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German Pages 295 Year 1994
SELBSTORGANISATION
Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 5
SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften
Band 5 1994
Schelling und die Selbstorganisation Neue Forschungsperspektiven Herausgegeben von Marie-Luise Heuser-Keßler Wilhelm G. J acobs
Duncker & Humblot . Berlin
Alle Rechte, auch die des auszugs weisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-08066-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
Inhaltsverzeichnis Vorwort ..................................................................................
7
Hermann Haken: Strukturentstehung und Gestalterkennung in den neueren Selbstorganisationstheorien ..........................................................
II
Walter E. Ehrhard: Selbstorganisation als Metapher................................
27
Rene Thom: Die Morphogenesis zwischen Magie und Geometrie .................
33
Peter Eisenhardt: Dynamik, Emergenz und Mathematik. Über Kontinua und Diskontinua ...............................................................................
39
Knut Radbruch: Was kann die heutige Mathematik von Schelling lernen? .......
55
Francesco Moiso: Formbildung, Zufall und Notwendigkeit. Schelling und die Naturwissenschaften um 1800 .......................................................
73
Reiner Wiehl: Schellings Naturphilosophie - eine Philosophie des Organismus?
113
Olaf Breidbach: Anmerkungen zu einem möglichen Dialog Schellings mit der modemen Biologie ........................... ........................................
135
Manfred Stöckler: Selbstorganisation und Reduktionismus .........................
149
Wilfried Kuhn: Eine wissenschaftstheoretische Analyse der historischen Entwicklung der Chaos-Forschung...........................................................
161
Uwe Niedersen: Prozeßstrukturen. Schellings Philosophie und einige ausgewählte Theorie- und Praxisbereiche der Physikochemie ..................................
183
Michael Heidelberger: Fechners Verhältnis zur Naturphilosophie Schellings ....
201
Erhard Scholz: Schelling und die dynamistische Kristallographie im 19. Jahrhundert .....................................................................................
219
Marie-Luise Heuser-Keßler: Schelling und die Selbstorganisation. Darstellung der jüngsten Rezeptionsgeschichte und neuer Forschungstrends .....................
231
6
Inhaltsverzeichnis Editionen
Hans-Jürgen Krug und Ludwig Pohlmann: Die Dichotomien der Zeit. Der Zeitbegriff bei Wilhelm Ostwald ........................................................
257
Zwei Texte von Wilhelm Ostwald zum Wellengesetz der Geschichte (Hans-Jürgen Krug / Ludwig Pohlmann) ..........................................................
271
Buchbesprechungen
Lewin, Roger, Die Komplexitätstheorie. Wissenschaft nach der Chaosforschung (Ludwig Pohlmann) ..................................................................
279
Waldrop, M. MitchelI, Inseln im Chaos. Die Erforschung komplexer Systeme (Ludwig Pohlmann) ..................................................................
281
Küppers, Bemd-Olaf, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die modeme Biologie (Marie-Luise Heuser-Keßler) ..
282
Wolfgang Maier / Thomas Zoglauer (Hrsg.), Technomorphe Organismuskonzepte. Modellübertragungen zwischen Biologie und Technik (Hans-Jürgen Krug) ...
289
Günther Bien / Thomas Gil / Joachim Wilke (Hrsg.), ,,Natur" im Umbruch? (Frank Schweitzer) ...................................................................
291
Anhang: Liste der Tagungsteilnehmer ................................................
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Vorwort Dieser Sammelband vereinigt Beiträge, die anläßlich einer Tagung zum Thema "Schelling und die Selbstorganisation" entstanden. Die Tagung fand vom 30. August bis zum 2. September 1993 in der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg unter der Leitung von Wilhelm G. Jacobs und Marie-Luise HeuserKeßler statt; sie war interdisziplinär von Naturwissenschaftlern, Mathematikern und Vertretern der Schelling-Forschung besucht. Die Idee dazu wurde 1990 während eines Gesprächs zwischen Hermann Haken und Marie-Luise HeuserKeßler in Augsburg anläßlich eines Treffens des DFG-Schwerpunktes "Wissenschaftsforschung" an der dortigen Universität geboren und von Hans Michael Baumgartner, dem damaligen Präsidenten der Internationalen Schelling-Gesellschaft, 1991 der Werner-Reimers-Stiftung vorgeschlagen, die sich freundlicherweise bereit erklärt hat, diese Tagung zu ermöglichen. Mit der Tagung wurde beabsichtigt, in interdisziplinärer Zusammensetzung die Resultate der jüngsten Schelling-Forschung in ihrer Beziehung zu den gegenwärtigen Selbstorganisationstheorien zu erörtern. Sie sollte dazu dienen, die neuen Forschungsergebnisse zu diesem Thema und die verschiedenen Positionen, die in den letzten Jahren dazu entstanden sind, zusammenzuführen und der Frage nachzugehen, welche Beziehungen zwischen Schellings Naturphilosophie und den Wissenschaften der Selbstorganisation bestehen. Die Tatsache, daß mit Hermann Haken der Begründer der Synergetik und mit Rene Thom der Begründer der mathematischen Katastrophentheorie teilnahmen, beides Forschungsrichtungen, die zum Ausgangspunkt für eine umfassende Neuorientierung innerhalb der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen seit den 70iger Jahren führte, verdient besondere Beachtung, zeigt doch diese Beteiligung, daß die im 19. Jahrhundert viel geschmähte Naturphilosophie Schellings heute auch bei den exakten Wissenschaften wieder diskussionswürdig geworden ist. Die Renaissance der Naturphilosophie Schellings, die in den letzten Jahren auch durch die Gründung der Internationalen Schelling-Gesellschaft und der von der Schelling-Kommission in München veranstalteten Historisch-kritischen Schelling-Ausgabe 1 stark befördert wurde, ging parallel mit der Entwicklung eines neuen Naturbildes in den Wissenschaften, mit dem die Fähigkeit auch der 1 Erschienen sind "Werke" Bd. 1 bis 5. Besonders hinzuweisen ist auf den "Ergänzungsband zu Werke Band 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797 - 1800" von Manfred Dumer, Francesco Moiso und Jörg Jantzen, Stuttgart 1994.
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Vorwort
physikalischen Materie, aus sich selbst heraus neue Ordnungs zustände zu produzieren, in das Zentrum des Forschungsinteresses gerückt wurde. Diese schon für sich bemerkenswerte Parallelität der Denkentwicklungen in Philosophie und Wissenschaft könnte eine Chance sein, den im 19. Jahrhundert entstandenen Graben zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaften wieder zu schließen. Die Kooperation von Philosophie und Wissenschaften hätte für beide Seiten Vorteile: für die Philosophie den, daß sie neben formalen, wissenschaftstheoretischen Analysen auch den Anschluß an die inhaltlichen Erörterungen der Naturwissenschaften wiedergewinnt; für die Naturwissenschaften den, daß sie stärker kulturell integriert und in der Reflexion der Grundprinzipien gefördert werden. Schelling selbst hat immer eine Zusammenarbeit mit den Wissenschaften angestrebt und sich über jede Entdeckung gefreut, die die Grundhypothese einer sich selbst organisierenden Natur bestätigten oder vertieften. So schreibt er in ,,zur Geschichte der neueren Philosophie" rückblickend: "Glücklicherweise traten zu jenen durch die Philosophie gewonnenen, tieferen Ansichten der Natur, nach welcher auch sie ein Autonomisches, ein sich selbst Setzendes und Bethätigendes ist, die Entdeckungen der neueren Experimentalphysik hinzu, welche die Voraussagungen der Philosophie erfüllten, zum Theil übertrafen. Die bis dahin für todt geachtete Natur gab jene Zeichen eines tieferen Lebens, die das Geheimnis ihrer verborgensten Processe offen darlegten. Was man kaum zu denken gewagt hatte, schien Sache der Erfahrung zu werden." (X 121 f.)2 Er hatte dabei keine Sorge, daß damit die Philosophie überflüssig werden könnte, denn: "Der Werth und das Interesse der Wissenschaften steigt immer in dem Verhältnis, in welchem man sie eines tiefen und reellen Bezugs auf die höchste aller Wissenschaften, die Philosophie, fahig sieht, und diejenigen, welche aus einem bedauerlichen Mißverstand sich Mühe geben, ihre specielle Wissenschaft so weit möglich von der Philosophie loszureißen, wissen nicht, was sie thun; denn die Achtung, in der sie ihre Wissenschaft sehen, und bei der sie sich wohl befinden, ist selbst nur eine Folge davon, daß in ihnen jener Bezug auf die höhere, wenn nicht ausgesprochen, doch in Folge der früheren philosophischen Entwicklungen als vorhanden gesehen wird." (X 122). Von naturwissenschaftlicher Seite ist in den letzten Jahren viel unternommen worden, um die neuen Ergebnisse einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wie die Fülle an populärwissenschaftlichen Büchern insbesondere der Selbstorganisationsforschung zeigt. Dabei wurde neben dem Bemühen um eine stärkere gesellschaftliche und kulturelle Einbindung naturwissenschaftlicher Tätigkeit auch das Motiv sichtbar, die auseinandergefallenen Bereiche von Wissenschaft, Kunst und Religion, Physik und Metaphysik, Natur und Geist, Historizität 2 Schelling wird zitiert nach: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856-1861. (Zur Zitierweise: Die Bände sind durchlaufend in römischen Ziffern von I -XIV durchnummeriert; die Seitenzahlen werden in arabischen Ziffern angegeben.).
Vorwort
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und Naturgesetzlichkeit, Kreativität und Determinismus, Freiheit und Notwendigkeit zu einer umfassenden Gesamtsicht zu integrieren. Diese Motive waren unter anderem ausgelöst durch den Autonomiegedanken der Aufklärung - auch zentrale Intentionen der Schellingschen Philosophie, die die gewonnene Freiheit des Subjekts von Seiten der Natur zu verstehen suchte. Es kann nicht darum gehen, so Schelling, die Menschen wieder in die Gewalt der Objektivität zurückzubringen bzw. sie an eine gegebene Naturordnung zu fesseln, sondern im Gegenteil: "Nur wer die Freiheit gekostet hat, kann das Verlangen empfinden, ihr alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten." (VII 351) Die Idee der Selbstorganisation der Natur eröffnet die Möglichkeit, eine Einheit von Natur und Gesellschaft zu denken, die nicht zu Lasten des "prometheischen" Erfindergeistes der Gattung Mensch geht, wie dies die Lebensphilosophien im Kontext der ,,konservativen Revolution" und auch manche ökologische Zukunftsmodelle vielfach suggerieren. Die Natur ist ,,kreativ" und erzeugt aus sich neue Organisationsstufen, so daß die Veränderungspotenz des Menschen nicht etwas bloß Gattungsspezifisches ist und damit aus der Natur herausfällt, sondern mit der Natur zumindest prinzipiell konform geht. Wie dies genauer zu denken ist, ist eine Aufgabe, die sich nur interdisziplinär angehen läßt. Die in diesem Bande versammelten Aufsätze liefern dazu aus den unterschiedlichsten Perspektiven einen Beitrag. Neben der Bedeutung Schellings für die Emergenzproblematik, die Biologie, die Wissenschafts geschichte und der Frage nach dem humanen Sinn der Selbstorganisation wurde ein Hauptschwerpunkt der Tagung bewußt auf das Verhältnis der Schellingschen Philosophie zur Mathematik gelegt, von der Albert Einstein sagte: "Das eigentlich schöpferische Prinzip liegt aber in der Mathematik."3 Diese Schwerpunktsetzung erfolgte zum einen deshalb, weil das Problem mathematische Invarianz - Emergenz nach wie vor eine philosophische Herausforderung darstellt, und zum anderen, weil sich in einem Forschungsprojekt an der Universität Düsseldorf zur "Mathematischen Naturphilosophie im 19. Jahrhundert" im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den Kritikern der spekulativen Naturphilosophie (insbesondere J. F. Fries) herausgestellt hatte, daß der Konstruktivismus Schellingscher Prägung u. a. vermittelt über die dynamistischen Kristalltheorien im 19. Jahrhundert an der Begründung neuer mathematischer Konzepte wie der Vektor-Algebra, der Topologie, der Mannigfaltigkeitstheorie und des Tensorkonzepts einen gewissen Anteil hatte. Diese mathematischen Theoriebildungen gilt es in die natur- und mathematikphilosophische Reflexion gewissermaßen rückzuübersetzen. Es ist zu beobachten, daß auch in der mathematikhistorischen Forschung zunehmend realisiert wird, daß die um 1800 von der Naturphilosophie-Bewegung 3 Albert Einstein, Mein Weltbild, hrsg. von earl Seelig, Frankfurt a. M. / Berlin 1977, S. 117, zitiert nach: Karin Reich, Die Entwicklung des Tensorkalküls. Vom absoluten Differentialkalkül zur Relativitätstheorie, Basel/Boston / Berlin 1994.
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Vorwort
angemahnte Mathematisierbarkeit autogenerativer Prozesse zu einem der Antriebe für die Entwicklung qualitativ-struktureller, morphogenetischer MathematikKonzepte führte, die "unabhängig von allen Größenverhältnissen" die natura naturans zu erfassen suchten. Schelling schrieb 1800, daß die Mathematiker "bis jetzt den Mechanismus nicht gelernt haben, mitte1st dessen auch die dynamische Construktion dem Calcul unterworfen werden kann" (IV 533). Und in seinen methodologischen Arbeiten zum Konstruktionsverfahren gibt er seiner Wertschätzung der Mathematik folgendermaßen Ausdruck: "Die Geometrie und überhaupt die Mathematik ist bis jetzt die einzige Wissenschaft, welche ein allgemeines Beispiel jener absoluten Erkenntnisart, die wir auch die demonstrative nennen können, gegeben hat." (IV 345) Es könnte sich herausstellen, daß Schellings Konstruktivismus mit einer spezifischen Wissenschaftsauffassung der mathematisehen Physik besser in Einklang zu bringen ist als mit empiristisch-positivistischen Methodologien, wobei das aufeinander bezogene Spannungsverhältnis dieser Forschungsstrategien zu berücksichtigen ist. Dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen dankt die Herausgeberin dieses Bandes für die großzügige Förderung durch den "Forschungspreis NRW" von 1990, Herrn Dr. Bergmann vom Wissenschaftsministerium für die unbürokratische Umsetzung dieser Förderung und dem Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität für die hilfreiche Zusammenarbeit. Den Kollegen vom Sonderforschungsbereich 230 "Natürliche Konstruktionen", insbesondere des Teilprojektes A 1 "Naturverständnis und Naturbegriffe" an der Universität Stuttgart dankt sie für die freundliche und produktive Arbeitsatmosphäre sowie für die finanzielle Unterstützung ihrer Arbeit. Am SFB 230 werden die Theorien der Selbstorganisation seit 1984 in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Physikern, Biologen, Architekten, Bauingenieuren, Geodäten und Philosophen erforscht, wobei die klassischen Naturphilosophien in sowohl historischer als systematischer Hinsicht einbezogen werden. Der Werner-Reimers-Stiftung danken die Herausgeber im Namen aller Teilnehmer herzlich für die Aufnahme der Tagung in das Programm der Stiftung und für die' wohltuende Atmosphäre, in der sich Vorträge, Diskussionen und Gespräche entfalten konnten. Unser Dank gilt auch dem Verlag, insbesondere Herrn D. H. Kuchta, für die geduldige Zusammenarbeit und die zügige Drucklegung der Beiträge. Die Herausgeber
Strukturentstehung und Gestalterkennung in den neueren Selbstorganisationstheorien Von Hermann Haken, Stuttgart
I. Was ist neu in der Wissenschaft der Selbstorganisation? Das Werk Schellings hat seit seinem Bestehen kaum an Faszination eingebüßt, wofür die Existenz der Schelling-Gesellschaft nur ein, wenn auch wichtiges, Indiz ist. Es ist das Verdienst von Marie-Luise Heuser-Keßler I, auf Beziehungen zwischen dem Konzept der Selbstorganisation bei Schelling und den modernen Selbstorganisationstheorien nicht nur hingewiesen, sondern auch hier wichtige Bezüge hergestellt zu haben. Hier möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit das Wort aus dem Alten Testament "Es gibt nichts Neues unter dieser Sonne" auch für die Wissenschaft der Selbstorganisation zutrifft. Ich will es unter dem Blickwinkel tun, daß sich im Laufe der Jahrhunderte die wissenschaftliche Methodik, die Anforderungen und Fähigkeiten dieser, und auch die Kontexte stark geändert haben. Beginnen wir aber zunächst mit einer Übersicht über die modernen Selbstorganisationsansätze 2 • Hier ist einmal derjenige von Heinz von Förster 3 zu nennen, der von der Kybernetik herkam. Er untersuchte vor allen Dingen Selbstorganisationsvorgänge im gesellschaftlichen Bereich, wobei es ihm mehr auf das unabhängige Handeln Einzelner anzukommen scheint. Ein typisches Beispiel für ihn ist die Seeschlacht bei den Midways im letzten Weltkrieg zwischen den Amerikanern und Japanern, wo das amerikanische Kommandoschiff schwer beschädigt wurde und nun die einzelnen amerikanischen Einheiten auf eigene Faust zu agieren hatten. Ein zweiter Ansatz, der mit der Selbstorganisation in Verbindung gebracht werden kann, ist derjenige von Maturana 4, der das Konzept der Autopoiese M. L. Heuser-Keßler, diese Proceedings mit weiteren Literaturhinweisen. P. Knast / R. Paslack, Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung, Bielefeld 1990. 3 Siehe z. B. H. von Foerster, Principles of Self-Organization in a Socio-Managerial Context, in: H. Ulrich / G. J. B. Probst (Hg.) (1984), Self-Organization and Management of Social Systems. Insights, Promises, Doubts, and Questions, Berlin, S. 2 ff. 4 Siehe z. B. H. R. Maturana, F. J. Varela, R. Uribe, Autopoiesis: The Organization of Living Systems, its Characterization and a Model, in: Bio-Systems 5, S. 187 ff. (dt. unter dem Titel: Autopoiese: Die Organisation lebender Systeme, ihre nähere BestimI
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Hermann Haken
prägte. Hierbei wird der Frage nachgegangen, wie es insbesondere biologische Systeme fertigbringen, sich selbst in ihrer Funktion und Struktur zu erhalten. Diejenigen Selbstorganisationstheorien, die der Entstehung von Strukturen in der unbelebten und belebten Natur gewidmet sind, sind diejenigen von Prigogine 5 und Haken 6 • Prigogine geht dabei von der Thermodynamik aus, wobei er nach allgemeinen Prinzipien suchte, die der spontanen Strukturbildung in sogenannten offenen Systemen zugrundeliegen. Dazu formulierte er das Prinzip der minimalen Entropieerzeugung und das Prinzip der Exzeßentropieerzeugung. Beide Prinzipien haben sich nicht als tragfähig erwiesen; das erstere nicht, weil es nur in Systemen nahe am thermischen Gleichgewicht gilt, wo Strukturbildungsprozesse noch nicht vorhanden sind; das zweite, weil es kein hinreichendes Kriterium für die Strukturbildung darstellt und auch nichts über die Strukturbildung im einzelnen aussagen kann. Ein zweiter Ansatz von Prigogine, Lefever und Nicolis 7 beruht auf der Formulierung eines kinetischen Modells, das in seinen Grundzügen bereits von Alan Turing 8 zur Erklärung der Gestaltbildung im biologischen System vorgeschlagen worden ist. Es handelt sich hierbei um die Aufstellung von bestimmten Reaktionsdiffusionsgleichungen für chemische Prozesse, bei denen sich spontan Strukturen bilden können. Im Hinblick auf die biologische Morphogenese sind Reaktionsdiffusionsgleichungen für chemische Prozesse auch von Gierer und Meinhardt 9 aufgestellt worden. Die hierbei entstehenden Strukturen stellen räumliche Konzentrationsmuster von Molekülen dar, die als sogenannte morphogenetische Felder wirken, indem sie zur Zelldifferenzierung und damit zur Morphogenese führen. Einen fundamental wichtigen Problemkreis stellt schließlich die Entstehung des Lebens aus unbelebter Materie durch Selbstorganisation dar. Wir verweisen hier insbesondere auf die grundlegenden Arbeiten von M. Eigen 10. Eine, wie ich glaube, ziemlich umfassende Theorie der Se1bstorganisation wurde vom Verfasser dieses Artikels in den letzten zwanzig Jahren entwickelt 6. 11 , wobei sich die Theorie auf Phänomene in der unbelebten Natur bis hin zu gesellschaftlichen Vorgängen erstreckt. Wie ich glaube, wird bei einer näheren Betrachtung dieser Theorie klar, wie sich zwar Formulierungen, die sich bei mung und ein Modell, in: H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig I Wiesbaden (1982), S. 157 ff.) 5 Siehe z. B. I. Prigogine, P. Glansdorff, Thermodynarnic Theory of Structure, Stability and Fluctuations, London I New York I Sidney I Toronto (1971) 6 H. Haken, Synergetics, Eine Einführung, 3. Aufl., Springer, Berlin (1983) 7 I. Prigogine, R. Lefever, J. Chem. Phys. 48, 1695 (1968), I. Prigogine, G. Nicolis, J. Chem. Phys. 46, 3542 (1967) 8 A. M. Turing, Philos. Trans. R. Soc. London B 237, 37 (1952) 9 A. Gierer, H. Meinhardt, Kybernetik 12,30 (1972); J. Cel!. Sei. 15,321 (1974) 10 M. Eigen, Self-Organization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, in: Naturwissenschaften, 58, 465 ff. (1971) 11 H. Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart (1981)
Struktur und Gestalt in den neueren Selbstorganisationstheorien
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Schelling finden, auch bei einer modemen Selbstorganisationstheorie wiederfinden lassen, wie sich aber andererseits der Blickwinkel und wissenschaftliche Anspruch geändert haben. Bei den modemen Selbstorganisationstheorien steht der operationelle Anspruch im Vordergrund. Eine Theorie muß anhand von Experimenten prüfbar sein; zugleich wird deutlich, wie stark die modeme Selbstorganisationstheorie mathematisiert worden ist und damit sich in hohem Maße des Hilfsmittels der modemen Mathematik bedient. Es ist sicher ein falscher wissenschaftstheoretischer Ansatz, wenn man die Schellingsche Philosophie oder die heutige Selbstorganisationstheorie als besser oder schlechter einstuft, wie dies ein Tagungsteilnehmer tat. In der Tat sind die Zielsetzungen und Methoden völlig voneinander verschieden, und es hängt mehr vom eigenen Denkansatz ab, weIche Betrachtungsweise man bevorzugt, obwohl ich nicht verhehlen kann, daß ich natürlich der modemen Selbstorganisationstheorie mehr anhänge als den Schellingschen Ideen.
11. Der Ansatz der Synergetik Die Synergetik basiert auf einer mathematischen Theorie und ist per se wertfrei. Dies ist vor allen Dingen wichtig, wenn sie auf gesellschaftspolitische Fragestellungen angewendet wird, weil hier natürlich noch ganz andere Aspekte, die durchaus auch emotionsbeladen sein können, hereinkommen. Nachdem die Synergetik zunächst an konkreten Problemen der Physik entwickelt worden ist, kann sich leicht der Verdacht einstellen, daß einem Physikalismus das Wort geredet wird, wenn die Synergetik auf andere als physikalische Prozesse angewendet wird. Dies ist aber keineswegs der Fall, da es sich eben hier um eine mathematische Theorie handelt, die unter anderem auch auf physikalische Vorgänge angewendet werden kann, ebenso gut aber auch auf Prozesse in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Möglichkeit der mathematischen Formulierung bietet einerseits die Gewähr für eine präzise Darstellung der Aussagen, macht es aber auch schwierig, die Thematik dem Nichtmathematiker oder dem nicht mit der Mathematik so Vertrauten näherzubringen. Deshalb habe ich in der Vergangenheit immer wieder auf einfache Modellbeispiele aus der Physik zurückgegriffen. Dies hat aber etwa zu dem Mißverständnis geführt, daß diese synergetischen Systeme nicht lernen könnten, was aber bei Vorgängen, die in der Soziologie betrachtet werden, durchaus der Fall ist. In der Tat können aber auch synergetische Systeme lernen, so daß dieser Einwand hinfällig ist. Wagen wir es also, mit einem einfachen Beispiel aus der Physik zu beginnen.
111. Einfache Modellbeispiele aus der Physik -
Das Laserparadigma
Laser gibt es in den verschiedensten Ausführungen. Ein Beispiel ist der Gaslaser, bei dem sich ein Gas aus Atomen in einer Glasröhre befindet. An den Enden der Glasröhre sind zwei Spiegel montiert. Diese dienen dazu, einmal entstandenes
Hermann Haken
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Lichtfeld
Lichtfeld
ILaserl
ILampel
Zeit
Unordnung
Zeit
Ordnung
Abb. 1 a, b: Unterschied zwischen dem Licht einer Lampe und dem eines Lasers. a) Links: Das Licht einer Lampe besteht aus einzelnen unzusammenhängenden Wellenzügen. b) Rechts: Das Licht des Lasers ist ein zusammenhängender praktisch unendlicher Wellenzug
Licht, das in axialer Richtung läuft, häufig zu reflektieren, so daß diese Art von Lichtwelle dann sehr stark mit den Atomen des Gases in Wechselwirkung treten kann. Die einzelnen Atome werden durch einen durch das Gas hindurchgeschickten elektrischen Strom angeregt; anschaulich gesprochen wirkt dann ein solches angeregtes Atom wie eine Miniaturantenne, die aber statt einer Radiowelle nun eine Lichtwelle von begrenzter Dauer aussendet. Sind einige solcher Atome angeregt, so senden diese unabhängig voneinander ihre Lichtwellen aus; es kommt zum mikroskopisch chaotischen Licht (Abb. 1 a). Dies ist genauso, als wenn wir eine Handvoll Kieselsteine ins Wasser werfen; es entsteht eine wild bewegte Wasseroberfläche. Erhöhen wir aber nun die Stromzufuhr, so schlägt das Verhalten des Lichtes bei einer bestimmten kritischen Stromzufuhr völlig um. An die Stelle der völlig ungeordneten Lichtwellenzüge tritt ein gigantischer, einzelner, hochgeordneter Lichtwellenzug (Abb. 1 b). Dies kann nur so verstanden werden, daß die einzelnen Miniaturantennen nun völlig geordn~t Licht ausstrahlen, oder, wie der Physiker sagt, in Phase. Da aber niemand da ist, der den einzelnen Atomen sagt, daß sie sich so verhalten müssen, handelt es sich hier um einen typischen Effekt der Selbstorganisation. Wie kommt dieser zustande? Dazu müssen wir die Lichtentstehung etwas genauer untersuchen. Ist ein Atom energetisch angeregt, so kann dieses nicht nur plötzlich spontan einen Lichtwe1lenzug aussenden, sondern es kann auch, wenn es von einem anderen Lichtwellenzug getroffen wird, diesen verstärken. Dies ist der von Einstein eingeführte Prozeß der induzierten Ausstrahlung. Sind eine Reihe von Atomen angeregt und ist eine Lichtwelle einmal erzeugt, so kann es ersichtlich zu einer Art Lichtlawine kommen; die Stärke des Lichtfeldes wächst immer mehr an. Allerdings gibt es, wie eine nähere Untersuchung zeigt, verschiedene Arten von Lichtwellen, die
Struktur und Gestalt in den neueren Selbstorganisationstheorien
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sich in ihrer Frequenz voneinander unterscheiden: eine schwingt etwas schneller, eine andere etwas langsamer. Je nachdem, welche verschiedenen Lichtwellen ursprünglich emittiert worden sind, kommt es zur Ausbildung verschiedener Lichtlawinen. Davon gewinnt diejenige, die die Atome am besten energetisch anzapfen kann, den Wettbewerb und überlebt; alle anderen Lichtwellen sterben aus. Wir haben also auch hier schon in der unbelebten Natur das Prinzip des Darwinismus. Die so selektierte Lichtwelle kann aber nicht beliebig stark anwachsen, da sonst die Energiezufuhr unendlich rasch erfolgen müßte. Es stellt sich so ein Gleichgewichtszustand ein, wenn ständig Energie durch den elektrischen Strom an die Atome in einer konstanten Weise nachgeliefert wird. Die so entstandene Lichtwelle zwingt nun die Atome in ihren Bann; sie zwingt sie so zu schwingen, daß diese Lichtwelle ständig phasengerecht verstärkt wird. Die so entstandene Lichtwelle beschreibt also die Ordnung im Laser, zugleich zwingt sie die einzelnen Atome zu einem geordneten Verhalten. Aus diesem Grunde heißt diese Lichtwelle der "Ordnungsparameter". Hierbei beobachten wir eine zirkuläre Kausalität: Die Lichtwelle, der Ordnungsparameter, zwingt die Atome in ihren Bann, umgekehrt unterstützen die Atome die Lichtwelle. Im technischen Jargon der Synergetik versklavt die Lichtwelle, der Ordnungsparameter, die einzelnen Teile, nämlich die Atome. Wie die mathematische Untersuchung zeigt, unterscheiden sich der Ordnungsparameter und die versklavten Teile durch ein wichtiges Charakteristikum: Stört man die Lichtwelle und hört die Störung auf, so kehrt die Lichtwelle langsam in ihren ursprünglichen Zustand zurück, die Atome hingegen kehren nach einer solchen Störung schnell zurück. Mit anderen Worten, Ordnungsparameter adaptieren langsam, versklavte Teilsysteme adaptieren schnell. Dies wird ein wichtiges Kriterium für spätere Anwendungen sein, von denen wir etwa Gehirnvorgänge hier vorwegnehmen wollen. Sinneswahrnehmungen geschehen in einem Bruchteil einer Sekunde, größenordnungsmäßig ca. in einer Zehntelsekunde. Prozesse auf neuronaler Ebene laufen hingegen in Millisekunden ab. Wir haben hier offensichtlich eine Zeitskalentrennung vor uns, die es gestattet, die synergetischen Konzepte auf Wahmehmungsprozesse anzuwenden, wie wir weiter unten noch sehen werden. Der Umschlag der Lichtausstrahlung von dem mikroskopisch-chaotischen Zustand in den hochgeordneten Laserzustand wird ausgelöst durch eine Änderung des elektrischen Stroms, d. h. mit dem elektrischen Strom können wir das Verhalten des Systems kontrollieren, er heißt deshalb "Kontrollparameter". Für eine Reihe von Anwendungen ist es nützlich, das Verhalten des Ordnungsparameters in der folgenden Weise zu beschreiben: Wir identifizieren die Größe des Ordnungsparameters (des Lichtfeldes) mit der Lage eines Balls oder einer Kugel in einer Gebirgslandschaft. Ist die Stromzufuhr noch gering, so hat die Gebirgslandschaft die in Abb. 2 angegebene Form. Nach jedem Emissionsakt
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Hennann Haken
einer Lichtwelle wird die Kugel anschaulich den Berg hinaufgestoßen, kehrt aber dann in die Gleichgewichtslage bei Null zurück. Die einzelnen Ausstrahlungsprozesse führen so ersichtlich zu unabhängigen Stößen des Balls in dieser Gebirgslandschaft, wobei der Ball um den Mittelwert Null herumschwankt. Wird die Stromzufuhr erhöht, so deformiert sich die Gebirgslandschaft und nimmt die Gestalt von Abb. 3 an. Hier ist die Talsohle sehr flach, d. h. die rücktreibenden Kräfte sind sehr klein. Wird nun der Ball wieder Stößen ausgesetzt, so kann er starke Schwankungen erleiden, außerdem rollt er sehr langsam auf den ursprünglichen Gleichgewichtszustand bei Null zurück. Diese Phänomene werden als "kritische Fluktuationen" bzw. "kritisches Langsamerwerden" bezeichnet. Sie sind typisch für Selbstorganisationsphänomene, wenn nämlich die Selbstorganisation einsetzt oder wenn es zum Umschlag zwischen verschiedenen Zuständen kommt. Wird die Stromstärke weiter erhöht, so entsteht schließlich die in Abb. 4 angege-
V(q)
V(q)
q
q Abb. 2: Veranschaulichung des zeitlichen Verhaltens des Ordnungsparameters q durch eine Kugel in einem Potentialgebirge. Die Lage q = 0 ist stabil
Abb. 3: Wie Abb. 2, aber im Übergangsbereich für den Kontrollparameter, wo das Tal sehr flach geworden ist. Hier treten kritische Fluktuationen und kritisches Langsamerwerden auf
V(q)
q Abb. 4: Wie Abb. 2, aber jenseits des Instabilitätspunktes, wo nun zwei stabile Lagen möglich sind
Struktur und Gestalt in den neueren Selbstorganisationstheorien
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bene Gebirgslandschaft. (Tatsächlich ist die Gebirgslandschaft beim Laser noch komplizierter, da hier die Lichtwellenamplitude eine komplexe Größe ist.) Für unser Beispiel genügt es aber, wenn wir den Ordnungsparameter als reelle Größe behandeln; dann haben wir die hier angegebene Gebirgslandschaft vor uns. An die Stelle des einen Tals in Abb. 2 sind nun zwei Täler, d. h. zwei mögliche Gleichgewichtslagen für den Ordnungsparameter, getreten. Die Lage bei Null ist hingegen auf einer Bergkuppe, d. h. instabil. Welches Minimum die Kugel nun annimmt, hängt von einer mikroskopisch-l}leinen Schwankung ab. Dies ist beim Laser der Prozeß der spontanen Ausstrahlung einer Lichtwelle durch ein einzelnes Atom, also ein mikroskopischer Prozeß. Trotzdem entscheidet er über den weiteren Verlauf des Systems, das dann schließlich makroskopische Lichtwellenwerte annimmt, wenn nämlich die Kugel eine Talsohle erreicht hat. Die Bedeutung dieser Verstärkung mikroskopischer Vorgänge ins Makroskopische kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Mikroskopische Schwankungen entscheiden das makroskopische Verhalten. Hier tritt typisch eine Historizität auf, die wir sonst nur in komplexen Systemen, etwa in der Soziologie, kennen.
IV. Bewegungskoordination Ein typisches Merkmal aller höheren Lebewesen ist die schier unglaubliche Koordination zwischen den einzelnen Teilen, wie etwa Muskelzellen, Neuronen, Gewebezellen, Knochenzellen, etc.. Diese Koordination wird deutlich bei der Morphogenese, aber auch bei der Fortbewegung, bei der Bewegung von Gliedern, bei der Atmung, beim Kreislauf, usw .. Offensichtlich liegt eine höchst komplexe Koordination bei den mentalen Leistungen, etwa des Menschen, vor. Diese hohe Koordination wurde von jeher als ein wichtiges Problem der Physiologie erkannt. So prägte bereits um die Jahrhundertwende der berühmte Physiologe Sherrington das Wort von der Muskelsynergie. Bernstein 12 widmete sich dieser Problematik, wobei er besonders die Bedeutung von wenigen Freiheitsgraden hervorhob. Wo können bei dieser Problemstellung die Konzepte der Synergetik zum Tragen kommen? Wir müssen hierbei nach speziellen makroskopischen Mustern bei Bewegungsvorgängen, also Bewegungsmustern, Ausschau halten und müssen deren Übergänge studieren, da ja bei Übergängen die Konzepte der Synergetik besonders zum Tragen kommen sollen. Aus diesen Erwägungen heraus führte ich die verschiedenen Gangarten von Pferden und deren Übergänge als Beispiel solcher Prozesse an 13. Für mich war es ein glücklicher Umstand, als vor einigen Jahren Scott Kelso, USA, mich besuchte und mir von seinen Fingerexperimenten berichtete. Er sagte Testpersonen, daß diese ihre Zeigefinger parallel bewegen 12
N. A. Bernstein, Bewegungsphysiologie, 2. Aufl., Johann Ambrosius Barth, Leipzig
13
H. Haken, in: Synergetics of the Brain, E. Basar, H. Flohr, H. Haken, A. J. Mandel!
(1988)
(eds.) (1983)
2 Selbstorganisation, Bd. 5
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Abb. 5: Veranschaulichung des Verhaltens des Ordnungspararneters ,,Phase" durch Bewegung einer Kugel in einem Potentialgebirge. Dieses wird von oben links nach unten rechts deformiert, wenn die Fingergeschwindigkeit erhöht wird. Die Abb. links oben symbolisiert die parallele Fingerbewegung. Abb. rechts unten entspricht mit der Lage der Kugel der symmetrischen Fingerbewegung
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sollen. Wurden die Personen aber veranlaßt, ihre Finger schneller und schneller zu bewegen, so schlug die parallele Bewegung plötzlich unwillkürlich in eine antiparallele symmetrische Bewegung um 14. Hier hatte ich also ein Paradebeispiel für ein Bewegungsmuster und dessen Umschlag in ein anderes vor mir. Der Testfall für die Synergetik im biologischen Bereich der Bewegungskoordination war hier gegeben. Was ist hier der Ordnungsparameter? Die makroskopische Größe, die wir hier messen können, ist die relative Phase zwischen den Fingern. Nun kennen wir aus der Synergetik die für einen einzigen Ordnungsparameter typischen Gleichungen, die sich für einen Ordnungsparameter immer als Bewegung einer Kugel in einer Potentiallandschaft interpretieren lassen. Aus der Annahme, daß die Fingerbewegung periodisch und symmetrisch ist, und ein Austausch von Minima stattfindet, ergibt sich sofort die Potentiallandschaft von Abb. 5, wobei von links oben nach rechts unten hin die Fingerbewegungsgeschwindigkeit erhöht wird 15. Die parallele Lage der Finger entspricht der Lage der Kugel im oberen Minimum. Wird die Geschwindigkeit erhöht, so wird die Lage flach und die Kugel fällt in das tiefere Minimum, was der antiparallelen symmetrischen Fingerbewegung entspricht. Hier lassen sich aber sofort einige echte Voraussagen anschließen. Fängt man nämlich bei einer Person mit symmetrischer Fingerbewegung bei hoher Geschwindigkeit an und erniedrigt die Geschwindigkeit, so sagt dieses Modell voraus, daß die Person nicht mehr in die parallele Fingerbewegung zurückkehren wird, der Ball kann ja nicht vom niedrigen Niveau auf das höhere Niveau spontan springen. Dieser Hystereseeffekt wurde tatsächlich von Kelso beobachtet. Bei Selbstorganisationsprozessen erwarten wir, wie schon oben am Laserbeispiel angegeben, kritische Fluktuationen in der Übergangszone. Diese wurden ebenfalls von Kelso beobachtet und stehen in hervorragender quantitativer Übereinstimmung mit einem von Schöner, Haken und Kelso entwickelten stochastischen Modell im Rahmen der Synergetik 16. Auch das kritische Langsamerwerden bei Störungen wurde von Kelso gefunden. Inzwischen wurden von einer Reihe von Experimentatoren weitere ähnliche Experimente bei Korrelationen zwischen Hand- und Arrnbewegungen, bei Beinbewegungen, etc. durchgeführt und führten zu entsprechenden Resultaten. Warum sind diese Experimente und ihre Deutung im Rahmen der Synergetik so wichtig? Häufig wird bei der Bewegungskoordination von Steuerung mit Hilfe von Motorprograrnmen gesprochen, wobei das Gehirn als Computer aufgefaßt wird. Bei derartigen Motorprograrnmen ist aber das Auftreten kritischer fluktuationen nicht verständlich. Es handelt sich also hier nicht um die Verwirklichung eines Motorprograrnms, sondern um einen Selbstorganisationseffekt. Damit soll 14
15
16 2*
J. A. S. Kelso, Am. J. Physiol.: Reg. Integ. Comp. 15, Rl000-RlO04 (1984) H. Haken, J. A. S. Kelso, H. Bunz, Biol. Cybem. 51, 347-356 (1985) G. Schöner, H. Haken, J. A. S. Kelso, Biol. Cybemetics, 53, 442 (1986)
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allerdings nicht gesagt sein, daß das Konzept des Motorprogramms völlig über den Haufen geworfen werden muß, nur darf man sich dessen Realisierung nicht durch einen normalen Computer vorgestellt denken. Das Motorprogramm ist eher durch einen Satz von inneren "constraints" (Bedingungen) zu ersetzen, wobei für Selbstorganisationsvorgänge noch ziemlicher Freiraum bleibt. In der Tat haben eingehende Untersuchungen anderer Forscher gezeigt, daß, wenn wir z. B. nach einem Gegenstand greifen, die Trajektorie unseres Arms keineswegs immer gleich ist, sondern daß hier eine ganze Variationsbreite vorliegt. Die Analogie mit einem Potentialgebirge scheint hier angemessen. Durch unsere Absicht, einen bestimmten Körper an einem bestimmten Punkt zu ergreifen, wird ein (abstraktes) Potentialgebirge im Gehirn etabliert. Unter dem Einfluß von Fluktuationen sucht dann die Kugel ihren Weg zum Minimum. Die Kugel selbst repräsentiert dabei einen oder eventuell auch mehrere Ordnungsparameter, die also hier abstrakt einem Ziel zustreben. Nach dem Versklavungsprinzip sind mit den Ordnungsparametern aber die Bewegungen der einzelnen Teile, im vorliegenden Falle z. B. der Muskelzellen, vorgegeben. Die Synergetik entwickelt hier so ein Bild, das von den herkömmlichen verschieden ist, das aber bereits im konkreten Fall der Fingerbewegung und anderen Bewegungen getestet werden konnte. Übrigens ist die Modellierung der Bewegung der Phase für uns nur ein erster Schritt gewesen. Die Bewegung eines einzelnen Fingers wurde schon von Kelso und Mitarbeitern mit Hilfe eines Oszillatormodells (Van der Pol oder Rayleigh Oszillator) modelliert. Entscheidend war aber nun die Einführung der adäquaten Kopplung zwischen den Bewegungen der beiden Zeigefinger. Hier konnte erst die Synergetik den richtigen Weg weisen. Es zeigte sich nämlich, daß die Kopplung nichtlinear und geschwindigkeitsabhängig ist. Erst so ließ sich dann die Gleichung für die relative Phase herleiten. Zugleich gestattet ein solches Kopplungsglied auch Kopplungen mit höheren harmonischen Frequenzen, worauf wir aber hier nicht eingehen wollen.
v. Wahrnehmung Bisher hatten wir es noch mit relativ einfachen Mustern zu tun. Inwieweit können Ordnungsparameter auch komplexe Muster beherrschen? Betrachten wir hierzu ein Modell der Wahrnehmung, wobei wir als konkretes Beispiel Wahrnehmungsinhalte verschiedener Gesichter ansehen wollen. Jeder solcher Wahrnehmungsinhalte wird von einem bestimmten Ordnungsparameter regiert. Die grundlegende Idee ist nun die folgende: Wir fassen Wahrnehmung von Mustern als einen Musterbildungsprozeß auf. Anstelle die Mathematik zu bemühen, beginnen wir wieder mit einem einfachen Beispiel aus der Physik, nämlich einer von unten erhitzten Flüssigkeit in einem kreisrunden Gefäß. Wird die Flüssigkeit von unten erhitzt, so kann sie spontan makroskopische Muster bilden, z. B. in der Form von Rollen, die in bestimmter Weise orientiert sind. Eine solche Flüssigkeit ist
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nun multistabil, d. h. die Rollen können in verschiedenen Richtungen von Versuch zu Versuch ausgeprägt werden (vgl. Abb. 6). Gibt man nun in einem Computerexperiment nur einen Teil einer Rollenkonfiguration vor, so gelingt es der Flüssigkeit, das gesamte Rollensystem in der betreffenden Richtung zu vervollständigen. Bei einer anderen Richtung der ursprünglich vorgegebenen Rolle wird das gesamte Rollensystem in der entsprechenden Richtung ergänzt. Bringt man schließlich die Flüssigkeit in eine Konfliktsituation, bei der zwei verschiedene Rollen vorgegeben sind, so gewinnt diejenige Rolle den Wettbewerb, die ursprünglich etwas stärker als die andere ausgeprägt war. Die hier geschilderten Vorgänge können wie folgt mit Hilfe des Ordnungsparameterkonzepts wiedergegeben werden. Jede Rollenkonfiguration wird durch einen Ordnungsparameter regiert. Wird nur ein Teil einer Konfiguration vorgegeben, so schafft sich das System den zugehörigen Ordnungsparameter und in schwächerem Ausmaß auch noch andere. Es findet nun ein Wettbewerb zwischen Ordnungsparametern statt, den derjenige Parameter gewinnt, der ursprünglich am stärksten vertreten war. Nach dem Versklavungsprinzip der Synergetik prägt dieser dann dem gesamten System die Struktur auf. Mustererkennung bedeutet nun nichts anderes. Hier sind nämlich zunächst einige Merkmale vorgegeben, z. B. die Nasen- und die Augenpartie eines Gesichts. Dann gelingt es einem assoziativen Gedächtnis, hieraus das gesamte Gesicht und eventuell auch noch den zugehörigen Namen zu rekonstruieren. Der Vorgang ist der gleiche; z. B. Augen- und Nasenpartie schaffen den zugehörigen Ordnungsparameter, dieser tritt in Wettbewerb mit allen anderen, gewinnt diesen und zwingt so das gesamte System, in diesem Fall das Erkennungssystem, in den endgültigen Zustand. Nun ist natürlich das Rollensystem der Abb. 6 ein viel einfacheres Muster als z. B. ein Gesicht. Überraschenderweise gelingt es aber auch bei Gesichtern, eine Zuordnung zwischen Ordnungsparametern und den Gesichtern zu finden, was durch die Konstruktion unseres synergetischen Computers in allen Einzelheiten dargelegt werden konnte 17. Wir begnügen uns mit der Darstellung der Resultate, um dem Leser ein Gefühl für die hier ablaufenden Prozesse zu geben. Zunächst werden im Computer einige Gesichter als Prototypen eingespeichert; Beispiele sind hierzu in Abb. 7 gegeben. Diese Gesichter können übrigens auch vom Computer gelernt werden. Wird nun dem Computer ein Teil eines Gesichts (vgl. Abb. 8) angeboten, so gelingt es diesem, aufgrund des Wettbewerbs der zugehörigen Ordnungsparameter, das Gesicht zum vollständigen Gesicht sogar mit Namen, der als Buchstaben kodiert ist, zu rekonstruieren. Das wohl wichtigste Resultat unserer Rechnungen ist, daß hier der Nachweis erbracht ist, daß auch komplizierte Konfigurationen durch Ordnungsparameter bestimmt sind, und zwar im vorliegenden Fall durch Konkurrenz zwischen Ordnungsparametern selektiert werden. Der Computer kann übrigens auch verzerrte Gesichter, oder hoch- oder tief-pass-gefiltere Gesichter, oder auch verrauschte Gesichter sehr gut erkennen. 17
H. Haken und M. Haken-Krell, Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung, DVA (1992)
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0)
b)
c)
T= 0.0
T= 0.0
T= 0.0
T= 3.0
T= 3.0
T= 10.0
T= 7.0
T= 7.0
T = 60.0
T = 200.0
T=200.0
T 200.0
=
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VI. Analyse von EEG-Daten Zu unserer eigenen Überraschung ist das Ordnungsparameterkonzept gut zur Analyse von EEG-Daten geeignet. Hierzu benutzten wir Daten von Lehmann, Zürich, der a-Wellen maß, indem er einen Satz von Elektroden (15 oder 25) auf der Schädeldecke befestigte und den Potential verlauf von jeder Elektrode maß. Es gelingt dann, den raumzeitlichen Verlauf der elektrischen Aktivität zu erschließen 18. Ausgehend von unserer Hypothese, daß das Gehirn sich nahe an Instabilitätspunkten aufhält, schlossen wir, aufgrund der allgemeinen Ergebnisse der Synergetik, daß nur wenige Grundmoden (Konfigurationen) einem EEG zugrundeliegen. Durch eine sog. Loeve-Karhunen-Analyse konnten wir diese Grundmoden bestimmen. Bei einem epileptischen Anfall sind dies lediglich drei Moden mit den zugehörigen Ordnungsparametern, bei a-Wellen bei einer ruhenden Person fünf. Durch diese Ordnungsparameter und der von ihnen regierten Konfigurationen können 97 Prozent der gemessenen jeweiligen Intensität erfaßt werden. Inzwischen ist es uns auch gelungen, die detaillierte Dynamik der Ordnungsparameter beim epileptischen Anfall zu bestimmen. Sie bilden einen sogenannten chaotischen Attraktor von niedriger fraktaler Dimension. Damit konnte auch bei bestimmten EEG-Analysen das Ziel, die Ordnungsparameterdynamik zu bestimmen, erreicht werden.
VU. Versklavung, Konsensualisierung, Einbindung Fassen wir den Laser als ein Gleichnis auf, der uns zu abstrakten Begriffsbildungen, wie Ordner, Kontrollparameter, Versklavung, Instabilität, verhilft, so können wir den Versuch unternehmen, die abstrakte mathematische Formulierung in den Sprachgebrauch der Soziologie zu übersetzen. Hierbei ist mir bewußt, daß der Gebrauch des Wortes Versklavung in der Soziologie nicht akzeptabel ist, so daß wir ihn hier besser durch Einbindung oder Konsensualisierung ersetzen. Die typische Beziehung zwischen Ordner und den einzelnen Teilen bleibt aber dabei erhalten. Ein Beispiel für diese Beziehung stellt die Sprache dar, die ja gegenüber der Lebensdauer eines Menschen nur langsam veränderlich ist. Wird ein Baby 18 A. Fuchs, R. Friedrich, H. Haken, D. Lehmann, in: Computational Systems Natural and Artificial, H. Haken (ed.), Springer, Berlin (1987)
zu Seite 22: Abb. 6: Computersimulation der zeitlichen Entwicklung eines Rollenmusters einer flüssigkeit oberhalb des ersten Instabilitätspunktes, wenn eine Rollenrichtung vorgegeben wird. Spalte a) von oben nach unten: zeitliche Entwicklung des Rollensystems unter der oben angegebenen Anfangsbedingung. Spalte b): zeitliche Entwicklung des Rollensystems bei einer anderen Rollenrichtung. Spalte c): Entwicklung des Rollensystems, wenn zwei Rollen ursprünglich vorgegeben wurden, von denen die eine etwas stärker als die andere ausgeprägt ist
Abb. 8: Ergänzung eines Gesichtes aus einem Teil zum vollständigen Gesicht
Abb. 7: Beispiel für im Computer gespeicherte Gesichter
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geboren, so wird es der Sprache ausgesetzt, lernt diese Sprache und trägt dann die Sprache weiter - die Sprache ist ein Ordnungsparameter. Im jetzigen Kontext ist wichtig, daß zum Beispiel auch das Betriebsklima oder das Firmenimage als Ordnungsparameter erscheinen. Bei all diesen hier auftretenden Ordnern handelt es sich um Ordnungsphänomene, die durch Rückkopplung, über die einzelnen Teile nämlich, stabilisiert werden. Für viele Zwecke ist es wichtig zu erkennen, wodurch solche Ordnungszustände geschaffen bzw. geändert werden können. Hierzu gibt es zwei Wege, nämlich durch direkte Ansteuerung der einzelnen Teile, wie sie in der Kybernetik untersucht wird. Sind die Teile zahlreich, so kann diese Ansteuerung außerordentlich aufwendig werden. In der Synergetik hingegen tritt das Konzept der indirekten Steuerung durch Kontrollparameter auf, wobei die äußerlichen Betriebsbedingungen, z. B. am Laser die Stromstärke, geändert werden, das System aber durch Selbstorganisation darauf reagiert. Hier setzt, wie die Synergetik ganz allgemein zeigt, der folgende Mechanismus ein: Bei einem Kontrollparameterwert sei ein stabiler Zustand erreicht. Wird dieser Kontrollparameterwert geändert, so kommt es zu einer Verunsicherung des Systems, die sich in sogenannten kritischen Schwankungen äußert, das System fluktuiert sehr stark, außerdem kehrt es sehr langsam in die Gleichgewichtslage zurück (Abb. 2-3!). Das sind Verhältnisse, wie sie in destabilisierten Wirtschaftssystemen, etwa in der jetzigen Nachsowjetunion, beobachtet werden können. Wird der Kontrollparameter noch weiter erhöht, so kann das System im Prinzip mehrere neue stabile Zustände einnehmen, von denen es sich zu einem entscheiden muß. Dies geschieht durch zufällige Schwankungen, die aber auch durch kleine Eingriffe in das System gesteuert werden. Diese Untersuchungen haben wichtige Konsequenzen auch für Managementtheorien und Managementpraxis. VIII. Einige Konsequenzen für Managementstrategien 19 Das Beispiel des Lasers mag hier als Metapher dienen, wenngleich tiefergehende Fundierungen durch konkrete Modelle, die im Rahmen der Synergetik möglich sind, die weiteren Aussagen näher untermauern können. Wie das Laserbeispiel zeigt, tritt hier eine horizontale Organisationsform auf, wobei die einzelnen Teile über den Ordnungsparameter miteinander Information austauschen und schließlich zu einer optimalen Wirkungsweise gelangen. Hierbei wird der sogenannte Informationsflaschenhals, der in stark hierarchisch gegliederten Betrieben oder auch in den ehemaligen Ostblockländern auftrat, vermieden. Unter dem Kollektiveinfluß des Ordnungsparameters richtet sich der einzelne Teilnehmer nach den allgemeinen Verhältnissen. Dies entspricht übrigens auch genau den Vorstel19 H. Haken, in: Evolutionäre Wege in die Zukunft, Henning Balck und Rolf Kreibich (Hrsg.), Beltz (1991)
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lungen von Friedrich August von Hayek, der auf die Wichtigkeit der verteilten Intelligenz hingewiesen hat und eine Zentralintelligenz nicht für möglich hielt. Wie unsere Ausführungen zeigen, ist das Auffinden der richtigen Kontrollparameter von ausschlaggebender Bedeutung. Dies erfordert für jeden Betrieb eine genaue Kenntnis der jeweiligen Verhältnisse. Ebenso wichtig ist aber die Schaffung einer richtigen Anfangsbedingung für das Einsetzen der Selbstorganisation, da, wie mathematische Beispiele zeigen, der Vorgang bis zum Einsetzen der Selbstorganisation sehr langsam sein und nur durch gezielte Maßnahmen beschleunigt werden kann. Hierbei ist das Phänomen des Symmetriebruchs zu beachten, wobei eine selbständig arbeitende Gruppe in verschiedene Richtungen laufen kann, z. B. im Sinne auch von Cliquenbildungen, etc .. Hier wird dann das Klima der Clique zum Ordnungsparameter, dem man zum Beispiel durch job rotation entgegenwirken kann. IX. Abschließende Bemerkungen In den vorangegangenen Abschnitten habe ich versucht, die abstrakte Theorie, die der Synergetik zugrundeliegt, an zunächst einfachen Beispielen zu erläutern, um hier grundlegende Begriffe wie Ordnungsparameter und Versklavung zu erläutern. Sodann habe ich gezeigt, wie diese Konzepte und zugrundeliegenden Methoden auch zur Behandlung von Phänomenen der Selbstorganisation in komplexen Systemen verwendet werden können. Daß es sich hierbei nur um einen kleinen Ausschnitt handeln konnte, belegen in eindringlicher Weise die bisher erschienenen mehr als sechzig Bände der Springer Se ries in Synergetics. Es ist dabei sicher für den philosophisch Interessierten oder Fachphilosophen interessant zu sehen, wie Begriffe, wie sie bereits bei Schelling auftraten, zum Teil wieder neu erscheinen, wobei sich allerdings wohl nicht nur die Gewänder geändert haben. Diese Bemerkung bedeutet keine Kritik an dem genialen Werk Schellings mit seiner Naturphilosophie, soll aber den Blick für eine differenziertere Betrachtungsweise schärfen.
Selbstorganisation als Metapher Von Walter E. Ehrhardt, Hannover In verschiedenen Forschungsbereichen ist in den letzten Jahren das Bedürfnis aufgetreten, Erscheinungen mit dem Paradigma der Selbstorganisation zu beschreiben. Einige Beobachtungen im Bereich der Physik und der Biologie legten dieses Modell nahe, so nahe, daß die Scheu vor Assoziation mit der vielgeschmähten Naturphilosophie des vorigen Jahrhunderts vergessen wurde, ja sogar die Universalisierbarkeit dieses Modells wieder in Betracht gezogen wurde. M. L. Heuser-Keßler 1 hat das Verdienst, zuerst konsequent die vor allem von J. Prigogine und H. Haken entfachte Diskussion um die Theorie der Selbstorganisation auf Schellings Naturphilosohie zurückbezogen zu haben. Damit wurde eine wissensehaftsgeschichtliche Verbindung hergestellt, die noch in vielen Einzelforschungen Anlaß geben wird, den Verlust historischer Kontinuitäten auf Reaktivierbares hin zu überprüfen. Die Faszination, die gegenwärtig von dem Modell der Selbstorganisation ausgeht, scheint aber, obwohl das Paradigma der Selbstorganisation in Detailforschungen erforderlich wurde, nicht nur von diesen getragen zu werden. Das Vokabular, das einen Prozeß der Versklavung in die Natur setzt oder als Ziel und Hoffnung ihrer Turbulenzen das Gleichgewicht nennt, berührt zu sehr die Lebenswelt aller, als daß glaubhaft versichert werden könnte, dies sei nur wertfreie Fachterminologie eines Spezialgebietes, die ausdrücklich auf jeden Anspruch an eine größere Öffentlichkeit Verzicht leiste. Sind aber philosophische Motive in der Debatte um Phänomene der Selbstorganisation nachzuweisen, so entsteht der Verdacht, daß Metaphern zu Prinzipien erhoben wurden und gesellschaftliche oder ethische Konsequenzen suggeriert werden, die in das Gebiet der Religion reichen. Die Übertragungen der Vorstellungen von Versklavung, Spiel und Zufall auf Grundprozesse der Natur, wenn auch als analoge Veranschaulichung gemeint, wirken doch sehr stark zurück in die Bereiche, denen diese Bilder entnommen wurden. Wie leicht könnte z. B. ideologischer Mißbrauch Rechtfertigungen in der Allgemeinheit eines Selektionsprinzips in der Natur suchen! Eine kritische Prüfung der Metapher "Selbstorganisation" scheint daher geboten, auch unabhängig von der Frage nach der Adäquatheit ihrer Anwendung auf Ergebnisse der modemen Naturwissenschaft. 1 Vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986.
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Als philosophiegeschichtlich nächstliegend wurde von M. L. Heuser-Keßler der Bezug zu Schelling nachgewiesen. Die Klärung der Schwierigkeiten der Metapher "Se1bstorganisation" darf daher wohl auch zunächst im Hinblick auf Schellings Philosophie versucht werden. Zum Ausgang wähle ich einen Sachverhalt, der zunächst extrem weitab zu liegen scheint von allen Themen, welche die Debatte um die Selbstorganisation veranlaßten: die Zeugung Christi. Der Einwand: "Das gehört nicht hierher", darf nicht unangesprochen bleiben. Die Wissenschafts geschichte kennt genügend Beispiele, wie im Bereich der Religion erprobte Kalküle mittels der gleichen Bildlichkeit in anderen Gebieten Staunen erzeugten. Schelling wollte sich sogar "anheischig machen [ ... ], die ganze Naturphilosophie in Symbolen der Mythologie darzustellen" (V, 446)2, und die metereologischen Kausalitäten des brasilianischen Schmetterlingsflügeis kann man z. B. ohne weiteres nach C. A. H. Clodius zitieren, einem Zeitgenossen Schellings, dem man eine gewisse, bisher, obwohl sein Umgang mit Schelling bezeugt ist, nicht beachtete Priorität in der Gegenüberstellung von positiver und negativer Philosophie einräumen muß3. Clodius schreibt: "Die göttliche Allmacht gebraucht die Schwingung eines Mückenflügels, um Riesenlasten Schneees von den Alpen zu stürzen, ... "4, und auch Prigogine bemüht bei der Imagination der Zufalligkeit unübersehbar die Erinnerung an einen transzendenten Gott (vgl. o. FN. 1, S. 73) aus "gewissen talmudischen Texten" (ebda. S. 79), um die Konsequenzen seiner Theorie anzudeuten. Ebenso ist Schellings These der universalen Selbstorganisation nie auf den Bereich der Natur beschränkt geblieben, ja wohl nicht einmal primär für diesen entworfen worden. Die Frage, wie Freiheit und Notwendigkeit zusammengefügt sein sollen, ist von zu allgemeinem Interesse, als daß eine Beschränkung auf die Lösungen, die in Detailforschungen erforderlich wurden, wirklich eingehalten werden könnte und nicht verborgen Vorstellungen anderer Bereiche betroffen würden, was folglich besser ausdrücklich geschieht. Das Problem, wie fundierende Indeterminiertheit und Evolution freier Selbstorganisation mit resultierenden, geordneten Zuständen verbunden werden können, zeigt sich schon im theogonischen Prozeß der griechischen Mythologie: Zeus ist das Ende der alles verschlingenden Gottheiten. Mit seiner Herrschaft zeigen sich auch die Götter wie "eine Succession, die innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt" (11, 349).5 Schellings Bestimmung der Götter allein durch ihre Unterschiedenheit voneinander habe ich bereits früher eine Vorwegnahme von Strukturalismus 5 genannt. Zeus herrscht anders als die 2 I - XIV, n .. arab. werden hier verkürzt zitiert = Schellings sämmtliche Werke, Stuttgart 1856-61. 3 Vgl. C. A. H. Clodius, Grundriß der allgemeinen Religionslehre, Leipzig 1808, S. 62 f. 4 C. A. H. Clodius, Gott in der Natur, in der Menschengeschichte und im Bewußtsein, Bd. 2, Leipzig 1820, S. 302. 5 Vgl. W. E. Ehrhardt, Nur ein Schelling. In: Studi Urbinati LI Nuova Serie B, N. 1-2, Urbino 1977, S. 118.
