für die Güte und Dauer einer Verfassung.“63 Es hieße den Pragmatismus Steins verkennen, wenn dies nicht mittelbar eine quantitative Steigerung der Partizipationsberechtigungen bewirkt hätte. Demgegenüber erscheint es anachronistisch, Stein vorzuhalten64, was in England erst 1884 gelingt, nämlich, dass er nie eine Beteiligung des vierten Standes aus abhängigen Lohn- und Fabrikarbeitern am öffentlichen Leben gefordert habe. Doch auch insoweit ist bemerkenswerte Entwicklungssicht vorhanden. Ende 1830 schreibt er65 an den preußischen Kronprinzen ebenso abgeneigt wie visionär: „Vernunftstolz, vermeintliche Würde des Menschen, unser protestantischer Rationalism führt zur Democratie.“ Bleibt im Blick auf Steins Selbstverwaltungsvorstellungen im weiteren Sinn noch ein kurzer Blick auf die verfassungstheoretische Behauptung, er sei monarchischer Legitimist gewesen.66 Das erscheint deshalb überzogen, weil er hinsichtlich ehemaliger Rheinbundmonarchen durchaus für Absetzung plädiert und hinsichtlich der Beseitigung deutscher Kleinstaaten samt ihrer Herrscher ebenso wenig zimperlich sein will wie mit der des armen 60 Vgl. nur Duchhardt (FN 1), S. 62, und Günter Schmölders, Hein und Adam Smith, in: Historische Forschungen und Probleme, FS Peter Rassow, Wiesbaden 1961, S. 235 ff. 61 Stein an das Komitee der ostpreußischen Stände vom 1. Juli 1808, II (FN 1), Nr. 737 (S. 775); siehe auch Herberger (FN 44), S. 620. 62 Dazu bei John Robert Seeley, Stein. Sein Leben, seine Zeit, Bd. III, Gotha 1887, S. 522, das Urteil eines Zeitgenossen von 1824: „Was mir aber am merkwürdigsten ist, das ist sein Vertrauen auf die Vorsehung, obwohl es vielleicht wenig Menschen von solcher Kraft gibt, deren Pläne und Hoffnungen so sehr vereitelt wurden.“ Zur Charakterisierung Schwab (FN 44), S. 157. 63 So Stein IX (FN 1), Aufsätze, S. 821, 824 f.; siehe auch Herberger (FN 44), S. 635. 64 So Isenburg (FN 42), S. 77, und sehr schroff Hundt (FN 39), S. 69, 73; näher zu England 1884 siehe Hans Setzer, Wahlsystem und Parteienentwicklung in England, Frankfurt a. M. 1973, S. 90 ff. 65 So Stein an den preußischen Kronprinzen, 12. November 1830, VII (FN 1), Nr. 826 (S. 945); damit wendet Stein als Lutheraner sich nicht gegen den Protestantismus als solchen, sondern nur gegen dessen innerkonfessionell rationale Richtung. 66 So Duchhardt (FN 1), S. 319, 322.

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Adels.67 Seine zeitgenössische Bezichtigung als „Fürstenfresser“ war nicht grundlos; nur in Staaten, die zur Bewahrung ihrer Unabhängigkeit und Freiheit fähig sind, ist er Monarchist, und zwar im Sinne einer konstitutionell gemäßigten Monarchie, wofür sein Reformministeriat eine fast englisch anmutende Regierungspraxis zeigt.68

3. Staatsorganisatorische Konkretionen

Einschließlich etlicher Kritik69 ist die von Stein durchgesetzte StO als verwirklichter Teil seiner Verfassungsvorstellungen zu bekannt, um erneut voll ausgebreitet zu werden. Über die von ihr geschaffene bleibende Grundlage für den Staatsaufbau von unten nach oben, der erneut nach 1945 deutlich erzieherisch gedacht ist, besteht seit langem Grundkonsens. Dieser umfasst konkret auch die bis heute gebliebene Institutionalisierung von Einheitsgemeinde und Dezentralisation.70 Und im Blick auf weitere Ausbaustufen hat Gierke der damals etablierten Stadtverordnetenversammlung bescheinigt, bereits die Merkmale eines ersten modernen Parlaments zu bieten, während Heffter verhaltener formuliert, sie habe schon allzu sehr das Kleid einer freiheitlichen Verfassung in die Kommunalverfassung hineingelegt.71 Damit kommt es zu Andeutungen, die sich weiter verbreitern lassen. So ist noch jüngst gesagt worden, dass Steins Primärinteresse der Staatsorganisation und der Organisation der staatlichen Mittelstufe gegolten habe72, 67 Denkschrift an Alexander I. vom 16. März 1813, IV (FN 1), Nr. 51 (S. 57), deutsche Fassung: Botzenhart / Ipsen (FN 39), S. 308, und Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände, 8. September 1808, II (FN 1), Nr. 813 (S. 853): „man hebe den armen Adel auf“; siehe auch Hundt (FN 1), S. 171 f. 68 Zur entsprechenden Bezichtigung seitens der Rheinbundjuristen näher Holmsten (FN 35), S. 96 und Hundt (FN 1), S. 158 f. Bei dem seinerzeitigen Regierungsmodell ging es um ein Residualveto des Monarchen gegenüber seinen Ministern, sodass die von Hans Boldt, Die deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 286 f., gebotenen Modelle zwischen Parlament und Regierung allenfalls entsprechend anwendbar sind. 69 Vgl. nur Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 84 ff.; Christian Engeli / Wolfgang Haus, Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, Stuttgart [u. a.] 1975, S. 101 ff.; von Unruh (FN 36), S. 416 ff.; Hendler (FN 7), S. 14 ff. 70 Vgl. Hendler (FN 7), S. 10 ff., mit weiteren Aspekten, wobei der Gedanke der vertikalen Gewaltenteilung damals eher unterentwickelt ist (siehe auch Schwab [FN 44], S. 128 ff.), während der ansatzweise Genossenschaftsgedanke spätestens seit 1918 demokratisch überholt ist. 71 In der genannten Reihenfolge: Otto Gierke, Die Stein’sche Städteordnung, Berlin 1909 (ND 1957), S. 57; Heffter (FN 69), S. 95. 72 Heiko Faber, in: DVBl. 2008, S. 437 f.

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was allerdings bei ganzheitlicher Betrachtung dem Impuls der StO keinen Abbruch tut. Auch werden deren erhebliche interne Befugnisunschärfen und aufsichtsrechtliche Offenheiten zugunsten staatlicher Polizei kritisiert.73 Indes sind dies juristisch-normative Feinheiten, die schon bei Stein zu Revisionsüberlegungen führen. – Des Weiteren ist die Kontinuitätsthese zu erwähnen, die bestreitet, dass die StO einen historischen Neubeginn darstelle. Sie sieht demgegenüber einen „grundsätzlich organschaftlichen Zusammenhang“74 mit den Freiräumen altreichischer Städte – selbst in der Zeit des Absolutismus. Indessen hat sich diese These zu Recht nicht durchzusetzen vermocht, da sie weder genetisch noch sonst historisch untermauert worden ist. Und gegenüber Einwänden hinsichtlich der dank Steins Eigentumsorientierung fraglos ademokratischen Unterscheidung von Bürger- und Einwohnergemeinde erscheint es durchaus angezeigt, die Bedeutung der StO für die Ausbildung eines partizipatorisch ausgreifenderen Wahlrechts darzutun. Dieses Recht ist nicht nur unmittelbar, sondern mit einer großstädtischen Wahlberechtigtenquote von ca. 6 – 8 % der Einwohnerschaft und bis zu 20 % gelegentlich in Kleinstädten75 deutlich ausgedehnter als bei der berühmten ersten britischen Wahlrechtsreform von 1832, deren parlamentarische Anfänge Stein noch mit warmem Interesse verfolgt hat.76 Dass diese die Wahlberechtigtenquote von ca. 3 auf 4,5 % gesteigert hat77, ist angesichts der numerisch lächerlichen Steigerung damals deshalb Sensation, weil damit – freilich auf der Gesamtstaatsebene – endgültig über den Bannkreis des dortigen Adels zugunsten des Bürgertums hinausgetreten worden ist. In ähnlicher Weise und zu Recht bleibt für die StO ihr ständeapplanierender Charakter zwecks Ausbildung einer Staatsbürgergesellschaft zu betonen.78 Einzugehen ist schließlich noch auf die spezifische Zwecksetzung der Städteordnung im oder besser für den Staat. Kommunale Selbstverwaltung wird als korporative Autonomie mit Durchwirkung auf die Individuen nicht um ihrer selbst willen gewährt. Wie es bereits in der Nassauer Denkschrift79 mit Ausgriff über die Kommunalebene hinaus heißt, geht es um „Teilnahme 73

Vgl. von Unruh (FN 36), S. 418, Hendler (FN 7), S. 16 ff. Franz Steinbach/Erich Becker, Geschichtliche Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung, Bonn 1932, S. 11, dagegen zutreffend Hendler (FN 7), S. 8 ff. 75 Am genauesten Koselleck (FN 53), S. 572, wobei die Quote in Mittelstädten 10 und mehr Prozent betrug; siehe auch Duchhardt (FN 1), S. 199 mit weiteren Nachweisen. 76 So an Spiegel, VII (FN 1), Nr. 963 (S. 1096). 77 Näher Jörg-Detlef Kühne, Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus, in: Hans-Peter Schneider / Wolfgang Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Berlin 1989, § 3 Rz. 57; eingehend Setzer (FN 64), S. 32 ff. 78 Näher Koselleck (FN 53), S. 561; siehe auch Hendler (FN 7), S. 19. 79 Nassauer Denkschrift (FN 52), S. 391. 74

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(der Bürgerschaft) an der Verwaltung, . . . sie alle durch Überzeugung, Teilnahme und Mitwirkung bei den Nationalangelegenheiten an den Staat zu knüpfen, den Kräften der Nation eine Tätigkeit und eine Richtung auf das Gemeinnützige zu geben“ usw. Man mag diesen Stein’schen Dauerton als patrimonial-erzieherisch gegenüber dem heutigen Verständnis von Individualautonomie kritisieren. Doch darf dabei der emanzipatorische Gehalt nicht übergangen werden. Denn die StO hat den künftigen Verfassungswandel durch ihre Formung letztlich tatsächlich herbeigeführt.80 Und dass staatsbürgerliche Erziehung eine Daueraufgabe ist, dafür sei nur Folgendes angeführt: Etwa die Klage von Preuß81, dass Adel und Bürgertum es bis 1918 versäumt hätten, den aristokratischen zum plutokratischen Parlamentarismus zu entwickeln, um ihn nun in den demokratischen zu überführen. Und weiter die staatsbezogenen Erziehungsziele etlicher heutiger Landesverfassungen.82 Überdies schließen es die von Stein für die StO angeführten Zwecke aus, ihn für die Gegensätzlichkeitsthese in Anspruch zu nehmen, die später hstl. verfassungsgarantierter Gemeindefreiheit gegenüber dem Staat vertreten worden ist.83 Wie die von Stein gewollte emanzipatorische Erziehung zur administrativen wie gubernativen Selbstregierung entgegen dem realgeschichtlichen Gang der Dinge ohne seinen Sturz weitergehen sollte, dies zeigen die in seinem schriftlichen Œuvre erhaltenen weitergreifenden Pläne. Danach erweist sich schon die kommunale Selbstverwaltung insofern als Torso, als die für 1809 geplante Einführung der Kreisordnung samt einem landgemeindlichen Organisationsstatut unterbleibt.84 Die Vorherrschaft des Grundadels auf dem platten Land sollte durch Deputierte „aus den übrigen städtischen und bäuerlichen Communitäten“85 wenn nicht gebrochen, so doch deutlich abgebaut werden. Als dies endlich 1872 freilich nur nach dem Herrenhaus angedrohtem Pairsschub gelingt, wird kein Geringerer als 80 Koselleck (FN 53), S. 561, 585 f.; so wohl auch Wehler (FN 29), S. 400, der immerhin die Fernwirkung der Städteordnung gelten lässt. Positiver Friedrich Engels, für den mit den Stein’schen Reformen die bürgerliche Revolution in Preußen beginnt, siehe Stichwort „Stein“, in: Meyers kleines Lexikon, Bd. 3, 10. Aufl., Leipzig 1969, S. 488. 81 Hugo Preuß, VRT (FN 33) 328, 2072 (69. Sitzung vom 29. Juli 1919), siehe auch bereits ders. im VerfA, VRT 336, 309 (28. Sitzung vom 11. April 1919). 82 Z. B. Art. 12 I VerfBW, Art. 131 III VerfBay., Art. 28 VerfBrbg.: Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit; § 56 IV VerfHess., Art. 7 II VerfNW. 83 Näher dazu Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl., Neuwied [u. a.] 1998, S. 426 f. mit weiteren Nachweisen; siehe auch § 127 S. 2 StO bei Engeli/Haus (FN 69), S. 118, wonach der Magistrat dafür haften musste, „dass nichts gegen den Staat . . . ausgeführt werde“. 84 Dazu FN 36. 85 Vgl. von Unruh (FN 36), S. 420, und Nassauer Denkschrift (FN 52), S. 393.

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der bedeutende Nationalliberale Eduard Lasker86 dies noch zu den großartigsten Erscheinungen der Reformgeschichte Preußens und Deutschlands wie überhaupt einer zivilisierten Nation rechnen – unbeschadet der Verzögerung um mehr als ein halbes Jahrhundert. Kommt die Vorstellung von Provinzialverfassungen hinzu. Dabei wird wie auch auf der weiteren Ebene der preußischen Gesamtstaatsrepräsentation von beschließenden und nicht nur beratenden Versammlungen mit Haushaltsrecht ausgegangen, die nicht mittelbar, sondern – entsprechend England – unmittelbar gewählt werden.87 Demgegenüber sollte Steins anfängliches Herumprobieren mit einem interimistischen Staatsrat aufs Ganze gesehen ebenso wenig irritieren wie seine Altersbedenken gegen gewisse Befugnisse der Wahlkörperschaften.88 Bleibt noch die übergeordnete Ebene des Deutschen Bundes. Das Angebot, als preußischer Gesandter nach Frankfurt am Main zu gehen, lehnt Stein aufgrund einer Kritik an der Bundesakte (DBA) ab89, die meines Erachtens besonders beeindruckend das Format seiner politischen Weitsicht belegt. Denn schon unmittelbar mit ihrem Zustandekommen legt er den Finger auf organisatorische Schwachstellen, denen auch aus heutiger Sicht kaum etwas hinzuzufügen ist: kein eigentliches Haupt, nur wenig durchgreifende Handlungsbefugnisse der Bundesversammlung, „da die Fälle, welche Einstimmigkeit erheischen, so zahlreich und so unbestimmt“ sind, keine eigenen Gerichtshöfe und mit schneidender Ironie warnend, die formal unbefristete landständische Verfassungsforderung in Art. 13 DBA wider bona fides willkürlich zu strecken.90 Dass die Ausräumung dieser Kritikpunkte Deutschland mindestens zwei Generationen konstitutioneller Kämpfe erspart, ja zu politisch grundsätzlich anderer Weichenstellung für den deutschen Raum hätte führen können, darf behauptet werden. Friedrich Meinecke91 sieht 1819, das heißt die faktische Einstellung der preußi86 Eduard Lasker, Fünfzehn Jahre Parlamentarischer Geschichte 1866 – 1880, hrsg. von Friedrich Hertneck, Berlin 1926, S. 58; zum Pairsschub Huber (FN 3), Bd. IV, 1969, S. 352 ff. 87 So etwa an Niebuhr, 8. Februar 1822, VI (FN 1), Nr. 446 (S. 468 f.); siehe auch Siemann (FN 39), S. 85 f.; Hundt (FN 39), S. 64. 88 Dazu Duchhardt (FN 1), S. 365 ff.; wie hier bereits Lasker (FN 83), S. 17, der auf die von Stein organisierte Volksrepräsentation abstellt mit dem Zusatz, wie er sich Wahl und Zusammensetzung dachte, darauf kommt es nicht an. 89 Dazu Duchhardt (FN 1), S. 357 f. mit weiteren Nachweisen. Zu negativ Hundt (FN 1), S. 150 ff. zu damals gescheiterten Kaiser- und Direktoriumsplänen für Deutschland, da diese noch 1848 / 49 und später virulent bleiben sollten. 90 Zitat in: Denkschrift Steins für das russische Kabinett vom 24. Juni 1815, V (FN 1), Nr. 328 (S. 395), deutsche Fassung: Botzenhart / Ipsen (FN 39), S. 352; an Eichhorn zu Art. 13 DBA, 2. Januar 1818, V (FN 1), Nr. 608 (S. 690). 91 Friedrich Meinecke, 1848. Eine Säkularbetrachtung (1948), erneut in: ders., Werke, Bd. IX, S. 345 – 363, 347.

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schen Verfassungsarbeit durch Verdrängung Humboldts als dem aktiven Parteigänger Steins oder kurzum das Obsiegen der Restaurations- über die Reformpartei als Gravitationsjahr der deutschen Geschichte.

4. Freiheitsvorstellungen und personelle Autonomie

a) Abschichtung von persönlicher und politischer Freiheit Es ist eine zu technizistische Deutung der Intentionen Steins, sie auf Nutzen, Effizienz und Produktivitätssteigerung zu reduzieren. Möglicherweise zu sehr der äußerst dramatischen Kriegsfolgenbewältigung in den Jahren 1807 / 08 verhaftet, erscheint es jedenfalls zu einseitig anzunehmen92, es sei letzten Endes um die Verklammerung von Staat und Staatsvolk mit den Machtmitteln des Staates zum Zweck seiner Optimierung gegangen. Damit wird nämlich eine andauernde Begleitdimension personeller Autonomiegewähr übersehen, hinter der unübersehbar auch ethisch-moralische Grundsätze stehen.93 Unter dem bereits erwähnten Einfluss der anglo-schottischen Moralphilosophen geht es Stein um die Ausrichtung des Selbstinteresses auf das Gemeininteresse. „Die Staatsverfassung ist so einzurichten, dass der Bürger . . . Anreiz zu gemeinnützigem Wirken verspürt.“94 Jenseits Egoismus oder dem individuellen amerikanischen pursuit of happiness zielt er damit namentlich auf das „öffentliche Glück“.95 Stein fordert eine Verfassung, welche mit Bezug auf Deutschland „. . . seine politische und bürgerliche Freiheit verbürgt“.96 Diese adjektivisch bezeichnend gereihte Freiheitsbenennung erinnert kaum noch an die vorrevolutionär naturrechtliche Unterscheidung von libertates und libertas civilis97 und zwingt damit hinsichtlich der verbreiteteren Auffassung, dass wie bei der StO die individuelle Freiheit bei ihm nicht im Vordergrund gestanden habe98, zur Abschichtung. Richtig ist zwar, dass er die französischen Men92 So Thomas Welskopp, Sattelzeitgenosse. Freiherr Karl vom Stein zwischen Bergbauverwaltung und gesellschaftlicher Reform in Preußen, in: HZ 271 (2000), S. 347 – 372, 370; siehe auch Duchhardt (FN 1), S. 104. 93 Dazu nur Schwab (FN 44), S. 157 und passim. 94 So Schwab (FN 44), S. 43. 95 Denkschrift (FN 90), S. 396, deutsche Fassung: Botzenhart / Ipsen (FN 39), S. 353; siehe auch in: Entwurf einer ,Proklamation an sämtliche Bewohner des preußischen Staates’, 21. Oktober 1808, II (FN 1), Nr. 864 (S. 905), worin es heißt: „Mit Eurem Glück das Glück des Staats“; siehe auch Schwab (FN 44), S. 54. 96 Bericht für Alexander I., 4. Mai 1814, IV (FN 1), Nr. 1146 (S. 754), deutsche Fassung: Botzenhart / Ipsen (FN 39), S. 323. 97 Dazu Diethelm Klippel, Politische Freiheit im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 100. 98 So Isenburg (FN 42), S. 7: „Sein Blick ist . . . auf den Staat gerichtet; der Einzelne tritt zurück“; speziell zur Städteordnung ebenso Hendler (FN 7), S. 13.

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schenrechte als metaphysisch beziehungsweise spekulativ ablehnt.99 Indessen sind bürgerliche Freiheitsforderungen bei ihm unübersehbar. So kritisiert er an der DBA, ihr Art. 18 gebe zwar gewisse Grundsätze für jeden Deutschen, verzichte indessen auf Regelungen über Habeas corpus sowie die Abschaffung der Leibeigenschaft, womit sich das trialistische Freiheitsverständnis zum heutigen dualistischen hin abbaut. Dies sind Forderungen, die maßgebliche Gravamina des Vormärz ausgeräumt hätten. Auch trifft die ergänzende Ansicht zu100, dies lasse sich anhand weiterer Äußerungen zu einem umfassenden Katalog ausweiten, jedenfalls hinsichtlich bürgerlicher Freiheiten. Wie bei Locke finden sich nämlich unter anderem der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum101, Gewerbefreiheit, Sicherheit der Ehre, der Vererbung sowie das volle Spektrum der Geistesfreiheit von der Religions- über die Denk-, Lehr- bis hin zur Pressefreiheit.102 Ungeachtet dessen, dass dieses von Stein gewollte Freiheitsprofil fraglos über dem bekannten Minus im Deutschen Bund gelegen hätte, geht es ihm dabei nicht primär um Abschirmung vor dem Staat. Insbesondere bei Lehre und Presse zeigt sich vielmehr eine Präferenz für eine Freiheitsnutzung, die sich heutigem Grundrechtsverständnis zufolge am ehesten der kulturellen Werttheorie, das heißt qualitätsvollen Aktivitäten wie der Staatsbildung und -bejahung verpflichtet weiß.103 Weiterhin ist Stein zwar kein Verfechter allgemeiner Gleichheit im heutigen Sinne; er ist aber, was häufig übersehen wird104, für gewisse besondere Gleichstellungen. Gleichheitlich ist der schon in der Nassauer Denkschrift105 für die polnischsprachigen Gebietsteile Preußens geforderte Sprachschutz, der unter dem Einfluss Herders nicht nur konträr zu späteren Germanisierungsbestrebungen dort, sondern selbst heute noch kein durchgängiger EU-Standard ist. Und weiter ist auf sein Eintreten für glei99

Dazu Isenburg (FN 42), S. 25 f. mit weiteren Nachweisen aus Steins Werk. Herberger (FN 44), S. 633. 101 Dazu eingehend Isenburg (FN 42), S. 26 ff., und zur persönlichen Freiheit ebd., S. 32 ff. und S. 59 ff. zum Eigentümer; zu Letzteren siehe auch Schwab (FN 44), S. 132 ff. 102 Isenburg (FN 42), S. 30 ff., wobei Stein noch das Recht auf den gesetzlichen Richter und das Petitionsrecht (S. 27) gefordert hat sowie – bei Isenburg unerwähnt – die Gültigkeit der Vererbung; siehe Stein an Bäumer, März 1830, VII (FN 1), Nr. 667 (S. 777). 103 Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation (1974), erneut in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a. M. 1991, S. 115 – 145, 129 ff., ebd. (S. 133 ff.) zur demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie, die als etatistisch-funktionale vorliegend ebenfalls in Betracht gezogen werden könnte. 104 So etwa bei Isenburg (FN 42), S. 26, 48; Schwab (FN 44), S. 132; Hendler (FN 7), S. 9; Duchhardt (FN 1), S. 367. 105 Nassauer Denkschrift (FN 52), S. 398. 100

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che Aufstiegschancen beim Militär hinzuweisen106 wie vor allem auf seine staatsorganisatorischen Schritte in Richtung einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft, womit wir endgültig zur politischen Freiheit kommen.

b) Politische Freiheit Zu nennen ist hier einmal die ständische Ununterschiedenheit des freilich gegenüber bürgerlicher Freiheit trägerschaftlich wesentlich deutlicher als heute radizierten Wahlrechts der StO. Und weiter Steins Begründung, die Spaltung in politische Parteien, in Liberale, konstitutionelle Monarchisten und in ihre Unterabteilungen und Schattierungen sei weniger nachteilig als Trennung in Stände, wo Adelsstolz, Bürgerneid, Bauernplumpheit gegeneinander aufträten ohne alle Rücksicht auf Erhaltung der Verfassung.107 Die Folge ist seine bekannte Schmähung als Jakobiner seitens des standesbewussten Adels.108 Was für Stein als künftige politische Rolle des Adels verbleibt, so gibt er bereits selbst den komparatistischen Fingerzeig auf das – britische – Oberhaus.109 Es geht um Kontinuitätswahrung im staatlichen Leben durch ein Zweikammersystem, das diesem Zweck bis heute dient. Adel ist mit anderen Worten für Stein kein Selbstzweck; lehnt er doch einen durch den Stammbaum spröd abgeschlossenen Verein ausdrücklich ab.110 Nicht anders als später bei Bismarck soll der Herrenstand „durch Aufnahme neuer tüchtiger Mitglieder an Vermögen, Geist und Leben erfrischt und gestärkt werden“.111 Dass er solcher Adelskammer eine vermittelnde Stellung zwischen Regierung und Volk einräumt, ist damals, selbst wenn man darin noch Eierschalen altreichischer, intermediärer Libertät erkennen will, nichts Besonderes. Es ist vielmehr ein seit Montesquieu gängiges Erklärungsmodell, in das etwa ein so entschiedener Liberaler wie der Kurhesse Sylvester Jordan auch Wahlkammern einschließen wird.112 106

Autobiographie, Januar 1823, IX (FN 1), S. 864 – 910, 881. So an Gagern, 13. Februar 1828, VII (FN 1), Nr. 275 (S. 294 f.). 108 Dazu nur Holmsten (FN 35), S. 96. 109 Beurteilung des Rehdiger’schen Entwurfs über Reichsstände (FN 67). 110 Denkschrift für preußischen Kronprinzen betreffend „Allgemeine Grundsätze“ des Plans zu einer Provinzialverfassung, 1. / 3. November 1822, VI (FN 1), Nr. 536 (S. 565). Dem entspricht, dass er sich, soweit ersichtlich, an einer Erweiterung der Bundesversammlung, die Art. 6 Abs. 2 der Deutschen Bundesakte für die sog. Standesherren – freilich ohne je realisiert worden zu sein – vorhielt, gänzlich desinteressiert zeigt. 111 Wie FN 110. 112 Botzenhart/Ipsen (FN 39), S. 373 mit FN 4, und Günter Kleinknecht, Sylvester Jordan (1792 – 1861), Ein deutscher Liberaler im Vormärz, Marburg / L. 1983, S. 10, 14, der deshalb für absorptive Repräsentation war. 107

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Wenngleich wegen seiner damals antifranzösischen Konnotation inzwischen teilweise in Verruf113, sei schließlich noch das von Stein um der Unabhängigkeit und Freiheit Deutschlands willen massiv propagierte und grundsätzlich auch heute bestehende Widerstandsrecht behandelt.114 Wie sehr er dafür gegen äußere Feinde ist, belegt indirekt die auffällige Nichtberufung auf Stein 1919 beim Kampf um die Annahme des Versailler Vertrages; war es für ihn doch „pflichtgemäßer . . . gegen die Zeitgenossen und die Nachkommen und ruhmvoller . . . , mit der Waffe in der Hand zu unterliegen, als sich geduldig in Fesseln schlagen . . . zu lassen“.115 Darüber hinaus ist mit Isenburg116 deutlicher als bisher Steins Befürwortung eines innerstaatlichen Widerstandsrechts zu beachten. Genannt sei nicht nur seine Widerständigkeit im Amt, die zur Entlassung aus seinem ersten Ministeriat Anfang 1807 führte und kaum verhüllte königliche Empörung hervorrief.117 Genannt sei vielmehr weiter sein Amtsethos, wonach für ihn – in dieser Reihenfolge – der Beifall des Gewissens und der verwalteten Menschen besser sei als der der Regierung.118 Kommt hinzu, dass er erstaunlich präzise über die älteren und neuen Fälle erfolgreichen Widerstands gegen fürstliche Willkür Bescheid weiß.119 Dies in einer Zeit und in einem Kulturraum, in dem das Widerstandsrecht etwa bei Kant obrigkeitlich abgebogen ist, in der sogar Schiller Teile seines Tells für die Berliner Erstaufführung abschwächt120 und von staatsrechtlichen Autoren der unbedingte Gehorsam gegenüber Tyrannen gepredigt wird. Nicht allein, dass Stein121 113

Vgl. Duchhardt (FN 1), S. 246. Zum inneren und äußeren Widerstandsrecht heute siehe Art. 20 IV GG und Art. 51 SVN. 115 Denkschrift für den König, 11. August 1808, II (FN 1), Nr. 776 (S. 810). Anders als hierzulande ist 1919 für die Pariser Presse die preußische Erhebung nach Tilsit durchaus lebendig und eine Wiederholung zu verhindern. 116 Isenburg (FN 42), S. 27 ff.; siehe auch Herberger (FN 44), S. 640, FN 134. 117 Dazu Holmsten (FN 35), S. 51 f., Duchhardt (FN 1), S. 161 f. 118 So an Sack, 9. September 1802, I (FN 1), Nr. 480 (S. 562). 119 Vgl. dazu Stein an Münster, 20. Oktober 1814, V (FN 1), Nr. 182 (S. 170), sowie an Merveldt, 2. Oktober 1830, VII (FN 1), Nr. 794 (S. 908): „Aus den Volkserhebungen in Deutschland ist das Gute entstanden, die Entwicklung des lasterhaften Unholden, des Herzogs von Braunschweigs, die Wiederbelebung der ständischen Verfassung und in Kurhessen die Unterwerfung eines lasterhaften, in Wollust und Habsucht tief versunkenen geisteskranken Fürsten über Gesetz und Ordnung.“ 120 Dazu näher Christian Tomuschat, Das Recht des Widerstands nach staatlichem Recht und Völkerrecht, in: Gerhard Casper u. a. (Hrsg.), Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, Göttingen 2007, S. 60 – 95, 60; zu Schillers Verhalten: Peter von Matt, „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht . . .“, Schillers Verherrlichung des Widerstandsrechts in: ebd., S. 27 – 43, 31 ff. 121 So an Prinzessin Radziwill, 22. April 1829, VII (FN 1), Nr. 515 (S. 578), gegen den konservativen preußischen Staatstheoretiker und späteren Minister Friedrich von Ancillon. 114

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Letzteres noch kurz vor der Julirevolution als „Unsinn“ geißelt, er begrüßt in ihr auch die Erfolge einschlägiger Aktionen in Braunschweig und Kurhessen. Das ist ein deutliches Prae gegenüber der offiziellen Mehrheitshaltung im Deutschen Bund, die strikt monarchisch-legitimistisch sich jeder widerstandsrechtlichen Legitimierung dieser Geschehnisse verweigert.122 Die für die Zeit von Tauroggen hypothetisch anschließbare Frage, warum Stein nicht selbst ab 1813 vom Wartestand zum Widerstand übergegangen ist mit der Chance, erfolgreicher Frondeur zu werden123, erlaubt seine Vorstellungen politischer Individualautonomie genauer zu erschließen. Gerade beim Widerstandsrecht denkt er noch weniger subjektiv-rechtlich, denn in Kollektivitäten. Dabei dürfte, ohne Arndts früher panegyrischer Würdigung Steins als Deutschlands politischem Martin Luther124 das Wort reden zu wollen, auch eine Rolle gespielt haben, dass Stein diesem Reformator mitsamt seiner tendenziell bremsenden Zwei-Reiche-Lehre näher gestanden hat als Calvin. Doch sei dies nicht weiter vertieft. – Denn die vorgenannte Positivwürdigung erfolgreicher Volkserhebungen macht jedenfalls deutlich, dass unsere Hauptperson entgegen der konstitutionellen Doktrin125 das Widerstandsrecht nicht nur bei den Ständeversammlungen konzentriert sieht. – Im Übrigen soll politische Freiheit zu Staatsaufbau und -festigung erziehen, sodass ihre Anerkennung für Stein grundsätzlich nicht im Gegensatz zum Staat steht. Genauer noch ist Erziehungsziel und Staatszweck die „religiös-sittliche, geistige und körperliche Entwicklung des Menschen“; Ziel ist ein „frommes, sittliches, treues, mutiges Volk“.126 Ertappen wir Stein damit zum Schluss als zu optimistisch, romantisch oder idealistisch? Meines Erachtens trifft das nicht. Denn einmal wird die Erziehungsnotwendigkeit gänzlich nüchtern mit dem auch heute gültigen 122 Dazu Huber (FN 3), Bd. 2, 2. Aufl. 1975, S. 57 ff. und 63 ff.; eingehender zu Braunschweig: Ernst-Hermann Grefe, Gefährdung monarchischer Autorität im Zeitalter der Restauration, Braunschweig 1987, sowie zu Kurhessen: Kleinknecht (FN 112), S. 18 ff. 123 Verwiesen sei insoweit auf das Warten in der Beamtenelite, z. B. bei Schön (FN 34) sowie die positiv beschiedene Frage von Offizieren und Studenten nach der Kaiserfähigkeit Steins; dazu Holmsten (FN 35), S. 96. 124 Zitat von Ernst-Moritz Arndt nach Duchhardt (FN 1), S. 12, ebd., S. 388 zu Steins Luthertum. 125 Zu dieser Doktrin Tomuschat (FN 120), S. 68 f. mit weiteren Nachweisen, und eingehend hinsichtlich der literarischen Bewertung des Braunschweiger Umsturzes Grefe (FN 122), S. 97 ff., wobei allerdings der mehrfach verfolgte kurhessische Liberale und Publizist Friedrich Murhard 1832 den Volksaufstand rechtfertigte (vgl. ders., Über Widerstand, Empörung und Zwangsübung der Staatsbürger [1832], ND Aalen 1969, S. 385 ff.). Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes (1916), ND Aalen 1968, S. 446, spricht deshalb zutreffend vom Zerfall der Widerstandslehre. 126 So bereits in Denkschrift (FN 110), S. 569.

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politischen Topos ,Köpfe als Rohstoff‘ begründet: „Erziehung ist in Preußen unentbehrlich, damit moralische und intellektuelle Kraft die Unvollkommenheit des Materiellen ersetze.“127 Und zum anderen haben die vorgenannten Ziele, die Stein substantivisch als Sittlichkeit, Vaterlandsliebe und Gottesfurcht benennt128, auch im heutigen Pluralismus ungeachtet der inzwischen stärkeren Bildungssäkularisierung129 ihren Stellenwert behalten.130 Ausgeprägter als heute zeigen sich politische Partizipation und Erziehung indessen bei ihm stärker als Pflichtenrecht131 mit bemerkenswert harmonisch gedachtem Einklang von Menschen-, Volks- und Staatsbildung. Es ist diese Harmonie, die auf ein zeitgenössisches, der Goethezeit entsprechendes klassisches Bildungs- und Erziehungsideal rückschließen lässt, das sich mit dem philosophischen Pädagogen Theodor Litt132 den Antinomien des Lebens bewusst entgegenstellt. Es ist diese Harmonievorstellung, die letztlich auch in der Bildungsausweitung durch die Stein’sche Staatsbürgererziehung erkennbar ist.133 Solche Erziehung, die sich unter dem bereits erwähnten Stichwort von Müßiggang und Egoismus gegen Staatsabwendung des adligen und sonstigen Eigentümers wie der Intelligenz wendet134, sollte indessen angesichts der realen innergesellschaftlichen Antinomien die Harmonieerwartung à la longue konterkarieren. Überdies war sie, weil im Einzelfall überfordernd, jedenfalls in der Breite nicht durchzuhalten, wenn Stein einschlägig forderte135, nicht „in der Zerstreuung und dem Gemeinen, Kleinlichen, Oberflächlichen unterzugehen; oder sich dem Unwillen über die überwiegende Herrschaft der Mittelmäßigkeit, Schlechtigkeit zu überlassen . . . (sondern) allem Egoismus (zu) entsagen und nur dem Großen und Edlen (zu) leben“. 127

So an Prinzessin Radziwill (FN 121), S. 579. So an Spiegel 9. März 1831, VII (FN 1), Nr. 963 (S. 1096), wo er diese Werte im englischen Parlament – jedenfalls wohl bei den führenden Akteuren – anders als in dem von der Julirevolution geschüttelten Deutschland beachtet sieht. Zur Illustrierung der Sprengkraft heute stelle man sie sich als eingemeißelte Leitworte über den Eingängen von Parlamenten, Fakultäten und Großunternehmen der Wirtschaft vor. 129 Dazu nur Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Geschichtliche Grundbegriffe (FN 2), Bd. 1, 1972, S. 508 – 551, 511. 130 Vgl. dazu nur heutige deutsche Landesverfassungen (FN 82), die z. T. auch ,Ehrfurcht vor Gott‘ als Erziehungsziel vorschreiben; näher Jörg-Detlef Kühne, Ehrfurchtsgebot und säkularer Staat, in: NWVBl. 5 (1991), S. 253 – 259. 131 Ähnlich bereits Isenburg (FN 39), S. 30, der auf S. 144 weitergehend sogar vom Erziehungsstaat spricht; siehe auch Duchhardt (FN 1), S. 178. 132 Dazu Theodor Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt (1959), erneut hrsg. von Holger Burckhart, Darmstadt 2003, S. 63 ff. 133 Zur zeitgenössischen Harmonievorstellung Vierhaus (FN 129), S. 518. 134 Dazu FN 52. 135 So an von Arnim-Boitzenburg, 2. Juni 1825, VI (FN 1), Nr. 869 (S. 857). 128

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Dies und nicht Adelsbefangenheit oder Eigentumsideologie136 verweist meines Erachtens auf die eigentlichen Grenzen der Stein’schen Partizipationsausweitung, und zwar in zweifacher Hinsicht. Sie zeigt sich bei genauerem Hinsehen hinsichtlich Bildungsanforderung und Bildungserfolgserwartung ethisch-edukatorisch beziehungsweise im Sinne der Staatslehre aristokratisch überhöht und zugleich in voller Breite nicht leistbar137, wobei auch die empirisch bedingten partizipationsmodifizierenden Nachsteuerungen des alten Stein keine grundsätzliche Remedur bewirken. Die Wirkung dieses aus heutiger Sicht recht rigoros erscheinenden Anforderungsprofils spiegelt sich einmal in der durchweg beschränkten Popularität unserer Hauptperson138 und zum anderen darin, dass nicht sie, sondern im Blick auf aktuell-politische Forderungen der weniger anstrengende Schiller zum Heros der deutschen National- und Freiheitsbewegung im 19. Jahrhundert aufsteigen sollte.139 Mit der spezifischen Verschränkung von Bildung und Partizipation ist schließlich der Punkt erreicht, in dem Stein und die damalige wie heutige Demokratie auseinandergehen. Sie sieht um jedes Einzelnen willen von spezifischen Bildungsanforderungen als politischer Partizipationsvoraussetzung ab und verlangt stattdessen, wie die Fixierung des Mindestwahlalters zeigt, nicht mehr als eine gewisse Einsichtsfähigkeit. Dabei ist Demokratie durchaus nicht bildungsavers und überdies zu ihrem Gelingen auf Facheliten angewiesen. Dass ihre Partizipationsanforderungen gleichwohl bildungsmäßig gering bleiben, beruht auf ihrer Abkehr von einem dem Einzelnen vorgelagerten Staatsverständnis und verweist des Weiteren auf Repräsentationsstränge, die gegenüber Stein’schen Vorstellungen wertmäßig offener und auffüllbarer sind. Dies bedeutet auch Gefährdungen, wozu nur an 1933, das heißt ironischerweise die Zeit der Gedenkfeiern zum 100. Todestag Steins, erinnert sei. Positiv in den Vordergrund zu rücken ist demgegenüber indessen, dass innerhalb des Repräsentationsverhältnisses die vorgenannten ethisch-edukatorischen Werte Steins und seine gelebte Werthaltung, wenn auch nicht in der von ihm gedachten Ausschließlichkeit, ihren Platz behalten haben und werden. Gehören diese Werte doch im Ein136 So aber Isenburg (FN 42), S. 63, der bei Stein Eigentum vor Bildung stehend sieht, da er den von Stein propagierten partizipatorischen Intelligenzanteil (FN 58) und den überwölbenden Bildungsgedanken nicht klar genug auseinanderhält. 137 Georg Kerschensteiner, der Initiator des modernen Schulfachs ,Staatsbürgerkunde‘, der als Motto seiner grundlegenden Schrift: Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend, 10. Aufl. 1931, ein einschlägiges Wort Steins gewählt hat (S. 1), bleibt insoweit hinter dessen Vorstellungen zurück. 138 Vgl. dazu nur Duchhardt (FN 1), S. 454, wonach Stein schon zu Lebzeiten breitere Popularität gefehlt habe. 139 Michael Hofmann, Wirkungsgeschichte, in: Schiller-Handbuch, hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart, Weimar 2005, S. 561 – 581, 563 ff., und Wolfgang Hagen, Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977, S. XVII ff.

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klang mit der Entstehung des Verfassungsstaats zu den Voraussetzungen, von denen nach dem bekannten Wort Böckenfördes, ohne sie garantieren zu können, auch der freiheitlich säkularisierte Staat lebt.140 Die Antwort auf die thematische Ausgangsfrage nach der Berechtigung, unsere Untersuchungsperson zu feiern, lautet deshalb kaum eingeschränkt: ja. Und selbst wenn man in den Stein’schen Werten nicht eigentlich einen Positivgrund zum Feiern sehen möchte, besteht zumindest Anlass, ihn wegen der von ihm geplanten Gesamtverfassung mit namhafter Selbstregierung zu ehren, was die Partizipationsentwicklung des 19. Jahrhunderts weitgehend vorweggenommen hätte. Dass dies mittelbar zugleich an mangelnde Volksunterstützung erinnern könnte, spricht in einer Zeit kulpistischer Denkmalkultur, die weniger personen-, denn wertorientiert ist, ebenfalls eher für als gegen Stein.

140 So Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), erneut in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M., S. 42 (60). Hingewiesen sei insoweit auch bereits auf die zeitgenössische, bis heute gültige Regelung in Art. 15 der Virginischen Rechtserklärung vom 12. Juni 1776: „Keine freie Regierung oder die Segnungen der Freiheit können einem Volke erhalten bleiben außer durch festes Anhalten an Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit und Tugend und durch stetes Zurückgehen auf grundlegende Prinzipien.“ Und weiter die neuere Diskussion über ,Good Governance‘; dazu nur die gleichnamige Arbeit von Rudolf Dolzer u. a. (Hrsg.), Freiburg i. Br. 2007.

Aussprache Gesprächsleitung: Gusy

Kraus: Was den Ursprung der Ideen Steins angeht: Also einmal muss man glaube ich auch berücksichtigen – und das hat ja vor allen Dingen Gerhard Ritter erstmals und sehr überzeugend herausgearbeitet – dass Stein natürlich auch sehr stark von französischen Ideen für eine Reform der Selbstverwaltung geprägt worden ist. Also in Frankreich hat es ja seit den 1740er Jahren eine recht intensive Diskussion gegeben, und diese Diskussion hat Stein sehr genau wahrgenommen und aufgearbeitet. Auch das ist eine wichtige Quelle seiner Selbstverwaltungsidee, die man vielleicht nicht ganz vernachlässigen sollte. Zweitens: Was Steins England-Bild angeht, muss man sagen, dass Stein zwar als junger Mann in England gewesen ist, sich damals aber vorrangig für Bergbau und frühes englisches Fabrikwesen interessiert hat; dass sein eigentliches Bild der englischen Verfassung und Verwaltung doch sehr stark gefiltert worden ist durch seine Göttinger Lehrer, durch seinen Studienfreund August Wilhelm Rehberg und dessen politischen Mentor Ernst Brandes, die beide auch ein sehr positives, teilweise idealisiertes Englandbild gezeichnet haben, das natürlich der Wirklichkeit – der englischen Verfassungswirklichkeit gerade der damaligen Zeit – in vielen Elementen nicht entsprach. Und man muss weiterhin sehen, dass sehr viele der deutschen Anglophilen England deshalb gelobt haben, um damit eine indirekte Kritik an den heimischen Zuständen zu formulieren, die man natürlich nicht offen formulieren durfte. Dies nur als kleiner Zusatz. Gusy: Danke sehr, Herr Kraus. – Herr Lück bitte. Lück: Herr Kühne, vielen Dank. Ich möchte etwas sagen zu ihrem beeindruckenden Vorspann in Gestalt der vielen Denkmäler. Eines möchte ich noch hinzufügen, wahrscheinlich eines, das meines Erachtens alle von Ihnen genannten in den Schatten stellt: Es sind die Momumenta Germaniae Historica, die Freiherr vom Stein maßgeblich begründet hat – interessanterweise in dem von ihm als „Gravitationsjahr“ der deutschen Geschichte bezeichneten Jahr 1819. Auch wenn die Institution nun nicht vordergründig seinen Namen trägt, gibt es doch die Reihe der „Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgaben“ – lateinisch-deutsch –, die in allen wichtigen Bibliotheken der Welt steht. Ich denke, dies ist ein Denkmal, das relativ unabhängig ist von umzubenennenden Schulen oder Straßen oder nichteingetroffenen

Aussprache

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Stein-Namensträgern. Das wäre vielleicht zu ergänzen. Die MGH sind „das“ Denkmal auch für Stein, und wenn man in elf Jahren das 200jährige Jubiläum in München und der Welt feiern wird, werden es auch Feiern für den Freiherrn vom Stein werden – ganz sicher. Danke. Schönberger: Ich wollte etwas zu Ihrem Vorspann sagen, Herr Kühne. Es klang ja so ein wenig die Klage mit, die Bundesrepublik Deutschland erinnere sich nicht mehr gerne an Stein. Und dann wäre doch die interessante Frage: Woran liegt das denn aus Ihrer Sicht? Ich selbst habe meinen Grundwehrdienst noch in einer Freiherr-vom-Stein-Kaserne absolviert. Das war in Diez an der Lahn, und für die Namensgebung dort waren vielleicht auch regionale Gründe verantwortlich. Ernst gesprochen gibt es aber doch etwa im Rahmen der Bundeswehr eine Tradition, sich auf die preußischen Reformer zu beziehen, auf Scharnhorst und Gneisenau, und hier spielt auch Stein eine große Rolle. Wie schätzen Sie die Gründe ein, warum es einerseits noch erinnerungspolitisches Potential in der Bundesrepublik gibt und warum andererseits aus Ihrer Sicht die Erinnerung an Stein verblasst? Hat es vielleicht auch mit dem Verblassen Preußens in der historischen Erinnerung der Bundesrepublik insgesamt etwas zu tun? Gusy: Danke. Jetzt nehme ich noch Frau Barmeyer dazu, die letzte, die bislang auf der Rednerliste steht. Herr Kühne, ich denke, dann gehen Sie auf alle vier Fragesteller nacheinander ein. – Bitte, Frau Barmeyer. Barmeyer-Hartlieb: Sie haben so viel ausgebreitet, dass ich gar nicht weiß, was jetzt eigentlich das Wichtigste für mich wäre. Bei den Feiern, wenn man an die Rezeptionsgeschichte seit Steins Lebenszeit denkt, kann man feststellen, dass im 19. / 20. Jahrhundert die Bedeutung Steins enorm geschwankt hat. Ein gewisser Höhepunkt sind die Reformen der Reichsgründungszeit gewesen. Fritz Eulenburg, der preußische Innenminister (1862 – 1878), hat sich ausdrücklich auf Stein berufen und hat seine eigenen Verwaltungsreformen, die durch die Eingliederung der neuen Provinzen nach 1866 notwendig oder dadurch noch einmal aktualisiert wurden, ausdrücklich als Fortsetzung und Vollendung der Stein’schen Reformen bezeichnet. Der nächste große Vertreter von Selbstverwaltungsvorstellungen, der sich ausdrücklich auf Stein beruft – Sie haben ihn ja auch genannt – war Hugo Preuß. Aber ich denke, er versteht unter Steins Vorstellungen schon wieder etwas anderes als der preußische Minister. Die Deutung des Begriffes von Selbstverwaltung, der vom Inhaltlichen her bei Stein ganz wichtig ist, bei ihm aber so nicht auftaucht, wird im Laufe von Generationen ganz unterschiedlich interpretiert. Später taucht im 20. Jahrhundert bei den Kreisauern im Widerstand diese Vorstellung erneut auf. Also wenn man das vergleicht und fragt: Was bedeutet Selbstverwaltung für Stein? Dann müsste

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man eine Vielzahl von Begriffen anführen: zum Beispiel Mittätigkeit, Mitbestimmung, Erziehung zu Gemeinwohltätigkeit. Aber was dann die Rezeption im 20. Jahrhundert unter diesem schwer zu definierenden Begriff verstanden hat, das hat dann doch sehr geschwankt. Vielleicht noch ein Stichwort zu den Hintergründen dessen, was Stein geprägt hat: Das ist sicherlich einmal die Tatsache, dass er – aus reichsritterlichem Geschlecht stammend – diese Korporation kannte und in dieser geprägt worden ist. Das hat sicherlich auch eine Rolle gespielt mit altständischen Erfahrungen, die von Westfalen her bei ihm verstärkt wurden und seine Selbstverwaltungsvorstellung beeinflussten. Das alles fließt mit ein in seine Vorstellung, den Staat von unten nach oben in einem kontinuierlichen Stufenaufbau zu reformieren mit dem Ziel der Mitbestimmung der Bürger auf allen Ebenen. Gusy: Danke sehr, Frau Barmeyer. Jetzt sind wir schon von Stein zur Geschichte der Stein-Rezeption gekommen. Herr Kühne, Sie haben also die freie Auswahl, wie Sie jetzt reagieren. Kühne: Ja, ich möchte die Fragen der Reihe nach angehen. Zunächst zu Herrn Kraus: Sie haben hinsichtlich französischer Einflüsse völlig recht. Dazu sei auf das Buch von Ernst von Meier und seine Kontroverse mit Max Lehmann verwiesen; ich wollte diese bekannten Dinge nicht generell reinspielen. Als Beispiel für französische Vorbilder habe ich aber die Einheitsgemeinde eingebracht, das ist pouvoir communal. Wir haben bis heute – in der Schweiz etwa noch, was ja auch alt-reichisch ist – die Mehrgemeinde. Das heißt, Sie haben eine politische Gemeinde, eine Schulgemeinde, eine Armengemeinde – alles Mögliche nebeneinander, das deckt sich nicht. Der pouvoir communal bedeutet eine Vereinfachung. Das ist ebenso ein französisches Element, wie es auch in den weiteren Verwaltungsstrukturen gefunden werden kann. Stein ist ein ungeheuer belesener Mann. Seine Bibliothek ist von Botzenhart in einem Aufsatz von 1929 zusammengestellt worden. Das möchte ich auch zu den englischen Einflüssen sagen. Sie sind bei ihm nur zum Teil unmittelbar empirisch wahrgenommene Eindrücke, die darüber hinaus durch Briefwechsel anderer England-Reisender und ansonsten durch eine immense Literaturverarbeitung gespeist werden. In den Büchern sind noch Striche, die markieren, was er als besonders wichtig befunden hat. Und ein Weiteres, in dem ich Ihnen zustimme: Vergleichung arbeitet sehr häufig mit Überhöhungen. Wenn ich im eigenen Lande kritisiere, greife ich mir das schönste, was ich anderswo erkennen kann, raus, auch wenn es bei genauerem Hinsehen vielleicht nicht ganz zutreffend ist. Steins zitiertes Wort – „Hier ist Sittlichkeit, Vaterlandsliebe und Gottesfurcht“ – ist so eine Kontrastbildung anhand des englischen Parlamentarismus von 1830. Dass sich tiefste Zweifel hinsichtlich der dortigen Sittlichkeit und Gottesfurcht

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anmelden lassen, müssen wir nicht vertiefen. Stein kontrastiert damit das unzureichende politische Leben in den Ständeversammlungen der deutschen Einzelstaaten. Trotz seiner Verzeichnung englischer Zustände – zum Teil jedenfalls – ist Stein aber auf der anderen Seite immer wieder nüchtern genug, um nicht zu sehr abzuheben. Dann zu Herrn Lück: Richtig, die MGH könnte man nennen. Ich habe aber im Blick auf das Thema entschieden, diese mäzenatischen Tätigkeiten einfach wegzulassen, auch weil das bekannter ist. Ich gebe aber gerne zu, das sollte in die Schriftfassung vielleicht doch noch deutlicher rein, wobei es noch mehr einschlägige Tätigkeiten bei Stein gibt: etwa für Gefängnisvereine, also im sozialen Bereich. Weiter ist er vielfältig als Rechtsberater aktiv, wenn Freunde ihn entsprechend angehen. Er schreibt dann Briefe, die unter anderem eine Mitgräfin zum Widerstand hinsichtlich ihrer Adelsrechte aufrufen. Auch seine massive Polemik gegen den Nassauer Fürsten, die im Grunde zutiefst rechtlich argumentiert, könnte man nennen. Weiter ist seine Kunstsammlung ganz bemerkenswert, etwa der Cappenberger Kopf, den er sammelt. Ebenso regt er Gemälde an, um das Mittelalter, die deutsche Vergangenheit wieder stärker und positiver zu sehen. Dann zu Herrn Schönberger: Ja, ich teile Ihre Defizitfeststellung; ich habe dies auch gelernt und dafür den Begriff der fachbruderschaftlichen Applanierung gebraucht. Stein ist aber auch schon früher nie populär gewesen, dazu war er zu kurz dran. Die Generation, die ihn noch erlebt hat, wie Schön 1810 schreibt: „Wir warten darauf, dass ein großer Mann wieder zurückkommt“, die Stein also im Wartestand sieht, diese Generation ist 1830 weithin abgetreten. Bei Seeley findet man, wie nüchtern die Nachrufe in den Zeitungen, als Stein stirbt, ausfallen: wieder ein Adeliger weniger. Nach der gescheiterten Juli-Revolution hatte man die Konnotation Steins mit Reform nicht mehr präsent, natürlich auch aufgrund von Zensur. Bleibt noch Ihre Frage nach den Gründen für die Benennung heutiger Stein-Kasernen. Meines Erachtens ist das selektive Geschichte. Stein passt zwar nicht mit seinen Aufrufen zum Widerstand gegen Frankreich, wohl aber mit seinem Einsatz für allgemeine Wehrpflicht. Er war kein Pazifist, sonst hieße keine Kaserne nach ihm. Insofern ist er brauchbar. Ich könnte mir weiter vorstellen, – das ist nicht überprüft – dass es etwa BeamtenFachhochschulen gibt, die nach Stein benannt sind. Oder kommunale Institute. In Speyer gibt es sogar eine „Freiherr-vom-Stein-Straße“, das heißt auch heute mit vollem Adelspräfix, was ansonsten in der Bundesrepublik Deutschland eher selten ist. Selektive Erinnerung dominiert, obwohl von den Gründern der Stein-Gesellschaft seit 1952 mehr intendiert war. Für sie war Stein eine vorzeigbare Gegenperson in einer kriegsverwüsteten Zeit, wo vieles historizistisch – von Luther über Bismarck bis Hitler – wie eine Geschosskurve gedeutet wurde.

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Stein verwies auf eine andere Traditionslinie, war vielleicht auch Exkulaptionsfigur, jedenfalls insoweit auch Nothelfer in schwierigen Lagen. Er unterliegt nach den Brüchen in der deutschen Geschichte, die im Grunde schon mit der Absage an seine Vorstellungen spätestens in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnen, das gilt auch im Kaiserreich, nur noch ganz selektiver Wahrnehmung. Weimar hätte für ihn nochmal eine Chance sein können, bricht aber zu früh ab. Und heute? Kaum mehr als Briefmarke oder Gedenkmünze. Eine bewusste Anknüpfung an Stein klappt eben nicht, wenn man demokratische Vorbilder sucht. Man kann ihn allenfalls als Wegbereiter bezeichnen, aber das ist schwierig und verweist uns auf das Feld politischer Erziehung. Frau Barmeyer: Vielen Dank für Ihren verstärkenden Hinweis auf Eulenburg. Das entspricht genau der zeitgenössischen Wertung von Lasker, die ich gebracht habe. Und was Sie zur unterschiedlichen Selbstverwaltung sagen, ist meines Erachtens noch genauer zerlegbar. Einmal können Sie die Selbstverwaltung völlig reduziert auf das organisatorische Gerüst betrachten, wie es im Gesetz steht: Wer darf wählen, was dürfen die Gewählten, welche Befugnisse haben sie, demokratische oder nicht demokratische Ansätze. Und zum anderen lässt sich auf die Ebene der Zwecke abstellen, die damit verbunden sind. Bei Stein geht es um eine im Grunde ethisch grundierte Partizipation als Staatsfestigungszweck, das ist in dieser Form, in dieser dezidiert ethisch-moralischen Grundierung und Ausschließlichkeit heute aufgegeben. Mir war mal durch den Kopf gegangen bei der Anfertigung des Referates: Allein diese Worte, die ich eben schon zitiert habe: „Hier ist Sittlichkeit, Vaterlandsliebe und Gottesfurcht“ – das sind ja Erziehungswerte, auch heute noch in den Landesverfassungen. Das sollte man sich vielleicht mal eingemeißelt vorstellen über einer deutschen Großbank, einer deutschen Fakultät, einem deutschen Parlament. Welche Sprengkraft da noch drin wäre! Ich will damit nur sagen: Dieser Stein‘sche ethische Ansatz, der ist natürlich heute weg. Und insofern wirkt seine Selbstverwaltung, wenn man sie ernst nimmt, für heutige Gemüter zu anstrengend. Das ist schon mit dem Gedanken des Pflichtenrechts deutlich gemacht worden und lässt sich noch verfeinern. In der klassischen Bildung wird noch eine deutliche Unterscheidung zwischen den höheren und den niederen Zwecken vorgenommen. Und die niederen Zwecke, also das, worum es in jedem Streik, in jeder Lohnforderung geht, das war für Stein als wirtschaftliche Existenz- oder Überlebenssicherung eigentlich gar nichts, jedenfalls kein höherer Zweck. Anders hingegen die höheren oder edlen Zwecke, das Gemeinwohl als Ergebnis von erzieherischer Veredelung. Wenn Sie das heute 1:1 umsetzen wollten, dann müssten Sie die Parlamente deutlich leeren. Gusy: Danke sehr, Herr Kühne. Das war jetzt so schön zum Schluss, dass ich beinahe ganz hässlich zu Herrn Mohnhaupt sein und ihn bitten möchte,

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seinen Diskussionsbeitrag noch ein bisschen zurückzustellen. Er ist bestimmt auch in 40 Minuten noch wichtig, und dann nehme ich Sie gleich als Ersten nach dem Referat von Herrn Kraus dran. Herr Kühne, ganz herzlichen Dank.

