Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 10 (1999). Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis [1 ed.] 9783428501618, 9783428101610

Anders als jene epistemologische Krise, die sich mit der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie verbindet, markiert die

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 10 (1999). Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis [1 ed.]
 9783428501618, 9783428101610

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SELBSTORGANISATION

Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 10

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 10

1999

Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis Herausgegeben von Rainer-M. E. Jacobi

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis: Jahrbuch 1999 I Hrsg.: Rainer-M. E. Jacobi.- Berlin: Duncker und Humblot, 2000 (Selbstorganisation ; Bd. 10) ISBN 3-428-10161-8

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-10161-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufsätze Günter Kunert: Auf der Suche nach dem verlorenen Halt

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Hartmut Kuh/mann: Die Krise. Eine historische Intuition und ihre Krise . . . . . . . . . . . . . . .

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Dominic Kaegi: Was ist metaphysische Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Grätzel: Die Unschuld des Werdens und die Lust an der Vergänglichkeit. Zur Bedeutung von Nietzsches Zeitbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Burkhard Liebsch: Erinnerung an die Zukunft der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Barkhoff: Die Wiederkehr des goldenen Zeitalters - eine moderne Enttäuschung? Maschine und Tanz als Modelle selbstorganisierender Geschichte bei Kleist, Schiller und in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Riede/: Der Blick vom Mont Ventoux. Zur Geschichtlichkeil der Landschaftswahrnehmung bei Petrarca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Wolfgang Krohn: Die experimentelle Methode und die Gesellschaft der Neuzeit . .. . .... 153 Hans-Jürgen Krug: Sichtachsen .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. .. . 169 Richard Hoppe-Sailer: Verlust des Ortes. Zum Verhältnis von Geschichte und Wahrnehmung in neuen Werken der Kunst im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Emil Angehrn: Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruktion und historischer Sinn .. . ... . . ... . ... . ... .. . .. . ...... . ... .. . . ..... . . . . .. . .. .. .. .. . . . . .. .. ....... 217 Manfred Voigts: Weltgeschichte oder Augenblick? Messianische Zeit bei Franz Rosenzweig und Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Heinz-Jürgen Görtz: "Autobiographische Konfession". Franz Rosenzweigs Gedanke einer "erzählenden Philosophie" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Eveline Goodman-Thau: Sehen, Sein und Sagen. Zur Lesbarkeit religiöser Erfahrung . . 277

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Inhaltsverzeichnis

Johannes Beutler: Ereignis und Lied. Zur Menschwerdung nach dem Johannesprolog . . 309 Klaus Michael Meyer-Abich: Kosmisches Christentum in der Offenbarung des Johannes - Eine Vision der Hoffnung in historischer Emergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Ulrich H. J. Körtner: Die Entdeckung der Endlichkeit. Zur theologischen Herausforderung apokalyptischen Denkensan der Jahrtausendwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Rainer-M. E. Jacobi: Leben, Tod und Geschichte. Zu Viktor von Weizsäckers pathischer Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Karl-Friedrich Wessel: Homo temporalis oder Humanontogenetik als Geschichtsdiskurs . ............. . ...... . ...... . . . . . .................................... . ...... . ... 379 Friedrich Cramer: Persönliches Erleben und historische Erkenntnis: Der Fall der Berliner Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Edition

Niklas Luhmann: Tradition und Modernität. Über Beziehungen zwischen Religion und Wissenschaft. Herausgegeben und kommentiert von Rainer-M. E. Jacobi unter Mitwirkung von Rudolf Stichweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

Buchbesprechungen

Picht, Georg: Von der Zeit (Ann-Kathrin Hake) . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . .. . .. . . . . . .. . . . .. . . . 407 Wulf, Kirsten: Wettersturz. Gedichte 1993 - 1998 (Uwe Pörksen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Dewey, lohn: Die Suche nach der Gewißheit (Wolfgang Krohn) . . ........ . .. . . . ... . .. . 412 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Einführung Bedarf Wir benötigen Wunder weil es unübersichtlich zugeht im ernsten Dunkel der Geschichte: Verfolgte werden Verfolger und werden wieder verfolgt. Das kommt von der Lichtlosigkeit unseres Universums so sagt man so schwanken wir in eigener Sicht dahin wegen der Worte die alle auf uns gemünzt sind zum Lohn bleierne Währung die im Lande Nirgendwo gilt Es verbergen nämlich stählerne Schränke das bekannte Geheimnis fortwährend schwungvoll signiert mit Namen aber nicht unseren und das ist der Grund warum wir Wunder benötigen um zu überleben zwischen dauernd malmenden Welten. Günter Kunert 1

In doppelter Weise steht das zu Ende gehende Jahrhundert für einen markanten Wandel, der einen Abschied bezeichnet; nämlich den Wandel des Verständnisses von Natur und Geschichte. Der Abschied gilt dem Begriff von Natur und Geschichte: einem Begriff, der sowohl die Natur als auch die Geschichte in der Tradition substanzontologischen Denkens als bestimmbare und erklärbare Entitäten vorzustellen erlaubt. Dem Selbstverständnis neuzeitlicher Wissenschaft folgend, steht solche Bestimmbarkeit im Zeichen von Kausalität, Vorhersagbarkeit und AbgeschlossenheiL Die methodische Distanzierung des erkennenden Subjekts vom Gegenstand der Bestimmung gilt weniger als Mangel, denn als Zeichen eines interI Dieses Gedicht ist dem letzten noch in der DDR erschienenen Lyrik-Band entnommen (Unterwegs nach Utopia, Berlin I Weimar 1980). Die dort versammelten Gedichte entstanden in den Jahren !974bis 1977.

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Einführung

subjektiven, mithin objektiven Geltungsanspruchs. Natur und Geschichte erweisen sich solcherart als in Raum und Zeit gegeben; ihre Orte und Zeiten, ihre Zustände und Verläufe werden einer gleichsam äußeren und unabhängigen Beschreibung zugänglich. Nach Ursprung und Ziel, nach Abschluß und Grenze zu fragen, gilt als Ausdruck eines legitimen wissenschaftlichen Interesses. Die bis heute andauernde Diskussion um die epistemologischen Konsequenzen des Paradigmawandels in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts läßt die kulturelle Dimension dieses Abschieds ebenso erahnen, wie sie die Aufrechterhaltung klassischer geschichtsphilosophischer Topoi verständlich macht. Eine überraschende, wenn auch noch kaum gewürdigte Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Phänomen der Selbstorganisation zu. Von seinen ideengeschichtlichen Anfängen her markiert es in eigentümlicher Weise die Fragwürdigkeit begrifflicher Bestimmungen im Horizont der Transzendentalität von Raum, Zeit und Subjekt? Insofern mag es naheliegen, den heute für bestimmte naturwissenschaftliche Theoriebildungen stehenden Terminus der Selbstorganisation als Leitmetapher für den Wandel im Verständnis von Natur und Geschichte in Anspruch zu nehmen, zumal dieser zunächst und vor allem mit einer Entsubstantialisierung zu tun hat. Der damit einhergehende Begriffsverlust impliziert nicht nur eine Kritik herkömmlicher wissenschaftlicher Erklärungsmodi, sondern thematisiert die verborgene Herrschaftsstruktur des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Diese Herrschaft ist keine nur epistemologische, sie gilt gleichermaßen der Wirklichkeit und Zeitlichkeit des zum Objekt Bestimmten. Mit der Anerkennung der je eigenen Wirklichkeit und Zeitlichkeit des Anderen, die dem Denken und Begriff des Seiben immer schon entzogen ist, gerät die Inanspruchnahme der Selbstorganisation in einen neuen Kontext, der auch ihrem eigenen Selbstverständnis hilfreich zu sein scheint. Zur näheren Illustration jenes Wandels sei der Herrschaft des Begriffs das Affiziertsein vom Ereignis eines Geschehens gegenübergestellt. Diesem wird weniger die wissenschaftlich-objektive Erklärung einer Faktizität gerecht, als vielmehr die Erzählung eines Gewordenseins. Steht erstere für die Perspektive des unbeteiligten Beobachters, erwächst zweitere aus dem wieder-holenden Mitvollzug des Geschehens. Charakterisieren Bestätigung und Abgeschlossenheit die stimmige Erklärung, so sind es Kontingenz und Offenheit, in denen die Authentizität der Erzählung gründet. Den Terminus der Selbstorganisation in einem erweiterten Sinn als Leitmetapher für den Wandel des Natur- und Geschichtsverständnisses zu beanspruchen, findet seine Rechtfertigung in dem fundamentalen Perspektivenwechsel, der diesen Wandel kennzeichnet. Gegen die Annahme, daß Natur und Geschichte in Raum und Zeit gegeben seien, zeigt sich, daß Raum und Zeit in Natur und Geschichte sind. Natur und Geschichte befinden sich nicht im Horizont natur- und geschichtsloser 2 Vgl. hierzu die Bände 2 und 5 dieses Jahrbuches: Wolfgang Krohn/Hans-Jürgen Krug/ Günter Küppers (Hrsg.), Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften, Berlin 1992; Marie-Luise Heuser-Keßler/Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Schelling und die Selbstorganisation, Berlin 1994.

Einführung

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Räume und Zeiten, vielmehr sind Raum und Zeit selbst Formen und Erscheinungsweisen von Natur und Geschichte. So steht die Fragwürdigkeit des Anspruchs, in gültiger Weise Natur und Geschichte auf den Begriff bringen zu können, gleichermaßen für das grenzenlose Leid wie auch für die Verheißungen des vergehenden Jahrhunderts. Ausschlaggebend für die Konzeption des vorliegenden Bandes war indes eine bestimmte Besonderheit des Konzeptes der Selbstorganisation, die das Verstehen von Geschichte und Geschichtlichem in neuer Weise zu befördern verspricht. Insofern nämlich der Entwicklungsweg eines Prozesses von Entscheidungssituationen - sogenannten Bifurkationen - gekennzeichnet ist, deren Positionierung und Vollzugsweise selbst prinzipiell unbestimmbar bleiben, eignet ihm eine immanente Zeitlichkeit, die irreversibel und damit genuin historisch ist. Mit anderen Worten, die Geschichte eines natürlichen Prozesses ist in ihrer Individualität weder epistemologisch noch metaphysisch hintergehbar. Dies gründet zunächst in der Inkommensurabilität der Zustände vor und nach einer Entscheidung, wobei "Entscheidung" für den Vollzug eines den Prozeß konstituierenden Aktes steht, also im biologischen Bereich z.B. für Handlung, Bewegung, Wahrnehmung oder Denken. Es ist die prospektive Unbestimmbarkeit des Vollzugs der Entscheidung, die es unmöglich macht, einen späteren Zustand als kausale Folge eines früheren auffassen zu können. Kontingenz und Offenheit geschichtlicher Prozesse sind daher nicht Ausdruck mangelnden intellektuellen Vermögens, sondern der Eigentümlichkeit des Geschichtlichen selbst. Hiermit verbinden sich zwei bemerkenswerte Konsequenzen. Zum einen wird deutlich, daß die Gegenwart weniger eine Folge der Vergangenheit ist, als daß vielmehr die Vergangenheit- genauer das Bild der Vergangenheit - eine Folge der Gegenwart ist. Denn mit der vergangenen Gegenwart der Vergangenheit ist auch deren Zukunft verloren, deren Zukünftigkeit sich eben gerade nicht auf die Gegenwart gewordene Vergangenheit reduzieren läßt. Es macht die Ungeschichtlichkeit vieler Vergangenheitsbewertungen aus, die möglichen aber nicht verwirklichten Zukünfte der Vergangenheit zu ignorieren? Eine zweite Konsequenz betrifft den Zusammenhang von Technik und Geschichte. Angesichts der Unbestimmbarkeit von Entscheidungen zeigt sich, daß mit dem Erfolg von Berechenbarkeit und Planbarkeit notwendig ein Verlust von Geschichtlichkeit verbunden ist. Sofern Geschichtlichkeit als Attribut des Lebendigen gilt, erfährt das moderne Projekt einer technischen Perfektion des Lebens seine radikale Ent-Täuschung. 4 Auch und besonders im Lichte des naturwissenschaftlichen Konzeptes der Selbstorganisation mag ersichtlich werden, daß Geschichtsphilosophie im Rückblick auf die Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts - also gleichsam 3 Vgl. Ale.xander Demandt, Ungeschehene Geschichte, Göttingen 1993, Neuaufl. 2000; Paul Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen, Göttingen 1998; Burkhard Liebsch, Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg/München 1999. 4 Vgl. die jüngsten Debatten um Anthropotechnik, künstliche Intelligenz und Gentechnologie. Stellvertretend hierfür die Dokumentation zur sogen. "Sioterdijk-Debatte": Der Streit um den Menschen, Zeit-Dokument 2 /1999, Harnburg 1999.