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voraufliegende, nur mit dem turbulenten Übermut der Titanen dem Chaos entgegentretende Götterformation: Zeus herrscht, ohne seine Kinder zu verschlingen. Aber seine Herrschaft ist relatives Gleichgewicht, ist, wie Demeter und Prometheus 6 wissen: vergänglich. Versklavungsprozesse mit dem Telos universeller Ordnung sind erst im Horizont eines monotheistisch geprägten Bewußtseins denkbar. Mit diesem erst wird, wie immer sein oberstes Prinzip genannt wird, die Einführung eines freien Gliedes in vorgegebene systematische Bedürfnisse zu dem logischen Problem, das sich traditionell als Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit darstellt. Das Bewußtsein der Mythologie hat, It. Schelling in ihrem Ende erkennbar, eine "unstäte Natur", ein "sein und nicht sein Können" (Urf. 236), Persephone, das "dem Umsturze, dem Übergang aus dem Wesentlichen ins Zufallige ausgesetzte, Prinzip" zum Anfang. Durch Zeugung verbundene Selbstorganisationen von herrschenden Göttern, waren das Selbstverständliche in jener Welt. Die Faszination, die gegenwärtig von der Konstatierung zufälliger Selbstorganisation ausgeht, lebt hingegen vor allem aus dem Kontrast mit der Vorstellung einer durchgängig determinierten Welt. In dieser soll, ein Reservat der Freiheit in objektivierbaren Sachverhalten nachgewiesen sein, durch Analogie auf andere Bereiche übertragbar gedacht werden können und schließlich das ganze Weltbild mechanistischer Vorurteile sprengen. Das prinzipielle Problem, wie Freiheit und Notwendigkeit zusammen bestehen können, bleibt hier freilich verschleiert, weil dem universalen System notwendiger Ordnung nur die vielen, in Zufalligkeit sich verlierenden, Anfänge der Selbstorganisation entgegenstehen, von denen nur unentschieden bleiben kann, ob sie aus Freiheit oder Notwendigkeit resultieren. Die Zeugung Christi hingegen bietet ein eindeutiges Beispiel, wie Freiheit in eine von göttlicher Weisheit und Allmacht beherrschte Welt gesetzt sein kann. Die Gestalt Christi ist nur als Freiheit sinnvoll. Sie nötigt, d. h. in ihr ist gefordert, mindestens einen Fall der Freiheit in der geschaffenen Welt zuzugestehen. Hier steht logisch das wesenhaft einzige System des notwendigen Zusammenhangs nicht einer der vielen willkürlich beginnenden Wettbewerbsmoden entgegen, sondern der Einzigkeit der Freiheit selbst, eben dem, der frei ist, sein Leben zu geben oder zu nehmen. Die Zeugung Christi setzte Freiheit. Der Begriff der Zeugung, wie ihn Schelling hier faßt, erscheint sogar als eine sehr genaue Beschreibung des Sachverhaltes, der in anderen Zusammenhängen mit der Metapher Selbstorganisation ausgedrückt wird: "Der wahre Begriff der Zeugung selbst ist, daß ein Wesen irgend ein anderes außer sich, unabhängig von sich, so setzt, daß es in die Notwendigkeit gesetzt ist, in einem unablaßbaren actus sich zu verwirklichen" (Urf. 164), oder: "Dem eigentlichen Begriff nach wird Zeugung genannt der actus, in welchem irgendein Wesen, ein anderes, von ihm unabhängiges, 6 Vgl. F. W. J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hrsg. v. W. E. Ehrhardt, Hamburg 1992, S. 370 und 385. Nachfolgend wird verkürzt zitiert: Urf. n. arab.
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außer sich so setzt, daß es selbst unmittelbar - proprio actu sich zu verwirklichen genötigt ist" (Urf. 165; vgl. V, 405). In dieser Weise setzte die Zeugung Christi zwar Freiheit in eine von göttlicher Weisheit und Allmacht beherrschte Welt, aber der Konflikt von Freiheit und Notwendigkeit scheint auch in diesem Beispiel nur eschatologisch durch Subordination gelöst werden zu können: Ihm alles untertan sein zu lassen, alles "unter seine Füße" zu tun, ist der Weg, an dessen Ende er selbst untertan, Gott Alles in Allem sein wird (vgl. Urf. 187 f.). Auch hier ein Triumph des Versklavungsprinzips? Sollte auch hier die prozessuale Aufhebung der Freiheit in Subordinations- oder Gleichgewichtszuständen als unvermeidliches Resultat gelten, gegenüber der man die Enthaltung, die Epoche von ethischen Assoziationen versichern oder den Trost religiöser Hoffnungen anbieten müßte?7 Als Schelling das Prinzip der Selbstorganisation in die Naturphilosophie einführte, kamen solche Auswege nicht in Betracht. Ebensowenig die von Friedrich Schlegel vorgeschlagene Lösung des Konflikts von Freiheit und Notwendigkeit durch die Zurückhaltung der göttlichen Allmachts. Vielmehr entstammt die epochemachende Möglichkeit, auch die Natur als eine Offenbarung der Freiheit zu interpretieren, und zwar als eine, die älter ist als jede geschriebene, doch einer Zeit, der kurz zuvor Kant nachgewiesen hatte, daß reine Vernunft nicht berechtigt ist, zwischen der Antinomie der Sätze: "Es ist Freiheit, oder alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur," zu entscheiden, ebensowenig, wie sie legitimiert sein kann, einen transzendenten Urheber in die Kette ihrer Beweise einzufügen. Allein im Felde der Ethik, der praktischen Vernunft, zeigte sich die Tatsache der Freiheit als unverzichtbar, weil in dem moralischen Gesetz ein Sollen vor allem Sein gewußt wird. Das sogenannte "Älteste Systemprogramm" fragte: "Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen seyn?"9 Dies ist die Ausgangsfrage der Naturphilosophie, die Freiheit zum A und 0 aller Philosophie erhob, weil ihr die Erfahrung zu Grunde liegt: "das Sittliche allein reicht bis ins Höchste hinauf und bis ins Tiefste hinab" (Urf. 701). Schellings These der allgemeinen Selbstorganisation zeigte in Konsequenz jener deontischen Wende, daß Tat (Fichte), Freiheit, das, was sein soll, auch in der Natur vorausgesetzt werden kann. Dieser Schritt rettete vor der lähmenden Vorstellung, mit der Erforschung der Natur dem Nachweis der eigenen Determiniertheit zu dienen, - einer Vorstellung, die im Aufbruch der romantischen Bewegung die Studierenden mit dem unerträglichen Gefühl verbunden hätten, mit dem Studium der Wissenschaft an der eigenen Vernichtung zu arbeiten (vgl. V, 213). Davon befreite die in der Naturphilosophie ergriffene Möglichkeit, "im Begriff des Seins selbst die verborgene Spur der Freiheit" zu entdecken, "das Sein selbst aber = absoluter Thätigkeit" zu behaupten (vgl. III, 13). Die Freiheit war durch die Gewißheit der praktischen Vernunft zum Zentrum aller 7 Vgl. FN (1), S. 79. S Vgl. Schlegel, 7., Kritische Ausgabe, Bd. VIII, S. 587. 9 F. W. J. Schelling, Briefe und Dokumente, hrsg. von H. Fuhrmans, Bd. 1, Bonn
1962, S. 69.
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Wissenschaften geworden. Erst nachdem die deontische Fundierung der Verherrlichung der Freiheit aus dem Blick geraten war, konnte daher auch eine Kritik der Naturphilosophie einsetzen, die nicht mehr einzelnen Darstellungen und Konstruktionen galt, sondern die ganze These als Spekulation verwarf. An transzendente Abhängigkeiten gewöhntes Bewußtsein konnte zwar Kraft und Stoff oder dergleichen an der Stelle göttlicher Allmacht ertragen, nie aber sein Sollendes, Freiheit, vor allem Sein denken. Autoren, die sich durch die erste Auflage von Stahls Rechtsphilosophie angemessen über Schellings Lehren informiert wähnten, konnten daher sogar literarisch und politisch wirksam Schellings Spätphilosophie als Restauration transzendenter Subordinationsrechtfertigungen diffamieren, wodurch das Tabu, das der Spekulationsvorwurf um die Naturphilosophie zog, erheblich verstärkt wurde. Dank der "Urfassung der Philosophie der Offenbarung" wissen wir aber inzwischen zweifelsfrei, daß Schelling konsequent Freiheit "unser und der Gottheit Höchstes" (Urf. 79) nannte und also auch die Subordination Christi nur eine Verherrlichung der Freiheit sein soll. Der Fall der Freiheit, der in Christus in der geschaffenen Welt einen geschichtlichen Ort hat, ist ohne Widerspruch mit göttlicher Allmacht oder Notwendigkeit zusammenfügbar genau dann, wenn dieser selbst Freiheit das Höchste ist. Diese Lösung des Problems hat Schelling betont auch an der Vermittlung des Heiligen Geistes, der seinem Wesen nach nur frei sein kann, durch den Fortgang Christi, der gegebene Freiheit war, dargestellt. Schelling hat diese Lösung aber im Grunde überall gewählt. In der Philosophie der Kunst z. B. führt die Nachahmung der Natur genau dann nicht zu einer Versklavung der künstlerischen Freiheit, wenn das eigentlich der Natur Nachzuahmende selbst Freiheit ist. Der gesamte Naturprozeß schließlich wird ja von Schelling als ein solcher dargestellt, der endlich im freiesten menschlichen Geist der Zeugung aus Freiheit gewahr wird. Die Subordination (Versklavung) als Akkumulation von Freiheit darzustellen, muß überall möglich sein, solange nicht ein Sein, sondern Freiheit, das, was sein soll, als Höchstes gewollt wird, - solange der Satz gilt: "Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes" (Urf. 79). Die Ängstlichkeit, mit der gegenwärtig versucht wird, entdeckte Selbstorganisationen in der Natur nach Zugeständnis von anfänglicher Zufälligkeit und Spiel in Gleichgewichtszuständen oder Hierarchien enden zu lassen, verdankt sich vielleicht dem Umstand, daß ein so hoher Freiheitsbegriff nicht mehr geläufig ist. Eine unmittelbare Anknüpfung an Schellings Naturphilosophie konnte deswegen kaum versucht werden, weil die Gründe, aus denen es galt, Tat vor allem Sein zu Denken, nicht mehr gegenwärtig sind. Dem Verdacht, willkürliche Analogien zur Beschreibung von Naturerscheinungen zu benutzen, ließ sich allzu leicht und zaghaft ausweichen durch die Betonung der großen Nähe determinierter Zustände. Ermutigend darf daher wohl in Erinnerung gebracht werden, daß die Naturphilosophie gute Gründe hatte, den Vorwurf, Metaphern zu verwenden, nicht zu fürchten. Für Schelling - mag die rhetorische Blume pflücken wer will - ist z. B. "der Begriff des Spiels eigentlich für die Natur [... ]. Denn im Begriff
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des Spiels ist die Freiheit nicht ausgeschlossen. Jene Notwendigkeit, in welche die Natur eingeschlossen ist, ist keine andere Schranke, als die, in welche auch das Spiel eingeschränkt ist" (Urf. 190 f.). Wenn die ganze Natur aus Freiheit sein soll, kehrt sich das Verhältnis dessen, was man gewöhnlich für metaphorisch und eigentlich gesagt hält, geradezu um: "Man kann sagen, die ganze Natur sei eine Metapher, eine Übertragung [ ... ]. Freie göttliche Zeugung, die als die erste Relation betrachtet werden muß, ist also statt einer metaphorischen gerade die ursprüngliche und eigentlichste, weil die Uneigentlichkeit erst durch die Metapher oder Übertragung entsteht." (Urf. 164 f.) Mit dieser Argumentation könnte wohl auch im Bereich der Natur entschieden bestritten werden, daß überhaupt Veranlassung besteht, den Begriff der Selbstorganisation durch Zusammenfügung mit Folgestrukturen gegen den Verdacht zu schützen, bloße Metapher zu sein. In Schellings geschichtlicher Interpretation der Erscheinungen der Religion hat sich dies jedenfalls sehr bewährt, um konsequent die organische Entwicklung von Mythologie und Offenbarung als Darstellung der Wirklichkeit der Freiheit nachzuweisen, und nicht in ihr Abhängigkeiten oder Endzustände zu verherrlichen.
Die Morphogenesis zwischen Magie und Geometrie Versuch einer konzeptuellen Analyse Von Rene Thom, Bures-sur-Yvette Als Einleitung möchte ich eine Bemerkung vorausschicken: die in der Folge angestellten Betrachtungen kommen aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers unserer Zeit, der auf dem Gebiet der Naturphilosophie praktisch keine Vorkenntnisse hat. Vom Werk Schellings wußte ich nicht viel (hier waren mir die Veröffentlichungen des Kongresses und insbesondere die Artikel von Frau Dr. HeuserKeßler von großer Hilfe). Meine Bedenken dem Begriff der Selbstorganisation gegenüber gelten dem heutigen Gebrauch dieses Wortes: bei einer Philosophie der verallgemeinerten Emergenz, wie die von Schelling, hätten diese Vorbehalte keine Gültigkeit mehr. Richtig ist, daß das Konzept der Emergenz ebenfalls ziemlich fragwürdig ist. Gerne würde ich hier das Unbehagen zum Ausdruck bringen, das mir der Begriff Selbstorganisation einflößt. Dieser Begriff erweckt in mir ein zweideutiges semantisches Bild, er scheint einen Widerspruch zu enthalten, eine Art Oxymoron. Ich sehe bei den Naturwissenschaften lediglich eine Aufgabe, nämlich die morphologischen und räumlichen Veränderungen zu erfassen, die ein Bereich unter der Einwirkung verschiedener Störungsfaktoren erfahren kann. So gesehen ist das Problem von gewaltigen Ausmaßen, die sich vom materiellen mikroskopischen Bereich hin bis zum Sternsystem des Universums erstrecken, vom Lebewesen bis zu den geologischen biochemischen Werkstoffen verschiedenster Art reichen, ja sogar, warum auch nicht, bis zu den "semiotischen" Strukturen der Bedeutung. Was nämlich bei dem Ausdruck "Selbstorganisation" befremdet, ist das Nichtvorhandensein einer Referenz, auf die Bezug genommen werden kann. Oft spricht man von einem "Bereich". Aber wie ist das räumliche Gebiet, das Gegenstand der Untersuchung ist, begrenzt? Was verleiht ihm eine Individualität? Ist die "Selbstorganisation" lokal oder global? Handelt es sich um einen materiellen Bereich, oder mögen dort abstraktere Verhältnisse in Betracht gezogen werden, z. B. in einem funktionalen Raum? Es ist deshalb meines Erachtens von Nutzen, eine semantische Analyse der Wörter Struktur und Organisation vorzunehmen. Meine Betrachtungen beruhen im wesentlichen auf Darlegungen, die Professor DeI Re bei einer Tagung der Pontifikalen Akademie im vergangenen Dezember gemacht hat. 3 Selbstorganisation, Bd. 5
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I. Die Opposition von Struktur und Organisation "Struktur" ist ein Begriff, der verstandesmäßig unzweideutig ist, da er seinem Bezugsobjekt ein realistisches Wesen verleiht, das man darzustellen vermag, das man bearbeiten kann, und mit dem man experimentieren kann. Bei einem materiellen Körper besitzt die Struktur im konkreten Sinne geometrische Eigenschaften, die eine oft unmittelbare Darstellung ermöglichen. Wir werden in der Folge mit der Theorie der stratifizierten Mengen ein Mittel sehen, algebraisch die "geometrischen" Mengen darzustellen, die gewöhnlich eine Struktur bilden. Darüber hinaus werden wir feststellen, daß das Wort Struktur einen anthropozentrischen Beiklang hat. Kaum wird man es zum Beispiel für die Beschreibung eines Felsens bizarrer Form anwenden: eine Struktur hat generell eine Funktion, sei diese auch nur ästhetischer Art.
11. Organisation Im Gegensatz dazu ist das Konzept der Organisation suspekt, weil in ihm immer eine Spur von biologischer Tätigkeit enthalten ist. Gewöhnlich sind die Elemente einer Organisation Menschen, und wenn man den Träger reifiziert, wie es der Fall ist, wenn man an die Organisation der Straßenbahnen denkt, liegt jedoch hinter der Graphstruktur des Verkehrsnetzes die ökonomische Tätigkeit eines Menschentransports. Daher kommt der biologische Beiklang des Wortes: ein toter Körper mag eine Struktur haben, er hat jedoch keine Organisation mehr. Was die biologische Organisation betrifft - von der später die Rede sein wird --, stellen wir mit Erstaunen fest, wie sehr selbst die meisten Biologen Schwierigkeiten haben, sie zu beherrschen (verstandesmäßig gesprochen, denn ich stelle keineswegs die Handfertigkeit der Chirurgen in Frage). Es genügt, eine Abhandlung der klassischen Embryologie (z. B. über Wirbeltiere) gelesen zu haben, um zu erkennen, sie sehr in der heutigen Biologie, die sich nur noch auf der Ebene der Moleküle abspielt, der Raum fehlt. Das anthropozentrische, zweckbezeichnende Wesen des Wortes Organisation kann kaum in Zweifel gezogen werde. Als Beweis, der Genitiv: "Funktion einer Organisation" ist weitaus akzeptabler als "Funktion einer Struktur", eine Form, die wohl bloß zu einem örtlichen Organ paßt, das eine mehr oder weniger globale Struktur besitzt. Indem bei dem Terminus "Selbst-Organisation" ein "Selbst" vorangestellt wird, wird eine vom Milieu getrennte und darauf wirkende psychische Instanz eliminiert. Unseren Vorstellungen nach organisiert sich das Milieu in eigener Regie, über eine Art Autopoiesis a la Varela. Es mag vorkommen, daß ein Lebewesen auf sich selbst einwirkt, aber hier bleibt das einwirkende Subjekt deutlich vom Subjekt, auf das eingewirkt wird, getrennt. Setzt "Organisation" aber, wie bereits gesehen, ein psychisches Agens voraus, das das organisierte
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Milieu überwacht, erhalten wir das Bild eines auseinandergerissenen suizidalen Ego, das vage vom Milieu lokalisiert wird. Ein klassisches Beispiel der Selbstorganisation ist das der Benardschen Zellen an einem von unten beheizten Topf mit Wasser. Dagegen wird die sechseckige Anordnung der Wabe eines Bienenstockes nicht "selbstorganisiert" genannt, denn sie ist das Werk der Bienen. Auch die sechseckige Ausrichtung, die der Boden oft in Polargebieten aufzeigt, ist nicht "organisiert", da sie anorganischer Herkunft ist. Und doch läßt sich das Zustandekommen der sechseckigen Gitteranlage in allen 3 Fällen, selbst bei materiellen Trägem, die darüber hinaus sehr verschieden sind, durch d~ gleiche formale Prinzip erklären (der Wettstreit einzelner sich bildender äquidistanter Individualitäten). Bei der Morphogenesis ist die Beschreibbarkeit des Prüfobjektes eine Vorfrage. Will man wirklich eine Morphologie, z. B. in der Ebene, genau spezifizieren, so kann man sie eventuell photographieren (und jedem daran interessierten Wissenschaftler erlauben, davon eine Photokopie zu machen). Für eine präzise Beschreibung reicht dies aber kaum aus. Früher oder später wird sich die Notwendigkeit ergeben, die Form konzeptionell darzustellen, will man Erklärungen zur Erscheinung vorschlagen. Jetzt wird eine geometrische Darstellung der Form erforderlich: denn, wie sagte noch Sokrates in Paul Valerys Eupalinos: "eine Form ist dann geometrisch, wenn sie in wenigen Worten beschrieben werden kann". Gehen wir noch einen Schritt weiter: wird eine räumliche Form mit großer Präzision durch eine endliche Anzahl von Symbolen beschrieben (die gegenwärtig so verbreiteten "Picture element" Verfahren fallen aus diesem Grunde weg), so haben wir eine geschlossene Menge, die durch eine endliche Anzahl analytischer Gleichungen und Ungleichungen beschrieben wird. Technisch ausgedrückt ist dies eine halbanalytische Menge, d. h. eine Menge E von Rn örtlich durch eine endliche Anzahl analytischer Gleichungen und Ungleichungen definiert. Für eine konkrete Morphologie beispielsweise im euklidischen Raum R 3 führt man den Begriff der phänomenologischen Äquivalenz zwischen 2 Punkten ein. Die Punkte A, B werden cp-äquivalent genannt, wenn sie folgende Bedingung erfüllen: sie haben je eine Umgebung VA von A, VB von B (zum Beispiel Kugeln), wenn man einen Homeomorphismus cp: VA ~ VB hat, so daß, wenn x ein Punkt von VA ist und y = cp(x) ein Punkt von VB, die Punkte x, y phänomenologisch äquivalent sind (d. h. ihre Nachbarbereiche sehen gleich aus). Wenn die Menge E E R 3 , die Gegenstand der Untersuchung ist, halbanalytisch ist, so läßt sich zeigen (über die Hypothese, daß die cp-Morphismen semi-analytisch sind), daß die Menge E durch die cp-Äquivalenz-Klassen stratifiziert wird, d. h. in glatte Teile zerlegt werden kann (semi-analytische Mannigfaltigkeiten), bei denen sich die Tangentialebenen unter Berücksichtigung gewisser Regularitätsbedingungen (Whitneysche Bedingungen) aneinander heften. Diese Bedingungen implizieren, daß sich in der Umgebung eines jeden Punktes von E ein polyedrisches Modell befindet. Insbesondere sind dort die lokalen spiraligen 3'
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Anordnungen ausgeschlossen. Die Existenz von Fraktalen ist ebenfalls aufgrund der Analyzität ausgeschlossen. Ich habe in einem früheren Artikel [Pellegrin] 1 vorgeschlagen, die aristotelische Biologie mit Hilfe dieser Theorie zu beschreiben. Tatsächlich hat Aristoteles (in De Partibus Animalium) die Begriffe Homeomer und Anhomeomer eingeführt. Der Begriff Homeomer wird der Idee der phänomenologischen Homogenität einer Schicht gerecht (nicht zu genau hinsehen!). Der Begriff Anhomeomer beschreibt die "Teile" des Körpers, die so ausreichend individuiert sind, daß sie in der Umgangssprache einen Namen erhalten. Homeomere sind die Schichten einer Stratifizierung des Organismus. Aber Anhomeomere werden nicht immer durch diese Stratifizierung in Schichten zerlegt. Nehmen wir das Paar Daumen - Hand, hier haben wir eine korrekte Stratifizierung am Skelett, an der Grenze zwischen Mittelhand und Phalanx, aber nicht mehr beim umliegenden Gewebe (Muskeln, Nerven, Stützgewebe). Dank dieses Begriffes kann man - zumindest theoretisch - bis auf den analytischen Homeomorphismus jedes beliebige Tier darstellen. Seit d' Arcy Thomson weiß man die Begriffe von Art und Gattung (im logischen Sinn) mit Hilfe der Isotopie zwischen zwei Stratifizierungen zu formalisieren. Die unbeständigen Strukturen des Organismus müssen in dieser Isotopie homolog sein (natürliche Öffnungen des Organismus). Eine Ausnahme der polyedrischen Eigenschaft der Schichten bildet das Kreislaufsystem, welches in den Kapillargefäßen Fraktalität aufweist. Theoretisch ist es möglich, den Stoffwechsel einzuführen, indem man als Faser über den Organismus den Raum (M) der lokalen Eigenschaften einführt (von diesem Raum weiß man wenig, er ist wahrscheinlich unendlichdimensional). Man kann aber die Attraktoren des örtlichen Stoffwechsels betrachten und somit endliche Figuren erhalten, die die Hauptfunktionen (Fang, Verdauung, Ausscheidung, Atmung) eines Tieres beschreiben. Es ist dies Theorie, denn man weiß nicht viel vom Raum M, und seine wesentlichen Parameter sind unbekannt. Auch müßte man den Raum Z der Zelltypen kennen. Es ist dies ein diskreter Raum, der ein großer Graph bildet, der sich im Laufe der ontogenetischen Zeit auf die Figuren der Ontogenesis projiziert. Meinem Buch Esquisse d'une Semiophysique (Semiophysics: A sketch)2 können mehr Details entnommen werden. In einem Modell dieser Art liegt die ganze Bedeutung der embryonalen Morphogenesis auf einer ziemlich rigorosen Kanalisierung der Abzweigungen des Stoffwechsels im Verlauf der Ontogenesis. Es ist dies die Aufgabe der DNS, deren effektive Beschreibung ungelöst bleibt. (Selbstverständlich sind die Abzweigungen nicht global, sie breiten sich lokal im ganzen Organismus aus, wobei sie einem Schema folgen, das von der funktionalen Tätigkeit des Stoffes gesteuert wird). Bei der Beschrei1 Homeomeres et Anhomeomeres en theorie biologique d'Aristote a aujourd'hui, in Biologie, Logique et Metaphysique chez Aristote, 491 -511, P. Pellegrin, editeur, Editions du CNRS, Paris 1991. 2 Esquisse d'une Semiophysique, Intereditions, Paris 1989. Semiophysics: A sketch, Addison Wesley 1990.
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bung des globalen Prozesses kann man, wenn man will, von Selbstorganisation sprechen. Mir ist jedoch die Annahme lieber, daß diese aufeinanderfolgenden Abzweigungen sich lokal nicht von den ziemlich genormten Abzweigungen in der Chemie unterscheiden, nur sind sie von räumlichen, nicht expliziten Parametern (den sogenannten morphogenetischen Feldern) abhängig. Ich vertrete die These, daß man nicht umhinkommen wird, solch ein dynamisches, mehrdimensionales Schema in Betracht zu ziehen. Und ich nehme hier die Gelegenheit wahr, an den Biologen Conrad Hall Waddington zu erinnern, den ich in den 60er Jahren ziemlich gut kannte. Waddington hatte bekanntlich für einen Entwicklungsvorgang den Begriff "chreod" (eine sogenannte Pflichtstraße) eingeführt. Ich meine, daß dies ein guter Begriff war, ein guter Leitfaden für den Gedankengang. Außerdem stammt von ihm der Begriff der epigenetischen Landschaft (epigenetic landscape). Ein Baum von Trajektorien, der sich vom Gipfel eines hemisphärischen Berges absteigend ausbreitet und die voneinander abweichenden Entwicklungen der Keimstoffe beschreibt. Es waren dies gute Metaphern. Trotzdem wurden diese Wörter nicht von den Biologen übernommen. Diese Ablehnung war im wesentlichen eine Folge der makromolekularen Dogmatik und der biochemischen Anschauung, welche sie erzeugt hat. Vielleicht hatte sich das Wort "chreod" deshalb nicht durchgesetzt, weil letzten Endes jedes Konzept im psychischen Raum eine "Chreode" ist. Magie oder Geometrie, die Magie geometrisch darzustellen ist das einzige Mittel, die nicht lokalen Effekte zu erklären. Leben weiß mit der Metastabilität zu spielen (die ganze enzymatische Demiurgie hängt davon ab), es kann deshalb angenommen werden, daß die Theorie der klassischen chemischen Gleichgewichte bei weitem nicht ausreicht, die Fortpflanzung ultraschneller Effekte in der lebenden Materie zu erklären. Es gibt in der Biologie subtile, nützliche oder perverse Moleküle. Eine Welt tut sich hier auf, in der wir uns vielleicht der Theorie des Nous von Aristoteles erinnern sollten: eine lokale und unpersönliche Wesenheit, die sehr schnell die Landschaften lokaler Potentiale verändern könnte. Durch die topologische Analyse der örtlichen Bedeutungen wird es uns gelingen, sie zu verstehen, zweifelsohne leichter als durch die Entzifferung der DNS Moleküle. In den klassischen Naturwissenschaften wurden die nicht lokalen Bedeutungen (Optik, Schwerkraft usw.) gleich nach Entdeckung der Gleichungen der dazugehörenden Entwicklung akzeptiert. Es ist nicht zu hoffen, daß man eines Tages diese Effekte numerisch beherrschen wird, es wäre jedoch bereits ein beträchtlicher Fortschritt, würde man ihre Finalität verstehen. Wenn ich also hier dazu rate, zur Geometrie zurückzukehren, so geschieht dies, weil ich mir voll bewußt bin, daß es unseren Symbolisierungen an Feinheit fehlt. Aber bereits die Vorstellung eines Potentiales ist eine Art, eine Vielfalt lokaler Effekte zu beherrschen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß man eines Tages eine akzeptable Systematisierung dieser so schnellen Fortpflanzungen findet, die uns manchmal in Erstaunen setzen: denn was war denn schließlich bei Aristoteles die Form, die Quiddite, d. h. das -ro TI f/v Elvar? Das war weitaus mehr als die ausgedehnte Form, Morphe. In französischer Transkription heißt dieser griechi-
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sche Satz "l:etre futur du quoi c'etait" (Das zukünftige Sein des was war), und er steht als Symbol für die Bewahrung der Form über einen Zeitraum hinweg, in dem die Individualität an Intensität zu verlieren scheint: man hat Mühe, nicht an die Permanenz der Bedeutung aller Veränderungen, die sie erfahren oder veranlassen, zu glauben, und dies zweifelsohne nicht nur auf der DNS. Diese Verbreitung der Bedeutungen beruht unseres Erachtens auf einer "weiten" Form der analytischen Fortsetzung: die Abweichung ist nicht willkürlich, sie muß einer nicht sichtbaren Kontinuität Genüge leisten. Ich kann an dieser Stelle nur an diese, von B. Riemann in seinen Philosophischen Schriften paraphrasierte Anregung erinnern: "Beim Denken eines Gedankens stellt die Bedeutung dieses Gedankens die Form des ihm zugrunde liegenden neurophysiologischen Vorganges dar". Es ist selbstverständlich nicht leicht zu wissen, um welche Form es sich handelt, aber allein dieser Formulierung wegen verdient die Naturphilosophie volle Rehabilitierung.
Dynamik, Emergenz und Mathematik Über Kontinua und Diskontinua Von Peter Eisenhardt, Frankfurt am Main
I. Vorbemerkung: Zwei Arten einer Theorie der Emergenz Ich möchte im folgenden den Abriß einer Theorie der Emergenz geben, wobei das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität eine grundlegende Rolle spielen wird; diese Theorie wird in den Abschnitten 5 und 6 vorgestellt. Zuvor jedoch soll das philosophische Problem des Verhältnisses von Dynamik zu (mathematischer) Struktur geklärt werden (insbesondere zu Diskontinua ); dazu haben Leibniz und Schelling wesentliche Beiträge geleistet (vgl. Abschnitt 2). Eine Theorie der Emergenz wird als generelle Voraussetzung einer Theorie der Selbstorganisation betrachtet (v gl. das Hauptproblern der Emergenz in Abschnitt 4); im Abschnitt 3 erfolgt eine für unseren Zweck notwendige Explikation des Begriffes des Kontinuums.
Wie entstehen aus einem kontinuierlichen Übergang Diskontinua? (Quasi)kontinuierliche Änderungen von Farbschattierungen ergeben schließlich eine neue Farbe, kontinuierliche (?) Änderungen von Individuen innerhalb einer Art erzeugen endlich eine neue. Aber ist die Frage nicht falsch gestellt? Sind denn nicht schon von vornherein Diskontinua vorausgesetzt, damit die Entstehung des Neuen beschrieben werden kann? Ich denke, daß man versuchen sollte, eine sowohl globale als auch tiefenstrukturelle Theorie der Emergenz zu erarbeiten; eine solche zu erstellende Theorie muß jedoch eng gekoppelt sein an eine lokale und phänomenologische Theorie. Wenn ich Rene Thom recht verstehe, versucht er gerade diese letztere auszuarbeiten - in diesem Falle ist die Frage nicht falsch gestellt, aber man hat die Begriffe des Kontinuums und des Diskontinuums durch phänomenologische zu ersetzen ("nicht zu genau hinsehen!"); Thom schlägt die aristotelischen Begriffe des "Homeomers" und des "Anhomeomers" vor, wie er sie in seinem Vortrag auf dem Kolloquium "Schelling und die Selbstorganisation" nannte. Jedoch das strukturelle Problem einer Theorie der Emergenz bleibt m. E. immer dasselbe: Dynamik der Entstehung des Neuen erfordert Kontinuität (oder Homogenität), unmittelbare Einsetzung des neuen Zustandes als ein zu identifizierender Zustand erfordert Diskontinuität (oder Heterogenität). Damit stehen wir vor dem Eingang eines Labyrinthes.
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11. Das Labyrinth des Kontinuums und die Transcreation: Leibniz und Schelling Im Labyrinth des Kontinuums haben sich schon viele verirrt, und selbst Leibniz dachte (zumindest einige Jahre ab 1676) nicht, daß seine Infinitesimalrechnung der Ariadnefaden wäre, mit welchem er, nach scheinbarer Mattsetzung von Zenon (nicht Minotaurus), wieder den Weg nach draußen finden könnte. Er dachte sich eine den Calculus transzendierende, naturphilosophische Theorie der Bewegung und des Kontinuums aus (im Dialog Pacidius Philalethi I), die im Kern so lautet, daß es keinen Zustand der Bewegung gibt, sondern die Bewegung aus "Sprüngen über Angrenzendes" besteht (contiguum, aJrr6j1Evov, genauer EX6j1EVOV, d. h. "dessen Grenzen zugleich, an einem Ort sind", im Gegensatz zum continuum, O"Vvexeq, d. h. "dessen Grenzen eines sind, zusarnmenfallen"2). Was aneinander angrenzt, sind nach Leibniz benachbarte Punkte (ohne Abstand), wobei der bewegte Punkt am angenommenen Ortspunkt nicht ruht, sondern sofort (im Augenblick) wieder zum nächsten Ortspunkt übergeht und dadurch - nämlich durch die Interpretation von "Sprung" als "Vernichtung und Erschaffung" (transcreatio) - die Ortspunkte herausgreift und aktual auszeichnet, so daß nicht Raum, Körper und Zeit in Punkte oder Augenblicke je aufgeteilt sind oder aus ihnen bestehen, sondern durch die Bewegung aufgeteilt, d. h. unendlich "gefältet", werden. Damit sind wir schon mitten im Labyrinth: Leibniz läßt das Kontinuum durch Dynamik (trans ... Übergang von einer Grenze zur anderen) und Emergenz (creatio, Vernichtung und Neuschaffung des sich Bewegenden) sich als Kontiguum strukturieren, um dem Labyrinth zu entkommen. Das feststellbare "Kontinuum" ist keine vorhandene, statische, unendliche Punktmenge, sondern entsteht durch einen dynamischen Prozeß. Freilich ist der Preis hoch, denn warum sollte ein Körper sich dermaßen verhalten? Es ist denn auch nicht die Natur, sondern Gott, der die Körper durch einen Eingriff vernichtet und erschafft 3 • Zudem ist das Resultat, also die Struktur der Spur der Bewegung als Kontiguum, sicher nicht das, was ein (mind. überall dichtes) Kontinuum ist. Die Bewegung ist diskontinuierlich, und "erzeugt" somit nicht ein echtes Kontinuum. (Der Versuch von Friedrich Kaulbach, die kontinuierliche Struktur durch die Annahme einer kontinuierlichen Zeitstruktur im Sinne des nunc stans zu retten, erscheint mir zu 1 Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules et fragments inedits, (ed.) L. Couturat, Hildesheim 1901. 2 Vgl. Leibniz (FN 1), S. 601; und Aristoteles, Physik 226 b21-22. 3 Vgl. den Einfluß der Kalam-Schule und den des Okkasionalismus; vgl. auch die Bewegungstheorie von Diodorus Cronus (t 284), die von Sextus Empiricus mitgeteilt wird (dazu Richard Sorabji, Time, Creation and the Continuum - Theories in Antiquity and the early middle ages, London 1983, S. 18 etc. und MichaelJ. White, The Continuous and the Discrete, Oxford 1992, S. 259 ff.). Die "Quantenstruktur" dieser Bewegung ist jedoch von Pausen durchsetzt, die Leibniz ausdrücklich ablehnt. In den heiden erwähnten Büchern werden auch andere, diskontinuierliche Bewegungen diskutiert.
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ad hoc und textlich nicht gesichert.)4 Es stellt sich die Frage, ob das Kontinuum aus Diskontinua bestehen kann, wie die Geschwindigkeit aus Momentangeschwindigkeiten; es stellt sich die Frage, ob das Kontinuum z. B. aus Punkten besteht, oder aus Singletons, und was "bestehen" heißt; und es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Dynamik und Kontinuität. Ähnlich wie Leibniz stellt auch Schelling eine transcreationistische Theorie aufS,.oder besser gesagt, er verweist auf die Notwendigkeit einer Transcreation bezüglich Dynamik und Produktivität. Auch bei ihm handelt es sich - vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz ersichtlich - um strukturelle Probleme des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität. Besonders krass zeigt sich dies m. E. im Schellingschen Entwurf einer dynamischen Atomistik - die ja auch eng mit der Leibnizschen Monadologie zusammenhängt - , in welcher die Kontinuität der Dynamik und der Produktivität mit der Diskontinuität des Produktes gekoppelt werden sollen. Die ursprüngliche Produktivität der Natur als natura naturans, die wesentlich Kontinuität und Gestaltlosigkeit beinhaltet, muß sich nach Schelling inhärent begrenzen, damit diskontinuierliche Produkte und eine dynamische Stufenfolge der Natur entstehen können. Damit ist die Natur konstituiert als die dynamische Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Diese ursprüngliche Begrenzung der Produktivität bezeichnet Schelling auch als eine Art ursprüngliche Differenz 6 in der Kontinuität der Produktion als Bedingung der Tätigkeit der Natur, deren Bildungskraft ein immerwährendes Schweben zwischen gegensätzlichen expansiven und kontraktiven Kräften ist als eine ins Unendliche gehende Bildung von Formen und als letztes Streben nach Identität (sozusagen die ursprüngliche Dynamik der Natur, was sie als letztes antreibt), wobei für Schelling klar ist, daß aus absoluter Identität nichts entsteht (die absolute Identität wäre wie die totale Symmetrie vollkommen stabil) und daß pure Kontinuität weder Gestalten noch Neues produziert. Der Wechsel dieser Kräfte muß nach Schelling fixiert werden, so daß das Produkt aus den Kräften überhaupt relativ stabil bestehen kann, diese Fixierung soll durch ein drittes Glied außer den zwei Gliedern des Wechsels geleistet 4 Friedrich Kaulbach, Der philosophische Begriff der Bewegung, Köln / Graz 1965, S. 60: "Die Kontinuität der Entwicklung und auch der Bewegung im Ganzen wie im Einzelnen wird demnach nicht durch die Aufeinanderfolge der endlichen Augenblicke verbürgt, und wäre diese noch so lückenlos, sondern sie wird allein durch den ewigen Augenblick geleistet, der die Bewegung durch seine dauernde Neuschöpfung der Diskontinuität entreißt.". 5 Vgl. zu Schellings Philosophie der Mathematik auch: Marie-Luise Heuser-Keßler, Schelling's Concept of Self-Organization, in: R. Friedrich / A. Wunderlin (Hg.), Evolution of Dynamical Structures in Complex Systems, Springer Proceedings in Physics, Vol. 69, Berlin/Heidelberg 1992, S. 395-415; sowie auch Kaulbach (FN 4) S. 58-63 und Werner Gent, Die Raum-Zeit-Philosophie des 19. Jahrhunderts, Hildesheim/New York 1971, S. 170 zum Folgenden. 6 z. B. Friedrich WilhelmJosejSchelling, Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Sämtliche Werke, Stuttgart/ Augsburg 1856-61, Bd. III, S. 308.
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werden, welches zu finden als Hauptaufgabe des Philosophierens die Deduktion eines Substrates wäre. Der Kerngedanke ist also der: "Der Gegensatz ist Aufhebung der Identität. Aber die Natur ist ursprünglich Identität. - Es wird also in jenem Gegensatz (der ursprünglichen Differenz, P. E.) wieder ein Streben nach Identität seyn müssen. Dieses Streben ist [unmittelbar] bedingt durch den Gegensatz; denn wäre kein Gegensatz, so wäre Identität, absolute Ruhe, und auch kein Streben nach Identität ... Identität aus Differenz hervorgegangen ist Indifferenz, jenes Dritte also ein Streben nach Indifferenz, das durch die Differenz selbst, und wodurch hinwiederum diese bedingt ist."7 Unter diesen Voraussetzungen nun kommt Schelling zu seiner Transcreationsthese: Jedes endliche Produkt ist als diskretes Ergebnis eines Erschaffungsaktes aus der Kontinuität der sich selbst einschränkenden Produktivität (mittelbar) durch ursprüngliche Differenz entstanden; es ist ein scheinbares Produkt, da in ihm immer die unendliche Produktivität kontinuierlich tätig ist 8 • Die ursprüngliche Differenz ist also "Quelle der Existenz" aller endlichen Produkte in ihrer Verteilung bezüglich der Reichweite der jeweiligen gegensätzlichen Kräfte: "Jener ursprüngliche Gegensatz kann nur in einer unendlichen Synthesis und im endlichen Objekt nur momentan aufgehoben werden. Der Gegensatz entsteht in jedem Moment aufs neue, und wird in jedem Moment wieder aufgehoben. Dieses Wiederentstehen und Wiederaufheben des Gegensatzes in jedem Moment muß der letzte Grund aller Bewegung seyn."9 Die Bewegung vollzieht sich also in diesem Sinne durch diskontinuierliche Zustandsänderung, wobei im radikalen Sinne (Differenz als Quelle der Existenz) "Zustand" "Existenz" bedeutet.
III. Das mathematische und das "eigentliche" Kontinuum: Weyl und Peirce Wie ist dies nun strukturell vorstellbar? Wir müssen etwas tiefer in das Problem des Kontinuums und der Dynamik eindringen. Schellings Versuch, aus dem dynamischen Kontinuum die Diskontinuität abzuleiten, wird von ihm selbst durch eine ursprüngliche unendliche Reihe versinnbildlicht 10, die nicht durch Zusammensetzung diskreter Größen, sondern durch kontinuierlich fließende Evolution Schelling (FN 6), S. 309. Vgl. Friedrich Wilhelm lose! Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, SW H, S. 19. 9 Friedrich Wilhelm lose! Schelling, System des transzendentalen Idealismus, SW III, S. 488. Hier ist in eher transzendentaler Sprache das naturphilosophische Problem formuliert. Vgl. die Fassung in Einleitung Entwurf: "Da also die Bedingung alles Produkts Differenz ist, so muß diese als Quelle aller Existenz in jedem Moment wieder entstehen, aber auch als wieder aufgehoben gedacht werden. Durch dieses beständige Wiederentstehen und Wiederaufleben geschieht die Schöpfung in jedem Moment aufs neue." SW III, S. 312 f.; siehe auch Kaulbach (FN 4). 10 SW III, S. 15. 7
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,,Einer in ihrem Anfangspunkte schon unendlichen Größe" erzeugt wird. Diese Größe fließt durch die Reihe hindurch, und die einzelnen Diskreta (in der Natur die endlichen Produkte, in der Mathematik die endlichen Zahlen) sind nur die Hemmungen, welche der unendlichen Geschwindigkeit des kontinuierlichen Fließens, wodurch keine fixierte Gestalt entstehen würde, "continuirlich Schranken setzen" 11. Die diskontinuierlichen Hemmungen sind durch die Reflexion gekennzeichnet, der kontinuierliche Fluß durch die Anschauung; so daß die Reflexion der Anschauung Grenzen setzt, also in das eigentliche, ursprüngliche Kontinuum eingreift und versucht, es durch Diskreta aufzubauen. Dieses grundsätzliche Problem der mathematisch-strukturellen Bestimmung des Kontinuums aus einem ursprünglichen Kontinuum und das Verhältnis dieser Bestimmung zur Dynamik wurde später z. B. von Hermann Weyl wesentlich thematisiert. Er unterschied das anschauliche vom mathematischen Kontinuum und geht davon aus, daß das letztere aus dem "fließenden Brei" (wie er sich ausdrückt 12) des ersteren "einen Haufen einzelner Punkte herauspickt" - dies ist seiner Ansicht nach die "atomistische Auffassung des Kontinuums". Für Weyl gehören die Probleme der Kontinuität und der Dynamik eng zusammen: "Von jeher stehen sich einander gegenüber eine atomistische Auffassung, die sich das Kontinuum aus einzelnen Punkten bestehend denkt, und eine andere, welche es für unmöglich hält, den steten Fluß auf diese Weise zu begreifen" 13. Die reellen Zahlen im Kontinuum sind so "isoliert" wie die ganzen Zahlen. Zwar haben die ersteren eine höhere Mächtigkeit, aber sie setzen das Kontinuum als Menge von Punkten diskret zusammen: Das (eindimensionale) Kontinuum ist eine überabzählbare Vereinigung von Singletons; Zenon würde sich freuen 14. Wir sind nun soweit ins Labyrinth eingedrungen, daß einige Definitionen angedeutet werden müssen, damit wir uns nicht weiter verirren. Georg Cantors erste Definition des Kontinuums 15 wurde z. B. von B. Russell l6 und Ch. S. Peirce 17 kritisiert, weil sie eine Metrik voraussetzte und somit nicht allgemein genug II Ich möchte hier einmal das Problem außer Acht lassen, wie etwas Unendliches (weIcher Art genau?) evolvieren kann, d. h. etwas Neues entstehen kann. Man muß berücksichtigen, daß Schelling zwischen einer absoluten und empirischen Unendlichkeit unterscheidet. 12 Hermann Weyl, Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, in: Gesammelte Abhandlungen 11 (1921), Berlin/Heidelberg/New York 1968, S. 149. 13 Weyl (FN 12), S. 153. 14 Vgl. z. B. AdolfGrünbaum, Modem Science and Zeno's Paradoxes, London 1968, der jedoch keine akzeptablen Lösungen vorbringt. 15 Georg Cantor, Über unendliche lineare PunktmannigfaItigkeiten, NT. 5. § 10 in: Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von E. Zermelo, Hildesheim 1962, S. 190 ff.; es geht um die Eigenschaften "perfekt" und "zusammenhängend.". 16 Bertrand RusselI, The Principles of Mathematics, London 1972 (1903) Kap. 35 (§§ 271 ff.). 17 Vgl. z. B. als leicht zugänglich Charles Sanders Peirce, Das Gesetz des Geistes (1891/2), in: Naturordnung und Zeichenprozeß, Frankfurt 1991, S. 191.
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war, denn "der Unterschied zwischen einer kontinuierlichen und einer diskontinuierlichen Reihe [ist] unleugbar nicht metrisch." 18. Aber auch die zweite Cantorsche Definition, die allgemeiner ist 19, wäre für Peirce unbefriedigend, solange sie eine Punktmenge der Kardinalität Alephi bleibt. Peirce' Kritik erinnert an Weyl; sie ist in seiner positiven Konzeption enthalten. Er gibt eine qualitative und eine quantitative Definition: Die erstere besteht im wesentlichen in der Forderung (nach Kant und Aristoteles), "that a continuum is that of which every part has itself parts of the same kind ... This must not be confounded ... with infinite divisibility but implies that a line, for example, contains no points until the continuity is broken by marking the points."20. Ein Kontinuum hat keine bestimmten Teile anderer Art als es selbst, aus denen es zusammengesetzt wäre; es ist keine Punktmenge. Die quantitative Definition nimmt auf Cantors 21 Mächtigkeitsabstufungsfolge 1,2, ... ; Alepho; 2 exp Alepho; 2 exp 2 exp Alepho etc. Bezug und sagt letztlich, daß das (lineare) Kontinuum der Grenzwert dieser Folge ist. In gewisser Hinsicht ist dies eine Punktmenge, aber eine mögliche von völlig verschmolzenen Punkten 22. 23 Peirce stellt dann eine erweiterte Kontinuumshypothese auf, die besagt, daß es keine Menge gibt, die größer als überabzählbar sowie kleiner als "übermächtig" ist. Dieses Peircesche Kontinuum kommt dem "anschaulichen" Kontinuum relativ nahe, das vorhin erwähnt wurde. Peirce versucht es mathematisch zu konstituieren im Gegensatz zu Weyl. Aber es ist sicher zu amorph, in ihm gibt es keine distinkten Entitäten, derer ein Prozeß bedarf, um zu endlichen Produkten zu kommen, wie es Schelling versucht hat zu zeigen. Auf der anderen Seite ist die Peirce (FN 17). Georg Cantor, Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre § 11 (1895/ 7), Gesammelte Abhandlungen S. 310 f.: "perfekt" (andere Version als in (FN 15» und "überalldicht" . 20 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, Carnbridge (Mass.) 1935, § 168. Vgl. auch Murray S. Murphey, The Development of Peirce's Philosophy, Carnbridge (Mass.) 1961, Kap. 13; Vincent Poller / Paul Shields, Peirce's Definitions of Continuity, in: Transactions ofthe Charles S. Peirce Society 13(1) (1977) 20; N. A. BrianNoble, Peirce's Definition ofContinuity and the Concept ofPossibility, in: Transactions ... 25(2) (1989) 149. In diesen Aufsätzen und dem Kapitel sind die wesentlichen Peircestellen zitiert, sie befassen sich auch alle ausführlich mit Cantor. 21 Peirce hat einige Theoreme unabhängig von Cantor aufgestellt und bewiesen. 22 Hier tritt das Problem der aktualen Unendlichkeit auf. 23 Zum besseren Verständnis gebe ich folgende Stelle an: ,,Let us now suppose that there is a collection (z Menge) of distinct objects of each of those multitudes (z Mächtigkeit, bezogen auf die erwähnte auch ordinale Folge). Then, taking any of those collections, no matter what, there is, arnong the whole collection of those collections, a denumerable multitude of collections each of which is greater than the collection chosen. Let us now throw together all the distinct individuals of those collections so as to form an aggregate collection (z Gesamtmenge). This aggregate collection is greater than any of the single collections; for it has, as we have just seen, a denumerable collection of parts greater than any one of those collections. I shall call it a supermultitudious collection." (Charles Sanders Peirce, The new Elements of Mathematics, (ed.) C. Eiseie, The Hague / Paris 1976, Vol. I1I/l, S. 86). 18
19
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Fassung des Kontinuums als Punktmenge - wie es Cantor durchführte und wie es heute in der Theorie der Mannigfaltigkeiten noch gemacht wird - so auch nicht akzeptabel, da sie zu statisch ist. Für eine Theorie der Dynamik, der Emergenz (und letztlich auch der Selbstorganisation) brauchen wir eine andere grundlegende Struktur, wobei jedoch die - manchmal negativen - Ergebnisse der bisherigen Debatte benützt werden müssen; insbesondere der implizite Problemstand von Schelling bietet sich an, das strukturelle Problem der Emergenz herauszuarbeiten. Eine Theorie der Selbstorganisation wäre eine Art Spezialfall einer Theorie der Emergenz: emergent ist die Entstehung jedes Neuen, auch der Zerfall einer Struktur oder die Bildung einer Gleichgewichtsstruktur; freilich ist dieses "Spezielle" hochgradig nichttrivial! Das verbindende Glied beider Theorien (ihre Korrespondenz sozusagen) besteht im Begriff der strukturellen Instabilität, was insbesondere Haken sehr gut gesehen hat (vgl. Abschnitt 5).
IV. Das Grundproblem der Emergenz Das Grundproblem der Emergenz besteht im wesentlichen darin, daß jedes neue Ereignis als neues identifizierbar, separiert von anderen Ereignissen, und damit diskret sein muß; andererseits erfordert die Dynamik des Neuen mindestens eine Quasi-Kontinuität, da eine diskrete Kette (von Ereignissen) letztlich nur die statische Abbildung einer zugrundeliegenden Prozessualität als Unerschöpflichkeit, d. h. stete Teilbarkeit oder (invers) stete Produktion des Gleichen, des Potentiellen repräsentiert. Natürlich muß sofort gesagt werden, daß diese nur Extreme des Spektrums der Bedingungen von emergenten Vorgängen bilden und somit als solche nicht ontisch realisiert sind. Gäbe es kontrafaktisch nur Dynamik, würde also die Kontinuität des Prozesses die Entstehung des Neuen nicht zulassen, hinwiederum würde die Existenz bloßer Diskretheit jegliche Dynamik verhindern.
Dynamik und Neuheit sind somit komplementär. Bergson (wir führen ihn nur wegen seines Problemaufrisses an, nicht um ihn zu rekonstruieren) versuchte dem durch Einführung einer "qualitativen Vielfältigkeit" Rechnung zu tragen "wh ich he opposed to the arithmetical multiplicity of distinct juxtaposed units"24, welche trotzdem anscheinend gerade die Diskretheit betont: "Bergson's emphasis on the heterogenity of successive moments may at first glance appear to contradict his insistence on the introspective continuity of duration. "25
24
25
Milic Capek, Bergson and Modern Physics, Dordrecht 1971, S. 118. Capek (FN 24), a. a. O.
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Jedoch soll die Bedeutung dieses Begriffes, welcher Neuheit und Dauer zusammenbringen soll, eben keineswegs "bloße Diskretheit", sondern "unteilbare Vielfaltigkeit" und "nicht separierbare Aufeinanderfolge" sein: " ... both are synonymous with 'qualitative multiplicity' , which now has to be elucidated. Then and only then it will become dear that indivisible continuity in Bergson's sense is not the timeless identity in which every novelty would be condemned to disappear; nor is the heterogenity of successive phases comparable to discreteness in the arithmetical sense." 26 Es wird der Versuch unternommen, die beiden komplementären Aspekte durch eine Bedeutungsverschiebung der Begriffe an den Enden des Spektrums zusammenzubringen: die Kontinuität soll unteilbar sein, und die Diskretheit bindet auch und wesentlich die Heterogenität zusammen. In diesem Sinne soll Kontinuität und Diskretheit in Eins fallen und damit eine dynamische Theorie der Emergenz möglich sein. Der dynamische Charakter der Kontinuität kommt dadurch zum Ausdruck, daß die "Kontinuität des Werdens" in ein "Werden der Kontinuität" umgeformt wird 27 und damit auch Neuheit garantiert ist. Das Entstehen des Neuen ist nicht kontinuierlich im Sinne einer immer weiteren Teilbarkeit des Aktes der Emergenz, nur das Produkt - also das Neuentstandene - ist teilbar. 28 Man entkommt damit, so Whitehead, einem zenonischen Paradox des Werdens bzw. der Entstehung des Neuen. Es geht darum, daß aus zwei Prämissen ein Widerspruch folgt; nämlich aus: 1. Wenn etwas entsteht, entsteht eine wirkliche Entität.
+
2. Jeder Entstehensakt der Dauer t ist mindestens in zwei Entstehensakte der Dauer teilbar. Es entsteht entweder Nichts, oder der Entstehensakt ist nicht teilbar, d. h. es gibt keine Kontinuität des Entstehens, sondern nur das Entstehen der Kontinuität. Und warum entstünde Nichts? "Consider, for example, an act of becoming during one second. The act is divisible into two acts, one during the earlier half of the second, the other during the later half of the second. Thus that which becomes during the whole second presupposes that which becomes during the first halfsecond. Analogously, that which becomes during the first halfsecond presupposes that which becomes during the first quartersecond, and so on indefinitely. Thus if we consider the process of becoming up to the beginning of the second in question, and ask what then becomes, no answer can be given. For, whatever creature we indicate presupposes an earlier creature which became 26 27
Capek (FN 24), S. 119. Capek (FN 24), S.97 und Alfred N. Whitehead, Process and Reality, New York
1941, S. 53 - für Whitehead gilt dasselbe wie für Bergson, s. o. 28 Whitehead (FN 27), a. a. O.
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after the beginning of the second and antecedently to the earlier creature. Therefore there is nothing which becomes, so as to effect a transition into the second in question."29 Auch das Entstehen zu jedem Punkt ist nicht möglich, da es keinen nächsten Punkt gibt. Das Grundproblem der Emergenz besteht also immer in der Vermittlung von Diskreturn und Kontinuum, quasi im vergeblichen Versuch, Separiertes und Zusammenhängendes zu vereinen, wobei der Zusammenhang eine Proportionalität zwischen Vor- und Nachzustand eines emergenten Vorganges zu stiften hätte, während die Separation gerade die "Unproportionalität" des Neuen bezüglich des Alten zu betonen hätte 3o • Ganz hart formuliert müßte man sogar sagen, daß der Nachzustand in keiner Proportion zum Vorzustand steht. Wir könnten dann ein neues Paradox formulieren: Wenn es Emergenz gibt, muß man den emergenten Vorgang in den Anfangs-, den Zwischen- und den Endzustand aufteilen, um analysieren zu können, wann und wie genau das Neue entsteht. Wenn zwischen dem Anfangszustand und dem Endzustand eine Proportion besteht, ist nichts wirklich Neues entstanden. Wenn zwischen dem Anfangs- und dem Endzustand keine Proportion besteht, ist etwas Neues entstanden. Jedoch sind überhaupt nur Zustände aufeinander sinnvoll in einem Werdensvorgang beziehbar, wenn zwischen ihnen eine Proportion besteht. Also teilt man den Anfangszustand, den Zwischenzustand und den Endzustand jeweils wieder in Anfangs-, Zwischenund Endzustand. Man sieht nach, ob zwischen Anfangs- und Endzustand des erstangenommenen Anfangszustandes eine Proportion besteht. Ist dies der Fall, dann entstand dort nichts Neues. Ist es nicht der Fall, dann teilt man wieder sowohl den Anfangs- als auch den Zwischen- und den Endzustand des zweitangenommenen Anfangszustandes in die drei Zustandsarten auf. Dasselbe Verfahren wird angewandt auf den Zwischenzustand und Endzustand der ersten Aufteilung. Und so weiter. Nie stößt man auf die Entstehung des Neuen. Also entsteht nichts Neues. Wir werden sehen, daß man diesem Dilemma nur entkommen kann, wenn man eine Struktur findet, die sowohl zusammenhängend als auch unzusammenhängend ist. Ich denke, daß die fraktal zusammenhängenden Figuren aus Monaden diese Struktur sind.
V. Das genaue Verhältnis von Vor- und Nachzustand in einer Nichtstandard Topologie als Grundlage einer Theorie der Emergenz "Emergenz" kann als "antimorphe Abbildung" f zwischen dem Vor- und Nachzustand eines Systems definiert werden. "Antimorph" heißt dabei "nicht 29 30
Whitehead (FN 27), S. 106. Vgl. auch Marie-Luise Heuser-Keßler Die Produktivität der Natur. Schellings Na-
turphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986, S. 69 ff.
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strukturerhaltend". Präziser ist damit gemeint, daß es sich um eine nicht-homöomorphe (homöomorph: f bijektiv; f und.TI stetig) Abbildung handelt, bei der wesentliche Struktureigenschaften des Vorbereichs in der Abbildung auf den Nachbereich nicht erhalten bleiben. Topologisch bedeutet das, daß diejenigen topologischen Invarianten in einem Antimorphismus nicht erhalten bleiben, die Bijektivität und Stetigkeit eines Homöomorphismus gewährleisten. Oder anders ausgedrückt: Antimorphismen sind eine (Unter)Klasse aus der Klasse von Abbildungen, die der Bedingung genügen, daß in ihnen die entsprechenden topologischen Invarianten nicht erhalten bleiben. In einem Antimorphismus ändert sich also das topologische Geschlecht, bzw. die Zusammenhangszahl des betrachteten Gebildes, wobei der Zusammenhang hier definiert ist durch Definition 1: Eine geschlossene Fläche heißt (n + l)-fach zusammenhängend, wenn n (n E N) die maximale Anzahl von 10rdankurven auf der Fläche ist, die die Fläche nicht zerlegen.
und das Geschlecht durch Definition 2: Ist eine zweiseitige geschlossene Fläche einer Kugel Hp mit p Henkeln homöomorph, so heißt p das Geschlecht der Fläche. 31
Die Beziehung von Geschlecht p und Zusammenhang z ist dabei durch z = 2p + 1 gegeben. Bei der antimorphen Abbildung haben also Vor- und Nachzustand immer jeweils eine andere Zusammenhangszahl, so z. B. bei der nicht homöomorphen Abbildung einer Kugel (einfach zusammenhängend) in einen Torus (dreifach zusammenhängend). Als zusätzliche Bedingung eines Antimorphismus kann man eine gebrochene Bewegung (etwa eine Bifurkation in einem Potentialfall) für das System angeben, so daß man der Abbildung (d. h. dem Übergang vom Vorzustand in den Nachzustand) eine (reelle) Hausdorff-Dimension zuordnen kann. Im Kugel - Torus Beispiel (wie auch in den meisten anderen Fällen) muß man das sich verändernde, und d. h. hier einem emergenten Vorgang unterworfene Objekt, bezüglich seiner strukturellen Instabilität charakterisieren 32 , wobei man dann einen Symmetriebruch feststellen wird. In einem Potentialfall handelt es sich um eine symmetriebrechende Instabilität, d. h. einen Austausch der stabilen Lagen 33, d. h. Attraktoren und Repelloren tauschen ihre Lage aus, so daß der Nachzustand dem Vorzustand komplementär ist 34 • Ein derartiger Symmetriebruch kann dann als eine Vgl. beliebige Topologie-Lehrbücher. Vgl. Peter Eisenlwrdt / Dan Kurth, Aufriß einer Theorie der Emergenz, in: W. Saltzer (Hrsg.), Zur Einheit der Naturwissenschaften in Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 1990. 33 Hermann Haken, Synergetik. Eine Einführung, Berlin / Heidelberg / New York 31
32
1982, S. 120. 34
Eisenlwrdt / Kurth (FN 32), S. 135.