„Selfgovernment“ – Die englische lokale Selbstverwaltung im 18. und 19. Jahrhundert und ihre deutsche Rezeption* Von Hans-Christof Kraus, Passau

Der englische Begriff des „selfgovernment“ hat seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert eine enorme Resonanz erfahren, keineswegs nur in Großbritannien selbst, sondern ebenfalls auf dem europäischen Kontinent und hier vor allem in Deutschland. Dabei hat man diesen Begriff zumeist nicht einmal annähernd treffend übersetzt, denn die gewöhnliche Verdeutschung als „Selbstverwaltung“ erfasst im Grunde nur einen einzelnen unter mehreren Bedeutungsaspekten dieses viel umfassender angelegten Zentralbegriffs, der eigentlich treffender und präziser mit „Selbstregierung“ übersetzt werden müsste.1 Die zweite Problematik des spezifisch deutschen Verständnisses von „selfgovernment“ betrifft wiederum dessen Beschränkung auf die kommunale und lokale Verwaltung in England, also auf dasjenige, was auf der Insel mit dem hier eigentlich korrekten Ausdruck stets als „local government“ bezeichnet worden ist. Dabei bezieht sich der englische Begriff des „selfgovernment“ im umfassenden Sinne sowohl auf die Zentralregierung als auch auf die Lokalverwaltung: „Selbstregierung“ versteht * Die nachfolgenden Ausführungen enthalten den etwas erweiterten, auch um die Nachweise ergänzten Text meines am 11. März 2008 in Hofgeismar gehaltenen Vortrags. 1 Zur deutschen Wort- und Begriffsgeschichte vgl. Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 5 ff., 264 ff. u. a.; Bernd Wunder, ,Verwaltung‘, ,Bürokratie‘, ,Selbstverwaltung‘ und ,Beamter‘ seit 1800, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1978, S. 69 – 96, hier S. 80 – 85. – Auch im Englischen ist der Begriff jüngeren Datums; jedenfalls findet er sich noch nicht im Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen berühmten „Dictionary“ des Dr. Samuel Johnson; vgl. Samuel Johnson’s Dictionary of the English Language, ed. by Alexander Chalmers, London 1994, S. 649. – Zur Problematik der deutschen Übersetzung des Begriffs siehe auch die Bemerkungen bei Friedrich Darmstaedter, Ist das englische selfgovernment als Grundlage der deutschen Selbstverwaltung anzusehen?, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, hrsg. von Otto Bachof / Martin Drath / Otto Gönnenwein / Ernst Walz, München 1955, S. 535 – 548, hier bes. S. 536.

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sich hier als Gegenbegriff zum kontinentalen Staatsverständnis, damit zu einer Regierungsweise, in der (jedenfalls nach älterer Auffassung) Staat und Gesellschaft einander schroff gegenüberstehen, während nach dem Prinzip des „selfgovernment“ der Bürger sich selbst regiert, und zwar ebenso im zentralen Parlament und der aus diesem sich herausbildenden Regierung wie auch – auf der lokalen und kommunalen Ebene – in der Form des freiwillig übernommenen und ausgeübten Ehrenamtes. Wirft man einen Blick in die neueste staats- und verfassungsrechtliche Literatur Großbritanniens, dann stellt man rasch fest, dass darin das früher so oft dominierende Eigenlob der vermeintlichen oder auch wirklichen Vorzüge des „local selfgovernment“ als Ausprägung eines bestimmten „public spirit“ und damit auch als eines der tragenden Fundamente der traditionellen britischen Freiheiten2 so gut wie verschwunden ist. Der Verfassungsrechtler Ian Loveland etwa streicht in seinem „Constitutional Law“ von 1996 zwar noch das Phänomen des „localism“ als historisch besonders wichtiges Element der englischen politischen Kultur heraus – doch letztlich nur deshalb, um die in verfassungsrechtlicher Hinsicht keineswegs immer unproblematische Vermittlung zwischen den beiden Regierungsebenen, eben der zentralen und der lokalen, als ein Hauptproblem der neueren englischen Verfassungsgeschichte zu betonen.3 – Der Verfassungshistoriker Philip Harling betont zwar, dass die um und nach 1800 ständig vorkommende Berufung auf die traditionellen, scheinbar historisch bewährten Formen des „local self-government“ und seiner Freiheiten gegenüber der Regierungsmacht mit dazu beigetragen haben, ein im Lande allgemein wenig erwünschtes starkes Anwachsen der Londoner Zentralregierung und deren Eingriffe in das soziale Leben einzudämmen, dass aber andererseits die alten Formen der ländlichen oder städtischen „Selbstregierung“ bereits im 18. Jahrhundert stark oligarchische und selbstbezogene, institutionell verkrustete und daher in jedem Fall überholte Strukturen aufwiesen.4 Und der Politikwissenschaftler Anthony King beschwört in seinem 2007 erschienenen Werk „The British Constitution“, dessen siebentes Kapitel der Lokalverwaltung gewidmet ist, nur noch (so die Überschrift) „The Ghost of 2 Siehe etwa noch die Bemerkungen von George Macaulay Trevelyan, British History in the Nineteenth Century and After (1782 – 1919) (zuerst 1929), Harmondsworth 1965, S. 38 f. 3 Vgl. Ian Loveland, Constitutional Law. A Critical Introduction, London, Dublin, Edinburgh 1996, S. 388 ff. 4 Vgl. Philip Harling, The Modern British State. An Historical Introduction, Cambridge 2001, S. 108 ff.; der Autor bezieht seine Kritik vor allem auf die älteren Formen der Stadtregierung; vgl. ebd., S. 109: „For in too many cases, the traditional unit of town government, the borough corporation, was a self-selected group of oligarchs who were more interested in doling out local patronage than in improving local amenities.“

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Local Government“, und er bemüht sich ebenfalls darum, das Bild der einst nicht nur in England selbst so gerühmten Vorbildlichkeit dieses traditionellen Selbstverwaltungssystems nach Kräften zu entzaubern. Die seit dem 19. Jahrhundert periodisch immer wieder unternommenen Reformen des local government erscheinen in seiner Perspektive als in jedem Fall notwendige, wenn auch oft nicht ausreichende Maßnahmen, um dessen traditioneller Desorganisation und Ineffizienz, dessen oft geübter Nachlässigkeit im Umgang mit finanziellen Ressourcen, genauer gesagt: dessen Verschwendungssucht, in einzelnen Fällen auch dessen korrupten Strukturen nachhaltig entgegenzutreten.5 Und diesem heute eher kritischen Bild entspricht es wohl auch, dass seit den großen, in gewisser Weise klassischen Darstellungen der Geschichte des local government von Sidney und Beatrice Webb aus radikaldemokratisch-sozialistischer Perspektive6 und von Sir William Searle Holdsworth aus konservativem Blickwinkel7, die beide in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben worden sind, keine auf grundlegend neuen Forschungen beruhenden Gesamtdarstellungen mehr verfasst worden sind.8 Um das Doppelthema des englischen local selfgovernment einerseits und dessen deutscher Rezeption während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts andererseits etwas genauer in den Blick zu bekommen, gliedern sich die folgenden Ausführungen in zwei Hauptteile: der erste soll einem Abriss der Entwicklung des englischen local government in seinen zentralen Aspekten gewidmet sein, während der zweite Teil einige besonders wichtig deutsche Autoren knapp in den Blick nehmen wird, die sich zwischen dem frühen 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert mit diesem Thema eingehend befasst haben. Es handelt sich (immer pars pro toto ver5

Vgl. Anthony King, The British Constitution, Oxford 2007, S. 151 – 177. Sidney Webb / Beatrice Webb, The Development of English Local Government 1689 – 1835, London 1963; ausführliche Fassung: Sidney Webb / Beatrice Webb, English Local Government, Bde. 1 – 11, London 1903 – 1929, Ndr. London 1963. 7 William Searle Holdsworth, A History of English Law, Bde. 1 – 17, London 1966 – 1972, hier Bd. 6, S. 55 – 66, Bd. 10, S. 126 – 339, Bd. 14, S. 204 – 256. 8 Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert dagegen ist das Thema von britischen wie auch deutschen Autoren (von letzteren jedenfalls bis 1914) immer wieder aufs Neue abgehandelt worden; es fehlt in keiner größeren oder kleineren Übersicht über die Institutionen der modernen britischen Verfassung und Verwaltung; siehe etwa, pars pro toto, Homersham Cox, The Institutions of the English Government, London 1863, S. 725 – 737; Frederick Wicks, Britische Verfassung und Verwaltung, Leipzig 1909, S. 164 – 171; A. Lawrence Lowell, Die englische Verfassung. Autorisierte deutsche Ausgabe, Bde. 1 – 2, Leipzig 1913, hier Bd. 2, S. 120 – 276; von deutschen Autoren seien hier genannt: Eduard Fischel, Die Verfassung Englands, 2. Aufl. Berlin 1864, S. 256 – 356; Gustav Wendt, England – seine Geschichte, Verfassung und staatlichen Einrichtungen, Leipzig 1892, S. 158 – 172; Fritz Simon, Englische Stadtverwaltung. Eine Studie, Berlin, Leipzig 1911. – Zu den grundlegenden Arbeiten von Gneist, Hatschek und Redlich siehe die Ausführungen unten in Abschnitt II. 6

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standen) um: Ludwig von Vincke, Rudolf Gneist, Heinrich von Treitschke, Lorenz von Stein, Georg Jellinek, Julius Hatschek, Josef Redlich und Hugo Preuß. Damit soll zugleich eine Antwort auf die Frage versucht werden, warum Idee und Begriff des „selfgovernment“ im Rechtsdenken und im politischen Bewusstsein Deutschlands in jener Zeit eine derart große Resonanz gefunden haben. I. Am Anfang des englischen local selfgovernment steht die uralte, wohl in die vornormannische Zeit zurückgehende und von den Normannen nach 1066 klugerweise übernommene, nur weiter ausgebaute und differenzierte regionale Einteilung des Landes in die Grafschaften (counties), die bekanntlich bis heute in ihren wesentlichen Grundzügen bestehen geblieben ist.9 Zu ihren wichtigsten Funktionen als unterer Verwaltungseinheit zählen, z. T. bereits seit normannischer Zeit, die Erhebung und Eintreibung der lokalen Steuern, die Organisation des Gerichtswesens, die Aushebung der Miliz und nicht zuletzt die „Friedenswahrung“, also die Ausübung der Polizeigewalt. Später kam für die counties die besonders wichtige Bedeutung als Wahlkörper für das Unterhaus hinzu – hier allerdings neben und in Konkurrenz zu den ebenfalls entsendungsberechtigten Städten und Marktflecken (boroughs). Die eigentlich tragenden Institutionen im Rahmen eben jener counties haben sich erst nach und nach herausgebildet. Am Anfang stand der jeweils vom König ernannte und entsandte Sheriff als oberstes Organ der monarchischen Gewalt in jeder Grafschaft, der nicht nur die Verwaltung unter seiner Kontrolle hatte, sondern auch (im Bereich der niederen Gerichtsbarkeit) richterliche Funktionen wahrnahm. Als „the keeper of the King’s peace“ nahm er unbestritten den Rang eines „first man in his county“10 ein. Doch mit der Zeit verlor dieses Amt seine ursprünglich große Bedeutung: zum einen durch die Tätigkeit der sog. „reisenden Richter“ des Königs, die regelmäßig durch das Land fuhren und zu bestimmten, genau festgesetz9 Einen vorzüglichen Überblick über die Geschichte des älteren local government vermittelt immer noch das (noch nach dem Zweiten Weltkrieg nachgedruckte) Standardwerk von Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria, München, Berlin 1913, S. 254 – 274, 472 – 499, 681 – 706; sodann David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, 9. Aufl. New York, London 1969, S. 126 – 129, 312 – 316, 391 – 394, 422 f. u. a.; Kingsley Brice Smellie, A History of Local Government, London 1968; die Entwicklung besonders seit dem 18. Jahrhundert beleuchten kenntnisreich Bryan Keith-Lucas, The Unreformed Local Government System, London 1980 (dort auch S. 156 ff. eine gute Forschungsbibliographie), und David Eastwood, Government and Community in the British Provinces, 1700 – 1870, Basingstoke 1997. 10 Keith-Lucas, The Unreformed Local Government System (FN 9), S. 46; vgl. auch Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 93 ff., 255 ff.

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ten Terminen Gerichtsverhandlungen abzuhalten hatten („Gerichtstage“)11, freilich unter Beteiligung einer Jury, die sich aus Einheimischen zusammensetzten musste.12 Und zum anderen entstand seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert ein neues Amt, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die englische Lokalverwaltung in den Grafschaften dominieren sollte: der Justice of the peace (Friedensrichter), dem es im Laufe der Jahrhunderte gelang, den Sheriff gewissermaßen zu einem untergeordneten Organ der lokalen Justizverwaltung zu degradieren.13 Wie der Sheriff wurde auch der Justice of the Peace vom König – bzw. später in dessen Auftrag vom Lordkanzler – ernannt, doch der zentrale Unterschied bestand erstens darin, dass es sich beim Friedensrichter um ein unbesoldetes, freilich überaus einflussreiches Ehrenamt handelte, und zweitens, dass dieses Amt ausschließlich von einer in der Grafschaft selbst ansässigen Persönlichkeit mit nicht unerheblichem Privatvermögen und nach Möglichkeit auch unbestrittenem öffentlichem Ansehen ausgeübt werden sollte. Erst im 18. Jahrhundert wurde auch gesetzlich festgelegt, dass ein Friedensrichter über einen Besitz verfügen musste, dessen Reinertrag ihm nicht weniger als 100 Pfund Sterling im Jahr einbrachte14, d. h. ein Friedensrichter musste in jedem Fall finanziell unabhängig sein – das Prinzip der „property qualification“15 war entscheidend. Und das bedeutete wiederum: Auf dem Lande kam für dieses Amt in der Regel kaum jemand anderer in Frage als ein Angehöriger des ortsansässigen niederen Adels, also der Gentry. Die Tatsache, dass die Angehörigen gerade jener Schicht des „landed interest“, des großen Grundbesitzes16 einen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein reichenden, in jedem Fall überproportional starken Einfluss auf die britische Verfassungsentwicklung und Politik ausgeübt haben, hängt eben hiermit ursprünglich zusammen, denn als oberste Verwaltungsbeamte einer Grafschaft waren die Friedensrichter nicht zuletzt auch für die Organisation der Parlamentswahlen zuständig, und die diversen Möglichkeiten der indirekten oder auch direkten Wahlbeeinflussung, die ihnen hierbei zur Verfügung standen, haben sie in aller Regel ohne zu zögern (und mit keineswegs geringen Erfolgen) regelmäßig genutzt.17 11

Vgl. Ernst J. Cohn, Der englische Gerichtstag, Köln 1956. Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 283 13 Erschöpfend und in jeder Hinsicht grundlegend hierzu: Thomas Skyrme, History of the Justices of the Peace, Chichester 1994; vgl. ebenfalls Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 476 ff.; Keir, The Constitutional History of Modern Britain (FN 9), S. 312 ff., 391 ff.; Holdsworth, A History of English Law (FN 7), Bd. 10, S. 128 ff. 14 Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 685. 15 Vgl. Webb/Webb, The Development of English Local Government (FN 6), S. 53 ff. 16 Vgl. dazu Gottfried Niedhart, Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S. 39 ff. 12

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Diese regionale Selbstverwaltungsordnung hat während der frühen Neuzeit in Großbritannien im großen und ganzen relativ gut funktioniert, gerade weil der Justice of the Peace sich als wichtiges Scharnier zwischen lokaler und zentraler Regierungsgewalt bewährte. Seine Aufgaben im engeren Sinne waren freilich, wenn man von der Wahlorganisation einmal absieht, so gut wie ausschließlich lokaler Natur: die Rechtspflege, die Polizeiaufsicht und die allgemeinen Verwaltungsgeschäfte standen dabei stets im Vordergrund18. Was das Erstgenannte anbetrifft, konnten jeweils zwei Friedensrichter kleinere und Bagatelldelikte selbst aburteilen, in der Form der sog. „petty session“19; zur Verhandlung größerer Delikte oder Verbrechen traten jedes Vierteljahr zu feststehenden Terminen alle Friedensrichter einer Grafschaft zu den sog. „quarter sessions“ zusammen20; besonders schwere Kapitalverbrechen wurden weiterhin von den königlichen reisenden Richtern abgeurteilt, beide Male jeweils unter Hinzuziehung der Jury. Die zu den quarter sessions zusammen getretenen Friedensrichter – „undisputed rulers oft the countryside“21, wie man sie treffend genannt hat – verfügten ebenfalls über das Recht, Verordnungen für die Grafschaft zu erlassen. Schließlich führte der Friedensrichter die Aufsicht über die wenigen kommunalen Ämter der Grafschaft, die in der Regel ebenfalls Ehrenämter waren22: zuerst seien genannt die Konstabler, also die ehrenamtlichen Polizeibeamten der Grafschaften, die für jeweils zwei Jahre ernannt wurden, sodann die sog. Wegeaufseher (surveyors) und die Armenaufseher (overseers of the poor). Eine deutlich angesehenere Stellung nahm innerhalb der counties jeweils der Lord-Lieutenant ein, der für die Aushebung der Miliz und damit für die Organisation des Militärwesens innerhalb der jeweiligen Grafschaft zuständig war; hierbei handelte es sich ebenfalls um ein Ehrenamt, das nur an besonders angesehene und sehr wohlhabende Persönlich17 Dazu vor allem (mit anschauliche Beispielen) Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), S. 422 ff.; zum historischen Zusammenhang siehe auch J. Steven Watson, The Reign of George III 1760 – 1815, 6. Aufl. Oxford 1985, 43 – 48, und Llewellyn Woodward, The Age of Reform 1815 – 1870, 6. Aufl. Oxford 1985, S. 457 f. 18 Vgl. Keir, The Constitutional History of Modern Britain (FN 9), 312 f.; Holdsworth, A History of English Law (FN 7), Bd. 10, S. 160 ff. 19 Vgl. Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), 487 ff.; Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 479. 20 Vgl. Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), S. 458 ff.; Keir, The Constitutional History of Modern Britain (FN 9), S. 312; knapp: Frederic W. Maitland / Francis C. Montague, A Sketch of English Legal History, New York, London 1915, S. 174. 21 Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), S. 409. 22 Dazu vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 692 ff.; KeithLucas, The Unreformed Local Government System (FN 9), S. 88 f. u. a.; neuerdings auch (für das frühe 19. Jahrhundert) Boyd Hilton, A Mad, Bad and Dangerous People? England 1783 – 1846, Oxford 2006, S. 162 ff.

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keiten vergeben wurde. Die Friedensrichter erreichten den Höhepunkt ihres Ansehens und Einflusses während des 18. Jahrhunderts, und das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie innerhalb ihres Bereichs sowohl als Einzelne als auch in der Mehrzahl, d. h. in der Form eines einheitlichen „body“, agieren und tätig werden konnten.23 Die Grafschaften blieben für lange Zeit noch vor den Städten die wichtigste kommunale Verwaltungseinheit, was nicht zuletzt mit dem allgemeinpolitischen Anspruch der Gentry und überhaupt des im allgemeinen wohl organisierten „landed interest“ zusammenhing. Die Städte verwalteten sich zwar selbst24, doch zumeist in einer nur noch wenig effektiven, an alte Traditionen und jahrhundertelang geübte Bräuche anknüpfenden Weise, die in mehr als einer Hinsicht denen des älteren deutschen Städtewesens ähnelten.25 Auch hier waren es städtische Oligarchien, die in der Form traditioneller Klientelsysteme funktionierten, organisiert nach den Prinzipien der „Self-election or Co-option“26, und die in der Regel bestrebt waren, zuerst die Eigeninteressen einer kleinen ortsansässigen Oberschicht zu bedienen. Sofern es sich nicht um traditionelle städtische Patrizier handelte, haben hier neben den Handwerkerinnungen vor allem die Handels- und Kaufmannsgilden eine besonders wichtige und einflussreiche Rolle gespielt. An der Spitze der Stadt stand jeweils ein Angehöriger dieser städtischen Oligarchie als „mayor“, „bailiff“ oder „portreeve“ – zuweilen waren es auch jeweils zwei. Ihm (bzw. ihnen) zur Seite stand ein nicht etwa gewählter, sondern aus besonderen Vertrauensleuten zusammengesetzter, sich in der Regel durch Kooptation ergänzender „common council“, aus dem der Bürgermeister wiederum die „aldermen“ (zuweilen auch „mayors peers“ oder „mayors brethren“ genannt) rekrutierte, die ihm bei der Regierung und Verwaltung der Stadt zur Seite standen.27 23 Vgl. Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), S. 410: „The influence which the justices were able to exert in all quarters was enhanced by the fact that they now operated as a body – albeit one that was often divided between political parties – instead of as eminent individuals, which had been characteristic of earlier periods. The justices’ unfettered authority, together with further additions to their powers and functions and an extension of their influence on national affairs, all contributed to mark the eighteenth century as the period in which they reached their zenith, and throughout the century they jealously insisted upon the retention of this unique position.“ 24 Vgl. hierzu und zum folgenden Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 485 ff., 696 ff.; Keith-Lucas, The Unreformed Local Government System (FN 9), S. 15 ff. 25 Wobei allerdings, worauf Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 696, hingewiesen hat, das grundlegende Faktum zu berücksichtigen ist, dass die alten deutschen Reichsstädte „der Reichsgewalt nebengeordnet“, die englischen Städte hingegen „stets dem Staate eingeordnet“ gewesen sind. 26 Vgl. Webb / Webb, The Development of English Local Government (FN 6), S. 31 – 38.

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Die Defizite dieses überkommenen kommunalen Verwaltungssystems der counties und boroughs begannen sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts immer deutlicher zu zeigen.28 Vor allem waren es zwei Probleme, die sich nach und nach krisenhaft zuzuspitzen begannen und die beide unmittelbar mit dem stark ansteigenden Bevölkerungswachstum der Epoche zusammenhingen: zum einen das bereits während des gesamten 18. Jahrhunderts akute und sehr ernste Problem der vermehrten Kriminalität und der mangelhaften Verbrechensbekämpfung29 – von dem nicht zuletzt die Reiseberichte kontinentaler Besucher Zeugnis ablegen30 –, und zum anderen das sich langsam herausbildende Phänomen der Verarmung, ja der Proletarisierung breiter Bevölkerungsschichten als Folge der in dieser Zeit beginnenden Industriellen Revolution.31 Beiden Problemen konnte auf dem traditionellen Wege einer ausschließlich ehrenamtlich organisierten Armenfürsorge in den counties bzw. der Tätigkeit ebenfalls ehrenamtlicher Konstabler als Wahrer der öffentlichen Ordnung unter Aufsicht der Friedensrichter in der Regel nur noch unzureichend oder auch gar nicht mehr begegnet werden. In der – seit jeher einen verwaltungstechnischen Sonderfall darstellenden – Hauptstadt London32, wo sich die beiden Problemlagen jeweils überkreuzten und kumulierten, musste man bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingreifen.33 Die beiden eigentlichen Kerngemeinden der Stadt, die City of London und die City of Westminster, konnten der Kriminalität und des Armutsproblems ebenso wenig mehr Herr werden wie die angrenzenden Counties, in welche die Hauptstadt seit zwei Jahrhunderten nach und nach hineingewachsen oder besser gesagt: hineingewuchert war. Hier wurde es schon 1792 notwenig, die Friedensrichter durch besoldete Polizeirichter zu ersetzen und – allerdings erst einige Jahrzehnte später, Ende der 1820er Jahre – auch eine eigene Polizei für die gesamte „Metropolis“ (wie das Gebiet von London in der Rechts- und Verwaltungssprache genannt wurde) einzurichten, um überhaupt die öffentliche Ordnung in der bereits damals 27 Vgl. auch Ernest Neville Williams, The Eighteenth Century Constitution 1688 – 1815. Documents and Commentary, Cambridge 1965, S. 256 – 324. 28 Vgl. besonders Eastwood, Government and Community in the British Provinces (FN 9), S. 121 ff., siehe ebenfalls Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 699 ff.; Keir, The Constitutional History of Modern Britain (FN 9), S. 392 f. 29 Aufschlussreich hierzu: Webb/Webb, The Development of English Local Government (FN 6), S. 83 ff. 30 Vgl. Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689 bis 1789, München 2006, S. 694 f. 31 Guter, zusammenfassender Überblick in dem Standardwerk von Asa Briggs, The Age of Improvement 1783 – 1867, Burnt Mill 1979, Kap. 1, 4 – 6, sowie bei Watson, The Reign of George III (FN 17), S. 503 – 549. 32 Vgl. dazu auch Williams, The Eighteenth Century Constitution (FN 27), S. 308 ff. 33 Vgl. Keir, The Constitutional History of Modern Britain (FN 9), 314 ff.; Watson, The Reign of George III (FN 17), S. 50 f.

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riesigen Hauptstadt aufrecht erhalten zu können.34 In den counties aber änderte sich vorerst noch nichts. Wohl gerade weil die höchst einflussreiche Stellung des Friedensrichters aufs engste mit der privilegierten Position der Gentry zusammenhing, wurde die Verfassung der counties im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert nicht weiter entwickelt. Erst in der Folge der ersten großen Wahlreform zum Unterhaus von 183235 ging man daran, den Reformstau im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung – sowohl in den Grafschaften wie in den Städten – nach und nach zu beseitigen36, nicht nur angesichts des inzwischen immens angewachsenen Problemdrucks, sondern wohl ebenfalls unter dem Eindruck der schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit Erfolg durchgeführten kontinentalen Verwaltungsreformen in Frankreich und in Deutschland37. Allerdings trifft die von manchen früheren deutschen Autoren aufgestellte Behauptung durchaus nicht zu, dass sich die Engländer bei der Planung und Vorbereitung der „municipal reform“ am direkten Vorbild etwa der preußischen Städteordnung orientiert hätten. Im Gegenteil: Man folgte stets der, wie man glaubte, bewährten Tradition einer vermeintlich organischen, auf Kontinuität hin angelegten Weiterentwicklung des eigenen Rechts, und man war ebenfalls – schon aus Gründen einer politischen Durchsetzbarkeit der Reformen – nachdrücklich darauf bedacht, möglichst viele der alten Ämter und Titel bestehen zu lassen, wenn auch mit teilweise deutlich veränderten Befugnissen, darunter etwa die städtischen „aldermen“ und besonders das vom konservativen Landadel zäh verteidigte, inzwischen uralte Amt des Friedensrichters. Die zentralen Reformen (sie können hier nur knapp gestreift werden) fanden statt in den Bereichen der Polizeiorganisation und des Justizwesens sowie vor allem auch bei der Armenfürsorge, die jetzt weitgehend zentralisiert und verstaatlicht, d. h. wesentlich von London aus organisiert wurde.38 34

Vgl. Woodward, The Age of Reform (FN 17), S. 465 f. Vgl. dazu statt vieler Michael Brock, The Great Reform Act, London 1973; fundierte Überblicke auch bei Woodward, The Age of Reform (FN 17), S. 52 – 98; Norman Gash, Aristocracy and People. Britain 1815 – 1860, London 1985, S. 129 – 155. 36 Vgl. als Überblick: Webb/Webb, The Development of English Local Government (FN 6), S. 68 – 190; grundlegende neuere Gesamtdarstellung für den ländlichen Bereich: David Eastwood, Governing Rural England. Tradition and Transformation in Local Government 1780 – 1840, Oxford 1994. 37 Vgl. hierzu für Deutschland statt vieler nur die fundierten Überblicke bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, 2. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1975, S. 172 – 183, sowie diverse Einzelbeiträge in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh, Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 42 f., 416 ff., 442 ff., 461 ff., 541 ff. u. a. – Zu Frankreich: Pierre Rosanvallon, Der Staat in Frankreich von 1789 bis in die Gegenwart, Münster 2000, passim. 35

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Die Städteordnung von 1835 („municipal corporations act“)39, mit der, wie wohl zu Recht gesagt worden ist, „die moderne Geschichte der englischen Stadt“ beginnt40, führte erstmals Stadtparlamente ein, die „town councils“, gewählt von allen steuerzahlenden Bürgern mit festem Wohnsitz am Ort. Gewählt wurden von den wahlberechtigten Bürgern jedoch nur zwei Drittel der Stadtverordneten (für jeweils drei Jahre), während ein Drittel wiederum (für jeweils sechs Jahre) von den Stadtverordneten selbst ausgewählt, also kooptiert wurde: dieses letzte Drittel bildete die eigentliche Stadtregierung, deren Angehörige den traditionellen Namen der „aldermen“ beibehielten. Der „mayor“ dagegen, der sich fortan weitgehend repräsentativen Zwecken zu widmen hatte, wurde vom town council aus dem Kreis der eigenen Mitglieder nur für jeweils ein Jahr gewählt, dabei handelte es sich in aller Regel um einen „alderman“.41 Die täglich anfallende Verwaltungsarbeit wurde vor allem von den Ausschüssen des Stadtrats geleitet (den „committees of the town council“); als mächtiger Verwaltungschef und Leiter der kommunalen Verwaltung fungierte jeweils der town clerk. Die Struktur der ländlichen Lokalverwaltung, deren Defizite sich nach 1815 immer deutlicher zeigten, wurde in den folgenden Jahrzehnten allerdings nur eher zögerlich reformiert42, was nicht zuletzt mit dem anhaltenden Widerstand des auf dem Lande immer noch politisch und sozial dominierenden Adels zusammenhing, der mit seiner starken Position im Oberhaus immer noch, wenn er wollte, jede entschiedene Reformmaßnahme blockieren konnte. Erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden mit der „local government act“ von 188843 auch die Grafschaftsversammlungen („county councils“) geschaffen, von denen die Grafschaftsverwal-

38 Allgemein zu den Verwaltungsreformen der 1830er Jahre und deren Ergebnissen: Eastwood, Government and Community (FN 9), S. 123 ff. und passim; Alan Alexander, Local Government in Britain since Reorganisation, London 1982; dazu auch eine ältere, immer noch wichtige Fallstudie: George Montagu Harris, Municipal SelfGovernment in Britain. A Study oft the Practice of Local Government in ten of the larger British cities, London 1939. 39 Im Auszug abgedruckt in: William Conrad Costin / John Steven Watson, The Law and Working of the Constitution: Documents 1660 – 1914, Bd. 2: 1784 – 1914, London 1964, S. 79 – 91. 40 Lowell, Die englische Verfassung (FN 8), Bd. 2, 135; vgl. ebenfalls Webb / Webb, The Development of English Local Government (FN 6), S. 141 ff. 41 Zur Städteordnung von 1835 siehe Holdsworth, A History of English Law (FN 7), Bd. 14, S. 230 ff.; daneben auch Keir, The Constitutional History (FN 9), S. 422f.; Woodward, The Age of Reform (FN 17), S. 459 ff.; Briggs, The Age of Improvement (FN 31), S. 275 f.; Harling, The Modern British State (FN 4), S. 109 f. 42 Vgl. Eastwood, Government and Community (FN 9), 102 ff. und passim; Holdsworth, A History of English Law (FN 7), Bd. 14, S. 208 ff. 43 Abdruck in: H. J. Hanham (Ed.), The Nineteenth-Century Constitution, 1815 – 1914. Documents and Commentary, Cambridge 1969, S. 390 – 396.

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tungsorgane fortan kontrolliert wurden.44 Daneben begann man verstärkt auch auf dem Lande mit dem Auf- und Ausbau eines staatlich besoldeten Beamtentums auf allen Verwaltungsebenen. Hinter diesen neuen Fachbeamten, vor allem in den Bereichen der öffentlichen Sicherheit und der sozialen Fürsorge, traten die Friedensrichter – auch angesichts der zunehmenden Komplexität der modernen Verwaltungsaufgaben – gegen Ende des Jahrhunderts in ihrer faktischen Bedeutung deutlich zurück.45 Als immer noch hoch angesehenes und überaus begehrtes lokales Ehrenamt mit nicht zu unterschätzendem öffentlichem Einfluss blieb die Institution des Justice of the Peace freilich auch weiterhin bestehen.46 Zwei charakteristische, nicht unproblematische Aspekte der Entwicklung des britischen local government, die beide den Aufbau einer modernen inneren Verwaltung seit dem frühen 19. Jahrhundert erschwert haben, seien in diesem Zusammenhang noch kurz genannt: Zum einen die – nicht zufällig von nichtenglischen Autoren thematisierte – Tatsache, dass im Gegensatz zum Kontinent eine mittlere Verwaltungsebene („Land“, Provinz, Departement) in Großbritannien immer gefehlt hat, was zu einer zeitweiligen starken Aufblähung eines zentralistischen Verwaltungsapparats in London und zu manchen Problemen und Reibungsverlusten zwischen local government einerseits und central government andererseits führen musste.47 Und zum anderen ist zu erwähnen, dass sich der moderne, in den 1830er Jahren beginnende britische Verwaltungsausbau, was seine (nicht eben wenigen) Kritiker anbetrifft, stets in einer doppelten Schusslinie befunden hat, denn neben den konservativen Verfechtern des alten, vermeintlich bewährten und in dieser Sicht auch kaum reformbedürftigen lokalen Verwaltungssystems befanden sich ebenfalls die radikalliberalen, d. h. besonders staatskritischen Verfechter der Idee des „voluntarism“, von denen das Prinzip der Selbstorganisation, der Privatinitiative sowie der lokalen und regionalen Selbsthilfe, besonders in den Bereichen des Sozialen und der Bildung, vertreten wurde, und die in der Ausweitung des Beamtentums sowie darüber hinaus in jeder Art von intensivierter Staatstätigkeit überhaupt wenigstens eine latente Bedrohung sowohl der politischen Freiheiten der Engländer

44 Zusammenfassend hierzu Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bde. 1 – 2, Tübingen 1905 – 1906, hier Bd. 2, S. 410 – 444. 45 Vgl. zum Zusammenhang auch Robert C. K. Ensor, England 1870 – 1914, Oxford 1985, S. 293 ff., der feststellt: „The substitution of elected county councils for the ancient administration of the counties by the justices of the peace . . . was a substitution of the democratic for the aristocratic principle“ (ebd., S. 294 f.); vgl. auch Clifford Pearce, The Machinery of Change in Local Government 1888 – 1974, London 1980, S. 5 ff. 46 Vgl. Skyrme, History of the Justices of the Peace (FN 13), S. 668 ff. 47 Vgl. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 153.

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wie auch des Rechts auf eine möglichst freie, von staatlichen Regelungen weder eingeschränkte noch behinderte Wirtschaftstätigkeit erkennen zu können meinten.48 II. Es mutet auf den ersten Blick merkwürdig an, dass von deutscher Seite das traditionelle englische local selfgovernment erst dann entdeckt wurde, als sich um und nach 1800 bereits dessen allgemeiner Niedergang, ja dessen Ende am Horizont abzuzeichnen begann.49 Hierbei kam nun mancherlei zusammen: die – jedenfalls außerhalb der Rheinbundstaaten vielfach vorhandene – Abneigung gegen den zeitweise fast übermächtigen Einfluss des neuen französischen Verwaltungssystems in Deutschland, sodann eine liberale Vorliebe für die traditionellen Freiheiten der politischen Verfassung Großbritanniens, ansatzweise wohl auch bereits die national-romantisch verbrämte Auffassung eines auf der Insel noch vorhandenen vermeintlich „stammverwandten“, d. h. auf altgermanischen Grundlagen aufbauenden Rechts- und Verwaltungssystems jenseits der auf dem Kontinent vorherrschenden römischen Rechtstradition. Als liberal gesinnter Verwaltungspraktiker hatte Ludwig von Vincke, nach 1815 langjähriger Oberpräsident der neuen preußischen Provinz Westfalen50, in den Jahren 1800 und 1807 Großbritannien zweimal bereist und sich hier mit den Grundlagen der englischen Lokalverwaltung vertraut ge48 Vgl. Harling, The Modern British State (FN 4), S. 93, sowie insgesamt dessen Charakterisierung des „Laissez-faire state“ in Großbritannien nach 1815, ebd., S. 71 ff. 49 Grundlegend hierzu: Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 98 ff. und passim; Annelise Mayer, England als politisches Vorbild und sein Einfluß auf die politische Entwicklung in Deutschland bis 1830. Phil. Diss. Freiburg i. Br. 1931, S. 35 ff.; vgl. ebenfalls (mit vielen Einzelhinweisen, aber auch einigen zeitbedingten Verzerrungen): Walter Jäger, England, das Selfgovernment und die Deutsche Selbstverwaltung. Diss. jur. Marburg 1939, bes. S. 12 – 41; knapp: Jürgen Reulecke, Selbstverwaltung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Ein Überblick, in: Kommunale Selbstverwaltung – Local Self-Government. Geschichte und Gegenwart im deutschbritischen Vergleich, hrsg. von Adolf M. Birke / Magnus Brechtken, München, New Providence, London, Paris 1996, S. 25 – 35. 50 Vgl. die ausführliche, leider unvollendete Biographie von Heinrich Kochendörffer, Vincke, Bde. 1 – 2, Soest 1932 – 1933; ebenfalls Ludger Graf von Westphalen, Der junge Vincke (1774 – 1809), Münster 1987; kurzer biographischer Absriss: Heide Barmeyer, Friedrich Ludwig Wilhelm Philipp Freiherr von Vincke (1774 – 1844), in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648 – 1945, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich / Helmut Neuhaus, Stuttgart, Berlin, Köln 1991, S. 116 – 120; zum Zusammenhang des Themas wichtig: Wilhelm Schulze-Marmeling, Schön und Vincke. Englische Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftseinflüsse in Preußen um 1800. Phil. Diss. (masch.), Münster 1950; derselbe, Englische Einflüsse auf die Ansichten Ludwig von Vinckes über Wirtschaft und Politik, in: Westfälische Zeitschrift 103 / 104 (1954), S. 164 – 193.

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macht.51 Seine knappe, 1808 entstandene Schrift „Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens“52 hat sein Freund Barthold Georg Niebuhr 1815 herausgegeben – mit einer Vorrede, in der sich die berühmte, später sehr häufig zitierte Bemerkung findet, „daß die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe“.53 Vinckes Schrift illustriert nun in gewisser Weise diese Niebuhrsche Sentenz, indem der erfahrene Staatsbeamte gerade die ehrenamtliche Lokalverwaltung als zentrales Fundament der britischen Freiheiten nachzuweisen versucht – mit durchaus kritischem Seitenblick auf die damaligen deutschen Verhältnisse.54 Ein besonderer Vorzug der Verwaltung auf dem Inselreich sei vor allem darin zu sehen, dass „die öffentlichen Beamten“ als „Mittelspersonen der brittischen Verwaltung zwischen dem Volke und dem Könige“55 fungierten. Und die Einrichtung des britischen Friedensrichters sei, wie er wörtlich sagt, „in aller Hinsicht vortrefflich und stellet vielleicht das allervollkommenste Institut dar, welches die Verfassung irgend eines Landes aufzuweisen vermöchte“.56 51 Vgl. Kochendörffer, Vincke (FN 50), Bd. 1, S. 96 ff., Bd. 2, S. 13 ff.; Schulze-Marmeling, Schön und Vincke (FN 50), S. 164 ff.; Ludger Graf von Westphalen, Stein und Vincke, Köln 1977, S. 28 ff. 52 Im folgenden zitiert nach der unveränderten 2. Auflage: Ludwig Freiherr von Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens, hrsg. von Barthold Georg Niebuhr, Berlin 1848. – Nicht zu verkennen ist, dass sich Vincke in nicht wenigen Einzelheiten auf eine (auch von ihm in den Fußnoten erwähnte) zeitgenössische deutsche Darstellung stützt: Theodor Schmalz, Staatsverfassung Großbritanniens, Halle 1806, siehe dazu auch Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760 – 1831) – Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration, Frankfurt am Main 1999, S. 428 – 442. 53 Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. III; siehe zum Zusammenhang auch die wichtigen Bemerkungen bei Gerrit Walther, Niebuhrs Forschung, Stuttgart 1993, S. 291, 475. 54 Vgl. Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. 5 f.: „Die brittische Verwaltung des Innern hat das Eigenthümliche, daß sie . . . nicht durch eigne immerwährende Einwirkung schreibender Regierungsgewalten, welche alles wissen, alles leiten und regeln wollen, den Zwischenbehörden jede Bewegung vorschreiben möchten, gehandhabt werden, sondern daß sie der eignen Einsicht und Thätigkeit der Einwohner eine große Masse von Geschäften überträgt, daß sie für alle übrigen nur wirkt durch die Abfassung von Gesetzen und allgemeinen Verfahrensregeln, durch Auswahl der zur Ausführung geeignetsten Männer, welche solche unentgeltlich als Nebensache bei ihrem eigentlichen Berufe verrichten, und daß sie die Kontrolle ihrer Amtsgeschäftigkeit und Pflichtmäßigkeit hauptsächlich dem Publikum überläßt“. – Vgl. zu dieser Schrift und deren zeitgenössischer Resonanz auch Mayer, England als politisches Vorbild (FN 49), S. 46 – 48; Wolfgang Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748 – 1914, Berlin 1995, S. 39 – 42; Kurt G. A. Jeserich, Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes 1800 – 1871, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte (FN 37), Bd. 2, S. 301 – 332, hier S. 309 f. 55 Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. 6. 56 Ebd., 45; den Hauptgrund hierfür sieht Vincke in den positiven Wirkungen des Ehrenamtes; vgl. ebd., S. 41 f.: „Die Unentgeltlichkeit des Amts ist es aber vornehm-

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Denn Selbstverwaltung auf der Grundlage ehrenamtlicher Tätigkeit führe, so ein weiterer zentraler Gedanke Vinckes, zur positiven Identifikation jedes politisch bewussten Bürgers mit dem eigenen Gemeinwesen und verhindere gleichzeitig eine Abschottung der Stände gegeneinander, wie sie auf dem Kontinent noch immer vorhanden sei; insofern lobt er ausdrücklich „das dem gemeinsten Engländer eigenthümliche Gefühl seiner Menschen- und Bürgerwürde, . . . den Nazionalstolz, . . . den eingewöhnten Sinn für Rechtlichkeit und Billigkeit, die allgemeine Gutmüthigkeit“57, die ihn nicht zuletzt dazu führe, mit manchen unbestreitbaren Mängeln der öffentlichen Verwaltung seines Landes sachlich und vernünftig umzugehen. Auch das englische Rechtssystem, als dessen integraler Bestandteil die Jury angesehen werden müsse, mache „die Sache des geringsten Mitbürgers zur Sache aller“.58 Dieser Bürgergeist des freien Engländers verbinde sich nun in vorteilhaftester Weise zugleich mit einem „Geist des ächten kräftigen Patriotismus und der wahren thätigen Humanität, welcher die Britten vor allen andern Nazionen so rühmlich auszeichnet“.59 Genau hierin sieht Vincke den – auch und gerade für die Deutschen – vorbildlichen Charakter des englischen selfgovernment, während er an anderer Stelle allerdings die (von ihm nur knapp gestreifte) städtische Verwaltung des Inselreichs als durchaus verbesserungsbedürftig kennzeichnet.60 Doch in seiner Schrift überwiegt klar der überaus positive Eindruck. Freilich handelte es sich, was in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden darf, bei Vinckes keineswegs zufällig im Jahr 1808 entstandener Schrift selbstverständlich nicht um eine sachlich angelegte, vermeintlich leidenschaftslose Darstellung ihres Gegenstandes, sondern um einen im zeitgeschichtlichen Kontext eminent politischen Text, der, wie schon der Herausgeber Niebuhr sehr genau erkannte, „dem französisch-westphälischen Verwaltungssystem den Krieg auf eine gar nicht zu verhehlende Weise ankündigte“.61 Diesen Zweck hat die Schrift noch in der Rückschau ihres Erscheinungsjahrs und auch später durchaus erfüllt, denn alle Kritiker des lich, welche den Friedensrichtern ein so großes Ansehen und eine Autorität giebt, wie sie wohl den Richtern in keinem andern Lande genießen mögen, wie denn auch in keinem Lande der Gehorsam gegen das Gesetz so fest begründet ist, dem Gesetze und dessen Dienern so unwidersprochene augenblickliche Folge geleistet wird, als in Großbritannien“; vgl. dazu auch Schulze-Marmeling, Schön und Vincke (FN 50), S. 181 f., 185 f. 57 Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. 56; vgl. Schulze-Marmeling, Schön und Vincke (FN 50), S. 173 f. 58 Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. 44. 59 Ebd., S. 88. 60 Vgl. dazu die Ausführungen ebd., S. 71 ff.; vgl. auch Schulze-Marmeling, Schön und Vincke (FN 50), S. 169 f. 61 Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens (FN 52), S. III (Vorrede Niebuhrs).

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französisch geprägten Verwaltungssystems der ehemaligen Rheinbundstaaten konnten sich fortan auf Vincke berufen. Aber ebenfalls darf nicht übersehen werden, dass der Autor mit seiner Darstellung der „innern Verwaltung“ Großbritanniens allenfalls einen weit positionierten Orientierungsrahmen für deutsche Reformbemühungen dieser Zeit lieferte, denn auch Vincke war sich selbstverständlich, wie er in seiner Schrift gleich mehrfach betont, im Klaren darüber, dass die englische Verfassungs- und Verwaltungsordnung zwar „ein großes Meisterstück in der Sonderung und Mischung der Gewalten und der Einigung aller zum gemeinen Besten“ darstelle, dass sie andererseits aber auch „so an den Boden gewachsen ist, auf der Insel und an den Menschen haftet, daß es sich schwerlich nach andern übertragen und diesen gleich anpassen läßt“.62 Die Wirkungen dieser ersten deutschen Publikation über die englische Selbstverwaltung sind jedenfalls kaum zu überschätzen. Der für diesen Themenbereich zweifellos kompetenteste deutsche Autor, der sich nach Vincke mit dem englischen lokalen selfgovernment beschäftigt hat, war Rudolf Gneist63, der seine sehr umfang- und materialreiche, relativ schwerfällig und unübersichtlich geschriebene Gesamtdarstellung des modernen britischen Verfassungs- und Verwaltungssystems in nicht weniger als drei verschiedenen Fassungen (zwischen 1857 und 1871) herausgebracht64 und 1882 noch einmal im Rahmen seiner Gesamtdarstellung der englischen Verfassungsgeschichte in konzentrierter Form dargestellt hat.65 Auch Gneist 62 Ebd., S. 4 f.; vgl. ebenfalls S. 97 (zur Bedeutung der Insellage) und Niebuhrs entsprechende Bemerkungen in seiner Vorrede, ebd., S. VI f.; Von einem „Muster für Deutschland“, so jedenfalls Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, Leipzig 1927, S. 110, wird man wohl nicht sprechen können. 63 Guter, knapper Überblick zu Leben und Werk: Jan Schröder, Rudolf von Gneist (1816 – 1895), in: Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. Heidelberg 1989, S. 102 – 106, sowie bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: 1800 – 1914, München 1992, S. 385 – 388, sodann Eugen Schiffer, Rudolf von Gneist, Berlin 1929; neuerdings grundlegend: Erich J. Hahn, Rudolf von Gneist 1816 – 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, Frankfurt a. M. 1995. 64 Siehe dazu die genauen Angaben bei Hahn, Rudolf von Gneist (FN 63), S. 57 – 59, 278 f.; im folgenden wird Gneists „Englandwerk“ in der 2. und in der nochmals umgearbeiteten 3. Fassung zitiert: Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder des Selfgovernment, Bd. 1, Berlin 1863; derselbe: Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht in England, Berlin 1871. – Siehe hierzu auch Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 372 – 403; Reinhard J. Lamer, Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie im Zeitalter Bismarcks (1857 – 1890), Lübeck, Hamburg 1963, S. 81 – 89; Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht (FN 54), S. 80 – 88. 65 Rudolf Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882; eine gewissermaßen populäre Fassung dieses umfangreichen Werkes stellt dar: Rudolf Gneist,

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war Liberaler, nach 1848 – neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Berlin – viele Jahre Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus, und auch er schrieb (wie er selbst immer wieder betont hat) seine wissenschaftlichen Werke zugleich mit Blick auf aktuelle politische Entwicklungen in Deutschland und auf die – wenngleich auch nach seiner Auffassung nur begrenzten – Möglichkeiten einer positiven Rezeption bestimmter englischer Rechtsund Verwaltungsformen.66 Tief geprägt durch Hegel und besonders durch die Ideen seines Zeit- und Generationsgenossen Lorenz von Stein über die Differenz von Staat und Gesellschaft67 hat Gneist im englischen Rechts- und Verwaltungssystem, dessen Kern er wie Vincke im „Selfgovernment“ erblicken zu können meinte68, die Möglichkeit einer besonders engen Verbindung von Staat und Gesellschaft gesehen. Er definiert das selfgovernment geradezu als einen „staatlichen Gegenorganismus“ (gemeint ist: zum „Organismus“ der Gesellschaft), „welcher die gesellschaftlichen Interessen sich unterordnet, vereinigt, und in steter Uebung den Menschen zur Erfüllung seiner staatlichen Pflichten zwingt und gewöhnt. Staat und Gesellschaft müssen erst von unten herauf in ihren einzelnen Gliedern zusammenhängend und dauernd (organisch) verbunden sein, um einem Volk die Fähigkeit der Selbstregierung, die ,Freiheit in der Ordnung‘ zu geben“.69 In eben diesem Sinne sei, historisch betrachtet, das Das englische Parlament in tausendjährigen Wandelungen vom 9. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 1886. 66 Besonders aufschlussreich hierzu ist sein Vorwort in: Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (FN 65), S. III – VII. 67 Vgl. Hahn, Rudolf von Gneist (FN 63), S. 59 – 64; zur Sache siehe u. a. die ältere, sehr ertragreiche Darstellung von Paul Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff und seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz Stein, Marx, Engels und Lassalle, Berlin 1925, S. 55 – 207. 68 Auf die, wie er sagt, „vortreffliche kleine Denkschrift des Freiherrn von Vincke“ hat sich Gneist denn auch ausdrücklich berufen: Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung (FN 64), S. II („Vorrede zur ersten Auflage“ von 1859). 69 Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht (FN 64), S. 881.; vor allem drei fundamentale Leistungen vollbringt nach Gneist dieser „Gegenorganismus“ selfgovernment, ebd., S. 881 f.: „Es vertheilt die zur Ausführung der innern Ordnung des Staats nothwendigen persönlichen Pflichten und Lasten nach der Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Klassen. – Es gruppirt die persönlichen Pflichten und Geldaufwendungen nach der Natur der örtlich thätigen Staatsgewalt zu Kreis- und Gemeindeverbänden als Träger gesetzlich geordneter Staatsfunktionen. – Es wandelt die aus dem Mittelalter hervorgegangenen ständischen Verbände und Genossenschaften, welche noch ihre eigenen Interessen wahrnehmen, . . . in ein System von ,Verwaltungsgemeinden‘, d. h. Pflichtgenossenschaften, deren Funktionen . . . durch gesetzliche Normativbestimmungen geregelt sind, und die in dieser Unterordnung unter die Gesetzgebung und die staatswirthschaftlichen Grundsätze der Gesammtheit die höhere Form der Communalfreiheiten im heutigen Staat darstellen“. Vgl. auch Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (FN 65), S. 643 ff.

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selfgovernment sowohl „die Grundlage der Ständebildung“ und etwas später ebenfalls „die Grundlage der Parlamentsverfassung geworden“70, denn – und das ist entscheidend für Gneist – „auf dem Boden der staatlich gegliederten Ordnung der Gesellschaft beruht die Parlamentsverfassung in ihrem Aufbau von unten nach oben“, d. h. von der ländlichen, ehrenamtlichen Selbstverwaltung auf der lokalen bis zur parlamentarisch verfassten Selbstregierung auf der zentralen Ebene. Das Ganze wiederum deutet er als ein System der Erziehung zu persönlicher und politischer Freiheit.71 Gerade das Ehrenamt, also die, wie Gneist sich ausdrückt, „gewohnheitsmäßige Selbstthätigkeit im Staatsberuf“ sei nichts Geringeres als „die schaffende Kraft, welche aus der Gesellschaft heraus das Bewußtsein erzeugt, daß die Gemeinschaft der Menschen über den Erwerb und Genuß, über die Bestrebungen und Interessen des Tages hinaus ein selbständiges und dauerndes Dasein im Staate haben muß“.72 Das bedeutet: Wahre Freiheit resultiert aus der – freilich staatlich geordneten und beaufsichtigten – Selbsttätigkeit des Bürgers, der den Staat als eine „sittliche Pflichtgenossenschaft im Ganzen wie im Einzelnen“73 auffassen muss. Die politischsoziale Entwicklung auf dem Kontinent deutet Gneist dagegen, wenn nicht als Fehlentwicklung, so doch als sich partiell wenigstens in bedenklichen Formen vollziehenden Staatsbildungsvorgang. Der Hauptgrund für viele der zentralen Verfassungsprobleme der Gegenwart (Gneist hat hier nicht zuletzt die von ihm persönlich aktiv miterlebte Revolution von 1848 im Blick)74 ist für ihn nichts anderes als „die Entwöhnung der höheren Stände von den persönlichen Lasten des Staatswesens, durch jene Arbeitstheilung im Staate, die wir den Absolutismus nennen“.75 In einer seiner frühen Schriften, einer wohl nicht zufällig im Jahr 1853 in Berlin gehaltenen Vortragsreihe über „Adel und Rittschaft in England“, hat er denn auch – mit unverkennbarem Blick auf die Verhältnisse im damaligen Preußen – den Adel indirekt aufgefordert, sich am englischen Beispiel zu orientieren, Pflichten innerhalb der Selbstverwaltung freiwillig zu übernehmen und auf diese Weise zur „Harmonie der Stände“ auch im modernen Staatswesen 70 Beide Zitate: Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht (FN 64), S. 884 f. 71 Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht (FN 64), S. 935; vgl. ebd.: „Das System der staatlichen Pflichten hat seit den Zeiten der Eroberung [gemeint ist der „Norman Conquest“ von 1066; H.-C. K.] die englische Gesellschaft umgestaltet, zur Selbstregierung und Selbstgesetzgebung herangebildet, zur persönlichen und politischen Freiheit erzogen“. 72 Ebd., S. 885. 73 Ebd., S. 1016. 74 Vgl. Hahn, Rudolf von Gneist (FN 63), S. 10 – 25. 75 Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht (FN 64), S. 886.

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beizutragen.76 Tatsächlich haben seine Vorschläge seinerzeit auch eine gewisse öffentliche Resonanz gefunden, auf konservativer ebenso wie auf liberaler Seite.77 Freilich hat Gneist die (von späteren Autoren zu Recht immer wieder kritisierte) Auffassung vertreten, dieses englische Staats- und Bürgerbewusstsein sei durch die Einrichtung des selfgovernment und der vom König ernannten Ehrenbeamten wie die Friedensrichter erst selbst geschaffen worden. Und aus diesem Grund hat er denn auch in seinen späteren Jahren die englischen Kommunalreformen seit den 1830er Jahren mit bitteren Formulierungen als Ruin des vermeintlich bewährten – von ihm letztendlich aber doch in der Rückschau idealisierten – altehrwürdigen selfgovernment in sehr deutlicher Weise kritisiert. Im Jahr 1871 konstatierte Gneist „eine Zerstörung des Gemeindelebens, eine völlige Auflösung von Kirchspiel und Stadtgemeinde . . . , – und in Wechselwirkung damit eine Auflösung des ganzen inneren Staatsbaus, welcher nur noch äußerlich verdeckt wird durch einige mühsam aufrecht erhaltene Institutionen, deren dünne Decke auch schon unterhöhlt ist“.78 Denn mit der Zerstörung des persönlichen Verbands der Gemeinde ende schließlich auch das so überaus notwendige allgemeine „Correctiv und die Ermäßigung der gesellschaftlichen Gegensätze und Interessenkämpfe“; die moderne „Parteiregierung“ falle damit letztendlich „in hülflose Abhängigkeit von unberechenbaren Combinationen gesellschaftlicher Interessen, von den stärksten Vorurtheilen, von politischer Agitation und tactischen Künsten der Parteibewegung, deren ebenso wirkungs- wie wechselvolles Organ die Tagespresse geworden ist“.79 Auf den Spuren Gneists wandelte anfangs ebenfalls – auch wenn er keineswegs alle von dessen Wegen mitzugehen bereit war – der junge Heinrich von Treitschke.80 Ausgehend von seinem Grundinteresse an der zeitgenös76 Vgl. Rudolf Gneist, Adel und Ritterschaft und England, Berlin 1853, hier S. 36, 91; vgl. dazu auch Hahn, Rudolf von Gneist (FN 63), S. 53 ff., 57. 77 Vgl. Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Bde. 1 – 2, Göttingen 1994, hier Bd. 1, S. 248 f., Bd. 2, S. 566. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch die anonym erschienene, sich ausdrücklich auf Gneists Arbeiten berufende Flugschrift: Ueber das selfgovernment in England und in Preußen. Von einem ehemaligen preußischen Staatsbeamten, Erlangen 1858. 78 Gneist, Selfgovernment, Communalverfassung und Verwaltungsgericht (FN 64), S. VI (Vorrede); vgl. auch das zutiefst pessimistische Fazit am Ende seiner 1882 publizierten Verfassungsgeschichte: Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (FN 65), S. 722 ff.; ebenso: Gneist, Das englische Parlament (FN 65), S. 394 ff.; siehe dazu und zum Zusammenhang auch Lamer, Der englische Parlamentarismus in der deutschen politischen Theorie (FN 64), S. 85 ff. 79 Gneist, Englische Verfassungsgeschichte (FN 65), S. 723. 80 Noch immer grundlegend: Walter Bußmann, Treitschke – Sein Welt- und Geschichtsbild (1952), 2. Aufl. Göttingen, Zürich 1981; Andreas Dorpalen, Heinrich von

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sischen Erforschung und Einschätzung des (von ihm bereits in seiner Habilitationsschrift kritisch behandelten) Gegensatzes von Staat und Gesellschaft81 widmete er bereits seit Ende der 1850er Jahre den ersten Fassungen des Gneistschen Englandwerks zwei umfangreiche und sehr eingehende Rezensionsessays in den „Preußischen Jahrbüchern“.82 Er hatte sogleich die Bedeutung der Publikationen des achtzehn Jahre älteren Juristen erkannt, und er konnte 1859 den zweiten Band von Gneists englischem Staatsrecht in einem Brief sogar als „die gediegenste politische Schrift, die seit 10 Jahren in Deutschland erschienen ist“83, bezeichnen. Freilich waren ihm von Anfang an auch die unbestreitbaren Defizite der Gneistschen Publikation bewusst: die viel zu umfangreiche (mehr als eintausend Druckseiten umfassende) und im Detail wenig leserfreundlich geschriebene Form dieses Werkes. In seinem „politischen Aufsatz“ von 1860 beabsichtigte er ausdrücklich, eine lesbare Kurzfassung der Gneistschen Ideen für den politisch interessierten, aber nicht fachlich vorgebildeten zeitgenössischen Leser zu liefern, der, wie zu erwarten war, das in der vorliegenden Form so „schrecklich ungenießbare Werk“84 niemals im Original lesen würde. Treitschke sieht, hierbei einen zentralen Gedanken Gneists aufgreifend und weiterdenkend, die Bedeutung des lokalen selfgovernment vor allem in der Erziehung und Einbindung des Adels in die ehrenamtliche Staatstätigkeit auf der kommunalen Ebene, die ihn hierbei eben gerade nicht vom Bürgertum abschließe, sondern, im Gegenteil, ihn aufs engste mit jenem Treitschke, New Haven 1957; neueste Darstellung: Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998 (zu diesem Buch die Rezension des Verfassers in: Der Staat 39 [2000], S. 626 – 628). 81 Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch, Leipzig 1859. 82 Heinrich von Treitschke, Die Grundlagen der englischen Freiheit, in: derselbe, Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Martin Schiller, Bd. 4, Meersburg 1929, S. 732 – 746 (zuerst in: Preußische Jahrbücher 1 [1858], S. 366 – 381); derselbe, Das Selfgovernment, in: ebd., Bd. 4, S. 747 – 773 (zuerst in: Preußische Jahrbücher 6 [1860], S. 25 – 53); beide Texte werden im folgenden nach dem Abdruck von 1929 zitiert. 83 Heinrich von Treitschke, Briefe, hrsg. von Max Cornicelius, Bd. 2, 2. Aufl. Leipzig 1918, S. 68 (Treitschke an Wilhelm Nokk, 1. Januar 1860); vgl. auch ebd., Bd. 2, S. 72 (Treitschke an Julius Klee, 27. Januar 1860): „. . . ich glaube, eine dauerhafte Verbesserung des deutschen Staates wird nicht eher erreicht werden als bis die politischen Ideen dieses Buches [Gneists ,Selfgovernment‘ von 1859; H.-C. K.] zu Vorurtheilen der Masse geworden sind. Die tägliche Erfüllung ernster politischer Pflichten in Kreis und Gemeinde scheint mir das Einzige was uns den Bürgersinn des antiken Menschen einigermaßen ersetzen kann. Das schwere Buch ist mir so recht aus der Seele geschrieben: die systematische Entfremdung unsrer besten Köpfe vom politischen Wirken schien mir immer unnatürlich, und noch weniger konnte ich begreifen, daß man nur denen ein unabhängiges politisches Urtheil zuzutrauen pflegt, welche sich praktisch um den Staat nicht kümmern.“ 84 Die Zitate: Ebd., Bd. 2, S. 92 (Treitschke an seinen Vater, 29. Juli 1860). Vgl. auch die einführenden Bemerkungen in: Treitschke, Das Selfgovernment (FN 82), S. 747.