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Einführung

nach dem Ende traditioneller Geschichtsphilosophie - im Zeichen einer Geschichte nicht der Vollendung, sondern des Dramas der Kontingenz steht. Sie vermag sich nurmehr in "Opposition zu einer theoretisch-systematischen Verständigung über die Welt, sei diese philosophisch-spekulativer oder empirisch-wissenschaftlicher Art" zu entfalten. 5 Es entbehrt nicht bitterer Ironie, daß es intellektuell faszinierende Versuche der systematischen Rationalisierung von Geschichte waren und sind, die auf eben diese Weise ihre eigene kulturelle Substanz der Vernichtung preisgeben. Um so dringlicher ist es, mit Blick auf die von den Naturwissenschaften herkommende - durchaus überraschende - Ernstnahme des Geschichtlichen, ein Denken der Geschichte zu befördern, das nicht nur "historische Kulturwissenschaft" zu werden verspricht, sondern zuerst und vor allem seinen Schwerpunkt dort findet, wo "Geschichte ... , unter welchen Aspekten und in welchem zeitlichen Rahmen man sie auch im einzelnen immer betrachten mag, ... ihre Einheit und ihren zusammenführenden Bezugspunkt (hat): im Menschen."6 Dann freilich steht ein Denken der Geschichte nicht länger im Zeichen vermeintlicher Objektivität, als vielmehr der Ermöglichung lebendigen Daseins. Schuld und Verantwortung, Erinnerung und Erwartung, Ambivalenz und Fragmentarität, Verfehlung und Scheitern dürfen als Konturen eines gewandelten Geschichtsverständnisses gelten. Der Grund solcher Wandlung, die man eine anthropologische nennen mag, findet sich im Verstehen der Zeit selbst. Die Zeit ist nicht einfachhin Dauer, deren Anfang und Ende von außen her bestimmbar sind, sondern Zeit ist Gabe und Frist, sie wird 5 Emil Angehrn, Ursprungsmythos und Geschichtsdenken, in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.), Der Sinn des Historischen, Frankfurt IM. 1996, S. 305-332, hier S. 315. Gegen eine philosophische Hypostasierung der Geschichte vgl. die gewohnt pointierte Darstellung von Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (1973) im gleichnamigen Band, Frankfurt IM. 1982, S. 13-33. Interessant auch die geschichtsphilosophische Skepsis bei Goethe (im Gespräch mit Riemer 1804): "Bloß die Naturwissenschaften lassen sich praktisch machen und dadurch wohlthätig für die Menschheit. Die abstrakten, der Philosophie und Philologie (Geschichte), führen, wenn sie metaphysisch sind, ins Absurde der Möncherei und Scholastik; sind sie historisch, in das Revolutionäre der Welt- und Staatenverbesserung." Goethes Gespräche, 1749- 1805, Biedermannsehe Ausgabe, Bd. I, S. 908 f., Zürich I Stuttgart 1965; vgl. auch Reinhart Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 27-39. 6 Lothar Ga//, Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 264 ( 1997), S. I- 20, hier S. 13. Prägnanter kommt die anthropologische Wende des Denkens der Geschichte im Titel des Vorabdrucks dieses Textes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 226, 27. Sept. 1996, S. 42) zum Ausdruck: "Anthropologie als Argument. Wo bleibt der Zusammenhang der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie? Eine theoretische Erwägung in praktischer Absicht." Für die Vorgeschichte des in Rede stehenden anthropologischen Defizits nach wie vor maßgebend: Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, StuttgartiBerlin 1967, S. 196-219; sowie ders., Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt (1977), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt IM. 1989, S. 176-207. Zur Diskussion einer "Historischen Kulturwissenschaft" vgl. Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft Einheit Gegensatz - Komplementarität? Göttingen 1998.

Einführung

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geschenkt und verweigert, sie wird erfüllt und abgebrochen. Die Diskontinuitäten und Brüche gelebter, verlorener und wiedergewonnener Zeiten sind weder erklärbar noch vorhersagbar, ihren inneren Zusammenhang stiftet die Erzählung; hierzu aber bedarf es der Erinnerung, des Eingedenkens, der Erwartung. Am Leitfaden eines Geschichtsverständnisses in der Spannung zwischen Erlebnis und Erkenntnis, zwischen Erzählung und Erklärung, gelten die Beiträge dieses Bandes vorzugsweise den Bruchstellen geschichtlicher Erfahrung, deren paradigmatische Bedeutung zumeist nicht unbekannt ist, die aber im Kontext der hier leitenden Problemstellung - einer grundsätzlichen Wandlung menschlichen Selbstverstehens gegenüber Natur und Geschichte - gleichwohl neu zu würdigen sind. Hierbei kommt den Einsichten und Anregungen des jüdischen Denkens eine hervorragende Bedeutung zu. 7 Der Abbruch des deutsch-jüdischen Dialoges mit Beginn des Nationalsozialismus erweist sich nicht von ungefähr als die abgründige Nachtseite jener blendenden Geschichtsbemächtigungen, deren katastrophisches Scheitern die Wiederaufnahme dieses Dialoges gleichsam zur Vorbedingung gelingenden gemeinschaftlichen Lebens werden läßt. Die Denkfigur der Krise, die mitunter vorschnell verdrängte Frage nach der metaphysischen Schuld, die Dialektik von Erinnern und Vergessen, von Antwort und Versprechen, aber auch der Hinweis auf die verborgene Präsenz des Mythos angesichts der "Suche nach dem verlorenen Halt" geben Anlaß, hinter den vielfältigen Formen der Geschichtsbemächtigung die Gefahren der Vernichtung nicht zu verkennen. Sodann sind es kulturgeschichtliche Schlüsseltexte und epochale Denkfiguren, die in exemplarischer Weise die Ambivalenzen der menschlichen Bewußtseinsgeschichte offenlegen: Francesco Petrarcas Epistel von der Besteigung des Mont Ventoux, Heinrich von Kleists Gespräch über das Marionettentheater, Francis Bacons Etablierung der experimentellen Methode, die Epistemologie und Geistesgeschichte der Sichtachse oder die Krise der Ikonographie angesichts der Auflösung von Raum- und Zeitordnungen. Immer aufs neue scheitert die Selbstvergewisserung des Ich an jenem Bruch zwischen Selbst und Anderem, der im tätigen Vollzug des Lebens gleichsam als geschichtlicher Schatten die Autonomie bewußten Seins verdunkelt. Als das Urdatum einer Kulturgeschichte erlebter und erlittener Geschichtlichkeil wird man die biblischen Texte des alten und neuen Bundes bezeichnen dürfen 7 Gegen die "Zeitvergessenheit der Metaphysik" (Michael Theunissen, in: Axel Honneth (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt IM. 1989, S. 262- 304) ist es die Verantwortung gegenüber einer zugesagten aber unverfügbaren Zeit, die das jüdische Geschichtsdenken kennzeichnet. Exemplarisch hierfür die Studien zu Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershorn Scholem von Stephane Moses, Der Engel der Geschichte, Frankfurt/M. 1994. Auch an die vom geschichtsphilosophischen Diskurs zu Unrecht vergessenen, gleichzeitig vorgelegten grundlegenden Untersuchungen von Kar/ Löwith (Meaning in History, Chicago 1947, dt. Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953) und Jacob Taubes (Abendländische Eschatologie, Bern 1947, jetzt München 1991) sei mit Nachdruch erinnert.

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Einführung

mehr noch deren fortwirkende Lektüre- und Erfahrungsgeschichte. Ob es die Entdeckung der Endlichkeit ist, der Geschehnischarakter des Johannesprologs, die apokalyptischen Visionen der Offenbarung, stets geraten die Irritation im Widerfahrnis und die Selbstvergewisserung in der Erkenntnis miteinander in Konflikt. Im Lesen der Geschichte erfolgt zugleich auch deren Schreiben. Die Trennung von Dargestelltem und Darstellung wird auf einen Sinnbildungsprozeß hin überstiegen, der selbst Geschichte ist. Der historische Sinn der Dekonstruktion gründet in der Selbstorganisation einer Geschichte, die gleichermaßen erlebt und konstruiert wird. Nicht zufällig bildet das Bemühen um die Einheit von Lesbarkeit und Lebbarkeit religiöser Erfahrung ein Kernstück jüdischer Denkgeschichte in diesem Jahrhundert: von Franz Rosenzweig und Walter Benjamin bis zu Emmanuel Levinas und Jacques Derrida. In denkbar verschiedener Weise kommt die Aktualität der Thematisierung von Geschichtlichkeil und Selbstorganisation in den Blick: in der Frage nach der Einheit von Leben und Tod angesichts menschlichen Krankseins, in der kritischen Reflexion auf die Weisen des Umganges mit der jüngsten Bruchstelle deutscher Geschichte und nicht zuletzt als eine editorische Hommage an das verstorbene Heiratsmitglied dieses Jahrbuches: Niklas Luhmann. Dank schuldet der Herausgeber zunächst und vor allem dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen nebst dessen Präsidenten Jörn Rüsen. Ein mehrjähriges Fellowship- dank der Einladung durch Klaus M. Meyer-Abich -, insbesondere aber eine im Frühjahr 1998 dort veranstaltete Tagung mit und über Paul Ricoeur gaben hilfreiche Anregungen zur Gestaltung dieses Jahrbuchbandes. 8 Desweiteren gilt der Dank der Bereitschaft der Autoren zur Mitarbeit. Hier sei es gestattet, stellvertretend Günter Kunert zu nennen, dessen freundliche Einwilligung zum Wiederabdruck eines aus dem Jahr 1985 stammenden Textes besonderer Erwähnung wert ist, gilt ihm doch - wie er anläßIich der Entgegennahme des Emst-Robert-Curtius-Preises ausführte- die Textgattung des Essays als "ein bevorzugtes Ausdrucksmittel jüdischen Geistes";9 eine Textgattung übrigens, die neben der Lyrik sein Werk auf markante Weise charakterisiert. Zum Schluß sei ein Dank- auch im Namen der Mitbegründer dieses Jahrbuches- für die nunmehr sich über zehn Jahre erstreckende vorzügliche Betreuung seitens des Verlages gesagt. Die Qualität dieser Jahrbuchreihe ist auch das Verdienst der umsichtigen und verläßlichen Mitarbeit von Ingrid Bührig, Heike Frank und D. H. Kuchta. Rainer-M. E. Jacobi

s Vgl. jetzt den Tagungsband: Burkhard Liebsch (Hrsg.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricoeurs, Freiburg I München 1999. 9 Günter Kunert, Über Essayistik, in: Emst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik 1991. Dokumente und Ansprachen, Bonn/ Berlin 1991, S. 57-70, hier S. 65.