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fraktale Bewegung im Bifurkationspunkt 35 interpretiert werden, indem man eine Zuordnung von der Potentialfallbewegung und einer Bewegung auf einem CantorDiskontinuum vornimmt.
Beide Bedingungen zusammen sind dann hinreichend für einen Antimorphismus: die erste Bedingung gibt die globalen constraints ex negativo, die zweite Bedingung gibt die lokalen constraints positiv an. In der hier vorgelegten Fassung wird versucht, die lokalen constraints präziser zu formulieren, indem infinitesimale Größen im Sinne der Nichtstandard Analysis verwendet werden; gebrochen ist dann nicht die Dimension einer Struktur (-veränderung im Übergang von Vor- zu Nachzustand), sondern der Zusammenhang selbst. Diese Zusammenhangsstruktur ist allgemeiner definiert als der nfache Zusammenhang: eine zusammenhängende Figur kann dann nicht als die Vereinigung separierter Teilmengen (punktmengen der Figur) dargestellt werden. Die grundlegenden "Figuren" der Nichtstandard Topologie (NsT) sind "unzusammenhängender" als n-fach zusammenhängende Gebilde, sie sind nämlich total unzusammenhängend, d. h. ihre separierten, maximal zusammenhängenden Teilmengen, also ihre kleinsten "echten Teile", bestehen je nur aus einer fundamentalen Nichtstandardgröße: einer Monade. Darin besteht der grundlegende Unterschied unserer NsT zur üblichen Nichtstandard Topologie, in der Punkte bzw. Punktmengen die Grundgrößen bilden. Die üblichen Nichtstandard-Grundgrößen ergeben sich normalerweise durch eine echte Erweiterung eines Standard-Grundbereichs, d. h. daß sowohl die Standard-Größen einfach eine Erweiterung der Nichtstandard-Größen sind, als auch die letzteren immer wesentlich bezogen auf die ersteren definiert werden. Es bleiben damit sehr viele Eigenschaften der Standard-Größen erhalten, z. B. gelten in der NsT-Analysis Stetigkeit, Konvergenz, Cauchy-Folge, Integralbegriff etc. Das ist natürlich sehr vorteilhaft, wenn man R* (die Menge der hyperreellen Zahlen) mit R (Menge der reellen Zahlen) bezüglich Struktureigenschaften und Problemlösungskraft vergleichen will. Jedoch ergeben sich durch die Eigenschaftsähnlichkeiten von Standard- und Nichtstandard-Größen auch Nachteile; nämlich dadurch, daß unerwünschte Eigenschaften "hinübertransportiert" werden. In unserem Falle handelt es sich - wie erwähnt - um die Eigenschaft punktartig zu sein. Die übliche Nichtstandard-Topologie, die - in Analogie zur Nichtstandard-Analysis als einer Erweiterung der Standard-Analysis - eine Erweiterung der Standard-Topologie ist, geht von einem Standardraum (X, lfI) aus (wobei X die Trägermenge und lfIdie Familie der offenen Mengen ist); dabei sind alle x E X Standardpunkte, die den Standardraum konstituieren. Darauf werden nun Monaden, Umgebungsfilter etc. konstruiert 36, was hier selbstver35
36
Eisenhardt / Kurth (FN 32). Michael M. Richter, Ideale Punkte, Monaden und Nichtstandard-Methoden, Braun-
schweig / Wiesbaden 1982, Kapitel VI, insbesondere S. 121-125. 4 Selbstorganisation. Bd. 5
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ständlich nicht in Frage gestellt werden soll. Hier geht es vielmehr um einen völlig anderen Zugang zu einer Nichtstandard-Topologie. Man fangt sofort mit Monaden statt mit Standardpunkten an, wodurch sich ein völlig anderer Aufbau der Nichtstandard-Topologie ergibt. Dadurch kann man auch das Emergenzproblem genauer formulieren: Es bedeutet, daß jetzt der Ausdruck "Antimorphismus" die Abbildung eines Vorzustands (z. B. Kugel) in den durch einen gebrochenen Zusammenhang (aus diesem Vorzustand) erzeugten Nachzustand (in unserem Beispiel: Torus) bezeichnet. Dies kann auch so ausgedrückt werden: Ein Antimorphismus ist eine fraktgene Abbildung. D. h. der Zusammenhangscharakter ändert sich global von I-fach zusammenhängend zu 31ach zusammenhängend, wobei das Zwischenstadium in einer lokalen "Überspannung" des durch den Einbettungsraum erzeugten "Loches" (= Henkel) mit einer - bildlich gesprochen - infinitesimal dünnen Fläche besteht, die selbst aus lauter Monaden zusammengesetzt ist, d. h. ein QuasiKontinuum ist, das sich im Verlauf des emergenten Übergangs, bzw. der antimorphen Abbildung, zu einem Diskontinuum wandelt. Zusammenfassend kann man also sagen, daß Nichtstandard-Diskontinua in der Sprache der Standard (bzw. Hausdorff) Topologie formuliert nicht-metrische Diskontinua sind. Betont werden muß noch einmal der konstruierbare totale Nichtzusammenhangscharakter, der ja keinerlei Metrik voraussetzt. eh. S. Peirce hat eine Fassung der Mengenlehre aufgestellt, in welcher die Mengen sowohl durch die Elemente, die zu ihnen gehören, als auch durch die nicht zu ihnen gehörigen definiert sind; die ersten nennt er Ineunten, die letzteren Exeunten: "lst, the characters of the collection may consist in the possession of certain characters by certain relatively primitive individuals, termed its ineunts or members (Elemente). 2nd, the characters of the collection may consist in the possession of certain characters by other of the individuals of the same category as its ineunts, these being termed its exeunts."37 Eine weitere Ausarbeitung der Nichtstandard Topologie könnte an die StrukturAnalogie von Monaden-Komplementmonaden und Ineunten-Exeunten anschließen, denn auch in der hier vorgelegten Fassung gilt wesentlich: "But, since a collection is not well defined until what it excludes is defined, it follows from the above definition [ ... ], that a collection does not really ex ist, even ideally, until the complementary collection exists."38
37 Peirce (FN 23), S. 775 Peirce traf diese Unterscheidung zum Zwecke der Vermeidung der Paradoxie der Allmenge. 38 Peirce (FN 23), S. 776.
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VI. Der gebrochene Zusammenhang als fraktal topologische Struktur Eine genauere Charakterisierung der Theorie kann hier nicht geleistet werden, es soll aber noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich diese Version einer Nichtstandard Topologie im wesentlichen von der Standard Topologie und der üblichen Nst Topologie dadurch unterscheidet, daß keine Punktmengen als Grundgegenstände angenommen werden. Der Gegenstandsbereich dieser Version ist auch wesentlich inhomogener als der einer Punktmenge mit oder ohne infinitesimale Abstände der Punkte resp. mit oder ohne nichtstandard Punkte. Dies geschieht einfach dadurch, daß der Gegenstandsbereich aufgeteilt ist in Monaden und Komplementmonaden, zwischen denen eine Abbildungsbeziehung besteht; so können dann Figuren konstruiert werden. In gewissem Sinne soll damit der übliche Umgebungsbegriff (Punktumgebungen eines Punktes) fallengelassen werden. Wir haben damit auch keine Kontinuumstopologie mehr, sondern es wird sofort mit den eben charakterisierten Diskontinua angefangen, besser mit bestimmten Abbildungen von Diskontinua in Diskontinua. Um dies noch etwas zu explizieren, ist es sinnvoll, einen ,,zusammenhang" mit der fraktalen Geometrie aufzuzeigen, der eine mögliche Verallgemeinerung zu einer fraktalen Topologie nahelegt. Zuerst noch eine präzisere Bestimmung des Gegenstandsbereiches. Die Grundgegenstände der NsT sind also total unzusammenhängende (Teil-) Räume, also Diskontinua bzw., wenn man berücksichtigt, daß komplexere Figuren der N sT gewissermaßen aus Kontinua und Diskontinua zusammengesetzt sind, auch n-fach zusammenhängende Gebilde. Damit sind die Grundgegenstände der NsT aber insofern noch nicht hinreichend charakterisiert, als die üblichen Diskontinua und Kontinua der Standard Topologie aus Punkten bzw. Punktmengen bestehen. Dagegen bestehen ja die Grundgegenstände der NsT nicht aus Punkten oder Punktmengen, sondern aus Monaden, d. h. die kleinsten Größen der NsT bestehen aus den infinitesimalen Umgebungen von Standardpunkten, wobei die infinitesimalen Umgebungen die Standardpunkte enthalten 39 • Vorausgesetzt ist dabei, daß für die infinitesimale Umgebung, die unendlich nahe zum Standardpunkt liegt, keine intrinsische Metrik gilt 4O • Als Beispiel einer nichtstandard topologischen Figur kann das als eine infinitesimale Partition des Einheitsintervalls konstruierte Cantorsche Diskontinuum (c. D.) angegeben werden 41 • Das Standard-Co D. besteht ja aus Singletons, präziser bestehen seine Zusammenhangskomponenten je nur aus einer Menge, die genau einen Punkt als Element hat, d. h. die Mächtigkeit des Standard-Co D. ist gleich der des Kontinuums. Die separierten, maximal zusammenhängenden Teilmengen des Nichtstandard-C. D. 39 40 41
4*
Richter (FN 36). Richter (FN 36). Richter (FN 36), S. 139.
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bestehen dagegen je nur aus einer Monade. Dabei ist noch folgendes zu beachten: die Zusammenhangskomponenten einer nichtstandard topologischen Figur haben weder, wie schon erwähnt, je intern noch untereinander eine intrinsische Metrik, denn alle nichtstandard topologischen Figuren sind rein topologisch - d. h. hier: ohne vorausgesetzte Metrik - charakterisiert. Das bedeutet z. B., daß die Monaden des Nichtstandard-C. D. keineswegs "auf einer Geraden" liegen müssen, also gewissermaßen aus ihr "heraus-gestanzt" sein müssen, wie die Zusammenhangskomponenten des üblichen Standard-Co D. Die globale Verteilung der Monaden ist weniger eingeschränkt als die der Singletons, da weniger topologische Invarianten gelten und gar keine geometrischen. Es handelt sich um sehr "wilde" und "zerfetzte" Figuren, welche die "Monstrosität" (Mandelbrot) der Figuren der Fraktalen Geometrie noch um ein Vielfaches übertreffen, und zwar, weil in der NsT noch zusätzliche, solche Monstrositäten erzeugende Eigenschaften, insbesondere Durchdringungseigenschaften der nichtstandard topologischen Figuren, hinzukommen. Trotzdem sind einfache Konstruktionsregeln angebbar, mit denen sich aus den Grundgegenständen der NsT komplexe Objekte aufbauen lassen. Als einzige nichtstandard topologische Invariante kommt der Nichtstandard Zusammenhang selbst in Frage, und es ist ja gerade dieser Nichtstandard Zusammenhang, der die charakteristischen Durchdringungsverhältnisse der Figuren der NsT bedingt. Der Nichtstandard Zusammenhang selbst aber tritt entweder als Zusammenhangsstruktur der Nichtstandard Diskontinua bzw. Figuren der NsT auf, oder "zeigt sich" im Antimorphismus. In diesen beiden Fällen erweist sich zugleich, inwiefern der Nichtstandard Zusammenhang die einzige nichtstandard topologische Invariante ist. Denn bei der antimorphen Abbildung haben Vorund Nachzustand zwar immer jeweils eine andere Zusammenhangszahl, aber die Zusammenhangsstrukturen von Vor- und Nachzustand - jeweils für sich betrachtet - können durchaus ganz "normal", d. h. ohne ersichtlichen Nichtstandard Charakter, sein. Der Nichtstandard Zusammenhang muß also gewissermaßen "während" oder "innerhalb" der antimorphen Abbildung auftreten, wobei diese Relationen natürlich nur anschaulich und insbesondere nicht zeitlich gemeint sind; und er drückt sich darin aus, daß in der antimorphen Abbildung die Zusammenhangszahlen der betrachteten Figuren gebrochen werden. Der Nichtstandard Zusammenhang ist damit also ein gebrochener Zusammenhang. Zu diesem Ergebnis kommt man auch, wenn man die Zusammenhangsstrukturen der Figuren der N sT betrachtet. Hier beruht der Nichtstandard Zusammenhang letztlich auf einer ausgedrückten Äquivalenzrelation aller Figuren der NsT. Daraus folgt dann, daß auch alle beliebigen Partitionen dieser Figuren wieder Figuren der NsT sind, und gerade darin besteht - wie schon bei der "Mutter aller Figuren der N sT", dem Cantorschen Diskontinuum - ihr Nichtstandard Charakter. Damit ist aber zugleich auch gesagt, daß alle Figuren der NsT eine bestimmte Selbstähnlichkeit aufweisen, die aber - wie mehrfach gesagt - erheblich "unordentlicher"
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sein kann als die Selbstähnlichkeit von Gebilden der Fraktalen Geometrie. In beiden Fällen drückt diese Selbstähnlichkeit bzw. diese Möglichkeit der beliebigen Partition nichts anderes aus als die Gebrochenheit der entscheidenden Invariante, im Fall der NsT also den gebrochenen Zusammenhang der Figuren der NsT. Zugleich ist damit auch gesagt, daß die Nichtstandard Topologie, insofern sie die Theorie der antimorphen Abbildungen und die Theorie der Figuren der NsT umfaßt, zugleich auch eine Fraktale Topologie als ein Modell der NsT enthält. So, wie man den Antimorphismus als fraktgene Abbildung, d. h. als Abbildung über das gebrochene topologische Geschlecht der betrachteten Figur, bezeichnen kann, kann man - in Analogie zu den Fraktalen der Fraktalen Geometrie den gebrochenen Zusammenhang der Figuren der NsT als Fraktgen bezeichnen. Dabei ist "Fraktgen" als eine Teilchenmetapher für Antimorphismus, bzw. fraktgene Abbildung zu verstehen. Das Fraktgen bezeichnet gewissermaßen die Position der für den emergenten Zustand eines betrachteten dynamischen Systems charakteristischen Verzweigung in der Gesamtheit des generischen Verzweigungsraums, der global dann nicht mehr der R* der NsT ist, sondern im Regelfall ein metrischer Raum oder sonst ein jeweils geeigneter Darstellungsraum. Dem Antimorphismus, also der Veränderung der lokalen Zusammenhangsstruktur, liegt dabei - in einer quasiphysikalischen Beschreibung - m. E. eine fraktale Bewegung im Bifurkationspunkt zugrunde, die als Zustandsänderung der dynamischen Grundgrößen der betrachteten Systeme anzusehen ist. Der Ausdruck "Fraktgen" faßt diese Zustandsänderung also gleichsam analog der Bewegung eines Quasiteilchens auf. Es ist damit auch möglich, die Dynamik der betrachteten Systeme anzugeben 42; insbesondere die Dynamik zu klassifizieren - zumindest im Prinzip.
VII. Nachbemerkung: Aktuale Unendlichkeit und Emergenz Eine grundlegende Theorie der Emergenz und Dynamik sollte sich auch auf das Universum als Ganzes beziehen und somit - wie es Schelling beabsichtigte - die Theorie der Komplexität und die Theorie der Grundstrukturen aufeinander beziehen oder schärfer, sie als eine Theorie fassen 43 ; das ist freilich noch ein 42 Vgl. dazu die Betrachtungen in Peter Eisenhardt / Dan Kurth, Emergenz und Dynamik. Naturphilosophische Grundlagen einer Nichtstandard Topologie, Cuxhaven 1993; ein großer Teil der Überlegungen hier wie auch schon im Vortrag (Schelling-Kolloquium Bad Homburg) ist aus diesem Buch teilweise überarbeitet übernommen, vgl. besonders Abschnitte 4-6. 43 Das Problem sieht auch Rainer E. Zimmermann, Selbstreferenz und poetische Praxis, Cuxhaven 1991; auch die hier vorgelegte Theorie versucht dem wenigstens prinzipiell Rechnung zu tragen, und zwar durch eine Theorie der Initialemergenz.
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Desiderat. Hier ist dann auch der Ort eines Begriffes, dessen Diskussion ausgespart wurde, nämlich der aktualen Unendlichkeit: Aktual unendlich kann höchstens der Grundzustand des Universums als wesentlich nichtempirischer Zustand sein, d. h. der Zustand, aus dem dann wechselwirkende Universen emergieren. Aber um diese Initialemergenz als Strukturanreicherung zu begreifen, kann der Grundzustand nicht als Kontinuum bestehen, da eine kontinuierliche und metrische Struktur erst entstehen muß. Richtig ist freilich, daß die gesamte Dynamik des Universums durch die Initialemergenz entstand; wobei echte Neuheit emergieren mußte: Die empirische Information des wechselwirkenden Universums darf nicht schon im Grundzustand kodiert sein; dies muß bezüglich des Begriffes einer aktualen Unendlichkeit berücksichtigt werden.
Was kann die heutige Mathematik von Schelling lernen? Von Knut Radbruch, Kaiserslautern In der Geschichte der mathematischen Lehrbücher nehmen Christian Wolffs "Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften" zweifellos eine Sonderstellung ein. Das 1710 in erster Auflage erschienene vierbändige Werk erreichte noch zu Lebzeiten seines Autors sechs weitere Auflagen und fungierte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein als Standardwerk. Es hat nicht nur den Übergang vom Lateinischen zum Deutschen als Fachsprache der Mathematik, sondern auch die Entfaltung einer mathematischen Öffentlichkeit in Deutschland entscheidend gefördert. Recht zufällig bekam der Hamburger Astronom Schumacher im Jahr 1844 ein Exemplar dieser Anfangsgründe in die Hand, entdeckte einige Unzulänglichkeiten darin und präzisierte seine Kritik in einem Brief an seinen ständigen Korrespondenzpartner Carl Friedrich Gauß in Göttingen: "Ich ... fand zu meinem Erstaunen, eine Nachlässigkeit und Verwirrung der Begriffe in manchen Definitionen, die man einem Philosophen ex professo schwerlich zutrauen sollte." I Bereits drei Tage danach antwortete ihm Gauß: "Dass Sie einem Philosophen ex professo keine Verworrenheiten in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast. Nirgends mehr sind solche ja zu Hause, als bei Philosophen, die keine Mathematiker sind, und Wolf war kein Mathematiker, wenn er auch wohlfeile Compendien gemacht hat. Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Consorten, stehen Ihnen nicht die Haare bei ihren Definitionen zu Berge."2 Wer hier Schelling und seinen Kollegen so schlechte Zensuren erteilt, ist nicht irgend wer. Der fast siebzigjähige Gauß galt seinerzeit als führender Mathematiker mit einer bemerkenswerten Affinität zu philosophischen Fragestellungen. Leider hat Gauß seine Philosophen-Kritik nicht durch Beispiele oder Zitate ergänzt. Wir dürfen aber annehmen, daß ihm die Aussage des jungen Schelling ,,3 ... ist ... eine Zahl, die in der Unendlichkeit liegt."3 ganz und gar nicht gefallen hat. Es haben aber nicht nur Mathematiker Bedenken an Schellings Umgang mit Mathematik angemeldet. Bereits 1798 schreibt Novalis an Friedrich Schlegel: "Schelling I Briefwechsel zwischen C. F. Gauss und H. C. Schumacher, hrsg. von C. A. F. Peters, 4. Band, Altona 1862, S. 337. 2 Ebenda, S. 337. 3 F. W. J. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe. Werke Bd. 4, hrsg. von W. G. Jacobs und W. Schieche unter Mitwirkung von H. Buchner, Stuttgart 1988, S. 173.
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ist jetzt auch mit der Mathematik handgemein geworden - schreibt er auch hier zu schnell, so muß er Lehrgeld, wie mit den Ideen bezahlen. "4 Schellings Schreibmentalität gab seinen Freunden ohnehin Anlaß zu Kritik. Friedrich Schlegel äußerte sich besorgt in einem Brief an Niethammer: "Überhaupt scheint mirs, als wäre Gefahr vorhanden, Schelling möchte sich aus einander schreiben."5 Gefragt sei zunächst, wo und wie Schelling der Mathematik begegnet ist. Als Hofmeister begleitet der Einundzwanzigjährige 1796 die Barone von Rieqesel an die Universität Leipzig und nimmt dort sogleich Kontakt mit Vertretern der Universität auf. Die Biographen vermerken für diese Zeit übereinstimmend intensive Studien in Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin. Es gilt als sehr wahrscheinlich, daß sich Schelling dem damals in Leipzig wirkenden Mathematiker Hindenburg angeschlossen hat, seine Vorlesungen hörte und sich auch dessen Hausgesellschaft und Schülerkreis zugewandt hat. Verläßliche Angaben über die Titel der von ihm besuchten Vorlesungen oder über die von Schelling erarbeitete mathematische Literatur gibt es nicht. Doch finden sich im Anschluß an seine Leipziger Zeit signifikante mathematische Spuren in Schellings Werk. Fast alle seine philosophischen Arbeiten, die zwischen 1797 und 1805 erscheinen, enthalten Anmerkungen, Einschübe, Hinweise zur Mathematik. Und wie steht es um die von Novalis befürchtete zu hohe Schreibgeschwindigkeit Schellings im Hinblick auf Mathematik? Ist das vernichtende Urteil von Gauß gerechtfertigt? In der Tat finden sich beim jungen Schelling einige seltsame, teilweise auch widersprüchliche Äußerungen zur Mathematik. Novalis Befürchtung besteht sicherlich zu Recht - Schelling hat in der Mathematik des öfteren wirklich sehr schnell geschrieben. Aber hin und wieder tappt jeder Wissenschaft1er in eine Radarfalle und wird wegen Geschwindigkeitsübertretung angemahnt. Das kann - muß nicht - disziplinierend wirken. So ist denn auch Schellings Phase, da er im Hinblick auf Mathematik widersprüchlich und fehlerhaft denkt und schreibt, nach wenigen Jahren beendet. Spätestens mit den "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums", also schon 1803, erreicht Schelling eine Auffassung von Mathematik, die sowohl originell als auch konsistent ist, die für ihn sogar fünfundvierzig Jahre später in "Das Tagebuch 1848" noch Bestand hat und aus der wir auch heute, wie ich meine, noch viel lernen können. Ein klärendes Wort über den Umgang mit Schellings Werk - wenn auch nicht speziell auf die Mathematik bezogen - stammt von Jaspers aus dem Jahr 1913, als er in seiner "Allgemeinen Psychopathologie" schrieb: "Schelling entwickelte eine großartige Totalanschauung, die trotz der massenhaften Irrtümer im einzelnen und manchen Absurditäten im ganzen doch heute noch von Interesse ist." 6 4 Novalis, Schriften, Bd. IV. Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse, hrsg. von R. Samuel in Zusammenarbeit mit H.-I. Mähl und G. Schulz, Darmstadt 1975, S.263. 5 F. Schlegel, Die Periode des Athenäums, mit Ein!. u. Komment. hrsg. v. R. Immerwahr. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 24). Paderborn-München-Wien 1985, S.12.
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In diesem von Jaspers abgesteckten Rahmen soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls was die heutige Mathematik aus einer systematischen Rekonstruktion der rhapsodischen Anmerkungen und Einschübe des späten jungen Schelling zu dieser Disziplin lernen kann. Vorab seien einige Beispiele in Erinnerung gerufen, in welcher Weise Philosophie überhaupt förderlich und hilfreich auf Mathematik einwirken kann. Über die Blütezeit in Platons Akademie erfahren wir von dem Aristoteles-Schüler Dikaiarch: "Es war aber auch ein großer Fortschritt der mathematischen Wissenschaften in jener Zeit zu erkennen, wobei Platon die baumeisterliche Leitung hatte und die Aufgaben stellte, die dann die Mathematiker mit Eifer erforschten. Daher erreichten auf diese Weise damals zuerst ihren Höhepunkt die (allgemeine) Maßtheorie und die Probleme der Definitionen, in dem Eudoxos die ursprünglichen (altertümlichen) Ansätze des Hippokrates (von Chios) vollständig erneuerte. Es machte aber (im besonderen) auch die Geometrie einen großen Fortschritt."7 Ähnlich ehrgeizige Ansprüche für die Entwicklung der Mathematik baumeisterlieh und also konzeptionell Führungsfunktionen zu übernehmen, hat Schelling zu keiner Zeit erhoben. Steuerungshinweise oder Wegmarken für die interne Entfaltung der Wissenschaft Mathematik sind von ihm somit auch nicht zu erwarten. Aber jede Disziplin wird stets auch durch eine externe Reflektion über das interne Vorgehen begleitet. Recht pointiert wird dies durch Heidegger ausgesprochen: "Was Mathematik sei, läßt sich niemals mathematisch ausmachen ... In dem Augenblick, wo die Frage nach der Wissenschaft überhaupt, d. h. immer zugleich nach den bestimmten möglichen Wissenschaften gestellt wird, tritt der Fragende in einen neuen Bereich mit anderen Beweisansprüchen und Beweisformen, als die sind, die in den Wissenschaften für geläufig gelten. Es ist der Bereich der Philosophie ... Eine Wissenschaft ist nur so weit wissenschaftlich, d. h. über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen, als sie philosophisch ist."8 In diesem Kontext besteht nun für die heutige Mathematik ein begründeter Anlaß, auf Schelling zuzugehen. Denn - so überraschend dies auch sein mag - die philosophische Basis gegenwärtiger Mathematik, und das ist mit Heidegger die Wissenschaftlichkeit dieser Disziplin oder auch die Einsicht, weshalb und wodurch gegenwärtige Mathematik über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen ist, läßt sich mit den bislang dafür bemühten Philosophen bzw. philosophischen Schulen und Systemen nicht hinreichend klären. Deshalb erscheint es angebracht und legitim, Schellings Auffassung von Mathematik in den Blick zu nehmen, sie gegen die entsprechenden Ansichten etwa von Platon und Kant abzusetzen, um sie schließlich mit aktuellen Problemen heutiger Mathematik in einen Begründungszusammenhang zu bringen. 6 K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 8. Aufl. Berlin / Heidelberg / New York 1965 (8. Aufl.), S. 277. 7 K. Gaiser, Philodems Acadernica, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 152. 8 M. Heidegger, Nietzsche I., Pfullingen 1961, S. 372.
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In seiner "Philosophie der Offenbarung" gibt uns Schelling einen Wink, wie man sich einem Philosophen nähern sollte: "Will man einen Philosophen ehren, so muß man ihn da auffassen, wo er noch nicht zu den Folgen fortgegangen ist, in seinem Grundgedanken; denn in der weiteren Entwicklung kann er gegen seine eigne Absicht irren, und nichts ist leichter als in der Philosophie zu irren, wo jeder falsche Schritt von unendlichen Folgen ist, wo man überhaupt auf einem Wege sich befindet, der von allen Seiten von Abgründen umgeben ist. Der wahre Gedanke eines Philosophen ist eben sein Grundgedanke, der von dem er ausgeht."9 Befolgen wir also diesen Wink und fragen nach Schellings Grundgedanken in bezug auf die Mathematik, suchen somit nach einer griffigen Formulierung jener Auffassung bzw. Charakterisierung der Mathematik, von der er ausgeht, die ihm fortan als Leitlinie dient, zu der er also immer wieder zurückkehrt. Dieser Grundgedanke besteht bei Schelling in der seiner Meinung nach sowohl für die Mathematik als auch in der Mathematik charakteristischen Einheit von Besonderem und Allgemeinem. In den "Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie" heißt es 1802: "Die Mathematik ... gelangt zur absoluten Erkenntniß . . . nach dem Vernunftgesetz der Identität, der absoluten Einheit . . . des Besonderen und des Allgemeinen." 10 "Das Dreieck, welches der Geometer construirt, ist für ihn das Urbild selbst, denn es ist für ihn, d. h. für seine eigenthümliche Anschauung, absolute Einheit des Allgemeinen und Besonderen, ..." 11 Diese Einheit von Besonderem und Allgemeinem ist nun in jedem Fall eine ebenso originelle wie kühne These im Hinblick auf Mathematik. Aber Schelling ist Philosoph und somit sind bei ihm mathematische Einschübe stets in den Dienst seiner Philosophie gestellt, müssen also immer im Kontext seiner Philosophie gelesen werden. Dies gilt auch und gerade für die Einheitsthese zur Mathematik, denn ihr folgt 1803 in den "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" jener zentrale Satz: "Philosophie und Mathematik sind sich darin gleich, daß beide in der absoluten Identität des Allgemeinen und Besonderen gegründet ... sind;" 12 Mit dieser programmatischen Aussage nimmt Schelling nicht nur im Hinblick auf Mathematik, sondern insbesondere auch in seiner Philosophie eine klare Gegenposition zu Kant ein. Es ist ratsam, die Einheits-These zunächst mit besonderem Blick auf Mathematik zu analysieren und erst anschließend auch die Philosophie mit einzubeziehen. Die hier von Schelling vorgebrachte These der Einheit von Besonderem und Allgemeinem in der Mathematik muß als neuartige Antwort auf eine alte Frage 9 F. W. Schellings Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, I. Abt. Bde. 110., II. Abt. Bde. 1-4. Stuttgart 1856-1861 (Fortan werden nur Abt. und Bd. genannt), II 3, S. 60. 10 I 4, S. 346. 11 I 4, S. 347. 12 I 5, S. 255.
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gesehen werden, wobei diese neue Antwort in bewußter Gegenposition zu tradierten Antworten entworfen ist. Wir rufen zunächst die Frage in Erinnerung und skizzieren anschließend die Antworten von Platon und Kant. Am Beispiel der Mathematik wurde in der klassischen Antike eine neue Art von Wissen, und damit zugleich die Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt, entdeckt. Worin bestand die grundlegende Neuerung, worin zeigte sich der charakteristische Unterschied gegenüber der traditionsreichen orientalischen Mathematik? In der babylonischen Geometrie werden durchaus anspruchsvolle, jedoch stets konkrete und praxisorientierte Aufgaben zusammen mit der Lösung in Gestalt einer detaillierten Rechenvorschrift präsentiert. Zum Beispiel wird die Diagonale eines rechteckigen Tores berechnet und dabei mit dem Gehalt des Satzes von Pythagoras argumentiert. Ganz analog wird eine Leiter an eine Wand gelehnt und die Höhe der Leiterspitze in Abhängigkeit des Abstandes von Wand und Fußpunkt der Leiter untersucht. Dabei fehlt jeder Hinweis auf eine Begründung, jede Andeutung auch nur eines Beweises. Einziges Wahrheitskriterium ist offensichtlich die pragmatische Bewährung in der Praxis. In der Thaletischen Geometrie hingegen werden Behauptungen von bis dahin nicht gekannter Allgemeinheit aufgestellt. Proklos berichtet darüber: "Heil dem alten Thales, dem Entdecker vieler anderer und besonders dieses Theorems! Denn man sagt, er habe als erster erkannt und ausgesprochen, daß in jedem gleichschenkeligen Dreieck die Basiswinkel gleich sind, ...".13 Über das Theorem von der Gleichheit der Scheitelwinkel an sich schneidenden Geraden heißt es bei Proklos: "Es [das Theorem] wurde, wie Eudemos berichtet, von Thales zuerst entdeckt, des wissenschaftlichen Beweises aber vom Verfasser der "Elemente" für wert erachtet". 14 Statt von Tordiagonalen und Leitern ist hier von Geraden die Rede; die Inspektion in Form einer ausgeführten Lösung wird durch den Hinweis ersetzt, daß Thales "erkannt" und "entdeckt" habe. Proklos stellt mit Blick auf Euklids Elemente auch schon den Unterschied zwischen Entdeckung und Beweis einer Aussage heraus. Es besteht heute Konsens, daß bereits Thales für seine neuen geometrischen Theoreme Beweise gegeben hat, die sich jedoch grundlegend von jener Art und Weise, wie in den Elementen Euklids bewiesen wird, unterscheiden. Schon der Sophist Protagoras übte Kritik an den Aussagen der Geometer, indem er darauf hinwies, daß die Erfahrung im Widerspruch zu zentralen geometrischen Behauptungen stehe. Aristoteles schreibt darüber: "Denn die sinnlich erfaßbaren Linien sind nicht derartig, wie der Geometer von ihnen spricht. Nichts sinnlich Erfaßbares nämlich ist in dieser Weise gerade oder rund; denn der Kreis berührt nicht in einem Punkt das Lineal, sondern in der Art, wie das Protagoras 13
Proklus Diadochus. Euklid-Kommentar, hrsg. v. M. Steck, Halle, 1945, S. 341/
14
Ebenda, S. 374.
342.
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im Rahmen seiner Widerlegung der Geometer erörtert hat." 15 Wovon also handelte die Thaletische Geometrie? Über welche Arten von Dreiecken, Geraden, Winkeln und in bezug auf welche Gleichheit wurden hier allgemein gültige Aussagen formuliert? Die Wahrheit der neuen theoretischen Sätze wurde nicht bezweifelt; die Frage nach ihrem Geltungsbereich konnte jedoch mit mathematischen Begriffen und Denkformen nicht beantwortet werden. Hier wurde erstmals, jedoch keineswegs zum letzten Mal in der Geschichte abendländischer Wissenschaft, ein eklatantes Defizit sichtbar: Gesucht wurden die theoretischen Gegenstände zu bereits vorhandenen theoretischen Sätzen. Es ist dies ein wichtiger, jedoch nicht der einzige Teilaspekt jener umfassenden Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von theoretischer Wissenschaft überhaupt und deren Bezug zur Praxis. Eine Antwort hierauf kann nur von der Philosophie erwartet werden. Was schon in der Geometriekritik des Protagoras anklang, wird auch von Platon und später von Aristoteles wiederholt deutlich ausgesprochen, daß nämlich Mathematik nicht von sichtbaren und mit den Sinnen wahrnehmbaren Objekten handelt. "Jeder in der Wirklichkeit gezeichnete oder abgerundete Kreis ist mit dem dem fünften Widersprechenden erfüllt. Denn allerwärts streift er an das Gerade. Aber der Kreis an sich, behaupten wir, begreift weder viel noch wenig von der entgegengesetzten Beschaffenheit in sich." 16 "Auch daß sie sich der sichtbaren Gestalten bedienen und immer auf diese ihre Reden beziehen, unerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenen, dem diese gleichen, und um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonale ihre Beweise führen ..." 17 ". .. wie etwa die Geometer von einer Linie, die nicht einen Fuß lang ist, annehmen, sie sei einen Fuß lang." 18 Mit den Sinnen wahrnehmbare Kreise, Geraden, Winkel - im Sand, auf der Wiese, an der Mauer - sind also nicht die Gegenstände der Thaletischen Geometrie; sie können es auch gar nicht sein, da ihnen etwas Ungenaues, Widersprüchliches anhaftet. Platons genialer Einfall besteht nun darin, daß er mit den Ideen einen abstrakten Bereich postuliert und diese neue Ideenwelt als Schauplatz der Geometrie erklärt. Die Theoreme der Thaletischen Geometrie, so sagt er, gelten für die Idee des Dreiecks, die Idee des Winkels und zwar bezüglich der Idee der Gleichheit; die Mathematiker sprechen von gezeichneten Linien, meinen aber deren Idee. Mit den Ideen liefert Platon also nachträglich die theoretischen Gegenstände für zuvor bereitgestellte theoretische Sätze. Die Erklärungskraft dieser Lehre von den mathematischen Ideen war für Platon so überzeugend, daß er nach diesem Muster auch Ideen in völlig anderen Bereichen, etwa dem der Tugenden, einführte; Mittelstraß spricht deshalb von einer "Orientierungsfunktion, die die Konzeption zumal geometri15
Aristoteles, Metaphysik, übers. u. hrsg. v. F. F. Schwarz, Stuttgart 1970, 997 b /
998a.
16 Platon, Sämtliche Werke, Bd. 1-6, hrsg. von W. F. ütto, E. Grassi, G. Plambäck, Hamburg 1957, Bd. I, Briefe 343a. 17 Ebenda, Politeia, 51Od. 18 Aristoteles, Metaphysik, 1089 a.
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scher Ideen im Rahmen der Genese der Ideenlehre hat." 19 Patzig meint analog: "Wir können annehmen, daß Platon am Beispiel der Geometrie etwas aufgegangen ist, das er in der Ideenlehre festhielt."20 Die erste überzeugende Antwort auf die Frage, womit sich Geometrie befaßt, ist also eingebettet in eine umfassende philosophische Theorie. Andererseits kam diese Ideenlehre Platons durch eine Reflektion über die Objekte der Geometrie auf den Weg; Mathematik und Philosophie sind hier also untrennbar aneinander gebunden. Eine ganz andere Lösung des genannten Problems gab Kant. Für ihn können mathematische Erkenntnis und mathematischer Gegenstand nur gemeinsam auf den Weg gebracht werden: Selbstbewußtsein und Objektkonstitution sind unzertrennlich. Allerdings besteht für Kant im Gegensatz zu Platon eine fundamentale Differenz zwischen Mathematik und Philosophie, die er von Beginn an deutlich herausarbeitet. Dabei weist Kant auch auf ein mögliches Mißverständnis hin, indem er klar sagt, worin diese Differenz nicht besteht: sie "beruht nicht auf dem Unterschiede ihrer Materie, oder Gegenstände."21 Vielmehr gilt: "Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die mathematische aus der Construktion der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondierende Anschauung apriori darstellen."22 Als Konsequenz aus dieser Trennung von Philosophie und Mathematik vermittels "Begriff' und "Konstruktion des Begriffs" leitet Kant folgerichtig ab: "Die philosophische Erkenntniß betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen ..."23 Innerhalb dieser Theorie sind auf der Gegenstandsseite Allgemeines und Besonderes zwar in Korrespondenz, aber doch klar unterschieden; der Erkenntnisseite flillt die Aufgabe der Realisierung bzw. Dynamisierung dieser Korrespondenz von Besonderem und Allgemeinem zu und dies geschieht für Mathematik und Philosophie in entgegengesetzter Richtung. Nach Kant wird in der Mathematik das Allgemeine via Konstruktion im Besonderen betrachtet, in der Philosophie hingegen das Besondere via Abstraktion im Allgemeinen. Als Gegenentwurf zu diesen dualistischen Lösungen des Problems bei Platon und Kant schlägt Schelling nun ein monistisches Modell vor, welches durch den für ihn zentralen Begriff der Einheit geprägt ist. "Das Dreieck, welches der Geometer construirt, ist ... für ihn ... absolute Einheit des Allgemeinen und Besonderen ..."24 Solange mathematische Erkenntnis und mathematischer Ge19 J. Mittelstraß. Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre, in: Gymnasium, Bd. 92 (1985), S. 406. 20 G. Patzig. Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, in: Patzig, G., Tatsachen, Normen, Sätze, Stuttgart 1980, S. 126. 21 I. Kant. Werke, Akademie-Textausgabe. Bd. III, Kritik der reinen Vernunft 1787, 2. Aufl., Nachdruck Berlin: de Gruyter & Co. 1968, B 742. 22 Ebenda, B 741. 23 Ebenda, B 742. 24 (FN 9), 14, S. 347.
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genstand als Getrennte aufgefaßt werden, solange also die Einheit von Allgemeinem und Besonderem gleichsam von außen, nämlich von der Erkenntnis her, betrachtet oder vollzogen werden soll, ist sie unverständlich, wenn nicht gar widersprüchlich. Sie gelingt dann und nur dann, wenn ihr eine zweite Einheit zur Seite gestellt wird: die von mathematischer Erkenntnis und mathematischem Gegenstand, also von mathematischem Denken und mathematischem Sein. Wenn Erkenntnis und Gegenstand als untrennbare Einheit zugrunde liegen, hat es nicht nur Sinn, Allgemeines und Besonderes als Einheit aufzufassen, sondern diese zweite Einheit folgt sogar aus der ersten mit systemimmanenter Notwendigkeit. Diese doppelte Einheit von mathematischer Erkenntnis und mathematischem Gegenstand sowie von Allgemeinem und Besonderem, ist nun genau Schellings Grundgedanke im Hinblick auf Mathematik. Von diesem Grundgedanken ausgehend lassen sich fast alle Anmerkungen Schellings zur Mathematik in konsistenter Weise deuten und einordnen. Bevor dies an einigen typischen Beispielen demonstriert wird, sollen jedoch einige grundsätzliche Überlegungen Schellings zum Einheitsbegriff in den Blick genommen werden. Bei Schelling werden bis dahin getrennte, teilweise konträre Begriffspaare einer Einheit untergeordnet: Besonderes - Allgemeines, Denken - Sein, Freiheit - Notwendigkeit, Subjekt Objekt, Endliches - Unendliches usw. Die Konstituenten eines Paars verlieren auch in der Einheit nicht ihre Eigenständigkeit; es wird vielmehr in einer der beiden Komponenten die zugehörige Einheit erklärt bzw. dargestellt und dabei hängt die jeweilige Erscheinungsform oder Darstellungsweise der Einheit von der dazu gewählten Komponente ab. So kann die Einheit von Denken und Sein in der Mathematik sowohl im Denken als auch im Sein festgemacht werden den ersten Weg sieht Schelling in der Arithmetik realisiert, auf dem zweiten Weg erklärt bei ihm die Geometrie die Einheit: "so kann daraus, daß Geometrie und Arithmetik, jede ... diese Einheit, die eine ... im Seyn, die andere ... im Denken, ausdrückt, zugleich die Einheit und die Verschiedenheit der geometrischen und arithmetischen Anschauung hinlänglich begriffen werden."25 Eine andere Ausformung erhält Schellings Einheitskonzeption von Besonderem und Allgemeinem in der Mathematik, wenn er meint, "daß die Arithmetik ein Besonderes (Verhältniß von einzelnen Größen) im Allgemeinen, die Geometrie ein Allgemeines (den Begriff einer Figur) im Besonderen ausdrückt."26 Einheit und Eigenständigkeit bilden ebenfalls ein zusammengehörendes Paar; die Einheit wird auf jeweils besondere Weise zugleich mit der Eigenständigkeit der Komponenten gedacht. Wir hatten auf die Orientierungsfunktion der Mathematik für die Konzeption von Platons Ideenlehre hingewiesen. Analog hat sich Kant im Übergang von seiner vorkritischen zur kritischen Philosophie eng an der Mathematik orientiert. Man darf annehmen, daß auch Schelling am Beispiel der Mathematik Zusammen25 (FN 9), 14, S. 347. 26 (FN9), 15, S.130/ 131.
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hänge und Abhängigkeiten erkannte, die er dann für den Entwurf seiner Identitätsphilosophie aufgriff und entfaltete. Diese Annahme wird gestützt durch jene Passage aus der Vorrede zur "Weltseele", in welcher Schelling der Mathematik eine Orientierungs funktion in bezug auf sämtliche Wissenschaften zuerkennt: "Der Idealismus, den die Philosophie allmählich in alle Wissenschaften einführt (in der Mathematik ist er schon längst, vorzüglich seit Leibniz und Newton, herrschend geworden) scheint noch wenigen verständlich zu seyn."27 Von einer solchen Annahme ausgehend könnten sich sogar neue Zusammenhänge in der Philosophie Schellings aufschließen. Am Beispiel der Mathematik wird nämlich deutlich, daß Einheiten bzw. Einheitsoperationen in einem Verbund und nicht unabhängig voneinander in den Blick kommen. Analog liegt der Identitätsphilosophie von Schelling ganz offensichtlich ein komplexes Mosaik von EinheitsBausteinen zugrunde, wobei die einzelnen Bauelemente in jeweils mehrfacher Weise sowohl als Resultat wie auch als Anlaß solcher Einheitsoperationen fungieren. Im Hinblick auf die Philosophie bedarf ein grundlegender Unterschied zwischen Kant und Schelling noch der Erläuterung und Erklärung. Die Tatsache, daß bei Kant die Philosophie das Besondere im Allgemeinen und nicht wie die Mathematik das Allgemeine im Besonderen betrachtet, hat ja seinen Grund darin, daß nur die Mathematik das Mittel der Konstruktion zur Verfügung hat, nicht jedoch die Philosophie. Wenn nun Schelling in scharfem Gegensatz zu Kant sowohl Mathematik als auch Philosophie durch die Identität von Allgemeinem und Besonderem charakterisiert, muß also das Argument mit der Konstruktion hinfällig geworden sein. Und genau dies wird von Schelling in der Weise geleistet, daß er die Konstruktion auch in der Philosophie etabliert: "Die Lehre von der philosophischen Construktion wird künftig eines der wichtigsten Kapitel in der wissenschaftlichen Philosophie ausmachen ... " 28 Den Gleichklang von Mathematik und Philosophie mit der Identität von Allgemeinem und Besonderem erreichte Schelling durch eine neue Deutung von Konstruktion in der Mathematik und einer neuen Einführung von Konstruktion in die Philosophie. Was für viele Philosophen vor ihm gilt, trifft auch für Schelling zu: seine Auffassung von Mathematik und die Philosophie, zu deren Entfaltung diese Auffassung von Mathematik an zentralen Positionen in Gebrauch genommen wird, bilden eine architektonische Einheit. Schellings Philosophie und Mathematik erfüllen das Prinzip der Passung. Ausgehend vom Grundgedanken der doppelten Einheit von mathematischer Erkenntnis und mathematischem Gegenstand sowie Allgemeinem und Besonderem sollen nun einige für Schelling im Zusammenhang mit Mathematik zentrale Begriffe analysiert werden: Konstruktion, Subjektivität und Objektivität. 27 (FN 9), I 2, S. 351. 28 (FN 9), I 5, S. 125.
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Über die Konstruktion heißt es bei Kant: "Die philosophische Erkenntniß ist die Vemunfterkenntniß aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren heißt: die ihm correspondirende Anschauung apriori darstellen." 29 Bei Kant leistet die Konstruktion in der Mathematik die entscheidende Vermittlung zwischen Besonderem und Allgemeinem. Bei Schelling entfällt eine solche Vermittlung; stattdessen steht hier die Konstruktion für die Einheit von Besonderem und Allgemeinem: "Die Darstellung des Allgemeinen und Besondren in der Einheit, heißt überhaupt Construktion, ... "30 " ... die Construktion, als solche, ist in der Mathematik ... immer absolute und reale Gleichsetzung des Allgemeinen und Besonderen."31 An einem Beispiel aus der Geometrie weist Schelling in diesem Zusammenhang darauf hin, daß " ... das allgemeine Dreieck mit dem besondren wieder eins ist, und hinwiederum das besondere Dreieck statt aller gilt und Einheit und Allheit zugleich ist. Dieselbe Einheit drückt sich als die der Form und Wesen aus, da die Construction, welche als Erkenntnis bloß Form scheinen würde, zugleich das Wesen des Construirten selbst ist."32 Als Folge der Einheit von mathematischer Erkenntnis und mathematischem Gegenstand realisiert die Konstruktion somit die Einheit von Form und Wesen. Konstruktion steht hier für den Akt des Konstruierens, also für die Tätigkeit. Dieser Konstruktionsprozeß konstituiert zugleich die Einheit von Erkenntnis und Gegenstand: "Daß im theoretischen Handeln des Geistes (im Vorstellen) ihm durch das Handeln zugleich die Materie des Hande1ns, das Object entsteht, ... "33 Bei Kant vermittelt die Konstruktion zwischen Besonderem und Allgemeinem, bei Schelling realisiert die Konstruktion die Einheit von Besonderem und Allgemeinem. Es sei darauf hingewiesen, daß die heutige Mathematik im Hinblick auf das Verhältnis von mathematischer Erkenntnis und mathematischem Gegenstand der Auffassung Schellings wesentlich näher steht als derjenigen von Kant. Was nun Subjektivität und Objektivität im Hinblick auf die Mathematik betrifft, so ist zunächst in Erinnerung zu rufen, daß nach traditionellem Verständnis die Subjektivität auf der Seite der mathematischen Erkenntnis und die Objektivität mehr auf der Seite des mathematischen Gegenstands lokalisiert ist. Wenn nun Schelling jedoch Erkenntnis und Gegenstand als Einheit auffaßt, so müssen Subjektivität und Objektivität je für sich und auch im Verhältnis zueinander neu bestimmt werden. Allein schon in formaler Hinsicht wäre es konsequent, der Einheit von Erkenntnis und Gegenstand die von Subjektivität und Objektivität folgen zu lassen. Diesen Schluß hat Schelling in der Tat vollzogen, denn er meint: "Diese Einheit [des Besonderen und Allgemeinen in der Mathematik] ... 29 30 31 32 33
Vgl. FN (21), B 741. (FN 9), I 5, S. 252. (FN 9), 15, S. 131/132. (FN 9), I 5, S. 253. Vgl. FN (3), S. 155.
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ist der Grund ihrer absoluten Gewißheit, ... "34 An einer anderen Stelle erklärt er: "Hier [in der Mathematik] ist das Denken dem Seyn, der Begriff dem Objekt jederzeit adäquat, und umgekehrt, und nie kann auch nur die Frage entstehen, ob das, was im Denken richtig und gewiß sey, es auch im Seyn oder im Objekt sey, oder wie das, was im Seyn ausgedrückt ist, zu einer Nothwendigkeit des Denkens werde. Es ist hier mit Einem Wort kein Unterschied von subjektiver und objektiver Wahrheit, Subjektivität und Objektivität sind absolut eins, ... "35 Besonders deutlich schildert Schelling diese Zusammenhänge im "System des transzendentalen Idealismus" am Beispiel des Begriffspaars Subjektives - Objektives. Zunächst wird die Einheit klar herausgestellt: "Im Wissen selbst - indem ich weiß - ist Objektives und Subjektives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und Eins."36 Es folgt dann sofort der Hinweis, daß man für eine Erläuterung dieser Einheit notwendig mit einem der beiden Begriffe beginnen müsse, jedoch "von welchem von beiden ich ausgehe, ist durch die Aufgabe nicht bestimmt."37 Bevor nun Schellings Auffassung von Mathematik in einen Begründungszusammenhang mit heutiger Mathematik gebracht werden kann, muß kurz an die philosophischen Bemühungen erinnert werden, die im Anschluß an die sogenannte Grundlagenkrise der Mathematik seit der Jahrhundertwende unternommen worden sind. Die Bemühungen um eine philosophische Fundierung von Mathematik und damit zugleich um eine Überwindung der Grundlagenkrise der Mathematik im ersten Drittel unseres Jahrhunderts haben ihren Ursprung und Anlaß in den mengentheoretischen Antinomien, die um die Jahrhundertwende aufgedeckt wurden und verständlicherweise nicht nur unter Mathematikern für Irritation sorgten. Die philosophische Herausforderung, welche ohne Frage in den Antinomien steckt, soll hier nicht heruntergespielt werden. Dennoch hat die Focussierung auf dieses eine Problem die Entwicklung und Entfaltung einer umfassenden Philosophie d~r Mathematik in unserem Jahrhundert ganz wesentlich gehemmt, wenn nicht gar verhindert. Durch die Antinomien ergab sich zwingend, daß das Problem der Wahrheit in der Mathematik neu durchdacht werden mußte. Doch wurden während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts innerhalb der Mathematik Einsichten gewonnen und Beobachtungen gemacht, die sämtliche tradierten Antworten jeder Philosophie der Mathematik in ihrer Erklärungskraft stark erschütterten. Deshalb ist es bedauerlich, daß durch eine Isolierung des Antinomienproblems und der Wahrheitsfrage jede Möglichkeit einer globalen Lösung und Betrachtungsweise blockiert wurde. Hier soll und kann keine Korrek34 (FN 9), 35 (FN 9), 36 (FN 9), 37 (FN 9),
I 4, S. 346. I 4, S. 363. I 3, S. 339. I 3, S. 340.
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tur der Geschichte vorgenommen werden. Wir skizzieren zunächst die Kontroverse um das Wahrheitsproblem in der Mathematik, wie sie von 1900 bis etwa 1930 ausgetragen wurde. Daran anschließend wird erläutert, daß und inwiefern die Wahrheitsfrage lediglich eins von zahlreichen neuen Problemen ist, welche aus der Mathematik des vorigen Jahrhunderts übernommen werden mußten und nur mit philosophischen Denkformen geklärt und in ein adäquates Mathematikverständnis eingebunden werden konnten. Damit wird dann zugleich die Basis geschaffen für eine philosophische Erörterung gegenwärtiger Mathematik. Im Anschluß an die Paradoxien hat man drei extrem unterschiedliche Versuche unternommen, der Mathematik die verlorengegangene universelle und intersubjektive Wahrheit in einem neuen Rahmen zurückzugeben, indem jeweils spezielle Wahrheitskonzeptionen zugrunde gelegt wurden. Dies führte zu drei verschiedenen Auffassungen von Mathematik überhaupt, welche durch die Aufkleber Formalismus, Logizismus und Intuitionismus gekennzeichnet werden. Beim Formalismus wird Wahrheit in der Mathematik mit syntaktischer Widerspruchsfreiheit gleichgesetzt. Damit diese Identifikation überhaupt sinnvoll ist, muß ihr die Auffassung von Mathematik als einer rein syntaktischen Denkleistung vorausgehen. In der Tat hat Weyl sehr hübsch ausgeführt, daß in diesem Kontext Mathematik ein von aller Semantik freies Spiel nach Regeln ist, vergleichbar etwa dem Schachspiel. Den Figuren beim Schach entsprechen Symbole in der Mathematik und die Aufstellung auf dem Brett zu Beginn einer Partie steht in Korrespondenz zu einem System von Formeln, also einem Axiomensystem. Nach festen Regeln wird das Spiel von Zug zu Zug vorangetrieben, analog werden nach Regeln für das Schließen die Formeln in andere übergeführt. Einer SpielsteIlung beim Schach entspricht ein System abgeleiteter Formeln. Das Schachspiel ist widerspruchsfrei; in der Mathematik haben nur solche Spiele Hausrecht, deren Widerspruchsfreiheit nachweisbar ist. Hilbert hat lange gehofft, diese Widerspruchsfreiheit in weitreichender Allgemeinheit beweisen zu können; Gödel zeigte die Grenzen dieses Vorhabens auf. Eine ganz andere Antwort auf die Antinomien bietet der Logizismus. Hier wird Wahrheit in der Mathematik als Sonderfall allgemeiner logischer Wahrheit und dementsprechend Mathematik als Spezialfall der Logik postuliert. Als erster hat Frege diesen Weg vorgeschlagen, später bemühte sich Russell intensiv um einen Ausbau dieser Theorie. Dem ganzen Lösungsversuch liegt natürlich die Überzeugung zugrunde, daß die Paradoxien im Kern nicht mathematischer, sondern logischer Natur sind. Für die Entwicklung der Logik hat die logizistische Auffassung wertvolle Impulse vermittelt, für eine Philosophie der Mathematik erweist sie sich als zu eng. Schon einfache mathematische Sachverhalte nehmen im Gewand der Logik eine völlig undurchsichtige Gestalt an. Intuition und Anschauung, zwei ständig von jedem Mathematiker gebrauchte Aktivitäten, lassen sich hier überhaupt nicht integrieren.
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Der Intuitionismus zeichnet sich gegenüber den beiden bereits geschilderten Positionen insbesondere dadurch aus, daß eine präzise Auffassung von Mathematik arn Anfang steht, welche eine Antwort auf die Wahrheits frage bereits enthält. Mathematik als Wissenschaft ist hier gebunden an finite Konstruktion oder an im Prinzip finite Re-Konstruktion. Aktual unendliche Gesarntheiten sind nicht zugelassen. Überdies wird das "tertium non datur" in seiner klassischen allgemeinen Form als universelle Schlußregel nicht akzeptiert, so daß also insbesondere Widerspruchsbeweise zum Nachweis der Existenz ausscheiden. Es existiert das und nur das, was sich in endlich vielen Schritten konstruieren läßt. Im Intuitionismus können somit zahlreiche Argumentationsformen aus der tradierten Mathematik nicht übernommen werden. Der funktionentheoretische Beweis für den Fundamentalsatz der Algebra ist kein Beweis im Sinne des Intuitionismus; hierfür gibt es jedoch intuitionistische Beweise. Bei anderen Sätzen ist dies ganz sicher nicht möglich. Dennoch haben Brouwer, Heyting und deren Nachfolger einen beachtlichen Bestand an intuitionistisch fundierter Mathematik entwickelt; zugleich wird damit der Konstruktivismus, ein umfangreiches Teilgebiet gegenwärtiger Mathematik, vorbereitet. Es ist müßig, die genannten Lösungsversuche, also Formalismus, Logizismus und Intuitionismus gegeneinander ausspielen zu wollen oder gar eine Rangordnung anzustreben. Denn es handelt sich um drei höchst unterschiedliche, jedoch nicht im Detail miteinander vergleichbare Antworten auf eine bestimmte Situation innerhalb der Mathematik, nämlich die mit den Antinomien neu aktualisierte Wahrheitsproblematik. Diese spezielle Problematik sollte ohnehin nicht isoliert gesehen werden. Denn in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ergaben sich innerhalb der Mathematik noch andere Konstellationen und Situationen, die eine gründliche Analyse des Wissenschaftsstatus von Mathematik erzwangen. Es besteht heute zumindest unter den Mathematikern, die sich mit philosophischen Problemen ihrer Disziplin befassen, weitgehend Konsens, daß die drei geschilderten Versuche einer philosophischen Begründung gegenwärtiger Mathematik als gescheitert angesehen werden müssen. Hersh meint: "The present impasse in mathematical philosophy is the aftermath of the great period of foundationist controversies from Frege and Russell through Brouwer, Hilbert and Gödel. What is needed now is a new beginning, not a continuation of the various "schools" of logicism, formalism or intuitionism."38 Der Logiker Feferman äußert sich ganz entsprechend: "What is the nature of the conceptual content of mathematics? I agree with the critics of the tradition al positions of logicism, formalism, platonism and constructivism, that each of these has failed to give us a satisfactory, convincing answer to that."39 Schließlich sei noch MacLane zitiert, der über Logizismus, Formalismus, Intuitionismus, Platonismus und Empi38 R. Hersh, Some proposals for reviving the philosophy of mathematics, in: Advances in Mathematics, Bd. 31 (1979), S. 31. 39 S. Fe/erman, Working Foundations, in: Synthese, Bd. 62 (1985), S. 249. 5*
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rismus zusammenfassend urteilt: "However, none of these shools or doctrines in the philosophy of mathematics provides a satisfactory analysis of the nature of mathematics."40 Übereinstimmend begründen alle Kritiker des Trios Formalismus - Logizismus - Intuitionismus ihre ablehnende Haltung mit dem Hinweis, daß hier nur ein Teilaspekt philosophischer Reflektion über Mathematik problematisiert wird, nämlich das Wahrheitsproblem. Andere wichtige Erfahrungen innerhalb der Mathematik im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, die ebenfalls philosophische Brisanz enthalten, bleiben dabei ausgegrenzt. Exemplarisch seien hier nur drei Beispiele genannt. Die Diskussion um einen von Hilbert im Jahr 1888 vorgelegten neuartigen reinen Existenzbeweis zeigte mit überraschender Deutlichkeit, daß auch und gerade in der Mathematik neue Formen des Beweisens keineswegs problemlos von der Gemeinschaft der Mathematiker akzeptiert werden. Existenzbeweise der geschilderten Art sind heute innerhalb der Mathematik allgemein üblich. Dafür ringen probalistische und computerisierte Beweise um Anerkennung. Was ein Beweis ist und was nicht - das läßt sich keinesfalls ein für allemal fixieren. Dasselbe gilt für die Frage, ob eine Aussage im Rahmen der Mathematik überhaupt bewiesen werden muß. Cantor meint 1883, es sei ein Denkgesetz, daß sich jede Menge wohlordnen lasse. Ein mathematischer Beweis scheint ihm weder nötig noch angebracht. In der Tat wurde die Beweisnotwendigkeit erst in einem längeren Prozeß akzeptiert und es dauerte ja auch gut zwei Jahrzehnte bis zum Beweis durch Zermelo. Nicht nur die Akzeptanz neuer Beweisformen, sondern auch die Beweisnotwendigkeit neuer Aussagen unterliegt also in der Mathematik einem dynamischen Prozeß. Ähnliches gilt für die Aufnahme neuer Objekte in den anerkannten Kanon mathematischer Fragestellung und Forschung. Dedekind hatte in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts allergrößte Schwierigkeiten, Ideale als mathematischen Forschungsgegenstand zu etablieren. Seither ist die Idealtheorie ein bis in die Gegenwart hinein expandierendes und blühendes Teilgebiet der Mathematik. Dies ist keineswegs das einzige Exempel, weiches zeigt, daß die Etablierung neuartiger Objekte in der Mathematik alles andere als mühelos und selbstverständlich abläuft; ihre Akzeptanz durch die Gemeinschaft der Mathematiker muß mitunter genau so ausdauernd und hartnäckig erkämpft werden, wie dies bei ungewohnten Beweisformen der Fall ist. Durch wenige Beispiele nur konnte aufgezeigt werden, daß die Entwicklung der Mathematik seit Ausgang des vorigen Jahrhunderts zwangsweise zu einer neuen Auffassung und zu einem geänderten Verständnis dieser Disziplin führen mußte. Zugleich ist deutlich geworden, daß durch jene geschilderte Eingrenzung auf die spezielle Wahrheitsfrage die eigentliche Problemlage verfalscht wurde. 40 S. MacLane, Mathematical models. A sketch for the philosophy of mathematics, in: The American Mathematical Monthly, Bd. 88 (1981), S. 462.