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verbinde – eben weil in Großbritanniens Verwaltungsordnung „alles auf die tätige Teilnahme der Staatsbürger berechnet“85 sei. So sei das alte britische Unterhaus, wie Treitschke sagt, „eine Vertretung von [lokalen!] Korporationen und ähnlichen Verbänden: aber nicht von Ständen, Berufs- und Besitzklassen, wie das kontinentale Ideal der Interessenvertretung verlangt, sondern von Gemeinden und Grafschaften, die alle sozialen Gegensätze umschließen und durch ein jahrhundertealtes Zusammenleben ausgeglichen haben“86. Der bei Treitschke noch deutlicher als bei Gneist bemerkbare Blick auf die preußische Gegenwart der beginnenden „Neuen Ära“ um 186087 drückt sich darin aus, dass er die staatsbildende Rolle der englischen „korporativen Gentry“ positiv herausstreicht, während er dagegen vor dem Hintergrund der englischen Entwicklung die historische Rolle des preußischen Adels mit recht scharfen Formulierungen kritisiert.88 Nur – und hierin besteht der Gegensatz zwischen Treitschke und Gneist – in der Beibehaltung einer ausschließlich ehrenamtlichen Kommunalverwaltung kann der Historiker im Gegensatz zum Juristen kein Vorbild für die eigene Zeit mehr erkennen; das alte englische selfgovernment hat nach Treitschkes Auffassung sozusagen seinen geschichtlichen Zweck erfüllt, begünstigt übrigens, wie er ausdrücklich betont, durch das Glück der gesicherten Insellage Britanniens.89 Auf dem Kontinent aber habe sich unter ganz anderen historischen Voraussetzungen das (von ihm deutlich positiver eingeschätzte) „monarchische Beamtentum“ geschichtlich bewährt, und im übrigen könne, wie er mit Blick auf die Bedürfnisse der Gegenwart feststellt, „die Beschaffung von notwendigen, für die Existenz der Gesamtheit unentbehrlichen Gütern . . . nimmermehr dem Belieben der Privaten anheimgegeben werden“.90 Insofern handele es sich beim selfgovernment zwar 85 Treitschke, Die Grundlagen der englischen Freiheit (FN 82), 739; vgl. dazu auch Andreas Dorpalen, Heinrich von Treitschke (FN 80), 42 – 44; Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke (FN 80), S. 165 – 177. 86 Treitschke, Die Grundlagen der englischen Freiheit (FN 82), S. 738 f. 87 Vgl. dazu Leo Haupts, Die liberale Regierung in Preußen in der Zeit der „Neuen Ära“. Zur Geschichte des preußischen Konstitutionalismus, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 45 – 85. 88 Vgl. Treitschke, Die Grundlagen der englischen Freiheit (FN 82), S. 743 f.: „Unsere regierende Klasse ist das Beamtentum, nicht der Adel. Der Adel als solcher hat keine Regierungsrechte; das Herrenhaus ist eine Anomalie in unserer Geschichte. Der preußische Adel als Stand hat seit drei Jahrhunderten nur Unheil gestiftet: er widersetzte sich den erleuchteten Zivilisationsplänen der Monarchen; er störte die notwendigsten Reformen, indem er für sich Exemptionen von dem Rechte und den Pflichten aller Staatsbürger festhielt oder erlangte. Dagegen hat eine große Anzahl seiner Mitglieder sich bleibender Verdienste um unseren Staat erworben: diejenigen nämlich, welche dem sozialen Standesinteresser entsagten und sich dem monarchischen Beamtentum einfügten.“ 89 Vgl. ebd., S. 734. 90 Treitschke, Das Selfgovernment (FN 82), S. 748.

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um ein – jedenfalls unter den eigentümlichen Bedingungen der britischen Staatswerdung – historisch bewährtes und politisch außerordentlich folgenreiches Modell kommunaler Selbstorganisation, das jedoch in dieser Form keineswegs (und erst recht nicht unter den aktuellen Bedingungen des beginnenden Industriezeitalters) von Deutschland rezipiert werden könne.91 In seiner zwei Jahrzehnte später an der Universität Berlin regelmäßig gehaltenen Politikvorlesung hat Treitschke im Übrigen eine noch wesentlich kritischere Darstellung und Bewertung des englischen local selfgovernment gegeben.92 Lorenz von Stein93 hat sich im Rahmen seiner Laufbahn als politischer Schriftsteller und Gelehrter erst relativ spät mit dem Thema der Selbstverwaltung befasst, nämlich in seiner monumentalen, seit den 1860er Jahren in Wien entstandenen „Verwaltungslehre“.94 Das große Werk war mit einer sehr verehrungsvollen Vorrede Rudolf Gneist gewidmet.95 Darin heißt es, an Gneist gewandt, er, der Autor, trage „damit einen Theil des Dankes ab, den wir alle Ihnen für Ihre Arbeiten schuldig sind; denn Sie haben uns wissenschaftlich das englische Leben und sein Recht erobert, und wenn es früher schwer war, darüber zu reden, so ist es jetzt noch schwerer, über einen Theil des öffentlichen Rechts in Europa ein Urtheil haben zu wollen, ohne bei Ihnen zu lernen, wie man England verstehen muß“.96 Auf nicht weniger als 91

Vgl. ebd., S. 768 f. Darauf kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; vgl. Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hrsg. von Max Cornicelius, Bde. 1 – 2, 5. Aufl. Leipzig 1922, hier Bd. 2, S. 496 – 502. 93 Zu Persönlichkeit und Werk immer noch informativ und wichtig: Werner Schmidt, Lorenz von Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte SchleswigHolsteins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckernförde 1956; vgl. ebenfalls Dirk Blasius / Eckart Pankoke, Lorenz von Stein. Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven, Darmstadt 1977; grundlegende Einzelbeiträge enthält der Sammelband von Roman Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978; guter Überblick bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (FN 63), Bd. 2, S. 388 – 393; wichtige neuere Deutung: Stefan Koslowski, Zur Philosophie von Wirtschaft und Recht – Lorenz von Stein im Spannungsfeld zwischen Idealismus, Historismus und Positivismus, Berlin 2005. 94 Lorenz von Stein, Die Verwaltungslehre, 8 Teile in 10 Bänden, Stuttgart 1865 – 1884; Ndr. Aalen 1975, hier Bd. 1 / 2: Die Selbstverwaltung und ihr Rechtssystem; zur Verwaltungslehre Steins siehe im einzelnen auch Schmidt, Lorenz von Stein (FN 93), S. 104 – 128; Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 449 – 452. 95 Vgl. Stein, Die Verwaltungslehre (FN 94), Bd. 1 / 1, S. V – XI; zum Hintergrund der auf „Mai 1864“ datierten Widmungsvorrede mag es gehören, dass sich Stein in diesen Jahren immer wieder Hoffnung auf eine Berufung an die Universität Berlin machte und hierbei auf die Unterstützung des von ihm auch sonst sehr geschätzten Gneist rechnete; hierzu neuerdings die aufschlussreichen Bemerkungen bei Dirk Blasius, Lorenz von Stein. Deutsche Gelehrtenpolitik in der Habsburger Monarchie, Kiel 2007, S. 124 ff. 96 Stein, Die Verwaltungslehre (FN 94), Bd. 1 / 1, S. V. 92

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355 Seiten legte Stein sodann im Bd. 1 / 2 seine ausführliche Lehre von der Selbstverwaltung dar, die bei ihm, dem philosophisch geschulten Kopf, im Gegensatz zu Gneist streng systematisch aufgebaut war. Nach einem Überblick über „Begriff und Wesen“ der freien Verwaltung wird die Selbstverwaltung anschließend als erste „Grundform der freien Verwaltung“ (die zweite ist das im folgenden Band ausführlich erörterte Vereinswesen) eingehend dargestellt, in den drei Unterformen der Landschaft, des Gemeindewesens und der „Corporationen und Stiftungen“. Bei näherem Hinsehen zeigen sich freilich deutliche Unterschiede zu Gneist.97 Obwohl sich auch Stein in seiner knappen (im Zusammenhang dieses Themas natürlich unverzichtbaren) Darstellung des britischen selfgovernment auf die Schriften Gneists beruft98, stellt England für Stein indessen nicht mehr das Maß aller Dinge dar; man lerne, heißt es bei ihm, am Beispiel der englischen Selbstverwaltung eben nicht nur, „was ein großes Volk vermag, indem es sich selber für seine eigene Verwaltung verantwortlich macht“, sondern ebenfalls, „wo die Gränze desjenigen ist, was diese Selbstverwaltung leisten kann“.99 Mit Blick auf die Gegenwart, in welcher, wie Stein mit einer wohl bewusst übertreibenden Wendung sagt, „der Zustand Englands fast zur Regierungslosigkeit geworden ist“100, versteht er das traditionelle britische selfgovernment vor allem als eine historisch wichtige Pionierleistung, nicht nur für das Inselreich, sondern auch für das übrige Europa. Und zum zweiten betont er, der Begriff dürfe keineswegs „bloß auf die englische Communalverfassung bezogen werden. Es ist vielmehr der in Ein Wort zusammengefaßte Gedanke, daß das Parlament zugleich die oberste Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches ist“.101 Allgemeiner formuliert bedeutet dies nach Stein, dass die Selbstverwaltung „die erste, wir möchten sagen die natürliche Grundform der freien Verwaltung überhaupt“ darstellt, und das heißt ebenfalls: „wo sie verschwindet, verschwindet überhaupt das Element der Freiheit in der Verwaltung; 97 Vgl. dazu auch die Bemerkungen bei Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 450 f. 98 Vgl. Stein, Die Verwaltungslehre (FN 94), Bd. 1 / 2, S. 159 – 165, hier 160, 165 u. a. 99 Ebd., Bd. 1 / 2, S. 159. 100 Ebd., Bd. 1 / 2, S. 157. 101 Ebd., Bd. 1 / 2, S. 161; den Grund hierfür sieht Stein darin, dass der historische „Kampf der Volksvertretung mit der königlichen Gewalt . . . nicht wie auf dem Continent von den einzelnen Landschaften und Gemeinden, sondern stets vom Parlament als Ganzem ausging“, und zwar auch deshalb, weil „das Parlament . . . eben aus den Selbstverwaltungskörpern, den Gemeinden und Körperschaften, durch Wahl derselben gebildet ward. Das Parlament selbst war daher gleich von Anfang an etwas anderes als die Volksvertretung auf dem Continent; es war nicht bloß der Körper der Gesetzgebung, sondern es war zugleich der höchste Verwaltungskörper; es war die in Einen Körper zusammengefaßte Selbstverwaltung des ganzen Landes“ (ebd.).

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wo sie blüht, ist die letztere gesichert“.102 Insofern wird die Selbstverwaltung sogar, wie Stein mit einer an Hegel anklingenden Formulierung sagt, „in ihrer Entwicklung der Maßstab für das Bewußtsein der Freiheit eines Volkes überhaupt“.103 In dieser Perspektive bleibt die Selbstverwaltung für die Gegenwart wichtig – nur freilich nicht mehr in einer Weise, die im Anschluss an Gneist die britischen Verhältnisse einer ehrenamtlichen Lokalverwaltung retrospektiv verklärt, sondern in einer fast modern anmutenden europäischen Perspektive104, denn Stein behandelt neben der englischen auch die französische und die deutsche Form der Selbstverwaltung105, wobei er die deutsche als eine späte Mischform aus englischen, aber eben auch französischen und wiederum ebenfalls bestimmten älteren eigenen Traditionen und Vorbildern charakterisiert.106 Alle regionalen und nationalen Unterschiede aber werden, so ein weiterer zentraler (wiederum an Gneist anknüpfender) Gedanke Steins, überwölbt durch die fundamentale ethische Funktion der Selbstverwaltungsidee: „Vor allem aber erzeugt die Selbstverwaltung das Gefühl der individuellen Verantwortlichkeit für das, was innerhalb des Körpers selbst geschieht, und spornt damit jeden an, für seinen Theil Unrecht zu vermeiden und sich als Einzelner den Störungen des öffentlichen Lebens entgegen zu stellen. So wird die Selbstverwaltung nicht bloß eine thatsächliche Ordnung der inneren Thätigkeit des Staats, . . . sondern zugleich ein mächtiger ethischer Faktor sowohl der Entwicklung als der Erhaltung.“107 Georg Jellinek hat sich im Rahmen seiner unvergleichlichen Fähigkeit zur klaren, ebenso straff wie einleuchtend durchgeführten Rechtssynthese (wenn auch nur vergleichsweise knapp) ebenfalls zum Problem der Selbstverwaltung geäußert, mit dem sich seit Gneist im Grunde fast alle bedeutenden deutschen Staats- und Verwaltungsrechtler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hatten.108 In seiner vielfach aufgeleg102 Die Zitate ebd., Bd. 1 / 2, S. 128; zu den zeit- und gegenwartskritischen Aspekten dieser Lehre vgl. die Bemerkungen von Dirk Blasius in: Blasius / Pankoke, Lorenz von Stein (FN 93), S. 67 ff., sowie Dirk Blasius, Zeitbezug und Zeitkritik in Lorenz von Steins Verwaltungslehre, in: Schnur (Hrsg.), Staat und Gesellschaft (FN 93), S. 419 – 433. 103 Stein, Die Verwaltungslehre (FN 94), Bd. 1 / 2, S. 129. 104 Vgl. ebd., Bd. 1 / 2, S. 153 ff.; dazu neuerdings sehr instruktiv: Karl-Peter Sommermann, Europäisches Verwaltungsrecht als „die großartigste Rechtsbildung der Weltgeschichte?“ Die Vision von Lorenz von Stein aus heutiger Perspektive, Speyer 2007. 105 Vgl. Stein, Die Verwaltungslehre (FN 94), Bd. 1 / 2, S. 165 ff., 172 ff. 106 Vgl. ebd., Bd. 1 / 2, S. 158 f. 107 Ebd., Bd. 1 / 2, S. 129 f.; vgl. auch Schmidt, Lorenz von Stein (FN 93), S. 110. 108 Zu Jellinek existiert eine ungewöhnlich reichhaltige Literatur; siehe vor allem Klaus Kempter, Die Jellineks 1820 – 1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998, bes. S. 155 – 381 und passim;

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ten, bis heute als klassisches Werk ihrer Disziplin geltenden „Allgemeinen Staatslehre“ hat sich der bedeutende Heidelberger Jurist – freilich ganz aus der von ihm vertretenen streng etatistischen Perspektive der wilhelminischen Epoche – dem Thema zugewandt, das er im Rahmen seiner Erörterungen über die Formen und Arten „staatlicher Gliederung“ abhandelt.109 Auch Jellinek geht anfangs, im Anschluss an die „epochemachenden Arbeiten Gneists“, vom englischen Beispiel aus, und ebenso wie dieser und Stein sieht er im selfgovernment zuerst die spezifische „Regierungsform“ des britischen Staates, „dessen Spitze das Parlament bildet“, die aber gleichwohl „in der Verwaltung der lokalen Angelegenheiten“ beginnt, „die entweder ausschließlich oder doch unter Mitwirkung von Männern vorgenommen wird, die, nur dem Gesetze, nicht auch den Dienstbefehlen der jeweiligen Zentralregierung untertan, aus dem Kreise der Interessenten der lokalen Verwaltung, welche nach englischer Auffassung auch die Rechtsprechung umfaßt, entnommen werden“.110 Freilich verweist auch Jellinek, hierin über Gneist deutlich hinausgehend, auf die Tatsache, dass infolge der „gänzlich geänderten sozialen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts“ die „Fortdauer einer Form der Verwaltung“ nicht mehr möglich war, welche auf der Vorherrschaft einer aristokratischen Gesellschaftsklasse aufgebaut ist“.111 Bleibendes Merkmal oder, wie er es formuliert, „Wegweiser für die Erfassung des rechtlichen Wesens der Selbstverwaltung“ aber ist auch für Jellinek immer noch das Kennzeichen des Ehrenamtlichen bzw. des wenigstens partiell Nichtstaatlichen. D. h. Selbstverwaltung ist nach seiner Definition „alle öffentliche Verwaltung, die nicht oder nicht ausschließlich von öffentlichen Berufsbeamten geübt wird“.112 Diese – in gewisser Weise auf Ausgleich bedachte, vermittelnde – Definition macht es ihm anschließend leicht, die neuere europäiJens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000; wichtige Einzelstudien auch in: Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. von Stanley L. Paulson / Martin Schulte, Tübingen 2000; knappe Einführungen bei Hagen Hof, Georg Jellinek (1851 – 1911), in: Kleinheyer/Schröder (Hrsg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten (FN 63), S. 141 – 145, sowie Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (FN 63), Bd. 2, S. 450 – 455. 109 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. (1913), 7. Neudruck, Bad Homburg v. d. H. 1960, S. 628 – 647; dazu jetzt vor allem: Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre (FN 108), bes. S. 1 – 12, 80 – 90, 266 – 303 und passim, sowie Christoph Möllers, Skizzen zur Aktualität Georg Jellineks. Vier theoretische Probleme aus Jellineks Staatslehre in Verfassungsrecht und Staatstheorie der Gegenwart, in: Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk (FN 108), S. 155 – 171. 110 Alle Zitate: Jellinek, Allgemeine Staatslehre (FN 109), S. 629. 111 Ebd., S. 631. 112 Ebd., S. 632, vgl. ebd., 637 f.; ein zweites Hauptmerkmal der Selbstverwaltung ist für Jellinek sodann die „administrative Dezentralisation“, die er anschließend in seiner Darstellung eingehend erörtert; vgl. ebd., S. 633 ff. 113 Ebd., S. 631.

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sche Entwicklung der Selbstverwaltung als einen Prozess der Annäherung und der sukzessiven Angleichung von angelsächsischem selfgovernment und kontinentaler Selbstverwaltung zu deuten: also als verstärkte Hinwendung zum Staat in Großbritannien und, im Gegenzug, als – vom englischen Beispiel lernende – Tendenz zur Dezentralisierung und zur, wenigstens partiellen, Aufwertung auch des Ehrenamts auf dem Kontinent (wobei Jellinek vornehmlich Deutschland und Frankreich im Blick hat). Jellinek schließt mit einer im Grunde harmonisierenden Deutung, indem er konstatiert, es hätten „durch diese eigentümliche Umbildung und gegenseitige Beeinflussung . . . die beiden historisch geschiedenen Formen der Selbstverwaltung, die englische und die kontinentale, ihre Vereinigung und gegenseitige Durchdringung gefunden“.113 Kurz nach 1900 war der zeitweilig in Posen, später in Göttingen lehrende Jellinek-Schüler Julius Hatschek der wohl beste deutsche Kenner der englischen Verfassungsgeschichte und des seinerzeit geltenden englischen Staatsrechts114, die er beide in monumentalen Werken dargestellt hat115; darüber hinaus galt er bereits seit seinem Erstlingswerk von 1898 als ausgewiesener Spezialist für das Thema der Selbstverwaltung.116 Knapper als Gneist, aber in mehr als einer Hinsicht genauer und historisch treffender hat er in seiner „Englischen Verfassungsgeschichte“ von 1913 die Entwicklung des selfgovernment als Kern der englischen Lokalverwaltung vom späten Mittelalter bis zum Beginn der großen Reformen der 1830er Jahre eingehend rekonstruiert.117 Juristisch und rechtssystematisch defi114 Bis heute fehlt leider eine ausführliche Darstellung; vgl. vorerst Andreas Sattler, Julius Hatschek (1872 – 1926). Staatsrecht am Anfang der Weimarer Republik, in: Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, hrsg. von Fritz Loos, Göttingen 1987, S. 365 – 384, und Peter Landau, Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hrsg. von Helmut Heinrichs / Harald Franzki / Klaus Schmalz / Michael Stolleis, München 1993, S. 133 – 213, hier 180, sowie die knappen Bemerkungen bei Ottobert L. Brintzinger, „Hatschek, Julius Karl“, in: Neue Deutsche Biographie; Bd. 8. Berlin 1969, S. 57 f.; Jäger, England, das Selfgovernment und die Deutsche Selbstverwaltung (FN 49), S. 55 – 57; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, München 1999, S. 237 f.; Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht (FN 54), S. 105 f.; neuerdings (allerdings nicht zu Hatscheks Englandstudien): Jörg-Detlef Kühne, Hatscheks teilerschienenes Parlamentsrecht: Zu Abbruch und Rekonstruktion seines legendären Gesamtvorhabens, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 56 (2005), S. 554 – 572, zur Biographie ebd., S. 554 – 557. 115 Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bde. 1 – 2 (FN 44); Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9); als Kurzfassung des ersten Werkes liegt vor: Julius Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs Grossbritannien-Irland, Tübingen 1914. 116 Julius Hatschek, Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Bedeutung, Leipzig 1898. 117 Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 254 – 265, 472 – 499, 681 – 706.

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nierte er die alten englischen sowohl städtischen wie ländlichen lokalen Verwaltungseinheiten (parish, county, borough) als „Passivverbände“ bzw. „Pflichtgenossenschaften, die sich in ihren äußeren Formen bis ins 19. Jahrhundert erhielten“, und deren spezifische Eigentümlichkeit (die in dieser Weise eben nur im Rahmen des englischen Rechts möglich war) darin bestand, „daß die große Masse der Verwaltungsgeschäfte in der Grafschaft, im Kirchspiel, in der Stadt sich in der Form des Gerichtsverfahrens bewegte“ und sich in der Form einer sukzessiven Etablierung, Anwendung und Fortbildung von Konventionalregeln weiterentwickelte.118 Die Frage einer wirklichen oder auch nur vermeintlichen Vorbildlichkeit des alten britischen local selfgovernment für die Gegenwart ist für Hatschek im Gegensatz zu manchen seiner Vorgänger bereits kein Thema mehr; in seiner „Englischen Verfassungsgeschichte“, deren Darstellung mit den Beginn des viktorianischen Zeitalters endet, hat er das traditionelle selfgovernment nurmehr als ein rein historisches, d. h. in der Gegenwart endgültig abgeschlossenes Kapitel der britischen Verfassungsentwicklung erforscht und abgehandelt. Seine Kritik an Gneist, dem auch er sich gleichwohl in manchen Aspekten seiner Darstellung und seines Zugriffs auf das umfassende Thema immer noch verpflichtet weiß119, richtet sich vor allem gegen dessen Überschätzung der früheren englischen Staatstätigkeit: das sehr rege englische Selbstverwaltungsleben in den Grafschaften sei eben, so Hatschek, gerade nicht von oben beeinflusst und kontrolliert worden, sondern habe sich im wesentlichen aufgrund lokaler Initiativen und Bedürfnisse in der Form der Ausbildung und Anwendung von Konventionalregeln vollzogen; die königliche Ernennung der Friedensrichter habe de facto seit der Glorious Revolution keine im engeren Sinne politische Bedeutung mehr gehabt.120 Und in der ländlichen Gemeinde, dem Kirchspiel, sieht Hatschek sogar, auch dies im Gegensatz zu Gneist, im Kern nichts anderes als „ein 118 Die Zitate: ebd., 681; freilich haben diese Pflichtgenossenschaften, wie Hatschek sogleich anfügt, ebd., S. 681 f., „in ihrer faktischen Wirklichkeit . . . aber die freieste Autonomie und entwickeln das regste Selbstverwaltungsleben nur aus dem Grunde, weil niemand außer dem Parlament und den Reichsgerichten vorhanden ist, um sie zu kontrollieren. Unter den Tudors und Stuarts war es der Staatsrat, der sie in polizeilicher Weise bevormundete. Die puritanische und die glorreiche Revolution hatten aber diese Bevormundung weggeräumt, und nun hatten all jene passiven Verbände in Wirklichkeit freiestes Leben, allerdings ein Leben, das sich nicht in juristischen Formen vollzog, sondern in Form von Konventionalregeln, geradeso wie das englische Parlament und die englische Verfassung zum größten Teil von solchen Konventionalregeln beherrscht wurden. Diese sozialen Normen entwickeln sich überall dort, wo alte Rechtsnormen sich den neuen Verhältnissen anpassen müssen. Die englische Lokalverwaltung des 18. Jahrhunderts ist ein deutliches Beispiel dafür.“ 119 Vgl. ebd., S. VII f. (Vorwort); kritisch dagegen ebd., S. 480. Vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 746. 120 Vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte (FN 9), S. 685 ff.

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freies soziales Gebilde, welches auf dem Wege von Konventionalregeln . . . sogar bis zu den Formen fortgeschrittener Demokratie vordringt“.121 In seinem monumentalen Hauptwerk, dem fast 1400 Druckseiten umfassenden zweibändigen „Englischen Staatsrecht“ (1905 bis 1906 erschienen) hat Julius Hatschek das englische local government seiner Gegenwart, also der Zeit seit den letzten Reformen des späten 19. Jahrhunderts, schließlich ein weiteres Mal unter dem Zentraltitel „Die Selbstverwaltung“ zusammenfassend dargestellt.122 In nochmaligem diametralem Gegensatz zu Gneist würdigt Hatschek hier die von ihm überaus positiv eingeschätzten und dementsprechend herausgestellten Leistungen der neueren englischen Lokalverwaltung nach den großen Reformen des vergangenen Jahrhunderts. Die kontinuierliche Überleitung der althergebrachten lokalen Verwaltungsfunktionen vom Friedensrichter auf die kommunalen Kollegialbehörden, die sog. boards, wird von ihm als eine besonders positiv zu würdigende Leistung herausgestellt, und er betont ebenfalls die politisch nicht unerhebliche, kontinuitätswahrende Funktion dieses Vorgangs: „Der alte historische Bau dieses Verwaltungsapparats hat sich den modernen Lebensverhältnissen angepasst, ohne die Freiheit des Staatsbürgers mehr als bisher einzuschränken.“123 Hatscheks gelehrter Gegner und wissenschaftlicher Intimfeind (mit dem er sich in gegenseitigen vernichtenden Rezensionen jahrelang lebhaft befehdete)124 war der Österreicher Josef Redlich, Jurist, Historiker und Politiker, der zwei Mal als Minister der ersten Republik Österreich fungierte und ab 1926 (mit Unterbrechungen) als Professor für vergleichendes Staats- und Verwaltungsrecht an der Harvard-Universität lehrte.125 Redlich publizierte 1901 mit seiner mehr als 800 Seiten umfassenden „Englischen Lokalverwal121 Ebd., S. 692; vgl. auch S. 694 ff., wobei Hatschek in diesem Zusammenhang den Begriff der „Demokratie“ freilich ausgesprochen weit auslegt. 122 Hatschek, Englisches Staatsrecht (FN 44), Bd. 2, S. 410 – 568; knappe Zusammenfassung in: Hatschek, Das Staatsrecht des vereinigten Königreichs Grossbritannien-Irland (FN 115), S. 209 – 231. 123 Hatschek, Englisches Staatsrecht (FN 44), Bd. 2, S. 669. 124 Vgl. hierzu u. a. Hatscheks entsprechende Bemerkungen in: ebd., Bd. 2, S. 410, Anm. 1. 125 Auch Person und wissenschaftliches Werk Redlichs sind bisher kaum erforscht; vgl. aber die neuere Einzelstudie von Hans Peter Hye, Josef Redlich – ein österreichischer Historiker aus den böhmischen Ländern, in: Die böhmischen Länder in der deutschen Geschichtsschreibung seit dem Jahre 1848, Teil II, Acta Universitatis Purkynianae, Slavogermanica VI. 1997, Ústí nad Labem 1997, S. 51 – 79, sowie den knappen Artikel von Fritz Fellner, „Redlich, Josef“, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, Bd. 9, Wien 1988, S. 10 f., und die beiden Nachrufe von Felix Frankfurter und Charles C. Burlingham, in: Harvard Law Review 50 (1936 / 37), S. 389 – 391, 392 – 394; sodann Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht (FN 54), S. 100 – 105; knappe Hinweise u. a. bei Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 449, 744 f.

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tung“ eine neue – bis dahin jedenfalls nach Gneist die umfangreichste – deutschsprachige „Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt“, so der Untertitel.126 Im Gegensatz zu den inhaltlich überfrachteten, mit überlangen, z. T. mehrseitigen Fußnotenexkursen versehenen und auch wegen ihrer komplexen Begrifflichkeit schwer lesbaren Büchern Hatscheks fand Redlichs Darstellung gerade im angelsächsischen Kulturbereich stärkste Beachtung; sie wurde in überarbeiteter und erweiterter Fassung ins Englische und Französische übersetzt und sogar bis zur Gegenwart mehrfach erneut aufgelegt.127 Redlichs Darstellung ist in ihrer Tendenz und ihrer Interpretation des englischen selfgovernment in starkem Maße bestimmt durch seine Auseinandersetzung mit Gneist und Hatschek: Das „fast beispiellose Ansehen“ von Gneists Thesen über die Selbstverwaltung in Deutschland und überhaupt auf dem Kontinent habe, „kaum durch eine ernstliche Kritik erschüttert, . . . eine von Gneist unbeeinflußte Auffassung der neueren Staatsorganisation Englands und seines modernen politischen Lebens dauernd und fast vollständig verhindert“.128 Und das wiederum habe fortan bis zur Gegenwart zu einer fortdauernden Verkennung der eigentlichen politischen und besonders auch sozialen Bedeutung des englischen selfgovernment geführt.129 An Hatscheks Auffassung kritisiert Redlich nicht nur, dass sein wissenschaftlicher Gegner und Konkurrent angeblich „den Lehren Gneists unbedenklich und ohne Einschränkung“130 folge – was in dieser Form nicht 126 Josef Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901. 127 Josef Redlich, Local Government in England. Ed. with additions by Francis W. Hirst, Bde. 1 – 2, London 1903; Josef Redlich, Le gouvernement local en Angleterre, avec des additions par Francis W. Hirst, Bde. 1 – 2, Paris 1911. 128 Redlich, Englische Lokalverwaltung (FN 126), S. XVI f.; es heißt weiter, ebd., S. XVII: „Die Eigenart der Gneistschen Schriften, die in der Verbindung historischer Erfassung der älteren Entwicklung Englands mit einer sehr stark ausgesprochenen politischen Subjektivtät des Verfassers beruht, hat aber gerade für die wissenschaftliche und politische Beurteilung des modernen englischen Staatswesens schwerwiegende Folgen nach sich gezogen. Sie hat Gneist dazu geführt, in dem England des XVIII. Jahrhunderts die eigentliche Reifezeit der englischen Verfassung und Verwaltung zu erkennen und die weitere Entwicklung als ein Herabgleiten von der damals erreichten Höhe, als Verfall der staatlichen Institutionen auf das Schärfste zu kritisieren. Diese Urteil ist nun dank der Autorität Gneists auf dem ganzen Festlande und vor allem in Deutschland zur communis opinio geworden und ist es im ganzen und großen bis zum heutigen Tage geblieben.“ 129 Vgl. auch ebd., S. XVII ff.; dabei handelt es sich zweifellos um eine vollkommern unzutreffende Diagnose, worauf u. a. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 745 f., mit Recht hingewiesen hat. 130 Redlich, Englische Lokalverwaltung (FN 126), S. 819, Anm. 1; vgl. auch insgesamt die Ausführungen ebd., S. 817 ff.

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zutreffend ist –, sondern dass jener ebenfalls, allzu unbekümmert die Rechtsbegriffe seines Lehrers Jellinek aufnehmend, das eigentliche Wesen des selfgovernment verkenne, indem er sie etwa als mit einer an deutschen Beispielen gewonnenen Begrifflichkeit als „passiv öffentlich-rechtliche Verbände“ zu definieren versuche, ohne die vollkommen anders gearteten englischen Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen.131 Zwar erkennt auch Redlich wie vor ihm Gneist im Selfgovernment den notwenigen Unterbau der freiheitlichen britischen Verfassung, indem er im „Gegensatz zwischen Centralgewalt und lokaler Autonomie in der Ausübung der öffentlichen Gewalt“ eine jener „gewaltigen Triebfedern für die durch Jahrhunderte fortschreitende Differenzierung der elementaren Vorstellungen vom Staate und der staatlichen Einrichtungen der Nation“132 erkennen möchte. Aber er kehrt in seiner Bewertung der neueren und neuesten Entwicklung dieses Phänomens die Perspektive seines Vorgängers diametral um, indem er gerade in der Überwindung jenes überständigen aristokratischen und in seinen einstigen Ausprägungen zutiefst vormodernen Selfgovernment sowie in der nach seiner Überzeugung gelungenen Ersetzung der alten Verwaltungsformen durch eine moderne demokratische Kommunalverfassung eine geschichtliche Leistung ersten Ranges erblickt und würdigt, aber ebenfalls, wie er bereits in der Einleitung sagt, als eine unter politischen Vorzeichen sich vollziehende beständige Weiterentwicklung „der englischen Verfassung und Verwaltung unter dem Einflusse der Reformideen des Liberalismus, sodann der Demokratie und des Socialismus“.133 Dementsprechend konzentriert er seine Darstellung in erster Linie auf das 19. Jahrhundert und die in dieser Zeit durchgeführten Reformen, die er noch deutlicher als Hatschek bejaht und darüber hinaus explizit als Ausdruck einer kontinuierlich fortschreitenden „Demokratisierung Englands“134 in der Tradition der amerikanischen und der französischen Revolutionen würdigt. Gleichzeitig betont er aber ebenfalls den, wie er ausdrücklich sagt, „starken konservative[n] Zug“ des öffentlichen Lebens in Großbritannien, der sich nach seiner Auffassung darin ausdrückt, dass die institutionellen Brücken, die vom Alten zum Neuen hinüberführen, nicht einfach abgebrochen werden, sondern, im Gegenteil, die traditionellen wie die neu heraufdrängenden politischen Kräfte im Rahmen eines einzigen Institutionengefüges – eben demjenigen der Lokalverwaltung, in der Frie131

Vgl. ebd., S. 819 f., Anm. 1. Ebd., S. 15. 133 Ebd., S. XVI; vgl. auch die Bemerkungen ebd., S. 823 ff., Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 745, bemerk treffend, dass in Redlichs Darstellung „zuerst ein durchaus demokratischer Liberalismus gegen die Gneistsche Doktrin“ aufgetreten sei. 134 Redlich, Englische Lokalverwaltung (FN 126), S. XV. 132

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densrichter und moderne Lokalbehörden zur gleichen Zeit und nebeneinander Platz haben – miteinander verbinden. Hierauf sei es auch zurückzuführen, dass das „Gefühl der Einheit der Nation“ in Großbritannien „durch Klassenkämpfe bisher in der Tiefe nicht berührt“135 worden sei. An letzter Stelle endlich ist Hugo Preuß136 zu nennen, der in der Spätzeit des wilhelminischen Kaiserreichs zu den versiertesten Kennern und Theoretikern der deutschen Selbstverwaltung gehörte.137 Er stellte sich ganz bewusst in die Tradition des Freiherrn vom Stein, dessen Städteordnung von 1807 Preuß als Beginn der modernen bürgerlichen Selbstverwaltung in Deutschland auffasste, damit nicht nur als „Keimzelle einer völligen, von unten nach oben aufsteigenden, einheitlichen Reorganisation“ des Staates an sich begriff, sondern auch als den eigentlichen Ursprung der „bürgerliche[n] Selbstregierung im Verfassungsstaat“.138 Auch Preuß ging anfänglich von den Forschungen Gneists aus, wie manche seiner frühen Publikationen belegen, unter denen sich auch eine 1886 erschienene ausführliche Besprechung von Gneists Darstellung der Entwicklung des englischen Parlaments befindet139; es muss ihm nicht leicht gefallen sein, sich von Gneists „Dogma vom aristokratisch-ehrenamtlichen selfgovernment“140 – aufge135

Ebd., S. 825. Vgl. neben den knappen Überblicken von Hagen Hof, Hugo Preuß (1860 – 1925), in: Kleinheyer / Schröder (Hrsg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten (FN 63), S. 212 – 214, sowie Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland (FN 63), Bd. 2, S. 362 f., und den älteren, zeitgenössischen Würdigungen von Carl Schmitt, Hugo Preuß – Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, und von Walter Simon, Hugo Preuß, Berlin 1930, besonders die gediegene Gesamtdarstellung von Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideenund Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik (zuerst als ungedruckte Dissertation 1955), Berlin 2000; siehe ebenfalls Arndt Faatz, Hugo Preuß. Die Entwicklung eines Strukturprinzips für den modernen Staat. Jur. Diss. Trier 1999; zum Thema der Selbstverwaltung bei Preuß wichtig: Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck, Hamburg 1965, und Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), bes. S. 751 – 759 u. a. 137 An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass im Rahmen der gegenwärtig im Erscheinen begriffenen Gesamtausgabe der Schriften von Preuß seine zahlreichen Einzelstudien zu den Themen Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik demnächst im Band 5 gesammelt publiziert werden sollen. 138 Hugo Preuß, Preußische Reformen (1910), in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 1: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, hrsg. von Lothar Albertin, Tübingen 2007, S. 372 – 376, hier 374; zur Bedeutung des Vorbilds Stein siehe auch Gillessen, Hugo Preuß (FN 136), S. 43 ff. 139 Hugo Preuß, Eine Biographie des englischen Parlaments (1886), in: derselbe, Gesammelte Schriften (FN 138), Bd. 1, S. 98 – 105; freilich mochte sich Preuß schon damals den pessimistischen Auffassungen des alten Gneist über die künftige innenpolitische Entwicklung Großbritanniens nicht anschließen; vgl. ebd., S. 104 f. 140 Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung (FN 1), S. 753; vgl. auch S. 754; siehe ebenfalls Gillessen, Hugo Preuß (FN 136), S. 41 ff. 136

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fasst als ein auch für Deutschland vorbildliches Fundament wahrhafter angelsächsischer Freiheit – zu lösen. Dass Hugo Preuß dies schließlich doch gelungen ist, zeigt neben vielen eher verstreuten Äußerungen vor allem sein 1908 im zweiten Band der Laband-Festgabe veröffentlichter umfänglichen Beitrag über „Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität“.141 In Anknüpfung an seine eigenen Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Städteverfassung142 und an die neueren Forschungen Redlichs sowie in nunmehr sehr kritischer Absetzung von den Thesen Rudolf Gneists hebt auch Preuß die Bedeutung der lokalen und kommunalen politischen Ebene für die Herausbildung einer modernen gesamtstaatlichen Verfassungsordnung nachdrücklich hervor. Im Gegensatz zu den Thesen des alten Gneist hätten, so Preuß, die neueren englischen Verwaltungsreformen „das eigentliche Wesen des wahren selfgovernment“ gerade nicht abgeschafft, sondern lediglich zeitgemäß weiterentwickelt – eben in Richtung auf einen, so Preuß, „,bürgerlichen Staat‘ [ . . . ], weil alle Landesverwaltung Verwaltung der bürgerlichen Genossenschaften, der Lokalverbände ist“.143 Mit dieser Feststellung und ebenfalls mit seiner im weiteren entwickelten scharfen Herausarbeitung des – jedenfalls nach seiner Auffassung in Deutschland bestehenden – latenten Gegensatzes zwischen Gemeinde und Staat, anders formuliert: zwischen der Rechtsautonomie des sich selbst verwaltenden genossenschaftlichen Gemeinwesens einerseits und den „starke[n] Rudimente[n] der obrigkeitlichen Souveränität“144 andererseits, deutet er wenigstens eine Inkongruenz an, die in Großbritannien nach seiner Auffassung glücklich beseitigt worden ist. Denn dort entsprechen die kommunalen Versammlungen in ihrer politisch-administrativen Stellung strukturell und funktional genau dem Londoner Parlament auf der Ebene des central government145, während in Deutschland, wie Preuß hier wenigstens andeutet, die konstitutionelle Monarchie – als ein letztlich verfassungspolitisch inhomogenes Gebilde – sich eben jene innere Übereinstimmung zwischen selbstverwalteter Gemeinde einerseits und einem eben nicht par141 Hugo Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktor-Promotion, Tübingen 1908, Bd. 2, S. 199 – 245. 142 Hugo Preuß, Entwicklung des deutschen Städtewesens, Berlin 1906. 143 Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität (FN 141), S. 210; zur Auseinandersetzung mit Gneist siehe auch die Bemerkungen ebd., S. 208 f.; ebenfalls distanziert sich Preuß an dieser Stelle von Hatscheks Deutung der englischen lokalen Selbstverwaltung als „passiv öffentlich-rechtliche Verbände“ und den dieser Deutung vorausliegenden Begriffskonstruktionen Jellineks; vgl. ebd., S. 217 ff. 144 Ebd., S. 244. 145 Vgl. ebd., S. 212; zum englischen Vorbild siehe auch Faatz, Hugo Preuß (FN 136), S. 219 ff.

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lamentarisch regierten Staat andererseits nun einmal nicht herzustellen vermag. Insofern bedurfte Deutschland, wie er es an anderer Stelle einmal formuliert hat, auch um und nach 1900 noch immer einer – in eben diesem Sinne begriffenen – „Urbanisierung des ganzen Staatswesens“146, also eines inneren Neuaufbaus der Verfassung von unten nach oben, keineswegs verstanden als vorbehaltlose Rezeption des englischen Modells, wohl aber als eigentliche Vollendung dessen, was der Freiherr vom Stein und die preußischen Reformer ein Jahrhundert zuvor begonnen, aber eben nicht abgeschlossen hatten.

III. An den Schluss dieser Ausführungen seien vier zusammenfassende Anmerkungen gestellt, die einige Resultate der Untersuchung pointiert zu resümieren versuchen: 1. Das englische lokale selfgovernment stellte bis in die 1830er Jahre ein sehr eigentümliches Rechtsgewächs dar, das jedenfalls in dieser Form nur unter den Bedingungen der englischen Rechtsentwicklung, besonders einer starken gewohnheitsrechtlichen Tradition des Common Law und der „equity“, aber auch unter der Voraussetzung der geographisch gesicherten Insellage entstehen konnte. Diese Tradition einer gewohnheitsrechtlichen Fortbildung bestehender Institutionen und Rechtsformen hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass eine erfolgreiche, zwar in der Sache tief einschneidende, jedoch die Verbindungen zu den alten Rechtsinstitutionen aufrecht erhaltende Reform des local government – und damit eben auch die Etablierung moderner Formen der kommunalen Selbstverwaltung – möglich geworden ist. 2. Die 1901 publizierte Behauptung Josef Redlichs, alle deutschsprachigen Autoren vor ihm hätten sich in ihren Deutungen des englischen selfgovernment ausschließlich im Bann der (um 1900 bekanntermaßen bereits weit überholten) Lehren Rudolf Gneists befunden, trifft nicht zu. Schon die frühen Rezipienten Gneists – auch und gerade ihm politisch nahestehende Autoren und Kollegen wie Heinrich von Treitschke und Lorenz von Stein – haben sich von manchen Thesen des Berliner Juristen und Englandkenners deutlich distanziert oder wenigstens (wie Stein) indirekt entfernt. Viele, auch spätere Berufungen auf Gneist ehrten viel eher den in seinen Verdiensten unbestrittenen Bahnbrecher in der Erforschung der englischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte als dass sie dessen Einzelthesen kritiklos folgten. 146 Preuß, Entwicklung des deutschen Städtewesens (FN 42), S. 220; vgl. dazu auch die Bemerkungen bei Gillessen, Hugo Preuß (FN 136), S. 46 ff.

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3. Die deutschen Autoren, die zwischen dem frühen 19. und dem frühen 20. Jahrhundert dem englischen local selfgovernment ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt haben, verbanden damit in stärkstem Maße eigene, d. h. vor allem und zuerst auf Deutschland bezogene politische Interessen und Absichten – egal, ob es nun im einzelnen darum ging, konservative, liberale oder demokratische politische Ideale näher zu begründen, bestimmte Vorstellungen von einer scheinbar „historisch notwendigen“ verfassungsgeschichtlichen Entwicklung zu bestätigen oder auch darum, die Eigenart der deutschen Entwicklung – sei es im positiven, sei es im negativen Sinne – vom britischen Gegenbild abzugrenzen. Eine vorbehaltlos exakte wissenschaftliche Erkenntnis bestimmter Strukturen des englischen Verfassungsund Verwaltungsrechts hat unter ihnen wohl lediglich Julius Hatschek mit seinen großen verfassungshistorischen Werken angestrebt – und auch dieser letztlich nur mit spezifischen Einschränkungen. 4. Die wohl wichtigste Institution des älteren englischen local selfgovernment ist das Ehrenamt gewesen, – und es ist wahrlich kein Zufall, dass gerade dieser Aspekt bei den deutschen Autoren stets eine besonders starke Beachtung gefunden hat. Die Einbindung des einzelnen Staatsbürgers in die kommunale Verwaltung, auch die aus dem Amt des Friedensrichters und seinen Befugnissen resultierende enge Zusammenarbeit zwischen niederem Adel und bürgerlich-bäuerlichen Bewohnern innerhalb einer Grafschaft, hat nicht nur die Idee bürgerschaftlicher Mitverantwortung für das politische Ganze und das Prinzip ehrenamtlicher Mitverwaltung auf lokaler Ebene allererst neu begründet, sondern ebenfalls die Aufweichung der ständischen Schranken zwischen niederem Adel und lokalem Bürgertum nachhaltig befördert. Hierin bestanden die wahrhaft zukunftsweisenden Elemente einer um 1800 scheinbar so rückwärtsgewandten und altertümlichen Institution wie der des englischen lokalen selfgovernment. Die spezifische Janusköpfigkeit dieser Institution – ihre jahrhundertealten Wurzeln und lange beibehaltenen vormodernen Formen einerseits, ihre freiheitlichen und zukunftsweisenden, weil auf Selbstregierung und Selbstverantwortung des Bürgers abzielenden Implikationen andererseits – verkörpert sich nicht nur in ihrer Entwicklung in Großbritannien selbst, sondern sie spiegelt sich ebenfalls in ihrer sehr speziellen Rezeption auf dem europäischen Kontinent und hier besonders im deutschen Sprach-, Kultur- und Rechtsraum. Gerade diese Janusköpfigkeit machte jene Einrichtung des lokalen selfgovernment in vielfältiger Weise rezeptions- und adaptionsfähig, und zwar von Seiten der Vertreter unterschiedlichster politischer und weltanschaulicher Richtungen. Ein einheitliches Grundmoment in allen diesen sehr verschiedenen Rezeptionsvorgängen schält sich freilich immer wieder heraus, indem das selfgovernment stets als spezifisches Fundament einer besonderen Form politischer Freiheit verstanden worden ist:

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sei es im konservativen Sinne als korporative, gegen absolutistisch-zentralistische Machtansprüche gerichtete, im Grunde nur bestimmten Eliten zukommende Freiheit, sei es als liberale, die genuinen Selbstregierungsbedürfnisse des selbstbewussten Bürgers institutionalisierende Freiheit, – oder sei es auch als demokratische, die aktive Mitwirkung jedes politisch bewussten erwachsenen Menschen an der Regierung des eigenen Gemeinwesens garantierende Freiheit.

Aussprache Gesprächsleitung: Gusy

Ruppert: Herr Kraus, Sie haben sich bei der Rezeption vor allen Dingen auf die wissenschaftlich-literarische Rezeption gestützt. Das ist natürlich verständlich, auch angesichts des begrenzten Umfanges, der Ihnen ja vorgegeben war – aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass gerade die englische Verfassung und auch das Selfgovernment ein bedeutendes Argument in der Diskussion der Landtage vor allem in Süddeutschland gewesen ist als Anstoß zur Reform oder Kritik am eigenen System. Und mich würde interessieren: Gibt es eine systematische Zusammenfassung davon, oder wissen Sie aus Ihren Forschungen heraus, welche Aspekte hier bei den Auseinandersetzungen in der Parlamenten, wo das Selfgovernment als Argument gebracht worden und die englische Verfassung als Vorbild hingestellt worden ist, eine Rolle gespielt haben und was da vorwiegend für Prinzipien und Argumente gekommen sind? Gusy: Danke. Herr Mohnhaupt, ich möchte Sie fragen, ob Sie jetzt Ihren Diskussionsbeitrag von eben nachtragen beziehungsweise erweitern wollen. Mohnhaupt: Das wird natürlich jetzt etwas anders ausgehen als ursprünglich gedacht – macht auch nichts. Stichwort ist: Geschichte als Rezeptionsmaterial. Das ist mir jedenfalls aus dem Vortrag von Herrn Kühne sehr deutlich geworden. Ich erinnere daran, er hat das den Göttinger Empirismus genannt, wie er bei vom Stein jedenfalls in Erscheinung tritt; auch August Ludwig Schlözer nannten Sie. Stein hat auch bei Pütter gehört, und es ist die Frage, wie weit es eine Inspiration bei vom Stein gegeben hat, aus der Geschichte das herauszufiltern, was für die politischen Bedürfnisse seiner Zeit als nötig erschien. Die MGH sind sicherlich ein Beispiel dafür. Wenn man jetzt den Bogen schlägt zu dem, was wir von Herrn Kraus gehört haben, so können wir natürlich da auch von einer Rezeption sprechen, die sozusagen das Modell des Selfgovernment aus der englischen Geschichte rezipierend versucht auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Es bestand offensichtlich ein Bedürfnis dazu. Ein solches Verfahren könnte man zusätzlich auch noch dahingehend methodisch reflektieren, dass es sich hier um eine Form von Vergleichung handelt – zum Teil diachron, zum Teil synchron. Und das scheint mir eben auch ganz wichtig, dass das Element der Vergleichung hier doch etwas durch diese beiden Vorträge in Erscheinung

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tritt. Und das wäre vielleicht auch noch weiterhin zu bedenken. Dann zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Kraus: Freiheit beruhe immer mehr auf Verwaltung als auf der Verfassung. Da fällt mir Otto Mayer ein, der das schöne Wort – man kennt es ja: Verfassung vergeht, Verwaltung besteht – formuliert hat. Danke. Gusy: Danke. – Herr Lepsius. Lepsius: Mich hat überzeugt, Herr Kraus, wie Sie in der Zusammenfassung beim zweiten Punkt darauf hingewiesen haben, dass die Autoren in Deutschland mit der Rezeption des Selfgovernment politische Ziele verfolgt haben und dass in diesen politischen Zielen überhaupt ein starker Rezeptionsfaktor liegt. Ich würde fast dazu neigen, Ihre zweite zusammenfassende These noch zu verschärfen, etwa dergestalt, dass nach der politischen Niederlage des deutschen Bürgertums 1848 – die Demokratie, die Parlamentarisierung war nicht mehr erreichbar – sich die politischen Ziele auf Kompensationsstrategien richteten. Eine Kompensation für die nicht mehr erreichbare Parlamentarisierung war die Selbstverwaltung, für die man natürlich nun Vorbilder suchen musste, die – selbst wenn sie nicht unmittelbar passten – doch motivierend, stimulierend herangezogen werden konnten. Insofern sehe ich die Aufnahme des Selbstverwaltungsgedankens, gerade bei Gneist und bei anderen Liberalen – auch bei Hugo Preuß noch – als Ausdruck einer Kompensation für die ausgebliebene Demokratisierung. Weil sie nicht mehr erreichbar ist, begnügen wir uns mit etwas anderem, nämlich mit der Selbstverwaltung, der Ordnung unserer eigenen Angelegenheiten. Und dies auf eine wunderbar unpolitische Art und Weise nach dem Vorbild des Ehrenamtes – die Selbstverwaltung kommt auch ganz unpolitisch daher. Das ist natürlich die Gewähr, um sie auch unter den Bedingungen des Kaiserreichs bei der starken Trennung von Staat und Gesellschaft – der Staat, die politische Sphäre, die Gesellschaft, die unpolitischökonomische Sphäre – durchsetzen zu können. Und wir sehen im Übrigen ja auch die Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens, eine gewissermaßen parallele Entwicklung, die auch eine Kompensationsstrategie für die ausgebliebene Parlamentarisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Also ich würde die These fast noch etwas verschärfen. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung: Nachdem wir inzwischen längst die Parlamentarisierung in Deutschland erlangt haben, ist der Traditionsfundus, der mit dem Gedanken der Selbstverwaltung verbunden ist – ähnlich wie der Traditionsfundus, der mit dem Gedanken des Rechtsstaats verbunden ist – einer, der unter den Bedingungen einer demokratischen Rechtsordnung wesentlich skeptischer betrachtet werden müsste als wir das gemeinhin heute tun. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland, meine ich zu beobachten, noch weithin Tendenzen, die die Selbstverwaltung mehr schätzen als die Demokratie, die den Rechtsstaat für wichtiger halten als

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die Demokratie. Das sind natürlich Trends, die auch in der politischen Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Ursprung finden – aber das ist nur noch eine Zusatzbemerkung, die ich mir in diesem Kreise erlaube. Danke schön. Gusy: Danke auch. – Herr Brandt. Brandt: Ich hatte – Gneist betreffend – auf dasselbe hinweisen wollen, was Herr Lepsius soeben ausgeführt hat: nämlich auf die historische Verortung in der Situation nach 1848. Das scheint mir evident zu sein, und auch Heinrich Heffter hat es nach meiner Erinnerung schon so gesehen. Ob man auch Hugo Preuß in diese Linie einordnen sollte, da hätte ich Zweifel. Deutlich ist natürlich, dass der Hegelianismus, vermittelt durch Lorenz von Stein, hier sozusagen zum entscheidenden Modell wird, und damit wird das englische Modell in folgenreicher Weise umgebogen. Es geht nicht mehr um „Selfgovernment“ als ein von „oben“ nach „unten“ durchgängiges Prinzip, das die Parlamentsherrschaft wie die Lokalpolitik gleichermaßen bestimmt, sondern es geht darum, Selbstverwaltung als einen Eigenbereich unterhalb der nicht mehr infrage gestellten Figur des monarchischen Konstitutionalismus zu etablieren. Dabei wird vom englischen Vorbild allerdings der Gedanke der Selbsttätigkeit übernommen. Gneist – sozusagen realpolitischer Liberaler – ist ja keineswegs so anti-junkerlich, wie man vermuten könnte. Er geißelt zwar den junkerlichen Egoismus, aber sein Ziel ist eigentlich eine Art von Moralisierung der ostelbischen Selbstverwaltung auf dem Lande. Auf diese Weise gerät ein moralischer Appell in das ganze Modell, womit natürlich zugleich das Moment der Idealisierung, also die ideologische Komponente sichtbar wird. Gusy: Jetzt hatten wir vier Diskussionsbeiträge. Herr Kraus, wollen Sie jetzt ein Zwischenfazit ziehen? Kraus: Ja, das kann ich gerne machen. Also, ich kann im Wesentlichen allem, was gesagt worden ist, zustimmen. Herr Ruppert, in der Tat: Die englische Verfassung und das Selfgovernment sind in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert natürlich immer diskutiert worden. Wo überhaupt politisch über Verfassung und Verwaltung diskutiert wurde, fiel irgendwann das Stichwort. Über die süddeutschen Parlamente kenne ich mich weniger gut aus als Sie, aber ich bin mir sicher, dass das auch dort bei Gelegenheit als politisches Argument instrumentalisiert worden ist. Aber dies hat im Grunde genommen eigentlich wenig zu tun mit dem englischen Vorbild wie es gewesen ist, sondern es ist ein Schlagwort gewesen, das man mit ganz bestimmten politischen Inhalten gefüllt hat im politischen Tageskampf. Aber es stimmt schon, dass die Schrift von Ludwig von Vincke sehr weit verbreitet gewesen ist. Jeder, der sich überhaupt für neue Verwaltung interessiert hat, hat das gelesen, hat sich mit den Ideen auseinander gesetzt, und wie das immer bei

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Rezeptionsvorgängen ist: Vieles vergröbert sich, vieles wird einseitig zugespitzt, andere Elemente gehen verloren. Das hat man, glaube ich, immer zu beachten, wenn man die Rezeption dieses Begriffes und des Konzepts im deutschen politischen Tageskampfs der Vormärz-Zeit ausdeutet. Herr Mohnhaupt, dem, was Sie gesagt haben, kann ich in allen wesentlichen Punkten zustimmen. Dem hätte ich auch kaum etwas hinzuzufügen. Herr Lepsius: Vollkommen d’accord mit dem, was Sie gesagt haben. Sicher ist es keinesfalls Zufall, dass diese Schrift von Vincke genau 1848 wieder aufgelegt wird, und zwar von einem durchaus konservativen Mann, nämlich Niebuhrs Sohn, Marcus Niebuhr, der zum Kreis um die Brüder Gerlach und Friedrich Wilhelm IV. gehörte. Er war ja Kabinettsrat am Königshof unter König Friedrich Wilhelm IV. Er hat das 1848, als die Paulskirche schon gewählt wurde oder bereits gewählt war, publiziert und gesagt: Hier habt ihr doch das eigentliche Freiheitsmodell, so muss man es machen. Der moderne Parlamentarismus führt uns doch eigentlich nur auf gefährliche Abwege. Das war die Absicht. Und was Gneist anbetrifft, so gibt es von ihm die sehr interessante Schrift „Adel und Ritterschaft in England“ von 1853, in der sich der Appell an den preußischen Adel findet, doch sozusagen eine Art aristokratisches Selfgovernment in Anspruch zu nehmen und wenn man politische Vorrechte beanspruche, dann doch auch politische Pflichten im Staat auszuüben – eben nach dem Vorbild des englischen Friedensrichters. Damit habe ich, glaube ich, zum Teil auch schon etwas kommentiert, das Herr Brandt gesagt hat: Es ist vollkommen richtig, dass die spätere deutsche Theorie des Selfgovernment eine Umbiegung unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie in Deutschland ist. Sie darf also durchaus nicht als Keimzelle einer Parlamentarisierung – so hat es ja später dann Hugo Preuß verstehen wollen –, sondern muss als eine Einfügung unterhalb der politischen Führungsebene des monarchischen Konstitutionalismus angesehen werden. Das ist eine sehr glückliche Formulierung, dem kann ich nur zustimmen. Gusy: Danke sehr. Es sind noch fünf Kolleginnen und Kollegen auf der Rednerliste. Ich würde jetzt nicht einen Wahnsinnsdruck machen wollen in dem Sinne, dass Sie alle innerhalb von 30 Sekunden alles Wichtige sagen sollen. Ich will nur ein bisschen an die Zeit erinnern Wenn es gar nicht anders geht, unterbrechen wir die Diskussion für die Pause. Herr Härter ist der nächste. Härter: Sie haben einen Überblick gegeben, der in der Vormoderne ansetzte und die konkreten Verwaltungsstrukturen einbezog. Dazu wollte ich Sie im Lichte neuerer „kontinentaler“ Forschungsansätze, wie sie beispielsweise Stefan Brakensiek oder André Holenstein vertreten, noch etwas fragen: Diese stellen sehr viel stärker nicht nur die einzelnen Institutionen, son-

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dern das Zusammenspiel dieser Institutionen – in Ihrem Fall der Friedensrichter mit der lokalen Community und mit den dort vorhandenen Laienämtern – in den Mittelpunkt. Sie hatten ja einige erwähnt: Es gab Schöffen oder Geschworene, es gab local courts, usw. Welche Rolle spielt das für die Charakterisierung des Selfgovernment beispielsweise dieses lokale Laienelement im Zusammenspiel mit den Friedensrichtern? Auch da gab es sicher Konflikte. Und eine zweite Bemerkung: Vielleicht muss man bei dem Problem der Kriminalität als Motor für Reformen stärker differenzieren. Sie hatten ja argumentiert, dass Mitte des 18. Jahrhunderts das Wachstum der Kriminalität dazu Anlass gab, die lokalen Verwaltungsstrukturen zu reformieren. Das war natürlich auch ein zentrales Argument auf dem Kontinent. Gleichwohl entsprach dies nicht immer einem realen Anwachsen der Kriminalität, sondern es war ein diskursives Argument, das eingeführt wurde, um insbesondere staatliche Verwaltungsorgane, exekutive Organe – Stichwort: Polizei- oder Verwaltungsmaßnahmen, Stichwort: Passwesen – auszubauen. Auch beim englischen Muster ist eben zu beachten, dass die Kriminalitätswahrnehmung sich veränderte und dass Kriminalität zum probaten Argument für Veränderung in der Verwaltung wurde. Und man könnte noch hinzufügen: Vielleicht war es sogar so, dass die spezifische Verwaltungsstruktur in England, die nach modernen Gesichtspunkten in gewisser Weise ineffektiv erscheint, auf der anderen Seite eine repressive Kriminalpolitik bediente, die zu harten Sanktionen und Maßnahmen griff, weil die lokale Verwaltung aus der Perspektive des Staates Defizite aufwies. Gusy: Danke sehr, Herr Härter. – Herr Steiger. Steiger: Vielen Dank. Wenn ich die beiden letzten Vorträge mal in einem Punkte zusammenführen darf: Herr Kühne hat uns von der eigentümlichen Spaltung der Erinnerungskultur Stein berichtet. In Süddeutschland kommt sie nicht oder kaum oder jedenfalls nicht nennenswert vor. Was Sie uns vorgeführt haben in der Rezeption sind mit Ausnahme von Redlich lauter Preußen oder in Preußen ansässige Gelehrte. Die Frage hat sich für mich damit gestellt: Ist das eigentlich eine deutsche Rezeption? Oder ist das eine preußische Rezeption? Und die Frage, die sich dann anschließt, ist natürlich die: Was ist eigentlich mit dem Rest des Reiches? Die Konzentration auf Preußen ist zwar eine ältere Tradition der deutschen Verfassungsgeschichte, aber ich weiß nicht, ob man das noch so weiterführen sollte. Gusy: Tja, ob man das noch so weiterführen darf, wird uns Herr Brauneder sagen – der ist nämlich jetzt dran. Brauneder: Danke. Das passt sehr gut, dass ich das Wort jetzt nach Ihnen habe. Ich würde sagen, es ist eine deutsche Erscheinung, nämlich deswegen, weil – anknüpfend an Ihre Bemerkung zum Zusammenhang zwischen com-

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mon law und Selbstverwaltung – es Staatstheoretiker in dem Teil Österreichs, der zum Deutschen Bund gehörte, gab, die auch auf das englische Vorbild Bezug nahmen. Und zwar waren das jene, die den Ideen des Historischen Staatsrechts anhingen, also die Vertreter der Historischen Rechtsschule im Öffentlichen Recht. Dazu gehörte unter anderem der Minister Thun-Hohenstein – der ansonsten wegen seiner Universitäts- und Gymnasialreform bekannt ist –, und es sollten mir noch zwei, drei weitere Namen einfallen. Sie haben folgendes gesagt: Sozusagen „richtig“ sind nur jene Rechtsinstitutionen, auch im Öffentlichen Recht, die historisch herangewachsen sind, so wie das common law. Und daher wäre die österreichische Verfassungssituation – ungefähr 1850, 1860 – eigentlich dann „richtig“, wenn man zurückgeht zu dem Zustand vor dem Absolutismus, der in Österreich – anders als in England – eine kontinuierliche Entwicklung abgeschnitten hat. Jetzt müsste man eigentlich wieder anknüpfen an die Situation mit den Ständen, sie aber natürlich im Sinn des historisch-systematischen Staatsrechts weiterentwickeln und modernisieren. Das ist die Gegenposition zum Konstitutionalismus. Der Absolutismus war sozusagen die erste Fehlentwicklung und dann der Konstitutionalismus die zweite. Und da spielt die englische Selbstverwaltung eine große Rolle. Thun-Hohenstein hat englische Werke über Selbstverwaltung ins Deutsche übersetzen lassen. Redlich ist ja erwähnt worden. Und die zweite Bemerkung, da knüpfe ich jetzt ein wenig an Herrn Lepsius an: Ihrer These nach hat der Parlamentarismus diesen Selbstverwaltungsgedanken, wenn ich Sie richtig verstanden habe, verdrängt. Dazu nur folgendes: Als 1918 der neue Staat der Republik Österreich anstand, hat vor allem Karl Renner gesagt: Bis jetzt hatten wir die Situation der freien Gemeinde im konstitutionellen Staat, aber jetzt machen wir das ganz anders. Wir haben die Gemeindeebene, wir haben die Bezirksebene, wir haben die Länderebene, wir haben die Staatsebene – und auf jeder Ebene wird demokratisiert, das heißt auf jeder Ebene ein gewähltes Gremium, und dieses gewählte Gremium wählt so etwas wie eine Regierung – den Gemeindeausschuss, die Landesregierung usw. Und Renner hat das nochmal wiederholt 1945 in der sogenannten „Vorläufigen Verfassung“. Gusy: Pascale Cancik, bitte. Cancik: Ich würde gerne eine Frage stellen an Herrn Kühne und an Herrn Kraus, und zwar mit Blick auf die vielen sprachlichen „Selbst“-Verbindungen: Selbsttätigkeit, Selbstverwaltung, Selbstgesetzgebung – das erinnert ja an stoische Philosophie, und ich habe mich immer gefragt, wenn ich das gelesen habe, ob es eigentlich Erkenntnisse gibt, woher jemand wie vom Stein oder auch englische Autoren diese Verbindungen haben, ob man also Rezeptionen einer griechischen beziehungsweise römischen Philosophie-Tradition nachweisen kann. Das ist meine erste Frage.