Auf der Suche nach dem verlorenen Halt 1 Von Günter Kunert, Kaisborstel

Eines der schönsten und besinnlichsten Märchenbücher unseres Jahrhunderts trägt den bedeutungsvollen Titel "Spuren" und stammt von einem Autor, dessen hundertsten Geburtstag wir eben erst gefeiert haben. Die Rede ist von Ernst Bloch. Die Bezeichnung "Märchenbuch" ist nun keineswegs abwertend gemeint, ganz im Gegenteil. Märchen sind ins Bildhafte gewendetes Philosophieren im Sinne des früh-antiken Denkens, dem das Bild nicht als zusätzliche oder rhetorische Metapher diente, sondern die einzig mögliche Darstellung der bedachten Sache selber war. Ein solches Philosophieren, ein solches Denken in Bildern hat nirgendwo sonst seinen Ursprung als im Mythos. Wir werden das erkennen, sobald wir ein paar Seiten weiter in Blochs Buch geblättert haben, um einen der kurzen und bündigen Texte zu lesen, der "Rokoko des Geschicks" heißt und hier verknappt wiedergegeben werden soll. Ein orientalischer Vezier ergeht sich in seinem Garten, beugt sich über den Brunnen, um sein Spiegelbild zu betrachten, da löst sich ein Ring von seinem Finger, fällt hinab und den Vezier durchzuckt der wahnsinnige Wunsch: Wenn der Ring doch nicht verschwände! Eine leichte Ölschicht mußte sich auf dem Wasser gebildet haben, erzählt Bloch, so daß der Ring tatsächlich nicht unterging. Da erschrak der Vezier, denn solch eine Spitzenwirkung von Glück mußte ins Gegenteil umschlagen. Und richtig: Als er den Palast des Kalifen betritt, wird er verhaftet und in den tiefsten Kerker geworfen, Verleumder hatten gesiegt. Jahrelang gefangen, hatte er am Ende nur noch einen Wunsch: Noch einmal vor seinem Tode Granatapfelkerne zu essen. Der mitleidige Wärter bringt sie ihm in einer Schale, sogleich schießt eine hungrige Ratte herbei und wirft die Schale um. "Da durchfuhr den alten Mann eine rätselhafte Freude: denn so konnte das nicht bleiben, es war eine solche Spitzenwirkung von Unglück, daß die Woge umschlagen mußte. In der Tat schon umgeschlagen war; denn noch am Abend kam der Kalif in die Zelle, die Verleumder waren gestürzt, er setzte den Vezier wieder in seine Ämter ein ( . . . ) Die Geschichte vom Vezier macht so manche Kleinwelt des Endes hell, zeigt sie als Spitzen und Arabesken einer Schlußspirale, die auch Schluß beI Dieser aus dem Jahr 1985 stammende Text erschien erstmals 1991 in der vom Autor zusammengestellten Textsammlung "Die letzten Indianer Europas. Kommentare zum Traum, der Leben heißt" im Hanser Verlag München. Dem Autor sei für seine freundliche Bereitschaft gedankt, diesen Text nunmehr in den thematischen Kontext stellen zu dürfen, dessen weitreichende Problematik er seinerzeit bereits antizipiert hatte.

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Günter Kunert

deuten." Soweit Blochs Interpretation, der das Spielerische, auch das Spielerische im Schicksal als historischen oder gesellschaftlichen Schlußakt auffaßt. Darum ja auch der Bezug zum Rokoko im Titel. Wir, nach 55 Jahren und in einer ganz anderen Endphase steckend, lesen die Anekdote anders. Was 1930 die Chance hatte, als denkerisches Paradigma Verwendung zu finden, entbirgt heute, trotz seiner naivmärchenhaften Fassung, ein Gleichnis von unvergleichlicher Qualität. Mit einem Wort: Diese schlichte Geschichte für gebildete Stände ist die Mini-Ausgabe eines menschheitlichen Mythos. Ich möchte hier eine Behauptung aufstellen (und ihre Tatsächlichkeit nachzuweisen suchen), daß Mythen und Mythos durch die Geschichte hindurch bis in unsere verdämmemden Tage vor allem von einem Umstand gekennzeichnet sind: Sie müssen der Wirklichkeit sowie der menschlichen Erfahrung absolut zuwiderlaufen. Wie eben die Anekdote vom Vezier, welche eines der Basis-Modelle für Mythos enthält. Unsere Vernunft weiß doch nur zu genau und läßt es sich von der Statistik jedesmal aufs neue bestätigen, daß Überhebung und Folge der Überhebung, etwas wie göttliche Strafe, keinerlei Kausalnexus besitzen. Daß kein Übermaß an Leiden und Erniedrigung die Erlösung garantiert. Wir haben die bittere Lehre ziehen müssen, daß für Millionen Menschen gestern wie heute der Tiefstpunkt von Unglück keine Woge des Schicksalsumschlages in Bewegung setzte noch setzt, und daß das Hölderlin-Wort, das Rettende wachse proportional zur Gefahr, wohl nichts anderes gewesen sein mag als ein letzter Rest humanistischen Bildungsgutes, verwandelt in ein Stück Literatur: eine nahezu unkenntlich gewordene und späte Form von Mythos. Glück, Mißglücken, Leiden und Erlösung sind das Schema seit Frühestem. Der ungeheure Erfolg der "Odyssee" beispielsweise (belegt durch die Unklarheiten über den Autor, was Schlußfolgerungen auf die weite Verbreitung zuläßt, da man allerorten einen Homer vermutete) zeigt die ungeheure Wirkung von Mythos in der Form einer spannenden Geschichte. Und ich glaube ganz sicher, daß sie gerade wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit, wegen ihres strikten Gegensatzes wider alle Logik und Erfahrung diesen Erfolg bei den Zuhörern hatte. Denn nicht die Geschichte selber schafft die Befriedigung, sondern ihr mythischer Gehalt: Am Ende der Leiden die Erlösung, im Falle Odysseus eine weltliche. Der Lohn für die Prüfung wird dem Umhergetriebenen schon auf Erden zuteil, durch die gelungene Heimkehr, die ebenfalls einen mythischen Topos darstellt, wie wir nicht erst seit dem "Prinzip Hoffnung" wissen, wo man lesen kann: "Die Welt ist vielmehr voll Anlage zu etwas, Tendenz auf etwas, Latenz von etwas, und das so intendierte Etwas heißt Erfüllung des Intendierten. Heißt eine uns adäquatere Welt, ohne unwürdige Schmerzen, Angst, Selbstentfremdung, Nichts." Dieses Blochsehe Utopia trägt viele Namen; einer hätte ganz gut "Ithaka" lauten können, an dessen erlösendem Glanz sich vor einigen tausend Jahren das Publikum erbaute, wohl wissend, es selber würde dort niemals hingelangen. Warum also und eigentlich diese Begeisterung, zumindest doch das Vergnügen, die Lust an einem literarischen Werk, wenn man von vomherein wußte, es erzählte einem nur "Lügen", Erlebnisse, die

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den persönlichen niemals entsprachen noch je entsprechen würden? Der mythische Gehalt der Story lag und liegt nicht so offen, daß man sich seiner als Rausch- oder Beruhigungsmittel hätte bedienen können. Auch die anhaltenden "wissenschaftlichen" Untersuchungen des Mythos, von den unterschiedlichsten Fachbereichen vollzogen, argumentieren stets reduktionistisch, indem sie Mythos entweder auf seinen religionsgeschichtlichen Grund zurückführen oder seine sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Kulissen als Studienmaterial bevorzugen, wobei der Mythos eigenartig abblaßt und zu einem Scherben als Indiz für die Tatsache wird, daß es damals wohl ein Gefäß gegeben hat, aus dem man Wein trank. Mir scheint, daß die Mythen, die klassischen wie die verschiedenen aktuell wirksamen, ihre Potenz und Einflußfähigkeit aus zwei Grundelementen beziehen. Zum einen, wie bereits angedeutet, aus ihrem Versprechen von Erlösung nach meist unverdienten Leiden. Und zum zweiten aus ihrer unerschütterlichen Teleologie, von der selbst der sich materialistisch nennende Marxismus bestimmt und mystisch durchdrungen wird. Freilich: Die Gesellschaftstheorien sind späte Mythen, Ergebnisse der Entsinnlichung, der zunehmenden Auflösung vordem deutlich sichtbaren und greifbaren Agierens. Die Propagierung sozialistischer Thesen geschieht noch in der überlieferten Bildhaftigkeit: Das Proletariat als Prometheus, als Gigant, hammerschwingend und siegesgewiß. Dabei handelt es sich keineswegs allein um eine optisch eingängige Symbolisierung, sondern ebenso um die unbewußt angestrebte Identität mit mythischen Kulturheroen. Insofern erscheint das personifizierte Proletariat als mythischer Typ: Als kettensprengender Herakles, der eine ganze Reihe von Aufgaben zu erfüllen hat, und endlich in der Selbstaufgabe, Selbstaufhebung zu sich selber kommt und aus reinigenden Flammen zu den Göttern aufsteigt. Gar nicht zufällig erscheint das personifizierte Proletariat auf den Darstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Kampf mit dem Drachen oder der Schlange des Kapitalismus, sogar noch die Titelseite der AIZ, der Arbeiterillustriertenzeitung, welche auf einer Fotomontage von John Heartfield eine mächtige Arbeiterfaust zeigt, die die faschistische Schlange erwürgt, reproduziert den Mythos, wenn auch in irrigem Bezug und entleerter Visualität. Am Wendepunkt unseres Wesens, wo wir uns nur noch entfremdet erfahren können und die sinnlichen Erscheinungsweisen uns nichts mehr sagen, verzwergt sich der Mythos und schlüpft in Kriminal- und Horrorgeschichten unter. Ob Kommissar Maigret oder die vom Grafen Dracula bedrohte Schönheit, man ist sich trotz aller schlimmen Geschehen der Ablaufrichtung und des erlösenden Schlusses sicher. Zwar ängstigt uns die Spannung, zugleich jedoch genießen wir sie auch, da wir insgeheim des Triumphes sicher sind: So wie das Proletariat als moderner Sankt Georg den Drachen tötet, um die Menschheit zu befreien und zu erlösen, so erlöst uns Maigret auf einer weitaus niedrigeren Ebene vom Übel der Kriminalität gegen unser besseres, weil statistisches Wissen, und so zerfällt Graf Dracula zu Staub, weil das Böse, wie uns der Mythos beweist, niemals siegen kann. Für den faktischen Gegenbeweis, nämlich für die fortdauernde Unfreiheit und Unterdrückung