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Fast alle Protagonisten einer aktuellen Philosophie der Mathematik machen den Vorschlag, nicht mit einem theoretischen Entwurf, sondern mit einer Analyse der mathematischen Realität zu beginnen. So empfiehlt Hersh: "It is reasonable to propose a new task for mathematical philosophy; not to seak indubitable truth, but to give an account of mathematical knowledge as it really iS."41 Ähnlich äußert sich Mac Lane: "To develop a fresh view ofthe philosophy ofmathematics, we begin by looking at the actual state of mathematics."42 Dies ist ein gut gemeinter Rat, doch hat er auch seine Tücken: Es gibt recht viele Mathematiker und sie unterscheiden sich sowohl in ihrer mathematischen Arbeit als auch in ihrem Mathematikverständnis doch sehr voneinander. Andererseits ist ein solches Vorgehen, nämlich zunächst jene aktuelle Situation der Mathematik in den Blick zu nehmen, die unausweichliche Konsequenz einer Einsicht, die ihr vorausgeht und welche bislang erst zaghaft und zögerlich ausgesprochen und akzeptiert wird. Diese Einsicht besteht darin, daß das ehrgeizige Ziel einer philosophischen Begründung von Mathematik aufgegeben werden muß zugunsten des im Anspruch bescheideneren, in der AufgabensteIlung jedoch keineswegs weniger attraktiven Ziels einer philosophischen Beschreibung von Mathematik. Und bei einer solchen philosophischen Beschreibung heutiger Mathematik können, wie ich meine, Denkformen und Argumentationsmuster aus der Philosophie Schellings hilfreich sein. Bei einem Blick auf die heutige Mathematik mittels Äußerungen und Bemerkungen zur Mathematik in Schellings Werk ist Besonnenheit und Aufmerksamkeit angezeigt. Die Wissenschaft, um die es geht, hat sich in den fast zweihundert Jahren, die Schelling und uns trennen, entscheidend gewandelt. Wenn dort und hier von Geometrie und Arithmetik die Rede ist, wird doch von recht unterschiedlichen Folien, die den Begriffen unterlegt sind, ausgegangen. Schelling erläutert die einheitstiftende Kraft der Konstruktion in der Geometrie an einer Linie und in der Arithmetik an der Zahl 3. Seinerzeit standen die Objekte als solche und ihr ontologischer bzw. erkenntnistheoretischer Status im Blickpunkt des Interesses. Heute meint Geometrie Konfigurationen und Schließungssätze in geometrieträchtigen Räumen, während Arithmetik im Auffinden von Folgerungen in Peano-Strukturen oder Integritätsringen besteht. Insofern hat die Aufforderung, jeden neuen Versuch einer philosophischen Beschreibung von Mathematik mit einer Besinnung auf die aktuelle Arbeit in dieser Disziplin zu beginnen, seine Berechtigung. Auch wir wollen hier diesem Rat folgen. In seinem viel beachteten und diskutierten Buch "Mathematics-Form and Function" charakterisiert MacLane die gegenwärtige Mathematik folgendermaßen: "Mathematics is not a scientific study of the facts but a developing analysis of the forms which underly the facts. It is not a science of time and space, but a formulation of the ideas needed to understand time, space and motion. This 41 FN (38), S. 43. 42 FN (40), S. 463.
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understanding depends on ideas. The underlying ideas can be made precise and communicable only by being made formal ... ".43 Und Scheibe weist in seinem Eröffnungsreferat auf dem letzten Leibniz-Kongreß in Hannover daraufhin, "daß die deskriptive Leistung der Mathematik ... wesentlich eine abstraktive Leistung ist, die weitgehend unabhängig vom Gegenstande nur so etwas wie dessen Form und die Form dessen, was über ihn zu sagen ist, vorführt. In der Terminologie, die für diese Leistung üblich geworden ist, könnte man dafür auch sagen, daß die Mathematik Strukturen . . . betrachtet." 44 An diesen beiden, für die heutige Mathematik in der Tat repräsentativen und signifikanten Kennzeichnungen sind zwei Aspekte wesentlich: einerseits die Ent-Ontologisierung der Mathematik sowie andererseits die Hereinnahme der Kommunikation als konstitutiven Baustein dieser Disziplin. Die Ent-Ontologisierung wird dabei so beschrieben und gedeutet, daß Mathematiker sich gar nicht mit vorab verfügbaren oder hergestellten Gegenständen befassen, sondern daß sie stattdessen nur invariante und wiederkehrende Formen von Gegenständen, Handlungen und Situationen zusammen mit den möglichen Weisen der Verständigung über diese Formen untersuchen. In der kommunikativen Ebene werden diese Formen in der Tat wie Gegenstände behandelt und gehandelt, und zwar meist in der begrifflichen Gestalt von mathematischen Strukturen, doch die genuine mathematische Leistung besteht in der Auszeichnung des Formtyps. Der für die gegenwärtige Mathematik zentrale Struktur-Begriffläßt sich meines Erachtens nun mit einer monistischen Philosophie adäquat beschreiben. Denn in der mathematischen Struktur sind Besonderes und Allgemeines absolut identisch. Dies wird allein schon in den sogenannten universellen Charakterisierungen von Strukturen nachhaltig dokumentiert, bei denen gar keine Objekte oder Objektsysterne, sondern nur die funktionalen Wirkungen in den Blick kommen. Erst nachträglich kann auch bei Strukturen eine Differenz zwischen Besonderem und Allgemeinem eingeführt werden, aber diese Differenz muß von der Vernunft gesetzt werden, und zwar "gesetzt" ganz im Sinne Schellings. Hier ist es für die heutige Mathematik wiederum typisch, daß diese Differenz bei den Strukturen in verschiedener Hinsicht gesetzt werden kann: via Gleichheit oder via Isomorphie oder via elementarer Äquivalenz. Auch die genannte Bindung von Wahrheit in der heutige Mathematik an die Kommunikation, also die Einheit von subjektiver und objektiver Aussage, gehört zu den Grundeinsichten Schellings in bezug auf jede Wissenschaft: "Wie die wahre Handlung diejenige ist, die gleichsam im Namen der ganzen Gattung 43 S. MacLane, Mathematics - Fonn and Function, New York / Berlin / Heidelberg / Tokyo 1986, S. 414. 44 E. Scheibe, Calculemus! Das Problem der Anwendung von Logik und Mathematik, in: Marchlewitz, L., Heinekamp, A. (Hrsg.), Leibniz' Auseinandersetzung mit den Vorgängern und Zeitgenossen, Stuttgart 1990, S. 207.
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geschehen könnte, so ist das wahre Wissen nur dasjenige, worin nicht das Individuum, sondern die Vernunft weiß ... Es ist also nothwendig, daß ... die Wissenschaft sich von Individuum zu Individuum ... mittheile."45 Allerdings: die Pflicht zur Kommunikation ist für Schelling keine Begründungspflicht hinsichtlich der Einheit von Subjektivität und Objektivität, also keine Beweispflicht für diese Einheit; die Kommunikation dient ihm vielmehr nur als Medium zur Darstellung dieser Einheit. In diesen Denkbahnen argumentierte auch der renommierte russische Mathematiker Schafarevitsch bei seinem Vortrag in der Göttinger Akademie der Wissenschaften: "Bei oberflächlichem Blick auf die Mathematik mag man den Eindruck haben, sie sei das Ergebnis der getrennten persönlichen Bemühungen von vielen Gelehrten, die über Länder und Zeiten verstreut waren. Jedoch die innere Logik der mathematischen Entwicklung erinnert einen vielmehr an das Werk eines einzigen Intellekts, der seine Gedanken systematisch und beständig entwickelt und dabei die Verschiedenheit menschlicher Individualitäten nur als Mittel benutzt."46 Hier muß jedoch ergänzt werden, daß nicht alle Mathematiker und Wissenschaftsphilosophen so denken. Bislang wurden Konstellationen und Begriffsbildungen der Mathematik mit Denkformen und Argumentationsweisen aus Schellings Philosophie transparent gemacht und deskriptiv gedeutet; dies war möglich, weil sich Schellings Monismus sowohl in der Intention als auch in der Erklärungskraft offensichtlich durch eine gewisse Affinität in bezug auf die heutige Mathematik auszeichnet. Mir scheint jedoch, daß man auf diesem Weg über Ergebnisse von mehr bestätigendem und ergänzendem Charakter hinaus auch neue Aufschlüsse und Einsichten in bislang ungeklärte zentrale Fragen einer Philosophie der Mathematik gewinnen kann. Nur ein derartiges Problem sei exemplarisch genannt und analysiert. Es gibt bislang keine überzeugende philosophische Interpretation für die Pluralität gegenwärtiger Mathematik. Was darf man in diesem Zusammenhang überhaupt von der Philosophie erwarten? Henrich präzisiert Tragweite und Grenzen philosophischer Theorien: "Philosophische Theorien müssen auf ganz verschiedenen Ebenen des Verstehens überzeugen. Sie müssen eine Beschreibung der Wirklichkeit und des Menschenlebens geben, die jedem Nachdenkenden einleuchtet. Und sie können so einleuchten, wenn sie die Erfahrungen und Kenntnisse der Menschen in einen Zusammenhang miteinander bringen, der sich von einigen prägnanten, weitreichenden und erschließungskräftigen Grundthesen her begründet."47 In diesem Sinne läßt sich nun mit Schellings Grundthese der Einheit eine Beschreibung der als Pluralität benannten mathematischen Wirklichkeit in der Weise 45 (FN 9), I 5, S. 224.
46 I. R. Schajarevitsch, Über einige Tendenzen in der Entwicklung der Mathematik, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Göttingen 1973, S. 38. 47 D. Henrich, Kant und Hege!. Versuch der Vereinigung ihrer Grundgedanken, in: Henrich, D., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 173.
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geben, daß die Vielheit als Darstellung der Einheit gedeutet wird. ". .. von welchem von beiden ich ausgehe, ist durch die Aufgabe nicht bestimmt ..." hatte Schelling in anderem Zusammenhang gesagt. Dies gilt aber auch hier: in der AufgabensteIlung als solcher ist nicht bereits festgelegt, ob zu Beginn Einheit oder Vielheit als Darstellungsform gewählt wird. Die neuere Mathematik ist ohne Frage den Weg der Vielheit gegangen, und zwar aus internen wissenschaftsspezifischen Gründen und nicht infolge bewußter Entscheidung angesichts einer philosophischen Alternative. Aber Schelling mahnt uns, zumindest nachträglich diese Ausgestaltung gegenwärtiger Mathematik nicht als zwingend und absolut aufzufassen, sondern sie lediglich als eine mögliche Darstellung einer übergeordneten Einheit zu deuten. Wir finden in Schellings Philosophie kein System oder Teilsystem, in welches das Problem der Pluralität von Mathematik hineingestellt und dann systemimmanent einer Lösung zugeführt werden könnte. Aber Schelling vermittelt uns neue Impulse für eigene Lösungsbemühungen. Beides resultiert aus einer charakteristischen Eigenart des Schellingschen Werks: dieses Werk möchte nämlich nicht als solches in Gebrauch genommen, sondern als Auftrag verstanden werden. Novalis hat seinen Freund recht treffend charakterisiert, als er in einem Brief an Caroline Schlegel schrieb: "Schelling faßt gut - er hält schon um vieles schlechter und nachzubilden versteht er am Wenigsten." 48 Wenn man sich darauf besinnt, was und wie Schelling gefaßt hat, auf welche neuen Möglichkeiten philosophischen Argurnentierens er also hingewiesen hat, dann kann - wie ich meine der heutigen Mathematik mit Hilfe Schellingscher Impulse eine Antwort auf die Frage gelingen, inwieweit sie über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen, also philosophisch ist.
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FN (4), S. 261.
Formbildung, Zufall und Notwendigkeit Schelling und die Naturwissenschaften um 1800 Von Francesco Moiso, Mailand I. Philosophie und Mathematik: die Entstehung der Größe* Schellings Lehre der Fonnbildung in der Natur wurde in den 1798 bis 1799 entstandenen Werken entwickelt und erhielt im "Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" ihre umfangreichste und vollständigste Darstellung. Was heißt es, die Natur philosophisch zu betrachten? Diese Fragestellung liegt Schellings Fonnbildungslehre zu Grunde: durch ihre Beantwortung werden die Grenzen gezogen, die die Naturphilosophie von Kants Transzendentalismus und seiner ,Metaphysik der Naturwissenschaft' trennen. Wie bekannt, unterscheidet Kant in der "Transzendentalen Methodenlehre" die philosophische von der mathematischen Vernunfterkenntnis: erstere ist nämlich Vernunfterkenntnis aus Begriffen, letztere ein "Vernunftgeschäft durch Konstruktion der Begriffe". Diese Unterscheidung beruht ihrerseits auf der in der "Transzendentalen Ästhetik" vorgenommenen Entgegensetzung zwischen den gehaltvollen "Dingen" und den "ewigen und unendlichen für sich bestehenden Undingen", Raum und Zeit, "welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen".! Die "Undinge" Raum und Zeit enthalten "Prinzipien der Verhältnisse" aller in ihnen zu bestimmenden Gegenstände. Ein "Vernunftgeschäft durch Konstruktion der Begriffe" unterscheidet sich von der eigentlichen "Vernunfterkenntnis" dadurch, daß sich letztere auf Daseinsbestimmungen bezieht und als Ziel die ,,Erscheinungen dem realen Inhalt nach unter Begriffe zu bringen hat", während sich das erstere mit den bloßen Bestimmungen von raum-zeitlichen Verhältnissen als Synthese in der Anschauung apriori beschäftigt. Diese Synthese kann nach Kant in drei verschiedenen Weisen erfolgen. Entweder wird bloß "das Allgemeine der Synthesis von einem und demselben in der Zeit und dem Raume" erkannt,
* Moisos Ausführungen zu "Philosophie und Mathematik: die Entstehung der Größe" und zum Problem des "Kontinuums" entstanden angeregt durch die Vorträge auf der Tagung "Schelling und die Selbstorganisation", die sich mit Schelling und der Mathematik befaßten. Diese Ausführungen wurden als Ergänzung zum ursprünglichen Vortragstext mit aufgenommen. (Die Herausgeber) ! lmmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 39 = B 56; A 724 = B 752.
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was die Größe überhaupt - die Zahl, und zwar in der verallgemeinerten Form wie in der Buchstabenrechnung - ergibt, oder es werden besondere Größen als Zeitbestimmungen bzw. -teilungen (Dauer) und als Raurnbestimmungen bzw. -teilungen (Gestalten) erkannt. 2 Besonders erwähnenswert erscheint hier, daß Kant den Bereich der Konstruktion von Begriffen zwar im allgemeinen als Bereich der Quantität beschreibt, ihm aber eine eigene qualitative Seite nicht abspricht und behauptet: "Die Mathematik beschäftigt sich auch mit dem Unterschiede der Linien und Flächen, als Räumen von verschiedener Qualität, mit der Kontinuität der Ausdehnung, als einer Qualität derselben"; die Mathematik bezieht sich jedoch nicht auf reelle Qualitäten, die nur empirisch gegeben werden können, um unter einen allgemeinen Begriff geordnet zu werden, sondern bloß auf Verschiedenheiten, die in der Teilung der raum-zeitlichen reinen Anschauung und in der Bestimmung der Verhältnisse zwischen den Teilen entstehen und kein Reell-Verschiedenes darstellen. 3 Nur die Bestimmungen der Raumverhältnisse, wie sie z. B. die Geometrie erzeugt, besitzen eine Gestalt und sind somit anschaulich darstellbar; Zeitverhältnisse sind an sich gestaltlos und können nur anhand einer räumlichen Analogie (z. B. durch Linien) veranschaulicht werden. Erst durch diese räumliche Darstellung wird klar, "daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen". Obwohl die Zeit als formale Bedingung aller Erscheinungen, indem sie "Bestimmungen des Gemüts" sind, selbst Bedingung der räumlichen Gestaltverhältnisse ist (keine Gestaltvorstellung ohne Dauervorstellung), hängt die Anschaulichkeit aller Größen - d. h. aller Verschiedenheit von bestimmten Verhältnissen - von der Möglichkeit, sie als Gestalt darzustellen, ab. 4 Das bedeutet für Kant keineswegs, daß die Zeit auf den Raum reduziert werden muß, sondern daß das geometrische Konstruieren einer Grundstruktur des sinnlichanschauenden Subjekts entspricht, nach der alles, was Verhältnis ist, einen räumlichen Ausdruck als Gestalt erhalten kann. Raum und Zeit sind für Kant unendlich gegebene Größen. Dies bedeutet, daß ihre Teile nicht im Fortlaufen der Erfahrung gesucht und gesammelt werden müssen, sondern in ihrer Unendlichkeit aktuell in dem Ganzen anwesend und ,da' sind. Der Begriff bzw. das ,Allgemeine' von Raum und Zeit liegt "in concreto" in jenem Dasein der Teile; die Einheit ist mit der Verschiedenheit zusammen gegeben, und zwar im Unterschied zu dem Begriff der diskursiven Erkenntnis, bei dem das Allgemeine die Teile nicht in sich, sondern nur unter sich enthält und bloß in abstracto ihre Einheit bildet. Dies heißt auch, daß nach Kant Raum und Zeit ,Einheit' als Einigkeit besitzen, oder auch, daß ihre bestimmte Größe "nur durch Einschränkung" der "einigen zum Grunde liegenden" Anschau-
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Ebd. A 26 = B 42; A 717 Ebd. A 715 = B 743. Ebd. A 33 = B 50.
= B 745;
A 724
= B 752.
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ung möglich ist. Diskursive Begriffe "enthalten nur Teilvorstellungen", bei Raum und Zeit wohnt das Ganze den Teilen inne. 5 Kants Unterscheidung von diskursiver, ,gehaltvoller' Erkenntnis und konstruktiver Vernunftbeschäftigung mit raumzeitlichen Verhältnissen hat als Ziel die Ablehnung einer unbedingten, rein-begrifflichen diskursiven Erkenntnis von Dingen: Dinge kommen nur innerhalb raum-zeitlicher Verhältnisse vor; Gehaltsbestimmungen von Dingen sind nur unter der Bedingung von den zuletzt in räumlichen Gestaltungen darstellbaren Bestimmungen der "Undinge" Zeit- und Raumanschauung vorzunehmen. Deswegen bezieht sich die philosophische Erkenntnis nur auf Dinge, die nicht unbedingt da sind, sondern in ihrer Realität von ihrem ,zugrundeliegenden' Größen-sein bedingt sind. Eine philosophisch-diskursive Erkenntnis von solchen bedingten Dingen bzw. Erscheinungen setzt notwendigerweise daneben eine physikalisch-mathematische Wissenschaft der Verhältnisse voraus, weil: "alles, was in unserem Erkenntnis zur Anschauung gehört, [... ] nichts als bloße Verhältnisse enthalte, der Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung), und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte). Was aber in dem Orte gegenwärtig sei, oder was es außer der Orts veränderung in den Dingen selbst wirke, wird dadurch nicht gegeben. Nun wird durch bloße Verhältnisse doch nicht eine Sache an sich erkannt: [... ]"6 Kants Hervorhebung der Unvermeidlichkeit einer nichtdiskursiven Erkenntnis der Erscheinungswelt findet bei Schelling eine Radikalisierung. Wenn Schelling gleich am Anfang des "Ersten Entwurfs" die philosophische Erkenntnis "unbedingt" nennt, so bedeutet dies keineswegs eine Rückkehr zur vorkantischen diskursiven Metaphysik, sondern ihre endgültige Beseitigung. Hatte nämlich Kant die diskursive Erkenntnis der "Dinge" noch innerhalb der Grundbedingung des Realen als Größe angenommen, so lehnt Schelling die Voraussetzung ganz ab, daß Erkenntnis überhaupt, und vor allem ihre höchste Form, die philosophische Erkenntnis, Dinge als ihr eigenes Objekt haben könne: "Das Unbedingte kann überhaupt nicht in irgend einem einzelnen Ding, noch in irgend etwas gesucht werden, von dem man sagen kann, das es ist. "7 Schelling identifiziert das Unbedingte mit der "höchsten konstruierenden Tätigkeit" bzw. mit dem "Konstruieren selbst" mittels eines terminologischen Rückgriffs auf Kants "Vernunftgeschäft" in der Mathematik. 8 Daß es sich dabei um Ebd. A 25 == B 40; A 32 == B 48; A 715 == B 743. Ebd. B 66-67. 7 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Werke, Stuttgart/ Augsburg, 1856-1861 (in der Folge: SW), Bd. III, S. 11. 8 Vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler, Schelling's Concept of Self-Organization (insbesondere das Kap. "Schelling's Method of Construction and Mathematics") in: R. Friedrich / A. Wunderlin (Ed.), Evolution of Dynamical Structures in Complex Systems, Berlin/Heidelberg 1992, S. 395-415. 5
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mehr als eine bloße Wortanlehnung handelt, geht aus einigen Eigenschaften dieser ,,konstruierenden Tätigkeit" hervor. Die sowohl in der Transzendentalals auch in der Naturphilosophie vorkommende Begriffsbildung wird von Schelling als "Darstellung des Unendlichen im Endlichen" bestimmt, wobei das Unendliche die unbedingte, konstruierende Tätigkeit, das Endliche dagegen das in der empirischen Anschauung gegebene Einzelne ist. Eine solche Darstellung hat aber nichts mehr mit Kants philosophischer "Vernunfterkenntnis aus Begriffen" gemeinsam, sie wird dagegen als eine "ursprüngliche" Konstruktion der Größe dargestellt; die mathematische Größenkonstruktion wird nicht mehr wie bei Kant als "Konstruktion von Begriffen" dem philosophisch-diskursiven Vorgang entgegengesetzt, sondern als "Nachahmung" und Reproduktion in "vereinzelten" Fällen so wie das Besondere unter das Allgemeine subordiniert. 9 Eine wichtige Folge dieser Verwandlung von Kants Transzendentalphilosophie ist es, daß die Ablehnung einer Erkenntnis der Dinge an sich zu einer Überholung der diskursiven Begriffserkenntnis - d. h. der Philosophie als einer gehaltvollen Erkenntnis durch Vereinigung von verschiedenen Merkmalen unter allgemeinen Begriffen - zugunsten einer Ausdehnung der Kriterien einer raum-zeitlichen Erkenntnis von "Verhältnissen" auf das Gebiet der Philosophie führt. Das bedeutet aber: erstens, daß die Begriffsbildung anband einer Immanenz des Ganzen in den Teilen, des Unendlichen im Endlichen, des Allgemeinen im Besonderen erfolgt (der Begriff wird ,,konkret" in der Anschauung dargestellt!); zweitens, daß die philosophische Erkenntnis, um Gehalt zu haben und Qualität nicht bloß im Sinne der geometrischen "Gestalt" aufzuweisen, das "Verschiedene" innerhalb der "philosophischen Konstruktion" der Größe (sozusagen als innere Eigenschaft des "Gestalt-Konstruierens") erhalten muß. Schelling beschreibt im "Ersten Entwurf' die philosophische Urkonstruktion als Erzeugung einer unendlichen Größe und Vorbild aller mathematischen Größenerzeugungen durch Reihen: "Wie muß man sich nun aber eine unendliche Reihe vorstellen, wenn sie nur die äußere Darstellung einer ursprünglichen Unendlichkeit ist? Muß man glauben, daß das Unendliche in ihr durch Zusammensetzung erzeugt werde, oder vielmehr muß man sich jede solche Reihe in Continuität, als Eine ins Unendliche fließende Funktion vorstellen? - Daß in der Mathematik unendliche Reihen aus Größen zusammengesetzt werden, beweist nichts für jene Annahme. Die ursprünglich-unendliche Reihe, wovon alle einzelnen (in der Mathematik) nur Nachahmungen sind, entsteht nicht durch Zusammensetzung, sondem durch Evolution, durch Evolution Einer in ihrem Anjangspunkte schon unendlichen Größe, die durch die ganze Reihe hindurchfließt; in dieser Einen Größe ist ursprünglich die ganze Unendlichkeit concentrirt, die Successionen in der Reihe bezeichnen nur gleichsam die einzelnen Hemmungen, welche der Ausbreitung jener Größe in eine unendliche Reihe (einen unendlichen Raum), welche sonst mit unendlicher Geschwindigkeit geschehen und keine reale Anschauung verstatten würde, continuirlich Schranken setzen." 10 9 10
Schelling (FN 7), S. 12-14. Ebd. S. 15.
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Was Schelling hier meint, kann nur auf Grund einer komplexen mathematischhistorischen Fragestellung, zu deren Entschlüsselung die beiden folgenden Texte aus der ,,Einleitung zu dem Entwurf' herangezogen werden können, verstanden werden: "Es ist ohne Zweifel sehr begreiflich, daß die Reihe I - 1 + 1 ... unendlich gedacht weder = 1 noch = 0 ist. Aber tiefer liegt der Grund, warum diese Reihe unendlich gedacht = 112 ist. Es ist Eine absolute Größe (= 1), die in dieser Reihe, immer vernichtet, immer wiederkehrt, und durch dieses Wiederkehren nicht sich selbst, aber doch das Mittlere zwischen sich selbst und dem Nichts producirt. - Die Natur als Objekt ist das in einer solchen unendlichen Reihe zu Stande Kommende und = einem Bruch der ursprünglichen Einheit, wozu die nie aufgehobene Duplicität den Zähler abgibt." "Es ist eben die Null, in welche die Natur beständig zurückzukehren strebt, und in welche sie zurückkehren würde, wenn der Gegensatz je aufgehoben wäre. Denken wir uns den ursprünglichen Zustand der Natur = 0 (Mangel an Realität). Nun kann die Null freilich gedacht werden als sich trennend in 1 - 1 (denn dieß = 0); setzen wir aber, daß diese Trennung nicht unendlich ist (wie in der unendlichen Reihe 1 1 + 1 - 1 ... ), so wird die Natur beständig zwischen der Null und der Einheit gleichsam schweben, - und dieß ist eben ihr Zustand." II Die Reihe 1 - 1 + 1 " . wurde, wie bekannt, von dem Mathematikprofessor zu Pisa, Guido Grandi, 1703 in seinem Werk "Quadratura circuli et hyperbolae per infinitas hyperbolas et parabolas geometice exhibita" behandelt; bei Einsetzung von x = 1 wird der Bruch -1_1- = 1 - x + .? +x
i3 + ... zu
1/2
=1-
1 + 1-
1 + ... Grandi summierte je zwei aufeinander folgende Reihenglieder 1 - 1 und erhielt die Reihe 0 + 0 + 0 ... = V2 als Symbol der Schöpfung aus dem Nichts. Die Debatte, die Grandis Schrift veranlaßte, war sehr breit und hatte noch Jahrzehnte später nicht unwichtige Folgen. Da ihre Verwicklung und Bedeutung von Moritz Cantor im 3. Band seiner "Vorlesungen über Geschichte der Mathematik" eingehend behandelt wurde, beschränke ich mich auf eine Hervorhebung der Aspekte, die Schellings Thesen klären können und verweise den Leser, der den mathematisch-historischen Zusammenhang tiefer verstehen möchte, auf die hier zugrunde liegende Darstellung von Cantor. In einem Brief an Christian Wolff widersetzte sich Leibniz der Reihendeutung Grandis: er bemerkte, daß nur, wenn die Reihe als Summe einer endlichen Anzahl von Gliedern angenommen wird, ihr Wert = 0 sein kann; bei unendlich vielen Gliedern wird dagegen ihr Wert zu V2. Der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen bedeutet nach Leibniz einen Übergang vom Disjunktiven (0 :t:. 1) zu dem zwischen den Disjuncta in der Mitte schwebenden Bleibenden. Den mittleren Wert zwischen 0 und 1 vergleicht Leibniz mit dem Ergebnis der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei gleich leicht erreichbaren Größen, was dem allgemeinen Gesetz der Gerechtigkeit in der Natur entspricht. Besonders wichtig erscheint bei Leibniz' Argumentation, 11
Ebd. S. 289,313 Anm. 1.
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Francesco
~oiso
daß die Beweisführung als nicht strenggenommen mathematisch, sondern metaphysisch betrachtet werden muß. In einem Brief an Grandi vertieft Leibniz diese metaphysische Auffassung dieses daseins- und beständigkeitsstiftenden Gerechtigkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitsgesetzes, indem er es mit dem in der Natur immer herrschenden Kontinuitätsgesetz verbindet. 12 Grandis Reihe und andere ähnliche wurden zum Thema des mathematischen Briefwechsels zwischen Nicolaus I. Bernoulli und Leibniz in den Jahren 17121713 und führten zu dem Versuch, divergente, einen möglichen bzw. nur "imaginären" Wert (die Bezeichnungen wurden hier noch nicht streng definiert!) besitzende Reihen von den Reihen abzugrenzen, die Leibniz advergent nannte und die sich so weit fortsetzen lassen, daß sie sich von einem endlichen möglichen Wert um weniger als eine angebbare Größe unterscheiden. 13 Viele Jahre später kam Nicolaus I. Bernoulli wieder auf das Problem der divergenten Reihen zurück; diesmal war sein Gesprächspartner Leonhard Euler. Erhalten haben sich nur vier Briefe von Bernoulli an Euler aus den Jahren 1742-1743. Bernoulli zeigt sich nicht mit Euler einverstanden, wenn dieser annimmt, daß eine divergente Reihe, "welche, auch wenn sie in's Unendliche fortgesetzt wird, immer Etwas fehlt, den genauen Werth des entwickelten Ausdruckes (gebe)" und behauptet: Ich halte den Begriff einer Summe oder der Vereinigung vieler Glieder für nicht vereinbarlich mit dem Begriffe endlos weiter gehender Glieder und sehe diese beiden Begriffe als einander widersprechend an. Jener schliesst das Denken sämmtlicher Glieder, des ersten, des letzten, der mittleren ein, in diesem ist das Denken eines letzten Gliedes nicht eingeschlossen; der Geist wird vielmehr von dem Denken eines letzten Gliedes abgezogen und folglich auch von der Zusammensetzung eines Ersten, ~ittleren und eines Letzten." 14 12 Moritz Cantor, Vorlesungen über Geschichte der ~athematik, Bd. 3, Leipzig 1898, S. 351-353. Vgl. Gottfried Wilhelrn Leibniz, An Grandi, in: Leibnizens ~athematische Schriften, hrsg. v. C. I. Gerhard, Bd.4, Halle, 1859, S. 217 -220. Vgl. ders.: Epistola ad V. Cl. Christianum Wolfium, Professorem ~athesis Haiensern, circa scientiarn infiniti, Ebd., Bd.5, S. 382-387. S.386-387: ,,Et cum ratio nulla sit pro paritate magis aut imparitate, adeoque pro prodeunte 0 magis quarn pro 1, fit admirabili naturae ingenio, ut transitu a finito in infinitum fiat transitus a disjunctivo (jarn cessante) ad unum (quod superest) positivum, inter disjunctiva medium. Et quoniarn ab iis qui de aestimatione aleae scripsere, ostensum est, cum medium inter duas quantitates pari ratione nitentes sumendum est, sumi debere medium arithmeticum, quod est dimidium summae, itaque natura rerum eandem hic observat justitiae legern; et proinde cum 1 + 1 - 1 + 1 - 1 + etc. in casu finito numeri membrorum paris sit 0, sequitur evanescente utroque terminorum imparis sit 1, sequitur evanescente utroque in casum membrorum multitudine infinitorum, ubi paris imparisque jura confunduntur, et tantundem rationis pro utroque est, prodire
o;
1 = V2. Quod proponebatur. Porro hoc argumentandi genus, etsi ~etaphysicum
magis quarn ~athematicum videatur, tarnen firmum est: et alioqui Canonum Verae Metaphysicae (quae ultra vocabulorum nomenclatura procedit) major est usus in ~athesi, in Analysi, in ipsa Geometria, quarn vulgo putatur." 13 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 355-356. Vgl. Nicolaus Bemoulli an Leibniz; Leibniz an Nicolaus Bemoulli; in: Leibniz (FN 12), Bd. 3, S. 982-985; 985-987.
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Eulers Antwort ging verloren, aber wir können ihren Inhalt aus einem Brief Eulers an Christian Goldbach vom 7.8. 1745 erschließen: Ich habe seit einiger Zeit mit dem Herrn Prof. Nicolao Bemoulli zu Basel eine kleine Dispute über die series divergentes [... ] gehabt, indem derselbe geläugnet, dass alle dergleichen series eine determinirte Summ haben, ich aber das Gegentheil behauptet, weilen ich glaube, dass eine jegliche series einen bestimmten Werth haben müsse. Um aber allen Schwierigkeiten, welche dagegen gemacht werden, zu begegnen, so sollte dieser Werth nicht mit dem Namen der Summ beleget werden, weil man mit diesem Wort gemeiniglich einen solchen Begriff zu verknüpfen pflegt, als wenn die Summ durch eine würkliche Summirung herausgebracht würde: welche Idee bei den seriebus divergentibus nicht Statt findet. Da nun eine jegliche series aus der Evolution einer expressionis finitae entsteht, so habe ich diese neue Definition von der Summ einer jeglichen seriei gegeben: Summa cujusque seriei est valor expressionis illius jinitae, ex cujus evolutione illa se ries oritur. [... ] Und hieraus folgt dann unstreitig, dass eine jegliche series, sowohl divergens als convergens einen determinierten Werth oder summam haben muss."15 Einige Jahre später ließ Euler in den "Novi Commentarii Acaderniae Petropolitanae" der Jahre 1754-1755 eine Abhandlung "De seriebus divergentibus" erscheinen, wo er zu divergenten Reihen wie Grandis Reihe 1 - 1 + 1 - 1 [... ] = V2 bemerkt, daß die Ersetzung der Reihe durch das angegebene Summenergebnis zu keinem Fehler führt. Er schließt daraus, daß der Streit unter Freunden und Gegnern der divergenten Reihen ein bloßer Wortstreit sei, und daß alle Schwierigkeiten verschwänden, wenn man als Regel annimmt, daß die "Summe einer jeden Reihe der geschlossene Ausdruck sei, aus welchem sie durch Entwicklung hervorgebracht werden kann". Jede unendliche Reihe ist somit nach Euler derart gebildet, daß ein ihr gleichartiger geschlossener Ausdruck gedacht werden kann. 16 Schellings Thesen erscheinen vor diesem Hintergrund in ihrem eigentlichen theoretischen und historischen Licht. Schelling nimmt mit Euler an, daß die Mathematik unendliche Reihen aus Summen endlicher Größen, d. h. aus geschlos14 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 667. Vgl. Lettres de Nicolas Bemoulli neveau de Jacques et deJean [... ] aUonard Euler 1742,1743, Lettre IV., 29. Nov. 1743, in: Correspondance mathematique et physique de quelques celebres geometres du XVIIIeme siede [... ], par P. H. Fuss, St. Petersbourg, 1843, Bd. 2, S. 708 -709: "Ideam summae seu aggregati plurium terminorum non posse copulari existimo cum idea terminorum sine fine progredientium, et has duas ideas contradictorias esse statuo; illa involvit conceptum terminorum omnium, primi, ultimi et mediorum, in ista autem non involvitur conceptus ultimi, sed mens a cogitatione ultimi, et per consequens primi, mediorum et ultimi abstrahitur." 15 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 668-669. Vgl. Correspondance entre Uonard Euler et Chr. Goldbach 1729-1763, Lettre LXXXIII, 7. Aug. 1745, in: Fuss (FN 14), Bd. 1, S.323-324. 16 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 708 -710. Vgl. Leonhard Euler: De seriebus divergentibus, in: Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, Tom. 5. ad Annum 1754 et 1755, St. Petersburg 1760, S. 205-237, hier S. 212: "Et hanc ob rem in calculo semper loco cuiusque seriei infinitae eam formulam, ex cuius evolutione est nata, substituere licet. [... ] cuiusque seriei summam esse expressionem finitam, ex cuius evolutione illa ipas series nascatur."
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senen Ausdrücken bilden könne, bestreitet aber die Folgerung, daß diese Lösung die tiefe Genese der unendlichen, insbesondere der divergenten Reihen sei. Mit Leibniz beruft er sich auf das Prinzip der Kontinuität, das einen Übergang vom Disjunktiven der endlichen Summe zum "in der Mitte Schwebenden, Beharrenden" verlangt. Dies setzt aber einen Übergang von der rein-mathematischen zur "metaphysischen" Ebene voraus (Leibniz' Prinzip der Gerechtigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, daß die Welt Etwas geworden ist und kein bloßes Nichts geblieben sei). Der Grund der divergierenden unendlichen Reihe der Naturerscheinungen ist somit ein metaphysischer. Alle einzelnen mathematischen Reihen zeigen in ihrer Zusammensetzung aus endlichen Größen die Spuren von dem nur metaphysisch erschließbaren, ursprünglichen Kontinuum, aus welchem allein jede Größe durch Evolution entstehen kann. Hier hilft vielleicht eine kritische Bemerkung von Daniel Bernoulli gegen Euler. 1741 schrieb er ihm: "Ich glaube nicht, dass man allhier den calculum differentialem und integralem ohne Limitation gebrauchen dürfe, weil es nicht erlaubt ist, eine seriem als quantitates continuas aut fluentes zu betrachten, indern es lauter quantitates discretae sind. Was Sie also de interpolatione terrninorum sagen, ist, meiner Meinung nach, nicht proprie und stricte zu verstehen." 17 Cantor weist darauf hin, daß hier, entgegen dem äußeren Schein, Daniel Bernoulli keineswegs die Differenzierbarkeit und Integrierbarkeit unendlicher Reihen in Frage stellt, was für ihn eine Selbstverständlichkeit war, sondern nur daran zweifelte, "ob von Reihengliedern mit nicht ganzzählig positivem Stellenanzeiger die Rede sein könne". 18 Schelling scheint es vor allem darauf anzukommen, daß jede Reihe nicht nur an ihrem Ende unendlich, sondern in jedem Punkt auf ein ursprüngliches Kontinuum hinweist, was wiederum die Möglichkeit der Kunstgriffe bei ihrer Behandlung durch die Infinitesimalrechnung zuletzt metaphysisch untermauert. Um aber die Entstehung der ursprünglich-unendlichen Reihe zu verstehen, kann man nicht bei den quantitates discretae stehenbleiben. Ich habe oben gezeigt, daß Schellings Umbildung der Kantischen Transzendentalphilosophie zu einer Verallgemeinerung des Größenbegriffs als alleinigem Grund der Realität der Erscheinungen führte. Größenerzeugung als Ausdruck der ursprünglichen Tätigkeit hat sich aber als eine Operation gezeigt, die nur im Unendlichen, durch Kontinuität, erfolgen kann, wenn man nicht im Endlichen in unüberwindbaren Widersprüchen verstrickt bleiben will. Schelling bezeichnet diese ursprüngliche Erzeugung des Realen - wie wir oben gesehen haben - als eine Evolution, aber nicht eines "geschlossenen Ausdrucks", sondern einer einzigen, "in ihrem Anfangspunkt schon unendlichen Größe, die durch die ganze Reihe hindurchfließt"; das Reale zeigt sich ,,metaphysisch" als ein Kontinuum bzw. "eine ins Unendliche fließende Funktion". Die hier gewählten Ausdrücke gehen eher auf 17 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 669. Vgl. Lettres de Daniel Bemoulli a Uonard Euler 1726-1755, Lettre XXI, 20. Sept. 1741, in: Fuss (FN 14), Bd. 1., S. 476. 18 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 670.
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Newton als auf Leibniz zurück. Der Grund, warum Schelling von "fließenden Größen" in Anlehnung an Newtons Fluxionsmethode spricht, ist leicht einzusehen. Newton behandelt die Größen wie sich stetig verändernde Räume (Fluentes) und nennt Fluxiones die Geschwindigkeiten, nach welchen die einzelnen Fluentes sich verändern. Die doppelte Aufgabe der Methodusfluxionum ist somit für ihn: ,,1. Longitudine descripti spatii semper (id est quovis Temporis momento) data,
invenire Velocitatem Motus tempore proposito. 11. Velocitate Motus semper data, invenire Longitudinem spatii descripti Tempore proposito." 19
Schelling konnte bei Newtons Fuxionsmethode eine Problemstellung finden, die das Entstehen der Größen als raumzeitlichen Vorgang zu konstruieren vermochte. Newtons Lehre wird aber nicht im streng-mathematischen, rein formellen Sinn, sondern, wie im allgemeinen die Reihenlehre nach Leibniz' ,philosophischem' Verständnis, metaphysice, d. h. als eine im Sinne der philosophischen Konstruktion der Größen verwandelte transzendentale Rahmenbedingung des phänomenischen Erkennens überhaupt verstanden: das Entstehen der Fluentes fällt mit dem Entstehen einer realen Anschauung zusammen. Noch mehr: Newton ,konsturiert' Fluentes und Fluxiones als raum-zeitliche Veränderungen bzw. als Bewegung. Für Kant ist aber Bewegung nur ein empirischer Begriff: die Konstruktion der Größe begnügt sich mit dem "Allgemeinen der Synthesis von einem und demselben in der Zeit und dem Raume". Wenn aber als Folge des Wegfallens einer "philosophischen" bzw. diskursiven Erkenntnis der "Dinge" an sich die "philosophisch-konstruktive" Erkenntnis der Verhältnisse in den "Undingen" Raum und Zeit zur unbedingten Erkenntnis wird, dann gewinnt die transzendentale Funktion der raum-zeitlichen Anschauung einen neuen Rang als Realitätsgrund: die Größen, welche Teile bzw. Gestaltungen der raum-zeitlichen Anschauung sind, müssen mit den Erscheinungen identisch sein, die das reelle raumzeitliche Kontinuum bilden. Dies hat eine wichtige systematische Folge, die übrigens schon in Fichtes Lehre der produktiven Einbildungskraft als Korollar der Abschaffung der "dogmatischen" Dinge an sich vorkommt. 20 Die allgemeintranszendentale Raum-Zeit-Lehre und die "spezielle" (in Kants Sinne einer "metaphysica specialis") Raum-Zeit-Lehre, die die reelle Bewegung von Körpern studiert, müssen identifiziert werden. Dies bedeutet aber, daß die allgemeintranszendentale Behandlung der Größen als "Teile" der raum-zeitlichen Anschauung und die speziell-transzendentale bzw. naturmetaphysische Behandlung der Materie als das Bewegliche im Raum zusammenfallen und die Transzendentalphilosophie in sich die Aufgaben des ,,metaphysischen Teils der Physik" (wie er in Kants "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" behandelt wird) 19 Cantor (FN 12), Bd. 3, S. 162. Vgl. Isaac Newton: Opuscula Mathematica, Philosophica et Philologica, collegit [... ] Joh. Castillioneus [... ], Lausanne et Geneve, 1744,
S.53-54. 20
Ich verweise auf mein Buch: Natura e cultura nel prima Fichte, Milano 1979,
S. 112-142.
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aufnehmen muß. Es wundert deshalb nicht, daß Schelling die Entstehung der Größe in der Anschauung als "Fließen" im Sinne einer Dynamik versteht: endliche Reihen bzw. reelle Fluentes können nur als "erfüllte" bzw. "eingenommene Räume" im Sinne von Kants "Dynamik" verstanden werden. 21 Das Entstehen einzelner Reihen erscheint dann als "Hemmung" der ursprünglich-unendlichen, d. h. als Erzeugung eines ,,Fließenden" mit endlicher Geschwindigkeit in einem reell-dynamischen Prozeß. Schelling darf sich deswegen hier, ohne systematische Ungereimtheiten zu begehen, direkt auf Kants Dynamik berufen: Also würde die Materie durch ihre repulsive Kraft I ... I allein, und wenn ihr nicht eine andere bewegende Kraft entgegenwirkte, innerhalb keinen Grenzen der Ausdehnung gehalten sein, d. i. sich ins Unendliche zerstreuen, und in keinem anzugebenden Raume würde eine anzugebende Quantität Materie anzutreffen sein."22 Diese Anlehnung an Kants Physik darf nicht mißverstanden werden. Schelling meint nicht, daß eine endliche Größe ,physikalisch', d. h. als ein Kraftverhältnis zu verstehen wäre, sondern daß das phänomenische Erscheinen eines Kraftverhältnisses (ein "Konflikt von Kräften", wie er es ständig nennt) eine Diskontinuie'rung des Kontinuums, eine "Entzweiung", "Teilung" bzw. ein "Bruch" der unendlichen Einheit ist, der zum Auftreten von Disjunkta führt. Die physikalische Dynamik wird somit auf die ursprüngliche Raum-Zeit zurückgeführt, die die Metaphysik hinter den partiellen mathematischen Darstellungen "anschaut". In dieser Raum-Zeit liegen keine Objekte, sondern die "Dinge" sind nur "Brüche" bzw. partielle Reihen von Verhältnissen der "Undinge" Raum und Zeit, real angeschaute Größen. Dies entspricht einer Radikalisierung der Newtonsehen Auffassung, deren Sinn einleuchtet, wenn man die systematische Fortsetzung und Vervollständigung der Newtonschen M ethodus fluxionum im Werk von Colin Mac Laurin zum Vergleich nimmt. Mac Laurin begründet nämlich die Verwendung von Bewegungen zur Konstruktion von Größen mit der Notwendigkeit, alle Größengrade erzeugen zu müssen, wenn man das fortschreitende Entstehen der Größen als Grund ihrer Eigenschaften einführen will, und sich nicht darauf beschränkt, mit Teilungen und Summen von schon gegebenen Größen zu arbeiten: "Lorsqu 'une quantite est proposee, toutes les autres de la meme espece peuvent etre cont;ues formees par celle-Ja; ce1les qui sont plus grandes sont supposees en etre augmentees, et celles qui sont plus petites sont supposees en etre diminuees. Dans l' Arithmetique commune, les nombres entiers son cont;us produits par I'addition continuelle d'une quantite donnee ou de I'unite et les nombres rompus, en supposant que cette quantite donnee est divisee en tel nombre de parties qu'une pareille addition produiroit la quantite donnee. Mais en Geometrie, pour pouvoir produire tous les degres de grandeur et par ce moyen trouver une methode de deriver leurs proprietes de leur generation, nous concevons que les quantites sont accrues 21 Im1TUlnuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1901 u. ff. (in der Folge: AA), Bd. 4, S. 496-497. 22 Ebd. S.508.
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ou diminuees, ou totalement produites par le mouvement, ou par une fluxion continue analogue au mouvement. La quantite ainsi produite est dite fluer et se nomme fluente. [... ] Les lignes sont produites par le mouvement des points; les surfaces par le mouvement des lignes; les solides par le mouvement des surfaces, les angles par la rotation de leurs cötes, en supposant toujours l'ecoulement du temps uniforme."23 Die Methode, die Größen aus dem unendlich teilbaren Kontinuum entstehen zu lassen, wurde von Kant als Grundlage seiner dynamisch orientierten Physik gegen den mechanistischen Atomismus verwendet. Letzterer versuchte, die spezifischen Unterschiede der Materie aus einer grundsätzlichen Diskontinuität der physikalischen Welt zu erklären. Georges-Louis Le Sage hatte z. B. in seinem "Essai de Chymie mecanique" (1758) den Versuch unternommen, die chemischen Wirkungen aus der Bewegung von "diskreten Flüssigkeiten" (fluides discrets) im leeren Raum zu erklären, die nach dem Vorbild des antiken Atomismus als Ströme von materiellen Teilchen dargestellt wurden. Er führte die spezifischen Wirkungen auf Gestalteigenschaften zurück wie" disposition", "jigure". "grandeur" der sich innerhalb der materiellen Körper befindenden Poren, in welche die treibenden Flüssigkeiten eindringen und auf deren Flächen sie ihren Druck ausüben.24 In einer solchen diskontinuierlichen Welt entsteht der Schein des Kontinuums nur durch die Kleinheit der immer schon als endliche Größen vorhandenen Körper und durch die Kürze der an sich diskontinuierlichen Impulse, die von den Teilchen der diskreten Flüssigkeiten erzeugt werden. Kants Kritik am Atomismus stützt sich zwar auf die Behauptung, daß die absolute Undurchdringlichkeit der Atome eine qualitas occulta wäre, nimmt aber als eigentliches Beweisargument die Unzufriedenheit der Vernunft mit dem bloßen Vorhandensein einer schon entstandenen, absolut gegebenen Figur als Grund der bewegenden Kraft. Es ist hier sehr bemerkenswert, daß nach Kant dieses Bedürfnis der Vernunft nach einer genetischen Erklärung aufgrund des Kontinuums nicht auf dem rein mathematischen Standpunkt befriedigt werden kann. Sich selbst überlassen, würde nämlich die Mathematik die Körper als reine Figur, d. h. eine absolute Undurchdringlichkeit annehmen, die mit dem ,,reinen" In-dem-Raum-Sein identisch wäre. Nur die philosophischen Prinzipien einer Physik führen dagegen zur Anwendung einer Konstruktion der Körper als stetig entstehenden Größen, und zwar weil hier der Raum von bewegenden Kräften erfüllt wird, deren unendlich verschiedene gegenseitige Verhältnisse den ganzen Unterschied der Materien unabhängig von und vor jeder Gestalt ausmachen. Die Physik des Kontinuums ist somit wesentlich dynamische Physik. Eine rein mechanische Physik würde eine diskontinuierliche Welt mit absolut-ursprünglichen räumlichen Gestalten 23 Ich beziehe mich auf die mir zugängliche französische Übersetzung: Colin Mac Laurin, Traite des fluxions, traduit de l'anglois par le R. P. Pezenas, Tome 1, Paris 1749, S. 6.
24 Georges Louis Le Sage, Essai de Chymie mechanique, Couronne 1758 par l' Academie de Rouen [... ], 0.0., o. D., S. 21-22,37-38. 6*
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voraussetzen: selbst die Anwendbarkeit auf den physikalischen Raum der mathematischen Konstruktion durch unendlich-kleine ,Differenzen' setzt die dynamische Konstruktion der Körper durch innere, bewegende Kräfte voraus. Das Ergebnis von Kants Dynamik ist, daß die spezifischen Unterschiede der Materie auf Unterschiede in der Proportion zwischen der ausdehnenden, repulsiven Kraft und der zusammenziehenden, attraktiven zurückgeführt werden: alle Verschiedenheit beruht somit auf Dichtigkeitsunterschieden der Materie; Dichtigkeitsunterschiede brauchen jedoch nicht auf das Bestehen von leeren Räumen zwischen den durch Gestalteigenschaften charakterisierten, absolut-undurchdringlichen Atomen zurückgeführt zu werden, und die Körperwelt kann im Ganzen als ein kontinuierliches Übergehen von Kraftverhältnissen ineinander angesehen werden. 25 Kants Ablehnung eines voraussetzungslosen Mechanismus führte zu einer zwar begrenzten, aber wesentlichen Wiedereinsetzung der Philosophie zur Rettung der mathematischen Konstruktion aus dem "Labyrinth des Unendlichen". 26 Es ist eine Leistung des Philosophen, den Unterschied zwischen den rein-gestaltichen Eigenschaften des "reinen" mathematischen Raumes und den dynamischen Eigenschaften des physikalischen Raumes zu ziehen, und somit die Anwendung der Unendlichkeitsanalyse zu begründen. Wenn aber, wie bei Schelling, geometrische Gestalt und Kraft zusammen in der Entstehung der Größe auftreten, so müssen als Folge einer konstruierenden Philosophie das Mathematische und das Physikalische innig verwoben werden (Raum-Zeitgeometrie muß mit Kraftäußerung zusammenfallen) und das Atomistisch-Mechanische wieder in die Dynamik eingegliedert werden. Dies bedeutet zwar nicht, daß Schelling absolut-gegebene Gestalten als Grund der Kraftauswirkung annimmt, sondern daß er raumzeitliche Gestalten als Kräfte und umgekehrt behandelt und sie als Diskreta im Kontinuum einer einzelnen, in ihrem Fließen immer unterbrochenen, immer wieder in fluß gesetzten, zwischen 0 und 1 schwebenden Größe entstehen läßt.
11. Das Kontinuum und die individuellen Gestaltungsfelder Größenerzeugung als Schweben in der Mitte zwischen "Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem" ist nach Fichtes "Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" (1794) das Geschäft der produktiven Einbildungskraft, in welchem das Ich seinen Zustand zu Zeitmomenten ausdehnt. Im Schweben der Einbildungskraft wird eine Grenze gesetzt, die aber keine feste, bestimmte, sondern eine ins Unendliche gehende Grenze, "lediglich Bestimmbarkeit" ist. Die Begrenzung, wie sie sich in dem praktischen Teil der Wissenschaftslehre zeigt, erfolgt als Entstehung eines begrenzten Strebens nach 25 26
Kant (FN 21), AA Bd. 4, S. 501-502,521-523,532-535. Ebd. S. 505-507.
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realer Tätigkeit, das sich als eine "innere, eingeschlossene, sich selbst bestimmende Kraft" ohne Äußerung zeigt: es ist ein "intensiver Stoff', ein anfänglich völlig Subjektives, eine isolierte, punktuelle Sinnesempfindung - süß, sauer, rot, gelb usw. - , die durch Reflexion ,,nach außen" getragen, dem Subjekt entgegengesetzt und objektiviert wird. Durch diese Objektivierung wird das Punktuelle ausgedehnt, auf Flächen verbreitet, dadurch entsteht ein Inneres der Körper, aus dem rein intensiven Stoff wird ein wirklicher, räumlich existierender Stoff. 27 Fichtes Lösung bot Schelling ein Vorbild an, um die Begrenzung als Entstehung einer bestimmten dynamischen Sphäre aus dem unendlichen raum-zeitlichen Kontinuum zu verstehen: durch die Veräußerung der rein intensiven Empfindung wird die unbegrenzte ideelle Tätigkeit des Ichs im Gegensatz zu einer räumlich bestimmten, äußeren Kraft fixiert; das Nicht-Ich erscheint als eine Vielheit von Kräften, die das Gebiet des Angeschauten bilden. Besonders relevant in diesem Entstehungsprozeß der Anschauung ist, daß jede räumliche endliche Größe, indem sie angeschaut wird und nicht ein bloß unvorstellbares und unvorgestelltes "Ding an sich" ist, objektiv-begrenzt erscheint, indem sie Objektivierung durch Reflexion der "ins Unendliche gehenden Grenze" der "schwebenden" Einbildungskraft ist. In Übereinstimmung mit Fichte sagt Schelling: "Der eigentliche Begriff also für eine empirische Unendlichkeit ist der Begriff einer Thätigkeit, die ins Unendliche fort gehemmt ist; wie könnte sie aber doch ins Unendliche gehemmt werden, wenn sie nicht ins Unendliche flöße, und wenn nicht in jedem einzelnen Punkt der Linie, die sie beschreibt, noch ihre ganze Unendlichkeit läge?" 28 Um das Unendliche in der Konstruktion der Raumerfüllung durch Kräfte einzuführen, mußte Kant dem Paradox einer Anwesenheit des Unendlichen in einer immer nur endlichen Reihe von Vorstellungen entgehen. Er berief sich dabei auf den bloß formellen Charakter unserer Anschauungen von Raum und Zeit. Wenn wir nur Phänomene in Raum und Zeit anschauen, so brauchen wir nicht eine reelle unendliche Zahl von Teilen als aktuell gegeben anzunehmen, sondern es genügt, daß die Teilung ins Unendliche nur soweit in der Vorstellung vorgenommen wird, wie "der Progressus der Vorstellung reicht". 29 Im oben angeführten Text von Schelling werden dagegen die Akzente anders gelegt: wie schon bei Fichte wird hervorgehoben, daß die ganze Unendlichkeit nicht nur am Ende des ,,Progressus" (in einer unendlichen Zeit), sondern in jeder einzelnen, bestimmten Begrenzung anwesend ist: die einzelne Größe wiederholt in einem immer aufs neue unternommenen "Schweben" zwischen den Extremen der Realitätsskala 0 und I die Grenzziehung, weil jede neue Grenzziehung bzw. Bestim27 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [... ], in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth / Hans Jacob, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1962 u. ff. (in der Folge: GA), Bd. 1, 2, S. 360-
361; 438-440. 28 Schelling, SW, III, 16. 29 Kant (FN 21), AA Bd. 4, S. 505-507.
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mung die grenzenlose, unbestimmte Tätigkeit als Bildungsgrund enthält. Das Unendliche wird nicht mehr als Ergebnis eines ,,Progressus", eines Übergangs von Glied zu Glied einer grenzenlosen Reihe verstanden, sondern als die Anwesenheit des Ganzen in jedem Glied als besonderer Lösung der gleichen Aufgabe. Die Glieder der Reihe fliessen nicht ineinander; die fluentes werden in ihren einzelnen "Momenten" zum Bestehen gebracht, obwohl die erzeugende Größe nicht zu fließen aufhört. Schelling führt das schon in Fichtes Wissenschaftslehre vorkommende Wort "Hemmung" ein - das dort die objektive Sphäre meint, welche die Freiheit des Ichs begrenzt _30, um hiermit die Grenzziehung zu bezeichnen, die eine fließende Bewegung zum Bestehen, zur "Permanenz" bringt: Das Hauptproblem der Naturphilosophie ist nicht, das Thätige in der Natur [... ], sondern das Ruhende, Permanente zu erklären. Zu dieser Erklärung aber gelangt sie eben durch jene Voraussetzung, daß das Permanente für die Natur eine Schranke ihrer eignen Thätigkeit sey. Denn, wenn dieß ist, so wird die rastlose Natur gegen jede Schranke ankämpfen; dadurch werden die Hemmungspunkte ihrer Thätigkeit in der Natur, als Objekt, Permanenz erhalten."31 Die Anmerkung zu diesem Text liefert ein überaus wichtiges Modell dafür, wie ein kontinuierlicher Fluß durch Hemmung in eine Diskontinuität verwandelt wird, die nichts anderes als die Selbstwiederholung einer permanent gewordenen, abgegrenzten Gestalt ist. Jede Größe, die im raum-zeitlichen Kontinuum darstellbar ist, wird als eine Turbulenz des Kontinuums verstanden. Damit eine Größe als endlich in einer realen Anschauung dargestellt werden kann, muß man sie sich nicht nur als über jede Grenze fließend denken, sondern als sich in der eigenen Grenze behauptend verstehen. Die reelle Anschauung bzw. die empirischdarstellbare Raum-Zeit besteht aus Disjunkta, die jedoch nur das Kontinuum der ursprünglichen, fließenden Größe als substans haben: "Beispiel: Ein Strom fließt in gerader Linie vorwärts, solange er keinem Widerstand begegnet. Wo Widerstand - Wirbel. Ein solcher Wirbel ist jedes ursprüngliche Naturprodukt, jede Organisation z. B. Der Wirbel ist nicht etwas Feststehendes, sondern beständig Wandelbares - aber in jedem Augenblick neu Reproducirtes. Kein Produkt in der Natur ist also fixirt, sondern in jedem Augenblick durch die Kraft der ganzen Natur reproducirt. (Wir sehen eigentlich nicht das Bestehen, sondern das beständige Reproducirtwerden der Naturprodukte.) Zu jedem Produkt wirkt die ganze Natur mit. In der Natur sind gewisse Hemmungspunkte ursprünglich ausgesteckt [... ] an jedem solchen Punkt wird der Strom der Naturtätigkeit gleichsam gebrochen; ihre Produktivität vernichtet. Aber in jedem Moment kommt gleichsam ein neuer Stoß, eine neue Welle, die diese Sphäre aufs Neue erfüllt. Kurz also: die Natur ist ursprünglich reine Identität - nichts in ihr zu unterscheiden. Nun stellen sich Hemmungspunkte ein, gegen welche als Schranken ihrer Produktivität die Natur beständig ankämpft. Aber indem sie dagegen ankämpft, erfüllt sie diese Sphäre wieder mit ihrer Produktivität."32
30 Vgl. die ,,zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre für Leser, die schon ein philosophisches System haben", in: Fichte, GA Bd. I, 4, S. 246. 31 Schelling, SW III, 18.