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Dann würde ich gerne zweitens Herrn Lepsius doch etwas widersprechen, genauer seiner Kompensationsthese: Nach meiner Kenntnis der frühdemokratischen Verfassungsentwürfe und -forderungen gehört Selbstverwaltung, volkstümliche Verwaltung, demokratische Verwaltung immer zu den Demokratiekonzepten, die gefordert werden, hinzu. Das heißt man könnte vielleicht auch formulieren, dass das, was nach 1848 noch gefordert wird, ein Restbestand ist. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, das „Kompensation“ zu nennen, weil das im gewissen Sinne schon ein reduziertes Demokratiekonzept weiterträgt. Reduziert insofern, als man damit sagt: Demokratie war immer ein parlamentarisches Konzept, und das andere, hier insbesondere Selbstverwaltung, gehört zu alten Demokratiekonzepten überhaupt nicht hinzu. Vielleicht sollte man das bedenken. Vielen Dank. Gusy: Danke. Das letzte Wort in unserer Diskussion hat Herr Dilcher. Dilcher: Ich wollte auch zu beiden Vorträgen kurz Stellung nehmen unter dem Gesichtspunkt: Geschichte als Legitimation von politischen Vorstellungen im monarchischen Konstitutionalismus – unter den Bedingungen, die Herr Lepsius skizziert hat. Ich möchte dazu ganz kurz Gneist und Gierke, die ja am Ende des Jahrhunderts Fakultätskollegen in Berlin waren, nebeneinander stellen – wobei Gierke ja der Lehrer von Hugo Preuß ist, auf den Sie angespielt haben und der viele seiner Vorstellungen auch von Gierke hat. Gierke hat zur Jahrhundertfeier der Stein’schen Reformen 1908 eine große Rede gehalten über die Stein’schen Reformen und sie in die Tradition seines Genossenschaftsdenkens gestellt, hat dabei sowohl französische wie englische Einflüsse abgewehrt und gesagt: Die deutsche Stadt war es, die das Vorbild abgab. Was bedeutet das für historische Legitimation im Verhältnis zu Gneist? Ich meine, dass man sehen kann, dass Gneist sozusagen stärker seinen Frieden mit der Reform des monarchischen Konstitutionalismus gemacht hat, indem er die Honoratiorenverwaltung als Bindeglied zwischen die Monarchie und die Gesellschaft stellt, während bei Gierke – der natürlich auch Monarchist war – das Element einer bürgerlichen Emanzipation auf dem Weg über die deutsche Stadt und eben dann über die Stein’schen Reformen stärker anklingt und damit auch das Element der Freiheit. Ich glaube, die Tragweite und die Sprengkraft ist hier in der Stein’schen Konzeption in der Gierke’schen Sicht stärker als bei dem Rückgriff von Gneist auf die englische Selbstverwaltung. Gusy: Danke sehr, Herr Dilcher. Herr Kraus, Sie haben jetzt die Gelegenheit, auf die Fragen zu antworten. Kraus: Herr Härter, ich danke Ihnen natürlich für Ihre zusätzlichen Bemerkungen. Was die englischen Verhältnisse angeht, so hat das Zusammen-

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spiel des Friedensrichters mit den Laienbeamten teilweise sehr gut geklappt, aber manchmal eben auch gar nicht. Die Kritiker des alten Systems haben dann natürlich diese negativen Beispiele deutlich hervorgehoben, das muss man, glaube ich, so sehen. Es gab natürlich auch manche Friedensrichter, die ihr Amt politisch missbraucht haben, vor allem, um die ökonomischen Interessen der Gentry zu fördern: Aufkauf des Landes der freien Bauern usw.; das sind ja alles soziale Vorgänge, die im späten 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten. Das ist gerade zu Anfang des 19. Jahrhunderts – natürlich spielen dann schon die Einflüsse der Französischen Revolution mit hinein – in England selbst immer stärker kritisiert worden. Paradoxerweise genau zu einem Zeitpunkt, als man in Deutschland plötzlich das Selfgovernment entdeckt und – wie Ludwig von Vincke – lauthals rühmt. Eine sehr interessante Entwicklung. Aber dass man mein hier ganz holzschnittartig gezeichnetes Bild natürlich noch vielfach differenzieren muss aufgrund der neueren Forschung, da bin ich mit Ihnen vollkommen d’accord, keine Frage. Herr Steiger, deutsche oder preußische Rezeption: Nicht nur Redlich war Österreicher, Treitschke war ja auch Sachse, nicht wahr? In Leipzig ausgebildet, war er dann Wahl-Preuße. Aber es sind natürlich wichtige Autoren gewesen, die auf ganz Deutschland ausgestrahlt haben, das muss man – glaube ich – schon so sehen. Und zweitens gab es dann in Preußen ja bis 1848 beziehungsweise noch bis in die 50er Jahre hinein die Institutionen der Patrimonialgerichtsbarkeit und der gutsherrlichen Polizeigewalt, und es gab auf konservativer wie auf liberaler Seite Ideen, diese Institution irgendwie – wenn man sie schon nicht abschaffen konnte – weiterzuentwickeln im Hinblick auf das englische Friedensrichteramt in einer die die deutschen Verhältnisse modifizierten Form. Die Konservativen im Kreis um die Brüder Gerlach haben ja solche Ideen eines aristokratischen Selfgovernment immer wieder versucht zu propagieren, und das ist dann natürlich an der Engstirnigkeit, teilweise auch an der relativen Vermögenslosigkeit vieler preußischer Landjunker gescheitert, und auch natürlich aus anderen Gründen. Aber ich glaube, damit ist auch ein Teil ihrer Frage beantwortet, weshalb gerade Preußen. Dass es eben nicht nur Preußen war – da bin ich Ihnen, Herr Brauneder, dankbar für den Hinweis auf Graf Leo Thun –, dass es eben auch in Österreich eine sehr starke anglophile Fraktion gerade unter den Konservativen gab, das ist sehr wichtig. Auch die Übersetzung der Schrift des Earl Grey über parlamentarische Regierungsform und Selfgovernment (1863) durch Graf Thun hat natürlich einen bedeutenden Eindruck und Einfluss schon in Österreich gehabt, das hat man dort genau zur Kenntnis genommen. Thun war ja nicht irgendwer, sondern war lange Jahre Kultusminister und hat auch später noch bis in die frühen 80er Jahre als Abgeordneter eine sehr wichtige Rolle in der österreichischen Politik gespielt.

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Zu Frau Cancik: Antike Traditionen sind natürlich vorhanden, aber das hat die englische ideengeschichtliche Forschung der letzten 40 / 50 Jahre ja sehr gut herausgearbeitet: Der klassische Republikanismus. Denken Sie an Autoren wie Pocock und Skinner und die Cambridge School, die die englische politische Ideengeschichte – auch die Geschichte der englischen Rechts- und Verfassungsideen – umfassend aufgearbeitet und die antiken Traditionslinien, die über den Renaissance-Humanismus vermittelt worden sind, sehr deutlich herausgearbeitet haben. Also die antike Tradition ist auf jeden Fall in diesen Ideen – freilich vielfach vermittelt und gebrochen – wirksam. Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zu Herrn Dilcher: Sie haben vollkommen recht, dass Sie auf Gierke hinweisen und die Genossenschaftsidee, die schon bei Gneist eine wichtige Rolle spielt. Auch die Frage: Inwieweit sind englische Korporationen dann mit der deutschen Genossenschaft vergleichbar? Nur – um Herrn Asche von heute Vormittag zu zitieren: Dieses „Riesenfass“ des Streites oder der Diskussion um den falschen oder richtigen Genossenschaftsbegriff wollte ich im Rahmen dieses knappen Referats nicht aufmachen. Aber Sie haben vollkommen recht, das ist ein ganz wichtiger Aspekt – Freiheit als primär genossenschaftliche Freiheit –, der in dieser ganzen Diskussion, dann übrigens noch über Preuß hinaus, eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Insofern bin ich Ihnen dankbar für diesen erweiternden Hinweis. Gusy: Danke sehr, Herr Kraus. Oh, Frau Barmeyer, habe ich Sie übersehen? Barmeyer-Hartlieb: Ja, Sie haben mich vergessen. Ich mache es nun ganz kurz. Gusy: Bitte sehr. Barmeyer-Hartlieb: Ich habe mich natürlich sehr gefreut, dass Sie mit Ludwig Vincke begonnen haben, der in gewisser Weise aus der Reihe der anderen Beispiele heraus fällt. Aber er ist vielleicht – wie man heute gern sagt – für den Mainstream besonders bezeichnend gewesen. Denn er ist kein originärer Denker, sondern ein pragmatischer Politiker und Verwaltungsfachmann und setzt sich mit den zu seiner Zeit diskutierten Begriffen zwar nicht unkritisch, aber eher rezeptiv auseinander. Eine kleine Ergänzung zu seiner Englandorientierung: Seine erste Englandreise 1800 galt dem modernen England der Landwirtschaft und Technik. Diese hat er mit dem Kreis um die Frauen von Friedland-Kunersdorf und Albrecht Daniel Thaer vorbereitet. Die zweite Englandreise 1807 – und sie gibt den konkreten politischen Hintergrund seiner Schrift zur inneren Verwaltung Englands ab – hat er auf eigene Faust unternommen, um einen

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Aufstand gegen Frankreich zu mobilisieren; eine merkwürdige Geschichte. Im Reformerkreis um den Freiherrn vom Stein hat er 1808 seine Schrift verfasst. Seine stark idealisierte Überhöhung des englischen Selbstverwaltungsbildes mit Rückgriff auf angebliche altgermanische Traditionen war moralisch-ethisch und politisch motiviert. Es handelt sich hier um ein AntiFrankreich-Bild. Kraus: Ja, da stimme ich vollkommen mit überein, und das war ja auch der Grund, warum das erst 1815 von Niebuhr gedruckt worden ist. Vorher konnte das schon aus einleuchtenden politischen Gründen so gar nicht publiziert werden. Gusy: Danke sehr. Ich bitte nochmal um Nachsicht, Frau Barmeyer, dass ich Sie offenbar übersehen hatte.

Die Föderalisierung des Kaisertums Österreich nach 1860 und der Gedanke der Selbstverwaltung Von Thomas Simon, Wien

I. Die Dezentralisierung des Kaisertums Österreich seit 1860 1. Das auslösende Moment: Militärische Niederlage und Finanzkrise 1859

Der moderne österreichische Bundesstaat hat sich ursprünglich – im Gegensatz zu den föderalen Strukturen Deutschlands – nicht aus einem Zusammenschluss souveräner Staaten entwickelt, ist also nicht entstanden aus der Abgabe von Hoheitsrechten, sozusagen „von unten nach oben“, von den sich verbindenden Einzelstaaten her auf den dadurch begründeten Bund, sondern genau umgekehrt: Durch Dezentralisierung des Staates im Wege einer vorsichtigen Verlagerung von Hoheitsrechten „von oben nach unten“ aus dem Zentralstaat heraus auf die als Selbstverwaltungskörper neu eingerichteten Länder. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des dadurch entstehenden dezentralisierten Einheitsstaates werden in den 60-iger Jahren gelegt, abgeschlossen mit der sogenannten Dezemberverfassung von 18671, mit der zugleich der österreichisch-ungarische Doppelstaat in der Form entstand, in welcher er dann bis zum Ende der Monarchie 1918 bestehen sollte. In der Verfassung der neu entstandenen Republik Österreich, dem Bundesverfassungsgesetz von 1920, wurden dann die Kompetenzen der Länder weiter ausgebaut, so dass die Verfassung den neuen Staat nunmehr ausdrücklich als „Bundesstaat“ deklarieren kann.2 Die zentralstaatliche 1 Zu diesem Verfassungsgesetz vor allem Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in: ders. (Hrsg.), Wege zur Grundrechtsdemokratie, Wien, Köln 1989, S. 239 – 258; Darstellung im Kontext der allgemeinen Geschichte bei Helmut Rumpler, Glanz und Elend des nationalen Liberalismus (1867 – 1903 / 05), in: ders. (Hrsg.), Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (= Österreichische Geschichte 1804 – 1914, hrsg. von Herwig Wolfram), Wien 2005, S. 416 ff. 2 Zu diesem Vorgang Gerald Stourzh, Länderautonomie und Gesamtstaat in Österreich 1848 bis 1918. Bericht über den 19. österreichischen Historikertag in Graz 1992 (= Veröffentlichungen des Verbandes österreichischer Historiker und Geschichtsvereine, Bd. 28), Wien 1993, S. 53 ff.

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Tradition Österreichs schlägt aber auch auf die heutige Verfassung Österreichs als eines „unitarischen Bundesstaats“ durch.3 Im folgenden soll der Vorgang der allmählichen Dezentralisierung und Föderalisierung des Kaisertums Österreich, wie er seit 1860 betrieben wurde, eingehender dargestellt und das Augenmerk dabei vor allem auf die Frage gerichtet werden, welche politischen Konzeptionen diesen Vorgang motiviert haben und welche Rolle dabei der Selbstverwaltungsgedanke gespielt hat. Die zögerliche und langsame Rückkehr zu föderalen Strukturen, seit den 60-iger Jahren Hand in Hand gehend mit einer ganz allmählichen Adaption konstitutioneller Verfassungselemente, erfolgte von einem zentralistischen Ausgangspunkt aus. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings, in der Phase des sogenannten Neo-Absolutismus, hatte das Kaisertum Österreich die Züge eines Einheitsstaates verliehen bekommen. Nach der Niederschlagung der in Österreich in besonderer Schärfe ausgebrochenen, da bereits mit dem Nationalitätenproblem verbundenen, Revolution 1848, war der junge Kaiser Franz Josef zunächst ganz und gar von dem politischen Bemühen bestimmt, seinen Staat mit möglichster Konsequenz zu einem Zentralstaat zu machen und die Überreste eines traditionellen, vormodernen Föderalismus möglichst säuberlich zu entfernen. Es war im Grunde die Fortsetzung des absolutistischen Zentralisierungswerkes, wie es von Maria Theresia und Joseph II. begonnen worden war, das aber augenscheinlich mit letzter Konsequenz erst von Franz Joseph durchgeführt wurde, der die gewaltsame Niederschlagung der Revolution 1849 dazu nutzte, nicht nur reinen Tisch zu machen mit dem Konstitutionalismus, sondern zugleich alle Überreste des traditionellen, ständisch verankerten Föderalismus abzuschaffen.4 Gerade in Ungarn hatte sich der ständische Partikularismus in einer für die Integrität des habsburgischen Gesamtstaates besonders gefährlichen Form gezeigt, weil er sich hier früh mit den Idealen der Nationalbewegung verbunden hatte.5 Ähnliche Gefahren gingen von der italienischen Nationalbewegung aus, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Österreichs Stellung in Italien gefährdete.6 3 Siehe hierzu etwa Anna Gamper, Österreich – Das Paradoxon des zentralistischen Bundesstaates, in: Jahrbuch des Föderalismus 2000, hrsg. vom Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung, Baden-Baden 2000, 251 ff. 4 Grundlegend Harm-Hinrich Brandt, Der Österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848 – 1860 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Schrift 15), Bd. 1, Göttingen 1978, S. 246; Rumpler, Chance (FN 1), S. 319 ff. 5 Eingehend László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918 (zit. HM), Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 2: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, Zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 239 – 540 (277 f.). 6 Umberto Corsini, Die Italiener, in: HM (FN 5), Bd. III: Die Völker des Reiches, Wien 2003, S. 839 – 879 (863 ff.).

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Den Anstoß zur Revision des zentralistisch-neoabsolutistischen Politikkonzeptes gab dann die Niederlage Österreichs von 1859 in der militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich und Sardinien-Piemont, die sich an die Spitze der italienischen Einigungsbewegung gestellt und in Oberitalien mit Österreich zusammengestoßen waren. Die militärische Niederlage brachte die Verfassungsfrage wieder auf die politische Agenda. Ausschlaggebend war dabei das durch den verlorenen Krieg bedingte finanzielle Desaster, das eine Modifizierung des neo-absolutistischen Kurses erzwang.7 Seit 1848 hatte sich die Finanzlage der Monarchie unentwegte verschlechtert. 1854 begann man den Versuch, das Defizit durch Veräußerung von Staatsgut zu vermindern; auch dies ohne durchgreifenden Erfolg, zumal der Krieg von 1859 neue erhebliche Belastungen mit sich brachte.8 Das Kaiserreich geriet damals an den Rand des Staatsbankrotts. Durch die waghalsige Währungs- und Haushaltspolitik des damaligen Finanzministers v. Bruck war der Staatskredit akut gefährdet; die Staatsanleihen, die damals aufgelegt wurden, konnten nicht mehr oder nur noch zu außerordentlich ungünstigen Bedingungen verkauft werden, weil die europäischen Großinvestoren kein Vertrauen mehr in die künftige Zahlungsfähigkeit des österreichischen Staates besaßen. Mit dem drohenden Staatsbankrott wurde zugleich das neo-absolutistische System desavouiert, weil das Finanzgebaren v. Brucks die fatalen Konsequenzen einer fehlenden parlamentarischen oder zumindest irgendwie „öffentlichen“ Budgetkontrolle für jedermann sichtbar zu Tage gebracht hatte.9 Franz Josef befand sich damit in einer außerordentlich schwierig zu bewältigenden verfassungspolitischen Zwickmühle: Einerseits war er noch beseelt von einer tief sitzenden Aversion gegen jedes konstitutionelle Verfassungsmodell. Auch gut zehn Jahre nach der gewaltsamen Niederkämpfung eben dieses Modells wollte Franz Josef davon nichts wissen. Das ging soweit, dass sich der Kaiser von seinen Ministern in absolutistisch-autokratischer Manier das schriftliche Versprechen geben ließ, selbst die bloße Diskussion derartiger Modelle im Ministerrat zu unterlassen10: Konstitutionalismus – in welcher Form auch immer – war für Franz Josef augenscheinlich nicht diskussionsfähig. Bei den anstehenden verfassungspolitischen Entscheidungen sei, so die Devise, die der Kaiser seinen Ministern ausgegeben 7 Harm-Hinrich Brandt, Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression, in: Dieter Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 136 – 160 (143). 8 Herbert Matis, Österreichs Wirtschaft 1848 – 1913. Konjunkturelle Dynamik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter Franz Josefs I., Berlin 1972, S. 57 f. und 100. 9 Siehe hierzu die spannende Darstellung dieser dramatischen Finanzkrise, die dann schließlich mit dem Selbstmord von Brucks endete, bei Brandt, Neoabsolutismus (FN 4), Bd. 2, S. 886 ff. 10 Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 10. Aufl. Wien 2005, S. 139.

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hatte, „alles sorgfältig zu vermeiden, was den konstitutionellen Gelüsten Nahrung geben könnte“.11 Andererseits konnte sich der Kaiser dem Zwang zur Veränderung auf Dauer nicht entziehen. Mit dem sogenannten „Laxenburger Manifest“ vom 23. Aug. 1859 wollte er ein entspannendes Zeichen setzen, indem er zumindest einmal seinen guten Willen zur verfassungspolitischen Neuorientierung signalisierte.12 Bei den Beratungen, die nun zu der Frage in Gang kamen, wie der nach dem Manifest vom August 1859 entsprechend angestiegene Erwartungsdruck des bürgerlichen Publikums in Richtung eines verfassungspolitischen Kurswechsels aufzufangen und die unausweichlich gewordene Bewegung in der Verfassungsfrage einzuleiten sei, sahen sich die maßgeblichen Gremien – Reichrat und Ministerrat – vor eine schwierige Aufgabe gestellt13: Einerseits wollte man den Forderungen von liberaler Seite in irgendeiner Weise mit einem Verfassungskonzept gerecht werden, das die Bereitschaft der Regierungsspitze zu verfassungspolitischem Wandel signalisieren konnte. Andererseits galt es aber auch, zu irgendwelchen konstitutionellen Mustern ausreichend Distanz zu halten. Hier boten sich nun zwei Perspektiven, deren Verfolgung die Umgehung eines konstitutionellen Kurses möglich zu machen schien: Entweder die Wiederbelebung des traditionellen, altständisch dominierten „Kronlandföderalismus“14 im Zeichen des „historischen Rechts“ der Länder, der das Kaisertum Österreich in eine mehr oder weniger locker verbundene Union von Ständestaaten zurücktransponiert hätte. Oder der Versuch mit dem Modell des „Self-Government“, so die auch in der damaligen Diskussion in Österreich verwendete Bezeichnung.15 Was die Verfassungsgeschichtsschreibung mit „Kronlandföderalismus“ bezeichnet, hat mit den modernen, zunächst in den USA und der Schweiz entwickelten bundesstaatlichen Mustern nichts gemein. Es handelt sich vielmehr um einen viel älteren, durch und durch traditionalen Föderalismus protostaatlicher Provenienz, der tief in die spätmittelalterlich-frühneuzeit11 Diktum des Kaisers in der Ministerkonferenz, zit. bei Rumpler, Chance (FN 1), S. 374. 12 Skeptische Einschätzung dieses „Manifests“ bei Brandt, Neoabsolutismus (FN 4), Bd. 2, S. 818: Es „bedeutete durchaus keinen innenpolitischen Systemwechsel, sondern bezeichnet zunächst nur den Versuch, die gefährliche Mißstimmung in der Öffentlichkeit aufzufangen“. 13 Breite Darstellung der Diskussionen im Vorfeld des Oktoberdiploms (dazu unten 3.) bei Josef Redlich, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, Bd. 1, Leipzig 1920, S. 572 ff.; Friedrich Walter, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Wien 1947, S. 185 ff. 14 Brandt, Liberalismus (FN 7), S. 139. 15 Georg Schmitz, Die Anfänge des Parlamentarismus in Niederösterreich. Landesordnung und Selbstregierung 1861 – 1873 (= Schriftenreihe des Instituts für Föderalismusforschung, Bd. 36), Wien 1985, S. 36.

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liche Formierungsphase des modernen Staates zurückreicht. Die Staaten Kontinentaleuropas entwickelten sich, soweit sie von größerem räumlichem Zuschnitt waren, in polyzentrischer Weise: Die Staatsbildung, d. h. die Monopolisierung und Zusammenfassung der Herrschaft beim Landesfürsten und die Ausbildung hierarchisch-bürokratisch strukturierter Verwaltungsapparate geschah an der Schwelle zur Neuzeit zunächst noch regelmäßig in kleineren Räumen und Herrschaftseinheiten. Erst im Laufe der Frühen Neuzeit wurden diese protostaatlichen „Landesherrschaften“ dann, vielfach im Erbwege bzw. auf der Grundlage dynastischer Heiratspolitik oder lehensrechtlicher Mechanismen, zu „zusammengesetzten“ Großstaaten miteinander verbunden, wie sich dies besonders auffällig in der Habsburgermonarchie, aber im Grundsätzlichen ebenso im Falle Frankreichs oder Preußens beobachten läßt. Dies geschah in der Regel mittels eines zentralen Behördensystems, mit dem die partikularen Teile miteinander verklammert wurden.16 Die Intensität und Geschwindigkeit des Einschmelzungsvorganges, mit dem die vormals herrschaftlich selbständigen Teile in den übergreifenden Verband eines modernen Großstaates einbezogen wurden, hing von der jeweiligen Stärke und Durchsetzungsfähigkeit des Monarchen ab. Grundsätzlich gelang es aber auch im Zeitalter des Absolutismus nirgendwo, die zunächst nur dynastisch verbundenen Teile so miteinander zu verschmelzen, dass daraus ein lupenreiner Zentralstaat entstand17; dies gelang – soweit die Politik dann noch am Ideal des Zentralstaates festhielt – generell erst im 19. Jahrhundert, besonders dezidiert etwa im revolutionären Frankreich oder in weitgehend neu konstruierten staatlichen Gebilden, wie den süddeutschen Staaten.18 In Preußen und Österreich erhielten sich hingegen die partikularen Glieder der „zusammengesetzten“ Staaten einen Teil ihrer in erster Linie von den Ständen verkörperten und zäh verteidigten rechtlichen und administrativen Selbständigkeit, sichtbar in Gestalt eigener ständischer Provinzial16 In Bezug auf Österreich siehe etwa Wilhelm Brauneder, Die Habsburgermonarchie als zusammengesetzter Staat, in: Hans-Jürgen Becker (Hrsg.), Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 19.3. – 21.3.2001 (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 16), Berlin 2006, S. 197 – 236 (hier: S. 198 ff.). Zu Preußen siehe Helmut Neuhaus, Das Werden Brandenburg-Preußens, in: ebd., S. 237 – 256. 17 Siehe hierzu für Österreich etwa Gerhard Putschögl, Zur Geschichte der autonomen Landesverwaltung in den cisleithanischen Ländern der Habsburger Monarchie, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 13 (1981), S. 290 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Stourzh, Länderautonomie (FN 2), S. 39 f. 18 Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806 / 08 – 1817, München 1983; Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln, Berlin 1970; Bernd Wunder, Die Entstehung des modernen Staates in Baden und Württemberg, in: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons. Ausstellung des Landes Baden-Württemberg. Ausstellungskatalog, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. 103 ff.

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verwaltungen oder zumindest in den Provinzalständen.19 Sie waren die Grundlage eines jedenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch durchaus wirksamen Partikularismus, der sich der Tendenz zum Zentralstaat widersetzte. Es war dies also ein der modernen Staatsbildung geradezu entgegengesetzter, da partikularistischer „Föderalismus“, der mit modernen bundesstaatlichen Vorstellungen nichts zu tun hat, was nicht ausschließt, dass er sich dann im 19. Jahrhundert mit modernen bundesstaatlichen Deutungsmustern verband.

2. Historisches Staatsrecht und Selbstverwaltungsgedanke

In Österreich war diese Form des Föderalismus, in dem sich im Grunde die alte Tradition des „zusammengesetzten Staates“ fortsetzt, eng verknüpft mit dem Begriff des „Historischen Staatsrechts“. Darunter verstand man das normative Geflecht der aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit überkommenen, auf Gewohnheit, faktischer Verfassungspraxis und vertraglichen Übereinkommen zwischen Ständen und Landesfürst beruhenden staatsrechtlichen Überlieferung.20 Diese Schicht ständisch-feudaler Freiheiten und Rechte war in den meisten Ländern Europas von den nach Ausweitung und Stabilisierung ihrer Herrschaft, nach Souveränität strebenden Fürsten eingeschränkt und mehr oder weniger massiv beschnitten worden. Dieser Abbruch ständischer Herrschaftsrechte geschah allerdings vielfach in den verschiedenen Teilen der zusammengesetzten Staaten unterschiedlich weitgehend. So auch in besonders auffallender Weise im frühneuzeitlichen Staat der Habsburger, „den Ländern des Hauses Habsburg“: Die Zurückdrängung der Stände im Zeichen des Absolutismus gelang vergleichsweise weitgehend in den sogenannten deutschen Erbländern, das heißt den innerhalb des Reiches gelegenen Ländern.21 Sie gelang hingegen kaum gegenüber dem ungarischen Adel. Der Versuch, bei der Rückeroberung Ungarns von den Osmanen im 17. Jahrhundert ein absolutistisches System unter Ausschaltung des Adels zu etablieren, misslang; später war Maria Theresia in der bedrohlichen Auseinandersetzung mit Friedrich II. von Preußen auf die Unterstützung des ungarischen Adels angewiesen.22 Erst nach der Niederschlagung der nationalrevolutionären Aufstandsbewegung der Ungarn 1849 wurde dann im Zeichen des Neo-Absolutismus der 19 Putschögl, Geschichte (FN 17), S. 294; zu den preußischen Provinzialständen im Vormärz Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart [u. a.] 1968, S. 488 ff. 20 Brauneder, Habsburgermonarchie (FN 16), S. 218 f. 21 Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 85. 22 Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im Habsburgischen Vielvölkerstaat (= Österreichische Geschichte 1699 – 1815, hrsg. von Herwig Wolfram), Wien 2001, S. 166 f.

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Versuch unternommen, die Länder der ungarischen Krone in aller Konsequenz als bloße Provinzen in den zentralistisch strukturierten Einheitsstaat einzugliedern23; erst jetzt wurde Ungarn auch rechtlich angeglichen, indem das ABGB nunmehr auch auf Ungarn erstreckt wurde.24 Die partes adnexae des Königreichs, nämlich Siebenbürgen und Kroatien, wurden abgetrennt und als eigenständige Kronländer eingerichtet.25 Noch im Laufe der 50iger Jahre wurde allerdings das Scheitern dieses auf einer Art von militärischem Besatzungsregime beruhenden Versuches evident.26 Das Ungarn-Problem weitete sich zu einem permanenten Krisenherd aus, für den unbedingt eine Lösung gefunden werden musste. Neben der Finanzkrise war es das ungelöste Problem des ungarischen Selbständigkeitsstrebens, das die verfassungspolitische Entwicklung im Jahre 1860 wieder in Fluss brachte. Anders hingegen die Entwicklung in den deutschen Erbländern: Hier gelang es den Habsburgern, die „Dualistischen Ständestaaten“ des 16. Jahrhunderts in einen zentralistischen Einheitsstaat absolutistischen Zuschnitts zu integrieren27 Freilich erhielten sich auch in dem dadurch entstandenen „österreichisch-böhmischen Gesamtstaat“28 mehr oder weniger ausgeprägte Restbestände der ständischen Rechtspositionen und sie waren dann auch der Anknüpfungspunkt, als 1859 / 60 die verschiedenen Möglichkeiten einer Modifizierung des Neo-Absolutismus jenseits konstitutioneller Modelle erörtert wurden. Besonders nachdrücklich wurde das „Historische Staatsrecht“ dabei für Böhmen gefordert, weil der Begriff hier der Nationalbewegung einen willkommenen Ansatzpunkt dafür bot, die Forderung nach tschechischer Eigenstaatlichkeit historisch-rechtlich zu legitimieren. Daher spielte das sogenannte „Böhmische Staatsrecht“ unter allen „Historischen Staatsrechten“ eine besondere Rolle.29 Freilich hatte dieses Böhmische 23

Péter, Verfassungsentwicklung (FN 5), S. 294 ff. Ebd., S. 296. 25 Ebd., S. 295. 26 Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 2 (FN 4), S. 901 ff.; Péter, Verfassungsentwicklung (FN 5), S. 297 f. und 301. 27 Rudolf Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Wien [u. a.] 1996, S. 229 f. 28 Ebd., S. 230. 29 Brauneder, Habsburgermonarchie (FN 16), S. 215; zum böhmischen Staatsrecht vor allem auch Sascha Rosar, Theorie und Auswirkungen des böhmischen Staatsrechts in der österreichischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 1848 – 1918, Wien 2000; Peter Haslinger, Staatsrecht oder Staatsgebiet? Böhmisches Staatsrecht, territoriales Denken und tschechische Emanzipationsbestrebungen 1890 – 1914, in: Dietmar Willoweit / Hans Lemberg (Hrsg.), Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation. München 2006, S. 345 – 358; Luboš Velek, Böhmisches Staatsrecht auf „weichem Papier“: Tatsache, Mythos und ihre symbolische Bedeutung in der tschechischen politischen Kultur, in: Bohemia 47 (2006 / 07), S. 103 – 118. 24

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Staatsrecht, wie es bis zu seiner allmählichen Aushöhlung durch das „große Zentralisationswerk der Habsburger“30 bestand, noch vollkommen außerhalb irgendwelcher nationaler Bezüge gestanden, denn es war in erster Linie ständisch-feudal fundiert. In Ungarn scheint das „Historische Staatsrecht“ hingegen aus der Semantik des Nationalstaates und der nationalen Identität durch die Verfassung von 1848 in den Hintergrund gedrängt worden zu sein; diese Verfassung war auf dem Pressburger Reichstag der ungarischen Stände verabschiedet und vom Kaiser unter dem Eindruck der gewaltsamen revolutionären Ereignisse sanktioniert worden.31 Sie bildete fortan den argumentativen rechtlichen Bezugspunkt der ungarischen Nationalbewegung.32 Vollkommen andersartige Wurzeln hat demgegenüber die Idee der „Selbstverwaltung“. „Selbstverwaltung“ setzt den voll ausgebildeten modernen Staat voraus. Sie lässt sich deuten als gesellschaftliche Gegenreaktion auf das neuartige Ausmaß an Herrschaftskonzentration und Bürokratie, wie es in den reformabsolutistischen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht war.33 Selbstverwaltung ist also nicht lediglich aus vorstaatlicher Zeit übrig gebliebene Autonomie bestimmter genossenschaftlich organisierter Gruppen, wie etwa der ratsfähigen Geschlechter oder der Landstände, sondern sie basiert auf der bewussten Rückübertragung von Hoheitsrechten aus dem ansonsten alle Rechte bei sich vereinigenden Staat heraus. Auch mit dem Self-Government schien sich die Gefahr eines Abgleitens in den Konstitutionalismus bannen zu lassen, weil es eine Möglichkeit versprach, das bürgerliche Emanzipationsstreben auffangen zu können. Beide Modelle – liberales Selbstverwaltungsprinzip einerseits und der feudal-konservative „Kronlandföderalismus auf der Basis eines „Historischen Staatsrechts“ andererseits – treten nun in den verfassungspolitischen Diskussionen als entscheidende Motive hervor. In der daraus resultierenden nachfolgenden Verfassungsgesetzgebung werden sie im Ergebnis miteinander verbunden. 3. Die Diskussionen im Reichsrat

Die Diskussion wurde zunächst weitgehend von den „Hoch-Torys“34 dominiert, denen ein am Modell des „zusammengesetzten Staates“ orientierter 30 Karel Maly ´, Die Verfassung des Staates der Böhmischen Krone, in: Becker (Hrsg.), Zusammengesetzte Staatlichkeit (FN 16), S. 71 – 85 (hier: S. 74). 31 Péter, Verfassungsentwicklung (FN 5), S. 291 ff. 32 Ebd., S. 300 ff. 33 Michael Stolleis, Selbstverwaltung, in: HRG 4, Sp. 1621: „Selbstverwaltung setzt eine von ihr unterschiedene, antagonistische Staatsverwaltung voraus“. 34 So die Bezeichnung bei Friedrich Walter, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500 – 1955 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 59), Wien, Köln, Graz 1972, S. 190.

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Kronlandföderalismus vorschwebte.35 Freilich war das Lager der „UltraKonservativen“ in sich keineswegs geschlossen, weil sich auch bei ihm unterschiedliche nationale Ausrichtungen bemerkbar machten. Leo Graf Thun Hohenstein etwa, Unterrichtsminister in der Phase des Neo-Absolutismus36, Agenor Graf Goluchowski, seit dem Kurswechsel von 1859 Innenbzw. Staatsminister37, oder der ungarische Magnat Graf Antal Szécsen38, die hier als besonders exponierte Vertreter des feudal-konservativen Lagers genannt werden sollen, vertraten durchaus nicht in allen Punkten deckungsgleiche Föderalismuskonzepte. Insbesondere der letztere war bestrebt, eine verfassungsrechtliche Sonderrolle Ungarns festzuschreiben, weil er hoffte, damit seine ungarischen Standesgenossen in einen Verfassungskonsens einbinden zu können.39 Es wäre außerdem eine unzulässige Vereinfachung, wollte man den traditionellen Kronlandföderalismus ausschließlich mit den feudalen Kräften des Kaiserstaates in Verbindung bringen. Beim Föderalismus auf der Basis der „Historischen Staatsrechts“ kam es zu ganz eigenartigen Koalitionen. Denn die historisch-föderalistische Argumentation wurde in zunehmendem Maße auch von der aufkommenden tschechischen Nationalbewegung aufgenommen, die hier einen Ansatz zur Ausweitung nationaler Autonomie sah. Außerdem versprach ein „föderativ geeinigter Staatenbund der Königreiche und Länder“ – und das war nichts anderes als ein modifizierter „zusammengesetzter“ Staat“ –„das numerische Übergewicht der slawischen Stämme“ stärker zur Geltung zu bringen, als das bürgerlich-liberale Gegenkonzept eines „deutsch geführten und über ein Interessenparlament deutsch beherrschten Bundesstaates“.40 Demzufolge kam es vor allem in der Frage des „Böhmischen Staatsrechts“ zum Bündnis zwischen einem mehr oder weniger feudalen, an altständischen Verhältnissen orientierten Föderalismus einerseits und einem solchen nationaler Variante andererseits.41 Schließlich darf nicht übersehen werden, dass es auch in deutschsprachigen Ländern starke Präferenzen für den traditionalen Föderalismus geben konnte und zwar ganz außerhalb des grundbesitzenden Adels. An erster Stelle wäre hier Tirol zu nennen, wo ja bereits das frühneuzeitliche Ständewesen von der Partizipation einer nicht-adeligen 35

Ebd.; Rumpler, Chance (FN 1), S. 373. Zur Biographie Thun-Hohensteins siehe Salomon Frankfurter, Graf Leo ThunHohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz, Wien 1893. 37 Zur Rolle des Grafen Goluchowski in den Verfassungsdebatten Redlich, Staatsund Reichsproblem (FN 13), S. 583 ff. 38 Zu ihm eingehend Redlich, Staats- und Reichsproblem (FN 13), S. 577. 39 Ebd., S. 614 f. 40 Rumpler, Grenzen der Demokratie im Vielvölkerstaat, in: HM (FN 5), Bd. VII / 1, S 8. 41 Hans Peter Hye, Die Länder im Gefüge der Habsburgermonarchie, in: HM (FN 5), Bd. VII / 2: Die Regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 2427 – 2464 (hier: S. 2459). 36

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ländlichen Honoratiorenschicht geprägt gewesen war; die Stände Tirols bildeten eine „Landschaft“ mit Beteiligung der Landgemeinden.42 Auch in diesem Milieu war der traditionelle Kronlandföderalismus und das damit einhergehende Mißtrauen gegen jede Form der Zentralisierung augenscheinlich stark verankert.43 Auf die Details der von diesen Gruppen vertretenen Föderalismus-Konzepte kommt es hier indessen nicht an. Die Beratungen im Reichsrat standen jedenfalls im Zeichen einer „organischen“ Modifikation des Historischen Staatsrechts, wie es in den Vorberatungen immer wieder hieß.44 Darunter verstand man eine aus den Institutionen des Historischen Staatsrechts fortentwickelte modernisierte Staatsstruktur. Dass die „Zeitverhältnisse“, wie es hieß, bestimmte Weiterentwicklungen des historischen Staatsrechts unumgänglich notwendig machten, war eine auch von den Hochkonservativen und dem Kaiser geteilte Grundüberzeugung. „Bei aller Anerkennung der historischen Berechtigung der Stände“, so hat es etwa der damalige Unterrichtsminister Graf von Thun und Hohenstein auf den Punkt gebracht, dürfe „doch nicht jeder durch die Zeitverhältnisse bedingte Fortschritt ausgeschlossen“ werden.45 Mit der genannten „organischen Modifikation des historischen Staatsrechts“ sollte einerseits der „historischpolitischen Individualität der einzelnen Länder“ Rechnung getragen werden, wie es in einer Stellungnahme des Reichrates von 1860 heißt. Die „historisch-politische Individualität der Länder“ ergab sich aus jenen gewachsenen, gewohnheitsrechtlich überkommenen Verfassungsstrukturen, die, weil nicht einheitlich zentral gesetzt, je nach Land unterschiedlich ausgestaltet sein konnten, je nachdem, wie das frühneuzeitliche Kräftemessen zwischen Ständen und Landesherrn im konkreten Fall ausgegangen war. Zugleich galt es aber, „den Anforderungen und Bedürfnissen des gesamtstaatlichen Verbandes“ Genüge zu leisten, denn der Zusammenhalt der einzelnen Teile der Monarchie musste zu einem wie auch immer zu definierenden Minimum gewahrt werden, wollte man nicht wieder verspielen, was der Absolutismus an Integrationsleistung erbracht hatte. Einen Sprung rück42

Peter Blickle, Landschaften im alten Reich, München 1973, S. 159 ff. Siehe hierzu etwa Otto Stolz, Geschichte des Landes Tirol, Bd. 1, Innsbruck [u. a.] 1955, S. 646 f.: Die konservative Mehrheit im Tiroler Landtag strebte nach einer „weitergehenden Selbständigkeit an die Länder“ und gingen in Verfolg dieses Zieles ein Bündnis mit den Tschechen ein. Dies nicht zuletzt, um eine religionsrechtliche Sonderstellung Tirols durchsetzen zu können, in der eine Gründung protestantischer Kirchengemeinden grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte (ebd., S. 640 f.); siehe auch Richard Schober, Der Tiroler Landtag, in: HM (FN 5), Bd. VII / 2, S. 1821 – 1854 (1823 ff.). 44 Wilhelm Brauneder, Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918, in: HM (FN 5), Bd. VII / 1, Seite 69 – 237 (139). 45 Entsprechend Finanzminister von Plener: „Hier soll doch mehr als die alte landständische Verfassung gegeben werden.“ 43

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wärts in den zusammengesetzten Ständestaat des ancien régime konnte es natürlich nicht geben. Das Spannungsverhältnis zwischen der „historisch-politischen Individualität der Länder“ auf der einen und den „Anforderungen und Bedürfnissen des gesamtstaatlichen Verbandes“ auf der anderen Seite zeigt sich nicht zuletzt in der Diskussion um die Gestaltung der Landesstatute, die als Grundlage der wiedereinzurichtenden Länder als autonome Verwaltungseinheiten zu erlassen waren. Dabei erhob sich die Frage, ob diese Landesstatute für alle Kronländer einheitlich oder je nach der konkreten Ausgestaltung des „Historischen Staatsrechts“ des jeweiligen Landes unterschiedlich auszugestalten seien.46 Die konservativen Verfechter eins konsequenten Föderalismus auf historischer Basis verfochten naheliegenderweise letzteres, weil dabei das individuell gewachsene Historische Staatsrecht eines jeden einzelnen Landes am stärksten zur Geltung kommen musste. Der Gedanke der Selbstverwaltung stellt nun dasjenige gedankliche Element der Diskussion dar, mit dem man den großbürgerlichen „liberal-gouvernementalen“ Kreisen entgegenkommen wollte. Zugleich hoffte man, damit ein Abwehrinstrument gegen eine Konstitutionalisierung der Verfassung im liberalen Sinne in die Hand zu bekommen. Das Schlagwort vom sogenannten „Self-Government“ bot eine willkommene Konsensformel, auf die sich augenscheinlich auch Feudalkonservative wie Golukowski einlassen konnten. Ihm ging es freilich augenscheinlich weniger um den mit dem Selbstverwaltungsgedanken verbundenen Partizipationsaspekt, sondern es war offensichtlich die auf das äußerste angespannte Lage der Staatsfinanzen, die bei Golukowski das wesentliche Motiv für das Self-Government bildete.47 Der drohende Staatsbankrott habe es schlicht erzwungen, so Golukowski, „einen wesentlichen Teil der Geschäfte, welche jetzt von landesfürstlichen Behörden besorgt werden, autonomen, den Beteiligten selbst angehörigen Organen zu übertragen“. Angesichts des staatlichen Haushaltsdebakels schien ihm dies die „dringendste“ politische „Aufgabe“.48 Natürlich konnten diese „autonomen, den Beteiligten selbst angehörige Organe“ nur ständische Vertretungen sein – alles andere hätte einen zu ausgeprägten konstitutionellen Anstrich gehabt. Das Konzept einer von wem auch immer getragenen „Selbstverwaltung“ war in diesem Kontext vor allem auch mit der Hoffnung verknüpft, durch Verlagerung kostenintensiver Aufgaben vom Staat auf die als autonome Selbstverwaltungseinheiten einzurichtenden Kronländer Finanzmittel einsparen zu können. Im Idealfall konnte man auf diese Weise die gesamte Leistungsverwaltung auf die Kronländer abschieben.49 46 47 48 49

Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 21. Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 17 f. Zit. nach Walter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (FN 13), S. 185 f. Karl Brockhausen, Österreichische Verwaltungsreformen, Wien 1911, S. 38.

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Der erste Versuch einer verfassungsrechtlichen Neuorientierung des Kaiserreiches nach dem Neoabsolutismus, das sogenannte „Oktoberdiplom“ von 1860, trägt die Handschrift der „Tories“, vor allem des Grafen Szécsen. Mit dem Oktoberdiplom wurde zum einen mit der Wiedereinrichtung neoständisch besetzter Landtage die Föderalisierung des Kaisertums Österreich anvisiert. Der Hauptakzent des Diploms lag auf einer asymetrischen Föderalisierung: Das föderale Prinzip sollte dabei nicht allen Kronländern gleichmäßig zukommen, vielmehr sollte Ungarn eine besonders weitgehende Autonomie zukommen, indem ausschließlich dessen Landtag eine Mitentscheidungskompetenz in der Gesetzgebung eingeräumt wurde. Hier werden der Einfluss Szécsens und der ungarischen Magnaten sichtbar.50 Daneben wurde allerdings auch der Versuch gemacht, der liberalen Forderung nach einer Verfassung den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem der bislang als reines Beratungsorgan des Monarchen fungierende „Reichsrat“ mit legislativen Entscheidungskompetenzen ausgestattet wurde, die ihn nach einem gesamtstaatlichen Parlament aussehen ließen.51 Dahinter stand die Intention, auf dem politisch sensiblen Feld der Haushalts- und Steuerpolitik, wo es darauf ankam, das Vertrauen der ökonomischen Führungsschichten in das Haushalts- und Finanzgebaren des Staates wiederherzustellen, Publizität zu demonstrieren und Mitbestimmungsperspektiven zu eröffnen, um sich in diesem Bereich auf den Konsens der ökonomisch maßgeblichen Schichten des Landes stützen zu können. Die Entscheidungskompetenz dieses „Reichsrates“ sollte indessen auf die Steuererhebung und die Budgetkontrolle beschränkt bleiben. Damit blieb das Oktoberdiplom, was seinen konstitutionellen Gehalt anbelangt, hinter dem mittlerweile in allen Verfassungen der Gliedstaaten des Deutschen Bundes erreichten verfassungsrechtlichen Mindeststandart weit zurück; gemessen an liberalen Maßstäben musste das Oktoberdiplom daher durchfallen, zumal alle übrigen Kernforderungen des Konstitutionalismus unerfüllt blieben: Grundrechte, die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit oder die Ministerverantwortlichkeit etwa fehlten vollkommen, völlig abgesehen von dem Umstand, dass das „Parlament“ in Gestalt des Reichsrates zu großen Teilen gar nicht gewählt, sondern vom Kaiser besetzt werden sollte.52 Umgekehrt ging das Diplom aber nach Auffassung vieler Konservativer, vor allem aber der Ungarn, in seinem föderalistischen Ansatz nicht weit genug: Zwar sollten die Landtage wiedereingerichtet werden; auch sollten diese Landtage trotz 50 Redlich, Staats- und Reichsproblem (FN 13), S. 646 ff.; Rudolf Wierer, Der Föderalismus im Donauraum. Schriftenreihe des Forschungsinstituts für den Donauraum, Graz, Köln 1960, S. 67. 51 Eingehend zum Oktoberdiplom: Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 148 ff.; Wierer, Föderalismus (FN 50), S. 65 ff., Brandt, Neoabsolutismus, Bd. 2 (FN 4), S. 963 f. 52 Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 137 f.

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ihrer „neuständischen“ Zusammensetzung von einem weit überproportionalen Einfluss des grundbesitzenden Adels geprägt sein, aber aus der Warte eines konsequenten Föderalismus im traditionellen Sinne war schon allein die Konzeption eines gesamtstaatlichen Parlamentes ein Zuviel an Zentralismus und Einheitsstaatlichkeit.53 Es wurde daher auch sehr schnell offenbar, dass das Oktoberdiplom nahezu einhelliger Ablehnung unterlag, noch bevor es überhaupt umgesetzt und vollzogen werden konnte, so dass es seinen Zweck, zumindest Teile der politischen Eliten in einen Konsens einzubinden, vollkommen verfehlte.54 Das galt vor allem auch für die Ungarn, obwohl gerade deren Landtag im Oktoberdiplom eine privilegierte Sonderstellung einnahm, weil ihm als Einzigem ein Entscheidungsrecht zukommen sollte: Der ganz überwiegende Teil der politischen Elite Ungarns lehnte ein gesamtstaatliches Repräsentationsorgan, in welcher Form auch immer, ganz generell ab, weil man den zentralisierenden und integrierenden Effekt eines solchen Organs scheute. Vielmehr war man in Ungarn auf die revolutionäre Verfassung von 1848 fixiert, die man nach wie vor als geltend erachtete; sie basierte auf der Vorstellung eines unabhängigen Staates Ungarn, der mit den übrigen Ländern des Kaiserreiches nur noch über eine bloße Personalunion locker verbunden war.55 Statt auf die feudal-konservativen Kräfte setzte Franz-Josef nunmehr auf einen Politiker mit ausgesprochen liberalem Image: Er tauschte Golukowski als Innenminister gegen Anton Ritter von Schmerling aus. Das war ohne Zweifel ein Signal, denn damit übernahm ein „Achtundvierziger“ die Regie des weiteren Geschehens.56 Das sogenannte „Februarpatent“ von 1861 war dessen Werk; dieses Gesetz sollte dann zur Grundlage der weiteren Entwicklung werden.