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der Arbeiter, für ihre mißlungene, sogenannte "historische Mission" sind wir ebenso blind wie dafür, daß alle Maigrets dieser Welt einen aussichtslosen Kampf kämpfen, und das Böse in Gestalt eines mörderischen Arztes wie Dr. Mengele sein Leben in aller Ruhe irgendwo verbringt, um im hohen Alter per Zufall beim Baden zu ertrinken. Unsere Sucht nach Mythos wehrt die Wirklichkeit ab und läßt sie zum Schein werden, indessen der Mythos Wirkungen zeitigt, als dirigiere er und nicht die Faktenwelt unser Sein. Der Mythos kennt keine individuelle Physiognomie, keine widersprüchliche subjektive Entwicklung, ja, er kennt überhaupt keine Individuen und Subjekte, sondern nur Typen, diffuse Gestalten, Masken, deren Leere unsere Vorstellungen und unser Sinnverlangen mit Fleisch und Blut anreichert. Dabei schreckt uns nicht einmal die letzte Konsequenz, welche einer mythischen Figur widerfährt. Ja, sogar wenn sie dran glauben muß, wie beispielsweise der Zimmermannssohn aus Nazareth, so sehen wir in seinem fürchterlichen Tod nur eine Vorbedingung der letzten Peripetie, des Umschiagens höchsten Unglücks in höchstes Glück, das, wie könnte es anders sein, in der Heimkehr besteht, in der Erreichung des ewig Erstrebten, in der gloriosen Erlösung, welche alle vorangegangenen Schmerzen und Versagungen legitimiert und als Stufen zum Heil versteht - wie es uns seit grauen Vorzeiten der Mythos lautlos und wohl unmerklich eingetrichtert hat. Denn im Mythos, und das schafft seine enorme Stärke, erhalten noch die Blutschande und der Vatermord ihren Sinn. Von unserem sonstigen Elend ganz zu schweigen. Wir können nicht akzeptieren, daß wir nur etwas Ähnliches wie eine besondere und vielleicht ungewöhnliche Ameisenart im Universum darstellen, für die Balance des Universums unwichtiger als die wirklichen Ameisen für die Ökologie des Waldes. Niemand wüßte heute noch etwas von Jesus oder Mohammed oder Buddha oder irgendeinem der anderen "Religionsstifter", ohne das seit eh und je verinnerlichte mythische Schema. Falls wir das Unmögliche versuchen, nämlich uns vorzustellen, daß Mythen wie das wahre Leben verliefen, sie blieben Totgeburten. Die Wirklichkeit erzeugt den Humus, auf dem die Mythen, eine weiß Gott seltsame Flora, sprießen. Wir, der einzelne oder die Gruppe, liefern bloß Rohstoff für Mythos, dem wir uns, indem wir seine veralteten Formen nicht ernst nehmen, stets aufs neue ausliefern und unterwerfen. Weil wir den Mythos, ehe er sich als solcher zu erkennen gibt, für der Weisheit letzten Schluß halten: für Rationalität, Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft, Philosophie; enorm tabuierte Kategorien, die der kritischen Behandlung zu unterziehen, uns jeder aktuelle Mythos verbietet. Wir befürchten, daß wir, sobald die gegenwärtig noch geheiligten Begriffe sich entblättern und sichtbar wird, was auch hinter Poes Maske des roten Todes steckte, also das pure Nichts, wehrlos sofort dem Chaos anheimfallen, der Anarchie, der Barbarei, dem Faschismus oder sonstigen Systemen, welche ihre Untaten unter einer anderen Begrifflichkeit begehen. Dabei verdrängen wir geschickt, daß eine der großen Menschenschlächtereien unserer Epoche im Namen der theoretisch begründeten Vernunft betrieben wurde. Gemeint ist der Stalinismus, der immer noch als Perversion des Marxismus gilt,

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als Mißbrauch der Ratio. Marxismus und Ratio traten ihre Herrschaft an als das, was sie zwangsläufig wurden: als Mythos von der Erlösung nach grausamen Geburtswehen, dynamisiert durch die wenig neue Idee, daß dem Maß der Leiden entsprechend auch die Erlösung maximal sein würde. Ratio, Marxismus, auch Aufklärung durften sich in der Stunde ihres Entstehens noch für unschuldig halten, im Stande einer sozusagen "paradiesischen" Unschuld, welche sie, Paradies wie Unschuld, wiederherzustellen gedachten. Denn zu ihrem Beginn herrschten noch andere Mythen; etwa der Mythos "Nation", der Mythos "Weiße Rasse", der Mythos von der allein seligmachenden Religion. Aber, und dieses Aber ergibt sich leider viel zu natürlich, aber wer in der Arena der Mythen zum Kampf antritt, nimmt unfreiwillig die Konsistenz des Gegners an und wird selber zum Mythos. Das ist, wir merken es immer deutlicher, am schmerzlichsten der Aufklärung geschehen, welche zum Mythos ihrer selbst wurde, zur entsinnlichten Gottheit, der wir das Opfer unserer Gefühle und Empfindungen, unserer Träume und Fantasien darbrachten, ohne das garantierte Äquivalent, die vernünftige Gesellschaft, die vernünftige Welt, den vernünftigen Menschen, erhalten zu haben. Um sie, die Aufklärung, noch zu schonen und zu entschuldigen, beladen wir uns mit dem Vorwurf des Unaufgeklärtseins, mit der Schuld mangelnder Intelligenz, und vergessen dabei völlig, daß die Vernunft in Form von Aufklärung die Starre und Statik des Mythos haben muß, den gleichen Modellcharakter wie er. Kein Ithaka winkt uns mehr, kein Nirwana, kein Paradies mit rehäugigen Huris, kein himmlisches Jerusalem und erst recht keine klassenlose, antagonismenfreie Gesellschaft, keine Selbstbestimmung frei über sich und ihre Produkte verfügender Produzenten. Keine Utopie mehr, keine Heimat im umfassenden Sinne. Und in dieser Sekunde allgemeiner ideologischer und geistiger Hilflosigkeit und Verwirrung wird die Frage gestellt, ob wir neue Mythen brauchen, als könnten wir dieselben bei Bertelsmann oder einem indischen Guru in Auftrag geben. Wir könnten übrigens die Frage auch anders formulieren, nämlich: Ob wir Opium fürs Volk brauchen. Oder genauer: Ob das Volk Opium braucht, um den Zustand seelischer und geistiger Armut und Verlassenheit zu ertragen. So gefragt, ist ein jubelndes Ja zu befürchten. Das Fernsehen mit seinen hohen Einschaltquoten für die billigsten Illusionen und Primitiv-Spiele ist die unabweislich positive Antwort auf die Erkundigung nach der Notwendigkeit von Mythos. Warum ist das so? Stimmt es denn tatsächlich, was uns Marxisten und menschenfreundliche Linke geduldig einzureden suchten, nämlich, daß das kulturelle Niveau der Massen so niedrig sei, weil man sie auf dieses Niveau heruntergedrückt habe? Daß diese eifrig beschworenen Massen, wären sie nur aufgeklärt, diese billigste Unterhaltung zurückweisen und statt dessen Goethe lesen, Mozart hören und sich in die Gemälde Brueghels versenken würden? Haben wir, vom Mythos der Aufklärung erfaßt und mit Scheuklappen ausgestattet, so etwas nicht selber einmal ernstgenommen? Es mag glaubhaft sein, daß ein Einzelbewußtsein, obschon durch den Rahmen vorgegebener Zeitgenossenschaft stets beengt, sich und seine Determinanten zu reflektieren vermag, dem Kollektivbewußtsein jedoch ist diese Möglichkeit ver2 Selbstorganisation. Bd. 10

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sagt. Es ist naturgegeben selbstblind und mythoshörig, eben weil Mythos, teleologisch und finalistisch angelegt, keinen prozessualen Gang kennt, dessen Ausgang ungewiß sein kann, kein "Open end" also. Obgleich seit Jahrzehnten unentwegt die Rede ist von einer "Bewältigung der Vergangenheit", bewegt sich diese "Bewältigung" in strikt abgegrenzten Bereichen: juristischen, moralischen, geschichtlichen, und ignoriert dabei den Mythos als eine der treibenden, diese grausige Vergangenheit ermöglicht habenden Kräfte. Dabei liegt das Beispiel auf der Hand. Die ungeheure Wirklichkeitsverkennung auf allen Ebenen der faschistischen Gesellschaft ist das Kennzeichen. Insofern haben die antifaschistischen Intellektuellen nie recht begreifen können, wieso ein als kulturell hochstehend geltendes Volk einem so offenkundigen Obskurantismus zum Opfer fallen konnte. Man hat nicht kapiert, daß das Obskure eher akzeptiert wird als eine das Selbstwertgefühl reduzierende Wahrheit. Gewiß: Die Riten und kultischen Veranstaltungen des Nazismus wirkten wahnwitzig und anachronistisch und waren es auch; der, in Anführungsstrichen, "geistige Überbau" mit seiner Rassenlehre, der Germanentümelei, extremem Nationalismus, Xenophobie, Erbfeindschaften, Weltmission, mit seinem eschatologischen Sammelsurium widersprach, wie man dachte, dem gleichzeitig existierenden hohen Standard einer Industrienation. Aber die Annahme eines solchen Widerspruches verkennt, daß der Mythos als Erlösungsversprechen sich jedes andere instrumentale Wissen, jede wissenschaftliche Kenntnis unterwirft. Wieso, klagte man nach Machtantritt Hitlers, konnte das bloß geschehen? Hatten nicht alle guten Demokraten und alle vernünftigen Linken über das zu erwartende Unheil die Menschen aufgeklärt? Denken wir nur an die Verzweiflung der Emigranten, die, wie Tucholsky, annehmen mußten, ihre humanisierenden und aufklärerischen Mühen wären völlig umsonst gewesen. Welche Enttäuschung, da das Unheil entgegen jeder besseren Einsicht unaufhaltsam eintrat. Was war passiert? Es war passiert, daß sich zweihundert Jahre Aufklärung zuletzt selber als Mythos erwiesen, nur als ein schwächerer, weil er für das aufkommende Individualbewußtsein konzipiert war, nicht für das kollektive, welches die subtileren Versprechen auf Erlösung und Heimat, mittels Philosophie und Kunst, Persönlichkeitsbildung und praktizierten Humanismus, durch Allgemeinbildung und Naturliebe nicht nachzuvollziehen vermochte, da die Ideale der Aufklärung eine gewisse materielle Saturiertheil voraussetzten. Mit dem "Schönen Geist" vermochten die armen Massen nichts anzufangen; ihr elendes Leben hatte den Schein des Gottgewollten eingebüßt, es war nichts weiter als Elend, aber eben dieses Elend mußte einer geheimen Absicht gehorchen, mythischen Leiden ähneln, damit es garantiert in Triumph, zumindest jedoch in Sinn umschlage. Wer diesen Sinn zu zeigen vermochte, hieß dann charismatisch und Führer. Noch ein Wort zum Versagen der Aufklärung, von dem gegenwärtig viel die Rede ist; zwischen Schuldzuweisung und Schuldabwehr schlingert der Diskurs ins Beiläufige ab: Aber es ist keine Rede von Schuld möglich. Jedenfalls nicht in Hinblick auf die Inhalte von Aufklärung. Die Schuld, falls überhaupt solch schwergewichtiges Wort angebracht ist, liegt bei uns, die wir unfähig sind, die Vorstellung