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Schellings "Beispiel" ist keine bloß zierende, sondern eine mit tiefem heuristischen Wert versehene Metapher, deren Hintergrund viel Licht auf die Lehre des Realen als eines sich selbst diskontinuierlich machenden Kontinuums bzw. als einer Selbstreproduktion von Sphären oder eines "Kreises von Kreisen" wirft. Eine nähere Quelle für Schelling war mit Sicherheit Jacobis Gespräch "David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus" (1787), in dessen VI. Beilage Jacobi unser Ich mit einem Wirbel vergleicht. Unser Ich, wie jeder Organismus in der Natur, besteht aus einer unendlichen Menge von Teilen, die ständig angenommen und abgestoßen werden; das Einzige, das sich erhält, ist die sich selbst ständig reproduzierende Form. Diese Form ist aber nichts anderes als Leibniz' "vinculum compositionis essentiale" bzw. die Monade. 33 Jacobi mag sein Wirbel-Bild über seinen Bekannten und "Lehrer" Le Sage erhalten haben, dessen Lehrer wiederum Daniel Bernoulli war. Letzterer war nämlich Mitverfasser einer Preisschrift für die Pariser Academie Royale des Sciences über den Magneten: "Nouveaux Principes de Mecanique et de Physique tendant a expliquer la Nature et les proprietes de l' Aiman" (1746). In dieser Schrift versuchten Daniel und Johann Bernoulli zu erklären, wie ein "magnetischer Wirbel" um den Magneten entsteht, und fanden in dem allgemeinen Prinzip, daß die Natur den "Permanenzzustand" aller Bewegungen mit großem Einsatz zu erreichen sucht, die Ursache für die Entstehung von Kreisbewegungen aus den ursprünglich geradlinigen Bewegungen der magnetischen Materie: "C'est une chose constante, que par-tout ou il y a du mouvement, la Nature tend a continuer et a conserver ce mouvement: Or la seule maniere de le conserver est ici ce tourbillon et cette circulation. C'est ainsi qu'un vent qui rencontre quelque obstac1e, ne change pas simplement de direction, mais qu'il se change en tourbillon, de meme que les eaux d'une riviere."34 Schelling kannte Bernoullis Text und benutzte ihn, wie schon Jacobi, in einer "monadologischen" Perspektive, um den Folgen einer gefahrlichen Mißdeutung des Kontinuitätsprinzips auszuweichen. Eine radikale philosophische Anwendung des Gedankens, daß es möglich sei, über unendlich kleine Differenzen von einer geometrischen Figur zur anderen überzugehen, führte nämlich vor allem in FrankEbd. S. 18 Anm. 2. 33 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke, Leipzig 1812-1825, Bd.2, S. 253-259. Vgl. mein Buch: Vita natura liberta. Schelling (1795 - 1809), Milano 1990, S. 67 -70. 34 Daniel Bernoulli I Johann Bernoulli, Nouveaux principes de mechanique et de physique, tendans a expliquer La Nature et les proprietes de l' Aiman. Pour concourir au Prix de I'annee 1746, in: Recueil des Pieces qui ont remporte le Prix de l' Academie Royale des Sciences, Depuis leur fondation jusqu' au present [... ], Pieces qui ont remporte le Prix de l' Academie Royale des Sciences, en 1743 et 1746. Sur la meilleure construction des Boussoles d'Inc1inaison; et sur I'Attraction de I'Aiman sur le Fer [... ], Paris, 1748, S. 131. Vgl. S. 131-132: "Le tourbillon se forme ainsi peu a peu, jusqu'a ce qu'il soit parvenu a cet etat de permanence, que la Nature recherche constamment et avec grand soin, comme I'auront remarque tous ceux qui I'ont un peu etudiee: or cet etat de permanence ne s'y trouveroit pas, s'il falloit toujours une nouvelle matiere qui enträt 32
[ .. .]".
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reich zu einer Lehre, die die allgemeine Verwandelbarkeit von allem in alles behauptete. Ein Beispiel dafür ist Diderots Methode der "passage a la limite", eine analogische Methode, die es ihm z. B. ermöglichte, den Mineralien die Sensibilität anzuerkennen, weil die kontinuierliche Stufenleiter der Natur keine absolute Trennung zwischen den Reichen kennt, und eine allmähliche "degradation" vom Tier zum Stein führt. 35 Der schroffste Ausdruck dieser Lehre befindet sich im 4. Band der 2. Ausgabe von Jean-Baptiste Robinets "De la nature" (1766).36 Schelling kannte Robinets Werk - wenn nicht direkt - über die eingehende Besprechung von Gottfried Ploucquet, dessen Dissertation "De hylozoismo veterum et recentiorum" (1775) auf der Liste der Veröffentlichungen erscheint, die Schelling bei seinem Vater in einem Brief aus der Vorbereitungszeit der "Weltseele" (4. September 1797) bestellt 37 . Robinet bezieht sich auf einen Brief von Leibniz an Hermann (1707), in dem das Kontinuitätsgesetz behauptet wird: "Les hommes tiennent aux animaux, ceux-ci aux plantes, es celles-ci derechefs aux fossiles qui se lieront a leur tour aux corps que les sens et I 'imagination nous repn!sentent comme parfaitement morts et informes. Or puisque la loi de continuite exige que, quand les determinations essentielles d'un autre, aussi en consequence toutes les proprietes du premier doivent s'approcher graduellement de celles du demier, il est necessaire que tous les ordres des Etres natureis ne forment qu'une seule chaine, dans laquelle les differentes classes, comme autant d' anneaux, tiennent si etroitement les unes aux autres, qu'il est impossible aux sens et a l'imagination de fixer precisement le point Oll quelqu 'une commence ou finit: toutes les especes quo bordent, ou qui occupent, pour-ainsi-dire, les regions d 'inflexion et de rebroussement devant etre equivoques et douees de caracteres qui peuvent se rapporter aux expeces voisines egalement." 38 Ploucquet fügt einige, wichtige Zeilen hinzu, die in Leibniz' Brief dem oben zitierten Text vorangehen: Je pense avoir de bonnes raisons pour croire, que toutes les differentes classes des Etres, don't l'assemblage forme I'Univers, ne sont dans les idees de Dieu, qui connoit distinctement leurs gradations essentielles, que comme autant d' Ordonnees d'une meme Courbe, dont I'Union ne souffre pas qu'on en place d'autres entre deux, a cause que cela marqueroit du desordre et de l'imperfection."39 Robinet entwickelte aus diesen Voraussetzungen eine hylozoistische Lehre, nach welcher die ganze Natur, ohne Unterschied, als die Entwicklung eines 35 Vgl. Paul Vernieres Anmerkung zu Diderots ,,Entretien entre d' Alembert et Diderot", in: Denis Diderot, Oeuvres philosophiques, Textes etablis, avec introctions, bibliographies et notes par Paul Verniere, Paris, 1956, S. 258. 36 Jean Baptiste Robinet, De la nature, Tome 4, Amsterdam 1766. 37 Gottfried Ploucquet, De hylozoismo veterum et recentiorum, Tübingen 1775. Vgl. Schellings Brief des 4. Sept. 1797 an die Eltern in: Aus Schellings Leben in Briefen, hrsg. v. G. L. Plitt, Bd. 1, Leipzig 1869, S. 206. 38 Robinet (FN 36), S. 7. Vgl. Ploucquet (FN 37), S. 28-29. 39 Ploucquet (FN 37), S. 28.
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einzigen Keimes betrachtet wird. Es entsteht somit ein Kontinuum von Gestalten, das die Mineralien über unendlich viele Deformationen mit den Tieren verbindet, die Gestaltanalogien zwischen ihnen erklärt und die ganze Natur in eine einzige, nach einheitlichem Plan erfolgende Morphogenese einspannt. Grundlage der Mannigfaltigkeit der Naturformen ist ein einziges, kontinuierlich variiertes "etre prototype" : "Il n'y a qu'un seul acte dans la Nature, dans lequel rentrent tous les evenemens: un seul phenomene dont tous les phenomenes sont des parties liees: un seul Etre prototype de tous des Etres, comme je l'ai dit; et d'autres l'avoient dit avant moi. [... ] L'unite de modele, ou de plan, maintenu dans la prodigieuse diversite des fonnes, fait la base de la continuite ou de la liaison graduee des Etres. Tous les Etres different les uns des autres, mais toutes ces differences sont des variations naturelles du prototype qu'il faut regarder comme l'element generateur de tous les Etres ... Illes engendre veritablement par voie de developpement. C'est un genne qui tend naturellement a se developper."40 Eine unmittelbare Folge dieser Anwendung des Prinzips einer Naturplaneinheit durch unendlich kleine Variationen ist die Behauptung, daß jede Unterteilung in der Natur künstlich und konventionell ist. Eine genauere Betrachtung der Natur würde uns zu der Behauptung führen, daß es nur Individuen gibt, die voneinander durch unendlich kleine Differenzen getrennt sind: ,,Alors nous ne verrions que des differences singulieres et individuelles, sans en trouver de specifiques, de generiques, ni de cJassiques: nous n'admettrions qu'un plan et des variations, un regne et d'individus."41 Ploucquets Kritik an Robinet richtet sich gegen die Verallgemeinerung des Kontinuitätsprinzips als Möglichkeitsgrund alles Existierenden. Es handelt sich dagegen bloß um ein Erklärungsprinzip, dessen Anwendung von der reell existierenden Kontinuität unter Erscheinungen abhängig ist. Ploucquet behauptet eine grundsätzliche Diskontinuität des Reellen als ein gleichzeitiges Bestehen von unterschiedlichen, durch verschiedene Qualitäten begründeten Reihen von Wesen. Die Kluft zwischen den verschiedenen Reihen mit dem Kontinuitätsprinzip überbrücken zu wollen heißt: sich von der klaren Kenntnis der Natur in einen Traum zu verlieren. Kontinuität ist nur innerhalb jeder Qualitätssphäre möglich: "Nexus rerum non infert transiturn possibilern ab una re ad alteram ope continuitatis cujusdam mutationum, sed idem nexus talern transiturn excJudit. Si transitus est possibilis; ipsa transitus possibilitas fundata est in rerum qualitatibus; Cum vero qualitates ita sunt comparatae, ut intemis characteribus, inter quos plane nulla proportio intelligitur, et qui plane heterogenii sunt; nulla ratione de tali transitu successivo et continuo cogitari potest."42
40 Robinet (FN 36), S. 17. 41 Ebd., S. 13-15. 42 Ploucquet (FN 37), S. 31.
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Hinter Ploucquets Kritik an Robinet zeigt sich eine grundsätzlichere Kritik an Leibniz. Ploucquet findet nämlich, daß in der Monadologie kein Übergang zwischen dem Prinzip der Zusammensetzung und dem Prinzip der Einfachheit besteht. Die Annahme von Composita kann weder apriori noch aposteriori gerechtfertigt werden; aber auch wenn wir Composita beweislos annehmen, so ist nicht zu erwarten, zu dem Einfachen gelangen zu können: jedes Kontinuum gestattet nämlich eine Teilbarkeit ins Unendliche. Der Rückschluß vom Unendlich-Teilbaren auf die Monaden als Einheiten, die dem Teilbaren zugrunde liegen, ist unerlaubt. 43 Es läßt sich nun zeigen, daß Schellings Annahme der "Bernoullischen" Wirbel einen Versuch darstellt, von den Paradoxen wegzukommen, die der Unendlichkeitsgedanke in der Monadologie erzeugt. Wir haben gesehen, daß die Beugung der geradlinigenjluentes zu Wirbeln zu einer "Permanenz" des Unendlichen im Endlichen führt. Diese Permanenz bedeutet: in jeder Größe ist das ganze Unendliehe anwesend, jedoch nicht in einer solchen Weise, daß die Diskreta spurlos unmittelbar ineinander fließen, sondern sie sind derart ,gegenwärtig', daß jede Größe als vom unendlichen Fluß erzogen in ihrer Singularität jeder anderen beiwohnt. Nur eine solche Größe kann, wie Leibniz' Monaden, eine "Erinnerung" ihrer Zustände vorweisen und eine Perspektive auf das Ganze hin sein. Dies führt Schelling zur Annahme von ursprünglichen Qualitäten wie es bei Ploucquet der Fall war: "Ein Produkt ist nur scheinbares Produkt, wenn in ihm selbst wieder die Unendlichkeit liegt, d. h. wenn in ihm die Fähigkeit zu unendlicher Entwicklung ist. Es kann aber diese Fähigkeit in ihm nicht stattfinden ohne unendliche Mannichfaltigkeit ursprünglich in ihm vereinigter Tendenzen. A. Es fragt sich, wodurch diese Tendenzen in der Natur überhaupt sich offenbaren? Lehrsatz: Die ursprünglichsten Hem-
mungspunkte der allgemeinen Naturthätigkeit sind in den ursprünglichen Qualitäten zu suchen. [... ] Da nun das Unbedingte überall = absoluter Thätigkeit ist, absolute
Thätigkeit aber empirisch nur als eine ins Unendliche gehemmte Thätigkeit erscheinen kann, so sind die ursprünglichsten Hemmungspunkte der allgemeinen Naturthätigkeit durch die ursprünglichen Qualitäten für uns bestimmt."44
Der Begriff einer ursprünglichen Qualität hilft Schelling, Ploucquets Kritik an Leibniz zu überwinden. Die Qualitäten sind nämlich nach ihm .. selbst nicht im Raum ", sondern .. Prinzipien aller Raumerfüllung ". Jede Qualität ist unbedingte Tätigkeit bzw. Prinzip raumzeitlicher Größenerzeugung, indem in ihr die Tätigkeit der einigen Urgröße in eine bestimmte Sphäre "fließt". Ein solches Prinzip liegt aber nicht im Prozeß des Erzeugten, als Teil unter Teilen, sondern steht über der aktuellen Teilung als dasjenige, was sie richtet und unterhält. Wie Jacobis Anwendung von Leibniz' vinculum compositionis essentiale auf die Bildung und Unterhaltung des Wirbels, stiftet die ursprüngliche Qualität bzw. 43 44
Ebd., S. 21- 22. Schelling, SW Bd. I1I, 20, 22.
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der Hemmungspunkt Pennanenz im fließen der Teile, ohne selbst Teil zu sein. Dynamische Prinzipien, die eben die Prozesse anfachen und unterhalten, können nur das Innere und Höhere derselben darstellen; sie steuern die Selbstreproduktion der reellen Individua, ohne in dem Verlauf des Prozesses selbst unterzugehen. Diese Lehre wird Schellings Lehre des Organismus sein, indem ein höherer Organismus - der dem chemischen Lebensprozeß nicht unterworfen ist, und gewissennaßen das ,Programm' desselben darstellt - vom unteren Organismus als fluß von physikalisch-chemischen Prozessen unterschieden wird. Aber der Organismus lehre als Überordnung einer Ebene über eine andere Ebene liegt die Lehre der Größenbildung in Raum und Zeit zu Grunde. Sie gewährleistet, daß die Materie unendlich teilbar ist, obwohl in ihr immer nur eine endliche Teilung vorkommt, so daß das materielle Substrat nicht aktuell "verschwindet". Das Einfache kann somit das Compositum bis ins Unendliche begründen, ohne daß man in das von Ploucquet dargestellte Paradox zu fallen droht. Schelling erreicht hier die vollständige Überholung der Unterscheidung Kants zwischen raumzeitlichen formellen Verhältnissen und qualitativem Gehalt: Das raum-zeitliche Kontinuum besteht aus qualitativ bestimmten Einheiten, die unreduzierbare Individua genannt werden können. Schelling bedient sich auch des leibnizischen Wortes "Natunnonaden", um diese einfachen Prinzipien des Unendlich-Teilbaren zu bezeichnen: die Naturphilosophie zeigt sich als eine "dynamische Atomistik", in welcher die empirische Erzeugung des Raumes von zwei Seiten her zu sehen ist. Die eine, ursprüngliche Größe erzeugt als Kontinuum die diskontinuierlichen "Wirbel" der Qualia; diese Einheiten der Produktivität, d. h. der unendlichen Tätigkeit, erzeugen ihrerseits wiederum ein Kontinuum von Erscheinungen, indem sie die unendliche Teilung, Versammlung und Trennung der Materie unterhalten: Wenn also Atomistik eine Theorie heißt, welche etwas Einfaches als Element in der Materie behauptet, so ist wahre Philosophie allerdings Atomistik. Aber da sie nur ein dynamisch Einfaches behauptet, so ist sie dynamische Atomistik. Jede ursprüngliche Qualität ist uns eine Aktion von bestimmtem Grad, und jede solche Aktion ist - wahrhaft individuell. - Es ist keine Individualität in die Materie zu bringen, ohne solche ursprüngliche Einheiten, die nicht Einheiten des Produkts, sondern der Produktivität sind." 45
Schelling gelingt mit seiner Lehre der dynamischen Atomistik die Rettung des allgemeinen konstruktiven Anspruchs der Vernunft, nach dem es keine absolute, durch kontinuierliche Annäherung unerreichbare Singularität gibt, ohne daß dabei das Bedürfnis an Individualität und Qualitätenvielfalt der Wirklichkeit preisgegeben werden muß. Die Einheiten der Produktivität bzw. die Qualitäten treten bei Schelling an die Stelle von Robinets kontinuierlichen Deformationen des Urtyps. Diese Einheiten stellen die zweifache Wurzel der reellen Anschauung dar, indem sie das 45
Ebd., S. 22, Anm. 1; vgl. S.21-23.
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Sichniederschlagen der Kontinuität in der Diskontinuität, das Erscheinen der Notwendigkeit (als Vernunftnexus) in der Zufälligkeit der Hemmung zur Erscheinung bringen. Als Folge dieser doppelten Natur der Produktivitätseinheiten ergibt sich das Wesen des materiellen Prozesses als De- und Rekombination von K omposita. Die Kombination von Aktionen erfolgt dadurch, daß sie alle aus der Hemmung der einzigen Urgröße entstehen und dahin getrieben werden, die unterschiedlichen Darstellungen der Urgröße, die von ihnen ausgedrückt werden, in ein einziges Produkt bei Tilgung der Diskontinuität ausmünden zu lassen. Die chemische Natur des materiellen Prozesses ist das Ergebnis dieser im Wesen der raum-zeitlichen Anschauung gegründeten Kombinatorik der Qualitäten. Wenn die Anschauung kein "Monaden-Raum" wäre, in dem die differentes nicht auch die einzige fließende Größe als ihr substans hätten, so hätte man keinen Grund, sie als Aggregat zu einzelnen, individuellen Größen zu vereinigen. Auf der anderen Seite, wenn das Reale nur eine einzige fluens wäre, so könnte nie eine Kombination von Verschiedenen entstehen. Schelling drückt diese doppelte Wurzel der Kombinatorik dadurch aus, daß er die Kombination nicht als äußere Aggregation, sondern als Ineinandergreifen, Rezeptivwerden für das Andere versteht: "Combiniren aber können sie [die Aktionen] sich nicht ohne wechselseitige Receptivität füreinander zu haben. Eine Aktion muß in die eine andere eingreifen können. Je für zwei verschiedene Aktionen muß es einen gemeinschaftlichen Punkt geben, in welchem sie sich vereinigen - (Dieser Punkt eben wird - freilich auf einer viel tieferen Stufe - chemisches Produkt genannt)."46 Daß die "Naturmonaden" bzw. diskreten Größen der Anschauung füreinander Rezeptivität besitzen, bedeutet, daß räumliche Einheiten im ,,Phänomenenraum" immer ,,kombinierte" Zusammenhänge von Aktionen darstellen, deren Grund im "Monadenraum", d. h. auf dem Gebiet der Produktivität und nicht des Produkts liegt. Getrennte räumliche Einheiten treten im Phänomenenraum erst dann auf, wenn das Feste vom Flüssigen heraustritt und niedergeschlagen wird: feste Körper haben Umrisse, Grenzen, Figur. Im Flüssigen kann dagegen keine Figur heraustreten, obwohl alle darin potentiell enthalten sind. Schelling führt das Heraustreten der Figur auf die Vereinzelung bzw. auf das Sichtrennen einer einfachen Aktion von den anderen zurück. Das Ineinandergreifen der Aktionen hängt mit ihrer Kapazität füreinander zusammen. Ein Maximum an Kapazität entspricht einem Maximum von Vereinheitlichung des Raums: die Größen, die eine hohe Kapazität füreinander besitzen, nehmen einen gemeinsamen Raum ein, d. h. bilden eine Raumeinheit, die eine Grenze zu anderen Größen zieht, für die eine mindere Kapazität besteht. In einem nach Kants Muster gebildeten dynamischen Raum würde im ersten Fall die Attraktivkraft, im zweiten die Repulsivkraft überwiegen. Wenn alle Aktionen eine gleichmäßige, hohe Kapazität füreinander zeigen, kann keine Figur in Erscheinung treten: sie ,,heben sich auf' und im Phänomenenraum 46 Ebd., S. 27.
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zeigt sich Flüssigkeit. Wenn dagegen die Kapazität vennindert wird, so trennen sich die Aktionen voneinander und aus ihrer Scheidung schlagen sich zuletzt feste Körper nieder. Es ist leicht einzusehen, daß die Vereinheitlichung der Aktionen im Flüssigen dem Überwiegen der im ursprünglichen Kontinuum gegründeten Tendenz zur Kombination entspricht. Dies entspricht wiederum im Phänomenemaum einer allgemeinen "Latenz" von Wänne bzw. einem verallgemeinerten Zustand von Flüssigkeit. Wenn aber die Kapazität reduziert wird, so treten die Aktionen in ihrer Individualität auf, Qualitäten trennen bzw. zeigen sich in der Anschauung und die früher latent bleibende Wänne wird phänomenisch feststellbar. Was sich aber als empfindliche Wärme zeigt, ist nach Schelling nicht - wie die damals überwiegende "materielle Wännelehre" mit ihrer Hypothese vom Wännestoffbzw. caloricum behauptete - eine Flüssigkeit, ein qualitativ bestimmter Stoff, sondern das "Phänomen der beständig venninderten Capacität (der ursprünglichen Aktionen füreinander)". Die empfindliche Wänne zeigt sich nur, wenn die qualitativen Unterschiede aus ihrem Gleichgewicht heraustreten und, statt sich gegenseitig in einem gemeinsamen Raum als Flüssigkeit zu neutralisieren, in einen Trennungsprozeß übergehen. Figuren zeigen sich, wenn die gegenseitige Attraktion nicht mehr fähig ist, die unterschiedlichen Qualitäten in einer gemeinsamen Raumeinheit ("aufgelöst") zu halten, und eine räumliche Trennung erfolgt, die einem venninderten gegenseitigen "Eingreifen" der Qualitäten in dem zugrundeliegenden Monademaum entspricht. 47 Der Naturprozeß gestaltet sich demnach als ein ständiges Schweben zwischen Festem und Flüssigem, das dem Schweben der Größe zwischen Kontinuum und Diskontinuum entspricht: "Dies wird das Schauspiel eines Kampfs zwischen der Fonn und dem Formlosen geben. Jenes immer werdende Produkt wird continuirlich auf dem Sprung vom Flüssigen ins Feste, und umgekehrt auf dem Rückgang vom Festen ins Flüssige begriffen seyn."48 Hinter dieser Lehre von Schelling läßt sich unschwer Joseph Blacks Lehre der "latenten Wänne" entdecken, und noch mehr deren Weiterentwicklung in der Lehre der Wännekapazität, die von Adair Crawford, Lavoisier und Laplace auf der Grundlage von Blacks großer Pionierarbeit geleistet wurde. Die Lehre der Wännekapazität ennöglichte eine theoretische Bearbeitung von Problemen des thennischen Gleichgewichts in einem System von Körpern. Der Temperaturgleichheit entsprechen bei gleichem Volumen der Körper unterschiedliche "Mengen von caloricum". Dem flüssigen Zustand der Körper entspricht eine große Menge von "verschluckter", auf dem Thennometer nicht erscheinender ("latenter") Wänne: "Wenn feste Körper dadurch, daß sie der Wänne ausgesetzt werden, in einen flüssigen Zustand kommen; so verschlucken sie eine Menge von Wänne, die zu ihrem Daseyn in flüssiger Fonn durchaus erforderlich ist, jedoch aber ihre Temperatur nicht vennehrt: 47 Ebd., S. 31 -33. 48 Ebd., S. 33.
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werden hingegen dieselben Körper vermittelst der Kälte wieder in einen festen Zustand gebracht, so setzen sie die Wärme wieder ab, die sie vorher während des Schmelzens eingeschluckt hatten."49
Die Lehre der thermischen Kapazität diente Alessandro Volta als Vorbild für die Entwicklung der parallelen Lehre der elektrischen Kapazität, die zur Erfindung des Kondensators führte. Der Begriff einer "elektrischen Kapazität" wurde von Franklin angewandt; Volta führte die gesamten Wirkungen der Elektrizität auf eine einzige ,,Energie" zurück, die er "Spannung", d. h. ein Streben, aus den elektrisierten Körpern herauszudringen, nannte: ,,Non c'e ahra energia che quella, che chiamo tensione di elettricita, che e poi 10 stesso che 10 sforzo di spingersi fuori." 50
Die elektrische Kapazität und die Spannung sind keine absolut gegebenen Größen und entsprechen nicht einer in sich bestimmten absoluten "Menge" von sich im Raum bewegender Materie. Ihre Erscheinungen hängen dagegen von dem Anziehungs- und Zurückstoßungsspiel zwischen positiver und negativer Elektrisierung bei Körpern von bestimmter Form und Lage in einem Raum ab. Die Kapazität eines einzelnen Körpers kann in erstaunlicher Weise überhöht werden, wenn ein anderer Körper hinzukommt, der ohne Übergang von Materie eine entgegengesetzte Elektrizität durch Induktion erhält. Volta spricht von einem "akzidentellen Gleichgewicht" oder von einer "akzidentellen Kompensierung", indem er meint, daß keine "Substanz" durch eine reelle Bewegung von Materie geändert worden sei. Die große Kondensator-Schrift, die Volta in den Londoner "Philosophical Transactions" 1782 veröffentlichte, stellt dynamische Wirkungen im Raum als Folgen von Kapazitäts- bzw. Spannungsänderungen in Systemen von Körpern dar, die in den "Wirkungssphären" von Attraktiv- und Repulsivkräften "eingetaucht" (immersi) sind: "Suppose two flat conductors, electrified both positively or both negatively, to be presented towards, and to be gradually brought near, each other: it will appear, by two annexed electrometers, that the nearer those two conductors come to each other, the more their intensities will increase; which shews, that either of the two conjugate conductors has a much less capacity now then when it was singly insulated, and out of the influence of the other. [... ] Let the preceding experiment be repeated with this variation only, viz. that one of the flat conductors be electrified positively, and the other negatively: the effects then will be just the reverse of the preceding, viz. the intensity of their electricities will be diminished, because their capacities are increased the nearer the conductors come to each others."51 49 Adair Crawford, Versuche und Beobachtungen über die thierische Wärme und die Entzündung brennbarer Körper. Ein Versuch, alle diese Erscheinungen auf ein allgemeines Naturgesetz zurückzubringen, Zweite sehr vermehrte Ausgabe, aus dem Englischen übersetzt von Lorenz Crell, Leipzig 1789, S. 55 - 56. 50 Alessandro Volta, Osservazioni sulla capacita de'Conduttori elettrici [... ], in: Le opere. Edizione nazionale sotto gli auspici della Reale Accademia dei Lincei e deI Reale Istituto Lombardo di Scienze e Lettere, Vol. 3, Milano 1926, S. 213.
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Die hier angeführte englische Übersetzung von Voltas Text erschien gleich in dem "Appendix" des 72. Bandes, in dem Voltas italienischer Originaltext gedruckt wurde. Es ist nicht zu übersehen, daß der englische Übersetzer zwar Voltas experimentellen Vorgang vollständig widergab, jedoch Voltas theoretische Ansätze ganz unterließ. Statt "tensione" (Spannung) erscheint im übersetzten Text nur "intensity", wobei Voltas Gedanke verlorenging, daß die Kapazität eines Körpers nur das Maß des fehlenden Widerstands gegen die Einwirkung von anderen Körpern ausdrückt. Folgender Text wurde z. B. nicht übersetzt: "Allora io dieo che trovasi accresciuta in ciascuno de' due dischi [seil. wenn beide Leiter ungleichartige Elektrizitäten besitzen] la capacita, inquantoche opporra ciascuno minore resistenza ad un'ulteriore carica dell'elettricita che gia possiede, e gliene rimarra dippiii a prendere per giungere a un dato grado di tensione."52
Die zeitgenössische englische Übersetzung klammerte eigentlich aus, weIches Modell der dynamischen Wirkungen im Raum Volta vorschlug. Die elektrischen Phänomene drücken die Wirkungen von "Wechselkräften" ("forze mutue") aus, weIche Gleichgewichtszustände zwischen einem tätigen Streben über sich hinaus und einem rezeptiven Widerstand gegen das Eindringen in die eigene Tätigkeitssphäre ausdrücken. Mechanische Wirkungen, die den ,,reellen" Übergang von Materie von dem einen Punkt des Raums zu einem anderen voraussetzen, erscheinen nur dann, wenn die äußersten Grenzen des dynamischen Gleichgewichts erreicht werden, und die bestehenden Verhältnisse nicht mehr erhalten werden können: in letzterem Fall entlädt sich die Elektrizität durch Funken bzw. Blitze, und der Übergang von Materie bewirkt eine dynamische Umgestaltung des Raums und seiner Wirkungssphären. Volta war sich bewußt, daß sein Modell eine Alternative zu dem herkömmlichen, rein-mechanischen Modell der sich im Raum bewegenden Materie als Ursache von allen Wirkungen darstellte und sagte schon 1778 in seiner Abhandlung "Della capacitll de' conduttori coniugati": "L'accidentale tensione pertanto, I'elettricita per eccesso che affetta il piatto B accostato a un certo segno al piatto A propriamente ed effettivamente ridondante di fuoco, proviene da cio che sebbene, tomiamolo a dire, non si trasfonda da esso B ne punto ne poco deI fluido elettrico accumulato sopra A, vi giunge pero, e fin la s' estende, l' azione di questo fuoco, qualunque ella siasi questa azione, e in qualunque modo noi riguardar la vogliamo, come attrazione 0 come ripulsione. Certo a me pare quella un'azione proveniente anziehe da un impulso meccanieo dai principj delle forze mutue, il dominio delle quali quanta nella fisiea e nella chimiea si conosce oggimai generalmente esteso, nel particolare de' fenomeni elettrici sempre piu si manifesta."53
51 Alessandro Volta, Dei modo di rendere sensibilissima la piu debole Elettricita sia Naturale, sia Artificiale; engl. Übersetzung: Of the Method of rendering very sensible the weakest Natural of Artificial Electricity, in: Philosophieal Transactions of the Royal Society of London, Vol. 72, Part 1. For the Year 1782, London 1782, S.237-280; Appendix, S. VII-XXXI. Der angeführte Text befindet sich auf S. XXII-XXIII des Appendix. 52 Ebd., S. 264.
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Schelling fand bei Volta das Gedankenmodell, um die Entstehung von diskreten Größen aus dem Raumkontinuum zu erklären. Bernoullis Wirbel bestanden noch aus Strömen bewegter Materie, wobei der Bewegungsgrund der Teilchen unerklärt und unverständlich blieb (abgesehen von Le Sages Versuch, ihn durch "außerweltliche Körperchen" zu erklären). Eine Größe, die sich als eine Diskontinuität im Raum zeigt, ist die Tätigkeitssphäre zwischen zwei äußersten Grenzen, deren untere ein Maximum an Kapazität und deren obere ein Maximum an Spannung darstellt. Maximale Kapazität bedeutet ihrerseits ein Maximum an Rezeptivität; maximale Spannung ein Maximum an Tätigkeit nach außen. Innerhalb jeder Größe kann eine Vielheit von Verhältnissen auftreten, die nur dann ,formauflösend' wirken, wenn die eine oder die andere Grenze überschritten wird. Im letzteren Fall löst sich das dynamische Band auf, die diskontinuierliche Größe verliert sozusagen ihre Grenze und ihre Sphäre geht ins Kontinuum der Formen zurück, um in neue Einheiten einzutreten. Die gegenseitige Kapazität der einfachen Aktionen und die gegenseitige Spannung, die zwischen ihnen besteht, ziehen die Grenzen der Formeinheiten, die den Naturprozeß bilden. Innerhalb der Formgrenzen jeder dynamischen Einheit wird die Materie vom waltenden ,Kräftefeld' gezwungen, auf verschiedenen Intensitätsniveaus das gleiche Gebilde zu reproduzieren. Die in der Natur vorkommenden Individua stellen nach Schelling immer nur Mittelstufen zwischen dem absoluten Extrem der Kapazität jeder Aktion für alle anderen und dem absoluten Extrem der Spannung jeder Aktion gegen alle anderen dar. Im ersten Fall würde man, wie wir schon gesehen haben, eine allgemeine Auflösung ins Kontinuum bzw. eine absolute Flüssigkeit oder Kombination der Aktionen miteinander beobachten können; im zweiten Fall würde man dagegen eine absolute Dekomposition in die "atomaren" Aktionen beobachten, wobei alles fest würde, starre Gestalt hätte. Die existierenden Individua sind aber weder das eine noch das andere: sie schwanken zwischen den Extremen des Kontinuums und des Diskontinuums, und sie bilden nur dadurch getrennte Sphären, weil sie ihre dynamische Form als Gleichgewicht der "akzidentellen Kompensierung" (in Voltas Sprache) ihrer Urqualitäten behaupten können. Die Körperwelt besteht nicht aus absolut gegebenen Substanzen, sondern aus Tätigkeits- bzw. Wirkungssphären, deren Natur ist es, aus der Wechselwirkung von "mutuellen Kräften" eine "akzidentelle" bzw. "angezogene", "induzierte" Wirkungsart zu erhalten. Diese Stelle erweist sich als besonders wichtig im Aufbau von Schellings Philosophie der Physik als Lehre einer sich ständig reproduzierenden Natur. Sich selbst überlassen, würden die einfachen Aktionen zu einer atomistisch-mechanischen Welt führen: die Freiheit einer Aktion ist das "blinde" Hineinfallen in die Verwirklichung ihrer "Natur" bzw. Qualität. Eine solche Welt würde aus lauter Bewegungen von absolut gestalteten Atomen in dem Zeit-Raum bestehen. Die 53
Volta, Opere (FN 50), Bd. 3, S. 235-236.
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Erscheinungen der Kapazität und der Spannung zeigen aber, daß dies nur ein ideeller Extremfall ist, und daß in dem reellen Prozeß jede Aktion in ihrer "Freiheit" durch die Wechselwirkung mit den anderen Aktionen behindert wird. Freiheit und gegenseitige Bindung, deren Extremfälle eine Welt von beziehungslosen Atomen und eine universelle Auflösung in eine absolute Flüssigkeit wären, drücken die "schwankende" Reihe + 1 - I + I - 1 ... aus, welche die nie rastende, immer werdende Bildungskraft der Natur darstellt. Die Reihe verwirklicht sich in einem ständigen Prozeß von De- und Rekombinierung, in dem die erscheinenden Individua keine einfachen Aktionen bzw. Natursubstanzen sind, sondern zusammengesetzte, aus dem Spiel der gegenseitigen Kapazität und Spannung hervorgehende Tätigkeitssphären, die nur eine vom Wechselspiel der mutuellen Kräfte bestimmte "angezogene" Natur besitzen. Es ist leicht, hinter Schelling Voltas Lehre der "akzidentellen Gleichgewichte" bei induzierten elektrischen Zuständen zu erkennen. Durch die Induktion - d. h. durch das Entstehen einer gemeinsamen Wirkungssphäre der Aktionen nach ihren durch die dynamische Lage des Gesamtprozesses und insbesonders der näheren Stufen bestimmten Kapazitäts- und Spannungsverhältnissen - entsteht eine vollkommene Subordination der Aktionen untereinander. Subordination, Unterwerfung und Entstehung von systemhaften Ganzheiten sind ein und dasselbe. Solche gemeinsamen Produkte aus verschiedenen Aktionen haben nach Schelling den Schein des Zufälligen, weil sie aus dem "akzidentellen Gleichgewicht" der induzierten Kräfte entstehen, sie sind jedoch notwendig, weil sie aus blind wirkenden N atursubstanzen bzw. Atomen bestehen.54 Freiheit (d. h. mechanische Notwendigkeit) und Bindung der Aktionen können nur in Beziehung zueinander verstanden werden: die freie Entfaltung einer einzelnen Natur kann nur dann begriffen werden, wenn man sie - und hier verbindet Schelling Kant mit Volta - als kämpfend gegen jedes Eindringen von anderen Naturen vorstellt, was nicht nur wie bei Kant einem Verhältnis von Zentrifugal- zu Zentripetalkraft mit Entstehung einer Oberfläche entspricht, sondern ein Verhältnis von Spannung und Kapazität bezeichnet, das ein Entstehen von Sphären bei gegenseitigem Eingreifen durch induzierte bzw. "akzidentelle" Gleichgewichte voraussetzt. Sich selbst überlassene, ohne Wechselwirkung mit anderen gedachte Atome würden sichfrei in ihrer Richtung (inertiell in gerader Linie wie im parallelen Fließen eines ideellen, reibungslosen Fluidums) bewegen. Wenn aber eine Bindung entsteht, so erscheinen alle Aktionen als induziert, und der Fluß wird gezwungen, sich in sich selbst zu drehen und nicht aus der Grenze seiner Sphäre herauszutreten. Schelling bezeichnet diese "angezogene Natur" jeder mechanischen Kraft in einem durch induzierte Gleichgewichtszustände in einzelne, diskrete und ineinandergreifende Sphären geteilten Raum mit dem Wort Trieb. In der Natur als Sphäre von sich reproduzierenden Sphären erscheinen die mechanischen Kräfte als abgegrenzte Triebe:
54
Schelling, SW III, 39-41.
7 Selbstorganisation, Bd. 5
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Francesco Moiso "Das Produkt, da es ein gemeinschaftliches ist aus vielen verschiedenen zusammenwirkenden Thätigkeiten, hat den Schein des Zufälligen. und ist doch, da bei dieser bestimmten ursprünglichen Intensität jeder individuellen Aktion, und bei dieser bestimmten Proportion ihrer Vereinigung nur ein solches hervorkommen kann, blindes Naturprodukt. Es ist also in ihm Zufälliges und Nothwendiges ursprünglich vereinigt. In jeder einzelnen Aktion ist eine Thätigkeit, die sich frei - ihrer Natur gemäß - zu entwickeln strebt. In dieser Tendenz zur freien Entwicklung ihrer eignen Natur liegt eigentlich ihre Receptivität für - oder ihre Beschränkbarkeit durch alle übrigen, weil sie zu derselben nicht gelangen kann ohne Ausschluß aller übrigen von ihrer Sphäre. Dadurch, daß fremde Aktionen in ihre Sphäre greifen, ist sie genöthigt, zugleich in die Sphäre jeder andem einzugreifen. Es wird also ein allgemeines Eingreifen jeder Aktion in die andere statthaben. Zu derjenigen Entwicklung also, die ihrer Natur gemäß ist, kann keine Aktion in diesem Antagonismus kommen. Die Elemente eines solchen Ganzen werden alle gleichsam eine andere Natur angezogen zu haben scheinen, und ihre Wirkungsart wird von der, welche sie außerhalb dieses Antagonismus zeigen, ganz verschieden erscheinen. Indeß liegt doch in jeder die Tendenz der naturgemäßen Entwicklung, die in diesem Antagonismus nur als ein Trieb erscheinen wird. Dieser Trieb wird in seiner Richtung nicht frei seyn, seine Richtung ist ihm durch die allgemeine Unterordnung bestimmt, es ist ihm also eine Sphäre gleichsam vorgeschrieben, über deren Grenzen er nie schreiten kann, und in welche er beständig zurückkehrt."55
Einen absoluten Zufall erkennt Schelling nicht an: sein Wortgebrauch schwankt oft zwischen "zufällig" und "akzidentell", ohne klare Bestimmung der eigentlichen Bedeutung. Im engeren Sinn sollte man von "Akzidentalität" sprechen: die einzelnen Urgrößen, die einfachen Aktionen, würden jede für sich eine notwendige Entwicklung (im Sinne von Newtonsfluentes: als uniforme Bewegungen im Zeit-Raum) als entstehende Größen haben. Die Akzidentalität entsteht aus der gegenseitigen Bindung und aus der Entstehung von Wirkungssphären. Jede Sphäre kann nur durch ihre veränderliche Beziehung zu den unmittelbar mit ihr in Wechselwirkung tretenden Sphären bestimmt werden; zuletzt wird jede Größe von dem Ganzen der Naturprozesse in ihrem Erscheinen abhängig gemacht. Die Akzidentalität ist somit eine Folge der Komplexität des Verhältnisses zwischen Naturwesen, die keine einfachen lndividua und keine isolierten Einzelheiten sind, sondern selbst komplexe Bindungen von unterschiedlichen induzierten Naturen bzw. Trieben darstellen. Die Form solcher Wesen ist sowohl ein Schwanken zwischen Gestalt und Gestaltlosigkeit (je nach den Kapazitäts- bzw. Spannungsverhältnissen zu ihrer unmittelbaren und femen Umgebung), als auch ein Schwanken zwischen Notwendigkeit und ,,zufälligkeit": je stärker in einer Sphäre die Uraktionen hervortreten, desto isolierter ist sie vom allgemeinen Wirkungszusammenhang, desto weniger komplex ist ihr phänomenisches Erscheinen, desto "geometrischer" wird ihre Gestalt und notwendiger ihr Entwicklungsgesetz aussehen. Die ,Regelmäßigkeit' entspricht einer Annäherung an das Einfache, Atomare, das sich ohne fremden Einfluß aus sich selbst Entwickelnde. Die aus der Bindung 55 Ebd., S. 41.
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entstehende Zufälligkeit setzt die Getrenntheit, die Diskontinuität zwischen den zu bindenden Aktionen voraus: keine Urgröße kann auf eine andere reduziert werden; das Kontinuum entsteht nur durch Bindung von getrennten Formen zu Sphären und hat eine komplexe Natur. Der Raum ist nach Schelling nur deswegen kontinuierlich, weil jede reelle Größe eine integrierte Struktur hat, die aus einer Eingrenzung von einigen Formen und einer entsprechenden Ausgrenzung aus allen anderen und ihren Verhältnissen entsteht. Die Inhärenz von Rezeptivität, Entwicklung der eigenen Natur und Ausschluß von allen anderen führt zur Anwesenheit des Unendlichen bei jeder Bestimmung einer endlichen, reellen Größe: jedes Einzelne ist an und für sich nur als Ausschluß von allem anderen in einem ganzheitlichen Nexus zu begreifen. Die "empirische DarsteIlbarkeit" der einzigen Urgröße verlangte, wie wir gesehen haben, die Hemmung der Entwicklung der Fluens des Zeit-Raums und die Entstehung von "Wirbeln", die aus dem kontinuierlichen Fluß getrennte Sphären erzeugten. Der ,integrierte' Prozeß, der aus der Bindung der einfachen Aktionen "fließt", stellt eine unendliche Metamorphose von Sphäre zu Sphäre dar. Diese Metamorphose besitzt jedoch nicht den Charakter des unbestimmten Ineinanderfließens der Formen ohne Trennungen wie bei Robinet, weil das Kontinuum von der Diskontinuität nicht zu trennen ist, so wie umgekehrt letztere nur auf Grund ihrer Beziehung zu dem ersteren denkbar ist. Der Naturprozeß muß somit nach Schelling die Form einer "Stufenleiter" erhalten: die Erzeugung von komplexen, voneinander getrennten, fixierten, aufeinanderfolgenden Gestalten ist das diskontinuierliche Produkt einer tiefen Kontinuität des Gesamtplans der Natur. Die Reihe der Gestalten in der Natur drückt die Stabilisierung in getrennten Bildungsbereichen von dem einzigen bildenden Strom aus. Die Gestalten sind der zum Stehen gekommene, an verschiedenen Stellen in Kreisen abgeleitete Fluß. Wir finden hier den theoretischen Grund von Schellings Formulierung des sogenannten ,,Rekapitulationsgesetzes", das die Kontinuität der Naturmetamorphose und die Abstimmung aller Gestalten aus einem Urtyp mit der Diskontinuität der Formbildung verbindet und das Wesen der Gestalt ausmacht: "Die Entwicklung des absoluten Produkts, in welchem die Naturthätigkeit selbst sich erschöpfen würde, ist nichts anderes als eine Bildung ins Unendliche. Bildung aber ist nichts anderes als Gestaltung. Die verschiedenen Stufen der Entwicklung sind also nichts anderes als verschiedene Stufen der Bildung oder der Gestaltung. Jedes einzelne Naturprodukt [... ] durchläuft bis zu dem Punkt, bei welchem es gehemmt wird, alle möglichen Gestaltungen, nur daß es zur wirklichen Produktion bei keiner derselben kommt. Jede Gestaltung aber ist selbst nur das Phänomen einer bestimmten Proportion, welche die Natur zwischen entgegengesetzten, wechselseitig sich einschränkenden Aktionen erreicht. So vielerlei Proportionen dieser Aktionen möglich sind, so vielerlei verschiedene Gestaltungen und ebenso vielerlei Entwicklungsstufen." 56
56
7*
Ebd., S. 42-43.
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Schelling konzipiert den Gestaltungsprozeß in der Natur als eine fortschreitende Induktion, welche Sphäre aus Sphäre bildet, und die folgende Stufe durch "Verteilung" der Kräfte (d. h. durch Hervorhebung der entgegengesetzten Polarität ohne direkten Übergang der Materie) erzeugt. Feldbildung durch Polarisierung: dies ist eine Auffassung des Naturprozesses auf Grund eines Komplementaritätsprinzips, nach dem das Aufkommen eines Phänomens mit dem gleichzeitigen, entsprechenden Verschwinden eines anderen, in polarem Verhältnis stehenden Phänomenen verbunden ist. Das Rekapitulationsgesetz verwirklicht sich bei Schelling in Verbindung mit der Vorstellung von einem entgegengesetzten Gang der in darauffolgende Sphären einbezogenen Aktionen. Diese Vorstellung stammt ihrerseits aus der Lehre eines wichtigen Schwäbischen Wissenschaftlers, der Schelling in einer entscheidenden Weise in seiner Bildungszeit beeinflußte: Karl Friedrich Kielmeyer.
III. Gestaltung als autopoietischer Induktionsprozeß In Kie1meyers berühmter "Rede" (1793) verbindet sich die These der ontogenetischen Rekapitulation der Organisationsreihe in der gesamten Natur mit der These der Komplementarität zwischen den organischen Kräften: "Da nämlich nicht allein in der Reihe der verschiedenen Organisationen, sondern auch in den Individuen von einerlei Gattung mit dem Verschwinden der einen Kraft die andere hervortritt, ohne daß ein allgemeineres koexistierendes Phänomen hierbei bemerkt würde, da das nämliche sich bei einzelnen Organen ereignet, so kann das Verschwinden der einen als die Ursache des Hervortretens der andem angesehen, und so nun weiter, wenn von der Ursache dieser Erscheinungen die Rede ist, auf eine gemeinschaftliche gefolgert werden, und wäre die materielle Ursache bei der einen bekannt, so könnte damit kühn auf die nämliche bei der andem gefolgert werden. Ja, da die Verteilung der Kräfte in der Reihe der Organisationen dieselbe Ordnung befolgt, wie die Verteilung in den verschiedenen Entwicklungszuständen des nämlichen Individuums, so kann gefolgert werden, daß die Kraft durch die bei letztem die Hervorbringung geschieht, nämlich die Reproduktionskraft in ihren Gesetzen mit der Kraft übereinstimme, durch die die Reihe der verschiedenen Organisationen der Erde ins Dasein gerufen wurde, [... ]."57 Kielmeyers "Rede" enthält eine vor dem breiten Publikum geheimgehaltene Lehre, die nur durch das Wort "Verteilung" (Trennung der Kräfte ohne Materieübergang durch magnetische oder elektrische Induktion) angedeutet ist. Kielmeyer spricht sonst in der "Rede" nur sparsam und laviert von einer Zurückführbarkeit der organischen Kräfte auf ursprünglich unorganische, indem er offenbar bedacht war, nicht aufzufallen, um nicht mit dem Mesmerismus in Verbindung 57 earl Friedrich Kielmeyer, Über die Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse. Eine Rede, den 11. Februar 1793 [... ] gehalten, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. F.-H. Holler, Berlin 1938 (in der Folge: GS), S. 93-94.
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gebracht zu werden. Nur allgemein spricht er von "Attraktion" und "Affinität", während er in Wirklichkeit den Magnetismus meinte und sich in diesem Sinn im persönlichen Umgang ausdrückte. Von dieser These bleiben in den zeitgenössisehen Werken anderer Autoren mehrere Zeugnisse. In einer 1794 erschienenen Abhandlung über den Galvanismus führte der Kielmeyer-Schüler und Schellings Freund Christoph Heinrich Pfaff als Behauptung seines Lehrers die Vermutung an, daß die "tierische Elektrizität" und vielleicht das Lebensprinzip auf die "magnetische Materie" und ihre polarisierende Wirkung zurückzuführen wären. Das Experiment, das den Anlaß zu dieser Vermutung gab, bestand in der Erzeugung einer galvanischen Wirkung allein durch Eisen statt durch ein Paar verschiedener Metalle. Damit schien das Eisen eine einzigartige Fähigkeit zu besitzen, allein eine "galvanische Polarität" zu erwecken, was auf seine Eigenschaft als Sitz des Magnetismus schließen ließ. 58 Im 5. Supplementband von Gehlers ,,Physikalischem Wörterbuch" wurde die Nachricht ebenfalls wiedergegeben. In seinem großen Galvanismus-Werk vom Jahr 1797 lehnte Alexander von Humboldt entschieden Kielmeyers Vaterschaft dieser These ab: "Was aber in den galvanischen Versuchen circulirt kann schlechterdings nicht magnetisches Fluidum selbst seyn, da dieses weder durch Luftschichten noch durch Glasscheiben isoliert werden kann. Auch hat der Große Physiologe Herr Kielmeyer diese Identität nicht behauptet [... ] Es ist eine Polarität denkbar, die von der magnetischen unendlich verschieden ist." 59 Im Laufe der Jahre wurde Kie1meyer jedoch weniger zurückhaltend. In einem Brief an Eschenmayer aus dem Jahre 1799 reduzierte er die Kräfte, die in der Natur wirken, auf eine "nach verschiedener Richtung wirkende Expansivkraft, die jetzt als Anziehung und dann als Repulsion oder besser vielleicht als Expansion sich manifestiert, und durch deren Annahme Le Sages Naturerklärung der Kantschen nähergebracht wird."60 Der Wink zu Le Sage zeigt, daß schon bei Kielmeyer Schellings Versuch, Dynamismus und Atomismus zu verbinden, mindestens im Ansatz seinen Vorläufer finden konnte. In einem Brief an Windischmann aus dem Jahre 1804 ließ Kielmeyer endlich jede Vorsicht fallen und identifizierte die Kraft, die die Reihe der organischen Körper und die Folge der Entwicklungszustände in jedem Individuum bestimmt, mit einer dem Erdmagnetismus ähnlichen und mit diesem irgendwie verbundenen Kraft. Die periodischen Veränderungen des Magnetismus in unserem Planeten sind nach Kielmeyer die Ursache der Entwicklungsgeschichte der Erde und der auf ihr lebenden Organis58 Christoph Heinrich Pfaff, Fortgesetzte Bemerkungen über die thierische Elektrizität, in: Journal der Physik, hrsg. v. Friedrich Albrecht earl Gren, Bd. 8, Leipzig, 1794, S. 385. 59 Alexander von Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vennuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt, Bd. I, Posen 1797, S. 453-454. Vgl. Johann Samuel Traugott Gehler, Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre [... ], 5. Teil, Supplemente von A-Z, Leipzig 1795, S. 293. 60 Kielmeyer (FN 57), S. 49-50.
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men. Eine "Reduktion" der organischen und chemischen Kräfte auf die mechanischen ergibt sich daraus, daß "die Bedingungen, unter der die chemische und die mechanische Bewegung erfolgt, einerlei sind": ,,[ ... ] weil ich die Kraft, durch die auf unserer Erde einst die Reihe der organischen Körper hervorgebracht wurde, ihrem Wesen und Gesetzen nach für einerlei halte mit der Kraft, durch die noch jetzt in jedem organischen Individuum die Reihe seiner Entwicklungszustände, die jener Organisationsreihe ähnlich ist, hervorgebracht wird. Ist aber die Kraft in beiden Fällen eine gleiche und wird sie im letzten Fall in eine dem Magnetismus analoge gesetzt, wie ich dies im Jahre 1792 in einer Vorlesung auf analytischem Wege, von Erfahrungen ausgehend, zu zeigen versucht habe, so muß sie auch im erstem Fall als eine solche angenommen werden, als eine dem Magnetismus unserer Erde analoge und mit ihm auf irgendeine Weise zusammenhängende." 61 Wir haben einen direkten Nachklang der Kielmeyerschen Lehre in den späteren Werken von zwei Schülern von ihm, den Brüdern Carl Christoph Friedrich und Georg Friedrich Jäger, die die Polaritätslehre ihres alten Lehrers auf den Gebieten der Medizin und der Botanik weiter anwendeten. In seinem 1807 erschienenen Buch "Ueber die Natur und Behandlung der krankhaften Schwäche" verwendet C. C. F. Jäger Kielmeyers Lehre, um die Erhaltung der körperlichen Gestalt der Tiere als Folge eines Polarisierungsprozesses zu erklären. Nur Induktionsvorgänge, wie sie in magnetischen und elektrischen Feldern vorkommen, können die Konstanz der Formbildung in den Organismen verständlich machen: "Die bloße Ernährung ließe sich immer noch als ein bloßer Einguß in eine alte, entweder von dem vorigen Innhalte verlassene oder aber durch Ausdehnung zu erweiternde Form, erklären, aber die Reproduction des völlig verlohrenen und die Anbildung des gänzlich neuen, beides in völlig bestimmten, jedem Theile eigenen und sich constant auf dieselbe Art wiederhohlenden Formen, diese Erscheinung setzt eine fortdauernde, gleichsam in die Feme thätige Einwirkung der absondernden Organe auf das Abgesonderte voraus, die nur in der magnetischen oder electrischen Polarität ein Analogon findet; an die Stelle des verlohren gegangenen platten Knochens kommt wieder ein platter, an die des cylindrischen eine cylindrischer, und beides aus derselben Knochenmaterie [... ] Gerade so bildet der Pol eines Magnets den Feilstaub in eine bestimmte Figur, und wird dieser Pol abgeschnitten, so entsteht am neuen Ende ein neuer Pol mit derselben polarisirend-bildenden Eigenschaft, die dem ersten zukam." 62 C. C. F. Jäger führte als Argument zugunsten der Kielmeyerschen Lehre die Struktur der Mißbildungen bei tierischen Körpern an. Sein Bruder Georg Friedrich entwickelte diese Ansätze in seinem 1814 erschienenen "Ueber die Missbildungen der Gewächse", wo er die strukturelle Ähnlichkeit der Gestaltsentstellungen bei so verschiedenen Lebewesen wie Tieren und Pflanzen als Argument für das Wirken von Feldkräften verwendet. Auf Grund von Kielmeyers Lehrmeinungen Ebd., S. 205. Carl Christoph Friedrich Jäger, Ueber die Natur und Behandlung der krankhaften Schwäche des menschlichen Organismus [... ], Stuttgart 1807, S. 231-232. 61
62
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schlägt er eine Konstruktionsmethode vor, die vermittels des Polaritätsbegriffs die Gestaltstrukturen mißgebildeter Körper in ihrem Entstehungsprozeß darstellen kann. Die Fälle von zwei am Brustbein vereinigten menschlichen Zwillingen und von einem ,,zwillings blatt" einer Salatpflanze werden mit dem gleichen Entstehungsschema erklärt: Die Construction der angeführten Mißbildung von menschlichen Zwillingen ist der des Zwillingsblatts völlig ähnlich, nur vielleicht verständlicher, wenn man [... ] die magnetischen Hufeisen mit ihren freundschaftlichen Armen gegeneinander gekehrt denkt
ns' sn'
0'
oder ±
-+
+-
Die Wirbelsäulen, als von welchen man annimmt, dass die Ausstrahlung der Rippen ausgegangen sey, sind hier als Indifferenzpuncte 00' bezeichnet; die beyden Brustbeine scheinen erst durch die Confluenz der freundschaftlichen Pole ns' und sn' gebildet, und sie stellen wieder einen Indifferenzpunct zwischen beyden Zwillingen dar, so dass die Bildung beyder Zwillinge gleichsam in einem Kreis zusammengeflossen ist. Auch bey dem Zwillingsblatt ist auf dieselbe Art die Beschaffenheit des Blattnerven, der, wie in den einfachen Blättern auf der einen Seite [... ] gefurcht und auf der andern [... ] dagegen erhaben ist, bestimmt, wie in der menschlichen Missgeburt die Entstehung der Brustbeine zu beyden Seiten und die Construction beyder Missbildungen scheint mir daher identisch zu seyn."63 G. F. Jäger merkte, daß bei den Tieren eine wichtige Quelle von Mißbildungen die Hemmung auf einer niederen Entwicklungsstufe ist; die fortschreitende Polarisierung bleibt unterbrochen, und Gebilde kommen zum Erscheinen, die nur auf niedrigeren Stufen der Organisation normal sind: "Man findet zwar bey Thieren, und namentlich bey Menschen, häufig Missbildungen einzelner Organe, ins besonders des Herzens und der großen Gefässe, die der normalen Bildung dieser Organe bey niederen Thieren entsprechen, und man könnte daher hier eine Art von materieller Metamorphose annehmen; allein sie sind mehr bloß als durch das Beharren des Organismus oder des Organs auf einer früheren Stufe seiner eigenen Entwicklung entstanden, oder als blose Hemmungsbildungen anzusehen, indem (nach einem meines Wissens zuerst von Kielmeyer ausgesprochenem Satze) die Stufen, welche die Thiere bey ihrer Entwicklung bis zur Vollendung ihrer eigenthümlichen Organisation durchlaufen, den Stufen der Organisation, wie sie sich normal bey niederen Thieren finden, entsprechen." 64 Wenn wir diese Kielmeyersche Tradition mit Schelling vergleichen, können wir mehrere Konvergenzpunkte bemerken. SClflling nimmt die Vorstellung einer fortschreitenden Bildung durch Polarisation an, verallgemeinert jedoch die Funk63 Georg Friedrich Jäger, Ueber die Missbildungen der Gewächse, ein Bey trag zur Geschichte und Theorie der Missentwicklungen organischer Körper, Stuttgart 1814, S.31O-311. 64 Ebd., S. 315-316.
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tion der Hemmung, die nicht nur zur Erklärung der Unvollständigkeit der Bildung in Bezug auf die zu erreichende Gestalt verwendet wird, sondern als Hauptfaktor der Gestaltung im allgemeinen verstanden wird. Hier tritt der Gedanke einer "vollkommensten Proportion" zwischen den einfachen Aktionen auf. Schelling meint mit diesem Ausdruck den ideellen Vereinigungspunkt der Atomistik und der Dynamik, wo die einfachen Aktionen auf einmal/rei ihre "natürliche" Gestalt verwirklichen und in allgemeiner Bindung mit den anderen bleiben können. Dieser ideelle Zustand würde das Ende der "induzierten" Gestalten und jedes Bildungsprozesses bedeuten: die Natur würde jedes Akzidentielle verlieren und in ihrer Substantialität erstarren. Daß dieser Zustand nicht erreicht werden kann, bezeugt das ewige Sichreproduzieren der Naturwesen, die Erhaltung ihrer festen Gestalt trotz des unablässigen Untergehens der Individuen. Die Natur hat ihren eigenen Zweck nicht in sich; trotz ihrer Anordnung wie eine Stufenleiter besteht sie aus einem Wirbel von Wirbeln, einem Kreis von Kreisen, die ständig in sich zurückgehen. Die Naturwelt ist nach Schelling eine Welt von erzwungenen Gestalten, von "angezogenen", induzierten Naturen: Jede Bildung ist ein gehemmter Gestaltungsvorgang; absolut genommen ist jede Naturbildung eine Mißbildung, weil eine Verwirklichung des Substantiellen in der Natur unmöglich ist, ohne die Natur selbst zu vernichten. Die Natursystematik identifiziert sich in philosophischer Hinsicht nicht nur mit einer vergleichenden Lehre der Funktionen oder vergleichenden Physiologie, sondern mit einer Systematik des Pathologischen. Dieser Gedanke kann als ein Grundpfeiler von Schellings Naturphilosophie verstanden werden: der Grund des Pathologischen ist mit dem Grund der Systematik der Organismen identisch; beide hängen nämlich mit dem allgemeinen Bildungsprozeß in der Natur als Wiederholung einer und derselben Größe in den individuellen Sphären zusammen, und stellen nicht bloße Eigenschaften eines in sich geschlossenen Bereichs des "Organisch-biologischen" dar. Einige Jahre nach dem ,,Ersten Entwurf' drückte Schelling in den "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" (1803) diese These in aller Klarheit aus und machte sie zum Grund der Wissenschaftlichkeit der Medizin durch eine zu verwirklichende Auflösung in die "organische Naturlehre": Dieselben Gesetze, welche die Metamorphosen der Krankheit bestimmen, bestimmen auch die allgemeinen und bleibenden Verwandlungen, welche die Natur in der Produktion der verschiedenen Gattungen übt. Denn auch diese beruhen einzig auf der steten Wiederholung eines und desselben Grundtypus mit beständig veränderten Verhältnissen, und es ist offenbar, daß die Medicin erst dann in die allgemeine organische Naturlehre vollkommen sich auflösen wird, wenn sie die Geschlechter der Krankheiten, dieser idealen Organismen, mit der gleichen Bestimmtheit wie die ächte Naturgeschichte die Gescltlechter der realen Organismen construirt, wo denn beide nothwendig als sich entsprechend erscheinen müssen."65
65
Schelling, SW V, 341-342.