II. Das Februarpatent von 1861: Die Rekonstruktion der Länder Anders als das Oktoberdiplom von 1860, das sofort von der weiteren Entwicklung überholt wurde, hat das Februarpatent 1861 die normativen Grundlagen der damals eingeleiteten Dezentralisierung gelegt; in seiner Grundstruktur blieb der im Februarpatent gelegte Ansatz bis 1918 wirksam. Auch das Februarpatent beinhaltete im Kern den Versuch, die Konzeption eines ständisch fundierten, traditionellen Kronlandföderalismus mit dem Gedanken des Self-Government zu verbinden. Der Gegensatz zwi53

Wierer, Föderalismus (FN 50), S. 67 f. Walter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (FN 13), S. 196. 55 Walter, ebd.; Wierer, Föderalismus (FN 50), S. 68. 56 Rumpler, Chance (FN 1), S. 376 f.; Walter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (FN 13), S. 197. 54

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schen Februarpatent und Oktoberdiplom sollte nicht überbetont werden; insbesondere das Föderalismuskonzept erfuhr im Februarpatent keine grundsätzliche Neuausgestaltung, sondern allenfalls eine gewisse Umakzentuierung in Richtung eines stärker einheitsstaatlichen Ansatzes.57 Der innovative Ansatz des Februarpatents lag vielmehr in seiner Annäherung an ein konstitutionelles Grundmuster – eine Annäherung, die allerdings überaus vorsichtig ausfiel, weil der Kaiser auch jetzt noch betonte, dass für ihn eine Wiederaufnahme der konstitutionellen Verfassungsmusters von 1848 / 49 inakzeptabel sei.58 Schmerling sah sich daher vor die schwierige Aufgabe gestellt, sein stärker am Konstitutionalismus orientiertes Verfassungsmodell so auszuformulieren, dass es noch als eine Art „Ausführungsgesetz“ zum Oktoberdiplom erscheinen konnte. Damit sollte dem Eindruck vorgebeugt werden, das als „beständiges und unwiderrufliches Staatsgrundgesetz“ bezeichnete Oktoberdiplom werde bereits ein halbes Jahr später durch ein neues Gesetz ersetzt. Das „Kaiserliche Patent vom 26. Februar 1861“ erklärt sich daher in seinem Proömium als „Ordnung und Form der Ausübung“ des Oktoberdiploms; gleichzeitig sollte daher auch die nicht unerhebliche Kurskorrektur in Richtung Konstitutionalismus diskret überspielt werden. Hinter solchen eher verharmlosenden Formulierungen gelang es von Schmerling aber, im Februarpatent auch einzelne Strukturelemente einer konstitutionellen Verfassung unterzubringen, um das Patent für das deutsche Besitzbürgertum attraktiver zu machen. Denn gerade auf den politischen Schulterschluss mit den wirtschaftlich maßgeblichen und steuerlich belastbaren Schichten kam es im Moment der existenziellen staatlichen Finanzkrise an. Hinsichtlich seiner föderalen Strukturen übernahm das Februarpatent den Ansatz des Oktoberdiploms59: Wie jenes knüpft auch dieses am traditionellen Föderalismus im Sinne des historischen Staatsrechts an. Auch das Februarpatent orientiert sich also an der historisch gewachsenen Union von Ständestaaten, indem es jedenfalls die Legislative von den Ländern her konstruiert60: Die Basis des partizipativen Elementes, das als Alternative zu einem konstitutionellen System gedacht ist, wurde von den Vertretungskörperschaften der Länder, den Landtagen, gebildet. Diese sogenannten „Landesvertretungen“ waren ständisch zusammengesetzt. Bis zu einem gewissen Grade war dies auch mit frühliberalen Verfassungsvorstellungen vereinbar, denn die Landtage waren nicht im Sinne des klassischen Ständekorpus formiert, sondern vielmehr neuständisch strukturiert, wenn auch mit starken altständischen Bezügen.61 Es war, ein „hochartifizielles neo57

Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 154 f. Rumpler, Chance (FN 1), S. 377. 59 Stourzh, Länderautonomie (FN 2), S. 46. 60 Detaillierte Darstellung des Februarpatents bei Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 151 ff. 61 Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 20. 58

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ständisches Kurienwahlrecht“62, dessen Differenzierung des Stimmengewichts die des preußischen Dreiklassenwahlrechts beträchtlich übertraf, weil dabei Kurien- und Zensuswahlrecht miteinander kombiniert waren. Das innovative, sprich neoständische Element lag vor allem darin, dass nunmehr statt Ständen Wählerklassen repräsentiert waren, vor allem aber in der Verstärkung des besitzbürgerlichen Elementes durch eine neue Kurieneinteilung: Die neue Kurie der Stadtbewohner wurde infolge eines hohen Wahlzensus von der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht dominiert. Abweichend von der alten Kurie der „Immediatstädte und -märkte“ wie sie in den Landtagen des ancien régime vertreten war, waren hier die Wahlberechtigten unmittelbar vertreten, während es nach dem altständischen Muster die Städte selbst gewesen waren, die man im Landtag repräsentiert sah.63 Groß- und Mittelbauern waren in bescheidenem Umfang über eine Kurie der Landbewohner vertreten. Die Interessen des wirtschaftlich aktiven Stadtbürgertums waren daneben zumindest mittelbar über eine weitere Kurie vertreten, nämlich über eine eigens für die Handels- und Gewerbekammern vorgesehenen Landtagskurie. Der Landtag oszillierte auf diese Weise zwischen einer bloßen Interessenvertretung im Sinne einer neuständischen, berufsständisch verfassten Ordnung einerseits und einem parlamentarischen Charakter als Vertretung der gesamten Gesellschaft andererseits.64 Die Akzentverschiebung in Richtung eines konstitutionellen Systems, durch die das Oktoberdiplom im Sinne von Schmerlings modifiziert wurde, lag zum einen in der markanten Kompetenzaufwertung der Landtage, die erst jetzt zu eigentlichen Gesetzgebungsorganen wurden, indem nunmehr ihre Zustimmung zu den „Landesgesetzen“ erforderlich war. Sie lag aber vor allem in der Aufwertung des Reichsrates als des gesamtstaatlichen Repräsentationsorganes: Dieses wurde nun auch von seiner Zusammensetzung her einem Zweikammernparlament angeglichen, dessen zweite Kammer ein „Abgeordnetenhaus“ war; Gesetze bedurften nunmehr generell dessen Zustimmung. Zu einer „konstitutionellen Verfassung“ im vollen Sinne blieb aber auch das Februarpatent auf Distanz und zwar vor allem dadurch, dass der Reichsrat auch jetzt noch kein unmittelbar gewähltes Parlament, sondern nur so etwas wie ein „General-Landtag“ war, dessen Mitglieder von den einzelnen Landtagen entsendet wurden, wobei jede Landtagskurie ihre Vertreter separat wählte. Die Kurieneinteilung der Landtage wiederholte sich somit im Reichsrat.65 Auch die übrigen Mankos des Oktoberdiploms waren nicht behoben worden: Nach wie vor gab es

62

Brandt, Liberalismus (FN 7), S. 144. Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 33. 64 Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 54. 65 Hoke, Rechtsgeschichte (FN 27), S. 371; Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 141; Walter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (FN 13), S. 202 f. 63

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keine Grundrechte oder „Ministerverantwortlichkeit“ dem Parlament gegenüber. Mit der im Februarpatent niedergelegten Aufwertung und Kompetenzverstärkung des Reichsrates als eines gesamtstaatlichen Organs war aber naturgemäß eine gewisser zentralisierender Effekt verbunden, zumal das Regel-Ausnahmeverhältnis bei der legislativen Entscheidungszuständigkeit zwischen Reichsrat und Landtagen zugunsten des ersteren formuliert war: Nur bei ausdrücklicher Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie als „Landesangelegenheit“ sollten die Landtage zuständig sein.66 Dieser zentralisierende Grundzug machte das Februarpatent bei den Ungarn denn auch von vornherein inakzeptabel; der ungarische Landtag verweigerte jede Mitwirkung. Aber auch den Tschechen und den Tirolern war das Februarpatent zu zentralistisch angelegt.67 Umgekehrt war für den Kaiser mit diesem Gesetz die Grenze des politisch Akzeptablen erreicht. Es ist fast rührend, zu beobachten, wie sich Franz-Josef gegen ein weiteres Abrutschen in den Konstitutionalismus zu sichern suchte: Er legt sämtlichen Ministern eine Erklärung vor, das Oktoberdiplom sei „die unverrückbare und nicht zu überschreitende Basis“ der weiteren Verfassungspolitik, und lässt sich von allen Ministern die schriftliche Zusicherung geben, an dieser „unverrückbaren Basis“ nicht zu rütteln.68 Das mit dem Februarpatent instituierte System ist mit modernen verfassungsrechtlichen Kategorien kaum zu beschreiben; von einem Bundesstaat im modernen Sinne war es weit entfernt. Es war in einzelnen Punkten stärker föderal, in anderen hingegen zentralistischer strukturiert als ein Bundesstaat. Ersteres vor allem in Hinblick auf den Umstand, dass es kein direkt gewähltes gesamtstaatliches Parlament gab, sondern nur so etwas wie einen „Generalausschuss“ aller Landtage, also ein aus Landtagsausschüssen zusammengesetztes Parlament. Gleichzeitig hat das Kaisertum Österreich aber auch 1861 noch einen ausgesprochen zentralistischen Charakter dadurch, dass die Länder keine eigene Regierung und nur ansatzweise so etwas wie eine eigenständige Exekutive besaßen. Anders, als man es bei einer „Föderalisierung“ erwarten mag, entstanden 1861 zwar sogenannte „Landesvertretungen“ in Gestalt der Landtage, nicht hingegen eigene Landesregierungen als exekutivisches Gegenstück zu den Landtagen. Vielmehr waren in der Institution der Landtage Gesetzgebungs- und Vollzugsfunktion miteinander verbunden; die Landtage waren also nicht nur Gesetzgebungs-, sondern gleichermaßen auch Verwaltungsorgane.69 Im 66

Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 149 f. Hoke, Rechtsgeschichte (FN 27), S. 377. Die „Tiroler Föderalisten“ (Hoke, ebd.) sprachen vom Februarpatent als dem „Schlachthaus“ der Länderselbständigkeit. 68 Brandt, Neoabsolutismus (FN 4), S. 964. 69 Eingehend zur Landesverwaltung Ernst C. Hellbling, Die Landesverwaltung in Cisleithanien, in: HM (FN 5), Bd. II: Verwaltung und Rechtswesen, 2. Aufl. Wien 2003, S. 190 – 269 (hier: S. 209 ff.); Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 85 ff. 67

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Zentrum ihrer Verwaltungstätigkeit stand die Verwaltung des Landesvermögens; dieses Landesvermögen bestand zum einen aus dem sogenannten „Domesticalvermögen“, das war das Vermögen der alten Landstände, das bei deren Auflösung in einen eigenen Domesticalfond überführt worden war, zum andern aus dem sonstigen Landesvermögen. „Erhaltung“, „Verwaltung“ und „Verwendung“ des Landesvermögens als einer rechtlich verselbständigten Vermögensmasse machen den Kern der Verwaltungszuständigkeit des Landtages aus.70 Aus dem, was die Landesordnungen „Verwendung“ des Landesvermögens nennen, entwickelte sich dann freilich im Laufe der Zeit eine breit gefächerte, allerdings nicht hoheitlich organisierte Leistungsverwaltung, vor allem im Bereich der sogenannten „Landescultur“; das waren etwa die Förderung der Landwirtschaft durch Meliorationsprogramme und Gründung landwirtschaftlicher Versuchs- und Lehranstalten, der Wasserbau und die Erschließung durch Bau und Unterhaltung von Straßen und Eisenbahnen.71 Dies alles sollte primär – so augenscheinlich noch die Vorstellung, auf der die Landesordnungen beruhten – aus den Erträgnissen des Landesvermögens finanziert werden; erst in zweiter Stelle waren in den Landesordnungen Zuschläge zu den staatlichen Steuern vorgesehen, die vom Staat eingezogen und sodann an die Landesvertretungen und deren Finanzverwaltung abgeführt wurden.72 Hoheitliche Verwaltung sollten Landtag und Landesausschuss demgegenüber nur ausnahmsweise und nur in solchen Angelegenheiten ausüben, die ihnen vom Staat durch Gesetz übertragen wurden. In erster Linie war dies die sogenannte „Gemeindetutel“, wie es in der Verwaltungssprache des 19. Jahrhunderts hieß, also die Überwachung des gemeindlichen Finanz- und Vermögensgebarens.73 Da die Landtage nur sporadisch zu den Sessionen zusammentraten, war es ein Landtagsausschuss, der sogenannte „Landesausschuss“, der als permanent arbeitende Behörde die laufenden Geschäfte führte. Der Landesausschuss bildete also nicht etwa die Exekutive des Landes, vielmehr waren Legislativ- und Exekutivfunktionen beim Landtag verbunden. Letzterer wird in der staatsrechtlichen Literatur daher folgerichtig auch als Landes„Behörde“ bezeichnet.74 Am treffendsten ist dieses System meines Erachtens beschrieben, wenn man es als eine modernisierte, zu Teilen an den Konstitutionalismus ange70

Ulbrich, Das Österreichische Staatsrecht, 4. Aufl. Tübingen 1909, S. 161. Umfassende Darstellung der einzelnen Zuständigkeits- und Tätigkeitsfelder der Landesverwaltung bei Georg Schmitz, Organe und Arbeitsweise, Strukturen und Leistungen der Landesvertretungen, in: HM (FN 5), Bd. VII / 2, S. 1353 – 1544. 72 Hierzu eingehend Hans Peter Hye, Strukturen und Probleme der Landeshaushalte, in: HM (FN 5), Bd. VII / 2, S. 1545 – 1592. 73 Ulbrich, Das Österreichische Staatsrecht (FN 70); dazu vor allem auch Putschögl, Geschichte (FN 17), S. 327 f. 74 Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 85 ff. 71

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passte Variante des „zusammengesetzten Staates“ im alteuropäischen Sinne versteht. Denn seine Affinitäten zum „altständischen“ Wesen sind unübersehbar: Was der „Landesausschuss“ in den österreichischen Ländern des 19. Jahrhunderts war, entsprach den ständischen Kollegien in der Frühen Neuzeit.75 Die Landtage der Frühen Neuzeit waren der Mittelpunkt der eigenen ständischen Verwaltung, die die Stände parallel zur landesfürstlichen Verwaltung im Laufe der Frühen Neuzeit hochgezogen hatten. Die aus den Landtagen hervorgehenden „Verordneten“ sorgten für die Kontinuität der Geschäftsführung auf den erstaunlich vielfältigen Gebieten des ständischen Verwaltungsengagements, wie etwa den Landschaftsschulen und -apotheken oder dem „Landesphysikus“, die in der Regel von einer eigenen, von der fürstlichen Einnehmerei getrennten, Landschaftskasse getragen wurden. Die Parallelen zu altständischen Strukturen setzen sich fort, wenn man die legislativen Kompetenzen der neuinstituierten Landtage betrachtet. Geht man von den gewohnten bundesstaatlichen Mustern aus, dann wäre es eigentlich zu erwarten, dass die Landtage nun für so etwas wie „Landesgesetzgebung“ zuständig geworden wären. Dem war aber nicht so. Im Februarpatent war eine eigentliche Landesgesetzgebung, d. h. eine Legislative, bei der die Gesetze ausschließlich von einem Landesorgan verabschiedet und sanktioniert werden, gar nicht vorgesehen. Vielmehr wurden auch die vom Landtag verabschiedeten Gesetze vom Kaiser sanktioniert – und zwar vom Kaiser in seiner Eigenschaft als Monarch des Gesamtstaates.76 Denn die Länder hatten im System der „Februarverfassung“ gar keine eigene Landesregierung, hatten also gar kein eigenes Landes-Staatsoberhaupt, das die Sanktionierung der vom Landtag beschlossenen Gesetze dem konstitutionellen Muster gemäß hätte übernehmen können. Was in der Februarverfassung verkürzt als „Landesgesetz“ bezeichnet wird, war demgemäß nichts anderes, als ein vom Kaiser als dem Staatsoberhaupt sanktioniertes staatliches Gesetz, das nur insoweit eine Besonderheit aufwies, als es einen räumlich auf das Gebiet eines Landes begrenzten Geltungsbereich hatte. Dementsprechend sprechen auch die zeitgleich mit dem Februarpatent ergangenen Landesordnungen nirgendwo von „Landesgeset75 Putschögl, Geschichte (FN 17), S. 289 ff.; ders., Die landständische Behördenorganisation in Österreich ob der Enns vom Anfang des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur österreichischen Rechtsgeschichte, Linz 1978; Peter Schmidtbauer, Stände und Verwaltung Oberösterreichs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rupert Feuchtmüller / Elisabeth Kovác (Hrsg.), Welt des Barock, Wien [u. a.] 1986, S. 252 – 259; Überblick über den neuesten Forschungsstand bei Gerhard Ammerer / William D. Godsey, Jr. / Martin Scheutz / Peter Urbanitsch /Alfred Stefan Weiß, Die Stände der Habsburgermonarchie. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie, Wien 2007, S. 13 – 41. 76 Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 149.

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zen“, sondern nur von „Gesetzen in Landesangelegenheiten“. Und das Gegenstück dazu waren der Nomenklatur des Februarpatents gemäß nicht etwa die „Reichsgesetze“, sondern schlicht die „allgemeinen Gesetze“, also diejenigen Gesetze, deren Geltungsbereich nicht auf das Gebiet eines Landes beschränkt, sondern die im ganzen Reich gültig waren. In beiden Fällen handelt es sich um staatliche Gesetzgebung, im einen Fall „mit einem örtlich auf das Land beschränkten Geltungsbereich“, im anderen ohne räumliche Beschränkung.77 Die Befugnisse der Landtage stellen demzufolge keine Mitwirkungsrechte gegenüber anderen Landesorganen dar, sondern gegenüber Kaiser und Ministerrat, also gegenüber Organen des Gesamtstaates. Auch in diesem Punkt ist die alte ständestaatliche Vergangenheit überaus lebendig. Denn dieses Nebeneinander von partikularer, zusammen mit einem Landtag betriebener Gesetzgebung und gesamtstaatlicher Gesetzgebung, die sich von ersterer lediglich im Geltungsbereich unterscheidet, ist ein vor allem aus der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung der großen Territorien, wie etwa Preußen, ganz vertrautes Phänomen. In der preußischen Policeygesetzgebung etwa lässt sich ganz deutlich beobachten, dass sich der Einfluss der Landtage auf die partikulare, nur auf einzelne Länder bezogene Gesetzgebung bis in das 18. Jahrhundert hinein hält, während bei der dann rasch zunehmenden gesamtstaatlichen Gesetzgebung sich der ständische Einfluss mangels gesamtstaatlicher Ständevertretung erst gar nicht geltend machen kann.78 Damit wird schließlich eine weitere ständestaatliche Reminiszenz im Februarpatent sichtbar: Das dort vorgesehene gesamtstaatliche Parlament war kein unmittelbar von den Bürgern gewähltes Parlament, sondern ein aus Ausschüssen aller Landtage zusammengestellter „Ausschuss-Landtag“ mit einer entsprechenden Kuriengliederung wie die Landtage.79 Auch dies folgt einem ständestaatlichen Muster, wo die für die Gesamtheit der Großstaaten zuständigen Generalstände – sie blieben allerdings ein Ausnahmephänomen – nach eben diesem Muster gebildet wurden.

77

Ebd., S. 150. Hierzu eingehend Thomas Simon, Einleitung, in: Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, hrsg. von Karl Härter / Michael Stolleis, Bd. 2: Brandenburg / Preußen mit Nebenterritorien (Kleve-Mark, Magdeburg und Halberstadt), hrsg. von Thomas Simon, Frankfurt am Main 1998, 1. Teilbd, S. 1 – 56. 79 Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 146. 78

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III. Die rechtliche Deutung der Kronländer als Selbstverwaltungskörperschaften Trug die vom Februarpatent in Gang gesetzte Föderalisierung des österreichischen Zentralstaates unverkennbar die Züge einer neoständischen Restauration, so schloss dies nicht aus, dass man die mit dem Februarpatent instituierten Verwaltungs- und Verfassungsstrukturen in einem modernen Sinn rechtlich zu deuten begann. Diese moderne rechtliche Bewertung im Sinne des 19. Jahrhunderts erfolgte unter Rückgriff auf den Gedanken der Selbstverwaltung. Daneben gab es allerdings ein konservativ-nationales rechtliches Deutungsmuster, das die Länder als Gliedstaaten eines – nach welchen Prinzipien auch immer – zusammengesetzten Staates zu qualifizieren suchte. Das Deutungsmuster der „Selbstverwaltung“ wurde dabei augenscheinlich von der deutschsprachigen, mehr oder weniger liberal orientierten Literatur bevorzugt; liberale politische Gesinnung verbindet sich im österreichischen Kaiserstaat zunächst typischerweise mit einer gewissen einheitsstaatlichen Orientierung.80 Das Motiv der „Selbstverwaltung“ ist jedenfalls das herrschende in den großen Standarddarstellungen des Staatsrechts, etwa von Josef Ulbrich81, oder dem „Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes“ von Rudolf von Herrnritt82 und ist ebenso anzutreffen in einer literarischen „Haupt- und Staatsaktion“, wie dem „Österreichischen Staatswörterbuch“.83 Die Kronländer werden hier strukturell dem Vorbild der Gemeinden angeglichen; sie werden zu räumlich erweiterten Parallelkonstrukten der Gemeinde. Die staatsrechtliche Literatur der Zeit qualifiziert sie als „Kommunalverbände höchster Ordnung“.84 „Höchster Ordnung“ deshalb, weil sie den Kommunen und allen übrigen höheren Kommunalverbänden, wie denen der Bezirke und Kreise, übergeordnet sind. Dahinter stand die Vorstellung einer hierarchisch gestuften Selbstverwaltungsorganisation, bei der die unteren Ebenen der Selbstverwaltung 80 Rumpler, Chance (FN 1), S. 376 f.; ders., Grenzen (FN 40), S. 1 – 10 (8); Walter, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (FN 13), S. 203. 81 Ulbrich, Staatsrecht (FN 70); zur Stellung Ulbrichs in der österreichischen Staatsrechtslehre: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 308. 82 Verwendet wurde die Ausgabe: Rudolf Herrnritt, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechtes, Tübingen 1909. 83 Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, hrsg. von Ernst Mischler / Josef Ulbrich u. a., Wien 1906 84 Ulbrich, Staatsrecht (FN 70), S. 161; Herrnritt, Handbuch des Verfassungsrechtes (FN 82), S. 69: „Besonders qualifizierte, mit gewissen staatlichen Elementen ausgestattete Selbstverwaltungskörper“; Franz Hauke, Grundriß des Verfassungsrechts, Leipzig 1905, S. 113: Landesverwaltung als „Grundform der Selbstverwaltung“; Ludwig Gumplowicz, Das Österreichische Staatsrecht, 3. Aufl. Wien 1907, S. 165 f.

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von den oberen, gleichfalls selbstverwalteten Ebenen kontrolliert werden. Verbunden mit dieser kommunalrechtlichen Deutung der Länder war ihre Verortung in der Sphäre der Gesellschaft. Als Kommunalverband kam den Ländern ebensowenig staatlicher Charakter zu, wie den Gemeinden. Wie die Gemeinden sollten die Länder vielmehr Teil einer staatsfreien gesellschaftlichen Selbstverwaltung sein.85 Der Staat sollte, so liest man es in einem Artikel der Zeitschrift für Verwaltung von 1868, aus bestimmten Bereichen „hinausgedrängt“ werden.86 Dieser Grundansatz staatsfreier gesellschaftlicher Selbstverwaltung ließ sich sehr gut in ein zentralistisch-einheitsstaatliches Politikkonzept integrieren: Denn je dezidierter man den kommunalen – und das hieß den frühliberalen Vorstellungen gemäß den staatsfreien – Charakter der Länder betonte, um so plausibler war es dann auch, ihnen jeden staatlichen Charakter abzusprechen. Auf diese Weise konnte man jedem föderalen Deutungsansatz, der das Kaiserreich in die Richtung eines Bundesstaates zu rücken und dabei die Länder als dessen Gliedstaaten zu interpretieren suchte, von vornherein den Boden entziehen. Auf einer derartig zentralistisch-einheitsstaatlichen Linie liegt etwa das Österreichische Staatswörterbuch, für das Ludwig Spiegel, Professor an der deutschen Universität in Prag, der auch mit rechtshistorischen Arbeiten in Erscheinung getreten ist, den einschlägigen Artikel unter dem Schlagwort „Länder“ verfasst hat87: Die Länder sind, so Spiegel, „nach heutigem Staatsrecht keine Staaten“, sondern „Verwaltungsverbände“ und „Selbstverwaltungskörper“.88 Er begründet das vor allem mit dem Umstand, dass die Länder „ohne die Mitwirkung des Staates“ keine Gesetze erlassen könnten. Denn die Gesetze bedürfen dem konstitutionellen Verfassungsdenken gemäß der Sanktion des Staatsoberhauptes, also des Kaisers.89 Die Länder selbst hingegen hatten keine eigene Landesregierung, die diesen Sanktionierungsakt hätte vornehmen können. Allenfalls der dem Landtag präsidierende „Landeshauptmann“ kam dafür in Frage, als Landesorgan mit Vollzugsfunktion betrach85 Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 35; allgemein zu diesem Gesichtspunkt des frühen, „staatsfreien“ Gemeindewesens Lothar Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“, in: ders. (Hrsg.), Liberalismus, 3. Aufl. Königstein 1984, S. 162 – 186 (hier: S. 170). 86 Zeitschrift für Verwaltung von 1868, S. 25: „Nun hat man bei der Reform die Tendenz des Hinausdrängens des Staates festhaltend, die Selbstverwaltung auf denselben Grundlagen gebaut, auf welchen die Staatsverwaltung früher gestanden war und heute noch steht“. 87 Ludwig Spiegel, Länder. Autonomie und Selbstverwaltung in der Gegenwart, in: Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, hrsg. unter Mitwirkung zahlreicher Fachmänner von Ernst Mischler / Josef Ulbrich, Bd. 3, 2. Aufl. Wien 1907, S. 395 – 430. 88 Spiegel, Länder (FN 87), S. 425. 89 Ebd.

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tet zu werden. Aber der Landeshauptmann wurde andererseits vom Kaiser unter Mitwirkung eines Staatsministers ernannt und ließ sich rechtlich daher leicht als staatliches Organ deklarieren.90 Dieser Umstand wirkte nun seinerseits zurück auf die rechtliche Qualifizierung der Landtage: Die Landtage könnten nicht als eigentliche „Vollparlamente“ betrachtet werden, da ihnen keine verantwortliche Landesregierung gegenüberstehe, sondern nur der als Vertreter des Kaisers fungierende „Landeschef“. Dieser „Landeschef“ – er führte regelmäßig den Titel „Statthalter“ oder „Landespräsident“ – war der Leiter der staatlichen Mittelbehörde, vergleichbar mit dem Regierungspräsidenten einer preußischen Provinz. Aber es war dies eben ein staatlicher Funktionsträger und kein „Landesbeamter“. Demzufolge könnten, so die weitere Schlußfolgerung, die Landtage weder ein Budgetrecht noch irgendeine andere Kontrollfunktion gegenüber einer „Regierung“ ausüben, weil es ihnen ganz generell an einem exekutivischem Gegenüber fehle, das es zu kontrollieren gelte. Schließlich fehle den Ländern auch die Kompetenz zur hoheitlichen Verwaltung, es sei denn, sie werde ihnen vom Staat ausdrücklich übertragen.91 Die Einordnung der Länder in den Zusammenhang des Selbstverwaltungsgedankens bezog ihre Plausibilität nicht zuletzt aus dem Umstand, dass in der „Selbstregierung“ des Landtages Legislative und Exekutive verbunden waren.92 Folgt man Bernd Wunder, dann war gerade diese „Gleichbehandlung, wenn nicht Vereinigung von Regierung und Verwaltung“ kennzeichnend für die liberale Selbstverwaltungsidee des 19. Jahrhunderts.93 Es war das, was Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift zu den preußischen Reformen die „Amalgamierung der Repräsentanten mit den Verwaltungsbehörden“ genannt hat.94 Das gab der rechtlichen Qualifizierung der Länder als Selbstverwaltungskörper ohne Zweifel eine gewisse Plausibilität. Nicht zu übersehen war allerdings, dass auch die rechtliche Einordnung der Kronländer als „Kommunalverbände“ deren ganz besonderer staatsrechtlicher Natur nicht gerecht wurde. Auch der Begriff des „Kommunalverbandes“ war eine Frucht der neuen Wissenschaft vom öffentlichen Recht, wie sie erst das 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte. Er wollte daher auf die österreichischen Kronländer nicht in allen Punkten passen. Denn von ihren Ursprüngen her hatten die Kronländer mit irgendwelchen 90

Ebd., S. 426. Ebd., S. 425. 92 Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 33 und S. 36; Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 224. 93 Bernd Wunder, Verwaltung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 1 – 95 (hier: S. 80 f.). 94 Zit. nach Wunder, Verwaltung (FN 93), S. 81. 91

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Institutionen kommunaler Provenienz nichts zu tun. Sie waren viel zu sehr mit dem Staat verbunden, als dass sie sich ohne weiteres der „gesellschaftlichen“, außerstaatlichen Sphäre zuweisen ließen, wie dies mit ihrer rechtlichen Einschätzung als „Kommunalverband“ verbunden war. Das begann schon damit, dass anfänglich noch durchaus umstritten war, ob den Kronländern überhaupt die Eigenschaft einer eigenständigen juristischen Person zukommen könne.95 Denn anders als die Kommunen bildeten die „Länder“ des österreichischen Kaiserstaates die „Bausteine“ des Staates, aus denen dieser erwachsen ist. Es war von daher durchaus fraglich, ob die Länder sich bei ihrer faktischen Einschmelzung in den Gesamtstaat, wie sie im Laufe der Frühen Neuzeit über die Bühne ging, überhaupt so viel rechtliche Eigenständigkeit und Identität bewahrt hatten, dass man sie als gegenüber dem Staat eigenständige rechtliche Subjekte auffassen konnte. Die Länder waren viel stärker mit dem Staat selbst und seiner Genese verbunden, als dies bei den Kommunen der Fall war; sie oszillierten zwischen bloßem staatlichem Verwaltungsbezirk und rechtlich verselbständigter Körperschaft, ohne dass sich den einschlägigen Normtexten – das waren in ersten Linie das „Grundgesetz über die Reichsvertretung“ als Teil des Februarpatentes von 1861 sowie die „Landesordnungen“, die 1861 als „Beilage“ zum Februarpatent publiziert worden waren – ein Hinweis für eine systematische staatsrechtliche Einordnung dieser Gebilde entnehmen ließ. „Länder“ und „Staat“ waren jedenfalls in einer Weise miteinander verklammert, dass bereits unklar war, ob den Ländern überhaupt so etwas wie „Autonomie“ gegenüber dem Staat zustehen konnte. Josef Ulbrich jedenfalls möchte diesen Ausdruck „im Interesse der richtigen staatsrechtlichen Auffassung“ vermieden wissen und er begründet dies mit der mangelnden rechtlichen Verselbständigung der Länder gegenüber dem Staat: Im Gegensatz nämlich zu den Gemeindevertretungen läge „die Funktion der Landtage“ gerade nicht in der „Selbstgesetzgebung“ innerhalb der Schranken, die ihr von der staatlichen Gesetzgebung gezogen würden, sondern vielmehr in der „Mitwirkung bei der vom Kaiser im Namen des Staates“ geübten Gesetzgebung.96 Die von den Landtagen verabschiedeten Gesetze waren also staatliche Gesetze, allerdings mit einem „auf partikulare Gebiete beschränkten“ Geltungsbereich.97 Und im Gegensatz zu den Gemeinden hatten die Länder auch keinen eigenen „Vorstand“, da der Landeshauptmann gerade kein Landes-, sondern staatliches Organ war. „Landesfürst“ war vielmehr der Kaiser, der noch im 19. Jahrhundert nicht nur mit seinem höchsten Titel als „Kaiser von Österreich“, sondern auch als „König von Böhmen“, „Herzog von Kärnten und Krain“, „Graf von Tirol“ und so fort auftrat. Alles dies führt schnurstracks in die frühneuzeitliche Tradition des 95 96 97

Dazu Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 184. Ulbrich, Staatsrecht (FN 70), S. 165. Ebd.

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„zusammengesetzten Staates“, dessen Grundstruktur mit den modernen staatsrechtlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts kaum zu fassen war.

IV. Das bundesstaatliche Deutungsmuster Naheliegenderweise war es nicht zuletzt die tschechische Literatur, die dem Deutungsmuster des Landes als einer Selbstverwaltungseinheit einen föderalistischen Deutungsansatz entgegenhielt, der von einer Eigenstaatlichkeit der Länder ausging und damit das Kaisertum Österreich in die Nähe eines Bundesstaates zu rücken suchte. Dies geschieht auf der Grundlage einer rein historischen Argumentation, die den Staatsbildungsvorgang der Habsburgermonarchie zum Ausgangspunkt nimmt98: Zuerst seien dabei die Länder in Erscheinung getreten: Die frühneuzeitliche Staatlichkeit habe sich zuerst im Rahmen der Länder entwickelt, über die dann vom Monarchen im Zeitalter des Absolutismus eine zunächst nur dünne, dann erstarkende Schicht zentraler staatlicher Institutionen gelegt worden sei. Dadurch sei aber die Staatlichkeit der Länder keineswegs restlos absorbiert worden. Dies gelte vor allem für diejenigen Länder, die sich – wenn auch nur für den Fall des Erlöschens der Habsburger Dynastie – das Königswahlrecht erhalten haben, wie das etwa bei Böhmen der Fall sei.99 Mit dem föderalistischen, die Eigenstaatlichkeit der Länder betonenden Ansatz ließ sich eine Argumentation entwickeln mit der man auch das traditionelle politische Postulat größerer Eigenständigkeit der Länder untermauern konnte. Die herrschende Meinung im deutschsprachigen Staatsrecht hat zwar bis zum Schluss auf dem Charakter der Kronländer als bloßen Selbstverwaltungseinheiten beharrt. Insgesamt lässt sich aber die mehr oder weniger subkutane Tendenz beobachten, die Kronländer an das Modell eines Bundeslandes zumindest anzunähern. Die Landtage wuchsen dabei in die Rolle institutionalisierter Vertretungen der Volksstämme100, ungeachtet freilich des gravierenden Einwandes, dass sie angesichts der multi-ethnischen Verhältnisse in vielen Kronländern dafür nur bedingt geeignet waren.101 Die Nationalbewegungen gaben dem ursprünglich stärker im feudal-konservativen Lager angesiedelten Föderalismusgedanke neuartige Schubkraft, aber auch neuartige Gehalte. Sie gaben nicht nur dem überkommenen traditionellen Landesbewusstsein kräftige Nahrung, sondern lenkten es auch in neue Bahnen.102 Folgt man Josef Ulbrich, dann war die Forderung 98

Hye, Länder (FN 41), S. 2427 – 2464 (2427). Diese These von der Staatlichkeit der Länder wurde, so Spiegel, Länder (FN 87), S. 425, „speziell von tschechischen Schriftstellern“ vertreten. 100 Dazu eingehend Hye, Länder (FN 41), S. 2427. 101 Ebd., S. 2460 und 2464. 99

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nach einer „Erweiterung der Autonomie der Länder“ gegen Ende des Jahrhunderts zu einem weit verbreiteten „Schlagwort der politischen Parteien geworden“.103 Auch im deutsch-nationalen Bürgertum war diese Forderung beheimatet, weil man damit eine Defensivstrategie gegen den wachsenden Einfluss der slawischen Völker in Cisleithanien zu haben vermeinte.104 Die ausgeprägte Schwäche des Parlamentarismus auf der gesamtstaatlichen Ebene erwies sich hier als verstärkendes Moment: Der Reichsrat war durch den Nationalitätenkonflikt in seiner Arbeitsfähigkeit über weite Strecken hinweg paralysiert.105 Das hat die Tendenz zur Regierung im Wege der Notverordnung verstärkt106, gleichzeitig aber auch die Regelungsfunktion der Landtage aufgewertet. Die Landtage versuchten nun, die zunehmend erschwerte Reichsgesetzgebung durch eine Art koordinierter Landesgesetzgebung zu ersetzen.107 Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch das Wachstum der Leistungsverwaltung in Rechung gestellt werden, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts immer deutlicher zu Tage trat: Gerade die Leistungsverwaltung war ja eine Domäne der Landtage und ihrer Ausschüsse gewesen.108 Die Ausweitung und Intensivierung staatlicher Tätigkeit auf dem Gebiet des Schulwesens, des Infrastrukturausbaus und des Hochwasserschutzes sowie des Feuerversicherungswesens führte in Cisleithanien zu einem signifikanten Bedeutungszuwachs der Länder.109 Die Dezemberverfassung von 1867 hat dies noch verstärkt, indem sie im Gegensatz noch zum Februarpatent 1861 von einer Regelzuständigkeit der Landtage ausging, während die Zuständigkeit des Reichsrates nunmehr enumerativ abgegrenzt wurde. Schließlich wurden den Ländern in verstärktem Maße auch hoheitliche Verwaltungsaufgaben übertragen.110 102 Klassische Darstellung des österreichischen „Nationalitätenproblems bei Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918, 2 Bde., 2. Aufl. Graz, ln 1964; neuere geraffte Darstellung: ders., Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Eine Zusammenfassung, in: HM (FN 5). Bd. II / 2, S. 1304 – 1338. 103 Ulbrich, Staatsrecht (FN 70), S. 164. 104 Dazu Berthold Sutter, Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen in Österreich 1848 bis 1918, in: HM (FN 5), Bd. III / 1, S. 154 – 339 (213 ff.). 105 Hye, Länder (FN 41), S. 2462. 106 Eingehend Brauneder, Verfassungsgeschichte (FN 10), S. 165 f.; Gernot D. Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848 – 1917). Notwendigkeit und Mißbrauch eines „staatserhaltenden Instrumentes“, Wien 1985. 107 Hye, Länder (FN 41), S. 2462. 108 Oben unter II. 109 Hye, Länder (FN 41), S. 2454 ff.; Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 204 f. 110 Brauneder, Verfassungsentwicklung (FN 44), S. 205.

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Ohne dass sich – abgesehen von dem eben genannten Punkt einer geänderten Regelzuständigkeit – auf der verfassungsgesetzlichen Ebene Grundsätzliches geändert hätte, nahm Österreich-Cisleithanien auf diese Weise immer stärker die Züge eines Staates an, der einem Bundesstaat zu ähneln begann. Die sogenannte „lex Starzynski“, die 1907 auf Betreiben der „besonders autonomiefreundlichen Polen“ erlassen worden war, hat diese Tendenz verstärkt, indem sie den Ländern eine Annexkompetenz im Bereich der Strafprozessrechts-, Polizeistrafrechts- und Zivilrechtsgesetzgebung zuschanzte, soweit es sich im konkreten Fall um Regelungsgegenstände handelte, die in untrennbarem Zusammenhang mit einer den Ländern bereits zustehenden Gesetzgebungsmaterie stehen.111 Inwieweit bei der staatsrechtlichen Qualifizierung und Einordnung Cisleithaniens dann auch das seit 1871 präsente bundesstaatliche Modell des Deutschen Reiches hineinzuspielen begann, ist eine Frage, die hier nur aufgeworfen werden kann. Die Tendenz zur schleichenden Föderalisierung wird jedenfalls in einer ganzen Palette von Indikatoren greifbar. Das beginnt schon damit, dass dann in den Formulierungen der Gesetzgebung selbst von „Landesgesetzgebung“, etwas später auch von „Reichsgesetzgebung“ die Rede ist.112 Mit solchen Begriffen musste der Eindruck einer eigenständigen gesetzgebenden Gewalt der Länder erzeugt werden, die sich derjenigen des „Reiches“ gegenüberstellen ließ. Von hier aus war es zur Annahme einer Eigenstaatlichkeit der Länder naturgemäß nur noch ein kleiner Schritt. Die Gegenüberstellung von Reichs- und Landesgesetzgebung entsprach allerdings keineswegs den verfassungsgesetzlichen Formulierungen: In den 1861 ergangenen Landesordnungen ist gerade nicht von irgendeiner „Landesgesetzgebung“, sondern nur von der „Mitwirkung“ der Landtage an der „gesetzgebenden Gewalt“ die Rede.113 Die Landesordnungen gingen also noch davon aus, dass es nur eine gesetzgebende Gewalt eines Staates gebe. Entsprechend verhält es sich mit der (älteren) rechtlichen Sprachregelung, der gemäß den „Landesgesetzen“ noch keine „Reichsgesetze“, sondern nur „staatliche“ oder „politische“ Gesetze gegenübergestellt wurden.114 Dem entsprach bei den Verwaltungsstrukturen die Gegenüberstellung von „autonomer Landesverwaltung“ und „staatlicher Verwaltung“. Dahinter steht die ältere Sichtweise, die nur eine einzige staatliche Ebene kannte, während es sich bei den Ländern um nichtstaatliche Selbstverwaltungskörperschaften entsprechend den Gemeinden handelte. Es kommt hinzu, dass Landes- und „Reichsgesetze“ in der Donaumonarchie bis zum Schluss nicht in ein typisch bundesstaatliches Über-Unterordnungsverhältnis zueinander gesetzt wurden, demzufolge „Landesrecht“ durch „Reichsrecht“ gebrochen 111 112 113 114

Stourzh, Länderautonomie (FN 2), S. 47. Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 178 ff. Ebd. Ebd., S. 178.

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worden wäre, sondern beide vielmehr im Verhältnis der Gleichordnung standen, so dass jedes spätere Gesetz das frühere derogierte, gänzlich unabhängig davon, ob sich um ein Landes- oder ein „staatliches Gesetz“ handelte115: Da sie ursprünglich beide – Landes- wie gesamtstaatliches Gesetz – von ein und derselben staatlichen Gewalt hervorgebracht wurden und sich nur in ihrem räumlichen Geltungsbereich, nicht aber hinsichtlich der hinter ihnen stehenden gesetzgebenden Gewalt unterschieden, konnte es auch kein Rangverhältnis geben, wie es das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzen bestimmt. Die Verfassungswirklichkeit ging aber augenscheinlich über alle diese einheitsstaatlichen Elemente hinweg, so dass sich ein weitgehend offener Status zwischen Einheitsstaat einerseits und wie auch immer strukturiertem föderalem Gebilde andererseits einpendelte, den man mit guten Gründen einheitsstaatlich, aber ebenso auch föderal deuten konnte.116 Das galt auch für die in den Landtagen selbst geführten Debatten, bei denen augenscheinlich eine „große Unsicherheit“ erkennbar wurde, was denn nun „das Land eigentlich sei“.117

115

Ebd., S. 181 f.; siehe auch Stourzh, Länderautonomie (FN 2), S. 46. Georg Jellinek suchte diesem eigenartigen Zwischenstatus mit seiner Lehre von den „Staatsfragmenten“ Rechnung zu tragen (in: Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882), konnte sich damit aber augenscheinlich nicht durchsetzen. Spiegel nimmt dazu eingehend (in einem ablehnenden Sinne) Stellung; Spiegel, Länder (FN 87), S. 426 ff. Hierzu vor allem auch Gerald Stourzh, Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 247 – 260. 117 Einen Eindruck von diesen Debatten gibt Schmitz, Parlamentarismus (FN 15), S. 183 ff. 116

Aussprache Gesprächsleitung: Gusy

Kühne: Vielen Dank für dieses wirklich hochinformative und bereichernde Referat. Ich habe eine Frage: Sie haben – möglicherweise mit Vorbedacht – mit keiner Silbe die vielen Verfassungsüberlegungen von 1848, gerade auch in Österreich, genannt. Mich würde interessieren, ob möglicherweise der Begriff des Föderalismus in Österreich, insbesondere in der Zeit des Neoabsolutismus, kontaminiert war durch die 1848er Überlegungen, die in der Kremsierer Verfassung allerdings mehr in eine kantonale Richtung gingen; aber daneben stehen ja auch andere Entwürfe. Dazu hätte ich gerne noch etwas gehört. Manca: Vielen Dank, Herr Simon, für Ihren Vortrag, der mich unter anderem zu einigen Betrachtungen veranlasst hat, die in mir während der Zeit meiner Hauptbeschäftigung mit der preußischen Geschichte herangereift sind. Wenn ich richtig verstanden habe, meinen Sie, dass sich so etwas wie eine Kontinuitätslinie zwischen den preußischen Provinziallandtagen als Selbstverwaltungskörper vor und nach der 1848er Revolution nachzeichnen lässt. Soweit mir bekannt, konstituierten sich die Provinziallandtage in Preußen auf der Basis des Gesetzes vom 5. Juni 1823 und waren ständischrepräsentative Körper mit zum Teil nur beratender Stimme bei der die Provinz betreffenden Gesetzgebung. Ihnen gegenüber stand in jeder Provinz als Chef der Exekutive der mächtige Oberpräsident, der zugleich der unmittelbare Vertreter der Zentralregierung innerhalb der provinzialen Grenzen war. Insbesondere vom vorrevolutionären preußischen Provinziallandtag, der weder eine konstitutive Rolle bei der Gesetzgebung noch einen rechtlich sanktionierten Einfluss auf die Exekutive und auf die Finanzverwaltung besaß, kann man meines Erachtens nicht wirklich sagen, dass er ein Selbstverwaltungsorgan gewesen sei. Dasselbe könnte man aber bezüglich der nachmärzlichen Provinziallandtage ausführen. Bald nach dem Erlass der preußischen Verfassung von 1850, die durch ihren Artikel 105 das Prinzip der Selbstverwaltung auch für die Provinzen eingeführt hatte, wurden die alten Provinzialstände reaktiviert, die allerdings nach der Einrichtung des preußischen Landtags kaum mehr mit der Beratung allgemeiner Gesetze befasst wurden. Bei dieser Sachlage blieb man wesentlich bis zur Provinzialordnung von 1875 stehen, die aber nach Heinrich Heffter wieder zu keinem richtigen Ausbau der Provinzialordnung in Richtung der Selbstverwal-

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tung führen sollte. Außerdem wurde der nachmärzliche Oberpräsident spätestens ab dem Erlass des Disziplinargesetzes von 1852 zu einem politischen Beamten; als solcher konnte er jederzeit vom Staatsministerium zur Disposition gestellt werden, das heißt, er war – wenn das überhaupt möglich war – noch mehr als früher ein Arm der zentralen Exekutive, obwohl er als Vertreter der Provinz auftrat. Daß man bei dieser Sachlage der preußischen Provinzialordnungen von den preußischen Provinziallandtagen als Hochburgen der Selbstverwaltung sowohl vor als auch nach der 1848er Revolution sprechen kann, erscheint mir fraglich, und ich würde Sie, Herr Simon, daher höflich bitten, zu klären, in welchem Sinne Sie eine enge Verbindung zwischen der historischen Realität der preußischen Provinziallandtagen und die Verwirklichung des Selbstverwaltungsprinzips herzustellen vermögen. Simon: Das war ein Zitat; es kommt aus einer der Provinzialordnungen, die nach 1875 ergingen. Spätestens die Provinzialordnungen, die 1875 ergehen, stellen eine Zäsur dar, die definieren dann die Provinzen eindeutig als Kommunalverbände. Gusy: Danke. Wenn Sie schon dabei sind, wollen Sie dann auch gleich auf die Frage von Herrn Kühne eingehen? Simon: Ich kann jetzt nicht genau sagen, ob es bereits zwischen 1823 und 1875 bei der Entwicklung der Provinzen und Provinziallandtage in Preußen einen wesentlichen Einschnitt gab. Vor allen Dingen bedeutsam ist der Umstand, dass sich die Provinziallandtage mit der Etablierung eines preußischen Parlaments aus der staatlichen Gesetzgebung zurückziehen. Aufgrund dessen werden sie dann zu Selbstverwaltungseinheiten. Und so werden sie in den Provinzialordnungen von 1875 auch definiert. Vorher war es ja so, dass die Provinziallandtage, wie auch die österreichischen Landtage, an der staatlichen Gesetzgebung teilnehmen sollten. Hier wurde also noch nicht unterschieden zwischen gesamtstaatlichem Gesetz und Landesgesetz, sondern es wurde unterschieden zwischen solchen Gesetzen, die im gesamten Staat, und solchen, die nur in einem einzelnen Land gelten sollten. Auch in letzterem Fall handelt es sich um staatliche Gesetze, bei denen aber die Provinziallandtage zur Mitentscheidung berufen sind. Diese Unterscheidung verschwindet nach der Revolution 1848, spätestens aber mit der Verfassung von 1850. Denn nun gibt es ja in Preußen ein Parlament für den Gesamtstaat. Infolgedessen werden diese Provinziallandtage mehr und mehr verstanden als Selbstverwaltungskörper, die wie Gemeinden oder andere Selbstverwaltungskörper Satzungshoheit haben. Aber sie sind nun nicht mehr beteiligt an der staatlichen Gesetzgebung. Noch eine Bemerkung zur „Kontaminierung“ des Föderalismus-Gedankens in Österreich durch die Revolution 1848. In der Tat: Der Kremsierer Entwurf hatte insofern eine „föderale Note“, als er eine deutliche Aufwer-

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tung der Ländern vorsah, die im Vormärz ja sehr stark an Bedeutung verloren hatten. An der gesamtstaatlichen Gesetzgebung sollte sogar eine Länderkammer parallel zur Volkskammer mitwirken. Das waren natürlich deutlich föderale Elemente. Ich glaube aber nicht, dass sich diese föderalen Konzepte, wie sie in der Kremsierer Phase der 1848er Revolution aufkamen, jetzt bei den Konservativen zu starken Affekten gegenüber dem Föderalismus geführt haben. Denn es gab zuvor schon diese alte, mit feudal-konservativem Denken eng zusammenhängende Föderalismustradition. Und es war diese Tradition, die der Monarch und die politischen Macher dann in der Diskussion 1860 / 61 vor Augen hatten. Dieser traditionelle Kronland-Föderalismus prägt die Kategorien und gibt dem Föderalismus sozusagen einen erträglichen Rahmen, selbst für einen extrem konservativen Standpunkt. Gusy: Danke sehr. Sehen Sie, Herr Brandt, ich habe schon vor Ihnen gewusst, dass Sie sich melden wollten – also sind Sie jetzt an der Reihe. Brandt: Ja, vielen herzlichen Dank für Ihren sehr lebendigen und detailreichen Vortrag. Sie gehen von 1861 als Epochenjahr aus und entwickeln – nach kurzem Streifen der Vorgeschichte – von dort aus das Föderalismusproblem. Herr Brauneder stuft den Epochencharakter von 1861 eher herab und fasst die Phase von 1852 bis 1867 verfassungsrechtlich als „neoständisch beschränkte Monarchie“ zusammen. Dieses Konzept kann man kritisieren; in jedem Fall aber verdient die Vorgeschichte im Sinne Brauneders unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität eine nähere Würdigung. Selbst wenn man von Ungarn absieht, sind auch die zisleithanischen Kronländer als traditionelle Einheiten immer sehr viel bedeutsamer geblieben als in allen anderen Staaten des Deutschen Bundes. Die frühneuzeitlichen Stände haben bis 1848 existiert. Zwar war ihr Steuerbewilligungsrecht zu einem reinen Ritual verkommen, aber sie hatten die Verwaltung der direkten Steuern in der Hand und erfüllten weitere Selbstverwaltungsaufgaben in der Verfügung über die Domestikalfonds, über Stiftungsgelder und dergleichen. Als wichtige Organe fungierten dabei ihre ständigen Ausschüsse. Im Revolutionsjahr entfalteten die Stände dann eine beachtliche Reformbewegung. Mit der nachrevolutionären Aufrichtung des bürokratischen Zentralismus wurden sie formell abgeschafft und das meiste ihrer Agenden von den Behörden übernommen; für Relikte der Fondsverwaltung blieben aber manche Ständeausschüsse weiterhin erhalten. Nach Aufhebung der Märzverfassung von 1849 durch das Sylvesterpatent von 1851 wurde nun immerhin die Perspektive eröffnet, auf Landesebene Vertretungskörperschaften zu errichten. In den 1850er Jahren investierte Innenminister Bach erhebliche Energien in den Versuch, mit einem solchen Konzept dem praktisch herrschenden bürokratischen Neoabsolutismus das Anhängsel einer neoständischen Provinzialrepräsentation mit homöopathisch dosierten Kompetenzen zu verleihen: beschränkte Selbstverwaltungsrechte über Teile der Landesfonds, Begut-

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achtungspflicht auf behördliche Anforderung und Petitionsrecht in Landesangelegenheiten. Trotz enormen reichsweiten Beratungsaufwands konnte der Kaiser sich bis 1859 selbst hierzu nicht entschließen. Wichtig aber wurde das bei dieser Gelegenheit ausgearbeitete neoständische Vertretungsmodell, weil es Eingang in die Verfassungsexperimente fand, die nach dem Zusammenbruch des Neoabsolutismus zum Februarpatent von 1861 führten, und weil es (für Zisleithanien) auch in der Verfassung von 1867 beibehalten wurde. Hierin liegt ein sehr gewichtiges Kontinuitätsmoment, auch in der Verknüpfung von Landesrepräsentation und Selbstverwaltung samt der damit verbundenen Wiederaufnahme des Dualismus von Landtag und permanentem Verwaltungsausschuss. Der Weg zu diesem Resultat kann hier nicht nachgezeichnet werden; für seine Beurteilung ist meines Erachtens entscheidend, dass die Beschwörung der Kontinuität gegenüber dem Monarchen zugleich den Deckmantel abgab, unter dem sich der von Bürgertum und Spitzenbürokratie angestrebte grundlegende Funktionswandel der projektierten Gremien hin zu zentralparlamentarischen Beschlussrechten und Budgetkontrolle samt der für die Mehrheitenbildung wichtigen Wahlgeometrie verwirklichen ließ. Dieses Element der Camouflage in dem Prozess ist schon von Josef Redlich – wie ich immer noch meine – zu Recht hervorgehoben worden. Damit ist vielleicht auch ein Ansatz gegeben für die Beurteilung des österreichischen Föderalismus. Sie haben in ihrem Vortrag das System der Doppelverwaltung sehr schön herausgearbeitet: einerseits die staatlichen Behörden, zuständig in etwa für die Hoheitsverwaltung, andererseits die den Landtagen und ihren Ausschüssen beziehungsweise Behörden unterstehenden Bereiche der Leistungsverwaltung. Und da diese Leistungsverwaltung zunahm, wuchs die Bedeutung dieses Zweiges in der Spätzeit der Monarchie stark an. Die Stellung der staatlichen Behörden bleibt aber doch stark. Sie vollziehen die Gesetze des Reiches wie die meisten der vom Landtag beschlossenen und vom Monarchen (als Landesfürsten) sanktionierten Landesgesetze. (Landesgesetzgebung und autonome Landesverwaltung sind nicht kongruent). Vor allem bleiben diese Behörden eingebunden in die zentralstaatliche Verwaltungshierarchie; sie sind abhängig vor allem vom allmächtigen Wiener Innenministerium, dessen Anordnungsgewalt und Personalpolitik sich ohne Eingriffsmöglichkeiten der Landtage über die Statthaltereien bis in die Bezirkshauptmannschaften erstreckt. Die Kontrollfunktionen etwa der Bezirkshauptmannschaften über die Selbstverwaltung, zum Beispiel der Gemeinden, sind stark, das Ganze ist der Stellung der französischen Präfekten/Unterpräfekten nicht unähnlich. Und diese Verwaltung steht im Notstandsfall gewissermaßen als Legalitätsreserve bereit; das kann man am Fall Böhmens studieren. Hier gerät – Sie haben das sehr schön beschrieben – der Landtag so sehr in den Sog des Nationalitätenhaders, dass er und mit ihm die Selbstverwaltung etwa seit der Jahrhundertwende handlungsunfähig werden. Wien setzt schließlich

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Kommissare zur Aufrechterhaltung der Landesselbstverwaltung ein; das ist geradezu der Offenbarungseid des Selbstverwaltungskonzepts. Im Notstandsfall greift der Zentralstaat also wieder ein und kann dies auch, weil das gesamte zentralbürokratische Instrumentarium ja erhalten geblieben ist. Von daher habe ich meine Zweifel, ob man dieses System als Föderalismus – oder auch nur als Föderalismus sui generis – bezeichnen kann. Gusy: Danke sehr, Herr Brandt. Wir haben Verständnis dafür, Herr Simon, dass Sie in 45 Minuten natürlich nicht alles darlegen konnten, was es in Österreich zu diesem Thema an Berichtenswertem gibt. Ich bin ganz sicher, es ist noch etwas mehr. Nun hat Herr Brandt Ihre Meinung, Herr Brauneder, in gewisser Weise schon wiedergegeben; haben Sie Ihrer Meinung in der Brandtschen Wiedergabe noch etwas hinzuzufügen? Dann dürfen Sie das jetzt. Brauneder: Leider ja – leider auch im Hinblick auf die Zeit. Also vorerst einmal möchte ich folgendes sagen: Wenn man die Habsburgermonarchie beschreibt, dann tut man sich an sich sehr schwer. Du [Simon] bist aber meiner Meinung nach den völlig richtigen Weg gegangen, und ich würde es so formulieren: Es gibt die Habsburgermonarchie der Liberalen, der Konservativen, der Föderalisten, der Zentralisten, der Böhmen, der Ungarn und was es so weiter gibt. Und jede Sichtweise hat einen gewissen Grad an Berechtigung von – sagen wir – 20 % bis 80 %. Und daraus versteht sich, dass jede dieser Gruppen auch Wünsche hatte. Nämlich die nur zu 20 % zufrieden Gestellten hatten einen Wunsch nach radikaler Reform von 80 %, usw. Zwei, drei Punkte möchte ich noch unterstreichen – aus Zeitgründen eher mit Stichworten. Da ist natürlich Ungarn. Also, die Ungarn sind das Problem der Habsburgermonarchie bis 1867, dann scheiden sie ja aus der gemeinsamen Staatlichkeit aus. Dann gibt es immer noch Probleme, aber es ist nicht mehr ein Problem im Staat. Dann die Reichsverfassung 1861 – wie ich sie eigentlich gemäß der Quellen nennen würde, nicht Februarpatent –, die versucht, den Ungarn entgegen zu kommen unter Wahrung der Gesamtstaatsidee. Und das macht man auf dem Boden des Historischen Staatsrechts, weil man sagt: Wenn wir, im Sinn des Historischen Staatsrechts – Du [Simon] hast es ja beschrieben – die Institutionen weiterentwickeln, dann muss das ja eigentlich auch den Ungarn recht sein, wenn wir ihrer Historie Rechnung tragen. Aber die Ungarn wollten die Weiterentwicklung nicht; sie wollten kein gemeinsames Parlament, keinen gemeinsamen Vertretungskörper. Daran scheitert eigentlich dieses ganze Einbeziehen-Wollen. Was ich aber besonders unterstreichen möchte ist folgendes, Herr Brandt hat schon darauf hingewiesen – ich mache das anhand eines vielleicht skurril erscheinenden Beispiels: Ungefähr um 1910 bekommt ein oberösterreichischer See zwei völlig gleiche Schiffe. Das eine Schiff erhält den Namen „Baron Handel“, das andere eine geographische Bezeichnung. Baron Han-

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del ist der Statthalter. Jetzt hätte man annehmen können, dass das zweite Schiff nach dem Landeshauptmann benannt wird – dem Vorsitzenden im Landtag und im Landesausschuss. Der war aber damals so unbedeutend, dass kein Mensch auf die Idee kam, das zweite Schiff nach dem Landeshauptmann zu benennen. Der Statthalter als Chef der staatlichen Verwaltung war wichtig, nicht aber der Landeshauptmann als Chef der autonomen Landesverwaltung! Der Strang, den Du [Simon] beschrieben hast mit der Selbstverwaltung der Länder als Kommunalverbände höchster Ordnung – übrigens ein Ausdruck, den auch Hugo Preuß für seine Verfassungspläne, glaube ich, gebraucht hat –, dieser Strang steht neben der staatlichen Verwaltung im Land. Und jetzt passiert folgendes: Diese Zweigliederung, die man noch 1861 bei den Landesordnungen verstanden hat, weil sie Tradition hatte, verblasst. Erstens, Du [Simon] hast es ja auch treffend formuliert, waren die Landesgesetze ursprünglich gedacht als partielle Gesamtstaatsgesetze. Aber immer mehr hat man die Gesetze des Landtags als Landesgesetze verstanden, als etwas, was also zum Land gehört. Und dann gab es – jetzt kommt es auf die Sicht an – diesen lästigen Bittgang zum Innenminister, der die kaiserliche Sanktion einholen musste. Weiters hat man den Statthalter als typisch zum Land gehörig gesehen. Das heißt, die Sicht war jetzt die: Das Land hat den Landtag, den Landesausschuss, den Landeshauptmann und den Statthalter, und – wie Herr Brandt eben richtig darauf hingewiesen hat – auf der untersten Ebene auch noch den Bezirkshauptmann. Letztere waren staatliche Behörden, die mit dem Land als Selbstverwaltungskörper eigentlich überhaupt nichts zu tun hatten. Ein Landesgesetz ist daher nicht vom Landesausschuss vollzogen worden, sondern genauso wie ein anderes staatliches Gesetz vom Statthalter und Bezirkshauptmann. Den Weg, den die Länder nehmen, so ab – sagen wir – 1880, fast zu nahezu Teilstaaten in einem Bundesstaat, den schafft die kommunale Struktur nicht. Böhmen wird kommissarisch verwaltet – das wichtigste Kronland, unter anderem der Industrialisierung wegen –, aber auch die kleinen Länder Görz-Gradisca und Istrien. Noch etwas ganz kurz: Das Reichsgericht urteilte über Kompetenzstreitigkeiten. In Bundesstaaten sagt man in der Regel: über Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern. So ist aber die Terminologie nicht. Das Reichsgericht entscheidet über Kompetenzstreitigkeiten zwischen Organen – und das ist ganz was anderes! Denn wir sind eben im dezentralisierten Einheitsstaat, von der Konstruktion her. Es entscheidet: Ist der Landtag zuständig oder der Landesausschuss, oder vielleicht die Gerichtsbarkeit, oder das gesamtstaatliche Parlament. Zu Herrn Brandt noch: Wieso hat Franz Joseph im Jahr 1857 oder so diese Landesvertretungsstatute in seinem Schreibtisch verschwinden lassen? Ich würde das anders erklären: Der Aufbau des neuständischen Staates war ja wie folgt: Gemeinden entsenden in den Landtag, Landtag entsendet in das

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Abgeordnetenhaus. Erst 1859 gibt es ein Gemeindegesetz! Daher kann man vor 1859 ja die Landtage nicht beschicken, weil es keine Gemeindestruktur hatte – aber was passiert 1859? Der Krieg gegen Italien/Frankreich geht verloren. Und jetzt sagen die Geldgeber – eine Weltbank gibt es nicht –, jetzt sagen also die privaten Banken, die Rothschilds etc., in Belgien, in Frankreich: Wir borgen Österreich natürlich, aber bei Wien fängt der Balkan an, und da haben wir gewisse Bedenken, was die mit dem Geld machen. Wir wollen das so haben wie bei uns, dass eine Volksvertretung kontrolliert – ein Budget macht und einen Rechnungsabschluss. Und jetzt dreht Österreich die Entwicklung plötzlich um: Rasch braucht man etwas, das so aussieht wie ein Parlament – jetzt geht es nicht langsam über Gemeinde, Landtag hinauf zum Abgeordnetenhaus, sondern man schafft 1860 erst für dieses einen Ersatz. Kugelmann: Herr Simon, Sie haben mich in der Erkenntnis bestärkt: Selbstverwaltung muss nichts mit Demokratie zu tun haben. Die zweite Frage aber ist: Eher zurückhaltende, Sie haben es „konservative“ Selbstverwaltungskonzeptionen genannt, wie Sie sie beschrieben haben, haben die was mit rechtsstaatlichen Elementen zu tun? Ich komme deshalb auf die Frage, weil Sie gesagt haben, der liberale Ansatz, der teilweise verfolgt wurde – also dieser Ansatz der Staatsfreiheit, des Zurückdrängens des Staates, beziehungsweise des Schutzes der eigenen territorialen Sphäre – führte zu – mehr oder weniger – einer Amalgamierung von Legislative und Exekutive, und in der Folge gab es Tendenzen, die Kronländer einem Bundesland anzunähern. Herr Brandt und Herr Brauneder haben das beide auch beschrieben. Gab es einen Zusammenhang? Wurden die Chancen, die einem eröffnet wurden im Rahmen der Selbstverwaltungseinheiten, in einer Weise ausgenutzt, dass man doch immer selbstbewusster wurde, immer mehr gemacht hat, vielleicht auch in Legislative und Exekutive? Waren das erste Ansätze von – sagen wir, im weitesten Sinne – freiheitlich-rechtsstaatlichen Elementen, oder waren es einfach nur die Rahmenbedingungen, die Sie auch beschrieben haben mit politischen Autonomiebestrebungen in Böhmen in Ungarn, die das befördert haben? Kam diese Entwicklung von innen her, oder von außen? Gusy: Danke. Jetzt noch Frau Barmeyer, dann hat Herr Simon das Schlusswort – aber Sie müssen nicht zu allem Stellung nehmen! Barmeyer-Hartlieb: Ich möchte die durch die italienische Kollegin Frau Manca aufgeworfene Frage nach der provinziellen Selbstverwaltung wieder aufnehmen. In meiner Untersuchung der Eingliederung Hannovers in den preußischen Staat komme ich kurz zusammengefasst zu der Deutung: Die schon in den 1860er Jahren anstehende Reform der Provinzialordnungen (auf der Basis des Gesetzes von 1823) wird unter dem politischen Vorzeichen des Zusammengehens Bismarcks während der sogenannten „Reichsgrün-

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dungszeit“ nach 1866 mit den Liberalen aufgenommen. Zwecks Integration der neuen Gebiete – Hannover etc., wo die Nationalliberalen auf die preußische Politik einschwenkten – wird eine liberale Provinzialordnung in Angriff genommen. Unterbrochen durch die Kriege und die Reichsgründung wird diese dann in den 1870er Jahren wieder aufgenommen. Hier beruft sich Eulenburg – wie ich zuvor schon in der Diskussion erwähnt hatte – auf die unvollendete Steinsche Reform, die er zu vollenden bestrebt sei. Das Entgegenkommen gegenüber den neuen Provinzen unter dem Vorzeichen von Selbstverwaltung geht in den Augen der preußischen Konservativen so weit, dass damals provozierend gefragt wurde, ob Preußen durch Hannover annektiert worden sei! Vergleichen könnte man Bismarcks Entgegenkommen mit den Verfassungsgebungen nach 1815 zur Integration territorial neu zusammengesetzter Staaten (diese These vertreten unter anderem von Ernst Rudolf Huber). Simon: Ich glaube eher, dass es einen Zusammenhang zwischen der in Österreich aus den genannten Gründen zögerlichen Parlamentarisierung und dem Rechtsstaatsgedanken gibt. In Österreich lief die Parlamentarisierung, insbesondere was die Partizipationsmöglichkeit breiterer Bevölkerungsschichten an den Wahlen anbelangt, langsamer als im Deutschen Reich. Und die Vermutung liegt hier nahe, dass sich bei schwächer ausgeprägter parlamentarisch-politischer Schiene dafür die rechtsstaatlich-justizielle Schiene im Verfassungsgefüge stärker in den Vordergrund geschoben hat. Ich vermute, dass hier eine Ursache liegt für die vergleichsweise stark ausgeprägte Institutionalisierung des Rechtsstaatsgedankens etwa in der Instanz des Reichsgerichts, wie sie in Österreich-Cisleithanien sehr auffallend zu Tage tritt. Das war ohne Zweifel eine besondere verfassungsrechtliche Errungenschaft. Gusy: Danke sehr, Herr Simon.