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von einem menschlicheren Sein, diesem zentralen lmplikat der Aufklärung, anders aufnehmen zu können denn als Mythos. Alles, was dazu angetan ist, ein kollektives Bewußtsein zu affizieren, wird, um Eingang zu finden, in Mythos verwandelt, sonst gewönne es niemals die Kraft, mehr zu animieren als Sprechwerkzeuge und Schreibmaschinen. Nur für Mythos nehmen Menschenmengen in Kauf, was sie als Vernunftvorschlag ablehnen würden. Da wir selber personifizierte Bedeutungslosigkeiten sind, Zufallsprodukte einer Natur, die mit uns nichts besonderes bezweckt hat, brauchen wir metaphysische Krücken, um überhaupt voranzukommen. Daher diese überanstrengte Süchtigkeit nach Daseinssinn, nach Mythos, der dem grundlosen Sein Transzendenz verleiht. Wir wollen unbedingt eine Bestimmung haben, und gelte es, sie mit Feuer und Schwert, mit KZ und Gaskammer durchzusetzen. Ehe wir unserer eigenen Nichtigkeit gewahr werden, dienen wir lieber dem Mythos mit den vielen wechselnden Namen. Es hat lange gedauert und wird wenig nützen, daß endlich die Psychologie jene ironische Einsicht von Kar! Kraus bestätigte, die Psychoanalyse sei just die Krankheit, als deren Therapie sie sich ausgebe. Plötzlich hören wir: "Schonungslose Selbsterkenntnis anzustreben ist nicht unbedingt gut für den Menschen. Für den, der mit sich und seiner Umwelt in Frieden leben möchte, könnten aber Illusionen durchaus nützlich sein." Und weiter heißt es, seelisch Gesunde handelten entgegen den Lehren Freuds: "Sie belügen sich sozusagen selbst, indem sie die Bedeutung ihrer Sorgen herunterspielen, sich mit allen Mitteln von diesen ablenken und sich, fast krampfhaft, positive Gedanken einreden. Auch scheuen sie sich nicht davor, sich mit anderen zu vergleichen, denen es noch schlechter geht - ein Verfahren, das bei Psychotherapeuten verpönt ist." Und schließlich gipfelt die Einsicht in eine Empfehlung, deren Konnex zur Mythosfunktion unverkennbar ist. Wir lesen: "Die Psychotherapeuten, die den Patienten mit allen Mitteln die Augen über sich selbst öffnen wollen, machen damit vielleicht alles nur noch schlimmer, als es vorher war ... Die Psychotherapie wäre daher gut beraten, wenn sie die ,grenzenlose Selbstentblößung', die sie bislang empfohlen hat, aufgäbe und ihren Patienten Illusionen und Selbstbetrug zugestünde." Hier ist von unserer physio-psychologischen Konstitution die Rede; davon, daß wir uns einzig unter Larven und in uns zusagenden Rollen zu erkennen vermeinen. Wir sind das, was wir von uns halten. Ein Rückblick in die Geschichte belehrt uns eindringlich: Unsere sogenannten "primitiven" Vorfahren ertrugen den Kampf ums Leben aus keinem anderen Grunde als dem, in einer mythischen, mythenerfüllten Welt zu existieren. Noch der dürftigste Halm, der fernste Gipfel war eine Entität, das göttlich Durchpulste, von dem man, ob man es anbetete oder vernichtete, das Bewußtsein erhielt, kein Tier mehr zu sein, kein Stein, kein Irgendwas. Zwar haben wir Gras und Gipfel aus den Augen verloren, doch unsere Erhöhung zu einem besonderen Wesen, zum mythischen und mythenbildenden Geschöpf, erhalten wir weiterhin frei Haus geliefert: Durch Abstrakta, da uns mit dem Sinnbezug unserer Existenz auch die Sinnlichkeit vergangen ist. Die momentane Orientierungsschwäche resultiert weniger aus einem Mangel an Information, Kenntnissen, Wis2*

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sen, Handfertigkeiten, Technizismen und Ideologien als aus einem Verfall gestern noch schicksalsbildender Mythen. Daher - neben der ökologischen und ökonomischen - die geistige Krise, denn Ratio und Vernunft wurzeln ja in nichts anderem. Das eingangs erwähnte Märchenbuch Ernst Blochs beginnt mit einem nahezu mikroskopischen Abschnitt. Unter dem verräterischen und vielsagenden Titel "Zu wenig" steht: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst." Drei Sätze nennen unsere, wie ich meine, unaufhebbare existentielle Lage. Daß ich bin, ist mir vor meinem Ableben ziemlich gewiß. Aber meine menschliche Substanz ist dermaßen diffus, daß sie nicht fixierbar ist, nicht festzuhalten auf irgendeine Weise, denn jeder Hauch scheinbar neuer Erkenntnis verwandelt mich. Darum werden wir erst. Aber es ist ein unaufhörliches Werden, ein zielloses, zweckloses Wachstum, das man auf unterschiedlichste Art interpretieren kann: als Krebswucherung oder als Heimfindung zum bis dato unbekannten Wir, einem Mythologem erster Ordnung.

Die Krise Eine historische Intuition und ihre Krise

Von Hartmut Kuh/mann, Stuttgart

I.

Das abendländische Denken - wenn man sich schon an derartig subjektlose Geschichtssubjekte herantraut - ist gekennzeichnet durch seine Offenheit für Krisen. Krisen haben es modernisiert; seine Modemisierbarkeit ist in seiner Krisenanfälligkeit begründet. Dennoch hat es das Wort "Krise" vor dem 19. Jahrhundert verhältnismäßig selten benutzt, und erst im 20. Jahrhundert wurde der Begriff außerhalb der medizinischen und historischen Fachwelt populär. Die Gleichzeitigkeit von exponentiellem technologischem Fortschritt mit den immer verzweifelteren Niederlagen der Humanität, für die das 20. Jahrhundert steht, scheint einen Grund dafür zu geben, warum die Vokabel so vertraut geworden ist: Es ist ganz einfach das Zeitalter der Krise. Im Hintergrund scheint immer noch Jacob Burckhardts berühmte Beschreibung einer Krise zu stehen: "Der Weltprozeß gerät plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Wochen und Monaten wie flüchtige Phantome vorüberzugehen und damit erledigt zu sein." 1 Burckhardts Erschrecken vor der Beschleunigung und der tumultuarischen Desorganisation wirkt nach bis in die dromologischen Kulturkritiken der Gegenwart, jedoch mit zwei Unterschieden: Zum einen dürfte es naiv sein zu meinen, daß sich Burckhardts Beschreibung auf abgrenzbare Zeitabschnitte beschränken ließe, auf die wiederum "beruhigte", "normalisierte" Zeiten folgen. Die Krise ist im 20. Jahrhundert zum Dauerzustand geworden, die Gleichzeitigkeit von beschleunigten und erledigten Zuständen epochal. Was wir uns statt dessen fragen - und dies ist der zweite Aspekt, in dem wir "über" Burckhardt "hinaus" sind - ist, ob es wirklich Krisen sind, die wir erleben, und nicht vielmehr Katastrophen: sinnlose Zusammenballungen sinnlosen Tuns, auf die nicht anders zu reagieren ist als mit Fassungslosigkeit oder Trauer? I Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von R. Stadelmann, Tübingen 1949, S. 201 ff. 2 Vgl. Dan Diner; Das Jahrhundert. Eine universalhistorische Deutung, Neuwied 1999.

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Die Konstatierung einer Buckhardt'schen "Krise" ist ja immer noch Geschichtsphilosophie im konventionellen Sinn. Der irritierte Blick auf das historische Ereignis, gleichgültig, ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart, wird immer noch durch die Vermutung einer unsichtbaren Ordnung gelenkt, die Unruhe, Verwirrung, Unübersichtlichkeit- und was der Krisenmetaphern mehr sind- nicht nur konterkariert, sondern als solche erst erklärt. Das kann sich bis in die extreme Krisenerfahrung von Sinnlosigkeit erstrecken: "Ein aktuelles Geschehen kann nur sinnlos erscheinen im Horizont einer möglichen Sinnerfüllung; Enttäuschungen gibt es nur, wo etwas erwartet wird." 3 In der Katastrophe dagegen-daranhaben uns stets ihre Opfer erinnern müssen - geht eine Zeit, eine Geschichte schlechthin zu Ende, unwiderruflich, Sinn-neutral. Die Zukunft ergibt sich in der Katastrophe nicht als Erwartung oder Hoffnung, sondern als blanker Zufall. Überlebt zu haben, bedeutet kein Verdienst oder Geschick, kein "Entronnensein", sondern zufällig nicht vernichtet worden zu ~ein. Anders von der "Krise" aus: Hier ist die Zukunft stets noch für die Sinnerwartung offen; in der dramatischen Logik wird der Krisenzustand als Peripetie, Umschlag oder Wandlung interpretiert. Daraus ergibt sich ganz selbstverständlich die Zukunftslastigkeit unseres Verständnisses von "Krise": "Die Erfüllung eines noch mangelnden Sinns erfordert Zukunft, und Zukunft ist nur für Erwartung kommend. "4 Unter dem Burckhardt-Blick vermischt sich das Faktische mit einer sittlichen, politischen Beurteilung, und das wiederum ruft- schon auf Grund der bloßen zeitlichen Ordnung von unverrückbarer Vergangenheit und offener Zukunft - eine sittliche, politische Hoffnung hervor. Das Narrative, mit dem wir uns den historischen Ablauf vergegenwärtigen, erfährt eine geschichtsphilosophische Regie durch die Moral. Es ist plausibel, daß diese Logik immer in zeitgeschichtlichen Zusammenhängen greift - in der Betrachtung jener historischen Epochen, die noch andauern oder fortwirken und in deren Beschreibung wir als Teilnehmer, nicht bloß als Beobachter involviert sind. Hier sind Beschreibung und Teilnahme kaum von einander zu trennen. Zeitgeschichte als Disziplin ist von daher notwendigerweise auch Politik. Anders die Theorie: Hier sind wir es mittlerweile gewohnt, die Burckhardt'sche Sorte von Geschichtsphilosophie als naiv abzutun. Die neuere Geschichtstheorie jedenfalls versucht, auf teleologische Sinnkonstrukte so weit wie möglich zu verzichten. Freilich haben es diese Theorien bemerkenswert schwer gegen die Intuition, die starrsinnig Sinn immer dort sucht, wo die Theorie ihn ablehnen muß.

3 Kar/ Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in: Bernd Lutz (Hrsg.), Der Mensch inmitten der Geschichte. Philosophische Bilanz des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1990, S. 131 .

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II.