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Das Übereinstimmen von organischer Systematik und Pathologie entsteht aus der Nicht-Substantialität des Individuums und, allgemeiner gesagt, jeder Gestaltung als ,,Bindung" der Aktionen durcheinander: ,,Aufjeder Stufe der Entwicklung ist die bildende Natur auf eine bestimmte - einzig mögliche - Gestalt eingeschränkt, in Ansehung dieser Gestalt ist sie völlig gebun-
den, in der Produktion dieser Gestalt wird sie gar keine Freiheit zeigen. [... ] Der Natur ist das Individuelle zuwider, sie verlangt nach dem Absoluten, und ist continuirlich bestrebt es darzustellen. Sie sucht die allgemeinste Proportion, in welcher alle Aktionen ihrer Individualität unbeschadet vereinigt werden können. Die individuellen Produkte also, bei welchen ihre Tätigkeit stille steht, könnten nur als mißlungene Versuche eine solche Proportion zu erreichen angesehen werden."66 Der gleiche Fluß, der die "Wirbel-"Gestalten erzeugt, strebt an sie aufzulösen; die entstandenen Diskontinua werden von dem Kontinuum zusammen gestaltet und abgebaut. Die Gestalt ist dasjenige, das sich in diesem Kampf erhält, und zwar nicht, weil sie eine in sich ruhende Substanz wäre, sondern weil sie das in der gegenseitigen Bindung der Aktionen erzwungene Beharren eines ständig Wechselnden darstellt. Die Gestalt ist somit das Gesetzmäßige in der Natur überhaupt. Naturgesetze können nur morphologisch, als Transformationen von einem einzigen Urtyp verstanden werden. Sie drücken die Notwendigkeit in der Natur aus, weil sie das Unveränderliche in einem steten Wandel darstellen. Naturnotwendigkeit, Sphärenbildung durch gestaltende Induktion von "akzidentellem Gleichgewicht" und Gesetzmäßigkeit fallen zusammen. Eine sich erhaltende Gestalt definiert sich durch den "Wechsel" zwischen den in ihr enthaltenen Aktionen und denjenigen, die außerhalb ihrer Sphäre liegen. Der Wechsel in und außerhalb von sich selbst führt zu einer Herausbildung von untergeordneten Sphären in der Hauptsphäre; der induktive Vorgang der Sphärenbildung geht in der entstandenen Größe weiter, um den ständig drohenden Rückfall ins "Gesetzlose" durch die gegenseitige "Störung" der Aktionen zu meistern. Eine Pluralität von Funktionen ergibt sich aus der Natur der Gestalt als Gesetz des Wechsels. Die Einheit der Gestalt ist nur als eine Pluralität von Handlungen zu denken, welche die Regel an die Stelle von Störungen einsetzen. Das Entstehen von Organen hängt mit dem Sichdurchsetzen der Notwendigkeit in der Natur zusammen. Die Notwendigkeit im Bereich des "Akzidentellen" bzw. der aus Tätigkeitssphären bestehenden Natur wird als ,,Perennieren", Beständigmachen der Gestalt und somit als ein bestimmter "Typus von Wechsel" verstanden: ,,Jede Organisation ist selbst nichts anderes als der gemeinschaftliche Ausdruck für eine Mannichfaltigkeit von Aktionen, die sich wechselseitig auf eine bestimmte Sphäre beschränken. Diese Sphäre ist etwas Perennirendes - nicht bloß etwas als Erscheinung Vorüberschwindendes -; denn sie ist das im Conflikt der Aktionen Entstandene, gleichsam das Monument jener ineinander greifenden Thätigkeiten, also der Begriffjenes Wechsels selbst, der also im Wechsel das einzige Beharrende ist. Bei aller Gesetzlosigkeit der Aktionen, die sich continuirlich untereinander 66
Schelling, SW III, 43.
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Francesco Moiso stören, bleibt doch das Geset'lJ11iißige des Produkts selbst, welches (und kein anderes) hervorzubringen sie sich untereinander selbst nöthigen, wodurch dann jene Ansichten der Organisation, als eines Produkts, welches, was es ist, durch sich selbst ist, - das sonach von sich selbst zugleich die Ursache und die Wirkung - Mittel und Zweck ist - als naturgemäß gerechtfertigt werden. [... ] Dieser Conflikt von Aktionen nun, in welchem eigentlich jedes organische Wesen (als der permanente Ausdruck desselben), zu Stande kommt, wird in gewissen nothwendigen Handlungen sich äußern; welche, da sie aus dem organischen Conflikt nothwendig resultiren, als Funktionen des Organismus selbst angesehen werden müssen."67
Schelling definiert im obigen Text die substantia phaenomenon als das Beharrende in Zeit und Raum; die Bezeichnung "Begriff' (in anderen Texten "Synthese") bedeutet hier etwas ganz anderes als bei Kant. Der Begriff synthetisiert nicht "unter sich", ist keine abstrakte Einheit eines Mannigfaltigen, sondern eine Gestalt, die aus stabilisierten "Verhältnissen" hervorgeht. Die Zirkularität Mittel / Zweck, Ursache / Wirkung wird nicht analog zu dem vorsätzlichen freien Tun des Menschen (als "Vorverlegung" des Begriffs des Endzustandes in der Zeitfolge) wie in der "Kritik der Urteilskraft" gedacht, sondern ergibt sich aus der bloßen gegenseitigen Beschränkung von Tätigkeitssphären und ist eine dynamische Eigenschaft jeder sich stabilisierenden Gestalt. 68 Das Phänomen des Lebens stellt in diesem Kontext nur den Fall einer sich selbst stabilisierenden Gestalt dar. Da Gestalt und Funktionen innig verbunden sind (was die "Verwandtschaft der vergleichenden Physiologie mit der vergleichenden Anatomie" ausmacht),69 so entspricht die Differenzierung der Organismen einer Differenzierung von Funktionen mit der Bildung von verschiedenen Organen. Die Organe haben eine eigentümliche Gestalt, die einer eigentümlichen Funktion zugeordnet ist. Die Individualität des Organs als Träger einer ständig sich reproduzierenden Gestalt und Funktion ist jedoch nur innerhalb des größeren Kreises des Organismus denkbar. Dies entspricht bei Schelling der Annahme einer allerdings geborgten und abhängigen vita propria der Organe: "Insofern diese Organe jedes seine eigenthümliche Funktion ausübte, käme ihnen ein eignes Leben (vita propria) - insofern aber die Ausübung dieser Funktion doch nur innerhalb jenes ganzen Organismus möglich wäre, nur gleichsam ein geborgtes Leben zu [... ]"70
Schelling bezieht sich auf einen wissenschaftlichen Streit, der zu seiner Zeit noch sehr lebendig war und alternativ entweder eine vita propria der festen Teile des Organismus oder eine vita propria der im Organismus eingeschlossenen Flüssigkeiten behauptete. Die Frage wurde von der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg gestellt (1789) und von zwei Vertretern der entgegengesetzten 67 Ebd., S. 65-66. Kant, AA Bd. 5, S. 425-426,463-465. 69 Schelling, SW III, 67 Anm. 2. 70 Ebd., S. 67 - 68. 68
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Lehnneinungen beantwortet: Johann Friedrich Blumenbach verteidigte die These einer vita propria der festen Organe, während Ignatius Born, Chirurgie-Professor in Kronstadt, die These einer vita propria der organischen Säfte behauptete; zwischen beiden versuchte Caspar Friedrich Wolff eine Kompromißlösung zu erreichen, indem er ein eigentliches Leben von allen, sowohl festen als auch flüssigen Teilen des Organismus annahm. 71 Einige Jahre später (1795) kam Blumenbach auf das Problem zurück und schenkte ihm eine eingehendere Behandlung in der Göttinger Dissertation "De vi vitali sanguini neganda". In dieser Schrift unterscheidet Blumenbach die allgemeinen Kräfte wie den nisus formativus, die Kontraktilität, die Irritabilität und die Sensibilität, die "ornni solido vivo" gemeinsam sind, von den Kräften, die einigen Organen eigentümlich sind und somit ihre vita propria ausmachen: ,,Hoc vero nihilominus rationi aeque ac experientiae consentaneum videtur, vt alia iterum phaenomena, quae in organis conspiciuntur, respectu fabricae et texturae ab omnibus aliis differentibus, et quae actionibus sese manifestant itidem plane singularibus et in suo genere vnicis, vt haec inquam vitae potius propriae tribuamus, vsque donec demonstatum fuerit, turn organorum horum fabricam, turn vitalem eorum agendi rationem ad communium ordines referendam esse."72 Blumenbach meinte nicht, daß alle Organe ein eigenes Leben hätten, sondern daß nur einige von einer eigenen Lebenskraft beseelt wurden, die wegen ihrer besonderen Gestalt und Funktion sich von dem Rest des Organismus stark unterschieden. Als Beispiel für solche Organe gibt Blumenbach die Gebärmutter an: "animal in animanti", ein echtes Tier im Tiere. Besonders aufschlußreich in Blumenbachs Dissertation ist der Hinweis auf die Vorgänger seiner These der vita propria: zusammen mit de Gorters actio viventis particularis weist er auf Johann Baptist van Helmonts vita participativa. 73 Helmont spricht im "Supplementum" zu seinem "Tractatus de morbis" von einer "vita multiplex in homine", die durch die Lebensfortsetzung einiger Organe in den ersten Zeiten nach dem Tod bewiesen wird. Zum Herz, zur Milz, zur Lunge gehört ein "unabhängiges", "emanatives" Leben, das aus dem lumen vitale hervorgeht. Helmont stellt eine "vitarn partecipativam et distributivam per totum, aequabili aura difflabilem" und vergleicht den Organismus mit einer" res publica", in welcher der "princeps" als "legum et regiminis moderator" wirkt und sich von den verschiedenen Orga71 Johann Friedrich Blumenbach, Erste Abhandlung über die Nutritionskraft. Jgnatius Born, Zwote Abhandlung über die Nutritionskraft. Caspar Friedrich Wolff, Von der
eigenthümlichen und wesentlichen Kraft der vegetabilischen sowohl als auch der animalischen Substanz, in: Zwo Abhandlungen über die Nutritionskraft, welche von der Kayserlichen Akademie der Wissenschaften in S1. Petersburg den Preis getheilt haben [... ] Nebst einer ferneren Erläuterung eben derselben Materie, von C. F. Wolff [... ], St. Petersburg 1789. 72 Johann Friedrich Blumenbach, De vi vitali sanguini neganda vita autem propria solidis quibusdam corporis humani partibus adserenda [... ], Göttingen 1795, S. 12. 73 Ebd., S. 14-17.
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nen bedienen läßt. 74 Helmonts Lehre erfuhr im 18. Jahrhundert eine Wiederaufnahme durch den großen Stahlianer Theophile Bordeu, der in seinen "Recherches anatomiques sur la position des glandes" (1752) den Organismus wie einen Kreis von Kreisen beschreibt, in dem jedes Organ einen eigenen Kreis von ernährenden Flüssigkeiten besitzt: ,,11 y a donc une circulation generale, et bien des circulations particulieres. Ce sont, si nous osons le dire, comme des petits cercles qui viennent aboutir a un plus grand. [... ] Ainsi la moindre partie peut etre regardee comme faisant, pour ainsi dire, corps cl part. [... ] On n'a pas trouve mauvais qu'un celebre ancien ait dit d'un des visceres du bas-ventre, qu'il etoit animal in animali; chaque partie est, pour ainsi dire, non pas sans doute un animal, mais une espece de machine a part qui concourt, a sa fa~on, cl la vie generale du corps." 75 Es ist bekannt, daß Bordeus Lehre einen tiefen Einfluß auf Diderots Auffassung des Lebens hatte. Nicht nur wiederholt der große Aufklärer in seinen "Elements de physiologie" die These, daß "jedes Organ ein Tier ist", sondern er läßt im "Reve de I' Alembert" Bordeu selbst vor Mademoiselle de I 'Espinasse seine Lehre als Kommentar zu den Worten des träumenden d' Alemberts vortragen: "Tous nos organes [... ] ne sont des animaux distincts que la loi de continuite tient dans une sympathie, une unite, une identite generale."76 Auf diese ,,republikanische" Lehre des Organismus als "Gesellschaft" von Organen beziehen sich sowohl Goethe als auch Schelling, die diese Lehre dem deutschen 19. Jahrhundert weitervermittelten. 77 Das Bestehen und Sichgliedern eines lebendigen Organismus geht auf die Entstehung von Abgrenzungen zurück. Das Leben braucht keine eigenen Prinzi74 Johann Baptist van Helmont, Opera ornnia [... ], Frankfurt am Main 1682, S. 685, 694-695. 75 Theophile Bordeu, Oeuvres completes [... ], par M. le Chevalier Richerand, Tome 1, Paris 1818, S. 187. 76 Denis Diderot, Oeuvres completes, Tome 17, Paris 1987, S. 121-122. Vgl. Paul Verniere in: Diderot, Oeuvres philosophiques, S.293 Anm. 1. Diderot läßt in seiner Schrift Bordeu die Pluralität des Organismus mit einem Bild erklären, das in seinen "Recherches anatomiques" die These von dem "cercle de cercles" begleitet. Vgl. Bordeu (FN 75), S. 187: "Nous comparons le corps vivant, pour bien sentir l'action particuliere de chaque partie, a un essai m d'abeilles qui se ramassent en peloton, et qui se suspendent a un arbre en maniere de grappe. [... ]la grappe d'abeilles [... ] est un tout colle a une branche d'arbre, par l'action de bien des abeilles qui doivent agir ensemble pour se bien tenir; il y en a qui sont attacbees aux premieres, et ainsi de suite; toutes conCOUITent a former un corps assez solide, et chacune cependant a son action particuliere a part; une seule qui viendra aceder ou a agir trop vigoureusement, derangera toute la masse d'un cöte: lorsqu'elles conspireront toutes a se seITer, a s'embrasser mutuellement, et dans l'ordre et les proportions requises, elles composeront un tout qui subsistera jusqu'a ce qu'elles se derangent." 77 Für eine Rekonstruktion der Wirkungsgeschichte dieser Lehre im 19. Jahrhundert verweise ich auf meine Schrift: La volonta di potenza in Friedrich Nietzsche. Una reconsiderazione, in: Aut aut, Heft 253, Januar-Februar 1993, S. 119-136.
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pien, keine besondere, von den allgemeinen Kräften der Natur unterschiedliche Lebenskraft. Alles, was nach Schelling gebraucht wird, um das Leben zu erklären, ist die Erklärung der Weise, wie in der Natur Grenzen entstehen, die ein Inneres von einem Äußeren zugleich trennen und in Verbindung setzen. Daß Handlungen entstehen, die den Charakter von Funktionen annehmen, und daß ein Sichgestalten der Materie zustandegekomrnen ist, ist die Folge einer Trennung zwischen einem Bereich von äußeren Kräften und einer Sphäre, die nur dann von diesen Kräften Wirkungen erhält, wenn sie indirekt erfolgen. Eine indirekte Wirkung ist eine durch die innere Tätigkeit vermittelte. Einer inneren Tätigkeit ist nichts anderes anzusehen, als der Hemmungspunkt, der den Wirbel bildet, indem er den allgemeinen Fluß der Materie zu einem Kreis biegt. Die innere Tätigkeit ist aktiver Widerstand eines Individuums gegen das Äußere; die organische Gestalt und ihre Funktionen sind gewissermaßen die ,Komplizierung' der Grenzziehung, die mit dem "Sichbehaupten" des Individuums einhergeht: "Das ganze Geheimniß beruht auf jenem Gegensatz zwischen Innerem und Aeußerem, den man zugeben muß, wenn man in der Natur überhaupt etwas Individuelles zugibt. Denn nun wird gegen jede innere Thätigkeit, d. h. gegen jede Thätigkeit, die sich selbst zum Mittelpunkt constituirt, die äußere Natur ankämpfen. Durch diesen Antagonismus wird die innere Thätigkeit selbst zu produciren genöthigt werden, was sie ohne denselben nicht producirt hätte. Die organische Gestalt und Struktur, z. B., wohin auch die Mannichfaltigkeit einzelner Organe gehört, deren jedes sich seine besondere Funktion nimmt, ist die einzige Fonn, unter welcher die innere Thätigkeit gegen die äußere sich behaupten kann. Die Bildung derselben ist also selbst schon eine Wirkung jener allgemeinen organischen Eigenschaft der Reizbarkeit (der Erregbarkeit durch äußere Einflüsse), womit auch die Erfahrung übereinstimmend befunden wird. Umgekehrt auch wird das Aeußere durch organische Reaktion zu einer höheren Wirkungsart gleichsam gesteigert, und so allein erhebt sich das Organische über das Todte."78 Die einzelnen Organe erregen sich gegenseitig, weil sie getrennt und verschieden in Gestalt und Funktion sind; jedes Organ erhält die Wirkung der anderen nur durch die eigene Funktion und Tätigkeit (vita propria); der Gesamtorganismus, als selbständiges Individuum, ist erregbar bzw. rezeptiv und tätig durch die Grenze, die ihn von der allgemeinen Natur trennt: ,,[ ... ] eben diese Wechselbestimmung der Receptivität und der Thätigkeit in Einen Begriff gefaßt, ist nichts anderes als was Brown Erregbarkeit genannt hat."79 Schellings Annahme der Brownschen "Erregbarkeit" (incitatio) hat einen sehr komplexen theoretischen und historischen Hintergrund, der hier nur andeutungsweise erklärt werden kann. Als Blumenbach seine Verteidigung der vita propria 1795 unternahm, zielte seine Polemik auf die Vorwürfe des Paduanischen Professors Stefano Gallini, die qualitates occultae der Aristoteliker durch die Behaup78 Schelling, SW III, 84-85. 79 Ebd., S. 90 Anm.
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tung einer den einzelnen Organen eigenen spezifischen virtus wieder zur Geltung gebracht zu haben. 80 Gallini verwarf die Neigung vieler Wissenschaftler, die Erklärung von gewissen Funktionen auf ein "Vermögen" zurückzuführen und schlug vor, die Erscheinungen der lebendigen Körper auf Grund der allgemeinen physikalischen Anziehungs- und Abstoßungskräfte zu erklären, wobei die organischen Vorgänge nur "Komplizierungen" der allgemeinen Naturkräfte wären: "Appoggiandomi percio alle regole con le quali si deve passare dalla considerazione dei fenomeni a quella delle loro cause, potrei osservare che queste forze dei corpo umano bene analizzate e paragonate colle forze generali della natura differiscono bensi da queste ultime per a1cune particolari circostanze che regolano la loro azione, ma palesano abbastanza le leggi con le quali si dirigono."81
Andreas Röschlaub, der die deutsche Vulgata von Browns Lehre verfaßte, stimmte mindestens teilweise mit Gallini gegen Blumenbach überein. Durch die Zurückführung der Lebenserscheinungen auf die physikalischen Urkräfte, die von der besonderen organischen Struktur der Körperteile modifiziert werden, kann man eine hinreichende Erklärung ohne Hinzuziehung von qualitates occultae erzielen: "Wozu also noch Maschinengötter, da wir keine Verlegenheit kennen, aus der uns dieselben reißen könnten, sollten?"82 Röschlaub denkt an das Lebensprinzip als an ein Prinzip der Rezeptivität für Reize aus dem äußeren Bereich (Grund der Möglichkeit des Lebens), das in seiner Verwirklichung durch die spezifische Struktur der Körperorganisation (Grund der Wirklichkeit des Lebens) bedingt ist. 83 Die Struktur- und Funktionsunterschiede zwischen den Organen erzeugen jedoch nach Röschlaub nur Gradunterschiede in der Wirkung des einzigen, dem Organismus als Ganzem innewohnenden Prinzips der Erregbarkeit. Nur wenn man dem Organismus als einem an sich tätigen Ganzen das Vermögen zuerkennt, von den äußeren Reizen erregt zu werden, kann man nämlich die Hinwendung zu eingebildeten qualitates occultae vermeiden. Röschlaub wendet sich entschieden von der Vorstellung eines eigenen Lebens der einzelnen Organe ab und betont die Unzerteilbarkeit der Lebensvorgänge: "Da die Lebensthätigkeit eines Organes, oder eines organischen Bestandtheiles sowohl von dem anderen hervorgebracht wird, als dieselbe hervorbringt, oder, wie man sich nach dem Sinne mehrerer Philosophen ausdrücken kann, zugleich einander Mittel und Zweck sind, so muß die Erregbarkeit, als der innere Grund der Möglichkeit aller Lebensthätigkeit nicht nur Eine, sondern auch unzertheilte Eigenschaft des ganzen organischen Körpers seyn." 84
80 Blumenbach, De vi vitali (FN 72), S. 3-4. 81 Stefano Gallini, Saggio d'osservazioni concementi li nuovi progressi della fisica dei corpo umano, Padova 1792, S. 8; vgl. S. 1-11. 82 Andreas Röschlaub, Untersuchungen über Pathogenie oder Einleitung in die medizinische Theorie, 1. Theil, Frankfurt am Main 1798, S. 144-145, 146. 83 Ebd., S. 210. 84 Ebd., S. 262; vgl. S. 263 - 264.
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Wenn die Definition des Organismus als Identität von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck Röschlaub zur Annahme einer unzerteilbaren Einheit des Lebens führt, so bringt ihn die Ablehnung einer Lebenskraft zu der Vorstellung Browns, daß das Leben eine Einwirkung von außen auf das Ganze des erregbaren Organismus ist: "Kraft ist Grund der Wirklichkeit der Handlung aus sich. Denken wir uns nun das Lebensprinzip als Kraft, so ist es uns ganz unerklärbar, warum das Leben ganz von der Einwirkung von außen auf die organische Masse abhange; warum jede Stärke des Lebens von der Stärke der Einwirkung von außen abhange; warum das Leben aufhöre, wenn die Einwirkung der Eindrücke von außen aufhören, oder ihre Möglichkeit aufgehoben wird." 85 Lesen wir vor diesem Hintergrund Schellings Texte über den Begriff von Erregbarkeit, so merken wir sofort deutliche Unterschiede gegenüber Röschlaub, bedingt durch den verschiedenen spekulativen Kontext. Wie wir schon gesehen haben, versteht Schelling den Organismus als eine "Gesellschaft" von Organen, die mit einer vita propria versehen sind. Schelling kann die Pluralität des Lebens in der Einheit des lebenden Individuums annehmen, weil Einheit und Pluralität auf zwei verschiedenen Ebenen liegen. Die Einheit wird nämlich vom "Inneren" bzw. vom "Subjekt" des Organismus gebildet, das sich zum Organismus als "Objekt" wie die "fließende", kontinuierliche Urgröße zu den einzelnen, getrennten Einheiten verhält. Das Subjektive des Organismus repräsentiert das Ganze der Natur in ihrer schöpferischen Tätigkeit, die natura naturans als Quelle von immer neuen Sphärenbildungen im Raum. Die Funktion der äußeren Welt ist es, den ständigen Polarisierungsprozeß zu unterhalten, den die Tätigkeitssphären der Organe "im Andrang" gegen die äußeren "reizenden" Ursachen bilden. Die Einheit des Organismus kann deswegen nicht wie bei Röschlaub als "Unzerteilbarkeit" verstanden werden, weil eine solche das Ende der Erzeugung von Tätigkeitssphären an der stetigen Quelle des Inneren bedeuten würde. Die äußere Welt unterhält mit ihrer Wirkung sowohl den Niveauunterschied im lebenden Individuum zwischen einem ,,höheren", unerreichbaren Subjekt und einem "niedrigeren" Objekt, wobei es selbst Teil der dynamischen Vorgänge der Umwelt ist, als auch die Mannigfaltigkeit der "Antworten" des Organismus an die Reize der Umwelt durch die vita propria der gereizten und sich gegenseitig reizenden Organe. Tätigkeit entsteht nur dort, wo es eine Grenze zwischen einer höheren und einer niedrigeren Ordnung gibt. Die unorganische Welt ist selbst der Spiegel des höheren Bereichs des Lichtes, d. h. der reinen Bildung des Raumes als Größe: "Jede anorganische Welt ist eigentlich nur der Spiegel, der uns eine höhere Welt reflektirt. Deßwegen, sobald das Band sich löst, wodurch die eine Welt der andem verschlossen ist, tritt die höhere hervor - wie durch das Licht beim Verbrennungsproceß. Alle Thätigkeit in der Natur hat [... ] nur auf der Grenze zweier Welten statt. Solang diese Grenze bleibt, ist Thätigkeit; wird sie aufgehoben - und eben 85
Ebd., S. 200.
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Francesco Moiso dieß geschieht im chemischen Proceß -, so ist auch die Bedingung aller Thätigkeit aufgehoben. - Jene Grenze wird nur eben im Organismus, solang er Organismus ist (denn ich habe schon bewiesen, daß das organische Produkt als organisch nicht untergehen kann) nie aufgehoben werden können."86
In den unorganischen chemischen Vorgängen gibt es kein "Subjekt", d. h. kein Unerreichbares, das eine Grenze beständig machen könnte. Das Entfliehen des Lichtes ist nach Schelling ein "Sinn-Bild" der Nichtindividualität: ein solcher Prozeß existiert als Objekt nur durch die gesamte Natur und findet in ihrer ganzheitlichen konstruktiven Funktion das eigene Subjekt. Die Subjektivität des Organismus ist dagegen mit der Unaufhebbarkeit der Grenze identisch. Ein solches Wesen wird nicht von der Gesamtnatur konstituiert, sondern konstituiert sich selbst. Der Brownsche Begriff von Erregbarkeit erhält somit bei Schelling die Bedeutung einer autopoiesis. Ein Organismus ist ein "Ganzes, das sich selbst constituirt."87 Die Erregbarkeit durch die Welt, d. h. die indirekte Ursächlichkeit der chemischen und physikalischen Agenzien, verwirklicht sich als eine Selbstbildung und -gestaltung. Der Organismus - insofern er autopoietisch ist - stellt einen Spiegel der Gesamtnatur, sozusagen eine natura in natura, einen Mikrokosmos dar: Das Wesen des Organismus besteht in Erregbarkeit. Dieß ist aber ebenso viel als: der Organismus ist sein eigen Objekt (nur insofern auch, als er sich selbst zugleich Subjekt und Objekt ist, kann der Organismus das Ursprünglichste in der Natur seyn, denn die Natur haben wir eben bestimmt als eine Causalität, die sich selbst zum Objekt hat [die sich aus sich selbst producirt]. Der Organismus constituirt sich selbst. Aber er constituirt sich selbst (als Objekt) nur im Andrang gegen eine äußere Welt [der aber jene Duplicität unterhält, und das Zurücksinken in Identität oder Indifferenz unmöglich macht). Könnte die äußere Welt den Organismus [unmittelbar] als Subjekt bestimmen, so hörte er auf erregbar zu seyn. Also nur der Organismus als Objekt muß durch äußere Einflüsse bestimmbar seyn, der Organismus als Subjekt muß durch sie unerreichbar seyn. (Die Erregbarkeit des Organismus stellt sich in der Außenwelt dar als eine beständige Selbstreproduktion. Dadurch eben unterscheidet sich das Organische vom Todten, daß das Bestehen des erstem nicht ein wirkliches Seyn, sondern ein beständiges Reproducirtwerden (durch sich selbst) ist, [... ])"88 Die ganze Natur wird von Schelling wie ein ständig Grenzen und Trennungen erzeugendes Kontinuum gesehen. Eine kontinuierliche, höhere Tätigkeit, die in die Produkte nie vollständig einfließt, erzeugt und unterhält das Seiende, indem sie das Einheitliche trennt und an der Grenze etwas erscheinen läßt. In der Natur, wie sie Schelling sieht, ist alles Seiende in seiner ursprünglichen Beständigkeit bloß das "Phantasma" einer unaufhörlichen Selbstreproduktion.
86 Schelling, SW III, 147, Anm. 1. 87 Ebd., S. 145, Anm. 1. 88 Ebd., S. 145-146.
Schellings Naturphilosophie eine Philosophie des Organismus? I Von Reiner Wiehl, Heidelberg
I. Von alters her ist die Natur dem Menschen mehr als nur ein Objekt seiner Begehrlichkeit. Noch ehe sie ihm zum Gegenstand seiner Neugierde und seines Erkenntnistriebes wird, ist sie ihm Anlaß von Furcht und Verehrung. Sie tritt dem Menschen in ihrem Eigenwesen, mit ihrer Eigenmacht entgegen, um ihn seine Grenzen, seine Ohnmacht spüren zu lassen. Der All-Natur in ihrer allumfassenden Ganzheit gegenüber fühlt sich der Mensch als verschwindender Teil und weiß sich ihr doch, aller Hilflosigkeit zum Trotz, in mancherlei Hinsicht überlegen. In den Schranken, die er in seinem alltäglichen Tun und Lassen immer aufs neue erfahren muß, erkennt er das Wirken natürlicher Kräfte, die er, sofern sie ihm entzogen bleiben, gerne als übernatürliche deutet. Die Natur setzt dem Menschen Grenzen seiner Freiheit, seiner Verfügungsrnacht, der Macht über Andere und Anderes und über sich selbst. Aber es ist dieselbe Natur, die ihn auch immer wieder beflügelt, ihm ungeahnte eigene Kräfte verleiht und in ihm das Bewußtsein der eigenen Freiheit entstehen läßt. Diese Freiheit will der Mensch nicht so sehr als Gabe der Natur schätzen, vielmehr sucht er in ihr sein eigenes Verdienst, seine eigenste Möglichkeit, die er sich von dieser Natur nicht rauben lassen will. In diese Natur muß sich der Mensch fügen, wenn er sich ihr entziehen will, in sie flüchtet er, wenn sie sich ihm verweigert. Diese Natur zeigt sich dem Menschen in zahlreichen Bildern und Gestalten. Es ist nicht eine einzige Natur, es sind mannigfache Seiten derselben, die dem Menschen erscheinen und ihn in dieser Vielfalt eine geahnte Einheit suchen lassen. In ihren zahlreichen Erscheinungen und Formen begegnet die Natur dem Menschen schrecklich und drohend, finster und angsteinflößend, aber auch erhaben und schön, verheißungs- und lichtvoll. Sie weckt in ihm ein Wechselbad der Gefühle, ein Auf und Ab des I Unter Berufung auf Jacobis David Hume hat Schelling die Grundauffassung seiner Naturphilosophie des Organismus so formuliert: "Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind ebenso viele Beschränkungen oder einzelne Anschauungsweisen des all8.emeinen Organismus". In: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik. Uber den Ursprung des allgemeinen Organismus. F. W. J. Schelling, Werke, 11, 500 (hier und im folgenden zitiert nach der von dem Sohn K. F. A. Schelling herausgegebenen Ausgabe von 18561861).
8 Selbstorganisation, Bd. 5
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gelebten Lebens zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Tod und Leben, zwischen alltäglichem Untergang und alltäglicher Auferstehung. Immer ist sie voller Überraschungen: Sie zeigt ihm Neues und Ungewohntes, wenn er sich an das Bekannte gewöhnt hat. Sie gibt Vertrauen und Gewohnheit, wenn er mit dem Unbekannten und Ungewöhnlichen rechnet. Sie spielt mit ihm, wenn es ihm ernst ist, und wenn er spielen zu können glaubt, zeigt sie, wie ernst es ihr ist. Sie reizt ihn mit Angenehmem und Unangenehmen, mit Lustvollem und Leidvollem. Wo der Mensch sich in der Natur bedroht und gefährdet sieht, erweist sie sich unversehens als freundlich und gnädig, wo er auf ihre Hilfe, ihre Bundesgenossenschaft rechnet, entzieht sie sich mit definitorischer Bestimmtheit. Die Natur ist dem Menschen nicht nur ein Inbegriff von Gesetzmäßigkeit, sondern auch Ausdruck des Chaos, nicht nur Konsequenz in der Befolgung von Regeln, sondern auch Willkür und Lust an der Ausnahme. Die Natur ist dem Menschen das Nächste und das Fernste, das Vertrauteste und das Fremdeste. Sie ist ihm sowohl äußere als auch eigene innere Natur, und sie kehrt ihm in Fremdheit und Vertrautheit bald die eine, bald die andere Seite zu. Die natürlich Grenze zwischen Außen und Innen ist fließend. Mit dieser fließenden Grenze kann und muß der Mensch leben. Manchmal aber erwacht in ihm das Bedürfnis, diesen Fluß anzuhalten und die Grenze zu fixieren, um auf diese Weise Halt und Orientierung hinsichtlich des Verhältnisses zur Natur zu finden. Manchmal - selten genug - im Leben des Einzelnen und der menschlichen Kulturen bildet sich ein Einklang, eine Harmonie heraus zwischen diesem Leben und dem Sein der Natur. Es sind vorübergehende Augenblicke, in denen dem Menschen eine Atempause, ein Moment der Erholung gewährt wird: eine Erholung von der Natur durch die Natur. Die glücklichen Stunden eines solchen harmonischen Einklanges zwischen der Natur und dem Menschen können zu Geburtsstunden der Einsicht und der Erkenntnis werden. Es wäre aber verfehlt anzunehmen, jede Gestalt menschlicher Einsicht verdanke sich zwangsläufig einer solchen Stille des natürlichen Einklangs. Die nötige Distanz gegenüber der Natur muß oft mühsam errungen werden und ist in dieser Errungenschaft bereits ein Erkenntnisanfang. Die Erkenntnis der Natur kennt zahlreiche Weisen des Ursprungs: nicht nur die Muße, nicht nur "Meeresstille und glückliche Fahrt", sondern auch Not und Furcht und die Angst vor dem Bedrohlichen und Unberechenbaren. So verfehlt es ist, die Erkenntnis der Natur auf eine einzige Quelle zurückzuführen, so unangebracht ist es, nur eine einzige ausschließliche Konsequenz solcher Erkenntnis, die der neuzeitlichen Wissenschaft anzuerkennen. Erkenntnis der Natur ist auch im Mythos und in der Religion, auch in der Kunst und in der Metaphysik, nicht nur in den empirischen Naturwissenschaften; überflüssig zu sagen, daß die Erkenntnis in alledem etwas anderes ist, anderes zutage fördert, auch wenn sie gelegentlich hier und dort die Spuren eines gemeinsamen Ursprungs mit dem einen oder anderen fortträgt. F. W. J. Schelling gilt weithin als der Schöpfer der klassisch-romantischen Philosophie der Natur. Durch diese einzigartige Schöpfung hat sein Denken
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nicht nur die Philosophie und Wissenschaft seiner eigenen Zeit maßgeblich mitgeprägt, sondern darüber hinaus weit in das vergangene Jahrhundert und bis in die jüngere und jüngste Gegenwart hinein seine unverkennbaren Spuren hinterlassen. Was Schelling Philosophie der Natur war, hat seine späte Wirkung nicht selten unter anderen Titeln und in anderen Begriffen entfaltet: in der Philosophie der Existenz, in der Philosophie der Religion und des Mythos, und wenn sie in diesen Tagen sich auch als Philosophie der Natur in Erinnerung bringt, so geschieht dies in einer Zeit der Krise des neuzeitlichen Verständnisses der Natur und der Naturwissenschaft. Will man das Besondere, ja, Einzigartige der Schellingschen Schöpfung einer Philosophie der Natur würdigen, so muß man gewisse begrenzte und reduzierte Vorstellungen von einer solchen Philosophie und deren Reichweite aufgeben. Schellings Philosophie der Natur beschränkt sich nicht auf eine Philosophie der Naturwissenschaften, sei diese nun reine oder unreine, eigentliche oder uneigentliche, apriorische oder empirische Naturwissenschaft. Sie sprengt den Rahmen der klassischen Verbindung von Metaphysik und Physik, den die Philosophie von Plato und Aristoteles bis zu Leibniz und Kant für diese Verbindung abgesteckt hat. Sie will das Ganze möglicher Beziehungen und Einstellungen des Menschen zur Natur umgreifen, nicht nur theoretische und praktische, sondern auch künstlerische und religiöse Einstellungen. Sie will nicht nur den Menschen in seiner Position in der Natur und als Teilstück derselben begreifen, sondern sie ist bemüht, die Natur als solche und nicht nur in ihrer Relation zu einem einzelnen endlichen Wesen zu erkennen. Diese Natur wird daher nicht von vornherein als ein Einfaches und Einfaltiges angesehen. Sie wird vielmehr versuchsweise angeschaut in der unendlichen Fülle heterogener Erscheinungen. Die Natur ist hier nicht nur Inbegriff von Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit, sondern auch von Unordnung und Chaos. In ihr verbinden sich schlichte Einfachheit und bunte Vielfalt, in ihr fügen sich Allgemeinheit und Besonderheit einfach und vielfältig zusammen. Einfachheit und Allgemeinheit zeigen sich nicht nur in den Gesetzen der Natur, sondern auch in den Naturerscheinungen, sofern diese sich gesetzmäßig verhalten. Einzelheit und Besonderheit läßt sich nicht nur in den individuellen Gegebenheiten der Natur, sondern auch in ihren Gesetzmäßigkeiten entdecken. Alles in der Natur, die Natur selbst in ihrer allumfassenden Gegebenheit, verweist auf ihre eigene Einheit, auf die einmalige und einzigartige Einheit des Unbedingten. Aus dieser Unbedingheit der Natur entspringen die Unendlichkeiten des Endlich-Unendlichen und des Unendlich-Endlichen der natürlichen Dinge. Jedes Ding in der Natur begegnet dank seiner Teilhabe am Unbedingten in Gestalt eines Endlich-Unendlichen oder eines UnendlichEndlichen. Jedes Ding in der Natur symbolisiert diese Natur in ihrer absoluten Unbedingtheit. In seiner berühmten Akademierede aus dem Jahre 1807 "Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur" hat Schelling daran erinnert, daß uns die Natur "überall zuerst in mehr oder weniger harter Form und Verschlossenheit entgegentritt" und uns veraniaßt zu fragen: "Wie können wir jene scheinbar harte 8*
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Fonn geistig gleichsam schmelzen, daß die lautre Kraft der Dinge mit der Kraft unseres Geistes zusammenfließt, und aus beiden nur Ein Guß wird?" 2 So betrachtet liegt die Natur nicht wie ein offenes Buch aufgeschlagen vor uns, in das wir nur hineinschauen müßten, um ihren Text lesen und verstehen zu können unter gelegentlicher Zuhilfenahme der Kunst der Deutung. In ihrer ursprünglichen Verschlossenheit scheint diese Natur offensichtlich auch nicht ohne weiteres bereit, wie Zeugen im Gerichtssaal auf die Fragen zu antworten, die der bestallte Richter ihr vorlegt 3. Sie fordert umgekehrt etwas von uns, und zwar mehr als nur den geltend gemachten Rechtsanspruch, ihr solche Fragen vorzulegen, die uns den Rechtsanspruch von Erkenntnisurteilen verschaffen. Sie verlangt vielmehr Gemeinsamkeit mit ihr, sie weist uns darauf hin, daß wir uns auf sie einlassen, ihre Mithilfe in Anspruch nehmen, ihre Mittel nutzen müssen, wenn sie bereit sein soll, ihre Verschlossenheit aufzugeben. Sie bietet das Feuer als Grundelement des Schmelzungsprozesses, das wir nutzen können, nutzen müssen, wenn aus Natur und Geist ein Guß soll werden können. In der genannten Rede hat Schelling nicht nur an die ursprüngliche Verschlossenheit der Natur erinnert. Er hat in diesem Zusammenhang auch auf die Vieldeutigkeit ihres Begriffes hingewiesen. Diese Vieldeutigkeit ist ihm nicht nur eine sprachliche oder gedankliche Nebensächlichkeit, die sich mit Hilfe einer analytischen Technik umgehen oder überwinden ließe. Einer aller eilfertigen Herstellung begrifflicher Einheit zuvor, kommt es zunächst darauf an, sich der Entsprechung bewußt zu werden zwischen der Vielheit unserer Vorstellungen von der Natur und der Vielheit der ,,Lebensweisen", die dieser Natur gegenüber möglich ist. Dem einen ist diese Natur "nichts mehr als das tote Aggregat einer unbestimmbaren Menge von Gegenständen, oder der Raum, in den er sich die Dinge wie in ein Behältnis gestellt denkt; dem andern nur der Boden, von dem er seine Nahrung und Unterhalt zieht: dem begeisterten Forscher allein die heilige, ewig schaffende Urkraft der Welt, die alle Dinge aus sich selbst erzeugt und werktätig hervorbringt".4 So wenig die ursprüngliche Einheit der All-Natur in ihrer absoluten Unbedingtheit fraglich sein kann, so fraglich muß dem Forscher das Was und Wie dieser unbedingten Einheit werden, nicht nur angesichts der Fülle verschiedener Lebensweisen, welche die Natur gestattet, sondern in Anbetracht der Fülle dieser Natur als solcher. Man möchte argwöhnen, daß Schellings Philosophie der Natur durch die angedeutete Reichweite sich weit, ja, allzuweit von einer Werke, VII, 299. Vgl./. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, B XIII. Kant hat hier von der Vernunft verlangt, daß sie ,,mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen" müsse. Schelling hat vom Standpunkt seines absoluten Empirismus aus das entsprechende Vernunftverhältnis als das von Frage und Experiment formuliert. In: Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft. Werke III, 276. 4 Werke, VII, 293. 2
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Philosophie der Naturwissenschaften entfernt; daß sie durch den eingenommenen spekulativen Standpunkt eines Unbedingten und Absoluten in der Philosophie der Natur Gefahr laufe, die Naturwissenschaften in ihrer empirischen Gegebenheit, in den Erfahrungsgehalten ihrer Erkenntnis und ihrer experimentellen Methodik aus den Augen zu verlieren, bzw. überhaupt nicht in den Blick zu bekommen. Anstoß erregen muß auch der Enthusiasmus, der hier dem wahren Naturforscher angesonnen wird, sofern eine solche Einstellung in schroffem Gegensatz zu stehen scheint zu den Erkenntnisidealen der Objektivität und der nüchternen Sachlichkeit, die von dem modernen Naturwissenschaftler gefordert werden. Einwände und Bedenken dieser Art sind schon von Schellings Zeitgenossen vorgebracht worden. Um so weniger wird man sie leichtfertig in den Wind schlagen dürfen. Aber dem zuvor bedarf es einer grundsätzlichen Gegenüberlegung: Schellings Philosophie der Natur ist Philosophie des Absoluten. Und diese Philosophie versteht sich als Philosophie der Vernunft und als philosophische Vernunftwissenschaft. Daß die Philosophie der Natur philosophische Vernunftwissenschaft sei, eine solche Vernunftwissenschaft allererst werden müsse, ist Schellings maßgebliches philosophisches Bemühen gewesen. Durch diese Bemühung verdient seine Philosophie der Natur unser Interesse. Die traditionelle Differenz zwischen Metaphysik und Physik, die sich aus der aristotelischen Überlieferung in die Philosophie und Wissenschaft der Moderne forterbt, nimmt dort die Gestalt einer Distanz zwischen Philosophie der Natur und Naturwissenschaft an. Kants Vernunftkritik, die auf eine radikale Erneuerung des Verhältnisses von Metaphysik und Physik abzielte, befindet sich auf der Schwelle des Übergangs von der Metaphysik zur Philosophie der Natur. Die Bewahrung der Distanz zwischen Metaphysik und Physik, zwischen Philosophie der Natur und Naturwissenschaft hängt aufs engste zusammen mit der Erhaltung und Entwicklung ursprünglicher Normen und Werte des Erkennens. Solche Normen und Werte sind: Universalität und Partikularität, Übersichtlichkeit und Differenziertheit, Kohärenz und Korrespondenz, vor allem aber auch die Normen und Werte der reinen Theorie und des praktischen Erkenntnisnutzens. Das Zusammenspiel zwischen der Philosophie der Natur und den einzelnen Naturwissenschaften dient vorzüglich der Pflege und Entwicklung dieser Normen und Werte. Die Erhaltung der Distanz zwischen diesen und jener ist eine Bedingung der Möglichkeit der Philosophie der Naturwissenschaften, soweit diese weder mit der Philosophie der Natur noch mit irgendeiner gegebenen Naturwissenschaft zusammenfällt, indem sie über die begrifflichen und methodischen Grundlagen einer oder mehrerer exemplarischer Naturwissenschaften nachdenkt. Daß die empirischen Naturwissenschaften nicht in der Fortschreibung technischer und technologischer Entwicklungen aufgehen, sondern sich zumindest in Teilbereichen einen eigenständigen Sinn - den Sinn der reinen Theorie - bewahren, verdanken sie nicht zuletzt der Tatsache, daß die Philosophie der Natur sich niemals endgültig auf Naturwissenschaften reduzieren läßt, sondern auf eine solche Reduktion immer wieder mit der Entwicklung einer neuen Eigengestalt antwortet. Diese Irreduzibi-
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lität der Philosophie der Natur gehört zu jenen Bedingungen, die es erlauben, im Blick auf die Naturwissenschaften überhaupt von einer wissenschaftlichen Kultur zu sprechen. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine Aktualisierung der Schellingschen Naturphilosophie haben gerade unter diesem Gesichtspunkt ihre besondere Berechtigung. Aber nicht nur in dieser Hinsicht. Im Blick auf eine solche Aktualität ist vor allem das Prinzip der Zusammengehörigkeit von Natur und Vernunft hervorzuheben. Schelling hat dieses Prinzip der Vernunftkritik Kants entnommen und darauf die Idee einer philosophischen Vernunftwissenschaft der Natur gegründet. In der "Kritik der reinen Vernunft" fand er die für ihn maßgebliche Bestimmung des Szientifischen in Form der Einheit eines Systems, als absolute Einheit der Vernunft, die das All der ihr wesentlichen Erkenntnisse der Natur in der Formeinheit eines absoluten Ganzen des vernünftigen Wissens und insofern sich selbst in diesem Formganzen organisiert. Kant hat diese Selbstorganisation allen vernünftigen Wissens von der Natur durch Vernunft mit der Selbsttätigkeit eines lebenden Organismus verglichen, der in Form seiner organismischen Einheit die mannigfache kausale Wirksamkeit seiner Teile so organisiert, daß diese wechselweise zu ihrer Erzeugung und Erhaltung sowie zur Erzeugung und Erhaltung ihres Ganzen beitragen. Er hat diese lebendige organische Einheit ausdrücklich von der Einheit eines toten Aggregates unterschieden, in welchem keine innere Einheit wirksam ist, dessen einzelne Teile vielmehr nur äußerlich nebeneinander geordnet sind und in dieser Nebenordnung Gesetzen einer allgemeinen Mechanik genügen 5. Durch diesen Begriff des Wissenschaftlichen als Form eines Systems der Vernunft und durch den Vergleich eines solchen Systems mit einer organismischen Einheit, hat Kant nicht nur eine allgemeine Idee einer Vernunftwissenschaft entworfen. Er hat durch diesen Vergleich auch ein Kriterium für die Wahrheit vernünftigen Wissens angegeben - ein Kriterium, das wir gewöhnlich als das der Kohärenz bezeichnen. Er hat schließlich durch jenen Vergleich auch ein Instrumentarium zur begrifflichen Analyse fraglicher Kohärenzen an die Hand gegeben.
11. Schellings Philosophie der Natur hat viele historische Ausgangs- und Anknüpfungspunkte. Nicht zuletzt, weil sie sich des Problemes der Vieldeutigkeit des Naturbegriffes so bewußt ist, präsentiert sie sich, wie übrigens seine Philosophie überhaupt in immer neuen Gedankenexperimenten und Darstellungsversuchen. Ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen Darstellungen macht es nicht 5 Zum Vergleich Kants zwischen einem System der Vernunft entsprechend der Form des Szientifischen und der Form eines tierischen Körpers gehört auch die Vorstellung eines inneren Wachstums des letzteren, in welchem die Proportion zwischen den Teilen des Ganzen unverändert bleibt, während dieses Ganze seinem Zwecke entsprechend stärker und tüchtiger wird. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Der transzendentalen Methodenlehre drittes Hauptstück. Die Architektonik der reinen Vernunft. A 832, B
860 ff.
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schwer, die innere Konsequenz in deren Modifikation zu erkennen. Unter den zahlreichen Ausgangs- und Anknüpfungspunkten nimmt zweifellos neben Spinozas "Ethik" Fichtes "Wissenschaftslehre" eine Sonderstellung ein. Ohne die eine wie die andere ist die Entwicklung der Schellingschen Naturphilosophie nur schwer vorstellbar. Der Fichtesehen Wissenschaftslehre hat Schelling vor allem die Idee der unendlichen Tätigkeit entnommen, die sich durch eine andere Tätigkeit begrenzen läßt, welche am Ende jener entsprungen gedacht werden muß. Die Idee einer solchen absoluten sich selbst begrenzenden Tätigkeit hat Schelling für die Philosophie der Natur fruchtbar zu machen versucht, indem er die Bindung einer solchen Tätigkeit an das Selbstbewußtsein des Ich auf die Bewußtlosigkeit der vormenschlichen Natur übertragen und diese Bewußtlosigkeit von der Natur auf das Ich zurückprojiziert hat. Aber bei dieser neuen Idee einer Natur, die als unbedingte und endliche Tätigkeit gedacht wird, verliert Schelling nie das Ganze der Kantischen Vernunftkritik aus dem Auge. In dieser Vernunftkritik findet er die begrifflichen Bausteine, um die auf sie neugegründete Metaphysik völlig umzubauen und neu zu organisieren. Es ist keine Übertreibung festzustellen, ScheIlings Naturphilosophie verändere die Metaphysik Kants nicht weniger grundlegend, als diese die vormalige rationale Metaphysik der sogenannten Schulphilosophie Wolffs und Baumgartens verändert habe. Kaum einer jener begrifflichen und theoretischen Bausteine der Kantischen Vernunftkritik läßt sich angeben, der nicht in Schellings Philosophie der Natur eine gänzlich neue Bedeutung gewonnen hätte. Dies gilt für die Begriffe der Form und der Kategorie als Begriffe der Anschauungs- und Verstandesformen im allgemeinen ebenso wie für ihre jeweilige Funktionsbestimmung im besonderen. Es gilt für die formale Verhältnisbestimmung von Verstand und Vernunft ebenso wie für die Bestimmung des Mechanischen und des Organischen. Die Veränderung betrifft vor allem die Grundbestimmung aller Naturphilosophie, den Begriff der Materie, den Schelling in bewußtem Gegensatz zu Kants metaphysischer Bestimmung desselben sowohl in formaler, als auch in inhaltlicher Hinsicht neu zu formulieren bemüht war. Bei seinen mannigfachen Versuchen einer "Konstruktion der Materie" ging es ihm vor allem darum zu zeigen, daß die Materie keine elementare und letztursprüngliche Gegebenheit der Natur darstellt; daß ihr vielmehr elementarere Naturgegebenheiten zugrundeliegen, aus deren Begriffen ihr Begriff konstruiert werden muß. Eine solche philosophische Konstruktion der Materie mußte verschiedenen Bedingungen Rechnung tragen, die der Naturwissenschaft selbst entstammten. So muß unter anderem der konstruierte Begriff der Materie verträglich sein mit der Annahme einer Vielheit realer Materien, die zu ihrer bestimmten Vielheit allererst die Vielfalt materieller Naturerscheinungen verständlich machten. Und es mußte dieser Begriff einer Materie verträglich sein mit dem Begriff und mit der Realität des Lebendigen, und zwar so, daß die Phänomene des Lebendigen in der Natur nicht als Ausnahme- oder Randerscheinungen galten, sondern im Einklang mit allen anderen materiellen Gegebenheiten der Natur begriffen werden konnten.
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Unter den mannigfachen Veränderungen und Umgestaltungen, die Schelling in seiner Naturphilosophie an Kants Vernunftkritik und Metaphysik vornimmt, darf schließlich eine weitere nicht vergessen werden, die man in gewisser Hinsicht als die ausschlaggebende ansehen kann. Denn sie betrifft die begrifflichen und methodischen Elemente, die im Zentrum der Kantischen Auseinandersetzung mit der Tradition der rationalen Metaphysik stehen. Es geht bei der alten und der neuen Umgestaltung dieser Elemente um alle diejenigen Bestandteile, die das Grundverhältnis von Vernunft und Erfahrung berühren. Kant hatte erkannt, daß die herkömmliche rationale Metaphysik der Erfahrung ebenso wenig zureichend Rechnung getragen hatte wie die neuen Strömungen des Sensualismus und Empirismus. Seine neue Grundlegung jenes Verhältnisses hat aus Schellings Sicht aber beiden Seiten etwas genommen in dem verständlichen Bemühen, einen vernünftigen Ausgleich zwischen Rationalismus und Empirismus zu finden. Kants Vernunftkritik hatte um dieses Kompromisses willen sowohl die Vernunft als auch die Erfahrung unterbestimmt. Er hatte es versäumt, der eigenen kritischen Entdeckung der Differenz von Verstand und Vernunft zureichend Rechnung zu tragen. Aus diesen erkenntnistheoretischen kritischen Einsichten gegenüber Kants Vernunftkritik ist Schellings Idee eines absoluten Empirismus erwachsen. Nichts wäre verfehlter als in diesem Empirismus einen Rückfall in die eine oder die andere jener von Kant kritisierten Positionen zu sehen, nichts ungerechter als diesen neuen Empirismus in Verbindung zu bringen mit der von Kant erbittert bekämpften "Schwännerei" in der philosophischen Vernunfterkenntnis. Schellings Idee eines absoluten Empirismus entspringt aus der Einsicht, daß die Natur in ihrer Unbedingtheit wesentlich sowohl Einheit als auch Vielheit ist, daß die Idee des Unbedingten durchaus mit einer Vielheit des Absoluten verträglich ist, ja, eine solche Vielheit von ihr selbst her als Bedingung ihrer Bestimmtheit fordert, daß es umgekehrt für die philosophische Naturwissenschaft als Vernunftwissenschaft das einzelne endliche Ding als endliches überhaupt nicht gibt, daß vielmehr jedes Ding in der Natur durch seinen Zusammenhang mit anderen Dingen und mit der All-Natur immer notwendig ein Endlich-Unendliches oder ein Unendlich-Endliches ist. Zweifellos hat bei diesem Begriff des Absoluten Spinozas Lehre von der alleinen Substanz und ihren unendlichen Attributen Pate gestanden, ebenso wie Kants erkenntnistheoretische Grundunterscheidung zwischen Vernunft und Verstand. Was diese letztere Unterscheidung betrifft, erkannte Schelling deutlicher als Kant selbst, daß der Verstand ohne die Vernunft blind, und diese ohne jenen leer bleiben mußte, so wie Anschauung und Begriffe in ihrer wechselseitigen Isolierung. Deswegen knüpfte er die beiden Erkenntnisinstanzen in den zwei Einheiten des Unendlich-Endlichen und des Endlich-Unendlichen zusammen, um sie beide in der Einheit der absoluten und substantiellen Identität zu verankern. Dabei war der Vernunft der uneingeschränkte Primat zugestanden: als absolute Vernunft und als Verbindung des Unendlichen mit dem Endlichen. Dieser Primat der Vernunft bildet die Grundlage dessen, was Schelling seinen "absoluten Empirismus" nennt. Dieser Empirismus sieht in der
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Erfahrung ebenso wenig einen einfachen Bezug auf einzelne endliche Dinge wie auf endliche Zusammenhänge zwischen solchen endlichen Dingen. Für den absoluten Empirismus gehörten die Bedingungen solcher Zusammenhänge in Gestalt von Erfahrungen zu diesen Zusammenhängen dazu. Anders als in Kants vernunftkritischer Theorie der Erfahrung erschöpft sich die Funktion der Vernunft nicht darin, daß sie jeweils begrenzte und bedingte Erfahrungszusammenhänge Schritt für Schritt zu einer unendlichen Erfahrung erweitert. Vielmehr ist für einen solchen Empirismus die Erfahrung selbst im Unterschied zur empirischen Wahrnehmung unendliche Erfahrung und Erfahrung eines Unendlichen. So ist die Materie Gegenstand nicht nur einer unendlichen möglichen Erfahrung, sondern auch Gegenstand der Erfahrung eines real Unendlichen. Man darf diese Verschmelzung zwischen den Begriffen der Substanz und den Attributen aus Spinozas Substanzontologie mit den erkenntnistheoretischen Begriffen der Vernunft und des Verstandes aus Kants Vernunftkritik nicht mißverstehen. Es geht Schelling nicht in erster Linie darum, die von Kant proklamierte "Kopernikanische Wende" rückgängig zu machen. Wohl aber war ihm der Nachweis wichtig genug, daß die Idee einer solchen Wende und die durch sie gesetzte Priorität des Erkenntnissubjektes vor dem Erkenntnisobjekt eine unbedachte Prämisse voraussetzt, die zu denken und zur philosophischen Grundlage einer kritischen Vernunftwissenschaft zu machen, die vorrangige neue Aufgabe wurde. Diese Prämisse war in Gestalt der Unterscheidung von Subjekt und Objekt gegeben. Wenn Schelling sich in seiner Naturphilosophie ebenso an Spinozas Begriff der absoluten Substanz wie an Kants Vernunftidee des Unbedingten orientierte, so lag dieser Orientierung die Einsicht zugrunde, daß zwischen den beiden so heterogen wirkenden philosophischen Positionen der Modeme eine Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten zu finden war: So fand er hier wie dort die Gemeinsamkeit der Kritik an einer nativen Ding-Ontologie, in der die endlichen Dinge der Wahrnehmung als letztursprüngliche Entitäten gesetzt sind. Darüber hinaus glaubte er hier wie dort die Gemeinsamkeit der Setzung des absoluten Primats der Vernunft zu entdecken, an dem aus seiner Sicht auch Kant, seiner Vernunftkritik ungeachtet, festhielt 6• Diese beide Gemeinsamkeiten wurden für ihn ein zureichender Grund, in der Unterscheidung von Subjekt und Objekt deren Identität und in dieser die absolute Vernunft und Grundlage einer als Vernunftwissenschaft organisierten Philosophie der Natur zu sehen. Von hier aus läßt sich Schellings Umdeutung des Begriffes des Szientifischen aus Kants "Kritik der reinen Vernunft" besser verstehen. Der bloße bildhafte Vergleich dieses Begriffes 6 Noch in seinen Münchener Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie rühmt Schelling als einen der "wohltätigen Wirkungen" Kants, daß er ,jene tieferen Fragen, die sich hauptsächlich auf den intelligiblen Grund alles erkennbaren Seyns bezogen, - wenn nicht beantwortete, ja nicht einmal aufwarf", so doch "wenigstens unvermeidlich anregte ... " Unter diesem Gesichtspunkt war es ihm nicht schwer, Spinoza und Kant nebeneinander in seiner Geschichte der neueren Philosophie darzustellen. Werke X, 89, sowie a. a. O. 86.