Idee und Realität von Selbstverwaltung in der Europäischen Kooperation und Integration Von Dieter Kugelmann, Münster

Die Idee der Selbstverwaltung wird in der Bundesrepublik Deutschland als Gegenpol zu zentralisierenden Tendenzen verstanden. Ein bundesstaatliches System bedarf der Strukturmerkmale, die Differenzierungen auf unterschiedlichen Ebenen und zwischen diesen Ebenen ermöglichen. Die Europäische Union dagegen ist kein Bundesstaat und die allermeisten ihrer Mitgliedstaaten sind es auch nicht. Das Verständnis von Selbstverwaltung erweist sich als vielfältig, ihre Verwirklichung in der Europäischen Union als uneinheitlich. Idee und Realität der Selbstverwaltung seit 1945 haben Entwicklungen durchlaufen, die auf der europäischen Ebene von den allgemeinen Entwicklungen der Integration abhängig waren. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt darauf, die Entwicklung der Selbstverwaltung in der europäischen Integration bis hin zur Europäischen Union, aber auch in der europäischen Kooperation innerhalb des Europarates zu verfolgen. Dabei werden die kommunale Selbstverwaltung und die funktionale Selbstverwaltung, insbesondere in ihren wirtschaftlichen und berufsständischen Ausprägungen, in unterschiedlichen Akzentuierungen betrachtet. Einzelne Aspekte der Verwirklichung von Selbstverwaltung sind vor dem Hintergrund allgemeiner politischer Ereignisse und Prozesse zu verstehen. Diese Einbettung der Entwicklungen auf europäischer Ebene betrifft auch Querbezüge zu Vorstellungen in einzelnen Staaten. Allerdings können unterschiedliche Konzeptionen von Selbstverwaltung innerhalb der europäischen Staaten nicht im Einzelnen untersucht und schon gar nicht miteinander verglichen werden.1 Den folgenden Erörterungen liegt demnach kein rechtsvergleichender, sondern ein historisch orientierter europapolitischer Ansatz zu Grunde. Im Längsschnitt werden die Idee von Selbstverwaltung und ihre tatsächlichen rechtlichen und politischen Ausprägungen auf europäischer Ebene verfolgt. Die Änderungen der Bedeutung und Funktion der Selbstverwaltung im Laufe der europäischen Integration und Kooperation sollen nachvollzogen 1 Siehe die jährlichen Länderberichte in: Europäisches Zentrum für FöderalismusForschung Tübingen, Jahrbuch des Föderalismus, Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden-Baden, zuletzt Bd. 7, 2006.

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werden. Als Leitgedanke spielt das Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung in Konstruktion und Tätigkeiten europäischer Einrichtungen eine Rolle. Vor diesem Hintergrund kann versucht werden, die Begründung von Selbstverwaltung und die Begründbarkeit ihrer Entfaltungen und Erscheinungsformen im Europa der Gegenwart einer näheren Beurteilung zu unterziehen und in den historischen Entwicklungszusammenhang einzuordnen.

I. Die Idee der Selbstverwaltung in den Bemühungen um eine europäische Friedensordnung nach 1945 In den Bestrebungen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine europäische Friedensordnung zu schaffen, spielte die Selbstverwaltung zunächst eine durchaus wichtige Rolle. Die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen über die Gestalt Europas nach 1945 knüpften an Überlegungen an, die schon in der Zwischenkriegszeit und dann auch in intellektuellen Zirkeln während des Zweiten Weltkrieges angestellt worden waren.2 Der Anspruch des Nationalsozialismus, das ganze Europa nach nationalsozialistisch-faschistischem Muster neu zu ordnen, forderte gesamteuropäische Gegenkonzepte in den deutschen und sonstigen europäischen Widerstandsbewegungen geradezu heraus.3 Als Gegenentwürfe zu diktatorischen und rassistischen Vorstellungen formulierten die Denker des europäischen Widerstandes Ideen, die gegen den Totalitarismus gerichtet waren und in der Konsequenz auf föderale Organisationsformen mit einer starken Stellung der regionalen und kommunalen Ebene setzten. Im Frühjahr 1944 trafen sich Mitglieder europäischer Widerstandsbewegungen in Paris und forderten im Abschlusskommuniqué den Abschied vom Dogma der absoluten Staatssouveränität und der daraus resultierenden zwischenstaatlichen Anarchie.4 Aus den Widerstandsbewegungen rekrutierten sich vielfach die gesellschaftlichen Gruppen, die in der Nachkriegszeit für eine Einigung Europas warben. Die größte europaweit agierende, in sich allerdings heterogene Bewegung, die man unter den Oberbegriff europäische Föderalisten fassen kann, trat für eine europäische Föderation mit dem Charakter eines Bundesstaates ein.5 Zu ihnen zählten etwa spätere aktive Europapolitiker wie Alterio Spinelli, demokratieskeptische Kräfte um Denis de Rougemont oder der niederländische Sozialist und Historiker Hendrik Brugmans. Im September 1946 kam es zu einem Treffen einer kleinen Gruppe von Aktivisten aus vierzehn Staaten im schweizerischen Herstenstein und zur Verabschie2 3 4 5

Vgl. Jürgen Elvert, Die europäische Integration, Darmstadt 2006, S. 31 ff. Hans Kristoferitsch, Vom Staatenbund zum Bundesstaat?, Wien 2007, S. 201. Zitiert nach Elvert (FN 2), S. 32. Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung, Stuttgart 2002, S. 52 ff.

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dung des „Hertensteiner Programms der europäischen Föderalisten“.6 Darin wird eine „auf föderativer Grundlage errichtete europäische Gemeinschaft“ als notwendiger und wesentlicher Bestandteil jeder wirklichen Weltunion gesehen (Ziff. 1). Zugleich heißt es dort in Ziffer 10: „Im Rahmen der Europäischen Union sind regionale Unterverbände, die auf freier Übereinkunft beruhen, zulässig und sogar wünschenswert.“ Die Mitglieder dieser Union sollten einen Teil ihrer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Souveränitätsrechte an die von ihnen gebildete Föderation übertragen (Ziff. 4). Die Föderalisten wollten die Macht der Nationalstaaten begrenzen. Dies sollte durch Dezentralisierung erreicht werden und damit durch eine Verlagerung von Zuständigkeiten auf die regionale und kommunale Ebene.7 Im Dezember 1946 gründeten eine Reihe föderalistisch geprägter Interessenverbände die „Union Européenne des Fédéralistes“ (UEF), die als Dachorganisation über 40 nationale Bewegungen aus 16 Ländern vereinigte. Der zweiten großen Gruppe, die sich für eine Vereinigung Europas einsetzte, schwebte ein weniger tief greifender Zusammenschluss der europäischen Staaten vor, der eher an staatenbündischen Modellen orientiert war. Diese Unionisten waren nichtsdestoweniger als überzeugte Europäer Vertreter einer engen Zusammenarbeit der europäischen Staaten, weil sie dadurch auch die Verwirklichung staatlicher Interessen am ehesten gewährleistet sahen. Zu diesem stärker realpolitisch orientierten Kreis zählten Robert Schuman und Jean Monnet ebenso wie Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, aber auch Winston Churchill. Als aktive Politiker waren ihre Bestrebungen von der wachsenden Bedrohung durch die Sowjetunion geprägt. Vor diesem Hintergrund stand auch die wirtschaftliche und politische Förderung der europäischen Einigung durch die Vereinigten Staaten von Amerika.8 Die besondere Entwicklung des Politikbereiches der Verteidigung ist Ausdruck des beginnenden kalten Krieges und des Zieles der Einbindung Deutschlands. Davon blieben die konkreten Vertragsschlüsse nicht unbeeindruckt. Nachdem Robert Schumann am 9. Mai 1950 seinen von Jean Monnet entworfenen Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgelegt hatte, begannen die konkreten Vertragsverhandlungen am 20. Juni 1950. Am 25. Juni 1950 brach der Korea-Krieg aus.9 Die Bemühungen um ein vereinigtes Europa durchzogen 1947 und 1948 breite Kreise der europäischen Gesellschaften. Parallel setzten die Alliierten in der praktischen Politik auf die Wiedererrichtung funktionierender 6 7 8 9

Text abgedruckt bei Brunn (FN 5), Dok. 6, und Elvert (FN 2), S. 38. Brunn (FN 5), S. 53. Thomas Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, § 1, Rdnr. 13. Zu den daraus resultierenden Befürchtungen Brunn (FN 5), S. 88 ff.

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Nationalstaaten, um die drängenden Probleme der Versorgung mit Nahrungsmitteln, der Kanalisierung der Flüchtlingsströme oder der Herstellung von Sicherheit und Ordnung zu bewältigen. Die staatliche Reorganisation Deutschlands in den Westzonen fand von unten nach oben statt. Sicherlich war dabei der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung von Bedeutung, der zunächst in den Kommunen ansetzte.10 Unterschiedliche Vorstellungen und Traditionen der Alliierten führten zu unterschiedlichen kommunalen Ordnungen und Kommunalverfassungen. Bei allen regionalen Unterschieden spielte aber auch die Aufspaltung von Herrschaft durch Dezentralisierung und damit die freiheitssichernde Funktion der Selbstverwaltung eine Rolle.11 Bereits 1948 trafen sich sechs französische und neun deutsche Bürgermeister und gründeten die Internationale Bürgermeister-Union, unter ihnen Adolf Gasser, der mit seinem Werk „Gemeindefreiheit als Rettung Europas“ (2. Auflage 1947) programmatische Grundlagen gelegt hatte.12 Im Jahr 1951 wurde vor diesem Hintergrund der „Rat der Gemeinden Europas“ ebenfalls vorrangig als deutsch-französische Initiative der Aussöhnung und Befriedung gegründet. Zehn Jahre später wurde der Rat als Ausschuss vom Ministerkomitee des Europarates institutionalisiert.13 Nachdem 1984 die Bezeichnung „und Regionen“ dazukam, stellt nunmehr der „Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE)“ die größte Organisation der lokalen und regionalen Regierungsebenen in Europa dar.14 Er arbeitet für ein vereintes Europa auf der Basis von Städtepartnerschaften und hat nach 1989 Aufbauhilfen für die Kommunen in den osteuropäischen Staaten geleistet.15 Als europäischer Spitzenverband betreibt er Lobbyarbeit insbesondere gegenüber den Organen der Europäischen Gemeinschaft.16 Frühes Ergebnis dieser interkommunalen Zusammenarbeit war ein Dokument, in dem Erfahrungen und Hoffnungen von freiheitsliebenden Kommunalpolitikern ihren Niederschlag fanden. Am 17. und 18. Oktober 1953 trafen sich Bürgermeister aus 16 europäischen Staaten im historischen Rathaus von Versailles und beschlossen eine „Charta der Gemeindefreiheiten“. 10 Im Einzelnen zum Aufbau kommunaler Strukturen nach 1945 Christian Groh, in: Thomas Mann / Günther Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Aufl., Heidelberg 2007, § 8. 11 Zu dieser Funktion von Selbstverwaltung Reinhard Hendler, in: ebd., § 1, Rdnr. 25. 12 Franz-Ludwig Knemeyer, Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, in: DÖV 1988, S. 997 (998). 13 Oppermann (FN 8), § 2, Rdnr. 16. 14 Informationen unter www.rgre.de. 15 Jochen Dieckmann, Zur Organisation kommunaler Spitzenorganisationen, in: DÖV 2000, S. 457 (459). 16 Walter Leitermann, in: Ulrich von Alemann / Claudia Münch (Hrsg.), Europafähigkeit der Kommunen, Wiesbaden 2006, S. 333.

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Sie zielte auf den Aufbau und die Stärkung der Demokratie von der lokalen Ebene aus, um letztlich zur künftigen Verhütung von Kriegen beizutragen.17 In der Einleitung und den Grundsätzen der Charta heißt es zu den Gemeinden: „Sie haben ihre durch Jahrtausende geheiligten Rechte als eines der Fundamente der Menschenfreiheit erneut festgelegt, denn sie sind bedroht und vielerorts vernichtet.“ Die Gemeinden seien die „Grundpfeiler des Staates“ und das Volk sei „vom zähen Willen zur Selbstverwaltung beseelt. Aus der Begriffswahl wird die Zielrichtung der Charta deutlich, es geht ihr um Gemeindefreiheit gegenüber dem Staat. Damit knüpft sie an Forderungen an, die der Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade auch in Deutschland vorbrachte.18 Nach fünfzig Jahren wurde am 16. Januar 2004 diese Charta als Erfolg gefeiert. Die Gemeindefreiheit stand auch im Mittelpunkt der Arbeiten der mit einer ersten Sitzung am 12. Januar 1957 beim Europarat gebildeten Europäischen Kommunalkonferenz, die 1975 zur Europakonferenz der Gemeinden und Regionen umgestaltet wurde und später als „Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen firmierte.19 Eine Grundsatzerklärung über kommunale Selbstverwaltung, die 1968 und 1970 dem Ministerkomitee zur Annahme als Empfehlung vorgelegt wurde, hat dieses aber nicht verabschiedet. Die Unterschiede in den verfassungsmäßigen, rechtlichen und administrativen Strukturen der Mitgliedstaaten wurden als zu erheblich betrachtet. In Anlehnung an die Europäische Sozialcharta legte die Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas 1981 einen wesentlich abgeschwächten Entwurf für ein zwischenstaatliches Übereinkommen vor, das ein System à la carte verfolgt, also nicht alle Vorschriften für alle Staaten gleich verpflichtend macht. Auf dieser Grundlage hat das Ministerkomitee des Europarates die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung verabschiedet und am 15. Oktober 1985 zur Unterzeichnung aufgelegt. Sie stellt den einzigen Vertrag auf völkerrechtlicher Ebene dar, der Staaten verbindliche Verpflichtungen gegenüber ihren kommunalen Untergliederungen auferlegt.

17

Heinrich Hoffschulte, Kommunen in Europa, in: ebd., S. 58 (66 f.). Georg Christoph von Unruh, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft (FN 10), § 4, Rdnr. 14. 19 Knemeyer (FN 12), S. 999. 18

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II. Die Selbstverwaltung in der Entstehung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften bis zu Beginn der 80er Jahre 1. Kommunale Selbstverwaltung

Die Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaften berührten die Regionen und Kommunen lange Zeit kaum. Die drei Gemeinschaften wirkten auf der gesamtstaatlichen Ebene der Mitgliedstaaten. Im Vordergrund standen die wirtschaftspolitische Entwicklung der sechs Mitgliedstaaten und die Gemeinsame Agrarpolitik. Angesichts der Blockade weiter gehender Integration durch Charles de Gaulle bis hin zur Politik des leeren Stuhls kam es nicht zu einer Öffnung von Staatlichkeit, die auf die regionale oder kommunale Ebene durchgeschlagen hätte. Nach dem Rücktritt Charles de Gaulles im Jahr 1968 und dem Amtsantritt von Georges Pompidou im Jahr 1969 konnten Entwürfe zur Weiterentwicklung der europäischen Integration aus den Schubladen geholt werden. Die Europäischen Gemeinschaften erhielten 1970 eine neue Finanzverfassung, die sie mit eigenen Einnahmen ausstattete und von Beiträgen der Mitgliedstaaten unabhängig machten. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks im Jahr 1973 traf zusammen mit der Ölkrise und einem Aufflammen der Nahost-Krise. Die Vereinigten Staaten von Amerika drängten die nunmehrige Neunergemeinschaft dazu, international eine stärkere Rolle einzunehmen. Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Staatspräsident Giscard d’Éstaing setzten in den siebziger Jahren einen Schwerpunkt auf der Wirtschaftspolitik, die als herausragendes Ergebnis 1978 die Einführung des Europäischen Wechselkurssystems zeitigte. In der Außenpolitik versuchten die Mitgliedstaaten enger aneinander zu rücken. Ausdruck fanden diese Bemühungen in der Genscher-ColomboInitiative von 1982 / 83.20 Vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen mit Griechenland, Spanien und Portugal und dem anhaltenden Eindruck des Ost-West-Gegensatzes strebten die beiden Außenminister von Gründerstaaten eine Stärkung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf den Gebieten der Außen- und Sicherheitspolitik an. Auf dem Stuttgarter Gipfel von 1983 wurde in einer Erklärung die Wichtigkeit dieses Vorhabens betont, eine Einigung über konkrete Änderungen der vertraglichen Grundlagen kam zunächst nicht zustande.21

20 21

Ulrich Rosengarten, Die Genscher-Colombo-Initiative, Baden-Baden 2008. Rudolf Streinz, Europarecht, 8. Aufl., Heidelberg 2008, Rdnr. 35.

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2. Funktionale Selbstverwaltung

Im Unterschied zur kommunalen Selbstverwaltung spielte die funktionale Selbstverwaltung seit 1957 eine nicht unerhebliche Rolle in den Politiken der Gemeinschaften. Die wirtschaftliche Integration betraf dem Grunde nach alle wirtschaftlich relevanten Akteure in den Mitgliedstaaten und insoweit auch Einrichtungen funktionaler Selbstverwaltung. Dies wird dadurch deutlich, dass im EWG-Vertrag von 1957 als institutionelle Sicherung der Wirtschafts- und Sozialausschuss vorgesehen war. Neben den Sozialpartnern konnten Kammern oder Berufsverbände unabhängig von ihrer Organisation mit dem Gemeinschaftsrecht in Kontakt kommen. Die Durchführung des Gemeinschaftsrechts obliegt den Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts, so dass auch eigenverantwortlich handelnde Selbstverwaltungsträger in die Durchführung und Verwaltung des Gemeinschaftsrechts einbezogen sein können.22 In der Konsequenz lag die Notwendigkeit ihrer Beteiligung an der Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene mittels des Wirtschafts- und Sozialausschusses oder auf informellem Wege. Jedoch erreichte das Recht der drei Gemeinschaften zunächst nicht eine Dichte, die spürbare und großflächige Wirkungen auf die funktionelle Selbstverwaltung in den Mitgliedstaaten gehabt hätte.

III. Das Europa der Regionen und der Vertrag von Maastricht Einen Einschnitt in der Entwicklung der Europäischen Integration bildet die Gründung der Europäischen Union auf der Basis des Vertrages von Maastricht (1992 / 3). In diesem Vertragswerk schlugen sich auch allgemein politische Bestrebungen zu einem Europa der Regionen nieder. Es stellte den Kristallisationspunkt einer Entwicklung dar, die 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte begonnen hatte. Sie beinhaltete eine markante Ausweitung der gemeinschaftlichen Kompetenzen. Die daraus folgende zunehmende Verflechtung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten betraf auch die Ebenen unterhalb der Zentralregierung.23 Die Einheitliche Europäische Akte markiert den Beginn der Entwicklung des europäischen Mehrebenensystems.

22 Dieter Kugelmann, Wirkungen des EU-Rechts auf die Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten, in: Verwaltungsarchiv 98 (2007), S. 78 (82). 23 Zu den Ländern Rudolf Hrbek, Bundesländer und Regionalismus in der EG, in: Siegfried Magiera / Detlef Merten (Hrsg.), Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, Berlin 1988, S. 127 (128 f.).

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Dieter Kugelmann 1. Regionalisierung gegen Zentralisierung

Seit Anfang der 80er Jahre wurden nach und nach Hindernisse abgebaut, die eine dynamische Fortentwicklung der europäischen Integration gehemmt hatten. Das schwierigste Hindernis hieß Margret Thatcher. Bei ihrem ersten Auftreten im Kreis der Staats- und Regierungschefs im Jahr 1979 kam es sogleich zu Auseinandersetzungen. Die britische Premierministerin stellte die Finanzverfassung und ihren Wunsch nach einer Korrektur zu Gunsten des Vereinigten Königreichs in den Mittelpunkt ihrer Europapolitik und widersetzte sich jeder konstruktiven Arbeit auf anderen Politikfeldern, solange das aus ihrer Sicht zentrale Finanzproblem nicht gelöst war. Die Rolle Frankreichs war zu dieser Zeit im Wandel begriffen. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Jahr 1981 betrieb François Mitterand zunächst eine auf staatliche Intervention ausgerichtete Wirtschafts- und Finanzpolitik, die mit der wirtschaftspolitisch liberalen Philosophie der Gemeinschaften nicht in Einklang stand. Die Misserfolge dieser Politik führten 1983 zu einem Umschwenken in der französischen Politik und damit zu einem stärkeren Einschwenken auf die Linie der Gemeinschaften.24 Der französische Finanzminister Jacques Delors verfolgte einen liberaleren Politikansatz, den er auf supranationaler Ebene weiter betrieb, als er Präsident der Europäischen Kommission wurde. Die Diskussionen um den Haushalt der Gemeinschaften wurden einer Lösung zugeführt. Nach Abstimmungsprozessen innerhalb der Gemeinschaften, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland, kam es im Jahr 1984 auf dem Gipfel von Fontainebleau zu einer Minderung der Nettobeiträge des Vereinigten Königreiches um 66%. Diese so genannte VK-Korrektur führt dazu, dass die anderen Mitgliedstaaten den Fehlbetrag ausgleichen müssen. Im Rahmen der Einigung vom 4. April 2006 über den Finanzrahmen 2007 – 2013 gelang eine geringfügige Anpassung der VK-Korrektur zu Lasten der Briten.25 Hintergrund für die VK-Korrektur ist der zumal im Verhältnis zu Frankreich vergleichsweise geringe Anteil des Vereinigten Königreichs an den Ausgleichsund Garantiezahlungen für die Landwirtschaft. Im Kern geht es damit um die Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit von Regionen und Mitgliedstaaten. Einen Wendepunkt der Europapolitik für die Selbstverwaltung bildete die Einheitliche Europäische Akte von 1986, in der das Ziel der Errichtung des Binnenmarktes festgelegt wurde. Damit reagierte die Europäische Ge24

Brunn (FN 5), S. 235. Siehe dazu Erwägungsgrund 9 des Beschlusses des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, ABl. L 163 vom 23. Juni 2007, S. 17. Der zusätzliche Beitrag des Vereinigten Königreiches wird im Zeitraum 2007 – 2013 den Betrag von 10,5 Mrd. Euro nicht übersteigen. 25

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meinschaft auf Entwicklungen der Weltwirtschaft. Ab dem Ende der siebziger Jahre schien der Aufstieg Japans zur Weltwirtschaftsmacht unabänderbar und auch die Tigerstaaten Asiens nahmen eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Das Handelsdefizit der Europäischen Gemeinschaft gegenüber diesen Staaten stieg ständig an, der Anteil der EG am Welthandel fiel von 45 Prozent im Jahr 1973 auf 37 Prozent im Jahr 1985.26 Den dringenden wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf setzte die Kommission unter ihrem seit dem 6. Januar 1985 (bis 1995) amtierenden Präsidenten Jacques Delors in konkrete Vorschläge zur Errichtung eines Binnenmarktes zwischen den Mitgliedstaaten um. Dabei konnte sie sich des Rückhalts bei François Mitterand und Helmut Kohl sicher sein, die deutsch-französische Antriebsmaschine funktionierte und die Initiative entsprach dem wirtschaftsliberalen Politikansatz des Vereinigten Königreiches und seiner Premierministerin Margaret Thatcher. In teilweise dramatischen Sitzungen wurde letztlich das große Reformwerk beschlossen mit dem die europäische Integration enorme Fahrt gewinnen sollte: Der Binnenmarkt und die Einheitliche Europäische Akte. Die Einheitliche Europäische Akte bewirkte ein effizienteres Arbeiten der Gemeinschaftsorgane. Das Europäische Parlament wurde aufgewertet, der Rat konnte nun in einer Reihe von Fällen mit Mehrheit entscheiden. Die Umweltpolitik, die Sozialpolitik und die Regionalpolitik fanden Aufnahme in die Verträge. Das Ziel der Errichtung des Binnenmarktes wurde vertraglich festgelegt und prägte die Tätigkeiten der Gemeinschaften über Jahre und ihre Struktur bis heute. Infolge dieser Ausweitungen der gemeinschaftlichen Kompetenzen vermehrten sich die Berührungspunkte des Gemeinschaftsrechts mit der Selbstverwaltung in erheblichem Maße. Dies betraf die Selbstverwaltung mit wirtschaftlichem Bezug, aber auch die Kommunen und Regionen und damit auch die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Ratifikation der Einheitlichen Europäischen Akte durch die Bundesrepublik Deutschland wurde erstmals ein formelles Beteiligungsverfahren der Länder an europäischen Angelegenheiten eingerichtet, das insbesondere Informationspflichten des Bundes normierte.27 In den Diskussionen um die zukünftige Gestalt und Ausrichtung der Europäischen Union war das „Europa der Regionen“ Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein großes Thema der wissenschaftlichen Diskussion.28 Der Beitritt Portugals und insbesondere 26

Brunn (FN 5), S. 221. Walter Rudolf, Die deutschen Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften nach der Einheitlichen Europäischen Akte, in: Festschrift für Karl Josef Partsch, Berlin 1989, S. 357, und ders., Die Mitwirkung der Länder bei der Willensbildung in Europa, in: Dieter Dörr / Meinrad Dreher (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, Baden-Baden 1997, S. 33. 27

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Spaniens mit den regionalen Eigenheiten Kataloniens und des Baskenlandes dürfte dazu einen Beitrag geleistet haben. Das Europäische Parlament hat in Entschließungen die Rolle der Regionen hinsichtlich der gemeinschaftlichen Regionalpolitik, aber auch hinsichtlich eines demokratischen Staatsaufbaus hervorgehoben.29 Als Entschließung wurde am 18. November 1988 die „Gemeinschaftscharta der Regionalisierung“ verabschiedet.30 Die Versuche einer verstärkten Regionalisierung dienten der Abkehr von einer zunehmend als erdrückend und bürgerfern empfundenen Zentralisierung. Auf europäischer Ebene wurde damit versucht, subnationale Strukturen gegen eine stärker werdende Tendenz der Regulierung zu aktivieren. Die Diskussionslinie zu einem Europa der Regionen hat sich ausgedünnt, seitdem in den neunziger Jahren die osteuropäischen Nationalstaaten mit wachsendem Selbstbewusstsein ihren Wunsch nach Beitritt zur EU bekundeten. Ein „Europa der Regionen“ als Konzept, das an die Stelle der Nationalstaaten rückt, wird von keiner Seite mehr ernsthaft in Betracht gezogen. Das Verständnis der Rolle, welche die Regionen Europas in der Europäischen Union spielen können, setzt an der Erfüllung von europäisch formulierten Aufgaben an. Dieser deutlich pragmatischere Ansatz prägt auch die konkrete Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaft.31 Die Bändigung der Ausübung von Befugnissen durch die Organe der EG vollzieht sich sachbereichsbezogen.

2. Sicherungselemente im Vertrag von Maastricht 1992 / 3

a) Institutionell: Der Ausschuss der Regionen Der Ausschuss der Regionen wurde durch den Vertrag von Maastricht in das institutionelle Gefüge der EG implementiert und im Jahr 1994 errichtet.32 Er ist kein Organ der Gemeinschaft, sondern eine Einrichtung mit 28 Artur Benz, Regionen als Machtfaktor in Europa?, in: VerwArch 84 (1993), S. 328; Peter Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, in: AöR 118 (1993), S. 1. 29 Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 13. April 1984 zur Rolle der Regionen beim Aufbau eines demokratischen Europas und zu den Ergebnissen der Konferenz der Regionen, ABl. Nr. C 127 vom 14. Mai 1984, S. 240; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18. November 1988 zur Regionalpolitik der Gemeinschaft und zur Rolle der Regionen, ABl. C 326 vom 19. Dezember 1988, S. 289. 30 ABl. Nr. C 326 vom 19. Dezember 1988, S. 296. 31 Vgl. Sebastian Büttner, Von der Vielfalt der Regionen zur regionalen Ungleichheit in Europa?, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 10 / 2007, S. 27. 32 Vgl. Kai Hasselbach, Der Ausschuß der Regionen in der Europäischen Union: die Institutionalisierung der Regionalbeteiligung in der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der regionalen und dezentralen Verwaltungsstrukturen in den EU-Mitgliedstaaten, Köln [u. a.] 1996; Robert Theissen, Der Ausschuß der

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beratender Funktion, die in einer Reihe von Fällen zur Abgabe von Stellungnahmen innerhalb der Rechtsetzungsverfahren verpflichtet ist.33 Sein Vorläufer war der so genannte Beirat bei der damaligen Generaldirektion XVI der Kommission mit 46 Mitgliedern.34 Dabei handelte es sich um ein beratendes Gremium, das als Forum für den Informationsaustausch von Bedeutung war. Auch die Funktion des Ausschusses der Regionen besteht im Wesentlichen darin, Möglichkeiten der Partizipation zu eröffnen und Einfluss auf die Rechtsetzung der Gemeinschaften zu nehmen. Er stellt eine institutionelle Sicherung der Interessen der europäischen Regionen dar. Zugleich gewährleisten die Mechanismen des Ausschusses der Regionen, dass die oft divergierenden Interessen der Regionen gebündelt werden und sich in Stellungnahmen und Dokumenten mit Kompromisscharakter niederschlagen. Damit werden sie für das Gesetzgebungsverfahren besser handhabbar. Aus Sicht der deutschen Kommunen bildet allerdings die Besetzung des Ausschusses der Regionen einen Kritikpunkt, weil von den 24 deutschen Mitgliedern lediglich 3 Mitglieder von den kommunalen Spitzenverbänden gestellt werden, aber 21 Mitglieder Vertreter der Länder sind. Die Regelung der Besetzung ist Sache des jeweiligen Mitgliedstaates.

b) Materiell: Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Parallel zu dem Aufgabenzuwachs der Europäischen Gemeinschaften wurde seit Ende der achtziger Jahre versucht, den Schutz der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung im Gemeinschaftsrecht festzumachen. Diese Versuche sind letztlich daran gescheitert, dass in den Mitgliedstaaten eine zu große Organisationsvielfalt herrscht und das Gemeinschaftsrecht keinen tragfähigen Anhaltspunkt bietet.35 Die bestehenden normativen Gewährleistungen berühren die kommunale Selbstverwaltung nur am Rande. Nach Art. 6 Abs. 3 EUV achtet die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten und ist auch auf die Demokratie verpflichtet. Jedoch kann hieraus auch in Zusammenschau mit weiteren Regelungen kein Schutz der Regionen: (Artikel 198a – c EG-Vertrag), Einstieg der Europäischen Union in einen kooperativen Regionalismus?, Berlin 1996. 33 Martin Burgi, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/ EGV-Kommentar, München 2003, Art. 263, Rdnr. 3. 34 Dieckmann (FN 15), S. 459. 35 Martin Burgi, Kommunalrecht, München 2006, § 4, Rdnr. 1; Angela Faber, Die Zukunft kommunaler Selbstverwaltung und der Gedanke der Subsidiarität in den Europäischen Gemeinschaften, DVBl. 1991, S. 126; Hans-Werner Rengeling, Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaft und Kommunen, in: ZG 1994, S. 277; Stefanie Schmahl, Europäisierung der kommunalen Selbstverwaltung, in: DÖV 1999, S. 852.

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kommunalen Selbstverwaltung in der deutschen Lesart abgeleitet werden.36 Gleiches gilt für das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten in Art. 10 EGV. Einen belastbaren Gegenpol zu Tendenzen der Zentralisierung kann auch das Prinzip der Subsidiarität des Art. 5 Abs. 2 EGV nicht bilden.37 Als Kompetenzausübungsregel ist es von der vertraglichen Kompetenzverteilung abhängig. Immerhin ist die kommunale Selbstverwaltung ein Aspekt, der bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu beachten ist. Dies kann etwa auf dem Gebiet der Regionalpolitik von Bedeutung sein.

3. Die Regionalpolitik der EG

Seit den 70er Jahren wurden die kommunalen und regionalen Gebietseinheiten von den europäischen Institutionen verstärkt in den Blick genommen, weil sich mit der Ausweitung der Aufgabenbereiche der EG auch die Berührungspunkte zur Vollzugsebene verstärkten. Dies ging einher mit dem Aufbau der gemeinschaftlichen Regionalpolitik. Bei der Gründung der beiden Europäischen Gemeinschaften im Jahr 1957 spielte die Regionalpolitik wie andere Strukturpolitiken noch keine Rolle.38 Es herrschte die Vorstellung, dass Strukturprobleme durch die Schaffung des Gemeinsamen Marktes und das daraus hervorgehende Wirtschaftswachstum gelöst werden könnten.39 Die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Kohäsion) war jedoch schon bei ihrer Gründung ein Ziel der EWG (Art. 2 EWG-Vertrag). Nachdem die Zollunion die Probleme nicht beseitigt hatte, stieß die Erweiterung von 1973 um das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark einen Politikprozess an, der nach den Beschlüssen der Pariser Gipfeltreffen von 1972 und 1974 zur Errichtung eines Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) im Jahr 1975 führte.40 Zunächst erwiesen sich die Mechanismen allerdings als verbesserungsbedürftig. Zu einer grundlegenden Neuordnung der Strukturpolitik kam es durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Sie beinhaltete die Einführung ausdrücklicher Vertragsregelungen zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (die Art. 130a bis 130e a. F., heute Art. 158 bis 162 EGV). Die 36 Matthias Ruffert, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft (FN 10), § 38, Rdnr. 8. 37 So auch Hans-Jürgen Papier, Das Subsidiaritätsprinzip – Bremse des europäischen Zentralismus?, in: Otto Depenheuer / Markus Heintzen / Matthias Jestaedt / Peter Axer (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Isensee, Heidelberg 2007, S. 691. 38 Roland Bieber /Astrid Epiney / Marcel Haag, Die Europäische Union, 7. Aufl., Baden-Baden 2006, § 27, Rdnr. 3. 39 Siegfried Magiera, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/ EGV, München 2003, Art. 158, Rdnr. 2. 40 Magiera (FN 39), Art. 158, Rdnr. 3 f.

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Strukturpolitik der Gemeinschaft zielt insbesondere auf die Verringerung der Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen (Konvergenz). Durch die umfassende Reform von 2006 wurden die Fonds auf die Lissabon-Strategie ausgerichtet und bezwecken damit die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Regionen als Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EG insgesamt. Die Verwirklichung und Durchführung der Strukturpolitiken und die Verwaltung der Fonds bieten Ansatzpunkte für Elemente der Selbstverwaltung. Denn Wirtschaftsförderung erfordert die Kooperation aller beteiligten Verwaltungsebenen, von der Europäischen Kommission über die mitgliedstaatliche Regierung bis zu den Entscheidungsträgern vor Ort. Industrieund Handelskammern oder Handwerkskammern können eine Rolle bei der Weitergabe von Informationen über mögliche Förderungen und dem Beantragen von Fördermitteln spielen. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Wirtschaftsministerien der Länder federführend für die Vergabe von Fördermitteln aus den europäischen Strukturfonds. Sie beteiligen aber die Gemeinden und Landkreise sowie Interessengruppen bei der Erarbeitung der einschlägigen Programme und Regelungen. Allerdings ist das Einbeziehen in das europäisierte Verwaltungsgeflecht ein zweischneidiges Schwert im Hinblick auf die Eigenständigkeit der Verwaltungsträger. Denn ihr Handeln in derartigen Zusammenhängen wird vom europäischen Recht und den europäischen administrativ-bürokratischen Vorgaben angeleitet, wodurch ihre Handlungsspielräume verkleinert werden.

IV. Die Rolle der Selbstverwaltung in den Arbeiten des Europarates seit 1985 Im Rahmen des Europarates spielte die kommunale Selbstverwaltung lange keine große Rolle. Die Erklärung von Galway (1975) und die Erklärung von Bordeaux (1978) markierten Versuche, die Potenziale des Regionalismus für Demokratie und Minderheitenschutz zu nutzen. Sie dürften auch vor dem Hintergrund des KSZE-Prozesses zu sehen sein, der seit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 in Gang gekommen war. Die KSZE-Schlussakte selbst enthielt in „Korb 3“ eine Passage über die Zusammenarbeit nationaler Minderheiten und regionaler Kulturen.41 Zugleich manifestierte sich in den Arbeiten des Europarates das Bemühen um grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf lokaler und regionaler Ebene. Das bedeutendste Ergebnis der Bemühungen um die Stärkung der Selbstverwaltung im Rahmen des Europarates ist die „Charta der Lokalen Selbstverwaltung“ aus dem Jahr 1985.42 41 42

Häberle (FN 28), S. 10 ff. ETS Nr. 122; BGBl. 1987 II, S. 65.

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Der große politische Umbruch der Jahre 1989 und 1990 brachte für den Europarat erhebliche Änderungen seiner Aufgaben. Voraussetzung für die Aufnahme der jungen osteuropäischen Demokratien war eine staatliche Ordnung, die dem Wertekonsens des Europarates entsprach. Jeder Staat musste die Europäische Menschenrechtskonvention, aber auch die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung ratifizieren.43 In diesem Zusammenhang wandelte sich auch die Rolle der kommunalen Selbstverwaltung. Sie diente nicht mehr als Gegenmodell zu einem Modell zentralistischer Verwaltung in den osteuropäischen Staaten, sondern sollte als Element demokratischer Ordnung zur Stabilisierung der jungen demokratischen Staatswesen beitragen. Die Europäische Charta der Lokalen Selbstverwaltung ist für 43 Staaten in Kraft.44 Die Bundesrepublik Deutschland hat 1985 unterzeichnet und den Vertrag 1988 in Kraft gesetzt, während Frankreich zwar ebenfalls 1985 unterzeichnet, aber erst 2007 ratifiziert hat. Als einziger Vertrag auf der Ebene des Völkerrechts enthält sie bindende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Zu diesen Verpflichtungen zählen insbesondere die Anerkennung des Grundsatzes der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 2), die Festlegung der kommunalen Aufgaben durch Verfassung oder Gesetz (Art. 4), die Sicherung der Rechtsstellung kommunaler Vertreter (Art. 7) und die Gewährleistung eines angemessenen Finanzsystems (Art. 9). Die Wirkung der Charta wird dadurch abgeschwächt, dass sie nach ihrem Art. 12 als „Vertrag à la carte“ den Staaten eine gewisse Wahlfreiheit lässt, welche der im Vertrag enthaltenen Verpflichtungen sie für sich anerkennen. Dadurch wurde erreicht, dass eine hinreichende Anzahl von Staaten dem Vertrag beitrat und er in Kraft treten konnte. Im organisatorischen Gefüge des Europarates arbeitet der „Kongress der Gemeinden und Regionen in Europa (KGRE)“. Er wurde vom Europarat 1994 als Nachfolgeeinrichtung der Ständigen Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas (s. o. I.) ins Leben gerufen. Seine rechtliche Grundlage bildet die Entschließung (2000) 1 des Ministerkomitees. Der KGRE und seine Vorgängereinrichtung bildeten seit 1990 eine Plattform für die Kooperation der Kommunen in den alten und den neu beitretenden Mitgliedstaaten, die auf kommunaler und regionaler Ebene freiheitlich-demokratische Strukturen stärken sollte. Der Kongress der Gemeinden und Regionen in Europa tagt in zwei Kammern für die Gemeinden und die Regionen.45 Die Zwei-Kammer-Versamm43

Dieckmann (FN 15), S. 458. Stand: 10. März 2008, der aktuelle Stand ist abrufbar unter http://conventions. coe.int. 45 Heinrich Hoffschulte, Kommunen in Europa, in: Alemann / Münch (Hrsg.), Europafähigkeit der Kommunen (FN 16), S. 58 (68). 44

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lung setzt sich aus 318 Mitgliedern und ebenso vielen Stellvertretern zusammen. Der Kongress hat vier Ausschüsse gebildet, die zu einzelnen Sachgebieten arbeiten (institutionelle Fragen betreffend die Kommunal- und Regionaldemokratie; Kultur und Erziehung; nachhaltige Entwicklung; soziale Zusammenarbeit). Aktuelle Bemühungen gehen etwa dahin, ein „Framework of Guidelines on Decentralisation and Local Democracy“ als unverbindliches Dokument in Form einer Deklaration zu verabschieden. Der Kongress der Gemeinden und Regionen in Europa hat auf seiner Sitzung am 20./ 21. November 2007 einen Entwurf für ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Charta der lokalen Selbstverwaltung verabschiedet.46 Diesen Entwurf hat er dem Ministerkomitee zur Annahme vorgelegt. Inhalt des Entwurfs ist insbesondere die Ausweitung der Verpflichtungen der Staaten gegenüber den lokalen oder regionalen Einheiten. Die Wahlmöglichkeiten der Staaten aus den Regelungen sollen so beschränkt werden, dass die Zahl der verbindlichen Verpflichtungen von bisher zwei Drittel auf drei Viertel der Gewährleistungen gesteigert wird. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Sicherung der finanziellen Grundlage der lokalen Gebietskörperschaften. Zielrichtung ist die angemessene Finanzausstattung, um den Verantwortungen und Aufgaben gerecht werden zu können, die den Kommunen und Regionen zugewiesen sind. Der Forderung, entsprechende Sicherungsmechanismen in Gesetz oder Verfassung festzuhalten, entspricht bereits die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland mit der Regelung des Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG und den weiter gehenden Vorschriften der Landesverfassungen. Das Zusatzprotokoll veranschaulicht, dass im Wege völkerrechtlicher Verträge die Staaten Verpflichtungen eingehen, wenn und insoweit lokale oder regionale Einheiten innerstaatlich als taugliche Adressaten solcher Verpflichtungen angesehen werden.

V. Die Realität der Selbstverwaltung in der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts In Teilen der deutschen kommunalrechtlichen Literatur und von den Kommunen werden die Einwirkungen des Europarechts in erster Linie als Gefährdungen des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung aufgefasst, weil das Gemeinschaftsrecht die Eigenverantwortlichkeit der Träger kommunaler Selbstverwaltung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben beeinflusst.47 Damit wird auf die Funktion der kommunalen Selbstverwaltung als Schutz gegen staatliche oder supranationale Machtausübung abgehoben. Dementsprechend werden im Gemeinschaftsrecht Ansatzpunkte 46

Auffindbar unter www.coe.int (Referenz 8. März 2008). Winfried Kluth, in: Hans J. Wolff / Otto Bachof / Rolf Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 3, 5. Aufl., München 2004, § 94 II 3, Rdnr. 118. 47

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gesucht, um die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften vor unverhältnismäßigen Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts zu schützen.48 Da die kommunale Selbstverwaltung als Rechtsfigur in ihrer Gesamtheit bisher nicht Teil des geltenden Gemeinschaftsrechts ist, muss ihre Rolle jedoch in differenzierender Weise untersucht werden, um spezifische und aufgabenbezogene Mechanismen im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht zu entwickeln. Darin liegen auch Chancen zur Neukonstituierung der kommunalen Selbstverwaltung.49 Das Gemeinschaftsrecht bietet einzelne Ansätze zur Stärkung der Rolle von Kommunen gegenüber der staatlichen Ebene und deren Herrschaftsausübung. Andere Bereiche der Selbstverwaltung unterliegen jeweils spezifischen Eigenheiten und Gegebenheiten. Wesentlichen Einfluss auf das innerstaatliche Recht nimmt insoweit das europäische Wirtschaftsrecht.50

1. Zentralisierungstendenzen durch das Wirtschaftsmodell der EG

Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts und des Unionsrechts insgesamt auf die kommunale Selbstverwaltung sind zuvörderst Konsequenz der einzelnen Sachpolitiken.51 Insoweit reichen sie so weit wie die Kompetenzen der Europäischen Union selbst.52 Angesichts der Bandbreite der Kompetenzen und des Umstandes, dass das Gemeinschaftsrecht keine Bereichsausnahmen kennt, existiert eine Vielfalt von punktuellen oder umfassenderen Wirkungen insbesondere über die breit gefächerten Regelungen des gemeinschaftlichen Umweltrechts.53 Weitere Ansatzpunkte für bereichsspezifische Einwirkungen sind die Regelungen über den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Aus Sicht der deutschen Kommunen erfolgen auf diesen Sachgebieten deutliche Eingriffe und Einwirkungen in die kommunale Planungshoheit und das kommunale Wirtschaftsrecht, etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Auf diesem Rechtsgebiet gibt es allerdings vielfältige Differenzierungen, indem Schwellenwerte für die Anwendbarkeit des ge48 Thomas Mann, in: Peter Tettinger / Wilfried Erbguth / Thomas Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl., Heidelberg 2007, § 1, Rdnr. 9. 49 Ruffert (FN 36), § 38, Rdnr. 42; Eberhard Schmidt-Aßmann, Kommunalrecht in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 13. Aufl., Berlin [u. a.] 2005, 1. Kap., Rdnr. 7a. 50 Näher Winfried Kluth, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Kammerrechts, BadenBaden 2007, C.II, Rdnr. 207 ff. 51 Im Einzelnen Ruffert (FN 36), § 38, Rdnr. 25 ff. mit weiteren Nachweisen. 52 Siegfried Magiera, in: Klaus Grupp / Michael, Ronellenfitsch (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung in Deutschland und Europa, Berlin 1995, S. 14 (18). 53 Ralf v. Ameln, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die kommunale Selbstverwaltung, in: Jörn Ipsen / Hans-Werner Rengeling (Hrsg.), Gemeinden und Kreise in einem vereinten Europa, Osnabrück 1999, S. 17 (20 ff.).

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meinschaftlichen Vergaberechts gesetzt sind oder ein abgeschwächtes Ausschreibungsregime auf nachrangige Dienstleistungen anwendbar ist, bei denen ein geringeres Marktöffnungspotential besteht.54 Zutreffend ist, dass der Grundsatz der Nichtdiskriminierung und die Grundsätze der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit immer zu beachten sind. Die Befürchtungen der Kommunen, ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten könnten durch das gemeinschaftliche Vergaberecht unverhältnismäßig eingeschränkt werden, erweisen sich angesichts der differenzierten Rechtslage als überzogen. Immerhin tritt der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf wirtschaftlichem Gebiet besonders stark zu Tage. Dies betrifft auch die funktionale Selbstverwaltung. Aus der Sicht der Kammern sind hergebrachte Strukturen unter Druck geraten. Die Kammern sind Ausdruck korporatistischer Wirtschaftsstrukturen, die in Kollision mit der freiheitlichen Zielrichtung des Binnenmarktes geraten können. Die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) haben in der Rechtsprechung des EuGH zu einer Reihe von Entscheidungen geführt, die berufsständische Zwänge oder territorial bezogene starre Anforderungen an Wirtschaftssubjekte aufgebrochen und modifiziert haben.55 Die generelle Notwendigkeit, in die Handwerksrolle eintragen zu sein, um handwerkliche Dienstleistungen in der Bundesrepublik Deutschland zu erbringen, ist mit den Freiheiten des Binnenmarktes unvereinbar.56 Immerhin könnte die funktionale Selbstverwaltung durch die Kammern eine gewisse Renaissance aufgrund der Dienstleistungs-Richtlinie der EG57 erleben.58 Denn die Dienstleistungs-Richtlinie verlangt von den Mitgliedstaaten, einheitliche Ansprechpartner zu benennen. Diese Aufgabe könnte unter anderem von den Kammern erfüllt 54 Rainer Noch, in: Reiner Schulze / Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, Baden-Baden 2006, § 29, Rdnr. 229. 55 Kluth (FN 50), Rdnr. 238 mit weiteren Nachweisen. 56 EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2000, Rs. C-58 / 98 (Corsten), Slg. 2000, I-7919; EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2003, Rs. C-215 / 01 (Schnitzer), Slg. 2003, I-14847. 57 Richtlinie 2006 / 123 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EG Nr. L 376 vom 27. Dezember 2006, S. 36. Zum Entwurf Dieter Kugelmann, Die DienstleistungsRichtlinie der EG zwischen der Liberalisierung von Wachstumsmärkten und europäischem Sozialmodell, in: EuZW 2005, S. 327; zur Richtlinie Christian Calliess, Europäischer Binnenmarkt und Europäische Demokratie: Von der Dienstleistungsfreiheit zur Dienstleistungsrichtlinie – und wieder Retour?, in: DVBl. 2007, S. 336 mit weiteren Nachweisen. 58 Siehe Christoph Ohler, Der Binnenmarkt als Herausforderung an die Verwaltungsorganisation in den Mitgliedstaaten, in: BayVBl. 2006, S. 261 (263 f.); Alexander Windorffer, Einheitliche Ansprechpartner nach der EU-Dienstleistungsrichtlinie – Aufgabenprofil und Ansiedlungsoptionen, in: DVBl. 2006, S. 1210; ders., Die Implementierung einheitlicher Ansprechpartner nach der EU-Dienstleistungsrichtlinie, in: NVwZ 2007, S. 495.

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werden, die zumindest als Kooperationspartner in Frage kommen, um Informationen für Dienstleistungserbringer aus einem anderen Mitgliedstaat vorzuhalten, die auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland Dienstleistungen erbringen wollen. Die Verwaltungstätigkeit einer Vielzahl innerstaatlicher Stellen wird insgesamt durch das europäische Recht und die Gegebenheiten seiner Durchführung verändert. Im Zuge der Europäisierung des Verwaltungsrechts kommen unterschiedliche Modelle der Kooperation von europäischen und innerstaatlichen Stellen und Behörden zum Tragen, die mit unterschiedlicher Akzentuierung als Europäischer Verwaltungsverbund beschrieben werden.59 Die sich immer schneller intensivierende Kooperation der Verwaltungen geht zu Lasten der lokalen Verwaltung und stärkt die zentralen Verwaltungsstellen im Mitgliedstaat. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Verwaltung überwiegend Ländersache, daher müssen Formen der Kooperation und Wege des Informationsaustausches ausgebaut werden. Zentrale Bundesbehörden erfahren eine Ausweitung ihrer Aufgaben.60 Die Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten wird durch die Erfordernisse der Europäisierung faktisch begrenzt und besteht auch rechtlich nach überzeugender Auffassung nur nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts.61

2. Lobbyarbeit für die Selbstverwaltung

In Brüssel wird von zahlreichen Unternehmen, Organisationen und Gruppen intensiv Lobbyarbeit betrieben. Wirtschaftliche Zusammenschlüsse und berufsständische Verbände können es sich nicht leisten, in diesem Prozess zu fehlen. Nicht nur große privatwirtschaftliche Unternehmen, sondern auch ihre Vereinigungen versuchen, auf die Entscheidungen Einfluss zu nehmen, die im Rahmen der Europäischen Union fallen. Mit dem Wirtschafts- und Sozialausschuss stehen einer Reihe von Verbänden institutionell abgesicherte und vertraglich verankerte Möglichkeiten der Einwirkung zur Verfügung. Parallel dazu dient der Ausschuss der Regionen als Forum für die Einheiten kommunaler Selbstverwaltung. Seine Arbeit verbürgt 59 Matthias Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, in: DÖV 2007, S. 761; Eberhard Schmidt-Aßmann / Bettina Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, Tübingen 2005; siehe auch Thomas Groß, Zum Entstehen neuer institutioneller Arrangements: das Beispiel der Europäischen Verbundverwaltung, in: Dieter Gosewinkel / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, Berlin 2007, S. 141. 60 Zum Ganzen Jörg Gundel, in: Schulze / Zuleeg (Hrsg.), Europarecht (FN 54), § 3, Rdnr. 145 ff.; siehe auch Eckard Pache, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, in: VVDStRL 66 (2007), S. 106. 61 Kugelmann (FN 22), S. 82 mit Nachweisen.