Der Starrsinn der Intuition vom "Sinn in der Geschichte" - im teleologischen Sinn: daß die Geschichte irgendwohin führen müsse; und im rekonstruktiven Sinn: daß bestimmte Epochen oder Ereignisse auf andere hin geführt haben - ist eines der verwunderlichsten Merkmale der neuzeitlichen Philosophie. Noch Kant führte gegen die Teleologie einen Abwehrkampf dadurch, daß er sie im Gedanken des Menschen als Zweck der Natur rettete. Das 20. Jahrhundert, das seinerseits Kant in seinem Optimismus kaum mehr folgt, hat seine eigene Art von Geschichtsphilosophie hervorgebracht. Zweifellos hat es die "Geschichtsphilosophie" erledigt, gleichzeitig aber hat es sie, wenn auch nur in einer Schwundform, erneut ermöglicht. Erledigt hat es die Geschichtsphilosophie durch den letzten Säkularisierungsschub, dessen es noch bedurfte, um das intuitiv immer plausible, logisch immer korrupte Konstrukt des "Sinns" von Geschichte im Prinzip zu destruieren. Die Teleologien von christlichen Heils- und politischen Emanzipationsgeschichten sind als bloße Hoffnungen entlarvt. Die Geschichte passiert nur noch. Ob dieser Säkularisierungsschub unumkehrbar oder auch nur überhaupt einigermaßen vollzogen ist, ist gleichgültig; er ist der letzte im evolutiven, nicht im zeitlichen Sinn. Wenn unsere Gesellschaften in religiöse Atavismen zurückfallen werden, werden sie zurück fallen: in geschichtlich Dagewesenes, Bekanntes. Geschichtlicher Sinn, geschichtliche Hoffnung sind nicht das Jenseits, sondern die Vergangenheit unserer Gesellschaft. Ermöglicht hat das 20. Jahrhundert die Geschichtsphilosophie, indem es andererseits die absolute geschichtliche Wahrheit wieder eingeführt hat. Über die Bedeutung oder Endgültigkeit des Zusammenbruchs des Kommunismus läßt sich immer noch streiten - ist die Implosion der kommunistischen Staaten doch nur, wie manche noch zu hoffen scheinen, die Selbstreinigung des sozialistischen Kommunismus von seiner stalinistischen Selbstverfälschung? Über Hitler dagegen läßt sich nicht streiten, im Kern jedenfalls nicht: Hier ist das geschichtlich Böse in seiner furchterregendsten, eindeutigsten und unanzweifelbarsten Form inkorporiert. Wer bei Sinn und Verstand ist, wird zugeben müssen, daß er nicht weiß, wohin die Geschichte treibt - aber er wird definitiv wissen, daß in Hitler genau das passiert ist, was nie wieder passieren darf. Eben das macht Geschichtsphilosophie möglich - wenn auch nur als moralische Meditation: Eine Kontroverse über den Grundtatbestand der stattgefundenen, letztmöglichen Beschämung und Verhöhnung des Menschlichen durch den Menschen ist nicht einmal im Ansatz möglich. Diese paradoxe Resistenz von "Sinn" in der Katastrophe hat moralische Wurzeln. Sie setzt, sofern die Moral sich auf historische Phänomene bezieht, gleichzeitig blanke Faktizität voraus - deren empirischer Status im Historischen durchaus labil ist. Das sittliche Urteil wird ja nur möglich, weil es sich auf Feststellbares bezieht, auf etwas, das als historiographisch Rekonstruierbares hinter uns liegt. Im Kontext der Reflexion über "Krisen" und "Katastrophen" kommen als Kandidaten

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für solche historischen Quasi-Entitäten vor allem "Epochen" in Frage. Hans Blumenberg analysierte den Epochen-Begriff (Burckhardt kritisch revidierend) als latent unhistarisch - er ist jedenfalls so überkonnotiert und voraussetzungsreich, daß seine deskriptive Genauigkeit der geschichtlichen Kontingenz gegenüber fraglich ist: "Da alle Geschichte in Veränderungen besteht, müssen die ,epochalen' Bewegungen als sowohl gehäufte wie beschleunigte angenommen werden; dann aber auch als ,einsinnig' gerichtete und in einem strukturellen Verbund stehende, gegenseitig abhängige." Der Beschreibungs-Optimismus des "Epochen"-Begriffs ergibt sich aus der Übermächtigkeit des Beschreibungsinstruments, der Epochenwende: "Wer von der Realität einer Epochenwende spricht, belastet sich mit dem Nachweis dafür, .daß etwas definitiv entschieden wird. Es muß sich zeigen lassen, daß da etwas ist, was nicht wieder aus der Welt geschafft werden kann, daß eine Unumkehrbarkeit hergestellt ist. " 5 Zweifellos sind Epochen keine physikalischen Objekte mit eindeutig beschreibbaren Eigenschaften; es sind auch nicht deren Zustände innerhalb einer zeitlich geordneten Veränderung. Dennoch benutzen wir den Begriff der Epoche, als handele es sich hier um Dinge, auf die man sich ohne die Gefahr zu großer Mißverständnisse eindeutig wie auf Fakten berufen kann. Dieser Epochenbegriff beruht auf der Eintragung von "Sinn" in die Geschichte, die Blumenberg auch "mythisch"6 nennt; und selbst wenn wir ihn nur heuristisch, als schlechtes Mittel mangels besserer, zur Erwehrung gegen die "Ordnungslosigkeit des (historischen) Materials"7 benutzen, müssen wir Mittel ersinnen, um seine Anwendbarkeit überhaupt zu rechtfertigen. Wir tun dies in der Regel dadurch, daß wir Epochengrenzen definieren und diese Definitionen rechtfertigen: Es ist plausibel, die Epoche des Nationalsozialismus mit dem Tag von Hitlers Machtergreifung beginnen und mit der deutschen Kapitulation enden zu lassen, die gleichzeitig auch den Zweiten Weltkrieg beendete. Wer diese Epochen-Definition erfolgreich in Zweifel ziehen will, wird diesamBesten dadurch tun, daß er die Epochengrenzen in Zweifel zieht: Der Nationalsozialismus hatte eine Vorgeschichte, die zu ihm gehört, ebenso wie eine Nachgeschichte, die noch nicht zu Ende zu sein scheint. III.

Epochengrenzen, nach dem Sprachgebrauch Blumenbergs "Krisen", erscheinen auf diese Weise- so dramatische Implikationen sie auch haben mögen- im Prinzip als Deskripte mit erstaunlicher und nachvollziehbarer Erklärungskraft Sie sind sogar recht gut zu rechtfertigen, nämlich genau dann, wenn man ihnen die Funktion von Definitionen zuschreiben kann: sie werden in diesem Sinn bestimmt - gesetzt 5 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt IM. 1988, S. 543 f. 6 Ebd., S. 536 f. 7 Ebd., S. 543.

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- und können dann im strengeren wissenschaftstheoretischen Sinn weder "wahr" noch "unwahr", sondern als Konstrukte nur nützlich oder weniger nützlich sein. Sie lassen sich unter Angabe vernünftiger Kriterien bestreiten oder bestätigen. Nur - fast möchte man sagen: leider - ist damit aber die historische "Krise" historisch unterdeterminiert Wer eine Krise konstatiert, tut in der Regel weit mehr als nur eine Epochenwende zu behaupten. Zu Beginn seines Heidegger-Buchs reiht George Steiner die Titel jener Krisen-Literatur auf, die im Gefolge der Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs im deutschen Sprachraum aufkam: Ernst Bloch, "Der Geist der Utopie" (1918); Oswald Spengler, "Der Untergang des Abendlandes" ( 1918); Karl Barth, "Der Römerbrief" ( 1919); Franz Rosenzweig, "Stern der Erlösung" (1921); Martin Heidegger, "Sein und Zeit" (1927); Adolf Hitler, "Mein Kampf' (1925 und 1927). Neben einem heroischen Erneuerungsgestus, der sich in Umfang und Sprache dieser Bücher niederschlägt, verbindet sie nach Steiner vor allem eines: "Diese Werke sind . .. apokalyptisch. Sie befassen sich mit ,den letzten Dingen'."8 Eine Apokalyptik, die bei Rosenzweig die Erlösung, bei Bloch eine messianische Emanzipation, bei Spengler Untergang und qualvolle Wiedergeburt, bei Heidegger das Heraufscheinen einer neuen, unerhörten Wahrheit und bei Hitler ein blutiges Versprechen an das Volk umfaßt. Man kann hinzufügen: Alle diese Bücher konstatieren eine gigantische Krise der abendländischen Kultur, um auf ihre Weise den Hereinbruch des jeweils Neuen vorzubereiten und herbeizuzwingen. Karl Barth hat die Krise explizit und paradigmatisch überspitzt terminologisiert: sie ist für ihn der Aufschein der definitiven Vernichtung des Endlichen durch das Unendliche. "Die sog. ,Heilsgeschichte"' - also nicht nur das Bessere der Geschichte, sondern das schlechthin Gute - "ist nur die fortlaufende Krisis aller Geschichte, nicht eine Geschichte in oder neben der Geschichte. Es gibt keine Heiligen unter Unheiligen."9 Versöhnung und Erlösung ereignen sich nicht kontinuierlich, organisch, geschweige denn innerweltlich, sondern katastrophisch, in einem Zusammenbruch, in den Religion, Kirche und Welt hineingezogen werden, nur um die "Heiligkeit Gottes in strengster Transzendenz und Wunderbarkeit" 10 zu offenbaren. Rekonstruiert man diese Un-Heilsgeschichte - die sich nicht zuletzt auch gegen die Heilsgeschichte wendet, als deren Teil sich die Kirche verstand - in den Begriffen der Geschichtsphilosophie, so zeigt sich: Hier hat sich das reine, überweltliche Moralische so weit vom Geschichtlichen entfernt, daß es seine blanke Negation geworden ist. Die "Krise" des Geschichtlichen ist ganz folgerichtig mit seiner Vernichtung gleichzusetzen, und es wundert nicht, daß dieser Impuls sich aus dem Milieu seiner Entstehung - der Fin de siecle-Atmosphäre der frühen Zwanziger Jahre - emanzipierte und von der zweiten Katastrophe des Jahrhunderts bestätigen ließ. s George Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung, München I Wien: 1989, S. 10. 9 Karl Barth, Der Römerbrief, Zürich 1976 (Nachdruck der Neubearbeitung von 1922), S. 32. w Ebd., S. 393.

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Für Barth ist "Krise" kein zeit- oder geschichtsdiagnostischer Topos. Er ist das Instrument, mit dem sich die "dialektische Theologie" nicht nur gegen ihr eigenes juste milieu, sondern gegen das Geschichtliche insgesamt wendet. Die Erlösung von der Geschichte, die Barth anstrebt, ist das überweltliche Extrem einer Pathologie des Endlichen. Barth ruft die Krise deshalb aus, weil er deren Lösung bereits weiß, ja weil er eigentlich der Einzige ist, der sie weiß und dieses absolute Wissen mit absolutem Effekt in die Gegenwart setzen will. Das verbindet ihn mit Heidegger: auch Heidegger erklärte eine Geschichte für gescheitert - die gesamte abendländische Philosophie nämlich -, um seine radikale Erneuerung umso wirkungsvoller inszenieren zu können. Die Erinnerung an zwei der gewalttätigsten Denker des 20. Jahrhunderts - ich spreche von intellektueller Gewalttätigkeit, die sich gegen ihre eigene Geschichte gerichtet hat und gerade deshalb unvergleichlich wirkungsvoller war als ihre akademische Konkurrenz - wäre beinahe Grund genug, den Begriff der Krise als Instrument geradezu fallen zu lassen. Ganz offensichtlich werden hier Krisen nicht bloß diagnostiziert; sie werden zielgerichtet deshalb ausgerufen, weil ihre Propheten die Krise brauchen, um die eigene Lösung überhaupt zu plausibilisieren, ja mehr noch, um die Geschichte (intellektuell) zu ändern. Der Sprechakt der Ausrufung der Krise integriert die Adressaten als potentielle Opfer; er impliziert Handlungs- und Veränderungszwang. Gleichzeitig erweist sich der Ausrufer der Krise selbst als Souverän der Situation: er definiert die Situation aller denkbaren beteiligten Akteure und gibt die Richtung vor - wenn es eine rhetorische Figur gibt, die das Prädikat "gefährlich" verdient, ist es ganz offenbar die Krisen-Prophetie. IV. Krisenpropheten mögen Recht haben oder nicht. Erfolg haben sie aber nicht deshalb, weil sie Recht haben, sondern weil sie sich einen unvergleichlich wirkungsvollen Mechanismus zu Nutze machen. Wenn die kognitive Psychologie nicht ganz fehl geht, ist der Mensch nicht bloß das soziale Tier, sondern das Tier, das Sinn macht- genauer, das Tier, das sich unablässig seinen Sinn selbst macht. Es ist ständig mit Widersinn konfrontiert - mit Ereignissen, die seine Sinn-Konstruktion fraglich machen - , und daher ununterbrochen damit beschäftigt, seinen Sinn zu rekonstruieren, Kontingenz einzuarbeiten und wenigstens im Rückblick sowie durch Umarbeitung von Erwartungen in Sinnvolles zu verwandeln. "Krisen" sind in diesem Zusammenhang etwas Vertrautes und Alltägliches und zugleich immer zu Fürchtendes: Sie sind der Einbruch von Sinnlosigkeit in das labile Gefüge unserer Selbst-Konstruktion, die katastrophisch wird, wenn sie dem Selbst die Zukunft als Selbst unmöglich macht. Die kreatürliche Metaphorik von Bedrohung und Heilung, die von dort her auf unseren Sprachgebrauch von "Krise" übergegangen ist, hat historische Konsequenz: "Die medizinische Lehre von der Krise - wahrscheinlich von Hippokrates begründet - basiert auf der Feststellung, daß schwer fieberhafte Krankheiten unter