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mit dem eines lebendigen Organismus konnte nicht zureichend sein, wenn die Philosophie der Natur den lebendigen Organismus zum Gegenstand ihres Vernunftwissens machen wollte, und dabei zugleich in der Darstellung dieses Wissens der Vernunftidee des Szientifischen sollte genügen können, soweit diese sich mit der Vorstellung einer organismischen Einheit vergleicht. Für Schellings Philosophie der Natur haben die Grundbegriffe der Kantischen "Kritik der Urteilskraft" eine besondere Wichtigkeit gehabt, insbesondere die Begriffe der inneren Zweckmäßigkeit und der Dinge als Naturprodukte und als Selbstzwecke. Aber bei seiner freien Anverwandlung dieser Begriffe hat Schelling nie die ihm fundamentale Idee der Vernunfteinheit, wie sie die "Kritik der reinen Vernunft" vorstellt, aus den Augen verloren. Im Gegenteil. Er hat die Reflexionsbegriffe der teleologischen Urteilskraft in Vernunftideen, in die Vorstellung reiner unendlicher Tätigkeiten verwandelt, und ihm zugleich eine für die Naturerkenntnis konstitutive Funktion verschafft. Kant hatte die teleologischen Reflexionsbegriffe in ihrem Gebrauch auf spezielle in der Wahrnehmung gegebene Naturerscheinungen angewandt und diesen Gebrauch selbst auf eine heuristische Funktion beschränkt wissen wollen, welche die Einheit einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur nicht gefährdet. Die Transformation dieser Reflexionsbegriffe in Vernunftideen ermöglichte Schelling ihren universalen und konstitutiven Gebrauch. So ergab sich ihm die Idee einer Natur, die für die philosophische Vernunftwissenschaft ihrem Wesen nach Selbstorganisation ist: eine Selbstorganisation durch eigene bewußtlose unendliche Tätigkeit mittels der durch diese Tätigkeit erzeugten unendlich-endlichen und endlich-unendlichen Naturprodukte. Zumindest im Prinzip ist die so begriffene Natur in ihrer Selbstorganisation Selbstkonstruktion. Durch diese Konstruktion beweist sie sich die Wahrheit ihres Wesens als Selbstorganisation. So gesehen besteht zwischen der Natur und der organismischen Einheit eine vielfältige Beziehung. Zum einen muß die Natur als Gegenstand der philosophischen Vernunftwissenschaft prinzipiell Selbstorganisation und organismische Einheit sein, zumindest im Prinzip und gemäß der Idee des Szientifischen. Andererseits muß die philosophische Vernunft- und Naturwissenschaft sich in ihrem Anfang auf den Standpunkt der Indifferenz stellen, auf dem es noch keine bestimmte Unterscheidung zwischen anorganischer und organischer Natur gibt7. Eines solchen Standpunkts der Nicht-Unterscheidung bedarf es, wenn aus ihm die entsprechende Grundunterscheidung der Natur soll hervorgehen können. Insofern bedarf es schließlich einer Position, welche diese Grundunterscheidung zum Gegenstand macht, um von ihr aus die mannigfachen Lebensverhältnisse in der Natur erforschen zu können. Organismisch ist demnach die Einheit der Natur selbst, aber auch die Einheit bestimmter Naturprodukte. Zwischen den verschiedenen Neuerungen, die Schellings Naturphilosophie gegenüber Spinozas Substan7 So in: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Werke II, 347.
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zenontologie und Kants Metaphysik bereitgestellt hat, bestehen wichtige theoretische Zusammenhänge. Diese betreffen zum einen jene Neuerung eines methodisch verstandenen absoluten Empirismus, der die Erfahrung für eine Vielheit von Unendlichkeiten öffnet. Dem korrespondiert die andere Neuerung in Gestalt eines neuen Materiebegriffes. Die Konstruktion dieses neuen Begriffes führt diesen auf ursprüngliche dynamische Naturgegebenheiten zurück. Aber nicht nur dies, daß sie die Materie aus anderen ursprünglichen Gegebenheiten konstruiert, ist das Neue. Ebenso wichtig ist, daß diese Materie ihrem Begriffe nach ein Unendlich-Endliches ist und als ein solches in der Realität gegeben ist in Gestalt einer Vielfalt von Materien, die als solche Gegenstand möglicher und wirklicher Erfahrung werden. Schließlich muß der Begriff der Materie den verschiedenen philosophischen Standpunkten gegenüber der möglichen organismischen Einheit Rechnung tragen. Es mag an der Schwierigkeit liegen, allen diesen theoretischen Anforderungen an den Materie-Begriff zu entsprechen, daß Schelling sich immer aufs Neue an der Konstruktion der Materie versucht hat s. Die erwähnten Neuerungen verbinden sich nun mit einer weiteren naturphilosophischen Neuerung, die freilich, vor allem im Blick auf die Entwicklung der modernen empirischen Naturwissenschaften befremdlich erscheinen muß und eher wie ein Rückschritt als ein Fortschritt in der philosophischen Theoriebildung wirkt. Diese Neuerung besteht in der Exposition eines neuen Essentialismus bzw. eines Begriffs - oder besser, eines Ideenrealismus. Dieser Ideenrealismus ist im Grunde mit der Idee der Vernunft als Quelle und Ort der Ideen sowie mit der Zusammengehörigkeit von Vernunft und Natur bereits gegeben. Schelling hat diesen neuen Essentialismus in direkte Verbindung gebracht mit seinem neu konstruierten Begriff der Materie und mit seinem neuen methodischen absoluten Empirismus. Man möchte meinen, daß Schellings Philosophie der Natur sich gerade durch einen solchen Essentialismus weit von den Resultaten der Kantischen Vernunftkritik entfernt und eine rückläufige Verbindung mit der neuzeitlichen rationalen Metaphysik eingeht. In der Tat zeigt sein Essentialismus wesentliche verwandtschaftliche Züge mit dem Essentialismus in Spinozas und Leibnizens Metaphysik. Denn hier wie dort wird das Wesen direkt mit der absoluten Substanz und mit deren absoluter Selbsttätigkeit verknüpft. Der Gebrauch des Wesensbegriffs in Schellings Philosophie der Natur besagt: Die Natur ist in ihrer All-Einheit ursprünglich bestimmt durch ein ebenso ganzheitliches wie in sich vielfältiges Wesen, dessen Vielfalt gegeben ist in Gestalt der unendlich-endlichen und der endlich-unendlichen Tätigkeiten. Schellings neuer Essentialismus geht Hand in Hand mit der Kritik der Ontologie endlicher Dinge. Während Spinoza und Leibniz in ihrer Ontologie den endlichen S Schelling ist sich des Problems einer endgültigen Lösung dieser Aufgabe einer Konstruktion der Materie wohl bewußt gewesen. In diesem Problembewußtsein hat er davon gesprochen, daß die Natur ein beständiges Selbstkonstruieren der Materie sei, das sich auf verschiedenen Stufen wiederhole, so u. a. in: Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik. Werke IV, 3-5.
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Dingen und ihrer Verknüpfung mit einem entsprechenden Wesen ein wenn auch fragwürdiges Dasein zugestehen, existieren in Schellings Philosophie der Natur überhaupt keine einzelnen endlichen Dinge, wenn sie nicht am Unendlichen teilhaben. Ihre Beziehung zu einem Wesen verdanken sie daher immer und notwendig ihrer Teilhabe am Unendlichen, das heißt, an der unendlichen Tätigkeit der Natur und an deren ursprünglichen und ganzheitlichen Wesen. Von diesem ganzheitlichen Wesen aus wird auch allererst das Wesen und die Wirksamkeit der mannigfachen Materien begreifbar. Zugunsten des Schellingschen Essentialismus läßt sich zunächst und vor allem dies anführen: Die ursprüngliche Selbstorganisation der Natur durch ihre eigene Selbsttätigkeit und mittels der durch sie erzeugten unendlich-endlichen und endlich-unendlichen Naturprodukte läßt sich hinsichtlich ihres Grundes nicht mit der Einheit einer gegebenen Mannigfaltigkeit von Vorstellungen vergleichen, soweit diese durch ein willkürlich gebildetes Zeichen gestiftet wird. Schon die Differenz zwischen dem neuen Schellingschen Essentialismus und dem der rationalen Metaphysik verbietet es, diesen Essentialismus nur als einen Rückschritt hinter die Vernunftkritik Kants anzusehen. Vielmehr gewinnen die verschiedenen Ansätze, durch die Schelling über jene Vernunftkritik hinauszugelangen bemüht ist, im Lichte dieses Essentialismus eine zusätzliche Prägnanz. Kant hatte nicht nur zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus, sondern ebenso auch zwischen dem Essentialismus und dem Nominalismus in der Moderne einen neuen Weg gesucht. Aber aus Schellings Sicht blieb nicht nur die Neubestimmung des Zusammenhanges zwischen Vernunft und Erfahrung einseitig. Aus seiner Sicht mußte der Weg zwischen Essentialismus und Nominalismus halbherzig und als ein schlechter Komprorniß erscheinen. Dieser Komprorniß bestand darin, daß in der Vernunftkritik und Metaphysik zwar auf den ausdrücklichen Gebrauch des Wesensbegriffes Verzicht geleistet, als Ersatz für diesen metaphysischen Grundbegriff aber die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen apriori eingeführt wurde. Auf diese Urteile und ihre Verbindung hat Kant die Möglichkeit einer notwendigen und allgemeingültigen Naturerkenntnis gegründet, die ohne die problematische Hypothese des Essentialismus auszukommen und zugleich die skeptizistischen Konsequenzen des Nominalismus und Konventionalismus vermeiden zu können schien. Daß Schelling hier einen schlechten Komprorniß am Werke sah, läßt sich den Spuren seiner Kritik an Kants Urteils- und Kategorienlehre entnehmen 9. Eine Rekonstruktion dieser Kritik muß vor allem die folgenden Gesichtspunkte bedenken. Die begriffliche Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen apriori ist für sich unzureichend, eine Notwendigkeit und Allge9 Die äußerst differenzierte Auseinandersetzung mit der Begriffs- und Kategorienlehre Kants emdet sich in Schellings System des transzendentalen Idealismus im Rahmen der Darstellung "Dritte Epoche. Von der Reflexion bis zum absoluten Willensakt." Dabei geht es ihm um den Nachweis, daß die ursprüngliche Abstraktion der Handlung von ihrem Produkt die notwendige Voraussetzung der Gegebenheit von Begriff und Kategorie ist. In: Werke IV, 516.
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meingültigkeit der Naturerkenntnis zu begründen. Denn einmal verlangt eine solche Unterscheidung einen einheitlichen Unterscheidungsgrund, der die Unterscheidung selbst begreifen läßt. Zum anderen verlangen die obersten Grundsätze einer notwendigen und allgemeingültigen Naturerkenntnis nicht nur den Beweis, daß ihr universaler Gebrauch gesichert ist, sondern auch, daß sie in ihren Grundbegriffen zureichend, d. h. durch analytische Urteile vollständig bestimmt sind. Der wichtigste Zug in Schellings Auseinandersetzung mit Kants Kategorienlehre besteht in der Erhebung des Status und der Funktion derselben von reinen Verstandesbegriffen zu reinen Vernunftideen. Im Rahmen dieser Erhebung hat Schelling die Kategorien der Relation, insbesondere die Kategorien der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung besonders ausgezeichnet lO • Der beobachtete Grundzug der Kritik der Ontologie endlicher Dinge läßt sich in Schellings Philosophie der Natur nicht nur im Blick auf die kritische Auseinandersetzung mit Kants Urteils- und Kategorienlehre bestätigen. Vielmehr findet diese Bestätigung ihre Ergänzung in dem neuen naturphilosophischen Essentialismus: Die Sphäre des Urteilens wird in der Frage nach dem Grund der Einheit von synthetischen und analytischen Urteilen ebenso transzendiert wie in der Auszeichnung der Kategorien der Relation, durch welche nicht Urteile, sondern Relationen zwischen Urteilen allgemeingültig bestimmt werden. Schelling hat die Unzulänglichkeit der Kantischen Transzendentalphilosophie für den Aufbau der Naturphilosophie nicht nur in der Einseitigkeit der Verhältnisbestimmung von Verstand und Vernunft und in den fragwürdigen Konsequenzen dieser Einseitigkeit für die philosophische Theorie der Erfahrung und für die Urteils- und Kategorienlehre gesehen. Besonders fragwürdig wurde für ihn der metaphische Rest in der Vernunftkritik in Gestalt des Begriffes der Form und ihres transzendentalphilosophischen Gebrauches. Die Möglichkeit reiner Erkenntnisse apriori war für Kant an die Voraussetzung der Gegebenheit von Formen der Erkenntnis gebunden - Formen der Anschauung und des Verstandes. Eine solche Gegebenheit reiner Erkenntnisformen aber bedurfte ihrerseits einer philosophischen Begründung, wenn diese Formen nicht bloße Fiktionen bleiben, sondern als wahre Erkenntnisgründe sollten erwiesen werden können. Die Gegebenheit reiner Formen setzt aber notwendig voraus, daß dieselben von irgendwoher gewonnen sein müssen, wenn sie als reine und leere Formen zur Aufnahme von Inhalten und zu deren Formung und Gestaltung sollten taugen können. Die Antwort auf diese Frage nach den Prämissen der Gegebenheit reiner und leerer Erkenntnisformen ist Kant schuldig geblieben. Er hat diese Frage nicht einmal auch nur gestellt. Hier gewinnt Schellings neuer Essentialismus seine über Kants Vernunftkritik und Metaphysik hinausweisende naturphilosophische Bedeutung: Nicht nur, daß 10 Die Auszeichnung der dynamischen Kategorien der Relation in Schellings Kategorienlehre wird darin gesehen, daß die Relation die einzige Kategorie der Anschauung ist und als solche den äußeren und inneren Sinn noch als vereinigt vorstellt; so im System des transzendentalen Idealismus. Werke IV, 519.
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durch diesen Essentialismus die Differenz zwischen analytischen und synthetischen Urteilen apriori auf den ursprünglichen Einheitsgrund eines Wesens zurückverwiesen und in der Notwendigkeit ihrer höheren Verbindung zu Grundsätzen einer universalen Naturerkenntnis an die Einheit von Wesen und Form geknüpft wird. Diese Einheit und mit ihr der Primat des Wesens vor der Form müssen gegeben sein, wenn überhaupt von reinen Erkenntnisformen die Rede soll sein können. Diese aber bleiben in ihrer formalen Leere und Abstraktion unfähig, das Sein und Wesen der Dinge zu erfassen. In ihrer Beziehung auf die abstrakte Konstruktion eines gegebenen Mannigfaltigen haben sich diese Erkenntnisformen aufgrund ihres verfehlten Begriffes selbst von einer Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit, der Dinge an sich abgeschnitten. Am wichtigsten aber ist in Schellings neuem Essentialismus die Gewinnung eines neuen Begriffs der Dynamik und der Dynamik der Realität. III. Schellings neuer Essentialismus ermöglicht eine neue Vorstellung der Realität aufgrund der inneren Dynamik in der Einheit von Wesen und Form. Die Realität des Gegebenen in der Natur kann nicht analog zur Homogeneität des Raumes vorgestellt werden. Vielmehr ist mit jener Einheit von Wesen und Form die Möglichkeit von Fülle und Leere gegeben. Der leere Raum und die leere Zeit sind hinsichtlich jener ursprünglichen Einheit von Wesen und Form lediglich Grenzfälle, resultierend aus der Abstraktion des Formelementes von dieser Einheit. Die Dynamik der Realität ist nicht nur die Dynamik eines Wesens, dessen Selbsttätigkeit sich in unendliche partikulare Selbsttätigkeiten ausdifferenziert. Die Dynamik des Realen resultiert auch aus der inneren Bewegtheit von Wesen und Form. Diese gibt nicht nur eine abstrakte Begriffsunterscheidung zwischen Fülle und Leere. Vielmehr zeigt sich diese Unterscheidung in der Natur und in ihren Erscheinungen immer als ein Mehr und Weniger. Man kann aus der von Schelling eingeführten Grundbeziehung von Wesen und Form nicht nur die Differenz von Fülle und Leere herauslesen. Vielmehr ermöglicht diese Unterscheidung die weitergehende, zum Extrem hin tendierende Differenz von Überfülle und Mangel, der die begriffliche und erkenntnistheoretische Unterscheidung von Unterbestimmtheit und Überbestimmtheit entspricht. In diesen Unterscheidungsmöglichkeiten liegt die Idee einer Realität, die eine neue Vernunft- und Erkenntniskritik erfordert, und die über Kants transzendentalphilosophische Unternehmung hinausreicht. In seinem "Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie" (1799) hat Schelling die Grundzüge eines "dynamischen Atomismus" entwickelt, der sich nicht nur von dem antiken Atomismus Demokrits und Platos, sondern auch von dem modernen Atomismus der Leibnizschen "Monadologie" wesentlich unterscheidet. Hier hat Schelling die Idee einer "Kausalität der Vernunft" in Anspruch genommen, wie sie Kants "Kritik der teleologischen Urteilskraft" konzipiert hatte, aber um diese Idee zugleich gegen die kritische Teleologie
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jener Kritik zu wenden. Bestimmend für diesen ,,Ersten Entwurf' ist die Grundvoraussetzung der Verbindung von Wesen und Form und mit dieser die Gegebenheit des Mehr und Weniger der Fülle und Leere, sowie der Überfülle und des Mangels in der Natur. Schelling hat in diesem "Ersten Entwurf' die ursprünglichen Naturprodukte, in denen die Natur sich selbst organisiert, als dynamische Atome bestimmt und diese einerseits als Aktionen, andererseits als Qualitäten gekennzeichnet. Die Aktionen sind als solche ebenso wie als Qualitäten die elementarsten und ursprünglichsten Naturgegebenheiten: Elementaraktionen und Urqualitäten. In diesen Uraktionen und elementaren Qualitäten hat die Natur in ihrer absoluten Unbedingtheit ihre unendliche Selbsttätigkeit gewissen Hemmungen unterworfen. Dank dieser Hemmungen in ihrer eigenen Selbsttätigkeit verliert die Natur sich nicht im Unbestimmten, verflüchtigt sich nicht in der unendlichen Leere, sondern gibt sich vielfältige Gestalt und Bestimmtheit. Jedes einzelne dynamische Atom, jede Uraktion, jede Elementarqualität stellt, so gesehen, einen bestimmten Hemmungspunkt der Natur dar. Ein solcher Punkt ist aber nicht eine einfache endliche Bestimmtheit. Er ist, seiner Einfachheit und Unteilbarkeit zum Trotz, Fülle und Überfülle, nicht der einfache in sich leere Punkt im leeren, unendlichen Raum. In seiner Fülle und Überfülle ist ein solcher Hemmungspunkt zugleich eine unendliche Linie, eine unendliche Linie möglicher Entwicklung. Schellings Konstruktion des "dynamischen Atomismus" in seinem "Ersten Entwurf' gibt uns die Idee einer Dynamik der Allnatur in ihr selbst und in jedem ihrer ursprünglichen Produkte. Dieser Dynamik der Aktionen und Qualitäten entspricht die Dynamik des zugehQrigen geometrischen Musters. Dieses besteht aus einer unendlichen Punktmannigfaltigkeit von Hemmungspunkten sowie aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit von ins Unendliche gehenden, sich kreuzenden Linien, die sich als jeweilige Entwicklungstendenzen der ursprünglichen Punkte begreifen lassen. Aber die Dynamik dieses geometrischen Grundmusters der Natur würde unvollständig sein, wenn es nicht auch und vor allem die Natur in ihrer Selbstorganisation darzustellen vermöchte. Diese findet die ihr gemäße Darstellung im geometrischen Muster des Kreises. Der Kreis ist das Bild oder das Symbol der Natur in ihrer Selbstorganisation mittels ihrer Naturprodukte. Er symbolisiert durch seine Gestalt nicht nur das ruhige Insich-Sein und das Sich-Erhalten der All-Natur in jedem ihrer Produkte. Wichtiger ist seine symbolische Bedeutung im Ausdruck der Selbstorganisation durch die Vereinheitlichung der zerstreuten Punktemannigfaltigkeit und der Mannigfaltigkeit sich kreuzender Linien, der Selbstgestaltung durch die Integration der Resultate von Hemmung und Entwicklung. Wenn Schelling die dynamischen Atome in seinem "Ersten Entwurf' einerseits als Aktionen, andererseits als Qualitäten bezeichnet, so hat er dabei einmal die grundsätzliche Entsprechung zwischen Selbsttätigkeit und Wesen im Auge, die seinen Essentialismus als einen dynamischen qualifiziert, ähnlich dem Essentialismus in Spinozas und Leibnizens Metaphysik. Die Entsprechung zwischen Aktion und Qualität hat aber noch eine andere theoretische Pointe: ,Jede Qualität ist eine Aktion von bestimmtem Grad, für die es kein
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anderes Maß gibt als ihr Produkt". 11 Dieser Satz, der einem Grundsatz bzw. einem naturphilosophischen Theorem gleichkommt, unterstreicht, daß jedes äußere und gemeinsame, jedes verallgemeinernde Maß als Bedingung möglicher Messung voraussetzt, daß die Dinge in der Natur ihr jeweiliges Maß in sich selbst haben. Sofern die Produkte der Natur als elementare Aktionen in ihren jeweiligen Qualitäten das Maß für den Grad ihrer Aktion in ihnen selbst haben, stiften sie die Bedingung möglicher Messungen im Blick auf bestimmte materielle Erscheinungen, sei es einer bestimmten, sei es verschiedener vergleichbarer Materien. Die erwähnten Uraktionen bzw. die entsprechenden elementaren Qualitäten geben in ihrer geometrischen Musterung ein System vormetrischer Elemente an die Hand, aus der die Metrik für bestimmte vergleichende Messungen gewonnen werden kann. Die hier skizzierte Konstruktion der Materie durch das Begriffssystem eines dynamischen Atomismus verleiht Schellings absolutem Empirismus eine weitere zusätzliche Bedeutung über die beschriebenen Bedeutungsmomente hinaus. Diese zusätzliche Bedeutung hängt an der Transformation des Kausalitätsprinzips in die Grundidee der Philosophie der Natur, sofern diese Vernunftwissenschaft ist. Vernunftkausalität bedeutet hier, daß Ursachen und Wirkungen nicht eine einsinnig verlaufende lineare Kette bilden, sondern daß sie ein komplexes kausales Muster ausgestalten, innerhalb dessen nicht nur Ursachen zu Wirkungen fortschreiten, sondern umgekehrt Wirkungen in ihre eigenen ursprünglichen Ursachen zurückfließen, um diese ihrerseits kausal zu beeinflussen 12. Je komplexer ein solches kausales Muster ausfällt, desto größer wird das Gewicht der Unterscheidung der beiden möglichen Erkenntniswege, von denen der eine von der Ursache zur Wirkung, der andere von der Wirkung zur Ursache führt. Komplexe kausale Muster dieser Art, wie sie vor allem in lebendigen Organismen vorliegen, machen eine entsprechende Erkenntnisunterscheidung unvermeidlich. Eine Erkenntnis innerhalb eines solchen komplexen kausalen Musters, die von einer gegebenen Wirkung den Weg zu deren Ursachen sucht, ist eine Erkenntnis aposteriori. Sie ist - relativ zur Vernunftbestimmung des Kausalitätsprinzips eine bestimmte Erfahrungserkenntnis: eine Erkenntnis, die angesichts gegebener Wirkungen auf der Suche nach den adäquaten Ursachen ist. Die gegenläufige Erkenntnis, die von gegebenen Ursachen ausgeht, kann dementsprechend als Erkenntnis apriori bezeichnet werden. Ein lebendiger Organismus verlangt für sein komplexes kausales Muster die Kooperation der beiden Erkenntnisweisen, Werke II1, 24. Die für Schelling so überaus wichtig gewordene Unterscheidung Kants zwischen einer Kausalität des Verstandes und einer Kausalität der Vernunft findet sich in Kritik der Urteilskraft § 65 unter dem Titel: Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen. Wichtiger noch als die im § 64 gegebene Bestimmung einer Vernunftkausalität im Blick auf ein Ding als Naturzweck, welches von sich selbst Ursache und Wirkung ist, ist die genauere Fassung des zweifachen Sinnes dieses Seins als Ursache und Wirkung eines Dinges als Naturzweck: die Unterscheidung dieses Seins in ein ideales und ein reales Sein, a. a. 0., 289 f. 11
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der Erkenntnis apriori und der Erkenntnis aposteriori. Die erwähnten Uraktionen, die in ihrem Zusammenwirken, durch ihre bestimmte Interaktion eine bestimmte Materie konstituieren, stellen relativ zu dieser ein komplexes Geflecht von Ursachen dar. Sie können in gewisser Hinsicht als Grenzen möglicher und wirklicher Erfahrung bestimmt werden. Denn wo eine bestimmte Materie in diesem oder jenem bestimmten Zustand in der Erfahrung gegeben ist, lassen sich die gegebenen Wirkungen in der Erscheinung auf ihre möglichen und wirklichen Ursachen hin zurückverfolgen. Die fraglichen Uraktionen und die ihnen korrespondierenden elementaren Qualitäten stellen insofern nicht schlechthin unerkennbare Dinge an sich dar. Sie sind vielmehr ebensoviele Anlässe, in ihrer Interaktion die Ursachen für eine gegebene fragliche Wirkung zu suchen. Als Grenzen der Erfahrung gehören die Uraktionen in gewisser Weise der Erfahrung an, während sie diese als gegebene Erfahrung transzendieren. Sie haben insofern sowohl realen als auch idealen Charakter relativ zur Erfahrung bestimmter materieller Phänomene. Schellings dynamischer Atomismus unterscheidet sich trotz einer gewissen Verwandtschaft sehr grundsätzlich vom dynamischen Atomismus der Leibnizschen "Monadologie". Der eine wesentliche Unterschied liegt in dem methodischen Gebrauch des Kausalitätsprinzips als Vernunftidee. Der zweite Unterschied betrifft die von Leibniz propagierte "Fensterlosigkeit" der Monaden. Im Gegensatz zu dieser Annahme einer Fensterlosigkeit hat Schelling die Notwendigkeit einer realen Interaktion jener Uraktionen behauptet, aus denen er die Materie konstruiert hat. Eine solche Notwendigkeit der Interaktion ergab sich für ihn zwingend aus der zugrundegelegten Idee einer Vernunftkausalität, durch welche die Natur im Ganzen sich durch ihre Naturprodukte hindurch selbst organisiert. Denn diese Vernunftkausalität in der Natur verlangt einen durchgängigen Wirkungszusammenhang von allem mit allem, und damit einen echten und realen Zusammenhang zwischen allen Hemmungspunkten und allen möglichen und wirklichen Entwicklungslinien. So wenig wie die Uraktionen selbst stellen die Interaktionen zwischen denselben okkulte Qualitäten bzw. unerkennbare Dinge an sich dar. Eine philosophische Vernunftwissenschaft der Natur muß sich selbst die Einführung solcher Qualitäten und Dinge an sich verbieten. In der Tat zeigt Schellings "Erster Entwurf', wie er sich die erklärende Funktion der eingeführten Interaktionen vorstellt. Zur Gegebenheit einer Materie in der Natur gehört die Erscheinung eines Widerstandes dieser Materie gegenüber einer versuchs weisen Teilung derselben. Die Gegebenheit eines solchen Widerstandes ist für die Erfahrungserkenntnis eine Wirkung, die Anlaß gibt, nach ihren möglichen und wirklichen Ursachen zu suchen. Schelling hat die kausalen Ursachen der Widerstandserfahrung unter den Begriff der Kohärenzkraft gebracht. Diese ist als Produkt der Interaktion der ursprünglichen Aktionen zu begreifen. Schellings Konstruktion der Materie in seinem "Ersten Entwurf' geht von einem sehr formalen und extrem allgemeinen Materiebegriff aus. Diesem Begriff zufolge ist die Materie nichts anders als erfüllter Raum bzw. eine bestimmte Raumerfüllung. Dieser Begriff sagt zunächst von sich aus nichts über das mehr 9 Selbstorganisation. Bd. 5
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oder Weniger einer solchen Raumerfüllung. Er enthält zunächst auch keine bestimmte Auszeichnung unterschiedlicher Örter innerhalb des Ganzen des gegebenen erfüllten Raumes. Die Gründe und Ursachen der Unterscheidung eines Mehr oder Weniger hinsichtlich der Raumerfüllung sowie die der Unterscheidung gewisser Gegenden im Raum sind offenkundig in einer jeweils bestimmten Interaktion ursprünglicher Aktionen zu suchen. Schellings "Erster Entwurf' gibt allerdings eine Theorie solcher Gründe und Ursachen nur in Andeutungen. Insofern bleibt er weit zurück hinter einem so elaborierten Konzept, wie es A. N. Whitehead in seinem Entwurf einer naturphilosophischen Kosmologie in "Process and Reality" vorgelegt. hat. Wie Schelling vor ihm, so hat auch Whitehead gegen Leibniz die Notwendigkeit der Annahme realer Interaktionen zwischen elementaren Aktionen bzw. Prozessen behauptet. Er hat aber über Schelling hinausgehend eine differenzierte Theorie der Interaktion von Elementarprozessen entworfen, die solche Interaktionen hinsichtlich Einfachheit und Komplexität, Stabilität und Instabilität, Konformität und Nicht-Konformität zu differenzieren gestattet und damit ein Instrumentarium zur kausalen Analyse der Verbindung von Materie und Extensivität an die Hand gibt 13. Schelling will durch seine Konstruktion der Materie diese zunächst als primäre Gegebenheit und als erstes Produkt der Naturproduktion konstituieren. Diese erste Materie ist nicht die Natur selbst, sondern erstes Naturprodukt, entspringend aus unendlichen Hemmungen, die sich die Natur in ihrer absoluten Produktion auferlegt. So gesehen ist die Materie ein Unendlich-Endliches bzw. ein Endlich-Unendliches und insofern etwas ganz anderes als ein endliches Materiestück oder ein endlicher und begrenzter materieller Körper. In der Materie als dem ersten Produkt der Natur muß sich deren Vernunftkausalität in gewisser Weise ausdrücken. Insofern ist die Materie als Produkt der einen absoluten Naturproduktion analog zu deren selbstorganisatorischer Einheit ebenfalls eine organismische Einheit. Diese Einheit ist die Vernunfteinheit einer internen Kausalstruktur, in der sich unzählige einzelne Aktionen zu einem höheren Mechanismus, einer unendlich-endlichen und endlichunendlichen Wechselwirkung verbinden. Von der Erkenntnis der Materie auf der Grundlage eines angemessenen Begriffes derselben hängt, wie Schelling selbst betont, die Erkenntnis in der Physik ab. Ohne diese Erkenntnis ist "die Physik ohne wissenschaftlichen Grund, die Vernunftwissenschaft selbst entbehrt des Bandes, wodurch die Idee mit der Wirklichkeit vermittelt ist" 14. Mit der 13 Vgl. R. Wiehl, Aktualität und Extensität in Whiteheads Kosmo-Psychologie. In: Die Gifford Lectures und ihre Deutung. Materialien zu Whiteheads Prozess und Realität 2, hrsg. von H. Hampe u. H. Maaßen. Frankfurt a. M., 1991, 313-368. Auch wenn Schellings Idee einer dynamisch-realen Geometrie im einzelnen überholt ist, bleibt die Whiteheads Versuch vergleichbare Bemühung, die Dimensionen des Raumes in Verbindung zu bringen mit ursprünglichen Kräfteverhältnissen in der Natur, höchst interessant. So in: System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, wo die Dimensionen des Raumes als Formen der Kohäsion bestimmt werden. Werke VI, 285. 14 Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklungen der ersten Grundsätze der Naturphilosophie aus den Prinzipien der Schwere und des Lichtes. Werke II, 359. Die dort und anderwärts von Schelling gegebene Konstruktion der Materie
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Erkenntnisbestimmung der Materie fallt auch eine gewisse theoretische Vorentscheidung hinsichtlich einer der Schlüsselfragen der Philosophie der Natur: der Frage nach Ordnung und Unordnung, nach Gesetzmäßigkeit und Chaos. Hier ist nicht nur die Frage, wie sich aus Unordnung Ordnung bildet, wie aus Chaos Gesetzmäßigkeit entsteht; auch nicht nur die Frage, warum sich die Unordnung in der Ordnung, das Chaos in der Gesetzmäßigkeit erhält, um immer wieder gegen Ordnung und Gesetzmäßigkeit durchzubrechen. Die Frage ist hier auch und vor allem die nach Begriff und philosophischer Erkenntnisbestimmung von Gesetzmäßigkeit und Chaos selbst. In der Tat sind verschiedene Vorstellungen von Ordnung und Unordnung, von Gesetzmäßigkeit und Chaos möglich. Unterschiedlichen Vorstellungen dieser Gegensätze müssen unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Verbindung beider Seiten und unterschiedliche Theorien hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit der Natur und deren Ausbildung entsprechen. Im Vergleich mit Kants Vernunftkritik und Metaphysik hat Schelling in seiner Naturphilosophie dem Chaos und der Unordnung im Vergleich zu Gesetzmäßigkeit und Ordnung ein viel größeres Gewicht und eine echte Eigenbedeutung eingeräumt. Unordnung war ihm mehr als nur die Gegebenheit eines ursprünglichen Mannigfaltigen, dessen Bestandteile in keinen realen Beziehungen zueinander stehen. Die Frage nach den Bedingungen möglicher Ordnung und Gesetzmäßigkeit war für ihn deswegen auch nicht zureichend beantwortet durch den Hinweis auf die Beziehungen und deren universale Bestimmtheit, die sich den beziehungslosen Elementen einer gegebenen Mannigfaltigkeit mitteilen muß, damit aus ihr Bedingungen möglicher Erkenntnis von Gesetzmäßigkeit entspringen kann. Schelling hat das Chaos und die Unordnung selbst dynamisch gedacht. Das heißt: Chaos und Unordnung bedeutet ihm vor allem die Verwendung von allem in alles, die wirkliche und mögliche Umgestaltung alles Seienden durch einander. In einem solchen Chaos, in einer solchen schlechthinnigen Metamorphose von allem in alles, war aus seiner Sicht nicht weniger Vernunft als in der Ordnung und in der Gesetzmäßigkeit. Allerdings mußte diese hier etwas anderes bedeuten als dort, wo die Unordnung sich nur als Mangel und als Defizit bestimmter Beziehungen mitteilt. Ordnung und Gesetzmäßigkeit mußten angesichts dieser ganz anderen Idee eines Chaos diese Bedeutung annehmen: Einschränkung der unendlichen Wandelbarkeit von allem in alles auf bestimmte allein mögliche Wandlungen und Metamorphosen. Gesetzmäßigkeit bedeutete ihm nicht Erzeugung von Relationen, sondern Regelung von Umgestaltung. Schellings neuer Begriff der Materie trägt diesen Ideen von Chaos und Ordnung Rechnung. Die Materie ist unendlicher Stoff für unendliche Wandlungen und Transrnutationen in der Natur und in ihren Produkten. Aber diese Materie muß zugleich auch Bedingungen einer möglichen Beschränkung dieser Wandlungen durch Regel und Naturgesetz enthalten, wenn Ordnung und Gesetzkann im Rahmen dieser Darstellung nicht entwickelt werden. Sie ist eine zwingende Konsequenz der verschiedenen Verhältnisse der Verbindung von Vernunft und Erfahrung im Blick auf die Idee des Organismus. 9*
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mäßigkeit in der Natur auf der Grundlage materieller Gegebenheiten soll verständlich werden können. Schelling war sich vollauf bewußt, daß die von ihm in die Naturphilosophie eingeführte Grundbeziehung von Wesen und Form sich nicht nur gegen den abstrakten Formalismus der Kantischen Vernunftkritik und Metaphysik, nicht nur gegen die Vorstellung reiner und leerer Erkenntnisformen und gegen die Theorie der Anwendung dieser Leerformen auf vorgegebene leere Mannigfaltigkeiten richtete. Vielmehr bedeutete ihm selbst diese Grundbeziehung von Wesen und Form eine radikale Umgestaltung des traditionellen Essentialismus und eine Umwertung der Werte des Platonismus. Diese Umwertung betraf die traditionellen Prioritäten im Verhältnis von Gestalt und Gestaltlosigkeit. Für die gesamte philosophische Tradition des Platonismus besitzt die Gestalt einen höheren Wert im Vergleich zu dem der Gestaltlosigkeit, mag diese auch in der Zeit - in irgendeiner Zeit - der Gegebenheit der Gestalt vorausgehen. Dieser höhere Wert, den Schelling der Gestaltlosigkeit gegenüber der Gestalt eimäumt, ist der Wert des Primats dem Sein und der Erkenntnis nach. Gestaltlosigkeit bedeutet im Vergleich zur Gestalt in Schellings neuem Essentialismus nicht länger einen Mangel. Vielmehr geht im Rahmen der hier sich vollziehenden Umwertung der Werte dieser Mangel auf die Gestalt über. Deren Mangel gegenüber der Gestaltlosigkeit ist der der Beschränkung, der Begrenzung derselben. Schelling hat die Umwertung der Werte in direktem Zusammenhang mit seinem neuen dynamischen Atomismus gesehen. "Dem dynamischen Philosophen ist das Gestaltlose das Ursprüngliche, weil es das der reinen Produktivität am nächsten Kommende ist. In der reinen Produktivität der Natur ist noch keine Bestimmung, also auch keine Gestalt. Je näher die Natur noch der reinen Produktivität, desto gestaltloser, je näher dem Produkt, desto gestalteter". 15 Diese Gestaltlosigkeit in ihrer positiven Bestimmtheit bezeichnet Schelling als Flüssigkeit. Diese ist absolute Flüssigkeit als erstes Produkt der Natur, welches dieser am nächsten ist und sich gewissermaßen zwischen sie und ihre Produkte schiebt. Dementsprechend muß die Materie als erstes, aus unendlichen Hemmungen entspringendes Naturprodukt als absolute Flüssigkeit begriffen werden. Diese Fassung der Materie als Flüssigkeit stellt zweifellos die größte Neuerung in Schellings Philosophie der Natur dar. Die Materie als absolute Flüssigkeit ist hier eine Vernunftidee, durch die die Grenzen der klassischen Mechanik als einer bestimmten Festkörperphysik gesprengt werden. Die Vernunftidee der Materie als absolute Flüssigkeit erlaubt es, in der philosophischen Vernunftwissenschaft der Natur eine theoretische Grundlage zu schaffen, auf der nicht nur Mathematik und Physik, sondern auch Chemie und Biologie aufbauen können. Als Vernunftidee betrachtet ist die Materie, sofern sie bestimmte Flüssigkeit ist, kein bestimmter Aggregatzustand, der sich von anderen Aggregatzuständen unterscheidet. 15 Werke III, 3l. Die Konstruktion der Materie als absolute flüssigkeit verlangt in ihrem Fortgang die Unterscheidung zwischen diesem ersten Naturprodukt und seinen mannigfachen Erscheinungen.
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Vielmehr ist sie eine Flüssigkeit, die ursprünglicher gedacht ist als bestimmte materielle Gegebenheiten in bestimmten Aggregatzuständen. Es ist klar, daß eine Erklärung der Gestaltbildung aus dem Gestaltlosen, dem Absolut-Flüssigen andere Erklärungsprinzipien erfordert als eine Erklärung bestimmter Zusammenhänge aus dem Zusammenhanglosen. Schelling hat in der Gestalt einen Mangel und eine Einschränkung der ursprünglichen absoluten Materieflüssigkeit gesehen. Er hat diesen Mangel und diese Beschränkung aller Gestaltbildung aus Vorgängen der Störungen zu erklären versucht. Eine solche Störung, die Anlaß und mögliche Ursache einer bestimmten Gestaltbildung wird, besteht aus der Störung eines internen Vernunftzusammenhanges zwischen den kausalen Faktoren, welche die Materie in ihrer absoluten Flüssigkeit konstituieren. Es handelt sich hier um die Störung eines gegebenen Gleichgewichts, einer Harmonie im Verhältnis kausaler Faktoren, die in einer organismischen Einheit zusammenwirken und auf diese Weise das Verhältnis der Teile des Organismus zueinander und zum Ganzen bestimmen. Diese Gleichgewichtsstörung läuft darauf hinaus, daß sich einzelne kausale Faktoren innerhalb eines kausalen Gesamtgeschehens verselbständigen und eine unverhältnismäßige Dominanz über die anderen kausalen Faktoren gewinnen. Die Ordnung und Gesetzmäßigkeit, die Gestaltbildung und die Regulierung der Veränderungen und Umgestaltungen der Natur verdanken sich, Schellings Naturphilosophie zufolge, nicht nur Prinzipien der Erzeugung und der Produktivität. Zu diesen treten Prinzipien der Hemmung und der Störung und vor allem das Prinzip der Individuation hinzu. Individualität spielt im Naturgeschehen eine eigentümlich zwiespältige und zweideutige Rolle. Die Entwicklung der Natur und das Geschehen, das sich an ihre Produkte knüpft, ist ohne die Bildung von Individualität nicht möglich. Schon dem ersten Naturprodukt, der Materie in ihrer absoluten Fluidität, liegt Individualität zugrunde. Die Uraktionen, die sie konstituieren, haben individuellen Charakter. Zwar kennt die Natur aus der Sicht der philosophischen Vernunftwissenschaft keine endlichen Dinge als solche. Insofern kennt diese Natur auch kein Entstehen und Vergehen von Einzeldingen als endlichen Dingen. Um so größeres Gewicht kommt dem Entstehen und Vergehen von Individualität in der Natur zu. Die Natur bedarf der Bildung von Individuen in Verbindung mit dem Geschehen der Hemmungen von Entwicklungen und der Störung von kausalen Gleichgewichten. Aber, wie Schelling feststellt, "Der Natur ist das Individuelle zuwider, sie verlangt nach dem Absoluten, und ist continuirlich bestrebt es darzustellen". 16 Mit diesen Prinzipien der Hemmung und der Störung, der Bildung 16 Darauf beruht das dialektische Verhältnis der Natur zur Individualität. Die Natur bedarf bereits in ihrem ersten Produkt des Prinzips der Individualität. Dieses wirkt im Sinne der Begrenzung und der Gestaltbildung bereits in der Materie, sofern diese gestaltlose Flüssigkeit ist, die sich zur Gestalt fortbildet. Vgl. u. a. Werke III, 43. Der Primat des Gestaltlosen vor der Gestalt ermöglicht ein neues und tieferes Verständnis der Veränderungen in der Natur, sofern diese nicht nur im Blick auf die Gesetzmäßigkeit, sondern ebenso von der Unordnung und vom Chaos her begriffen werden müssen. Zum
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und der Vernichtung von Individualität hat Schelling das klassische Problem der Naturphilosophie, die Frage nach dem Verhältnis von Gesetzmäßigkeit und Chaos, auf eine neue Grundlage gestellt, die für die Naturphilosophie unserer Tage eine neue Aufgabe bereithält.
naturphilosophischen Begriff der Metamorphose und dessen Einschränkung vgl. Schellings Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Hier wird jedes Produkt der Natur als in "unendlicher Metamorphose begriffen" gedacht, sofern es "in der Natur weder zur reinen Produktivität noch zum reinen Produkt kommen kann". Werke III, 299. Die Umwertung der Werte im Verhältnis von Gestaltlosigkeit und Gestalt von Chaos und Gesetzmäßigkeit drückt sich in Beschreibungen des Chaos als u. a. schön, bewundernswert, wundervoll etc. aus. V gl. hierzu Schellings Philosophie der Kunst, Werke V, 406.
Anmerkungen zu einem möglichen Dialog Schellings mit der modernen Biologie Von Ola! Breidbach, Bonn und Bochum I. Physikalisierung der Biologie? Die Grundfragen der modernen Biologie sind nicht mehr an einer bloßen Deskription der Phänomenenebene ausgerichtet, wie sie es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren 1. In jener Epoche, in der auch Schellings naturphilosophischer Entwurf entstand - und von der her er denn auch zu verstehen ist - , ging es der Biowissenschaft zunächst überhaupt darum, Ordnung zu schaffen in der Vielfalt der von ihr aufgehäuften Daten, aus denen sich dann auch nur sehr langsam die Konturen eines unter einheitlichen Prinzipien aufzubauenden Wissenschaftskontextes herausschälen ließen 2 • Wie war eine derartig sammelnd ausgerichtete Biowissenschaft zu fundieren? Schellings Entwurf einer Naturstufung zeigte die Organik als Ausprägung von Naturprinzipien, die sich selbst der Analyse der Biowissenschaften entzogen 3 • Nachdem die Biowissenschaften ihr Material in eine erste Ordnung gebunden hatten, und - über die Zellenlehre sowie eine methodisch diversifizierte Physiologie - ein Denkansatz und die Werkzeuge gefunden schienen, die Qualität des Organischen in dieser Wissenschaft selbst zu erläutern, veränderte sich deren Verhältnis zur Philosophie. Es erschien ihr nunmehr unnötig, sich an der Hand führen zu lassen, wo ihr doch in dem aufkeimenden eigenen Theorie- und Methodengebäude die Ansatzmöglichkeiten gegeben schienen, die Mechanismen der Lebensprozesse darzustellen 4. Deren Mechanik galt es zu erfassen, um hierheraus die Grundfaktoren zu erschließen, in denen die Lebensformen begreifbar werden. Die Biowissenschaften wären demzufolge - wie es Du Bois-Reymond beredt formulierte - zu physikalisieren 5 • Die - schon von ihrem Instrumentarium her - für ein entsprechendes Vorgehen prädestinierte Physiologie verfolgte denn E. Nordenskiäld, The History of Biology, New Y ork 1936. O. Breidbach, Das Organische in Hegels Denken. Studie zur Naturphilosophie und Biologie um 1800, Würzburg 1982. 3 O. Breidbach, Zum Verhältnis von spekulativer Philosophie und Biologie im 19. Jahrhundert, in: Phil. Naturalis 22 (1985), S. 385-399. 4 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1974. 5 E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, Hamburg 1974. 1
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auch bis in unser Jahrzehnt hinein diesen Grundansatz. Es zeigte sich aber nicht zuletzt in Folge der Entwicklungsgenetik - , daß die Phänomene des Biologischen nicht einfach auf "eine" Formel zu bringen sind.
11. Biologiesierung der Physik Ein vereinfachter Physikalismus, der eine Formel zur Explikation des Grundstrukturzusammenhanges der Lebensfunktionen benutzen will, stößt an Grenzen. Ein Gutteil der Faszination des DNA Modells von Watson und Crick - über die auch die vergleichsweise rasche Rezeption der entsprechenden Theorien verständlich wird - erklärt sich aus der Hoffnung, in den von den beiden Forschern "entzifferten" molekularen Bausteinen der Erbinformation die Schrifttypen in der Hand zu haben, mit denen die physikalische Formel des Lebens zu schreiben sei. Die "Schrift" dieser Erbinfornation ist allerdings komplizierter: Ein Organismus wird aus den Genen erst in einem komplexen Prozeß differentiellen, in einem Raum-Zeitgefüge erfolgenden Abfragens dieses "Buchstabenkordons" . Die hierbei zu findenden Antworten überlagern sich jedoch - schlimmer noch, die einzelnen "Silbentexturen" greifen ineinander, kommandieren ihr Verhalten, und verwischen so die in der molekularen Struktur noch seriell geordnet erscheinende Sequenz der verschiedenen Codierungseinheiten. Wollen wir verstehen, welche Bedeutung die einzelnen Einheiten des Genoms besitzen, müssen wir dieses Ineinandergreifen aufzeigen 6. Sehr bald zeigt sich, daß die vermeindliche Uniformität im Genom der verschiedenen Zellen eines Organismus sich in dessen Entwicklung in einem komplexen Gefüge ineinandergreifender, ganz unterschiedliche Genteilsequenzen abrufender Zellen auflöst. Das Genom eines Organismus offenbart nicht einfach den Code, in dem sich die Lebendigkeit der Organisationsformen, die wir in der derzeitigen Biologie studieren, erschließt. Die moderne Genetik zeigt uns vielmehr, daß auch die Gene nur ein Material sind, auf dem und in dem sich im Raum-Zeitgefüge der Entfaltung einer organischen Form, das wir Ontogenese nennen, deren Organik etabliert. Verständlich wird ein Gen erst, wenn wir seine Expression, seine in dem Raum-Zeitgefüge, in der Topologie des Organismus erfolgende Ablese skizzieren. Die Wirkung eines Gens zeigt sich demnach bedingt durch den Zusammenhang, innerhalb dessen es abgerufen (exprimiert) wird. Seine Expression ist hierbei nicht ein einfacher Decodierungsvorgang, den wir nach Art des SenderEmpfangermodells beschreiben können. Das einzelne - exprimierte - Gen steht vielmehr in einer Regulationskaskade von sich zum Teil wechselseitig beieinflussenden Kontrollinstanziierungen, die wiederum in einer komplexen Rückkopplung den momentanen Binnenzustand, in den hinein ein Gen exprimiert wird, als Regulierungsgröße mit umfassen. 6 B. Alberts / D. Bray / J. Lewis / M. Raff/ K. Roberts / J. D. Watson, Molecular Biology of the Cell, New York & London 1989.
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Die Beziehung zwischen der Gen- und der Phänomenebene ist demnach nicht einfach linear, vielmehr fassen schon auf dieser ersten Stufe einer eigenbestimmten Regulation der Lebensprozesse eine Fülle von Wirkungen ineinander. Der alte, aus der Tradition überkommene Term, in dem die Biologie dieses "Ineinander" faßte, ist "die Gestalt". Ausgehend von dieser topologisch zu beschreibenden Größe definiert sich denn auch derzeit eine Synthese zwischen der im philosophischen Sinne atomar ansetzenden Molekularbiologie und einer Morphologie, die das Instrumentarium erarbeitet hat, mit der eigentlichen Qualität biologischer Strukturen, der Gestalt, umzugehen 7. In diesem Konzept zeigt sich die molekularbiologische Fragestellung in die organismische Biologie eingebunden (Zootyp-Konzept)8. Die molekularbiologische Perspektive eröffnet hierbei mehr als den Ansatz zu einer vereinfachenden Physikalisierung der Lebensprozesse. Historisch gesehen, entwickelte sich die Molekularbiologie aus dem Versuch heraus, die Physis als Physik zu begreifen. Die Träger dieser Entwicklung waren denn auch Physiker, die - unter der Idee einer "unifying theory" - ihre Physik auch auf die Lebensphänomene ausdehnten und so - unter Umdrehung des alten romantischen Konzepts - das Leben physikalisch zu fassen suchten. Schrödingers in Dublin geschriebene Abhandlung "What is life?" formulierte schon in den 40er Jahren das Programm 9, an dem dann in den 50er und 60er Jahren Max Dellbrück, dessen Bedeutung für die Entstehung der modernen Molekularbiologie kaum überschätzt werden kann, explizit anknüpfte 10. Das damit formulierte Programm, das Lebendige als besondere Form eines physikalisch faßbaren Weltzusammenhanges zu explizieren, wurde denn auch zur Leitvorstellung der frühen Molekularbiologie. Der philosophische Atomismus wurde ihr Programm, der Physikalismus ihr Denkprinzip. Komplexe Interaktionen sind in dem klassischen Vokabular des Physikalismus, der solche Wechselwirkungen in Kausalsequenzen auflöst, nur bedingt zu fassen. Die auf die Biologie angewandte Physik muß sich erweitern, und diese Wechselwirkungen nicht nur approximativ, sondern in ihrem Strukturgefüge, ihrer "Topologie" ernst nehmen. Dergestalt hat sich eine vereinfachende Physik zu biologiesieren. Diese "Biologiesierung" wird für die Physik selbst bedeutsam. Dort wo sie topologisch differenziertere Strukturqualitäten beschreiben will, wie etwa in der Theorie einer Atmosphäre, in der es auch Wolken gibt, muß sie neue Beschrei7 O. Breidbach, Entwicklungsmorphologie Ein neuer Ansatz zur Fundierung einer organismischen Biologie? Z. für Theorie und Geschichte der Biologie 1 (1994), im Druck; W. Kutsch / O. Breidbach, Homologous structures in the nervous systems of Arthropoda, in: Advances in Insect Physio1ogy 24 (1994), S. 1 - 113. 8 J. M. W. Slack / P. W. H. Holland / C. F. Graham, The zootype and the phylotypic stage, in: Nature 361 (1993), S. 490-492. 9 E. Schrödinger, What is life?, London 1945. 10 P. Fischer, Licht und Leben. Ein Bericht über Max Dellbrück, den Wegbereiter der Molekularbiologie, Konstanz 1985.
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bungsansätze finden. Ein derzeit möglicher Weg, derart differenzierte Systeme zu beschreiben, scheint in der Simulation solch komplexer Struktureigenschaften zu liegen. Der Weg in diese Richtung scheint erst gerade eröffnet, und es hat sich zu zeigen, ob eine entsprechend komplexe Fassung von Topologieeigenschaften auch analytische Qualität gewinnen kann. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer in diesem Sinne "biologiesiert" zu verstehenden Physik findet sich in der Theorie der Wechselwirkung, die die Überlagerung von Teilwirkungen als strukturgenerierend beschreibt. Eine Physik, die daran festhält, ihr System unter festgehaltenen Außenbedingungen zu beschreiben, kann dies nicht leisten. Die wesentliche Eigenschaft sich selbst organisierender Systeme besteht ja eben darin, ihre Außenbedingungen selbst zu definieren 11. Ein Modell, an Hand dessen die Eigenschaften eines entsprechenden, durch solch eine neue - in benannten Sinne biologiesierte - Physik zu beschreibenden Strukturzusammenhanges aufgewiesen werden kann, findet sich in der Embryogenese l2 • Die Analyse der Differenzierung des Fliegeneies zeigte, wie sich in der Überlagerung der - im Prinzip einfach definierten, genetisch codierten - Teilfunktionen eine relativ komplexe Topologie generiert, die sich nun ihrerseits als Matrix eines sich in komplizierten Überlagerungen von Teilwirkungen etablierenden Systemzusammenhanges figuriert. Beschreibbar wird die Genese der Larve aus diesem Ei nur dann, wenn man die analysierten Teilmechanismen in ihrer Wechselwirkung studiert. Die Teilmechanismen lassen sich hierbei zwar in ihrer Kausalität analysieren und sich ggf. auch - über Mutanten - regelgerecht isolieren, doch wird ein Verständnis solch eines Teilmechanismus nur im Konzert der Gesamtinteraktionen möglich. Die Solostimme eines Mechanismus vermag die die Entwicklung tragende Harmonik nicht einmal im Ansatz zu konturieren. Die Selbstorganisation dieses Systems erschließt sich allein aus der Definition der Systembedingungen, die die Einzelreaktionen einbinden. Haben wir in solch einer Analyse von Systemeigenschaften einen Weg gefunden, superveniente Wirkstaffelungen zu beschreiben? Wird die Rückführung einer Teilkausalität in den Zusammenhang der Binnencharakteristika, in denen sie sich in einem biologischen System etabliert, zum Ansatz, diesen Begriff der Supervenienz nun auch inhaltlich zu füllen? Es scheint, daß in entsprechenden Überlegungen, in denen die Systemcharakteristika, in denen solch eine Teilfunktion dann etabliert wird, als selbstorganisiert begriffen werden, das notwendige Vokabular für eine auch analytische Antwort auf diese Frage nach der Strukturierung etwaiger Wirkhierarchien, respektive deren Vemetzung in einer Schichtung von Systemkomplexitäten zu finden ist. Es wäre hierbei zu fragen, ob solch eine Analyse notwendigerweise H. Haken, Synergetik. Eine Einführung, Berlin 1983. P. W. lngham, The molecular genetics of embryonie pattern formation in Drosophila, in: Nature 335, 25 ff. 11
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bottom-up zu führen ist, oder ob nicht vielmehr in der Möglichkeit einer analytischen Fassung der Systemeigenheit die "Versklavung" der Teilmechanismen an und in dessen Organisation aufzuzeigen ist.
IH. Schellings Naturphilosophie in einer modernen Perspektive? Was hat aber diese Skizze moderner Ansätze der biowissenschaftlichen Forschung mit Schellings Philosophie zu tun? Kann seine Naturphilosophie in der skizzierten Situation weiterführende Ansätze geben, oder kann sie - zumindest - die Entwicklung einer Wissenschaft verständlich machen, die bis in die Moderne hinein unter der Idee einer vereinheitlichenden Theorie der Natur stand, in der die Welt auf ihre Formel zu bringen sei. Ist dies Postulat, das die Anstrengungen etwa eines Steven Weinberg und mit ihm einer ganzen Reihe brillianter, an der Kosmologie interessierter Physiker leitet, ein letztes Desiderat der Idee einer prinzipiiert zu begreifenden Natur, wie sie in der Romantik leitend war 13 ? Schellings Entwurf war der erste und in seiner radikalen Konsequenz zugleich auch der letzte Versuch einer Naturphilosophie, die die Naturwissenschaften integrierte und in den spekulativ gewonnenen philosophischen Entwurf einband. Insofern scheinen die modemen Entwürfe einer Physik, in der aus dem einzelwissenschaftlichen Ansatz das Vokabular gefunden werden soll, in der das Weltganze auf seine Formel zu bringen wäre, als die direkte Umkehrung des Schellingschen Entwurfes; hierbei sind sie dies - wie zu zeigen sein wird - als Resultat einer Entwicklung der Naturwissenschaft, die sich in ihrer Konzeption explizit gegen eine spekulativ fundierte Naturphilosophie stellte. Um 1800 war die Situation speziell der Biowissenschaften aber noch eine andere; nicht nur die Systematik, sondern auch die Anatomie und Physiologie arbeiteten paradigmenfrei und akkumulierten einen Wust von Befunden, deren Bezüge zueinander innerwissenschaftlich nicht thematisierbar waren 14. Ein Werk wie die "Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser" von Alexander von Humboldt reihte - ohne einen konzeptionell oder methodisch klar definierten Rahmen - nurmehr Einzelbefunde aneinander l5 • Dies ist symptomatisch für eine Wissenschaft, die, frei von einer Leitidee, eine anwachsende Datenflut zu beherrschen sucht. In dieser Situation gewinnt jede, auch eine von "außen" etwa durch die Philosophie - an die Wissenschaft herangetragene Ordnungsformel eine paradigmatische Funktion für die Einzelwissenschaft. Erst in solch einer theoretischen Durchdringung geeint, kann sich nun der Boden für eine konzeptionelle Klärung des Datenhorizontes und damit der Grund für die Bildung von 13
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S. Weinberg, Die ersten drei Minuten, München 1980.
Breidbach (FN 2). A. v. Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser, 2 Bde, Berlin
1797/1799.
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Hypothesen finden. Genau in dieser Situation einer paradigmatischen Funktion für den einzelwissenschaftlichen Kontext stand die frühe Naturphilosophie Schellings. Die einzel wissenschaftlichen Befunde werden von seiner Philosophie nicht nur reflektiert, sondern auch in ein den Einzelwissenschaften eigenes Bedeutungsgefüge gesetzt. Auch in diesem Sinne, einer sich in der Konstitution des philosophischen Aussagengefüges erfüllenden Setzung des Einzelnen, ist das Experiment dann Prophezeihung l6 • Diese Funktion einer Naturphilosophie, die nicht nur die Orientierung des einzel wissenschaftlichen Wissens vorgibt, sondern dessen Struktur selbst aus seinen Prinzipien ableitet, ist gerade für eine vertiefende wissenschaftgeschichliche Darstellung bedeutend. Die Biowissenschaft zeigt sich im Beginn ihrer Entwicklung zu der analytisch, physikalistischen Disziplin, in der sie schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts figurierte, dicht in einen naturphilosophischen Begründungskontext eingewoben 17. Diese Situation ist, trotz einer Vielfalt anderslautender wissenschaftshistorischer Statements keineswegs spezifisch deutsch. Ein Blick auf die Rezeption des Mesmerismus oder der Brownschen Lehre mag ebenso wie eine Analyse des Akademiestreites oder der theosophischmathematischen Spekulationen im England des frühen 19. Jahrhunderts sehr schnell zeigen, daß hierin ein Grundzug der damaligen Biowissenschaften aufzuweisen ist 18. Entsprechend erklärt sich denn auch die vergleichbar rasche und umfassende Rezeption der entsprechenden Aussagen der romantischen Naturphilosophie in den Bio- und Medizinwissenschaften, die etwa über Oken noch weit ins 19. Jahrhundert wirksam blieb. IV. Zur Rezeptionsgeschichte Schellings in der Biologie Die im Rahmen dieser naturphilosophischen Exposition gefundenen Ordnungsprinzipien verloren sich dann auch nicht mit Etablierung der Darwinschen Lehre und dem damit verbundenen Postulat einer innerwissenschaftlichen Kategorialisierung des Lebendigen 19. Die Idee der Formtypik des Lebendigen, in der der einzelne Organismus nur als Ausprägung einer das Natürliche überhaupt charakterisierenden Typik verstanden wurde, bleibt für die Morphologie als biologische 16 F. W. J. Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der spekulativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft, in: F. W. J. Schelling, Werke (hrsg, v. M. Schröter), München 1927, S. 276. 17 H. Quemer. Ordnungsprinzipien und Ordnungsmethoden in der Naturgeschichte der Romantik, in: R. Brinkmann (Hrsg.), Romantik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 214 ff. 18 Vergl. etwa: D. Knight. Ordering the World. A History of Classifying Man, London 1981. 19 Die Problematik ist hier nur anzudeuten; interessant im Kontext dieser Versuche ist die Kristallographie des Organischen, die E. Haeckel im Kontext seiner Morphologie entwickelte; die derart gewonnene analytische Beschreibung der Gestalt wurde von ihm als argumentative Fundierung der Darwinschen Evolutionslehre begriffen; E. Haeckel. Generelle Morphologie der Organismen, 2 Bde., Berlin 1866.