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Beständigkeit und Sachbezogenheit in der Interessenvertretung. Die Besetzung der beiden Ausschüsse, die den Mitgliedstaaten obliegt, stellt aber nicht alle Interessengruppen zufrieden. Aus der Bundesrepublik Deutschland sind 21 Vertreter der Länder und 3 Vertreter der kommunalen Spitzenverbände im Ausschuss der Regionen vertreten. Die kommunalen Interessen und die Interessen der Länder der Bundesrepublik Deutschland können übereinstimmen, wenn es um grundsätzliche Fragen der Mitwirkung oder der Zuordnung und Erfüllung von Aufgaben innerhalb der EU geht. Angesichts der innerstaatlichen Organisation und Kompetenzverteilung können diese Interessen aber auch auseinander fallen. Die Vereinigungen der kommunalen und regionalen Selbstverwaltungskörperschaften versuchen daher darüber hinaus, eine starke Stellung im europäischen Interessengeflecht zu erringen. Sie verfügen über finanzielle und organisatorische Ressourcen und eine stabile Struktur, die kontinuierliche Arbeit zulässt. Der Rat der Gemeinden und Regionen Europas wurde 1990 mit der Europäischen Sektion des Internationalen Gemeindeverbandes vereinigt, der International Union of Local Authorities. Sie bietet ein weltweites Forum für den Erfahrungsaustausch zwischen Kommunen und arbeitet mit den Vereinten Nationen zusammen. Diese Kooperation hat zu einem konkreten Ergebnis geführt. Im Rahmen der Vereinten Nationen liegt ein Entwurf für eine „Weltcharta der Lokalen Selbstverwaltung“ vor.62 Das im Jahr 1986 gegründete europäische Städtenetzwerk EUROCITIES vereinigt mehr als 120 europäische Großstädte aus 30 Staaten.63 Es bemüht sich um die Vertretung der Interessen von Großstädten in der Arbeit der Europäischen Kommission.64 Im Jahr 1991 haben die drei deutschen kommunalen Spitzenverbände (Deutscher Städtetag, Landkreistag, Städte- und Gemeindebund) eine Vereinbarung über die gemeinsame Europaarbeit getroffen und zunächst ein gemeinsames Büro in Brüssel betrieben.65 Seit 2002 verfügt jeder der drei Spitzenverbände über ein eigenes Europabüro.66 Die Einrichtungen der kommunalen und auch funktionalen Selbstverwaltung vertreten ihre Interessen offensiv nicht nur gegenüber ihrem Mitgliedstaat, sondern auch im Rahmen der Europäischen Union. Allerdings befinden sie sich bei der Lobbyarbeit auf einer Ebene mit Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Eine Sonderstellung der Selbstverwaltungseinrichtungen begründen ihre Möglichkeiten, auf die Re62 Heinrich Hoffschulte, Kommunen in Europa, in: Alemann / Münch (Hrsg.), Europafähigkeit der Kommunen (FN 16), S. 58 (67). 63 Informationen unter www.eurocities.org. 64 Dieckmann (FN 15), S. 460. 65 Dieckmann (FN 15), S. 458. 66 Hans-Günter Henneke, in: Mann / Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft (FN 10), § 35, Rdnr. 64 ff., auch zum Folgenden.

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gierung ihres Mitgliedstaates Einfluss zu nehmen oder sich in den beiden vertraglich eingerichteten Ausschüssen der Europäischen Union Gehör zu verschaffen. Bestand und Umfang dieser Möglichkeiten hängen von ihrer Stellung nach innerstaatlichem Recht ab.

VI. Der Weg zu Regelungen über die Selbstverwaltung im Vertrag von Lissabon Die Neuordnung der Europäischen Union erschien Ende der 90er Jahre aufgrund des bevor stehenden Beitritts 12 neuer Staaten als unabweisbar. Das Ende des Ost-West-Gegensatzes wurde besiegelt. Die osteuropäischen Staaten verstanden ihren Beitritt zur Union als Heimkehr nach Europa und als Abkehr von der Dominanz und Unterdrückung durch die frühere Sowjetunion. Der Prozess der Vertragsänderung begann 1998 mit dem Vertrag von Amsterdam und setzte sich mit dem Vertrag von Nizza des Jahres 2001 fort, der zu einem unbefriedigenden Schwebezustand führte, in dem einige zentrale Probleme der institutionellen Ordnung wie der Abstimmungsmodus im Rat oder die Zusammensetzung der Kommission ungelöst blieben.67 Der Verfassungskonvent unter dem Vorsitz von Valérie Giscard d’Estaing erarbeitete ab dem 28. Februar 2002 den Entwurf zu einem Verfassungsvertrag68, der am 18. Juli 2003 dem Europäischen Rat übergeben und in modifizierter Form von den Staats- und Regierungschefs am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet wurde.69 In diesem Prozess setzten sich die Interessenvertreter der Selbstverwaltungseinheiten für eine Verankerung ihrer Positionen in der Verfassungsordnung der Europäischen Union ein.70 Über eine starke Verhandlungsposition im Verfassungskonvent verfügten die Länder der Bundesrepublik Deutschland, die über den Bundesratsvertreter direkten Einfluss nehmen konnten. Die kommunale und regionale Selbstverwaltung fand im EU-Verfassungsvertrag ihren Niederschlag als Teil der Stärkung des Subsidiaritätsprinzips (Art. I-11 Abs. 3 EUVV).71 Weitere neue oder maßgeblich veränderte Regelungen, die spezifisch die Selbstverwaltung betroffen hätten, wurden nicht getroffen. 67

Oppermann (FN 8), § 1, Rdnr. 41. ABl. C 169 vom 18. Juli 2003, S. 1; dazu statt aller Jürgen Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des europäischen Konvents, Baden-Baden 2004. 69 ABl. C 310 vom 16. Dezember 2004, S. 1; zum Ganzen Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, Einführung mit Synopse, München 2005. 70 Heinrich Hoffschulte, Kommunale Selbstverwaltung im Entwurf des EU-Verfassungsvertrages, in: DVBl. 2005, S. 202. 71 Utz Schliesky, Die künftige Gestalt des europäischen Mehrebenensystems, in: NdsVBl. 2004, S. 57. 68

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Bereits vorhandene Regelungen wurden jedoch im Rahmen der Reform aufgegriffen und behalten ihre Wirkung. Einzelne Elemente funktionaler Selbstverwaltung sind nach geltendem Recht bereichsbezogen in Protokollen und Erklärungen festgelegt. In die Schlussakte des Vertrages von Amsterdam wurden auf Druck insbesondere auch der Bundesrepublik Deutschland einige Texte mit Bezug zur Selbstverwaltung aufgenommen. Teil des Primärrechts ist das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, das die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gewährleistet, sofern sie dem öffentlich-rechtlichen Auftrag dient. Als Auslegungshilfen dienen Erklärungen zu den Verträgen. Ebenfalls in der Schlussakte des Vertrages von Amsterdam sind die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften sowie die Erklärung zu öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten in Deutschland enthalten. Darin werden die Achtung des Status der Kirchen und die besonderen Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Kreditinstitutionen im Zusammenhang des europäischen Wettbewerbsrechts anerkannt. Diese Regelungen enthalten keine Bereichsausnahmen. Das Gemeinschaftsrecht findet in vollem Umfang Anwendung, bei seiner Anwendung sind jedoch die festgehaltenen Besonderheiten in der Aufgabenerfüllung zu berücksichtigen. Dies betrifft grundsätzlich alle Einrichtungen der Selbstverwaltung, auch die nicht in Erklärungen gesondert genannten Einrichtungen kommunaler Selbstverwaltung. Die im Rahmen der Verträge ausdrücklich aufgeführten Einrichtungen können sich aber auf die Anerkennung ihrer Eigenheiten berufen. Dies ist von besonderer Bedeutung im Verhältnis zur Europäischen Kommission auf den Feldern des europäischen Wettbewerbs- und Beihilfenrechts.72 In der unverbindlichen Grundrechte-Charta der Europäischen Union aus dem Jahr 2000, die mit Inkrafttreten des Reformvertrages Verbindlichkeit erhält, ist eine Vorschrift mit objektiv-rechtlichem Charakter enthalten73, wonach die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet (Art. 22). Ihre Zielrichtung ist nicht auf Europa beschränkt, sondern verpflichtet die Union zu toleranter Berücksichtigung einschlägiger Besonderheiten in weltweitem Maßstab.74 Besonderheiten von Kommunen oder Regionen betrifft die Vorschrift grundsätzlich nicht. Immerhin können kulturelle, religiöse oder sprachliche Gegebenheiten auf die Ausgestaltung oder die Aktivitäten kommunaler oder regionaler Einheiten ausstrahlen. Im 72 Dieter Kugelmann, Der Einfluss des Europarechts auf die Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten, in: Wilfried Erbguth / Johannes Masing (Hrsg.), Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, Stuttgart [u. a.] 2006, S. 123 mit weiteren Nachweisen. 73 Rudolf Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/ EGV, München 2003, Art. 22, Rdnr. 5. 74 Sven Hölscheidt, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2007, Art. 22, Rdnr. 14 f.

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Vordergrund steht der Schutz von Minderheiten und Gruppen gegenüber vereinheitlichenden Tendenzen von unionsrechtlichen Maßnahmen.75 Die Präambel der Grundrechte-Charta zählt die Achtung der „nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene“ zu den Zielen der Union. Die Union hat die innerstaatliche Autonomie in der staatlichen Organisation zu achten. Damit knüpft die Präambel an den bestehenden Art. 6 Abs. 3 EUV an und geht in der Formulierung über ihn hinaus. Dies bedeutet nicht notwendig eine stärkere Wirkung, zumal die Präambel vorrangig politische Leitwirkung entfaltet. Die regionale und die kommunale Ebene werden neben der nationalen Ebene ausdrücklich in ihrem Bestand als achtenswert anerkannt.76 Bereits im nächsten Satz der Präambel wird aber die Sicherstellung der Freiheiten des Binnenmarktes betont, die Einschränkungen der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten zur Folge haben kann.77 Nach den gescheiterten Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden wurde der Ratifikationsprozess des EUVerfassungsvertrages in den Mitgliedstaaten nicht weiter betrieben, obwohl bereits mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten den Vertrag innerstaatlich gebilligt hatten. Unter deutscher Präsidentschaft gelang am 22. / 23. Juni 2007 die politische Einigung auf einen Reformvertrag. Dieser wurde als Vertrag von Lissabon am 13. Dezember von den Mitgliedstaaten unterzeichnet und befindet sich im Prozess der Ratifikation, der Mitte 2009 abgeschlossen sein könnte, wenn die nach dem negativen Referendum in der Republik Irland am 12.6.2008 aufgetretenen Schwierigkeiten gelöst werden können. Der Vertrag von Lissabon (Reformvertrag) greift zu großen Teilen die im EU-Verfassungsvertrag vorgesehenen Gehalte und Formulierungen auf.78 Dies gilt auch für die Regelungen über die Subsidiarität, den Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen.79 Im künftigen Art. 4 Abs. 2 EUV in der Fassung des Reformvertrages wird die Union auf die Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung verpflichtet und das Subsidiaritätsprinzip gilt gem. Art. 5 Abs. 3 EUV ausdrücklich auch hinsichtlich der regionalen und lokalen Ebene. 75 Jörg Ennuschat, in: Peter Tettinger / Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006, Art. 22, Rdnr. 4, 10. 76 Jürgen Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden, 2007, Präambel, Rdnr. 40. 77 Kugelmann (FN 22), S. 92 f. 78 Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, Einführung mit Synopse, 2. Aufl., München 2008. 79 Vgl. die Artikel des EU-Verfassungsvertrages zur Selbstverwaltung Teil I Art. I-5 Abs. 1 sowie zum Ausschuss der Regionen Teil I Art. I-32 und Teil III Art. III-386 bis 388.

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Artikel 4 (1) Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Artikel 5 bei den Mitgliedstaaten. (2) Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten. (3) Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten. Artikel 5 EUV (3) Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Die Organe der Union wenden das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an. Die nationalen Parlamente achten auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach dem in jenem Protokoll vorgesehenen Verfahren.

Die Verteidigung regionaler und lokaler Aufgabenerfüllung wird mit der Aufgabenerfüllung auf zentraler Ebene des Mitgliedstaates gleich gestellt. Damit wird der Akzent von einer monolithischen Sicht des Mitgliedstaates verschoben hin zu einer stärkeren Beachtung des internen Aufbaus und der innerstaatlichen Organisation. Allerdings ist die Rücksichtnahme auf die Binnenstruktur der Mitgliedstaaten bereits nach geltender Rechtslage grundsätzlich gewährleistet (Art. 6 Abs. 3 EUV) und findet in der Praxis durch die Kommission in gewissem Rahmen auch statt. Zudem können die Mitgliedstaaten im Rat für die Beachtung staatsorganisatorischer Eigenheiten eintreten. Die Regelung des Art. 5 Abs. 3 EUV i. d. F. des Reformvertrages erhält ihre besondere Tragweite dadurch, dass zum Schutz der Subsidiarität die Stellung der innerstaatlichen Parlamente auf Unionsebene gestärkt wird. Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union sieht eine frühzeitige Beteiligung vor, indem ihnen Rechtssetzungs-

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vorschläge der Organe, insbesondere der Kommission, direkt zugeleitet werden und sie eine Stellungnahme abgeben können. Nach Art. 8 des Protokolls gelten diese Regelungen für jede der Kammern des Parlaments, wenn es sich bei dem System des nationalen Parlaments nicht um ein Einkammersystem handelt. Für die Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies, dass neben dem Deutschen Bundestag auch der Bundesrat die Rechte aus dem Protokoll genießt.80 Bundestag und Bundesrat haben je eine der beiden Stimmen, die jedem mitgliedstaatlichen Parlament zustehen. Einzelheiten können nach innerstaatlichem Recht festgelegt werden.81 Nach dem „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ muss der Entwurf für einen Gesetzgebungsakt erneut überprüft werden, wenn ein Drittel der den nationalen Parlamenten zustehenden insgesamt 54 Stimmen die Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip bestreitet (Art. 7 des Protokolls). Nach Art. 2 Satz 2 dieses Protokolls hat die Kommission gegebenenfalls der regionalen und lokalen Bedeutung der von ihr in Betracht gezogenen Maßnahmen Rechnung zu tragen. Für die lokalen und regionalen Selbstverwaltungseinheiten eröffnet sich damit der Weg, gegen von der Kommission vorgelegte Vorschläge eines Gesetzgebungsakts vorzugehen, indem die innerstaatlichen Möglichkeiten der Einflussnahme auf Bundestag und Bundesrat genutzt werden. Dies gilt zwar für alle Einrichtungen der Selbstverwaltung, aber die Interessen von Gemeinden und Kreisen werden oftmals nahe an den Interessen der Länder liegen, weshalb die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Bundesrat eine Erfolg versprechende Ausweitung der politischen Handlungsspielräume der Kommunen mit sich bringt. Einen zweiten Weg der Einflussnahme eröffnet das Subsidiaritätsprotokoll für die lokalen und regionalen Einheiten unmittelbar im Rahmen der Union. Anknüpfungspunkt ist der Ausschuss der Regionen, der durch das Subsidiaritätsprotokoll eine Aufwertung erfährt. Er ist befugt, Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben, wenn er der Auffassung ist, dass der Rechtsakt gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt (Art. 263 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union82, Art. 8 Abs. 2 des Subsidiaritätsprotokolls). Voraussetzung ist, dass 80 So zur parallelen Regelung des EU-Verfassungsvertrages Streinz / Ohler / Herrmann (FN 69), S. 53. 81 Vgl. das zum EU-Verfassungsvertrag erlassene Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 17. November 2005, in: BGBl. I, S. 3178. Siehe auch Tilmann Hoppe, Drum prüfe, wer sich niemals bindet – Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, in: DVBl. 2007, S. 1540 zu der Vereinbarung vom 28. September 2006. 82 Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ersetzt den bisherigen EG-Vertrag.

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er die Wahrung seiner Rechte sichert. Dies ist der Fall, wenn eine Anhörung des Ausschusses für den Erlass des Rechtsaktes vorgeschrieben ist, dieser also regionale oder lokale Interessen stark berührt. Kommt eine Mehrheit im Ausschuss für die Erhebung einer Nichtigkeitsklage zustande, ist der Ausschuss der Regionen in der Lage, einen erlassenen Rechtsakt zu Fall zu bringen. Weit reichende Änderungen der Grundlagen des europäischen Wirtschaftsrechts bringt der Vertrag von Lissabon nicht. Die Politikfelder Wettbewerb, Binnenmarkt, Regionalpolitik und Wirtschaftsförderung werden ihre zentrale Bedeutung für die Rolle der Selbstverwaltung in der Europäischen Union behalten. Dies erkennt das Vertragswerk selbst indirekt für die Wirtschaftsförderung an. Das bisherige „Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ von 1992 wird in „Protokoll über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ umbenannt, womit die Rolle der Strukturfonds für die Regionen und Kommunen hervorgehoben wird. Ausgangspunkt der Europapolitik in der Europäischen Union der 27 Mitgliedstaaten ist auch nach dem Reformvertrag vorrangig der Mitgliedstaat, nicht die autonome Selbstverwaltungseinheit. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und staatlichem Recht wird vom Mitgliedstaat als Gesamteinheit aus betrachtet. Der innerstaatliche Staatsaufbau wird dabei nicht ausgeblendet. VII. Ein europäisches Verständnis von Autonomie und Selbstverwaltung? In einem weiten Sinne ist Autonomie als die Selbstbestimmung von Rechtssubjekten zu verstehen, die neben Selbstverwaltungskörperschaften private Rechtsubjekte einschließt.83 Unter Autonomie kann aber auch in einem engeren staats- und verwaltungsrechtlichen Verständnis die auf gesetzlicher Befugnis beruhende Befugnis von organisatorisch verselbständigten Hoheitsträgern verstanden werden, eigenverantwortlich objektives Recht in Form von Satzungen zu schaffen.84 Dieses Recht der Selbstgesetzgebung gehört zu den Handlungs- und Gestaltungsmitteln der Selbstverwaltungsträger.85 Der Rückgriff auf die Autonomie als Begründungstopos hilft für die Sicherung der Rechtspositionen von Selbstverwaltungskörperschaften im Rahmen der Europäischen Union wenig weiter.86 Autonomie von Einheiten der 83 Jörn Ipsen, Autonomie, in: Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2007, Sp. 159. 84 BVerfGE 12, 310 (325). 85 Hendler (FN 11), § 1, Rdnr. 18.

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Selbstverwaltung ist ein Element der Machtbegrenzung und der Gewaltenteilung. Die Teilung von Macht innerhalb der Exekutive hat Bezüge zur freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesamtordnung des Staates. Sie dient aber zuvörderst der effektiven Erfüllung staatlicher Aufgaben. Jeder Staat ist grundsätzlich frei in der Ausgestaltung der staatlichen Verwaltung. Kleinere Staaten haben regelmäßig ein geringeres Interesse an einer Stärkung des Zweiges mittelbarer Staatsverwaltung, während größere Staaten tendenziell stärker zur Auslagerung von Aufgaben aus dem unmittelbaren staatlichen Bereich neigen. Hinzu kommen unterschiedliche Verwaltungstraditionen. Die Haltungen der europäischen Staaten zu Autonomie und Selbstverwaltung unterscheiden sich daher stark und sind zudem im Fluss, da die Verwaltungsorganisation steten Veränderungen unterliegt. Eine Annäherung auf ein Verständnis von Autonomie, das einen Gegenpol zu Zentralisierungstendenzen darstellen könnte, ist kaum zu erzielen. Kommunale und funktionale Selbstverwaltung nach deutschem Rechtsverständnis reichen über die Autonomie im engeren Sinne hinaus. Selbstverwaltung bedeutet die institutionell gegenüber dem staatsunmittelbaren Behördensystem verselbständigte Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten durch die Betroffenen in eigener Verantwortung unter staatlicher Rechtsaufsicht.87 Diese Form der Organisation institutionalisiert den Schutz der Betroffenen durch ihre Partizipation.88 Das Bundesverfassungsgericht sieht jedwede Selbstverwaltung vom „Prinzip der Betroffenenbeteiligung“ gekennzeichnet und erkennt ihr eine mitgliedschaftlich-partizipatorische Komponente zu.89 Die Idee der Selbstverwaltung ist durch ihren öffentlichrechtlichen Charakter, die Mitwirkung der Betroffenen und ihre Staatsdistanz umschrieben.90 Das Bundesverfassungsgericht hebt hervor, dass die Grundsätze der Selbstverwaltung und der Autonomie im demokratischen Prinzip wurzeln.91 Eine Stärkung der Bürgernähe führt zu einer Stärkung der Selbstverwaltung.92 Damit wird für das deutsche Verfassungsrecht ein Ausgangspunkt beschrieben, der auf die Verwirklichung von Partizipation besonderen Wert legt. 86 Siehe aber Thomas Würtenberger, Auf dem Weg zu lokaler und regionaler Autonomie in Europa, in: Max-Emanuel Geis (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 1053. 87 Hans-Günter Henneke, Selbstverwaltung, in: Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon (FN 83), Sp. 2142. 88 So die herrschende Meinung; siehe Hendler (FN 11), § 1, Rdnr. 11 mit Fn. 24 und weiteren Nachweisen. 89 BVerfGE 107, 59 (88). 90 Reinhard Hendler, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Handbuch des Kammerrechts, Baden-Baden 2005, A 41. 91 BVerfGE 107, 59 (91). 92 Magiera (FN 52), S. 18; Mann (FN 48), § 1, Rdnr. 9.

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Die lokale und regionale Ebene spielt in der Europäischen Union insbesondere eine Rolle bei der Durchführung und Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts. In dem weit überwiegend dezentralisierten System des Regierens und Verwaltens der Europäischen Gemeinschaft ist es vielfach Aufgabe der sach- und bürgernahen Verwaltungsstellen, das Gemeinschaftsrecht zu vollziehen. In der Bundesrepublik Deutschland betrifft dies Länder und Kommunen. Die Länder sind durch den Bundesrat an Gestaltung und Schaffung des Gemeinschaftsrechts beteiligt. Dagegen ist die Beteiligung der Kommunen verfassungsrechtlich nicht abgesichert, sondern erfolgt im Rahmen des politischen Prozesses. Folgerichtig haben die Kommunen ein starkes Interesse an der Stärkung ihrer „Europafähigkeit“.93 Die Rolle und Bedeutung der Selbstverwaltung hängt eng mit der Stärkung oder Schwächung der Dezentralisierung in der europäischen Integration zusammen. Die Europäische Union hat einen Zug zur Zentralisierung, weil letztlich die Einheitlichkeit der Rechtsgemeinschaft gewahrt werden muss. Im Unionssystem gibt es anderseits eine Reihe von dezentralen Elementen, um die Berücksichtigung der vielfältigen Interessen sowie Sachnähe und Bürgernähe zu erreichen. Teil der dezentralen Systembausteine sind die kommunale, die regionale und die funktionale Selbstverwaltung. Deren Einführung, Ausgestaltung und Erhalt sind Sache der Mitgliedstaaten. Die Beteiligung der Selbstverwaltungseinheiten an Angelegenheiten der Europäischen Union kann vom jeweiligen Mitgliedstaat mediatisiert werden oder sich unmittelbar auf der supranationalen Ebene abspielen. Die weit reichende Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach deutschem Recht muss daher Einschränkungen hinnehmen. Im Gegenzug werden die Selbstverwaltungskörperschaften in erheblicher Weise beteiligt. Der Grundsatz der Betroffenenbeteiligung wird institutionell und verfahrensmäßig in der Europäischen Union stärker verwirklicht als in vielen Mitgliedstaaten. Der Ausschuss der Regionen und die Einflussnahme auf dem Weg der Lobbyarbeit tragen zur Sicherstellung von Elementen der Selbstverwaltung wesentlich bei. Dies gilt für regionale und kommunale, aber im Zusammenhang des Wirtschafts- und Sozialausschusses auch für funktionale Einheiten der Selbstverwaltung, insbesondere wenn und soweit sie im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen. Der Vertrag von Lissabon verfestigt und erweitert noch die Pfade der Einflussnahme für kommunale und funktionale Einrichtungen der Selbstverwaltung.

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Siehe Alemann / Münch (Hrsg.), Europafähigkeit der Kommunen (FN 16).

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VIII. Legitimation der Selbstverwaltung als Notwendigkeit Im Laufe der Entwicklung in den europäischen Organisationen und Einrichtungen trägt Selbstverwaltung überwiegend funktionellen Charakter. Solange der Europarat aufgrund der Spaltung Europas in Ost und West seine Aufgabe in der Kooperation von demokratischen Rechtsstaaten mit Vorbildfunktion sah, war Selbstverwaltung in ihrer freiheitlichen Funktion Teil dieser Politik. Konkrete Regelungen zu Gunsten der Selbstverwaltung kamen allerdings nicht zustande. Hintergrund waren die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der Staaten an Selbstverwaltung. Nach dem Umbruch von 1989 / 90 diente die Förderung der kommunalen Selbstverwaltung dazu, die Stabilität der neu entstandenen Rechtsordnungen in Osteuropa zu stärken. Die regionalen und kommunalen Einheiten konnten ihre konkreten Vorhaben zur Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung zwar nur selten durchsetzen. Aufgrund der erheblichen Unterschiede in der Staatsorganisation der europäischen Staaten leisteten die Regierungen Widerstand gegen verbindliche Festschreibungen. Die Bedeutung des Europarates als Forum für die Kooperation und den Informationsaustausch auf der kommunalen und regionalen Ebene ist aber nicht zu unterschätzen. Die jüngsten Bemühungen der kommunalen und regionalen Einheiten im Europarat zielen auf eine Fortentwicklung der finanziellen Grundlagen der Selbstverwaltung. Auf der institutionellen Basis des Kongresses der Gemeinden und Regionen in Europa (KGRE) bietet der Europarat eine Bühne für die politische Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung als freiheitssicherndes Element von Demokratie und Rechtsstaat. Demgegenüber spielte in der Europäischen Union die Selbstverwaltung zuvörderst in ihrer administrativen Funktion eine Rolle. Im Spannungsfeld zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung war die Bedeutung der Selbstverwaltung seit Gründung der Gemeinschaften 1952 und 1957 abhängig von Bestand und Wahrnehmung der supranational zu erfüllenden Aufgaben. Während zunächst nur die Institutionen funktionaler Wirtschaftsintegration eine Rolle spielten, erlangten mit dem Aufgabenzuwachs der EWG und ihrem Gewinn an politischem Gewicht seit Mitte der achtziger Jahre auch die Einrichtungen der Selbstverwaltung größere Bedeutung auf der europäischen Bühne. Die Einheitliche Europäische Akte von 1986 und die Errichtung des Binnenmarktes gingen einher mit der Errichtung des Ausschusses der Regionen, einer intensiveren Regionalpolitik und der Diskussion um ein Europa der Regionen. Diese Diskussion wurde durch den Wandel der Staatenwelt von 1989 / 90 und die daraus resultierenden Zweifel an der Zukunft des Nationalstaates befördert. Mit dem Wiedererstarken des Nationalstaates wurden die Regionen zurück in ihre Rolle als staatliche Untergliederungen befördert. Bereits im Vorfeld und erst recht nach Verwirklichung der großen Osterweiterung ist Selbstverwaltung Be-

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standteil der vielfältigen und von Staat zu Staat unterschiedlichen Organisation von Verwaltung. Politische Einflussnahme von Einrichtungen der Selbstverwaltung findet innerhalb der EU in erheblichem Maße im Wege der Interessenvertretung statt. Im Hinblick auf die kommunale und regionale Ebene kommt ein nicht normativer Aspekt hinzu. Die Europäische Union bietet nur begrenzt Raum für sinnstiftende Emotionen und die Begründung einer europäischen Identität. Die Symbole für eine emotionale Bindung an ein Gemeinwesen wie Flagge oder Hymne, die in dem EU-Verfassungsvertrag enthalten waren, wurden gestrichen, weil sie nach Auffassung einer Reihe von Mitgliedstaaten zu stark in Richtung einer europäischen Bundesstaatlichkeit deuteten. Der Vertrag von Lissabon verfolgt eher den bisherigen technokratischen Ansatz der europäischen Integration weiter. Die kommunale Selbstverwaltung als Hort von Heimatgefühl und Loyalitätsbindung bleibt Gegenstand der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und hat es in diesen Ausprägungen schwer, sich auf der Ebene der Europäischen Union durchzusetzen. Positionen der funktionalen Selbstverwaltung können demgegenüber in der Europäischen Union sehr viel eher zum Tragen kommen. Funktionale Selbstverwaltung entspricht dem europäischen Strukturprinzip der funktionalen Integration. Mit dem Vertrag von Lissabon ist ein Stand der europäischen Integration erreicht, der im nächsten Jahrzehnt wenig Raum für grundlegende verfassungsrechtliche Weiterentwicklungen erwarten lässt. Im Vordergrund wird die ausdifferenzierte Arbeit auf der Grundlage des Erreichten stehen. Ein zentraler Strang der Entwicklung wird die verstärkte Europäisierung der Verwaltung sein. Die Durchführung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts im europäischen Verwaltungsverbund und die Kooperation von innerstaatlichen und supranationalen Verwaltungseinrichtungen werden erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Europäischen Union nehmen. Darin liegen große Chancen für die Einrichtungen der Selbstverwaltung in ihrer Funktion als Stellen der Verwaltung im weitesten Sinne. Partizipation und Bürgernähe können sie oftmals besser gewährleisten als Stellen der staatsunmittelbaren Verwaltung. Eben diese Pfeiler tragen auch in der innerstaatlichen Organisation die Selbstverwaltungseinrichtungen. Wenn und soweit die Institutionen der Selbstverwaltung zur effektiven Erfüllung ihrer europäisierten Aufgaben in der Lage sind, dann werden sie Bestand haben und auch darüber hinaus in Staat und Gesellschaft ihre Bedeutung behalten. Die Selbstverwaltung bedarf der Legitimation, um in der europäischen Integration bestehen zu können.94 Eine allgemeine Begründung aus der 94 Allgemein zur Legitimation Hellmuth Schulze-Fielitz, Die Verwaltung im europäischen Verfassungsgefüge, in: Wilfried Erbguth / Johannes Masing (Hrsg.), Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, Stuttgart [u. a.] 2006, S. 91 (126 ff.) mit weiteren Nachweisen.

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Autonomie von Einheiten genügt nicht. Notwendig ist eine funktionale Begründung, die den Eigenheiten und der Leistungsfähigkeit von Selbstverwaltung Rechnung trägt.

Aussprache Gesprächsleitung: Neuhaus

Steiger: Vielen Dank, Herr Kugelmann. Das war ein sehr schönes Referat, das den Aspekt der unteren Ebenen sehr deutlich gemacht hat – vielleicht deutlicher, als das sonst so im Allgemeinen geschieht. Die regionalen und kommunalen Ebenen werden nicht so deutlich in der allgemeinen Diskussion hervorgehoben. Sehr herzlichen Dank dafür. Trotzdem: Ich habe zwei Dinge zu bemerken. Sie haben ein anderes dieser gefährlichen S-Wörtern ein paar mal verwendet, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Von diesem war in den letzten Tagen überhaupt – noch – nicht die Rede, meines Erachtens nicht ganz ohne Grund, wie mir an ihrem Vortrag deutlich geworden ist. Das führt mich zu der allgemeinen Überlegung: Wird in dem, was Sie hier von Selbstverwaltung und Autonomie auf den europäischen Ebenen dargelegt haben – und es ist sehr schön, dass Sie EU und Europarat nebeneinander gestellt und außerdem die bisher nicht angesprochene funktionale und die kommunale Selbstverwaltung behandelt haben – nicht deutlich, dass dieses Subsidiaritätsprinzip in der Tat für das, was wir in den letzten Tagen – gestern und vorgestern – erörtert haben, eigentlich nicht der richtige Begriff gewesen wäre? Denn diese Selbstverwaltung ist in der Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts – ich nehme das 18. Jahrhundert hinzu, weil wir ja auch vom Selfgovernment geredet haben – eigentlich etwas ganz anderes als Subsidiarität. Subsidiarität – das Prinzip, dass etwas auf unteren Ebenen besser erledigt werden kann als auf oberen – ist eher funktional ausgerichtet, und Sie haben ganz zum Schluss, in den letzten Sätzen, auch noch einmal von einer funktionalen Begründung geredet. Hingegen sind Selbstverwaltung, Selfgovernment, Selbstregierung, Selbsttätigkeit – all diese Begriffe, die wir gestern und vorgestern hatten – eigentlich Begriffe, die nicht von der Überlegung ausgehen, was auf unterer Ebene besser erledigt werden kann; sondern das ist das, was Sie mit „Legitimation“ angesprochen haben. Sie haben auch von Emotionalität geredet, wenn ich das richtig gehört habe. Das heißt: Wird mit dem Begriff der Subsidiarität nicht doch ein ganz erheblicher Wandel deutlich gegenüber dem, was Selbstverwaltung im 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert vor allen Dingen, aber auch noch im 20., zunächst einmal bedeutet hat? Ich habe den Eindruck, dass es einen ganz grundlegenden Begründungswandel für Selbstverwaltung – inhaltlich wie auch legitimatorisch – bedeutet, wenn man das mit

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Aussprache

dem Begriff der Subsidiarität verknüpft. Und damit frage ich mich natürlich – als begeisterter Europäer, der ich bin, das habe ich ja auch oft genug schriftlich dargelegt – trotzdem, ob diese Europäische Union – und insofern bedauere ich das Scheitern des Verfassungsvertrages durchaus – nicht eine ganz wesentliche Grundlage verliert, wenn sie sich nur so funktional ausrichtet und die Legitimation im funktionalen Bereich sucht und Selbstverwaltung nur noch mit Subsidiarität begründen will. Ganz abgesehen davon nochmal zum Europarat: Die Städtepartnerschaften, die meines Erachtens eine unglaubliche grundlegende Bedeutung, gehabt haben – ob sie sie immer noch haben, weiß ich nicht –, beruhen gerade auf einer ganz anderen Ebene als der der Subsidiarität oder der Funktionalität. Neuhaus: Herr Kugelmann, bitte. Kugelmann: In der Tendenz stimme ich Ihnen da vollkommen zu, weil die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedsstaaten natürlich immer ein Problem mit ihren Begriffen hat. Das Übersetzungsproblem will ich mal ganz weglassen. Aber wenn wir „Subsidiarität“ reinschreiben und sagen 1992, wir knüpfen an die katholische Soziallehre an, dann ist für Dänen der Begriff natürlich schon wieder verdächtig. Deshalb weist eine Tendenz in Europa immer zu einer gewissen Funktionalisierung, deshalb, weil das Aufladen mit Inhalten einfach nicht konsensfähig ist. Und deshalb, in der Tat: Die Europäische Union basiert weniger auf Emotionen und auf einem Begriff von Selbstverwaltung, der aufgeladen ist als eine historisch tradierte Einheit. Das bleibt innerstaatliche Sache und dringt über den innerstaatlichen Bereich eigentlich nur wenig hinaus auf die europäische Ebene. Und solange wir die Europäische Union nicht als Bundesstaat – um das Reizwort zu nennen, es ist jetzt ein B-Wort, Herr Steiger –, als Bundesstaat konzipieren, solange besteht eben auch nicht die Notwendigkeit, in der Unionsverfassung wesentlich auch die kommunale Selbstverwaltung in anderen als nur funktionalen Hinsichten zu festigen. Deshalb kann der Europarat das eher, denn er kann ja kein Durchgriffsrecht schaffen. Das heißt also, wir machen völkerrechtliche Verträge und davon gibt es auch nur einen, und da kann dann jeder Staat noch in relativer Freiheit seine innerstaatliche Ordnung gestalten. Dieser Legitimationsbegriff, den ich hier verwendet habe, basiert auf dieser doppelten Legitimation, die der Europäischen Union zugeschrieben wird: Über die Mitgliedsstaaten und über die Bürger. Wenn ich diese beiden Säulen habe, dann läuft die Legitimation über die Mitgliedsstaaten eben über die Mitgliedsstaaten in ihrer konkreten Gestalt; und wenn bestimmte Selbstverwaltungseinheiten zu dieser Gestalt gehören, sind sie Teil dieses Legitimationsstranges, wobei eine gewisse Verknüpfung zum zweiten besteht, weil Bürgernähe natürlich auch von der Selbstverwaltung verlangt wird. Deshalb verliert die EU ja keine Grundlage – sie hat sie eigentlich noch nie gehabt, und sie hat sie noch nicht eingeführt, und hätte

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sie auch durch den Verfassungsvertrag wahrscheinlich so deutlich nicht eingeführt, weil in der konkreten Ausgestaltung dieses föderativen Systems die Mitgliedsstaaten auf ihrer Regelung der Organisation und damit eben auch auf der Ausgestaltung von Selbstverwaltung in historisch tradierter Form im Staat beharren. Neuhaus: Herr Mußgnug. Mußgnug: Die Legitimationsbedürftigkeit einer jeglichen Selbstverwaltung und eines jeglichen Autonomieanspruchs, die Herr Kugelmann am Schluss seines Referats hervorgehoben hat, halte ich für besonders wichtig. Die Worte „Selbstverwaltung“ und „Autonomie“ haben in unsren Ohren einen verführerischen Wohlklang. Wir assoziieren mit ihnen Bürgernähe, Eigenverantwortlichkeit, Freiheit vor dem Hineinregieren „von oben“ und ähnliches Erstrebenswerte mehr. Darüber vergessen wir nur allzu leicht, dass das Prinzip Selbstverwaltung in einem Spannungsverhältnis zu dem Prinzip der Volkssouveränität steht. Auch wenn sich dieses Spannungsverhältnis bei den wohllegitimierten traditionellen Selbstverwaltungen, allen voran den kommunalen, wenn überhaupt, so nur intimen Kennern der Materie bemerkbar macht, so ist es doch alles andere als eine quantité négligeable. Denn die Volkssouveränität meint die Souveränität des Volkes in seiner ungeteilten Gesamtheit, und justament das verträgt sich nicht mit der Idee autonomer Teildemokratien in den Gemeinden, in den berufständischen Körperschaften, in den Universitäten und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Autonome Teilsouveränitäten kann das Verfassungsrecht der Demokratie daher nur dulden, wenn sie Ausnahmen bleiben, die durch gewichtige Gründe gerechtfertigt werden. Die vordemokratische ständisch strukturierte Rechts- und Sozialordnung der frühen Neuzeit und erst recht die vorstaatliche des Mittelalters haben das noch anders gesehen. In die Autonomie-Vorstellungen ist die „Außerparlamentarische Opposition“ der 68er mit ihrer Parole von der „Basisdemokratie“ zurückgefallen. Die 68er wollten die Volkssouveränität, die ihnen keine Chance bot, in die einer Demokratie kleiner Basen zerlegen, in denen sie unter sich blieben und die Mehrheiten bilden konnten, ein Taschenspielertrick, den jeder, der über die Wende vom Ständestaat des 18. zum Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts Bescheid weiß, eigentlich auf Anhieb durschauen sollte. Um derartigen Manövern vorzubeugen, müssen wir auf einer ohne Einschränkung überzeugenden Legitimation einer körperschaftlichen Selbstverwaltung bestehen. Daß die kommunale Selbstverwaltung dieser Forderungen genügt, liegt auf der Hand. Ihre Legitimation hat Art. 28 Abs. 2 GG anerkannt; sie fließt aus der lokalpolitischen Eigenständigkeit der örtlichen Gemeinschaften. Die Autonomie der Hochschulen findet ihre Grundlage in

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der Wissenschaftsfreiheit, die der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Rundfunkfreiheit. Bei den berufsständischen Körperschaften müssen wir indessen genauer hinsehen, damit sie nicht zu Zünften mutieren, wie sie der Siegeszug der Gewerbe- und Berufsfreiheit gründlich delegitimiert hat. Wo die Legitimation der Verfaßten Studentenschaft zu finden sein soll, bleibt vollends ein Rätsel, meiner Ansicht nach ein unlösbares. Die Aufgaben, die ihnen das Hochschulrecht zuweist, sind typische Verbandsaufgaben, die der Eigeninitiative der Betroffenen vorbehalten zu bleiben hat. Gründe, die es rechtfertigen könnten, der studentischen Eigeninitiative durch die Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträge auch der Überzahl der Desinteressierten auf die Sprünge zu helfen, vermag ich nicht zu erkennen. Kugelmann: Die Legitimation kann man zunächst horizontal angehen – also vergleichend. Man könnte also durchaus analysieren – zum Beispiel auch in den Mitgliedsstaaten –, wie dort Selbstverwaltungseinheiten gerechtfertigt werden. Man kann sie als Horizontal-, als Längsschnitt angehen, also geschichtlich, und ich stelle die These auf, man wird in vielen Fällen zu dem Ergebnis kommen, dass eine funktionale Begründung mit der Aufgabenerfüllung in vielen Fällen der Selbstverwaltung das Legitimationsmuster darstellen wird – vielleicht die kommunale ausgenommen. Und dann stellt sich die zweite Frage, die Sie auch angesprochen haben, nämlich die der Begründung – also worauf gründen wir Legitimation? Auf rechtliche Kriterien oder auf außerrechtliche? Die Selbstverwaltung in gewissen Zusammenhängen wird dann auf der Verfassung beruhen, und die ist in jedem Staat unterschiedlich. Man kann auch sagen, darüber hinaus brauchen wir Effektivitätsgesichtspunkte – Gesichtspunkte der Bürgernähe, Gesichtspunkte, die darüber hinausreichen – und das wird dann sicherlich ein sehr differenziertes Bild ergeben für die Legitimation einzelner Selbstverwaltungseinheiten. Neuhaus: Herr Gusy. Gusy: Ich würde gerne versuchen, aus dem Reichtum der Referate, die wir bislang gehört haben, einzelne Fragen an Dein [Kugelmanns] Thema zu stellen. Wir sehen ja, Europa ist nicht von den Gemeinden gegründet worden, sondern – im Gegenteil – in gewisser Weise über ihre Köpfe hinweg. Wenn dem so ist, dann – so stelle ich mir vor – ist das traditionelle Verständnis einer Legitimation der Selbstverwaltung als Urquell aller Gemeinschaft und öffentlichen Gewalt wahrscheinlich in Europa überhaupt nicht leistbar. Im Gegenteil, es geht letztlich um die Frage: Wie kann eine nach oben abgewanderte Staatsgewalt nach unten abgestützt und legitimiert werden? Damit nähern wir uns aber Selbstverwaltungskonzepten, die in gewisser Weise an das anknüpfen, was Herr Simon in seinem Referat dargestellt hat, indem er sagte, das Problem war nicht der Aufbau von unten nach oben, sondern

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die Delegation von oben nach unten. Ist das in Europa so? Ist das das Konzept? Solange das nicht geleistet ist, solange wir in Europa sagen müssen, solch eine Delegation ist – jedenfalls nicht mit Anspruch auf Breitenwirkung in allen Mitgliedsstaaten – gelungen, wird man dann möglicherweise zu einem Befund kommen, den Herr Battenberg in seinem Referat – wo es um etwas ganz anderes ging – angesprochen hat: Selbstverwaltung ist das, was für die Zentrale uninteressant ist. Alles das kann auf der Ebene der Selbstverwaltung gemacht werden, weil es ja eh kein anderer macht, weil es kein anderer machen will. Damit natürlich wird die Selbstverwaltung dann zu einer Restgröße, das ist klar, die in einem sich vergrößernden Europa notwendigerweise immer größer wird, weil auch der Rest notwendigerweise immer größer wird. Sieht man jetzt einen Moment auf die funktionalen Aspekte, die Du [Kugelmann] abschließend angesprochen hast, also Selbstverwaltung als Partizipations-, als Beteiligungsmechanismus der Bürger am Staat, so denke ich mir, dass hier in Europa möglicherweise die Selbstverwaltung dann nur ein Weg unter mehreren ist, wie so etwas geleistet werden kann. Selbstverwaltung ist natürlich nicht die einzige Möglichkeit, wie Bürger an der Staatsgewalt beteiligt werden können, und hier, denke ich mir, kommt die Selbstverwaltung dann möglicherweise mit einer anderen Idee, einem anderen bösen Wort, das gottlob nicht mit ,S‘ beginnt, in Kollision, nämlich der Idee des Föderalismus. Denn der Föderalismus soll ja im Prinzip ganz Ähnliches leisten, nämlich die Heranführung von Abstimmenden und Betroffenen, die Verbesserung der Beteiligung der Bürger an de öffentlichen Gewalt. Anders ausgedrückt: Das Verhältnis von Föderalismus und Selbstverwaltung müsste dann nochmal neu gedacht werden; das Abschieben des Föderalismus auf die staatliche Ebene und der Selbstverwaltung auf die unterstaatliche Ebene reicht nicht mehr aus, um hier eine ausreichende Verhältnisbestimmung vorzunehmen. Frage: Kann man diese Fragen an Dein Referat überhaupt stellen, oder meinst Du, dass es eigentlich um etwas ganz anderes geht? Kugelmann: An mein Referat kann man jede Frage stellen, und ich werde auch versuchen, fast jede zu beantworten. Aber im Ernst: Die Konzeption eines Abstützens abgewandelter Staatsgewalt durch Selbstverwaltung liegt der europäischen Integration sicherlich nicht zugrunde, denn die Hoheitsrechte, die die Staaten abgegeben haben, müssen ja innerstaatlich konsentiert abgegeben werden – in Deutschland mit Beteiligung des Bundesrats –, und wenn sie dann auf europäischer Ebene oftmals gemeinschaftlich in den Mitgliedsstaaten ausgeübt werden, dann sind beim Ausüben auch wieder diejenigen beteiligt, die schon beim Abgeben beteiligt waren, nämlich die Länder und gegebenenfalls die Kommunen. Das ist aber eher der dritte Aspekt, eher ein Aspekt der Partizipation als ein Aspekt des theoretischen Abstützens von Staatsgewalt, denn die Legitimationsgrundlagen – Mit-

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gliedsstaaten und Bürger – blenden die mittlere Ebene sozusagen aus. Deshalb würde ich auch nicht so pessimistisch sein, zu sagen, die Selbstverwaltung verbleibt als Restgröße. Was natürlich stimmt: In der Bundesrepublik Deutschland gilt die kommunale Selbstverwaltung im europäischen Vergleich als weit ausgebaut und sehr stark – es ist ja auch der größte Mitgliedsstaat. Das Problem haben natürlich andere Staaten so nicht. Wenn wir mit Luxemburgern oder Litauern über Selbstverwaltung reden, kommen andere Aspekte zum Zuge. Deshalb ist der Ansatz meines Erachtens in der Tat die Partizipation, die Beteiligung der Betroffenen, wenn wir jetzt mal von der funktionalen Selbstverwaltung ausgehen durchaus auch in Erweiterung innerstaatlicher Konzepte, deswegen habe ich auch von Chancen gesprochen, die die Selbstverwaltung bietet. Man muss eben mitmachen im europäischen Konzert und muss versuchen, sich dort Mitspracherechte zu sichern, mit der Gefahr, dass die Sonderstellungen untergehen. Das ist das Problem der kommunalen Selbstverwaltung, die unter Druck steht, weil ihre auch aus eigenem Selbstverständnis heraus spezifische Stellung in diesem europäischen Verwaltungsverbund, in dieser europäischen Föderation eben untergeht. Sie kann sich beteiligen; die kommunalen Spitzenverbände betreiben Lobbyarbeit wie eben der Spitzenverband der chemischen Industrie oder die Evangelische Kirche in Deutschland auch, und haben insofern keine herausgehobene Position. Die Interessenvertreter kennen eben die richtigen Leute oder nicht. Und diese Institutionalisierung über den Ausschuss der Regionen ist dann nochmal eine Abstützung, nur da sitzen eben nur drei kommunale Vertreter drin – der Rest sind Ländervertreter. Also, es bleibt schon dabei, dass die Kommunen sich gut mit ihrem Land stellen sollten, weil die Wege, die ich aufgezeigt habe, über diesen inneren Staatsaufbau – das heißt in Deutschland eben über die Länder und deren Beteiligung im Bundesrat an den europäischen Angelegenheiten – laufen. Die Diskussion ist dann aber eine deutsche, weil sie die deutschen Gegebenheiten betrifft. Deshalb ist das Problem des Föderalismus zunächst ein Problem der deutschen Bundesstaatlichkeit. Im Rahmen eines europäischen Föderalismus kommen die Selbstverwaltungseinheiten nur begrenzt vor. Es ist dann Sache der Mitgliedsstaaten, ihre Interessen, ihre Identität, auch ihre kommunale und regionale Identität wahrzunehmen. Neuhaus: Frau Cancik. Cancik: Herr Kugelmann, Sie haben ja nochmal sehr deutlich gemacht, dass man die kommunale Selbstverwaltung im deutschen Sinne in einer europäischen Praxis eigentlich nur – oder vor allem – findet, indem man die mitgliedsstaatliche Praxis sozusagen des Europarecht-Machens und -Umsetzens betrachtet. An dieser Stelle sehen wir vor allem – wenn überhaupt – die Einbindung der Bundesländer, die hart genug gekämpft haben und das noch tun, um die Einbindung der Landesparlamente bei der Frage: „Wie

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können wir mitwirken an europäischen Projekten unseres Landes, unseres Mitgliedsstaates Deutschland?“ Deswegen stellt sich mir die Frage – und das ist angeklungen –, ob es nicht fruchtbarer ist, tatsächlich nach einzelnen Inhalten von Selbstverwaltung zu suchen, und Sie tun das glaube ich mit dem Ausdruck „Partizipation“, „Betroffenenbeteiligung“, und da gibt es, denke ich, in der Tat eine sehr starke europäische Inspiration, die aber nicht über die organisatorische Frage kommunaler Selbstverwaltung vertreten wird beziehungsweise damit verbunden ist, sondern eben tatsächlich schlicht über die Institution von Beteiligungsrechten. Insofern gibt es, glaube ich, auch einen europäischen Diskurs, der damals in der „Good Governance“-Debatte eine große Rolle gespielt hat und bis in die Wortlaute hinein so war wie in der preußischen Reformdebatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wir müssen Nähe zu unseren Bürgern schaffen, wir brauchen Akzeptanz – und da kommen dann natürlich auch Legitimationsvorstellungen mit herein. Deswegen meine Frage: Müsste man nicht viel stärker schauen nach den einzelnen Partizipationsverbürgungen, die wir jetzt über die Europäische Union bekommen? Mein Referenzgebiet ist das Umweltrecht, in dem das ja ganz stark gemacht wird, in dem Betroffenenbeteiligung für ganz viele Gebiete von umweltrechtlichen Entscheidungen, umweltrechtlichen Planungen vorgesehen wird; Deutschland tut sich nicht immer leicht damit, das umzusetzen – am Rande gesprochen –, und ob man über diese Schiene nicht ein besseres Bild bekommen könnte von Inhalten der Selbstverwaltung, die in einer europäischen Perspektive durchaus vorangetrieben werden, während diese Suche nach deutscher kommunaler Selbstverwaltung nicht weiterführt – wie Sie sagen, ist es eben etwas Deutsches, und es ist eigentlich nichts Europäisches. Kugelmann: Sie sprechen völlig zu Recht diese ausdifferenzierte Gestalt von Einwirkung und Vernetzung von Selbstverwaltung zwischen Mitgliedsstaaten und Union an. Die Partizipationsmöglichkeiten sind in der Tat vielfältig, allerdings – gerade weil Sie das Umweltrecht ansprechen – haben sich da, sagen wir, die Zielrichtungen der Partizipation auch ein bisschen geändert. Weil das, was die Europäische Gemeinschaft – auch der EuGH – teilweise gemacht hat, was sich in Regelungen wie der UVP-Richtlinie oder noch deutlicher im Umweltinformationsgesetz beziehungsweise der Umweltinformationsrichtlinie ausdrückt: Diese Richtlinie, wonach jeder Bürger von jeder Behörde, die mit Umwelt zu tun hat, alle Informationen ohne Begründungsnotwendigkeit erhalten kann, das war der Versuch, die mitgliedsstaatliche Ebene zu umgehen. Das war der Versuch des Europarechts zu sagen: In der Durchsetzung sind wir auf die Mitgliedsstaaten angewiesen; die führen zum Beispiel Umweltrecht aus, wir haben aber das kleine Problem, dass wir nicht sehr stark und nicht sehr intensiv und nicht sehr regelmäßig auf die Mitgliedsstaaten einwirken können – wir können prüfen, ob die Durchführung richtig war, und können sie verklagen, aber wir haben

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relativ wenig Einwirkungsmöglichkeiten auf den laufenden Vollzug. Also, was machen wir? Wir aktivieren den Bürger – eine Quasi-Mobilisierung des Bürgers – gegen die Verwaltung, und versuchen Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen, um auf europarechtlicher Basis die staatliche Ebene unter Druck zu bringen. Was Sie jetzt ansprechen, ist eine etwas andere PartizipationsstrangOption, nämlich die Frage der Beteiligungsmöglichkeiten in Planungsverfahren, in denen ja auch Kommunen beteiligt sind, oder in Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung: Wie spielen da die Kommunen eine Rolle? Das ist eine etwas andere Richtung der Partizipation, die – da stimme ich Ihnen allerdings vollkommen zu – auszubauen wäre und auch zu stärken wäre, und die dieses differenzierte Bild, wie sich Selbstverwaltung widerspiegelt, aber vielleicht auch kommunale deutsche Selbstverwaltung auflöst in diesem Netzwerk, in dieser Perspektive dann sicherlich befruchten und weitertragen könnte. Angesichts der Verankerung im Vertrag von Lissabon kann man durchaus auch diese Perspektive stärken. Neuhaus: Herr Härter. Härter: Ich wollte auch noch einmal nach der historischen Dimension einerseits und nach der Rolle der Kommunen andererseits fragen – Kommunen beziehungsweise kommunale Selbstverwaltung und Autonomie in ihrer historischen Dimension und in ihrer Rolle in der EU. Es knüpft auch ein bisschen an das an, was Herr Mußgnug als Problem aufgeworfen hat – den Widerspruch zwischen der repräsentativen Demokratie einerseits und Autonomie und vor allem auch kommunaler Selbstverwaltung auf der anderen Seite. Gleichwohl – in der historischen Dimension ist das natürlich nicht so. Der Gedanke der Repräsentation und der Partizipation und auch die Ausdifferenzierung von Verwaltung in einem technischen Sinne sind zunächst einmal eine Angelegenheit der Kommunen, und die tragen diesen Prozess über Jahrhunderte – ich erinnere an das, was Herr Dilcher gesagt hat. Das führt mich zu dem Ausgangspunkt der Diskussion in der EU. In der Charta der Gemeindefreiheiten wird genau dieses postuliert, die „historische Mission“ und historische Dimension beziehungsweise Legitimation: „die Jahrtausende geheiligten Rechte“ und „Menschenfreiheit“. Damit ist die Funktion und Rolle der Kommunen im Hinblick auf Autonomie und Selbstverwaltung gemeint. Das, was Sie uns dann entwickelt haben, scheint mir dagegen eher eine Verlustgeschichte zu sein. Am Ende spielen im Ausschuss der Regionen die Kommunen praktisch überhaupt keine Rolle mehr. Die Frage wäre also: Würden Sie unterstreichen, dass es sich um eine Verlustgeschichte handelt, weil die Kommunen, kommunale Selbstverwaltung, kommunale Autonomie eigentlich gar keine Rolle mehr in der EU spielen? In anderen Bündnissen spielen sie eher eine Rolle – ich glaube zum Beispiel im baltischen Ostseebündnis. Und verschwindet das historische Argument,

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das ja eigentlich ein sehr starkes Argument wäre, um Autonomie und Selbstverwaltung gerade für Kommunen zu legitimieren, verschwindet dieses Argument in der EU völlig aus der Debatte? Kugelmann: Die Verfassungsdebatte in der Europäischen Union ist auch mit derartigen historischen Aspekten befasst, aber letztlich geht es um harte Interessen. Es war gewiss eine Verlustgeschichte, wenn Sie es aus der historischen Tradition sehen, das stimmt, denn diese Bewegung gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, die anknüpft an Menschenfreiheit, liberales Gedankengut, die findet man ja schon in den konkreten Organisationsformen 1952 – Gemeinschaft für Kohle und Stahl – nicht mehr. Da geht es schon – Hintergrund Kalter Krieg – um Wirtschaft, um Landwirtschaft, um das, worauf man sich einigen kann. Wenn das historische Argument auch in den Konzeptionen eine Rolle spielt, muss man ganz klar sagen: In der konkreten Politik dann nicht mehr. Und das haben natürlich die Vertreter der Kommunen immer beklagt und versucht, sich zu überlegen: Wie kann ich da was machen, wie kann ich da eingreifen? Es geht nur innerhalb der Struktur, und man muss auch sagen: Die Mitgliedsstaaten haben keine anderen Strukturen zugelassen. Wenn man gesagt hätte: Wir machen eine große Regierungskonferenz, und wir machen eine Verfassung, in der auch aus dieser Sicht der Selbstverwaltung her gedacht wird, hätte man dies in den Vertrag reinschreiben können, wenn sich alle Staaten einig gewesen wären mit ihren unterschiedlichen Traditionen der Selbstverwaltung und gesagt hätten: Ja, das ist das Modell für uns alle. Schon wir Sechs haben das nicht so recht machen wollen, in den 1950er Jahren, und wir alle Siebenundzwanzig wahrscheinlich erst recht nicht. Deshalb wird dieser historische Strang an der Ebene „Mitgliedsstaat“ enden, dort weiterbetrieben werden können, aber nur im Rahmen dessen, was die Europäische Union vorgibt. Neuhaus: Herr Mohnhaupt. Mohnhaupt: Ich wollte nochmal ganz kurz auf das zu sprechen kommen, was Herr Mußgnug angemahnt hat – die historische Dimension des gesamten Problems. Wir haben es hier mit einer Mehrebenen-Struktur zu tun, und die hat eine grundsätzliche Spannung in sich, die man auch historisch sehen kann. Das heißt auf der einen Seite die Einheit – oder Einheitlichkeit – auf der oberen Ebene, und auf der unteren Ebene – oder den unteren Ebenen – die Vielgestaltigkeit. Das sozusagen in ein harmonisches Gesamtfunktionssystem einzubringen, ist ein Problem und eine Schwierigkeit zugleich. Wenn man sich an die Anfänge nach dem Krieg erinnert, die Sie hier schön dargelegt haben, dass sich die Bürgermeister getroffen haben, um auf der unteren Ebene zu Kooperationen zu kommen, so war das doch nach meinem Eindruck einfach durch die Not des Krieges bedingt gewesen. Insofern hat der Krieg etwas Gutes gehabt – in Anführungsstrichen natürlich –, dass er zu solchen Vereinbarungen und Zusammenschlüssen geführt hat. Die Dis-