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auffallenden Symptomen plötzlich in Genesung oder Verschlechterung übergehen und daß diese Wendungen im Krankheitsgange bestimmte Tage bevorzugen. Der entscheidende Wendepunkt im Verlauf der Krankheit heißt Krise". 11 Wie in vielen anderen Fällen hat das Leib-Erleben die erstaunliche Persistenz der Metapher hervorgebracht, auch wenn es hier nicht ein unmittelbares oder ständiges Erleben (wie das "Begreifen", "Einsehen", "Festhalten" etc.) geht, um sondern ein gelegentliches, das sogar auf vergleichende Beobachtung angewiesen ist. Der fieberhafte Leib, der am nächsten Tag tot oder geheilt ist, ist das körperliche, wenn auch nicht sinnliche Urbild der "Krise". Es ist der Körper im Drama: in der Entscheidung ("krisis") zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Sein und Nichtsein ("Die Krisis .. . ist: Es ist oder es ist nicht.") 12 . Die entscheidende Versöhnung zwischen der bedrohten Subsistenz des Leibes und dem ganz und gar nicht subsistenten Mosaik von Handlungen und Ereignissen, die eine Biografie oder eine Geschichte im historischen Sinn ergeben sollen, lieferte schon immer die Religion. Sie tat es vor allem in ihren primitiven Formen, wo leibliche Krisen in Passagen-Riten sozial gebändigt wurden. Und sie tat es in ihren elaborierteren Formen: Das Christentum definiert biografisches Geschehen nicht als Reihe von Zufällen oder Schicksalsschlägen, die durch die Selbstbehauptung des Subjekts zusammengezwungen werden, sondern als Geschichte, die den Gesetzen - nun aber nicht der Natur oder des Körpers, sondern - des Willens Gottes gehorcht. Eine Lektüre: Augustin schildert zu Beginn des sechsten Buchs der "Konfessionen" seinen Zustand der schwankenden, "langsamen und unwissenden" (Conf. V, 13) Annäherung an den katholischen Glauben. Während er noch skeptischer Katechumen in der Obhut des Mailänder Bischofs Ambrosius ist, unternimmt seine Mutter eine gefahrliehe Seereise, um ihn zu besuchen. Sie findet ihn "in der Not und Gefahr des Hoffnungslosen, der am Finden der Wahrheit verzweifelte" (VI, 1), ist aber von der festen und ruhigen Überzeugung, daß ihr Sohn, "sobald sich meine gefährliche Lage noch weiter verschärfte, in einer Art Krisis, wie die Ärzte es nennen, von der Krankheit zur Gesundheit übergehen" würde. Tatsächlich dauert es noch eine ganze Weile, bis Augustin von seiner Krankheit (vgl. VIII, 11) erlöst sein wird. Die entscheidende Selbsterkenntnis ist aber genau die der eigenen Krankheitskrise: "Du aber, Herr, Du wandest mich ... zu mir selbst herum, Du holtest hinter meinem eigenen Rücken mich hervor, wo ich mich eingerichtet hatte, dieweil ich mich nicht anschauen wollte, und stelltest mich meinem Angesicht gegenüber, damit ich sähe, wie häßlich ich sei, wie verkrüppelt und schmutzig, voll Sudel und Geschwür." (VIII, 7)

Eine sensationelle Metapher, die das Unwahre der Krisensituation - die Verleugnung des eigenen Zustands - mit einer physiologischen Unmöglichkeit, und das II Nelly Tsouyopoulos, Art. "Krise" (Il), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 1240 - 1242, Basel 1976, Sp. 1241. 12 Parmenides, DK 28 B 8, 15.

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Erkennen des Wahren mit einer physiologisch nicht weniger unmöglichen Selbstkonfrontation beschreibt. Die medizinische Krisenmetapher steht dabei unausgesprochen im Hintergrund und erweist sich damit als Angelpunkt für die erregende Synthese von schonungsloser Selbstbeobachtung und christlichem Heilsgeschehen. Sie erlaubt es, den Verwirrungszustand als Vorboten kommenden Heils zu deuten und gibt gleichzeitig das Sektionsinstrument der Selbstanalyse frei: die Definition der Begierde (und ihrer verzweifelten Abwehr) als körperliches Leiden; dazu der Zweifel und die Skepsis, die intellektuelle Verwirrung als weiteres Symptom. Der Umkehrschluß - daß die Befreiung durch den Glauben von körperlichem Leiden erlöst- ist dennoch eine große Überraschung; jedenfalls wird das schlagartige Verschwinden eines Zahnschmerzes (IX, 4,12) als Wunderheilung gefeiert. Die Vision von Ostia (IX, 10) ist ein schwereloses Wandern, körperloses Schauen, mit einem Herzschlag der Teilhabe an der ewigen Weisheit. Was hier verblüffen darf, ist die narrative und explanatorische Kraft, die die Krisenmetapher freisetzt. Die zerstörensehen und Selbstzerstörerischen Erfahrungen, die Augustin mit enormer Mitleidlosigkeit sich selbst gegenüber schildert, fügen sich gerade wegen ihrer Turbulenzen in das Ordnungsschema des kommenden Heils. Die Unordnung der Krise ist - im Rückblick - die sicherste Garantie für die Ordnung des Heils. Den Theologen kann dieses Raffinement der Erzählung indessen nicht überraschen. Es ergibt sich aus der Eschatologie: es ist das Gute, das kommt. Damit erfährt aber die Krisen-Metapher eine entscheidende Änderung gegenüber der medizinischen Herkunft: die Ambivalenz von Sein oder Nichtsein, von Sinn und Nicht-Sinn bestimmt nicht mehr die Zukunft der Krise, sondern nur ihre Gegenwart. Sein und Sinn der Zukunft machen die Krise selbst sinnvoll. Das Subjekt der Narration des Augustin ist gleichzeitig ihr Adressat. Die Konfessionen sind ein Roman in der zweiten Person, gerichtet an Gott, der gleichzeitig das bewegende Handlungssubjekt ist. Für die Verwendung der Krisenmetapher ist dies alles andere als gleichgültig. Denn der Sinn, der die Krise nachträglich mit Sinn füllt, macht nicht nur die Erzählung sinnvoll, sondern wird selbst durch die Erzählung als der Sinn konstituiert. Theologisch gesprochen, sind die Konfessionen Bekenntnis des schuldhaften Erzählers und Lobpreis Gottes. Das erste Buch der Konfessionen schildert sehr ausführlich die Bedingungen der Möglichkeit dieses Lobpreises: er ist nur möglich, weil Gott selbst den Glauben in dem Sünder erweckt hat. "Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, .. . da ich doch, wenn ich ihn rufe, in mich herein ihn rufe?" (I, l) Die Bewältigung dieses Paradoxes geschieht durch ein weiteres Paradox, die Selbstgenügsamkeit und Vollkommenheit Gottes, die das Endliche zu sich zieht. Gott ist der "Sammelnde und nichts Bedürfende", ein Suchender, obgleich es ihm an nichts mangelt. Aus diesen Voraussetzungen, die Augustins Konfessionen systematisch und literarisch bestimmen, ergibt sich für die Krisenschilderung der späteren Bücher ein delikater, doppelter Zirkel von Sinnvoraussetzung und Sinnkonstitution: Gott, der als Sinn auch der Krise von vornherein proponiert wird, erweist sich durch die Erzählung der Krise als eben dieser Sinn - dies ist der narrative Zirkel. Gleichzeitig ist Gott selbst durch nichts

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anderes als durch sich selbst gegeben und begründet - ein Legitimationszirkel, der den narrativen Zirkel bedingt und ermöglicht. Die Typik dieser Sinnkrise besteht nicht so sehr darin, daß das Krisengeschehen einfach auf eine Art ,happy end' zuläuft, sondern darin, daß sein Unordnungscharakter in der kritischen Phase - die natürlich eine zusätzliche immanente Klimax hat- sowohl erzählerisch als auch prinzipiell, also eben in einem doppelten Zirkel, auf sein Ordnungsprinzip zurückführt. Dabei sind natürlich die beiden Zirkel des Narrativen und des Prinzipiellen ineinander verschlungen: Die Erzählung wäre keine Heilserzählung, wenn sie kein Gotteslob wäre - und Gott wäre nicht der selbstgenügsame Erbarmer, führte die Erzählung nicht auf ihn zu.

V. Nun hat der Gott Augustins, der für sich die Logik der Geschichte gepachtet hat und sie geradezu terroristisch gegen den Eigen-Sinn des Menschen, gegen seine autonomen Freiheitsbemühungen durchsetzt - Kurt Flasch spricht hier von der "Logik des Schreckens" 13 , also einer ganz eigenen Logik der Krise - , abgedankt. Das ist vielleicht gar nicht weiter tragisch; im Blick auf die Frage der menschlichen Freiheit (so es so etwas überhaupt gibt), die jetzt erst überhaupt möglich wird, möglicherweise sogar eine Erlösung. Aber eigentümlicherweise hat die Geschichte diese Erlösung durch Säkularisation immer als die Krise interpretiert und tut es bis heute. Gottfried Wilhelm Leibniz hat erstaunlicherweise immer noch eine Chance. Seine Zuversicht, daß es Gott gelungen sei, das, was uns als das Faktisch-Zufällige vorkommt, mit den unverrückbaren Vernunftwahrheiten so zu vereinbaren, daß dabei die beste aller möglichen Welten zustandekommt, hat schon Voltaires empiristischer Einwand "Die Welt ist schlecht" nicht beseitigen können. Denn die Konstatierung des schlechten Faktischen ist kein Gegenargument gegen den Optimierungs-Optimismus, zu Leibniz also: "Besser geht es nicht". Für diese milde Optimierung braucht es nicht einmal einen Gott - es genügt der Mensch: Gott wurde, so Odo Marquard, vom Vorwurf der Verantwortlichkeit für die Übel der Welt ent-, der Mensch statt dessen belastet. Der Prozeß der Theodizee, der überhaupt für die Geschichte ein Subjekt suchte, blieb erhalten und mit ihm der Sinn-Vorwurf, unter dem die Geschichte stehen bleibt. Was die Säkularisation geändert hat, war aus dieser Perspektive nichts als die Abschaffung des geschichtlichen Singulars. Der Eine Gott, der die Geschichte schuf und auf den sie zulief, wurde ersetzt durch die Menschen, die ihre eigenen Sinne verfolgen und verteidigen. Deshalb, so meinte insbesondere Kar! Löwith, seien geschichtliche Singulare wie etwa "die Weltgeschichte" nicht mehr haltbar: "Aber auch die sogenannte Weltgeschichte ist nicht die Welt als Geschichte, sonI3

Kurt Flasch, Logik des Scheckens, Mainz I990.