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Disziplin bis in die Moderne hinein begriffsprägend. Die methodologischen Prinzipien einer systematischen Zoologie inserieren zu einern nicht geringen Anteil an der Diskussion der romantischen Philosophie. Begriffe wie Organismus, Gestalt und Typik tragen noch diesen - mit den auch von Schelling explizierten Ideen einer Naturentfaltung (im nicht-darwinschen Sinne) verknüpften - Gehalt. In der derzeitigen Diskussion um Homologien bilden nach wie vor die Definitionen von G. Cuvier, C. Gegenbaur oder R. Owen das Grundvokabular des Biologen. Aber auch in der Physiologie finden sich - etwa mit dem Terminus eines Modellorganismus - entsprechend explizite Bezüge auf den romantischen Wissenschaftskontext 2o • Ein Modellorganismus expliziert die Naturtypik - ganz im Sinne der Romantik oder des entsprechenden Begriffsgebrauchs bei Goethe 21 • Evolutionsbiologisch läßt sich eine entsprechende Typologie, die etwa an einem Wirbellosen Phänomene expliziert, um sie dann auf das als nurmehr komplexer (und eben nicht anders gebaut begriffene) Säugetier zu übertragen, nur schwer begründen 22. Wichtiger als diese - zumindest vom Standpunkt der Schellingforschung als ,,Positiva" zu zeichnenden Rezeptionsmomente ist im Zuge der Entstehung der modernen Biowissenschaften allerdings die bewußte Negation des speziell durch Schelling getragenen Anspruchs einer spekulativ fundierten Naturphilosophie. Welche Chance hatte denn auch eine Biowissenschaft, die versuchen sollte, sich als Einzelwissenschaft aus dem Kontext einer naturphilosophischen Prinzipiierung ihres Tuns zu entwinden, anders, als sich dem Anspruch einer N aturphilosophie entgegenzustellen und sich dabei überhaupt gegen einen entsprechenden Anspruch zu wenden. Entsprechend läßt sich denn auch die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung dingfest machen. Für die Entwicklung der modernen Biologie ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem die Person und das Denken von Johannes Müller bedeutsam, der über die Entwicklung einer strikten Methodologie des biowissenschaftlichen Experiments, die Gründung einer enorm einflußreichen Schule und über sein Lehrbuch zur Physiologie des Menschen eine, auch über die Biowissenschaften hinaus, kaum zu überschätzende Wirkung entfaltete 23 • Im 20 W. J. Bock, The homology concept, in: Zool. Beitr. N. F. 32 (1989), S. 327 -353; W. Maier, Erkenntnisziele einer organismischen Biologie - unter besonderer Berück-
sichtigung der Strukturforschung, in: W. Maier, T. Zoglauer (Hrsg.) Technomorphe Organismuskonzepte - Modellübertragungen zwischen Technologie und Biologie, Problemata, Stuttgart 1993. 21 J. W. v. Goethe, Erster Entwurf einer allgemeinen Anatomie, in: J. W. v. Goethe, Sämtliche Werke 39 (hrsg. E. v. der Hellen), Stuttgart & Berlin 1907, S. 141-151. 22 So führt noch 1937 Adrian aus, daß er vom Hirn des Gelbrandkäfers EEGs "abnehme", um dann das EEG des menschlichen Gehirns besser interpretieren zu können; E. D. Adrian, Synchronized reactions in the optic ganglia of Dytiscus, in: J. Physiol. 91 (1937), S. 66-89. 23 E. Mendelsohn, Revolution und Reduktion: Die Soziologie methodischer und philosophischer Interessen in der Biologie des 19. Jahrhunderts, in: P. Weingart (Hrsg.),
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Rahmen seiner Schule - Müller selbst hatte seine Wissenschaftskarriere zunächst noch in einern naturphilosophisch getragenen Kontext begonnen (hatte er Hegel doch noch ein Exemplar seiner Dissertation dediciert) - entwickelte sich ein pragmatischer Materialismus, der sich methodologisch begründete 24 • Biologisch relevant war das experimentelle Datum, das denn auch nicht an sich, als "Einzelheit" sondern als Resultat eines in seinen Bedingungen präzise abgesteckten experimentellen Vorgehens registriert wurde. Damit wird für das Denken der Müller-Schule ein Physikalismus leitend, wie er die Physiologie bis heute bestimmt hat. Im Beginn dieser Entwicklung argumentiert nun einer der Müller-Schule, J. M. Schleiden, in einer Schrift" Schelling's und Hegel's Verhältnis zur Naturwissenschaft" explizit gegen einen naturphilosophischen Ansatz zur Beschreibung experimentalwissenschaftlich einzuholender Befunde 25 • In seiner Darlegung entwikkelt Schleiden eine radikale Ablehnung jeder Naturphilosophie. Interessant und für die Rezeption des philosophischen Denkens speziell in den Biowissenschaften bedeutsam ist hierbei, daß Schleiden der Philosophie keineswegs insgesamt kritisch gegenüberstand. Die methodologische Vorrede seines Lehrbuchs der Botanik ist über weite Teile ein Referat der Kant'schen Philosophie, allerdings in der Friesschen Fassung 26. Die Funktion der Philosophie liegt für ihn in einer methodologischen Prolegomena des naturwissenschaftlichen Handeins. Die Methodik des Empirikers ist, ebenso wie sein Beschreiben, der Kritik des Philosophen zu unterziehen. Eine ontisch-metaphysische Dimension wird dieser nur in ihrer kritisch sichtenden Funktion akzeptierten Philosophie aber nicht mehr zugestanden. Eine naturphilosophische Fundierung dessen, was in der Messung, unter dem Mikroskop Objekt wird, ist für den Empiriker unnötiger Ballast. Solch ein Philosophieren kann dem Experimentalwissenschaftler - Schleiden zufolge - nichts sagen. Entsprechend spricht Schleiden denn auch von den zwei Welten, der des Experimentalwissenschaftlers und der des (Schellingianischen) Naturphilosophen 27 • Beide Welten - so Schleiden - sind in sich inkompatibel, deren Angehörige können sich nichts sagen. So ist es für einen Experimentalwissenschaftler denn auch sinnlos, sich mit solch einer Naturphilosophie zu beschäftigen. Der Entwurf der Naturphilosophie wird von Schleiden als Gegenentwurf zu einer Naturwissenschaft verstanden. Kriterium für die Überprüfung der Validität der beiden Denkansätze ist die Praxis. Schleiden verweist - schon im Beginn Wissenschaftssoziologie II. Detenninanten wissenschaftlicher Entwicklungen, Frankfurt 1974, S. 241 ff. 24 Vgl. G. Koller, Johannes Müller, Stuttgart 1958. 25 M. J. Schleiden, Schellings' und Hegels' Verhältnis zur Naturwissenschaft (hrsg. O. Breidbach), Weinheim 1988. 26 M. J. Schleiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, 1. Theil, Leipzig 1845. 27 Schleiden, Verhältnis (FN 25), S. 52.
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der Entwicklung der modernen Biowissenschaft - auf den ihr möglichen Erfolg und die hierin zu findende Wertung einer naturwissenschaftlich geleiteten WeltSicht. Zwar sind wir nach den Erfahrungen der Moderne mit dem Pragmatismus der Naturwissenschaften gegenüber einer uneingeschränkt positiven Wertung gelinde gesagt verunsichert - zeigt sich doch ein entsprechender Erfolg unstreitig allein dann, wenn wir das in dieser Konzeption mitgelieferte Wertgefüge für eine Erfolgsmessung akzeptieren - , doch scheint zumindest innerbiowissenschaftlich die hier formulierte Argumentationsschiene bis in die Moderne hinein die Diskussions"basis" für eine Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie geliefert zu haben. Die wissenschaftshistorische Analyse der Entstehungsbedingungen der Schellingschen Naturphilosophie zeigte, daß diese Philosophie nur in ihrer Vernetzung mit der damaligen Naturwissenschaft adäquat zu begreifen ist, wonach diese Naturphilosophie ein notwendiges Moment in der Entwicklung der Biowissenschaften war. Es wäre nun falsch, in einer Diskussion der Argumentation Schleidens von der damaligen Wissenschaftssituation abzusehen und Schleidens Position als von diesem Kontext unabhängig zu kennzeichnen. Die auch wissenschaftspolitische Notwendigkeit, derart radikal zu argumentieren, wurde zumindest kurz angedeutet. Insofern ergibt sich aber auch, daß die weltanschauliche Position der Biowissenschaften sich aus der Tradition der Müller-Schule in Negation naturphilosophischer Positionen entwickelt hat. Hierbei steht die damalige, selbst noch aus einem philosophischen Kontext erwachsene Diskussion, wie sie sich exemplarisch an Schleidens Schrift aufweisen läßt, noch in einer philosophischen Tradition. Die Ablehnung der Naturphilosophie, die recht bald dann auch gegen jedes systematische Philosophieren gewendet wurde, bedingte in der historischen Folge dann aber eine weitgehende Abstinenz der Biowissenschaftler von naturphilosophischen Problemen, wie sie in der mathematischen Wissenschaft in dieser Schärfe nicht auftrat. In dieser Bescheidung verringert sich die Weite des Erfahrungsfeldes der Biowissenschaften. Die in ihr verwandten Begriffe verbleiben im Explikationshorizont der Disziplin. Resultat dieser Situation ist aber keineswegs eine klare Begriffswelt sondern vielmehr ein oft verwobenes Gefüge von Alltagsimplikationen und einzelwissenschaftlichen Begriffstraditionen. Ein rein falsifikatorisches Nachfassen der Kontingenz von Aussagen, wie es etwa im Sinne der Popperschen Theoreme auch einem Biowissenschaftler erlaubt scheint, kann die damit verlorene Dimension der bio-logischen Begriffswelt nicht auffüllen. Wenn ein moderner Neurobiologe den Versuch einer Philosophie, die Dimension solcher Termini wie Geist oder Person zu thematisieren, ablehnt, steht er in der Tradition der Schleidenschen Argumentation, explizit, wenn er dies der
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Philosophie mit Verweis auf ihre bisherige, eben keine Lösung erbringende Problemgeschichte abschlägt. Mit seiner Konsequenz, ,jetzt sind wir daran", knüpft er an den Pragmatismus der Müller-Schule an, demzufolge allein der Erfolg eines Tuns über die Dignität einer Handlung versichert 28 • Daß sich in der damit getroffenen Bescheidung auf das in der einzel wissenschaftlichen Methodik Handhabbare zunächst nur die Methodenbestimmtheit des empirischen Denkens demonstriert, wird in solch einer verkürzenden Rezeption der Schleidenschen Argumentation leider nur allzuoft vergessen.
v. Zu den Wurzeln? Ist es demnach aber notwendig, das Schellingsche Denken zu reaktivieren? Mir scheint ein solcher Versuch weniger im Verweis auf die Einzelaussagen dieser Philosophie, als vielmehr mit Blick auf den radikalen Anspruch des Schellingschen Philosophierens, nach dem die Naturwissenschaften in eine Naturphilosophie zu integrieren seien, von Interesse 29. Die diesbezügliche Diskussion bricht in der Biowissenschaft mit dem Schleidenschen Postulat ab: Der Gehalt der Biowissenschaft soll sich an ihrem Erfolg messen. In einer Vielzahl von Bereichen, angefangen von der Ökologie bis hin zur Analyse von Verhaltensfunktionen zeigen sich mittlerweile aber die Grenzen dieses Erfolges. Zugleich zeigt sich in diesen Bereichen die Notwendigkeit einer von den Einzelwissenschaften unabhängigen Bewertung ihres Tuns. Tritt die Naturwissenschaft hiermit aus der ihr zugewiesenen Welt heraus? Ist, dem Postulat der zwei Welten folgend, wirklich jede Brücke zwischen der spekulativen und der analytischen Position abgebrochen? Wir hatten die wissenschaftshistorische und wissenschaftspolitische Funktion dieser radikalisierten Pointierung gegen einen naturphilosophischen Ansatz schon besprochen. Eine nähere Analyse des direkten Anlaßes dieser Schrift Schleidens, die sich gegen einen Artikel des romantisch naturphilosophierenden Nees von Esenbeck richtete, der in einer Rezension das Botanik-Lehrbuch Schleidens verrissen hatte 30, zeigt denn auch, wogegen sich diese Kritik der Naturphilosophie im Eigentlichen richtete. Schleiden schrieb gegen die Adepten der spekulativen Philosophie die nun das Einzelne aus den Prinzipien eines vorausgesetzten Systems der Naturphilosophie zu konstruieren suchten, und sich im Zweifelsfall denn auch - mit Hegel- für das Konstrukt und gegen die "Sache" entschieden. In einer differenzierten Analyse ist die Pointierung der Schleidenschen Kritik demnach detaillierter nachzuzeichnen. Wollen wir die Diskussion um eine Naturphilosophie wieder G. Wolf, Rezension, in: Spektrum d. Wissenschaften, September (1993), S. 114. O. Breidbach, Schleidens Kritik an der spekulativen Naturphilosophie, in: Schleiden, Verhältnis (FN 25), S. I-56. 30 N. v. Esenbeck, Rezension, in: Neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 2, 116 (16.5.1843), S. 473-476. 28
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aufnehmen, ist demnach denn auch der in dieser Polemik eher verlorene Faden einer Diskussion wieder aufzunehmen. Mit der Proklamation der zwei Welten war der Einzelwissenschaftler in der Folge Schleidens einer philosophischen Reflexion seines Tuns enthoben; das "Ignorabimus" eines Du Bois-Reymond 31 , das den Pragmatismus denn auch weltanschaulich in seiner Unverbindlichkeit sicherte, tat ein Übriges daran, die weitere Diskussion dieser Problemlage gegenstandslos zu machen. Will sich eine Naturphilosophie konstituieren, muß sie demnach wieder an dem zunächst verschütteten Diskussionsstand des beginnenden 19. Jahrhunderts ansetzen. Damit steht sie in zweierlei Hinsicht auf dem Prüfstand, es fragt sich zunächst noch einmal nach der Berechtigung der Schleidenschen Argumentation. Des weiteren hat sich aber auch innerphilosophisch zu entscheiden, ob und inwieweit sich der gewonnene Standpunkt der Schellingschen Philosophie zu relativieren hat. Diese Frage kann heute - knapp 200 Jahre nach diesem Entwurf - nicht mehr mit Blick auf die als wissenschafts geschichtlich eingebunden aufgewiesenen Detaillierungen dieser Philosophie interessieren, vielmehr ist der Grundansatz dieses Philosophierens zu diskutieren. Mit Blick auf die referierten einzelwissenschaftlichen Positionen muß hierbei vor allem eines interessieren: Kann eine Naturphilosophie mit dem Anspruch antreten, die Einzelwissenschaften in ihren Kanon von Aussagen zu integrieren und nicht nur zu reflektieren? Damit verbunden stellt sich die Frage nach der Dignität des emprischen Befundes. Was nimmt die Einzelwissenschaft überhaupt als "empirisch" auf? Die Einzelheiten sind für die Einzelwissenschaft an sich, als individuelle Befunde, ohne Interesse. Sie interessieren nur als Explikation eines Entwurfes, in dem diese Einzelheiten als SpezifIkationen eines in seiner Gesetzmässigkeit erkannten Zusammenhanges erscheinen. So redet die Naturwissenschaft nicht von Individuen, sondern sie faßt die Individuen nurmehr als Individuationen eines Allgemeineren, das allein ihr mit ihrer Methodologie zugänglich ist. Redet die Einzelwissenschaft dann aber noch von den Dingen, die sie in ihren Befunden meint abbilden zu können, oder redet sie hiermit dann nurmehr noch von sich und ihrem Aussagengefüge, das sie in ihre Befundssitutation nurmehr hineinprojiziert? Muß eine Theorie der Natur sich aber nicht der Individualität, den Einzelheiten versichern, in denen sich ihr die Natur expliziert, oder sind entsprechende Überlegungendie eine Realität des Einzelnen als Bedingung einer Generaliserung von Aussagen über diese Natur und damit die Möglichkeit einer (in einem naiven Sinne als empirisch verstandenen) Naturwissenschaft voraussetzen - von vorneherein zu diskreditieren? Kann eine Naturphilosophie ohne diesen Anspruch, den Bezug von Teil und Ganzem zu thematisieren, formuliert werden? Ist eine Naturphilosophie möglich, die die Natur nicht selbst zum Thema hat? 31
Du Bois-Reymond (FN 5), S. 77.
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Detailfragen, wie der Gehalt des romantischen Organismusbegriffs, sind demgegenüber vor allem aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive, in der auch historisch fundierten Analyse unseres heutigen Begriffsgebrauchs von Interesse. So sind in dem mit dem Begriff "Organismus" thematisierten Problem, in der von Schelling explizierten Schichtung von Weltorganismus und biologischem Organismus, Argumentationsschienen aufzuweisen, die im Zusammenhang der Diskussion um die Ökologie und den in ihr verwandten Systembegriff wieder aufgenommen zu sein scheinen. Eine Analyse der Struktur der Schellingschen Theorie kann hier helfen, diese Argumentationslinien und die damit verwobenen Implikate klarzustellen, die etwa der Gaia-Theorie oder dem Entwurf eines ,ökologischen Denkens' (nach Bateson) zugrunde liegen 32 • Das zentrale Moment für die Diskussion um die Möglichkeit und den Sinn einer Naturphilosophie bleibt aber die Frage, ob und wie eine Einzelwissenschaft in den Kontext solch eines naturphilosophischen Entwurfes einzubinden ist. Schelling faßt das Einzelne aus dem Ganzen seiner Naturkonzeption. Ganz im Sinne der Befundssituation der modernen Kernphysik, exemplifiziert das Experiment nurmehr den Vorhersageerfolg eines Explikationshorizontes und verifiziert demnach in der Einzelaussage einen ganzen, zu dieser Ausssage führenden Theoriekontext. Das Experiment ist insofern jeweils ein Test des Theoriegefüges. In diesem Sinne begreift denn auch Schelling die Empirie, faßt ihre Kontrolle aber nicht nur bezogen auf den Horizont der jeweiligen Einzelwissenschaft, sondern begreift das Experiment denn auch als Kontrollinstanziierung gegenüber den Aussagen seiner Naturphilosophie. Sein Entwurf ist demnach bei den Dingen, in ihm re-konstruiert sich die Natur. Das Experiment ist - seinem Denken zufolge - demnach nicht nur der Testboden für die empirische Wissenschaft, es erlangt seine Bedeutung auch für den Grundansatz seiner Philosophie 33 • Hierin interessiert die im Experiment analysierte Natur nicht nur insoweit, wie sie in einer unter methodologischer Beschränkung gewonnenen Folge von Protokollsätzen gefaßt werden kann, philosophisch interessiert das Individuelle, ,in' dem sich ein etwaiges Experiment "ereignet". Dies Individuelle wird in den Naturwissenschaften nicht thematisiert. Sie fangen das Einzelne, wie etwa T. Kuhn aufwies 34 , nur als Widerhall der ihnen in einem Stadium ihrer Eigenentwicklung "plausiblen" Theoriekonstellation. Ist dieser Reflex einer Theoriekonstellation, die Verdinglichung der einzelwissenschaftlichen Methodologie, das Artefakt eines Meßinstrumentariums, aber Natur? Im Gegensatz zu der an ihre methodologischen Scheuklappen gebundenen Naturwissenschaft kann die Naturphilosophie auf dies Einzelne reflektieren. Sie muß, will sie über Natur Aussagen treffen, das Individuelle vor und außer der
32 33 34
G. Bateson, Geist und Natur, Frankfurt 1987. Schelling (FN 16) S. 277. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1978.
Ein möglicher Dialog Schellings mit der modemen Biologie
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naturwissenschaftlichen Beschreibung zu begreifen suchen. Da ihr dies Einzelne aber immer erst aus dem Datenhorizont der Naturwissenschaft verfügbar wird, hat sie dies aus dem Kanon der Wissenschaftsaussagen zu "destillieren". Die Naturphilosophie muß demnach die Regeln des naturwissenschaftlichen Denkens beherrschen; sie muß die Transformationen rekonstruieren, über die ein Befund in den Aussagenkontext der Naturwissenschaft Eintritt findet. Solch eine Naturphilosophie hat die Naturwissenschaften zu integrieren. Entsprechend dem Schellingschen Anspruch steht diese Naturphilosophie also vor - im Sinne ihrer logischen Dignität - der Naturwissenschaft. Ist überhaupt eine andere Naturphilosophie möglich? Kann eine Naturphilosophie entworfen werden, die ihren Gegenstandsbereich, die Natur, nicht thematisiert? Die Antwort hierauf ist wohl eindeutig. Solch eine Naturphilosophie kann sich demnach auch nicht die Aussagen der Einzelwissenschaften als Leitstrukturen für ihr Philosophieren nehmen, sie hat vielmehr selbst ihren Problemhorizont zu eröffnen und zu fragen, ob es möglich ist, die Natur als nicht naturwissenschaftlich vorstrukturierte Datenvielfalt zu thematiseren. Ist solch eine Naturphilosophie aber überhaupt notwendig?
VI. Scientaler Fundamentalismus? Es schien sinnvoll, die benannten Fragen zur Konstituierung einer Naturphilosophie im Rekurs auf Schelling anzugehen, formulierte doch Schelling den ersten und bisher einzigen Versuch einer Philosophie, die ihren Gegenstandsbereich, die Natur derart ernst nahm. Eine Behandlung dieser Thematik steht damit allerdings auch im Kontext der Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik. Das argumentative Probing einer sich ontisch definierenden Naturwissenschaft, die aus ihrer Existenz ihre Dignität ableitet, könnte - in Fortführung der Schleidensehen Argumentationsfigur der zwei Welten - einen hier ansetzenden Dialog unterbinden. Doch scheint - im Blick auf die eben auch schon post-moderne Wissenschaftslandschaft - die Verifikation über den Erfolg solch eine Argumentation nur bedingt zu munitionieren. Die Selbstreflexion eines in seinen methodologischen Barrieren auch erstarrungsfähigen Wissenschaftsdiskurses führt dazu, die Stellung der sich vordem noch positivistisch zeichnenden Naturforschung zu relativieren. In dem Versuch, sich zu begründen, verbleibt die Naturwissenschaft in dem von ihr momentan akzeptierten Theoriegefüge; Befunde werden nur dann zu Daten in dieser Wissenschaft, wenn sie in der von dieser Theorie strukturierten Methodologie gefaßt werden können. Fundiert, und damit in seiner Qualität bestimmbar, wird dies in sich kontingente Gefüge von Aussagen dieser Wissenschaft aber erst dann, wenn es sich im Einzelnen findet. Erst dann, wenn die Naturwissenschaft ihren Naturbezug explizieren kann, ist sie real in dem Sinne, wie es die skizzierte, weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende Argumentationslinie des pragmatischen Materialismus zu vermitteln scheint. Ein Fundament erhal10*
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ten die Aussagen der Wissenschaft nur in re. Dies Fundament kann nicht aus diesen, ihre methodologische Beschränkung tragenden Aussagen selbst erwachsen; es läßt sich allein in einer Theorie der Natur finden. Liegt etwas an solch einer Sicherheit, in der sich die Aussagen der Naturwissenschaft dann als in der Natur gegründet fassen können, dann wird Naturphilosophie sinnvoll.
Selbstorganisation und Reduktionismus Von Man/red Stäckler, Bremen
I. Fragestellung Die verschiedenen neuen Theorien zur Selbstorganisation der Materie I haben zu ganz unterschiedlichen naturphilosophischen Deutungen Anlaß gegeben. Insbesondere ist die Beziehung zwischen Reduktionismus und Selbstorganisation umstritten. In einer konservativen Interpretation wird die Selbstorganisation der Materie als Schlußstein eines materialistischen Weltbildes aufgefaßt, da sie neue Möglichkeiten der Reduktion des Organischen auf das Anorganische biete. So sieht Karl R. Popper 2 das Verdienst von Ilya Prigogine darin, daß durch seine Arbeiten erste Schritte zum Verständnis der Entstehung komplexer Strukturen möglich waren. Ebenso ordnet Roger Faber 3 Prigogines Theorien als Erfolg in ein reduktionistisches Programm ein. Eine ähnliche Auffassung vertritt Bemulf Kanitscheider 4 • Auf der anderen Seite gibt es die revolutionäre Interpretation. So betont Paul Davies 5 die kollektiven, kooperativen, organismischen Aspekte der Selbstorganisationstheorien und ordnet sie in eine synthetische, holistische, jedenfalls nicht in eine analytische und reduktionistische Tradition ein. Diese Auffassung haben Erich Jantsch und Fritjof Capra populär gemacht 6 • Ähnlich betont das Jahrbuch "Selbstorganisation" in einem Geleitwort zum ersten Band: "Mit dem Paradigma ,Selbstorganisation ' wird eine grundsätzliche Kritik am mechanistischen Weltverständnis und seinem natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Reduktionismus vollzogen." Der Verdacht liegt natürlich nahe, daß diese gegensätzlichen Auffassungen vor allem auf einem unterschiedlichen Verständnis von Reduktionismus beruhen. Ich möchte mich bei der Diskussion dieser Frage auf das Verhältnis von Physik I Vgl. die Übersicht im Vorwort zu Wolfgang Krohn / Günter Küppers (Hrsg.), Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig / Wiesbaden 1990. 2 Karl R. Popper, The Open Universe, London 1982, S. 174. 3 Roger Faber, Clockwork Garden, Amherst (Mass.) 1986, S. 137. 4 Bernulf Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993, S. 163 f., S. 205. 5 Paul Davies, The Cosmic Blueprint, New York 1988, S.2 (dt.: Prinzip Chaos, München 1988). 6 Erich lantsch, Die Selbstorganisation des Universums, München 1979; Fritjoj Capra, Wendezeit, Bem 1987 (15. Auflage).
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und Biologie beschränken. In meinem Beitrag sollen vor allem die beiden folgenden Fragen beantwortet werden: Was versteht man unter Reduktionismus? Ist die Physik vollständig genug, um auch die Erklärung der Entstehung komplexer materieller Systeme bis hin zu Lebewesen zu enthalten? Ich möchte mich hier auf diese theoretischen Fragen beschränken, obwohl die Debatte um den Reduktionismus vor allem durch praktische Fragen zum modernen Wissenschaftsverständnis und seinen ökologischen Folgen angeheizt wird. Eine theoretische Position wird nämlich nicht schon deshalb falsch, weil einige ihrer Anhänger daraus Konsequenzen ziehen, die man aus moralischen Gründen ablehnt. Mein Thema ist also das Verhältnis von Physik (als Theorie der unbelebten Materie) zur Biologie. Die Frage, ob Biologie auf Physik reduziert werden kann, 7 möchte ich aus der Sicht einer analytisch orientierten Wissenschaftsphilosophie angehen und dabei insbesondere die Rolle der Selbstorganisationstheorien untersuchen 8. Dabei wird sich zeigen, daß die naturphilosophischen Konsequenzen der Selbstorganisationstheorien oft falsch eingeschätzt werden. In dieser Klärungsarbeit besteht auch mein Beitrag zu dieser Tagung, die die Beziehungen zwischen Schelling und den Selbstorganisationstheorien zum Thema hat. Heute wie zur Zeit Schellings steht eine "mechanistische" Naturauffassung im Zentrum der Kritik. Im letzten Abschnitt werde ich skizzieren, warum ich vor dem Hintergrund einer reduktionistischen Interpretation der Selbstorganisationstheorien den Beitrag von Schellings Philosophie zur naturphilosophischen Deutung dieser neuen Entwicklungen der Naturwissenschaften für nicht allzu bedeutend halte.
11. Reduktionismus Was versteht man unter Reduktionismus? Das Wort "Reduktionismus" verbreitet sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts 9. Mit ihm werden aber alte Probleme des Mechanismus und des Materialismus wieder aufgegriffen. Generell geht es beim Reduktionismus um Behauptungen von dem Typ, daß Aussagen der einen Art auf Aussagen der anderen Art zurückführbar sind, daß etwa seelische Vorgänge auf materielle Prozesse zurückgeführt werden könnten, daß die Sprache der 7 Zur Einführung vgl. Zdzislaw Kochanski, Kann Biologie zur Physiko-Chemie reduziert werden? in: Bemulf Kanitscheider (Hrsg.), Materie - Leben - Geist, Berlin 1979, S.67-120. 8 Ich stütze mich dabei auf Material aus meinem Aufsatz Reductionism and the New Theories of Self-Organization, in: Gerhard Schurz, Georg J. W. Dom (eds.), Advances in Scientific Philosophy, Amsterdam 1991, S. 233-254. 9 Vgl. meinen Artikel "Reduktionismus" im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von G. Ritter und K. Gründer, Bd. 8, Basel 1992.
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Moral auf Imperative reduziert oder daß Ethik und Erkennistheorie durch Soziologie, Psychologie oder Verhaltensbiologie ersetzt werden könnten. Im Zentrum steht die These, daß das Verhalten komplexer Systeme durch das Zusammenwirken von deren Bestandteile erklärt werden kann. Dies betrifft vor allem das Verhältnis des Organischen zum Anorganischen, des Psychischen zum Physischen und der Gesellschaft zum Individuum. In einem kleinen historischen Exkurs zum Begriff der Emergenz möchte ich deutlich machen, daß die Diskussion um den Reduktionismus schon immer von der Auseinandersetzung mit den empirischen Wissenschaften geprägt war 10. Von John Stuart Mill stammt eine wichtige Unterscheidung. In seinem System of Logic (1843) untersucht er die Gesamtwirkung in Abhängigkeit von der Art der Zusammensetzung der Ursachen. In einem typischen Fall der Mechanik, der Addition zweier Kräfte, ist die Gesamtwirkung gerade die Summe der Einzelwirkungen. Im Falle chemischer Reaktionen kann die Zusammenfügung zweier ,Ursachen' aber ganz unerwartete Wirkungen haben. Die Kombination des Metalles Natrium mit Chlorgas hat als Ergebnis Kochsalz, das wesentlich neue Eigenschaften gegenüber seinen Komponenten hat. G. H. Lewes (1874) nannte solche Eigenschaften dann emergent. Man muß sich klarmachen, daß in dieser Zeit keine Chance bestand, chemische Reaktionen mit Hilfe der Physik zu verstehen. Erst 50 Jahre später lieferte die Quantentheorie dafür die Grundlagen. Eine neue Phase der Diskussion um den Emergenzbegriff und das Problem des Reduktionismus eröffnete die Bewegung des sog. "Emergenten Evolutionismus" (C. Lloyd Morgan / C. D. Broad). Hier ging es vor allem um die Frage, wie in der Evolution der Arten Neues entstehen kann. Zu solchen Reflexionen über neue Entwicklungen in den Naturwissenschaften kamen in den 40er Jahren auch philosophische Diskussionen. Wichtig wurden insbesondere die logische Analyse des Erklärungsbegriffes und seine Übertragung auf die Reduktion von Theorien. Richtungsweisend ist dabei, daß das Verhältnis des Organischen zum Anorganischen über die Beziehung einzelwissenschaftlicher Theorien geklärt wird. Die ursprüngliche Frage nach dem Verhältnis von Organischem zu Anorganischem wird also übersetzt in die Frage, ob Biologie durch Physik erklärt werden kann. Nachdem das Erklärungs- und Reduktionsproblem im Bereich der analytischen Wissenschaftsphilosophie zunächst vor allem sprachintem und logischanalytisch diskutiert wurde, kam es 1958 in einem gewissen Sinn zu einer Wiederbelebung der naturphilosophischen Frage nach dem Verhältnis von Physik und Biologie. 1958 formulierten P. Oppenheim und H. Putnam ein klassisches reduktionistisches Programm I'. Die Wurzeln dieses Programms liegen u. a. in der von 10 Die Quellenangaben für das Folgende finden sich in dem in FN 9 genannten Artikel und in Man/red Stäckler, Emergenz. Bausteine für eine Begriffsexplikation, Conceptus XXIV (1990), Nr. 63, S. 7 -24. 11 Paul Oppenheim / Hilary Putnam, Unity of Science as a Working Hypothesis, in: H. Feigl, M. Scriven, C. Maxwell (eds.), Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Vol. 11, Minneapolis 1958, S. 3-36.
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R. Carnap und O. Neurath propagierten Idee der Einheit der Wissenschaft. Es
stützt sich auf einen Reduktionsbegriff, der an dem Reduktionsmodell der Erklärung orientiert ist und der mit Hilfe einer Teil-Ganzes-Relation Theorien für verschiedene Stufen oder Schichten der Realität verbindet. Diese Idee der Mikroreduktion wird verknüpft mit einer kosmogonischen Evolutionshypothese. Der auffallende Optimismus dieses Programms war u. a. durch die Erfolge der Molekularbiologie in den 50er Jahren motiviert.
Der Blick auf diese Schritte der Problementwicklung macht deutlich, daß die Diskussionen immer wieder von Fortschritten biologischer Forschung beeinflußt wurden und sich dabei die Bedeutung von Reduktionismus veränderte. Ohne einen klaren und fixierten Begriff von Reduktion und Reduktionismus kann unsere Hauptfrage nicht beantwortet werden. In systematischer Perspektive besonders nützlich ist eine Unterscheidung, die F. J. Ayala 1974 vorgeschlagen hat. Ich will sie hier in variierter Form übernehmen 12. Der Hauptpunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen einem ontologischen und einem methodologischen Reduktionismus. Damit werden Probleme der Beziehungen auf der Objektebene, die als unabhängig davon angesehen werden, wie der jeweilige Stand der Wissenschaft ist und was zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich reduziert werden kann, von Fragen der Forschungsmethodologie und Wissenschaftsorganisation abgetrennt.
Ontologischer Reduktionismus: Den Lebensphänomenen liegen materielle Objekte (bzw. materielle Prozesse) zugrunde, der Vitalismus ist falsch. Auf den höheren Organisationsebenen der Materie gibt es keine neuen Prinzipien, zusätzlichen Stoffe oder fundamental neue Naturgesetze. Die fundamentalen Gesetze der Physik liefern eine (im Prinzip) vollständige Beschreibung der gesamten Natur.
Methodologischer Reduktionismus: Alle Erklärungen komplexer Systeme müssen von den Konstituenten ausgehen. Auch methodologisch soll der Biologie keine Autonomie zugebilligt werden. Die Methode der Physik einfacher Systeme ist die einzig wirklich wissenschaftliche Methode.
Wertender Reduktionismus: Eine Reduktion impliziert eine Abwertung. Was reduziert ist, ist weniger wert: " ... reductionism . . . is a moral failing ... " 13 Diese Unterscheidung muß erläutert werden. F. J. Ayala hat als weitere Variante den epistemologischen Reduktionismus eingeführt, bei dem es um die Frage 12 Vgl. F. J. Ayala in seiner Einleitung zu F. J. Ayala I T. Dobzhansky (eds.), Studies in the Philosophy of Biology, Berkeley 1974, S. VIII f. 13 R. Nozick. Philosophical Explanations, Oxford 1981, S.628. (Die Kategorie des Wertenden Reduktionsmus habe ich hinzugefügt.).
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geht, ob die Theorien der Biologie tatsächlich aus den Theorien der Physik ableitbar sind. Der epistemologische Reduktionismus schließt den ontologischen ein. Da ich glaube, daß die Gründe, die ein ontologischer Reduktionist gegen die epistemologische Variante vorbringen kann, nur pragmatischer Art sein können, ist die Zugangsweise des epistemologischen Reduktionismus für meine Fragestellung nicht fruchtbar, zumal die Konzentration auf durchgeführte Theoriereduktionen eine zu starke Abhängigkeit vom aktuellen Stand der Wissenschaftsentwicklung zur Folge hat. Meine Explikation des ontologischen Reduktionismus ist von der Idee der Einheit der Naturgesetze 14 geprägt. Damit mache ich relativ starke erkenntnistheoretische Voraussetzungen, die es z. B. erlauben, von der Geltung von Gesetzen zu sprechen, auch wenn diese im einzelnen nicht aufgezeigt werden kann. Um die Wertfrage will ich mich hier nicht kümmern, da sie für theoretische Fragen nicht entscheidend ist. Im Folgenden versuche ich, die These zu begründen, daß auch angesichts der Selbstorganisationstheorien (oder gerade wegen der Selbstorganisationstheorien) ein ontologischer Reduktionismus verteidigt werden kann. Nicht haltbar ist dagegen der methodologische Reduktionismus. Das Scheitern des methodologischen Reduktionismus in der Biologie scheint mir evident und unbestritten (vgl. Abschnitt D). 111. Theorien der Selbstorganisation Die Klärung des Reduktionismusbegriffes hat gezeigt, daß die Frage der Reduzierbarkeit von Biologie auf Physik auch in der Vergangenheit von faktischem Wissen über die Natur abhing und nicht ,am grünen Tisch' der Philosophen entschieden werden kann. Nach den begrifflichen Vorklärungen müssen wir jetzt einen kurzen Blick auf drei Beispiele von Selbstorganisationstheorien werfen.
1. Thermodynamik irreversibler Prozesse fern vom Gleichgewicht (I. Prigogine) Nach dem Entropiesatz, der die zeitliche Zunahme der Zustandsgröße Entropie behauptet, schien die Entstehung des Lebens, oder überhaupt die Entstehung von Ordnung in der Welt, den Gesetzen der Physik zu widersprechen. Es gab verschiedene Versuche, diesen Widerspruch zwischen den Gesetzen der Physik und den Phänomenen des Lebens zu beseitigen. Wichtige Fortschritte gelangen dabei Ilya Prigogine und seiner Arbeitsgruppe. Sie erweiterten den Anwendungsbereich der Thermodynamik auf Systeme fern des Gleichgewichts. Die Entstehung von Struk14 Reiner Hedrich. Komplexe und fundamentale Strukturen, Mannheim 1990, S. 29, trifft die Unterscheidung anders und bringt die Naturgesetze erst im epistemologischen
Reduktionismus ins Spiel.
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tur und Ordnung konnte auf der Basis der neuen Formeln annäherungsweise verstanden werden. Wichtig ist dabei das Wechselspiel einer mechanischen Beschreibung aufgrund fundamentaler Naturgesetze und einer thermodynamischen Beschreibung, die nicht mehr auf die Details der Objektsysteme eingeht, da diese Details erstens unwichtig sind und zweitens ihre Berücksichtigung zu einer Komplexität der Formeln führen würde, die nicht mehr beherrschbar ist. Thermodynamische Methoden sind so etwas wie Beschreibungen in einer vereinfachten Sprache. Metatheoretische Überlegungen der an diesem Programm beteiligten Physiker zeigen, daß sie ihre Verfahren durchaus im Rahmen eines Reduktionismus sehen: "Far from being outside nature, biological processes follow from the laws of physics, appropriate to specific nonlinear interactions and to conditions far from equilibrium." 15
2. Synergetik Einen anderen Ausgangspunkt hatte Hermann Haken. Er untersuchte, wie aus der mikroskopischen Beschreibung eines Lasers (als Ansammlung strahlender Atome) die makroskopische Beschreibung des Lasers mit seinem speziellen, hochgradig geordneten Licht entsteht. Wie kann man die makroskopischen Eigenschaften des Lasers durch die Wechselwirkung zufällig strahlender Atome erklären? Nach der anschaulichen Formulierung kooperieren Laser-Atome, um eine stehende Welle auszubilden. Mathematisch steht dahinter eine Theorie, die zeigt, wie ein umfangreiches, äußerst kompliziertes System von gekoppelten, nichtlinearen Differentialgleichungen näherungsweise gelöst werden kann 16. Der Kern der Laser-Theorie besteht gerade in solchen mathematischen Methoden. Die Laser-Theorie verbindet also zwei Ebenen der Beschreibung. Dabei gelingt ihr eine Reduktion, wobei allerdings erhebliche Approximationen notwendig werden. Zweifellos ist aber dieses Ergebnis ein schönes Beispiel für eine ,mechanistische' Erklärung der Entstehung von Ordnung.
3. Theorien der molekularen Evolution Aus einer Eizelle können sich nach einer Teilung zwei vollständige Embryonen entwickeln. Diese bemerkenswerte Eigenschaft führte H. Driesch zu der Auffassung, daß für einen solchen Vorgang keine mechanische Erklärung existiere und man deswegen eine spezielle Lebenskraft postulieren müsse, die er Entelechie nannte. So waren es immer wieder Lücken in der Erklärungskraft der Biologie, die zu allgemeinen antireduktionistischen Behauptungen führten. Dies gilt insbe15 Gregoire Nicolis / Ilya Prigogine, Self-Organization in Nonequilibrium Systems, New York 1977, S. 14. 16 Hermann Haken, Synergetik, Berlin 1982, S. 235 f. Da auf diesem Symposium H. Haken die Synergetik selbst vorgestellt hat, kann ich mich auf eine kurze Charakterisierung beschränken.
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sondere auch für die Entstehung des genetischen Codes. Es schien, als ob die Entstehung des Lebens ein so unwahrscheinliches Ereignis darstelle, daß es eigentlich nicht mehr als Ergebnis eines natürlichen Prozesses verstanden werden könnte. Hier wird eine Theorie von Manfred Eigen wichtig, der Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie mit der Chemie der Proteine und Nukleinsäuren verbunden und in seiner Theorie des Hyperzyklus einen Modellweg zur Entstehung der biologischen Information entworfen hat 17. In dieser Theorie wird gezeigt, wie typische Prozesse der molekularen Evolution aus chemischen Reaktionsmechanismen entstehen. Das Selektionsprinzip wird explizit hergeleitet. Diese Theorien machen es plausibel, daß die Entstehung des Lebens im Rahmen physikalischer Theorien und chemischer Reaktionen verstanden werden kann: "An understanding of the basic principles of evolution as selforganization at the molecular level does not require ,new physics', but rather a derivable principle which correlates macroscopic phenomena with elementary dynamical behaviour." 18
4. Folgerungen für den Reduktionismus Wir haben hier drei Beispiele gesehen, in denen jeweils scheinbare Hindernisse gegen eine Reduktion von Biologie auf Physik durch neue physikalische und biochemische Theorien beiseite geräumt wurden. Wichtig ist dabei, daß diese neuen Theorien nicht neue fundamentale Wechselwirkungen und Naturgesetze in Anspruch nehmen, sondern eher raffinierte Anwendungen bekannter Naturgesetze darstellen. Dadurch wird ein wichtiges Ziel des ontologischen Reduktionismus erfüllt, der an der These festhalten will, daß die gleichen Naturgesetze im belebten wie im unbelebten Bereich gelten. Eine gelungene physiko-chemische Erklärung des Übergangs vom Nichtlebendigen zum Lebendigen ist ein wichtiger Baustein für eine Reduktionsbehauptung. Eigens Theorie des Hyperzyklus ist übrigens auch ein interessantes Bewährungsfeld für Theorien der Emergenz, also für die Frage, wie man das Entstehen neuer Eigenschaften verstehen kann. Vielleicht hat meine Darstellung bisher den Eindruck erweckt, als seien die Selbstorganisationstheorien in keiner Hinsicht revolutionär oder überhaupt bemerkenswert. So weit will ich natürlich nicht gehen. Ich möchte allerdings betonen, daß durch sie keine neuen Gesetze und Prinzipien eingeführt werden. Was ist aber nun das Besondere an den Selbstorganisationstheorien? Meine These ist, daß diese Theorien neue Methoden zum Umgang mit komplexer Materie zur Verfügung stellen und damit Mechanismen für die Entstehung neuer Strukturen beschreiben. Sie sind eine Revolution im Bereich der Methoden, sie liefern aber nicht neue revolutionäre Gesetze der Natur. Wenn diese These stimmt, kann man 17 Man/red Eigen, The Hypercycle, Die Naturwissenschaften, 64 (1977), S. 541-565 (Part A), 65 (1978), S. 7 -14 (Part B), S. 341-369 (Part C). 18 Man/red Eigen, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Naturwissenschaften, 58 (1971), S. 516.
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weiter ontologischer Reduktionist bleiben, solange man damit nicht zugleich methodologische Reduktionsbehauptungen verbindet. Ein wichtiger Einwand gegen diese Position, nach der die Bedeutung der Selbstorganisationstheorien vor allem im Bereich der Methoden und derpragmatischen Einschränkungen unserer tatsächlichen Erklärungskapazität liegt, ist die Behauptung, es gäbe eigenständige Prinzipien der Selbstorganisation. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob mein Eindruck korrekt ist, daß von solchen Prinzipien der Selbstorganisation mehr in den populären Büchern als in den Forschungsarbeiten der Wissenschaftler die Rede ist. Das Selektionsprinzip ist wohl kein Kandidat für ein solches Prinzip, da es wenigstens im Rahmen der Theorien der molekularen Evolution bewiesen werden kann. Hermann Haken spricht zuweilen von "grundlegenden Prinzipien", insbesondere wenn ganz unterschiedliche Systeme durch analoge Gleichungen beschrieben werden können. Die genaue Analyse zeigt jedoch, daß hier nicht gemeint ist, daß spezielle Prinzipien die Prozesse verursachen. sondern nur, daß unterschiedliche fundamentale Wechselwirkungen in bestimmten Anwendungen zu ganz ähnlichen strukturellen Gesetzen führen 19. Eine solche Analogie besteht z. B. zwischen den Gleichungen für den Laser und für die Supraleitung. Die in der mathematischen Formulierung vorkommenden Terme werden dabei jeweils unterschiedlich interpretiert 2o• Die Feldgröße ist einmal die elektrische Feldstärke, ein anderes Mal die Wellenfunktion für das Elektronenpaar. Eine solche Strukturgleichheit erlaubt die Übertragung von Lösungsmethoden. Sie sagt aber nichts über gemeinsame Ursachen oder Gemeinsamkeiten in den Konstituenten aus. Ein ähnliches Beispiel sind vielleicht die Schwingungsgleichungen, die einmal für die Auslenkung einer Feder und zum andern für die Schwingungen in einem elektrischen Schwingkreis hingeschrieben werden können. Die Mathematik ist die gleiche, sie wird aber in den Anwendungsfallen unterschiedlich interpretiert. Ich denke, man sollte im Rahmen der Physik deutlich trennen zwischen fundamentalen Gleichungen wie den Einsteinsehen Feldgleichungen oder Maxwells Gesetzen der Elektrodynamik und Strukturgleichungen (oder Prozeß-Typ-Gesetzen), wie den Schwingungsgleichungen oder Formeln aus der Thermodynamik, die durch unterschiedliche materielle Prozesse realisiert werden können. Diese beiden Typen von Theorien haben für das Reduktionismusproblem nicht die gleiche Relevanz. Für die naturphilosophische Idee der nomologischen Einheit der Welt sind nur die fundamentalen Gesetze entscheidend. 19 Vgl. Hermann Haken, Synergetics Towards a New Discipline, in: H. Haken / M. Wagner (eds.), Cooperative Phenomena, S. 367: ..... that utterly different phenomena are governed by the same equations or, more generally speaking, by the same basic principles." S. auch Haken (FN 16), S. IX, und vor allem die Bemerkungen von Gerhard Vollmer, New Problems for an 01d Brain - Synergetics, Cognition and Evolutionary Epistemology, in: E. Frehland (ed.), Synergetics - From Microscopic to Macroscopic Order, Berlin 1984, S. 251 f. 20 Haken (FN 16), S. 246.
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IV. Pragmatische Einschränkungen des Reduktionismus Bei der bisherigen Darstellung des Sachverhalts erscheint es ziemlich unverständlich, warum die Selbstorganisationstheorien als Überwindung des Reduktionismus angesehen wurden. Antireduktionistische Interpretationen der Selbstorganisationstheorien haben jedoch auch ein gewisses Recht. Ich möchte jetzt zeigen, daß in diesen Selbstorganisationstheorien in methodologischer Hinsicht der Reduktionismus durchaus eingeschränkt wird. Dabei soll deutlich werden, daß diese Einschränkungen nur unsere praktischen Möglichkeiten betreffen, d. h. das, was wir mit den gegenwärtig vorhandenen Theorien, mit unseren mathematischen Möglichkeiten und in der uns zur Verfügung stehenden Zeit wirklich an Erklärungen zustande bringen können. In dieser pragmatischen Sicht gibt es verschiedene Einschränkungen des Reduktionismus 21 • Der klassischen Auffassung des Reduktionismus ging es vor allem um die Zurückführung der Gesetze auf die Gesetze einer anderen Theorie. In den komplexen Systemen kommt es aber meist entscheidend auf die Anjangsbedingungen und auf den Einzelfall an. Die Anfangsbedingungen können den Typ des Prozesses bestimmen. Bei chaotischen Systemen führen minimale Veränderungen des Anfangszustandes zu einem qualitativ verschiedenen Endzustand. Die Entwicklung eines Systems kann weiterhin entscheidend durch die Systemumgebung beeinflußt werden. So wird entscheidend durch die Umgebung mitbestimmt, welcher Teil der genetischen Information einer Zelle abgerufen wird. Komplizierte Netzwerke in Organismen verhindern eine lineare Kausalitätsanalyse. Das alles führt dazu, daß die erklärende Kraft der allgemeinen Naturgesetze bei der Analyse komplexer Systeme viel geringer ist als in der Physik einfacher Objekte. Im Umgang mit komplexen Systemen kommt es weniger auf das Ideal der vollständigen, detailtreuen Beschreibung als auf die Kunst der vereinfachenden Analyse komplexer Systeme an. Im Hinblick auf spezielle Zwecke ist oft nur die Funktionsweise eines Organs wichtig, während die genaue materielle Realisierung für viele Zwecke keine Rolle spielt. Aus pragmatischen Gründen führt man auch die verschiedenen Ebenen der Beschreibung ein. Gute Erklärungen müssen nicht auf der Ebene der Elementarteilchen ansetzen 22. Es kommt gerade darauf an, alle unnötigen Informationen wegzulassen, und dadurch die Beschreibung zu vereinfachen, aber dennoch so viele Details beizubehalten, daß noch interessante Aussagen über das System möglich sind 23. Es kommt also darauf an, im Hinblick auf bestimmte Zwecke die relevanten Größen und Parameter zu finden. Diese haben oft mit einer makroskopischen Ordnung zu tun. 21 Vgl. die ausführlichere Darstellung in M. Stöckler, Plädoyer für einen pragmatisch eingeschränkten Reduktionismus, in: Wolfgang Deppert (et al., Hrsg.), Wissenschaftstheorien in der Medizin, Berlin 1992, S. 157 -182. 22 Vgl. Hilary Putnam, Mind, Language and Reality, Cambridge 1975, S. 295-298. 23 Vgl. Hermann Haken, Cooperative Phenomena in Systems Far from Thermal Equilibrium and in Nonphysical Systems, Reviews of Modem Physics 47 (1975), S. 68.
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Erklärungen in der Biologie haben also eine Reihe von Besonderheiten gegenüber dem Standardfall der Physik. Bei physikalischen Problemen können die Randbedingungen in der Regel im Experiment hergestellt werden. In der Biologie geht es um Systeme, die sich selbst steuern. In der Physik muß man sich (anders als in der Biologie) in der Regel keine Gedanken machen, wie die Gegenstände, die man untersucht, entstanden sind (Ausnahmen sind die Kosmologie und die Geologie). Bei solchen speziellen Anforderungen sind die Möglichkeiten der tatsächlich durchführbaren Erklärungen sehr begrenzt. Man kann vielleicht einen prinzipiell denkbaren Weg zur Entstehung des Lebens angeben, die Information über den tatsächlichen Weg ist aber verlorengegangen. Die Reduktionsbehauptung kann aus historisch kontingenten Gründen nicht mehr durch Beschreibung des Prozesses der Entstehung des Lebens begründet werden. Die Reduktion von Biologie auf Physik ist praktisch nicht durchführbar. Atomistische Erklärungen der Details scheitern häufig an den begrenzten Möglichkeiten, Erklärungen wirklich hinzuschreiben. Der Werteverlauf von 1023 Variablen hat z. B. auf keinem Papierbogen Platz. In diesem Sinne ist der Reduktionismus ein utopisches Programm. Das ist aber keine Einschränkung eines ontologischen Reduktionismus, wenn die Grenzen der Reduktion durch die Endlichkeit der menschlichen Ressourcen bestimmt sind. Dafür hat man neue Methoden der Analyse komplexer Systeme entwickelt, etwa die Untersuchung von Langzeitverhalten oder Stabilitätsanalysen. Der ontologische Reduktionismus hilft in der Forschungspraxis wenig. Davon ist die philosophische Frage der Beziehung zwischen Organischem und Anorganischem aber nicht betroffen. In der Forschungspraxis sollten ontologische Antireduktionisten und ontologische Reduktionisten, sofern sie methodologische Antireduktionisten sind, zu dem gleichen Ergebnis kommen und jeweils schicht-und problem spezifische Methoden anwenden. Reduktionisten werden diese Praxis nur anders begründen als Antireduktionisteno Deswegen ist der Vorwurf, der Reduktionismus führe zu einer falschen und gefahrlichen Forschungspolitik, dann nicht gerechtfertigt, wenn man damit den ontologischen Reduktionismus in dem oben definierten Sinne meint. Was bleibt aber nach dieser pragmatischen Einschränkung vom Reduktionsmus? Es bleibt die kosmologische Idee der Einheit der Natur. Es bleibt der Traum, aufgrund weniger grundlegender allgemeiner Gesetze die Natur einheitlich verstehen zu können. In ähnlicher Weise bewahren die Selbstorganisationstheorien viele Verfahren und Einstellungen der mechanistischen Physik. Unter dem Eindruck neuer Theorien (etwa der Chaosforschung) hat sich die Konzeption des Mechanismus vielleicht gewandelt. Anschaulichkeit und Vorhersagbarkeit haben ihre zentrale Stellung verloren. Aber sein Kern, das Ideal der Mathematisierung und die Zielsetzung, so oft wie möglich in die "Black Box" hineinzusehen, haben ihre Kraft behalten 24.
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v. Ontologischer Reduktionismus und methodologischer Antireduktionismus: Ein Fazit im Hinblick auf Schelling Die Selbstorganisationstheorien scheinen so eher zu einer Wiederbelebung des Mechanismus als zu seiner fundamentalen Kritik zu führen. Die hier versuchte Verteidigung des Reduktionismus darf aber nicht so verstanden werden, daß auch die Methoden bei der Untersuchung komplexer Systeme reduktionistisch sein müßten. Ebensowenig wird behauptet, daß reduzierte Phänomene wegerklärt oder in ihrer Bedeutung geschmälert würden. Die Anwendung auf Schelling ist nicht so einfach, da er von ganz anderen philosophischen Voraussetzungen aus argumentierte als die heutige Wissenschaftsphilosophie. Sicher ist, daß Schelling in der heutigen Situation viel weniger Grund hätte, die reduktionistische Physiologie zu kritisieren als in der Wissenschaftssituation seiner Zeit. Begrenzungen der Erklärungskraft der physiologischen Chemie, die Schelling damals mit guten Gründen konstatierte, sind heute beseitigt 25. Andererseits war Schelling aber auch kein Vitalist. Die Anfragen, die er an die Physiologie seiner Zeit richtete 26, sind jedoch durch die gegenwärtigen Theorien zu einem großen Teil beantwortet. Durch die veränderte Situation in der Biochemie und der Physiologie wird eine unmittelbare Übertragung von Schellings Gedanken in die modemen Selbstorganisationstheorien 27 erschwert. Es gibt allerdings generelle Parallelen, insbesondere das Interesse am Verständnis von Lebensvorgängen und an der Geschichte der Natur. Darüber hinaus bleibt wenig Konkretes, das eine Brücke zwischen Schellings Programm einer Naturphilosophie im Rahmen und in Auseinandersetzung mit dem Idealismus und modemen mathematischen Konzepten in empirischen Selbstorganisationstheorien bauen könnte 28 • Diese Feststellung schmälert im übrigen nicht Schellings philosophiehistorische Bedeutung. Die Aufmerksamkeit, die seine Naturphilosophie gegenwärtig findet, scheint mir allerdings nicht immer allein durch das Gewicht seiner theoretischen Überlegungen erklärbar zu sein. 29 24 25
Vgl. B. Kanitscheider (FN 4), S. 164. Bernd Olaj Küppers, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und
ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt / Main 1992, S. 100 f. 26 Vgl. Marie-Luise Heuser, Schellings Organismusbegriff und seine Kritik des Mechanismus und Vitalismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 42 (1989) 2, S. 1736, und Bernhard Rang, Schellings Theorie des Lebens, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 169-197. 27 Eine enge Beziehung wird vor allem verteidigt in: Marie-Luise Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986. 28 Vgl. die zutreffenden Analysen in Küppers (FN 25), z. B. S. 82 f. und S. 115 f. 29 Vgl. Z. B. die anti szientistischen Motive in W. Schmied-Kowarzik, Die existentiellpraktische Einheit von Mensch und Natur. Zur Bedeutsamkeit der Naturphilosophie
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Manfred Stöckler
Die neuen Theorien der Selbstorganisation ergänzen - wohl auch im Sinne Schellings - das Bild einer Natur, die in dem Sinne geschichtlich ist, daß der heutige Zustand der Welt als Ergebnis eines Prozesses aufgefaßt wird, ähnlich wie der heutige Zustand der Alpen als Ergebnis eines Auffaltungsprozesses verstanden werden kann. Diese Auffassung von der Veränderlichkeit der Natur ist geistesgeschichtlich ziemlich neu. 30 Sie kann heute von der Kosmologie, vom Urknall über die Entstehung unserer Galaxis, des Sonnensystems und der Erde, bis hin zur Biologie, zur Entstehung des organischen Lebens auf unserem Planeten weitergeführt werden. Dies ergibt neue Möglichkeiten, die Vielfalt der Naturphänomene auf der Grundlage der Physik zu verstehen. In methodologischer Perspektive werden die Grenzen des Reduktionismus immer dann deutlich, wenn die Endlichkeit der kognitiven Ressourcen unsere Erklärungsmöglichkeiten einschränken. Diese pragmatische Begrenzung aufgrund der Endlichkeit des menschlichen Lebens zwingt aber nicht, die theoretische Behauptung des ontologischen Reduktionismus aufzugeben. Der Traum von der nomologischen Einheit der Natur ist noch nicht zu Ende. 31
Schellings für die Ökologiedebatte, in: R. Heckmann / H. Krings / R. W. Meyer (Hrsg.), Natur und Subjektivität, Stuttgart 1985, S. 375-389. 30 V gl. z. B. Dietrich von Engelhardt, Philosophie der Natur und romantische Naturforschung, in: Wolfgang Krohn / Günter Küppers (Hrsg.), Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig 1990, S. 21 f. 31 Ich danke Malte Ecker und Dr. Reiner Hedrich für kritische Hinweise.
Eine wissenschaftstheoretische Analyse der historischen Entwicklung der Chaos-Forschung Von Wilfried Kuhn, Gießen Zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses eines Forschungsgebietes ist es notwendig, dieses in inhaltlicher als auch methodischer Hinsicht zu charakterisieren und gegen andere Gebiete abzugrenzen. Hinsichtlich der Chaosforschung ist dies ein besonderes Problem. Es besteht darin, daß es sich bei der Chaosforschung um keine klar abgrenzbare Disziplin handelt, die durch ein eindeutiges empirisches Bezugsfeld durch disziplinspezifische methodologische Konzepte ausgezeichnet wäre. Im Gegenteil, es handelt sich um ein interdisziplinäres, mehr oder weniger stark vernetztes Forschungsfeld, dessen einzelne Komponenten unter den Aspekten Komplexität, Nichtlinearität, Rekursion, Selbstorganisation, Evolution etwas miteinander zu tun haben, jedoch in ganz unterschiedlichen Kontexten. Die Komplexitäts- oder Chaosforschung hat historisch ganz verschiedene Ausgangspunkte in Teilbereichen der Wissenschaft: in der Astronomie, klassischen Mechanik, Thermodynamik, Informationstheorie, Meteorologie, Biologie, Medizin und Soziologie. Ausgehend von diesen Bereichen hat die heutige Chaosforschung recht verschiedene Ausprägungen erfahren, die auch durch aktuelle Forschungstrends geprägt sind. Dabei haben sich Teilbereiche herausgebildet, die für sich eine partielle Autonomie beanspruchen. Dies sind: Deterministisches Chaos, Synergetik, Nichtgleichgewichtsthermodynamik, Fraktale Geometrie. Das disziplinübergreifende methodologische Prinzip ist die Rückbezüglichkeit des betroffenen Systems bzw. der Systemkomponenten auf sich selbst, die in verschiedenen Ausprägungen geschehen ist, als Nichtlinearität in den Grundgleichungen, Rückkopplung zwischen verschiedenen Systemkomponenten, Iteration, Rekursion, systemimmanente Verursachung, Selbstreferentialität der Systemfunktion oder Selbstorganisation. Die Komplexitätsforschung ist letztlich durch das Paradigma der Nichtlinearität als übergreifendes methodologisches Konzept charakterisiert. Diese Nichtlinearität zeigt zwei wesentliche Ausprägungen: 1. "Deterministisches Chaos", d. h. die Herausbildung einer komplexen Dynamik und komplexer räumlicher Strukturierung auf der Grundlage eines einfachen deterministischen Substrats; 2. Selbstorganisationsphänomene, d. h. Strukturbildung in Vielkomponentensystemen. 11 Selb