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kussion heute scheint mir von einem ganz anderen Punkt auszugehen, nämlich von einer kulturellen Bewusstseinsebene, die nicht mehr so sehr danach verlangt, zu Zusammenschlüssen zu kommen, sondern man möchte partikulare Kulturen bewahren. Das Wort Kultur ist – glaube ich – bisher so noch nicht gefallen, meint natürlich das, was auch durch Historie bedingt uns hier alle bewegt; und dazu gehört ja auch unser Kreis. Das kann man natürlich sehr schön sehen auch an dem Sprachenproblem, und dass sich plötzlich Staaten versuchen zu trennen, weil sie ihre kulturelle Einheit nicht mehr so gewährleistet sehen beziehungsweise ihre kulturellen Vielgestaltigkeiten. Was sich in Belgien jetzt tut, ist dafür – glaube ich – ein ganz gutes Beispiel. Die Tschechoslowakei hat sich vor 15 Jahren plötzlich getrennt in die Tschechen und die Slowaken – das waren alles kulturelle, zum Teil natürlich aber auch ökonomische Beweggründe. Wenn man jetzt noch einen Blick weiter zurück wirft, kann man vielleicht sagen, dass wir diese Problematik des Spannungsverhältnisses zwischen einheitlicher oberer und vielgestaltiger unterer Ebene auch in Preußen in Gestalt des ALR erleben konnten. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten war ein subsidiäres Recht und hat nur auf der subsidiären Ebene zu Einheitlichkeit geführt, hat aber sämtliche partikularen Rechte, die Provinzialrechte, bestehen lassen. Diese sollten auch noch kodifiziert werden; dazu ist es aber nicht gekommen. Da kann man durchaus auch spekulieren: weshalb nicht? Also, wir können sozusagen in der Geschichte sehr viele Beispiele bieten, wo sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Einheitlichkeit auf oberer Ebene und Partikularität auf unterer Ebene wiederum findet. Das hat man in der Geschichte das ius commune und das ius particulare genannt. Und insofern bezeichnet jetzt auch in Europa die Debatte um Rechtseinheit im Grunde genommen eine Gegenposition, inwieweit nämlich Rechtseinheit dann derartige partikulare, lokale, regionale kulturbedingte Sondereinheiten versucht zu nivellieren. Das könnte im Sinne der diskutierten Spannungsverhältnisse ein Problem sein – ist es wohl auch. Danke. Kugelmann: Vielleicht zwei Anmerkungen. Zum einen: Die Spannung zwischen Einheitlichkeit und Vielfalt, die Sie angesprochen haben, die auch Rechtskollisionen und Widersprüche bedingt, wenn wir verschiedene Rechtsordnungen haben, löst sich innerhalb eines Staates anders als in einer supranationalen Organisation, weil im Rahmen der EU die Einheit allein durch das Recht hergestellt wird. Das heißt die Rechtseinheit ist Lebenselixier. Wenn wir die Rechtsgemeinschaft aufgeben, geben wir alles auf, denn wir haben ja nur das Recht. Im Staat ist das anders. Das sind spezielle Funktionsbedingungen, deshalb immer auch die Bestrebungen des Gerichtshofes oder anderer Organe,

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die das europäische Interesse vorantragen und sagen: Ja, Einheitlichkeit, Rechtseinheit, Einheit der Rechtsgemeinschaft – deshalb der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit allen möglichen Rechtsfolgen. Und die Vielfalt der unteren Ebenen – das allerdings, glaube ich, ist inzwischen eine politische Erkenntnis –, die soll auch erhalten bleiben. Man sagt ja scherzhaft: Es will keiner die Europa-Wurst, sondern wir wollen Thüringer Bratwurst, Nürnberger Bratwurst, wir wollen die Unterschiede in den Regionen. Nur, man muss ja sehen: Das widerspricht der Einheitlichkeit des Rechts – auch bis hin zum konkreten Wirtschaftsrecht. Die Vielfalt wird teilweise auch in den kulturell-gesellschaftlichen Bereich verwiesen, der dann vom nationalen Recht geschützt oder vom europäischen Recht abgesichert ist, aber diesem Drang nach Rechtseinheit auf der oberen Ebene immer auch ein wenig ausgeliert ist. Diese Funktionsbedingungen sind ganz spezifisch, aber in Grundzügen mit denen in Preußen oder im Reich doch vergleichbar. Und noch ein weiterer Punkt, die Autonomie – Sie haben Belgien angesprochen: Auch deshalb kein sehr effektiver Begriff auf europäischer Ebene, weil er zu gefährlich ist. Weil er nämlich immer im Hintergrund die Gefahr der Sezession, der Abspaltung – also eine gewisse Sprengkraft für den Mitgliedsstaat birgt. Wenn Sie sehen, dass im Verhältnis der EU zum Kosovo die Spanier gesagt haben: Finden wir ja gar nicht so gut, dass wir den so schnell anerkennen. Warum? Weil sie das Baskenland haben. Weil das Vereinigte Königreich sagt: Autonomie ist eine schöne Sache, aber Nordirland gehört zu uns. Und dass die Belgier sagen, unter Autonomie verstehen wir Flamen etwas ganz anderes als wir Wallonen, zeigt, dass dieser Begriff der politischen Autonomie, die auch eine Rolle spielt, gewisse Schwierigkeiten birgt, weshalb da wahrscheinlich in Europa allenfalls ein Formelkompromiss auf unterer Ebene zustande kommen kann, wenn man sich darauf einigen will: Was verstehen wir unter Autonomie? Neuhaus: Danke schön. Ich habe jetzt noch Herrn Steiger und Herrn Dilcher auf der Rednerliste. Herr Steiger. Steiger: Herzlichen Dank. Ich kann in einem Punkt anschließen an das, was Herr Mohnhaupt gesagt hat. Ich glaube, diese Differenzierung innerhalb der einzelnen Staaten, der zentralen Ebene – der Einheitsebene, wie Sie es genannt haben – und den differenzierenden Ebenen nach unten, die in all unseren Mitgliedsstaaten ja sehr verschieden ist, ist ein ganz entscheidender Punkt. Wobei man hinzufügen kann: Es ist ja schon eigentümlich, dass auf der einen Seite die Tschechoslowakei zerfällt, Jugoslawien zerfällt, Belgien – vielleicht ja nicht ganz – zerfällt, aber alle in die EU wollen oder schon drin sind. Dieser Regionalisierungs- bis hin zum Zerfallsprozess ist offenbar eng verknüpft mit der europäischen Einigung. Das ist das eine, aber warum kommen die Selbstverwaltungseinheiten auf der europäischen Ebene dann nicht wirklich zum Zuge? Das ist schlicht

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und ergreifend das Völkerrecht. Die Selbstverwaltungseinheiten – wie immer sie auch gestaltet sein mögen – haben keinen Zugang zur völkerrechtlichen Ebene, weil sie völkerrechtlich keine Rechtspersonen sind und auf europäischer Ebene nicht verhandeln können. Das gilt selbst für die partiell völkerrechtsfähigen Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Das würde wohl auch für die Schweiz gelten, und ich denke, das ist einer der Gründe, warum die Schweizer nicht in die EU wollen – weil sie diese Positionen verlieren, die die Kantone haben. Zum zweiten ist Selbstverwaltung zunächst einmal Selbstverwaltung und nicht Partizipation. Dass sie auf der Ebene Europas jetzt bloß noch in den Zusammenhang mit Partizipation gebracht wird, ist eine sekundäre Erscheinung, eventuell das, was wir gestern einmal Kompensation genannt haben. Selbstverwaltung hat doch zunächst einmal mit dem „Selbst“ zu tun – das zu verwalten, was einen angeht, jetzt nicht im Sinne der Subsidiarität, sondern was einen in der Sache angeht. Und ich denke, Frau Cancik hat völlig recht gehabt: Da muss man eben mal auf die Inhalte gucken, und da spielt Kultur – wovon Sie, glaube ich, gesprochen haben, Herr Mohnhaupt – eine ganz zentrale Rolle. Kultur vollzieht sich Gott sei Dank mehr oder weniger auch noch auf der Ebene der Kommunen, und das sehr unterschiedlich. Dass eine Gemeinde, Kreisstadt wie Gießen mit 74.000 Einwohnern ein Drei-Sparten-Theater halten will und kann – Marburg hat es nicht – ist ja schon überraschend, und da wird hoffentlich die EU uns auch nicht hineinfunken. Da liegt nun der dritte Punkt, der mich eigentlich interessiert: Sie haben gesagt, Recht ist das konstituierende Element für Europa und das zusammenhaltende für die EU. Es ist natürlich auch ganz zentral die Ökonomie – der Gemeinsame Markt, der über das Recht hergestellt wird. Das Recht ist leider bei uns zum großen Teil eine Funktion der Wirtschaftseinheit, des Gemeinsamen Marktes geworden, die Einheitliche Akte hat das ja ganz deutlich gemacht. Und das reicht nicht hin! Die Verankerung muß tiefer gegründet sein. Deswegen ist das Legitimationsproblem, das eben doch auch von unten und damit auch von der Garantie der Selbstverwaltung kommen muss – jetzt nicht in dem Sinne, wie Sie es gemeint haben, Herr Mußgnug, darüber würde ich noch einmal mit Ihnen diskutieren wollen, aber das lasse ich hier erst einmal mal raus. Was ich als begeisterter Europäer mit großer Sorge sehe ist, dass das von Brüssel aus gefährdet wird, das heißt dass Einheitlichkeit, die jetzt noch von einer Stufe höher kommt, noch stärker nach unten auf die Verschiedenheiten wirkt. Ob es Kultur ist, ob es Herkommen ist, ob es Bauplanung, Raumplanung, Bildung oder soziale Angelegenheiten sind. Und deswegen habe ich etwas dagegen, wenn man sagt, Europa konstituiert sich über sein Recht von oben – das genügt nicht. Denn es konstituiert sich von seinen Inhalten von unten. Neuhaus: Herr Dilcher.

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Dilcher: Ich wollte eigentlich – mehr schon für die Schlussdiskussion – festhalten, wie wichtig es mir erscheint – wie es auch Herr Steiger in seinem ersten Votum angedeutet hat – dass Herr Kugelmann hier analystische Kategorien zur Klärung des Gesamtproblems angesprochen hat, vor allen Dingen die Frage der Legitimation, die Frage des Emotionalen und auf der anderen Seite des Funktionalen. Ich glaube, das sollten wir weiterverfolgen. Ich wollte noch einmal auf die Schweiz hinweisen – die wir hier ja nicht einbeziehen konnten – ,wo, glaube ich, die historischen Elemente, wie sie vor allem Herr Härter angesprochen hat, mit der Konzeption der Staatsbürgerschaft, die im Sinne von Herrn Mußgnug ja eigentlich das Konzept sprengt, vereint ist in einer Form des Ausgleichs, der offenbar in vielen Nationalstaaten nicht möglich ist, weil sie erst auf dem Gedanken der Volkssouveränität und damit des Staatsbürgers als Individuum gegründet sind. Also, die Schweiz – in der ja auch interessanterweise die Bürgerschaft über die Kommune vermittelt wird – scheint mir ein Beispiel dafür zu sein, dass die Tradition nicht untergehen muss – das lohnt sich vielleicht doch, festzuhalten. Neuhaus: Herr Kugelmann zum Abschluss. Kugelmann: Europa konstituiert sich insoweit nach dem Recht, weil sich die Europäische Union darauf gründet, sie gründet auf vertraglicher Basis. Die Gemeinden haben dann besonders viel Berührungspunkte mit dem Europarecht, wenn sie wirtschaftlich tätig sind. In all den Bereichen, wo sie auftreten wie ein Wirtschaftssubjekt, unterliegen sie dem Gemeinschaftsrecht und da – mit Vergaberecht usw. – kommen sie natürlich oft in Situationen, wo sie eigentlich gar nicht rein wollten. Ob sie ein Drei-Sparten-, ein Zwei-Sparten- oder gar kein Theater betreiben, ist bestenfalls noch insofern ein Problem, ob sie dafür Fördergelder kriegen oder nicht. Also dankenswerterweise gibt es da eine Abschichtung, die soll auch so bleiben. Nur, Sie haben völlig recht: Wenn wir von Legitimation reden, dann ist – ich habe es Emotion genannt – dieser Aspekt durchaus mitzubedenken. Wie führen wir den am günstigsten ein? Ich glaube, Herr Dilcher hat einen Punkt angesprochen, der insoweit tragend ist, nämlich die bürgerschaftliche Partizipation – über den Bürger. Die zusätzliche Legitimation, also die Legitimation über den staatlichen, vertraglichen, rechtlichen Bereich hinaus erfolgt durch die unmittelbare Einbindung der Unionsbürger – und damit zunächst einmal nicht über die Selbstverwaltungseinheiten. Im Reformvertrag ist zum Beispiel ein Bürgerbegehren drin, das nur konsultativ ist, aber immerhin wird versucht, Mechanismen einzubauen, um die Unionsbürger verstärkt von dem Projekt zu überzeugen, auch verstärkt an das Projekt zu binden – so schwierig das auch ist, wenn man ihm alle Emotion austreibt. Nichtsdestotrotz: Die Stärkung der Bürgerseite, die könnte dann über Bür-

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gernähe indirekt auch auf die Selbstverwaltungseinheiten zurückwirken. Ich denke, das ist der Punkt, wo man mehr Legitimation durch mehr Nähe zu Kultur, zu Gesellschaft anbringen kann – aber wahrscheinlich nicht in der Selbstverwaltung.

Schlussdiskussion Gesprächsleitung: Neuhaus

Neuhaus: Vielen Dank, Herr Kugelmann. Das ist auch ein problematisches Unterfangen: Vieles ist schon gesagt worden in den Diskussionen zuvor, was dann hier in unsere Schlussdiskussion auch noch einmal hineinpassen würde. Ich will ein paar Vorbemerkungen machen, ohne die Schlussdiskussion strukturieren zu wollen, aber wenn ich die Vorträge und Diskussionen unserer Tagung Revue passieren lasse, dann drängt sich als ein Ergebnis in den Vordergrund – keineswegs überraschend für Historiker, denke ich –, dass der Begriff „Selbstverwaltung“ für die vielen, zur Sprache gekommenen Aspekte fragwürdig ist auf die ganze Zeit betrachtet. Das ist stets so, wie wir alle wissen, bei der Anwendung später entstandener Begriffe auf ältere Erscheinungsformen, wie wir längst beim Gebrauch des Verfassungsbegriffes für die Zeit vor dem Ende des 18. Jahrhundertsbedenken. Aber wir brauchen auch solche Verständigungsbegriffe. Wir können nicht jedesmal alle Aspekte diskutieren – Beispiel ist natürlich der Verfassungsbegriff. Wenn wir von Reichsverfassung sprechen, dann wissen wir alle: Die hat es gar nicht gegeben. Trotzdem sprechen wir davon und wissen in der Regel auch, was wir damit genau meinen. Vom Beginn der Tagung an wurde Selbstverwaltung problematisiert, schon in der Diskussion zu dem ersten Vortrag von Herrn Dilcher ist dies geschehen. Es war dann von Sonderverwaltung die Rede, von verschiedenen Formen der Autonomie bis hin zu Herrn Kühnes Feststellung, dass der Freiherr vom Stein nie von Selbstverwaltung gesprochen hat, sondern von Selbsttätigkeit und Selbstregierung, und es ist dann – bezogen auf Großbritannien mit den Auswirkungen auf den Kontinent – von Selfgovernment und Local Government die Rede gewesen. Es wurde der Blick auf die Selbstverwaltung von Personengruppen einerseits und dann auch auf die Selbstverwaltung in Räumen geworfen. Personengruppen, dazu gehört natürlich auch die mittelalterliche Stadt, dazu gehörten die Referate, die sich mit religiösen, ethnischen Minderheiten beschäftigt haben. Von Räumen – wiederum auch die mittelalterliche Stadt –, von Territorien, von Regionen, von den Counties in Großbritannien. Ein wichtiger Punkt: Auf welcher rechtlichen Basis – das ist immer wieder angesprochen worden – wird Selbstverwaltung, wurde Selbstverwaltung ausgeübt? Einmal mehr

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traten die Begriffe „Privileg“ und „Gesetz“ ins Zentrum, die dann ganz unterschiedliche Wirkungen hatten. Die Vielfalt von Selbstverwaltungsideen im 19. Jahrhundert – das haben wir vor allen Dingen gestern Nachmittag gesehen – ermahnt uns dazu, denke ich, die historisch begründete Breite des Selbstverwaltungsbegriffes immer im Auge zu behalten. Dabei ist vieles gemeint, und der Begriff ist auf vieles bezogen, im Übrigen nicht nur – aber das ist ja heute morgen im Vortrag von Herrn Kugelmann dann auch nochmal angesprochen worden – nicht nur auf kommunale Selbstverwaltung, sondern auch auf funktionale Selbstverwaltung. Und die Definition, die ich heute morgen gehört habe, „Selbstverwaltung heißt, das verwalten, was einen selber angeht“ – ich glaube, Herr Steiger hat es so formuliert –, könnte ja eine Brücke sein, mit diesem Begriff weiter umzugehen. Bei diesen wenigen Vorbemerkungen will ich es belassen und damit die Schlussdiskussion eröffnen; ich bitte um Wortmeldungen. Herr Dilcher. Dilcher: Eine Frage, die uns zur Vertiefung noch beschäftigen sollte, ist die: Was ist das „Selbst“, das sich hier verwaltet? Und ich glaube, da könnte man auch im Anschluss an Herrn Kugelmann die Frage einer emotionalen Identität gegenüber dem Funktionalen oder gegenüber Interessen, die mehr sich im partikularen Bereich finden, abgrenzen. Das wäre eine wichtige Unterscheidung, und viele von den Gruppen im alten Europa, die wir betrachtet haben, sind ja durch religiöse, ethnische oder, – bei der Bürgerschaft als Ganzem –, eine sich neu ausbildende ständische Identität gekennzeichnet, die sie von der gesamten übrigen Gesellschaft unterscheiden und die nur existieren kann durch den Schutz einer Selbstregierung in Verbindung mit Selbstverwaltung. Was mir etwas zu stark betont schien in vielen Referaten war der Blick von oben, von der Zentrale, auch für das alte Europa. Herr Härter hat vorhin gesagt, dass die Selbstverwaltung für das Mittelalter doch etwas ist, was mit Selbstverständlichkeit von unten gewachsen ist, und das ist ja ein naturgemäßes Element des Empfindens von Identität, das – glaube ich – bis heute in Europa wirksam ist und vielleicht auch die viel zitierte EuropaSkepsis hervorruft, ohne dass man das auf einen genauen rationalen Nenner bringen kann. Also, was wächst von unten? Ich meine, da wäre noch mehr auch eine verwaltungssoziologische Perspektive einzunehmen. Wie vermittelt es sich von oben nach unten? Für lange Zeiten des ancien régime war es ja so, dass die Zentrale, der Fürstenstaat oder was auch immer – vom Reich brauchen wir gar nicht zu sprechen in diesem Zusammenhang – gar nicht unten ankommen konnte. Was unten ankam war der Pfarrer auf der Kanzel, der dann ja auch oft Sachen des Fürsten proklamieren musste, der Grundherr, der Stadtrat, aber nicht die zentrale Verwaltung. Also, die Unmöglichkeit eines Durchgriffs oder die Schwierigkeit eines Durchgriffs durch Verwaltung war

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– glaube ich – lange Zeit der historische Schutz dessen, was sich unten tat und was man dann später als Selbstverwaltung bezeichnet hat. Die Frage wäre deshalb auch noch stärker zu lenken – im Sinne einer Verwaltungssoziologie – auf die Verwaltungsstäbe, zum Beispiel auf die Einbeziehung von Juristen in die Verwaltung, bis diese denn bis unten ankommt und die Normsetzung der Zentrale überhaupt vermitteln kann. Das ist ja auch eine der Diskussionen etwa um frühneuzeitliche Gesetzgebung oder Polizeiordnungen: Wie kommen sie an? Wir können jedenfalls nicht davon ausgehen, dass sie so unten ankommen, wie eine moderne staatliche Normsetzung durch Gesetzgebung oder auf andere Weise, sondern allenfalls viel gebrochener. Also, diese natürliche oder historisch aus dem Mittelalter kommende Grundlage der Selbstverwaltung, der Autonomie, nämlich die Regelung eigener Angelegenheiten in einem homogenen Kreis von Menschen, die als Gruppe zusammengehören, scheint mir noch etwas betonenswerter zu sein. Neuhaus: Danke Herr Dilcher. Herr Battenberg. Battenberg: Wir haben in der Diskussion festgestellt, dass eine gewisse Schwierigkeit besteht, den alten Selbstverwaltungsbegriff zu definieren und auf die konkreten Verhältnisse gerade in der Moderne anzuwenden. Ich denke an ein soziologisches Argument, das hier eine Rolle spielt und eingeführt werden müsste: Wir haben heute, gerade ab dem 20. Jahrhundert, eine sehr viel stärkere Vernetzung der Lebensverhältnisse insgesamt. Jede Entscheidung, und zwar die kleinste Entscheidung in Bauangelegenheiten, in Strukturangelegenheiten, in Schulangelegenheiten auf kommunaler Ebene, ist vernetzt mit europäischen und gesamtstaatlichen Interessen, mit Rechtsvorschriften, die beachtet werden müssen. Das heißt also, man kann gar nicht mehr so absolut sagen: Selbstverwaltung ist dasjenige, was eine Kommune oder eine Gruppe oder eine spezifische Einheit selbst angeht. Es gibt natürlich gewisse kulturelle Sonderinteressen, die in ihrer Vielfalt sicher erhalten werden müssen, aber das ist eher sekundär. Ich denke, in erster Linie ist alles das, was irgendwie geregelt werden muss oder geregelt wird, auf der kleinen Ebene mit größeren Entscheidungen vernetzt, und das muss bedacht werden. Also das, was für die ältere Zeit vielleicht gesagt werden kann, dass da Rechtsbereiche relativ unverbunden nebeneinander stehen können, deswegen auch eigenständig geregelt werden können, gilt für die Moderne nicht mehr. Ich habe hier den Begriff der Interessen mit ins Spiel gebracht im Bezug auf meine jüdischen Gemeinschaften: Dort, wo der Landesherr oder der Schutzherr überhaupt kein Interesse an der spezifischen Angelegenheit der Gemeinde oder der Landjudenschaft hatte, konnten diese sich selbst verwalten, das war überhaupt kein Problem. Das aber ist für die neuere Zeit absolut nicht mehr möglich. Das heißt also, diese starke Vernetzung ist ein Argument dafür, den Selbstverwaltungsbegriff selbst auch nochmal zu überdenken.

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Neuhaus: Danke. Bitte sehr, Herr Simon. Simon: Ich möchte an Herrn Dilcher anknüpfen: Wenn man das Präfix „Selbst“ genauer in den Blick nimmt, dann sieht man, wie eng das Wort „Selbstverwaltung“ mit der politischen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts verbunden ist. Denn das „Selbst“ ist gedacht als Gegenstück zum modernen Staat, wie er ab 1800 in Erscheinung tritt. Selbstverwaltung ist das, was die Bürger selbst machen, was nicht der Staat erledigt, der ansonsten grundsätzlich für alle Verwaltungstätigkeiten zuständig ist. Das Wort „Selbstverwaltung“ ist also eng verbunden mit einer bestimmten Konzeption von Staat. Es ist ohne den modernen Staat überhaupt nicht denkbar, und er wird geprägt in einem Moment, in dem es nicht mehr selbstverständlich war, dass im Grundsatz jede lokale Gruppe ihre Angelegenheiten selbst regelt. Im ancien règime war dies so selbstverständlich, dass man es überhaupt nicht weiter reflektiert hat. Daher gab es auch keine begriffliche Ausprägung für dieses Phänomen. Erst im Zeichen eines Staates, der den Anspruch erhebt, alles zu regulieren und alles machen zu wollen, taucht dann als Gegenreaktion die Vorstellung auf, es müsse einzelne Bereiche geben, in denen es aus verwaltungspraktischen Gründen wie auch aus Argumenten persönlicher Freiheitsräume heraus bei einer eigenverantwortlichen Entscheidung der Betroffenen bleiben müsse. Aber das setzt die Präsenz und die Aktivität des modernen Staates voraus. Neuhaus: Danke schön. Herr Walther hat jetzt das Wort. Walther: Direkt anschließend an das von Herrn Simon Ausgeführte möchte ich aus mediävistischer Perspektive vorschlagen, dass man vielleicht etwas stärker die unterschiedlichen Legitimationsebenen bei den vorgebrachten Begründungen beachten und für die historische Analyse ins Spiel bringen sollte, zumal diese Legitimationsansprüche eigentlich in allen Vorträgen dieser Tagung deutlich eine Rolle spielten. Dies ist mir gerade noch einmal bei Herrn Kugelmann recht deutlich geworden. Wenn man die von ihm ja hervorgehobene Präambel in der „Charta der Gemeindefreiheiten“ von Oktober 1953 beachtet und dazu berücksichtigt, dass eine Präambel im Regelfall dazu dient, den Anlass und die Basis des Folgenden deutlich vor Augen zu führen, fällt sofort der behauptete historische Bezug auf die angeblich „durch Jahrtausende geheiligten Rechte als eines der Fundamente der Menschenfreiheit“ auf. Hier artikuliert sich ein bestimmtes Geschichtsbild, in das alle Leser und Rezipienten der Charta ganz selbstverständlich einbezogen werden. Es ist vergleichbar der Eingangsaussage der Präambel der Weimarer Reichsverfassung von 1919 vom „Deutschen Volk, einig in seinen Stämmen“. Zweifellos ist die Weimarer Präambel anders historisch zu verorten: Jedenfalls würde heute kein deutscher Mediävist, der die Forschung der letzten Jahr-

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zehnte nicht verschlafen hat, mehr ernsthaft von Stämmen als der historischen Grundlage des deutschen Volks sprechen. Aber so wie dies 1919 geschah, wird in solch grundsätzlichen Erklärungen wie der Gemeindefreiheiten-Charta auch heute noch ganz selbstverständlich historisch, also auf quasi objektive Weise legitimiert. Herr Simon hat es ausgesprochen: Selbstverwaltung lässt sich als Begriff eigentlich historisch recht genau festmachen. Er setzt ein bestimmtes Staatsverständnis voraus, das offensichtlich das Präfix „Selbst“ nötig macht, wenn eine bestimmte Sonderform der Verwaltung ab- und ausgegrenzt werden soll. Es bleibt damit in der Tat das alte methodische Problem, wie das Herr Neuhaus schon einleitend andeutete, inwieweit wir als Historiker einen an bestimmte geschichtliche Voraussetzungen gebundenen Begriff dennoch auf andere historische Perioden und Rahmenbedingungen anwenden können. Inwieweit ist der im Laufe der Geschichte veränderte Regelungsbedarf, sind die veränderten Regelungsbereiche und die unterschiedlichen Regelungsbedürfnisse (damit versuche ich die Anmerkungen Herrn Battenbergs zu subsumieren) zu übergehen? Ich gehe einen Schritt weiter und will die in den Tagungsbeiträgen punktuell aufgezeigte historische Entwicklung nun ganz prozeßhaft beurteilen: Müssen wir nicht auf dem Weg in die Moderne als Ergebnis letztlich eine Verengung der als legitime Träger der Regelungskompetenz Angesehenen konstatieren? Und dieser Prozeß der Verengung setzt schon im Mittelalter ein, wenn ich Herrn Dilchers gestrige Ausführungen grob vereinfache. Vielleicht sollte man deshalb die damals im Mittelalter bei den Betroffenen stattfindenden Reflexionsprozesse als Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die gefundenen Formen der Selbstregulierung stärker hervorheben: als Reflexion über „normale“ Herrschaft und deren Legitimation als Voraussetzung für den Anspruch auf Gehorsam in Gemeinschaften. Die Leitbildfunktion und die Orientierung an Ordnungssystemen wie dem römischen Recht sind ja mit Händen zu greifen, gerade was die Installierung von „Verwaltung“ als Ausfluss von traditional-auktoritativ legitimierten Herrschaftssystemen. Herr Vones hat dieses breite Spektrum von durchaus nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren Legitimationsvorstellungen am spanischen Beispiel recht konkret in seinen Konsequenzen vorgeführt. Für die jüdischen Gemeinden beruhten ihr Regelungsanspruch und ihr Regelungsrecht auf ganz unterschiedlichen religiösen Grundlagen als etwa für den kastilischen Königshof oder in der Herrschaftsordnung der aragonesisch-katalanischen Krone. Der zu konstatierende Prozess der ständigen Veränderungen beruht auf den unterschiedlichen Bedürfnissen und deren Durchsetzungen. Dabei hat Herr Vones hervorgehoben, dass offensichtlich Neuregelungen getroffen werden, mit der beide Seiten leben können, auch wenn keine gemeinsame Legitimationsebene erreicht wird.

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Schlussdiskussion

Ein solcher Verzicht auf eine verbindliche Legitimationsebene wird offensichtlich immer schwieriger, je weiter wir uns der eigenen Gegenwart nähern. Der moderne Staat sieht es offensichtlich immer stärker als seine raison d’être an, dass eine solche gemeinsame Legitimationsbasis besteht, besteht zumindest auf seinem Regelungsanspruch von oben nach unten, der letztlich die untere Ebene als „legitime Verwaltung“ nur notgedrungen als Artikulation eigener Interessen anerkennt. Was uns gestern Herr Simon am österreichischen Beispiel vorgeführt hat, war ein schlagender Beweis: Die Länder, die neu von oben konstituiert werden, stellen letztlich das dar, was es zuvor auch schon gab. Nur sind sie jetzt vom Gesamtstaat neu definiert und damit legitimiert. Deswegen kann man in Österreich nach 1861, wenn man sich nur faktisch in die neue Verfassung einfügt, ganz unterschiedlich argumentieren, weshalb man sich in sie einfügt. Also resümierend für die historische Strecke vom Mittelalter bis zur EU: Es scheint unumgänglich, dass man die Frage der Legitimationsbasis und konkurrierender Ansprüche angesichts der Prozesshaftigkeit der Selbstverwaltung einbezieht. Neuhaus: Herr Härter. Härter: Ich wollte das aufgreifen, was Thomas Simon und im Grunde auch Herr Dilcher angesprochen haben: Das Spannungsverhältnis zwischen Selbstverwaltung, realisiert über Kommunen oder Genossenschaften, und dem Staat, der Staatsbildung, der Etablierung und Ausdifferenzierung einer staatlichen Verwaltung. Thomas Simon hat von Gegenbegriffen gesprochen, ich selber habe von Verlustgeschichte gesprochen – gleichwohl gibt es in der neueren historischen Forschung für das 18. und 19. Jahrhundert auch einen Ansatz, der sehr viel stärker die Interaktion zwischen den Selbstverwaltungsorganen und der staatlichen Verwaltung in den Mittelpunkt stellt, – der die Entwicklung also nicht als eine Verlustgeschichte oder Geschichte von Gegensätzen begreift, sondern als eine, in der diese Interaktion ununterbrochen stattfindet, weil selbst der moderne Staat nicht ohne Organe der Selbstverwaltung auskommen kann. Er rekurriert vielmehr ständig darauf – auch heute noch. Das bedeutet aber im Grunde, dass wir den Autonomiebegriff sehr viel stärker problematisieren sollten: Wenn man an die Stelle Interaktion setzt, müsste man im Grunde Autonomie aufgeben, denn Selbstverwaltungsorgane existieren und realisieren sich auch immer in dieser Interaktion mit dem Staat. Zweitens sollten wir nicht verkennen, dass sich historisch – das ist mir nochmal bei Herrn Mußgnug deutlich geworden und auch bei anderen Bemerkungen von Herrn Pape oder zu den Sorben etwa –, man könnte fast sagen wildwüchsig neue Formen von „Selbstverwaltung“ und behaupteter Autonomie herausbilden, weil sich unterschiedliche Gruppen bilden, die Identitäten behaupten und die eigenen Interessen verwalten wollen. In Ihrem Beispiel waren das die Studen-

Schlussdiskussion

343

ten. Wenn man sich in der heutigen Gesellschaft umblickt, gibt es natürlich sehr viele Gruppen, die teilweise über einen Minderheitenstatus – kulturell, religiös, wie auch immer – definiert sind, die Formen von „Selbstverwaltung“ bilden und zu einem Problem in einer repräsentativen Demokratie und in einem Staat werden, der versucht, diese Selbstverwaltung zu organisieren. Man sollte aber nicht verkennen, das gilt jedenfalls für die Vormoderne, dass diese Herausbildung von Selbstverwaltung zur Regelung von Konflikten und zur Ausdifferenzierung von Normen – das sind in solchen Gruppierungen natürlich keine Statuten, aber gleichwohl Normen, die eine große Bindekraft entfalten können –, dass diese Prozesse von Gruppenbehauptung und Selbstverwaltung auch heute noch stattfinden und ein Problem bilden, das wir – glaube ich – nicht wirklich gelöst haben. Neuhaus: Danke. Herr Asche. Asche: Anschließend an den Vorredner möchte ich vielleicht noch einmal sehr dafür plädieren, dass man stets sehr klar benennen sollte, um welche soziale Gruppen, um welche Einheiten es sich handelt, die sich selbst verwalten, und auch den jeweiligen Umfang von deren Selbstverwaltung deutlich machen. Handelt es sich um eine Personengruppe, eine Korporation, wie beispielsweise eine Universität, die ja mit einer eigenen Gerichtsbarkeit auch exemt war – aber auf unserer Tagung ja nicht thematisiert wurde – und zwar jeweils in ihrem Verhältnis zum Staat. Dabei muss man sich auch klar machen – dies ist eine Ergänzung zu Herrn Härter –, dass sowohl der Staat als auch die jeweilige Einheit, die sich selbst verwaltet, ein Interesse daran hatte, dass diese Selbstverwaltung existierte, und es kam sozusagen zu einem Kompromiss in Form einer Aushandlung von unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen. Diese Aushandlungen konnten mehrfach stattfinden, wodurch sich der jeweilig erreichte Status der Selbstverwaltung im Laufe einer längeren Zeitspanne auch wieder verändern konnte. Am Beispiel von Privilegien bedeutet dies – darauf hat etwa Herr Mohnhaupt hingewiesen –, dass Privilegien gewährt, verändert, in vollem Umfang bestätigt, aber ebenso auch wieder zurückgenommen werden können. Mir scheint es so zu sein, dass wir feststellen können, dass je weiter wir uns der Moderne nähern, der Staat durch eine größere Reglementierung gekennzeichnet war – oder anders ausgedrückt: Da der frühmoderne Fürstenstaat mehr Kompetenzen an sich ziehen wollte, gab es die Tendenz zur Nivellierung von Autonomie- und Selbstverwaltungsrechten, wohingegen im 19. Jahrhundert ein gegenläufiger Prozess einsetzte, bei welchem der Staat Regelungskompetenzen wieder abgab. Dies wäre, glaube ich, etwas, das man auch noch einmal diskutieren müsste. Es gab also eine Art Höhepunkt staatlicher Regelungskompetenz um 1800, und dann seit dem 19., und im 20. Jahrhundert nahm dies wieder sukzessiv ab, so dass wieder mehr eine Entwicklung in Richtung stärkerer Selbstverwaltung einsetzte. So

344

Schlussdiskussion

scheint es mir zumindest – dies ist allerdings nur ein Eindruck von mir. Vielen Dank! Neuhaus: Danke. Bitte Herr Weitzel. Weitzel: Das Wort „walten“ ist ein ganz altes deutsches Wort. Es gibt – etwa aus der Zeit um 900 oder 1000 – den Begriff der „selbwaltigi“. Das sind die Leute, die „selbstmächtig“ sind. Der Begriff tritt im Zusammenhang mit der Freiheitsdiskussion des frühen Mittelalters auf. Es geht um Volksfreiheit im Gegensatz zur Königsfreiheit. Es geht nicht darum, dass diese Menschen, die sich als solche bezeichnen, völlig frei sind von jeglicher Ordnung. Dies zeigt sich besonders, wenn man diejenigen als Königsfreie definiert, die qua königlicher Ermächtigung oder Ansiedlung diese Freiheiten haben. Es steht also dieser Freiheitsbereich immer im Rahmen einer größeren Ordnung, und diese größere Ordnung wird auch anerkannt. Es ist keine Fremdordnung, sondern es ist grundsätzlich eine Ordnung, die man anerkennt. Und in diesem Sinne würde ich alle Autonomieeinrichtungen des Mittelalters beschreiben wollen; zu heute besteht allerdings der Gegensatz, dass diese Freiheiten oder Selbstverwaltungsmöglichkeiten gewissermaßen urwüchsig sind. Sie kommen zu einem großen Teil aus eigener Wurzel, sind nicht abgeleitet vom Staat – den es nicht gibt –, aber sie anerkennen eine Oberordnung: den König, den Kaiser oder andere Herren. Und was passiert dann? Da kann ich so ein bisschen daran anschließen, was mein Vorredner gesagt hat: Diese urwüchsigen Freiheiten werden immer weiter abgebaut durch den modernen Staat, und der Gipfelpunkt ist das 18. Jahrhundert, in dem es diese Freiheiten im absolutistischen Staat praktisch kaum noch gibt – alle werden unmündig gemacht. In der Zeit der preußischen Reformen nimmt man die alten Gedanken wieder auf. Man nimmt Anlehnungen an England, und dann schaut man auch nach Deutschland, in die eigene Vergangenheit. Die Freiheit, die jetzt entsteht, ist allerdings eine abgeleitete Freiheit, weil der Staat mittlerweile von oben bis unten durchregiert und es keinerlei eigenwüchsige Legitimation für einen solchen Freiraum mehr gibt. In der Folge kann der Freiheitsgedanke recht unterschiedliche Ausprägungen erlangen. Insofern ist die Erscheinung, die wir im 19. Jahrhundert als Selbstverwaltung bezeichnen, zwar etwas Eigenständiges, aber hat tief reichende Wurzeln. Danke. Neuhaus: Danke, Herr Weitzel. Herr Mußgnug. Mußgnug: Mit meinem Hinweis auf die 68er-Parole von der Basisdemokratie in der Diskussion über Herrn Kugelmanns Referat habe ich eines der törichteren, aber gottlob mittlerweile wohl doch überholten Missverständnisse des Autonomie-Gedankens angesprochen. Es geben aber auch die etablierten, zu Recht anerkannten Selbstverwaltungsträger Anlass zur Rück-

Schlussdiskussion

345

besinnung auf die Grenzen einer jeden autonomen Selbstverwaltung. Das gilt insbesondere für die körperschaftliche Selbstverwaltung der Berufsstände durch die Ärzte-, Anwalts-, Handwerks-, Industrie- und Handelskammern. Diese Körperschaften leisten gerade deshalb gute – wenn Sie so wollen legitime – Arbeit, weil sie nicht an den Grenzen einer jeglichen Auslagerung staatlicher Verwaltungshoheit in die körperschaftliche Selbstverwaltung rütteln. Diese Grenzen schließen zweierlei kategorisch aus: Zum einen das sogenannte „allgemeinpolitische Mandat“, das die Körperschaften unter der Hand in politische Parteien mit Zwangsmitgliedschaft und Zwangsbeiträgen verwandelte, ein Unding, das uns bislang nur die Verfaßten Studentenschaften während ihrer Sturm- und Drangjahre und einige wild gewordene Gemeinderäte mit krähwinklerischen Resolutionen zur Außenund Verteidigungspolitik haben zumuten wollen; zum andern die autonome Bestimmung über den Zugang zu den sich körperschaftlich selbst verwaltenden Berufen, was auf eine Wiederbelebung des alten Zunftzwangs hinausliefe, der das Recht zur Berufsausübung von der Mitgliedschaft in der Zunft und die Mitgliedschaft in der Zunft von deren autonomer Entscheidung abhängig gemacht hat. Vor allem letzteres ist wichtig, weil es sich vielleicht nicht ganz so von selbst versteht wie das Verbot der Usurpation eines allgemein politischen Mandats. Wo den Berufskörperschaften die berufliche Weiterbildung ihrer Mitglieder, die Ausbildung des Hilfspersonals, die Normierung des Standesrechts und die Vertretung ihrer spezifisch berufsständischen Belange übertragen wird, läge an sich nahe, ihnen auch die Entscheidung zu überlassen, wer den von ihnen repräsentierten Beruf ausüben darf und wer nicht. Exakt das ist jedoch Anathema. Die Zulassung zum Beruf und erst recht natürlich ihre Verweigerung sowie ihr Entzug sind Staatshoheitsakte und haben es zu bleiben. Der Staat kann den Berufskörperschaften in den Zulassungsverfahren Mitspracherechte einräumen, damit diese ihre eventuellen Bedenken anmelden können. Die eigentliche Entscheidung hat jedoch in der Hand der staatlichen Verwaltung verbleiben. Die Regel des 18. Jahrhunderts – „Zum Beruf ist zugelassen, wer in die Zunft aufgenommen worden ist“ – hat sich also um 180° gedreht: „In die Kammer ist aufgenommen, wer zum Beruf zugelassen worden ist“. Das verhindert die Taktiken, mit denen sich die Zünfte im 18. Jahrhundert noch lästige Konkurrenz vom Leib und das Marktangebot knapp gehalten haben. Das Reichskammergericht hat im Dezember 1805, im letzten Jahr seiner Existenz, diesem Taktieren in einem Prozeß der lübeckischen Schusterzunft gegen den nicht zünftigen Handel mit modischen Importschuhen Einhalt geboten und damit ziemlich unbemerkt von der Nachwelt die Wende zur Gewerbefreiheit eingeleitet. Peter Oestmann hat 2004 in der ZNR darüber berichtet. Das Urteil des Reichskammergerichts markiert den Punkt, an dem man begann, sich nicht mehr länger mit der ständischen Le-

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Schlussdiskussion

gitimation der Selbstverwaltung zu bescheiden, sondern eine sachliche Legitimation verlangte. Dieses Verlangen klingt in den Urteilsgründen deutlich an. Das sollten wir in Erinnerung behalten. Wir erliegen allzu bereitwillig dem Wohlklang der Vollwert-Worte „Autonomie“ und „Selbstverwaltung“. Die Frage, was der Selbstverwaltung durch die Betroffenen zugänglich ist und was nicht (etwa auch die Gestaltung der Steuer-, Beitrags- und Gebührenpflichten, mit denen sich die Selbstverwaltungsträger zu finanzieren pflegen?), gerät darüber leicht ins Hintertreffen. Es geht nun einmal nicht alles so in Ordnung wie die „Basisdemokratie“ der kommunalen Selbstverwaltung. Die Geschichte der Selbstverwaltung in allen ihren Bereichen hilft, das besser zu verstehen und für die Gegenwart die richtigen Antworten zu finden. Deshalb hat sich gelohnt, dass wir versucht haben, sowohl den Grundsatzfragen der Selbstverwaltung als auch ihren historischen Details auf den Grund zu gehen. Es hat sich einmal mehr gezeigt: Historia iuris magistra iurisprudentiae hodiernae. Neuhaus: Vielen Dank. – Meine Damen und Herrn, die Rednerliste ist erschöpft; wird noch das Wort gewünscht? Wenn das nicht der Fall ist, dann endet auch diese Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte wie alle Vorgängertagungen mit vielen Fragen, die es weiter zu bedenken gilt. Sie endet offen, und das ist ja vielleicht auch uns ganz gemäß. Ich danke noch einmal allen, die hier Referate gehalten haben, insbesondere auch den Gästen – zwei sind noch da, Herr Kugelmann und Herr Vones. Ganz herzlichen Dank dafür. Ich danke allen, die hier so lebhaft mitdiskutiert haben, hier im Raum oder in den Gesprächen beim Kaffee, bei den Mahlzeiten oder auch noch abends im Schlösschen. Ich hoffe, dass Sie diese zwei Tage in Hofgeismar in guter Erinnerung behalten, und schließe die diesjährige Tagung. Vielen Dank.

Verzeichnis der Redner Asche:

99 f., 137, 168, 343 f.

Barmeyer-Hartlieb:

177, 207 f., 255 f., 290 f.

Battenberg:

139 ff., 172 f., 339

Brandt:

55, 97 f., 249, 286 ff.

Brauneder:

36 f., 56 f., 98, 251 f., 288 ff.

Cancik:

252 f., 328 f.

Dilcher:

30 f., 33 ff., 37 f., 171, 253, 335, 338 f.

Elle:

53 ff.

Grothe:

168

Gusy:

30, 206 ff., 247 ff., 284 ff., 326 f.

Härter:

32 f., 60, 95, 138, 170 f., 250 f., 330 f., 342 f.

Heun:

31 f., 95 ff., 137 ff., 168 ff., 177 f.

Kampmann:

98, 168

Kraus:

206, 249 f., 253 ff., 256

Kugelmann:

58 f., 290, 324 ff., 335 f.

Kühne:

53, 208 ff., 284

Lepsius:

248 f.

Lück:

30 ff., 53 ff., 206 f.

Manca:

173 f., 284 f.

Mohnhaupt:

34 f., 61, 96, 139, 176 f., 247 f., 331 f.

Mußgnug:

96 f., 325 f., 344 ff.

Neuhaus:

323 ff., 337 ff.

Pape:

61

Ruppert:

247

Schönberger:

168 ff., 174 f., 178 ff., 207

Simon:

177, 285 f., 291, 340

Steiger:

137 f., 172, 251, 323 f., 333 f.

Vones:

138 f.

Walther:

340 ff.

Weitzel:

95 f., 344

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§ 2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§ 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie münd-

Vereinigung für Verfassungsgeschichte

349

liche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.

§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.

§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege

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Vereinigung für Verfassungsgeschichte

schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.

§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 30. Juni 2009) Vorstand 1. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 2. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, 06108 Halle (Saale) 3. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen

Beirat 1. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Ltd. Archivdirektor, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt 2. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-Behagel-Straße, 35394 Gießen 3. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau 4. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und vergleichende Staatslehre, 95440 Bayreuth 5. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 6. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg

Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, 8010 Graz, Österreich 2. Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 3. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, 79085 Freiburg 4. Asche, Dr. Matthias, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 5. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, 82431 Kochel

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Verzeichnis der Mitglieder

6. Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 7. Battenberg, Dr. J. Friedrich, Professor, Ltd. Archivdirektor, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64289 Darmstadt 8. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 9. Becht, Dr. Hans-Peter, Stadtarchiv Pforzheim, Kronprinzenstraße 28, 75177 Pforzheim 10. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg 11. Birke, Dr. Adolf M., Professor, Universität München, Institut für Neuere Geschichte, Schellingstraße 12, 80799 München 12. Birtsch, Dr. Günter, Professor, Universität Trier, FB III Geschichte, 54286 Trier 13. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, 2300 Leiden, Niederlande 14. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, 79280 Au bei Freiburg 15. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, 79379 Müllheim 16. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Direktor des Landeshauptarchivs Koblenz a. D., Obere Meerbach 6a, 56179 Vallendar 17. Bosbach, Dr. Franz, Professor, Prorektor der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Universitätsstraße 2, 45141 Essen 18. Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, 40822 Mettmann 19. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 20. Brandt, Dr. Hartwig, Professor, Wilhelmstraße 19, 35037 Marburg 21. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 -16, 1010 Wien, Österreich 22. Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 23. Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, 86135 Augsburg 24. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Universität Salzburg, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg, Österreich 25. Butzer, Dr. Hermann, Professor, Orffstraße 3, 30989 Gehrden 26. Cancik, Dr. Pascale, Professorin, Universität Osnabrück, Professur für Öffentliches Recht, Martinistraße 8, 49078 Osnabrück 27. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße, 35394 Gießen 28. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle 7, 20122 Milano, Italien

Verzeichnis der Mitglieder

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29. Cordes, Dr. Albrecht, Professor, Universität Frankfurt am Main, Institut für Rechtsgeschichte, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt am Main 30. Dallmeier, Dr. Martin, Fürstlicher Archivdirektor, Fürst Thurn und Taxis Zentralarchiv, Postfach 110246, 93015 Regensburg 31. Dann, Dr. Otto, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, 50923 Köln 32. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, 61462 Königstein/Taunus 33. Dippel, Dr. Horst, Professor, Universität Kassel, Fachbereich 8, Georg-ForsterStraße 3, 34127 Kassel 34. Dölemeyer, Dr. Barbara, Professorin, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 35. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, 58097 Hagen 36. Endres, Dr. Rudolf, Professor, An den Hornwiesen 10, 91054 Buckenhof 37. Fenske, Dr. Hans, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, 79085 Freiburg 38. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität des Saarlandes, Campus, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 39. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Università degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9, 50129 Firenze, Italien 40. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, 35037 Marburg 41. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt am Main, Historisches Seminar, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt am Main 42. Gergen, Dr. Dr. Thomas, Privatdozent, Universität des Saarlandes, Rechtsund Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 66123 Saarbrücken 43. Gosewinkel, Dr. Dieter, Privatdozent, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin 44. Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen 45. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, 44801 Bochum 46. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 11, 10117 Berlin 47. Grothe, Dr. Ewald, Privatdozent, Bergische Universität Wuppertal, Historisches Seminar, FB A, Gaußstraße 20, 42097 Wuppertal 48. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 49. Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, 26111 Oldenburg 50. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena

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Verzeichnis der Mitglieder

51. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1 – 3, 1364 Budapest, Ungarn 52. Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt am Main 53. Hartlieb von Wallthor, Dr. Alfred, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, 32756 Detmold 54. Hartmann, Dr. Peter Claus, Professor, Universität Mainz, FB Geschichtswissenschaft, Saarstraße 21, 55099 Mainz 55. Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professor, Universität Graz, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, 8010 Graz, Österreich 56. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Fasanenweg 28, 56179 Vallendar 57. Heckel, Dr. Martin, Professor, Lieschingstraße 3, 72076 Tübingen 58. Herborn, Dr. Wolfgang, Waldstraße 53 b, 53902 Bad Münstereifel 59. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Goßlerstraße 11, 37073 Göttingen 60. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, 17489 Greifswald 61. Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 62. Höbelt, Dr. Lothar, Ass.-Professor Univ.-Dozent, Porzellangasse 19 / 4, 1090 Wien, Österreich 63. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, 10099 Berlin 64. Hoke, Dr. Dr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 65. Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Universität Heidelberg, Institut für Finanz- und Steuerrecht, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, 69117 Heidelberg 66. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 67. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Osaka International University, Department of Economy and Policy, Hirakat-shi, Sugi 3 – 50 – 1, Osaka Fu, Japan 68. Jahns, Dr. Sigrid, Professorin, Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München 69. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kalkstraße 14, 40489 Düsseldorf 70. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 71. Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Bergstraße 5, 79294 Sölden 72. Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, 35032 Marburg/Lahn 73. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Freiburg, Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung, Platz der Alten Synagoge, 79085 Freiburg

Verzeichnis der Mitglieder

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74. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristische Fakultät, Burgstraße 27, 04109 Leipzig 75. Kersten, Dr. Jens, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95447 Bayreuth 76. Kirsch, Dr. Martin, Professor, Universität Koblenz-Landau, Historisches Seminar, Fortstraße 7, 76829 Landau 77. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Juristische Fakultät, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 78. Kley, Dr. Andreas, Professor, Hubelmattstraße 58, 3007 Bern, Schweiz 79. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, 95440 Bayreuth 80. Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 81. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 82. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 100131, 33501 Bielefeld 83. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, 94032 Passau 84. Krieger, Dr. Karl-Friedrich, Professor, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Schloß M 404, 68161 Mannheim 85. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, 79102 Freiburg 86. Krüger, Dr. Peter, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35039 Marburg 87. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, 30167 Hannover 88. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 89. Landau, Dr. Dr. Peter, Professor, Universität München, Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Prof.-Huber-Platz 2, 80539 München 90. Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Konviktstraße 11, 53113 Bonn 91. Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, 79085 Freiburg 92. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth 93. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, 06114 Halle (Saale) 94. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, 07743 Jena 95. Link, Dr. Dr. Christoph, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut, Hindenburgstraße 34, 91054 Erlangen 96. Löffler, Dr. Bernhard, Privatdozent, Auhölzlweg 34, 93053 Regensburg

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Verzeichnis der Mitglieder

97. Lottes, Dr. Günther, Professor, Forschungszentrum Europäische Aufklärung e.V., Am Neuen Markt 9 D, 14467 Potsdam 98. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, 06108 Halle (Saale) 99. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, 34519 Diemelsee 100. Mager, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld 101. Majer, Dr. Diemut, Professorin, Universität Karlsruhe, Karlstraße 62, 76133 Karlsruhe 102. Maleczek, Dr. Werner, Professor, Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Österreich 103. Malettke, Dr. Dr. Klaus, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, 35032 Marburg 104. Manca, Dr. Anna Gianna, Professorin, Università degli Studi di Trento, Via Santa Croce 65, 38100 Trento, Italien 105. Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Universität Nacional, Altos de Sotileza, Bogotá, Columbia 106. Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, 79085 Freiburg im Breisgau 107. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Via Orazio 31, 80122 Napoli, Italien 108. Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, 35037 Marburg 109. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, 22105 Lund 1, Schweden 110. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60457 Frankfurt am Main 111. Möllers, Dr. Christoph, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen 112. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, 6500 KK Nijmegen, Niederlande 113. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße 10, Postfach 111440, 35394 Gießen 114. Murakami, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7 – 3-1, Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 115. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6 -10, 69117 Heidelberg 116. Müßig, Dr. Ulrike, Professorin, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Innstraße 39, 94032 Passau 117. Neitmann, Dr. Klaus, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Postfach 600449, 14404 Potsdam

Verzeichnis der Mitglieder

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118. Neschwara, Dr. Christian, Professor, Universität Wien, Institut für Rechtsund Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 119. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 120. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Department Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, 91054 Erlangen 121. Nicklas, Dr. Thomas, Professor, Université de Reims, Départment d’allemand, 57 rue Pierre Taittinger, 51096 Reims Cedex, Frankreich 122. Nilsén, Dr. Per, Professor, Syddansk Univesitet, Juridisk Institut, Campusvej 55, 5230 Odense M, Dänemark 123. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Wettbewerbsrecht, Schloss Westflügel (W 137), 68131 Mannheim 124. Pape, Dr. Matthias, Privatdozent, Lindenstraße 1, 57462 Olpe 125. Pauly, Dr. Walter, Professor, Universität Jena, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, 07737 Jena 126. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Hochschuldozent, Universität Mainz, Fachbereich 7, Historisches Seminar I, Jakob-Welder-Weg, 55099 Mainz 127. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, 10691 Stockholm, Schweden 128. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Wilmergasse 28, 48143 Münster 129. Pietschmann, Dr. Horst, Professor, Mommsenstraße 27, 50935 Köln 130. Polley, Dr. Rainer, Professor, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, 35037 Marburg 131. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via Santa Croce 77, 38100 Trento, Italien 132. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaft, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, 67324 Speyer 133. Ranieri, Dr. Filippo, Professor, Universität des Saarlandes, Lehrstuhl für Europäisches Privatrecht, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken 134. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professorin, Universität Wien, Institut für Rechtsund Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 135. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V: Rechtswissenschaften, Postfach 38 25, 54286 Trier 136. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte und Zivilrecht, Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt am Main 137. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig 138. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, 67354 Römerberg

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Verzeichnis der Mitglieder

139. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26 / 28, 00 927 Warszawa, Polen 140. Scheel, Dr. Günter, Professor, Am Okerufer 23, 38302 Wolfenbüttel 141. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Via Zara 1, 38100 Trento, Italien 142. Schilling, Dr. Dr. Heinz, Professor, Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Unter den Linden 6, 10117 Berlin 143. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen 144. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 145. Schmidt, Dr. Peer, Professor, Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Nordhäuser Straße 63, 99089 Erfurt 146. Schmidt-de Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, 06099 Halle (Saale) 147. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 148. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, 69117 Heidelberg 149. Schneider, Dr. Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Deutsches Institut für Föderalismusforschung, Königsworther Platz 1, 30167 Hannover 150. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Straße 26, 04197 Berlin 151. Schönberger, Dr. Christoph, Professor, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 10 / Fach D-110, 78457 Konstanz 152. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, 24118 Kiel 153. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, 48143 Münster 154. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burgberg 24, 52080 Aachen 155. Schwab, Dr. Dr. Dieter, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, 93040 Regensburg 156. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich 157. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Am Höchberg 40, 97234 Reichenberg 158. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, 9020 Klagenfurt, Österreich 159. Steiger, Dr. Heinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76, 35394 Gießen 160. Stickler, Dr. Matthias, Privatdozent, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, 97074 Würzburg 161. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professorin, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, 48143 Münster 162. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach, 60457 Frankfurt am Main

Verzeichnis der Mitglieder

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163. Takii, Kazuhiro, Professor, LL. D. Dr., International Research Center for Japanese Studies, 3 – 2 Oeyama-cho, Goryo, Nishikyo-ku, Kyoto 610 – 1192, Japan, Email: [email protected] 164. Thier, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Forschungsstelle für Rechtsgeschichte, Rämistrasse 74, 8001 Zürich, Schweiz 165. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln 166. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Steenkamp 2, 24226 Heikendorf bei Kiel 167. Vormbaum, Dr. Dr. Thomas, Professor, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Fernuniversität Hagen, 58097 Hagen 168. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 66123 Saarbrücken 169. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Hagenmattenstraße 6, 79117 Freiburg 170. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Kirchenrechtliches Institut, Adenauerallee 24 – 42, 53113 Bonn 171. de Wall, Dr. Heinrich, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, 91054 Erlangen 172. Walther, Dr. Helmut G., Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, 07743 Jena 173. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ammerseestraße 102, 82131 Gauting 174. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Universität Bayreuth, Professur für Bayerische Landesgeschichte, 95440 Bayreuth 175. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 176. Westphal, Dr. Sigrid, Professorin, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Neuer Graben 19 / 21, 49069 Osnabrück 177. Wienfort, Dr. Monika, Professorin, Technische Universität Berlin, Institut für Geschichte, Franklinstraße 28 / 29, 10587 Berlin 178. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Rechtsgeschichte, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg 179. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Neue Universität, Südflügel, 69120 Heidelberg 180. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht, Postfach, 79085 Freiburg 181. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Mommsenstraße 13, 01062 Dresden 182. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Donati u. 35 – 45, 1525 Budapest, Ungarn