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dem nur unsere menschengeschichtliche Welt. Der die Welt mit der Geschichte vereinigende Ausdruck ,Weltgeschichte' ist selber schon das Ergebnis eines die Welt historisierenden und sie vermenschlichenden Denkens. Es gibt im strengen und wörtlichen Sinn keine Welt-Geschichte; denn weltumspannend und universal ist nur das physische Universum." 14 Die irrationale und gleichwohl fest zementierte Annahme einer Weltgeschichte ist insofern eine Fehlleistung der Säkularisation. Sie ergibt sich für Löwith jedenfalls nicht aus der Geschichtsbetrachtung, sondern aus dem Umstand, daß die Fiktion eines freien und verständigen Subjekts Gott ersetzt und dadurch das christliche Modell der Heilsgeschichte auf die Ebene der Weltgeschichte projiziert hat. Auf diese Weise lebe Augustins Gottesstaat sowohl in Kants "Zum ewigen Frieden" als auch in Hegels Vernunftgeschichte als auch letztlich in Marx' Emanzipationsgeschichte fort. Gegen die bei Löwith eher implizite Vergleichgültigung von Geschichte zu einer Folge von Ereignissen hat am heftigsten Hans Blumenberg protestiert. Die Utopie und vernünftige Planung des Subjekts, so Blumenberg, seien zwar Nachfolgerinnen der Eschatologie; nicht aber ihre Nachkommen. Sie ersetzen nämlich die mythische Metaphysik durch ein rationales Verfahren, die Methode: "Die Methodenidee ist keine ... Verwandlung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Herstellung einer Disposition: der Disposition eines Subjekts, an ... einem Prozeß teilzunehmen, der Erkenntnis transsubjektiv leistet." 15 Fortschritt ist also ein rationales Postulat, das die irrationale Zukunftshoffnung der Eschatologie vollständig substituiert. Säkularisation ist vernünftiger Fortschritt; keine Heilsgeschichte mit rationalen Mitteln: hierin wiederum waren sich Löwith und Blumenberg einig. Auch für Löwith ergab sich die "Weltgeschichte" nicht so sehr aus der vordergründig einschlägigen Hegel'schen Übersteigerung des Geistes zum Weltgeist, sondern aus der bloßen Voraussetzung von subjektiver Vernunft überhaupt: "Was Hege! prinzipiell voraussetzt, ist nicht die besondere Vernunft der Geschichte, sondern daß überhaupt Vernunft in der Welt ist, zum Beispiel in der gesetzlich geordneten Bewegung der Himmelskörper, und daß sie folglich auch in der geschichtlichen Welt aufgesucht werden müsse." 16 Und auch der Umstand, daß die Selbstermächtigung der Vernunft mit Selbstkontrolle einhergehen müsse, verbindet die Kontrahenten Löwith und Blumenberg, wie die parallele Stellungnahme gegen die politische Theologie Carl Schmitts deutlich macht: Löwith macht unter der vermeintlich konfessionellen Theologie des Politischen den "nihilistischen Grund einer durch nichts mehr gebundenen Entscheidung" 17 aus, und Blumenberg warnt: Schmitt mißverstehe die Selbstbehauptung der Rationalität, wenn er meine, daß der entsprechende 14 Kar/ Löwith, Christentum, Geschichte und Philosophie, in: Der Mensch inmitten der Geschichte (FN 3), S. 341. 15 Hans Blumenberg (FN 5), S. 42. 16 Kar/ Löwith, Mensch und Geschichte (FN 3), S. 241. 17 Kar/ Löwith Politischer Dezisionismus (FN 3), S. 30f.

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Geschichtsbegriff "statt der Schöpfung aus dem Nichts die Schöpfung des Nichts als der Bedingung der Möglichkeit der Selbst-Schöpfung einer stets neuen Weltlichkeit impliziere". 18 Mit anderen Worten: die Geschichte kann und muß das Feld, aber nicht das Objekt der Vernunft sein. Gegen diese vergleichsweise starke These von der Behauptung von Rationalität in "der Geschichte" bleiben rationalitätsskeptische Anwandlungen schwach: Löwith lagerte sie aus in die Porträts etwa der antiken Philosophie - sie kenne nicht die Geschichte, sondern nur Geschichten, politische Ereignisse - oder des japanischen Denkens: "Die menschenwürdigste Haltung gegenüber dem Schicksal ist für den Japaner, der noch nicht durch die Ansprüche eines selbstbewußten Fortschrittswillens geprägt ist, die Gelassenheit und Ergebenheit, was immer der Anlaß zu ihr auch sein mag: Krankheit und anderes Mißgeschick, Krieg und politische Umwälzungen, Erdbeben und Brände, Taifune und Überschwemmungen.'" 9 Von da aus ist es nicht weit zum Usualismus Marquards und Rortys, der ebenfalls appelliert, auf die Hybris des alles entscheidenden Freiheitssubjekts zu verzichten: "die Menschen sind nicht absolut, sondern sie sind endlich. Sie leben und wählen ihr Leben nicht - jedenfalls überwiegend nicht - absolut: denn sie müssen sterben ... ". 20 In anderen Worten: die Geschichte ist nicht das Feld der Vernunft; die Vernunft allenfalls eine Insel in der Geschichte.

VI. Über den Umstand, daß der Verzicht auf die starke Metaphysik der Vernunft tendenziell nur durch Resignation - der Abdankung der Vernunftrationalität als Prinzip - möglich ist, ist viel gestritten worden. Sicher ist, daß diese Debatte nicht selten am Rande des Trivialen geführt wurde: wir Menschen sind nun einmal Menschen, mit oder ohne Gott, und müssen sehen, wie wir damit auskommen; wir hoffen nicht auf Erlösung von außen, sondern darauf, daß wir es mit Bordmitteln schaffen, die Dinge nach Möglichkeit zum jeweils etwas Besseren zu wenden. Diese Annahmen sind zweifellos stark genug, um maximalen Konsens zu erreichen; gleichzeitig sind sie so schwach, daß sie die Resignation der Regentschaft "der" Vernunft wie eine Resignation vor den Problemen aussehen lassen. Das Gegenargument - besser wohl: die Gegenstrategie - gegen diesen Vorwurf besteht in der Behauptung, daß die Säkularisation, die zur Ablösung Gottes und zur Herrschaft der Vernunft führte, unvollständig war: Sie schaffte jenen großen Singular nicht ab, sondern ersetzte ihn durch einen anderen. Blumenberg hat genau diesen Einwand energisch entkräften wollen: Die Aufklärung hat die Kontemplation Gottes und seines Schöpfungs- und Heilswerkes durch die Selbstreflexion der Vernunft und die empirischen Wissenschaften ersetzt. 18 19

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Hans Blumenberg (FN 5), S. 109. Karl Löwith, Bermerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident (FN 3), S. 264. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, S. 121.

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Was damit geschehe, sei aber eben nicht die Ausfüllung einer Vakanz (der Vakanz Gottes durch die Vernunft) - vielmehr ein Anbruch einer Epoche aus völlig eigenem Recht: "Die Neuzeit ... ist, im Unterschied zum Mittelalter, nicht eher da als ihre Selbstauslegung, durch die sie zwar nicht hervorgetrieben wird, deren sie aber ständig zu ihrer Formierung bedarf. Das Selbstverständnis ist eines der konstitutiven Phänomene der (neuzeitlichen) Geschichtsphase." 21 Dies ist übrigens auch der Grund, weshalb allein im Ausnahmefall der Neuzeit der ansonsten fragwürdige Epochenbegriff legitim ist: Selbstverständnis, Reflexion ist selbst das "signifikante Element der Epoche". Wir erleben hier ein ähnliches Schauspiel wie in der aufklärerischen Gesellschaftstheorie, die die Entstehung der Gesellschaften aus feudalen Strukturen zugibt, ihre Legitimation aber aus einer abstrakten Fiktion, etwa dem freiwilligen Vertragsschluß aller ihrer Mitglieder miteinander herleitet. Wenn Blumenberg Pierre Duhems "Le Systeme du Monde" und Edmund Busserls "Krisis der europäischen Wissenschaften" kritisiert, greift er gerade deren teleologische Geschichtsdeutung an: "Zur Norm dessen, was immer schon da gewesen ist, wird das, was zuletzt noch da ist. Die europäische Geschichte verwandelt sich in eine weitläufige Vorbereitung der Neuzeit". 22 Gegen diese naive Teleologie akzentuiert er die "Selbsterschaffung der Neuzeit", also gerade die geradezu ahistorische Emergenz der einzigen Epoche, die diesen Titel verdient. Die Neuzeit ist so gesehen nichts Historisches, sondern ein reflexives Prinzip, welches als Prinzip der Sinnkrise des vorangehenden Mittelalters verstanden werden muß: als der Gegensinn einer Sinnkrise, der sich erst enthüllt, wenn diese vorbei ist. Die Neuzeit scheint überall dort im Mittelalter bereits auf, wo das Denken hinter seinem eigenen Rücken hervorkommt und sich reflexiv selbst erkennen kann. Sie vollendet ihren Anbruch erst, wo die Reflexivität epochal wird; wenn die Krise beendet ist und die aufklärerische Kritik seiner selbst beginnt. Blumenberg kommt nicht umhin, eben jene doppelte Kreisstruktur der Sinnkrise zu durchmessen, die ich Augustin unterstellt habe: Natürlich muß das Mittelalter narrativ auf die Neuzeit zulaufen - beispielsweise muß sich der Konflikt zwischen religiöser Erinnerung an das Kommende (memoria) und wissenschaftlicher Neugier (curiositas) durch die neuzeitliche Trennung von Vernunftwissen und Glaube lösen lassen. Darüber hinaus muß aber die Neuzeit selbst ihren Grund rein in sich haben können. Historisch, und das bedeutet narrativ rekonstruierend, hat die konfliktreiche mittelalterliche Geschichte ihr Telos in einer Neuzeit - prinzipiell erschafft diese sich selbst. So ahmt der Erzählgestus Blumenbergs durch seine keinesfalls naive und gebrochene Teleologie die Zielorientierung der augustinischen Sinnkrise nach. Die Autokreativität der neuzeitlichen Epoche löst die freigiebige Selbstgenügsamkeit Gottes ab: Augustins "Gott" wird nicht durch den Menschen, sondern durch eine Epoche, die Neuzeit, ersetzt.

21 22

Hans Blumenberg (FN 5), S. 543. Ebd., S. 546

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VII. Blumenbergs Neuzeit-Pathos ist verallgemeinerbar: alle an der Aufklärung orientierte Philosophie hat das Zeitalter der menschlichen Vernunft genetisch aus den Krisen der vorangegangenen und rational rein aus sich selbst erklären wollen. Dagegen ist traditionell wenig einzuwenden; auch die "Dialektik der Aufklärung" bestätigte mehr die Aufklärung als daß sie sie wirklich in ihr Gegenteil verkehrte. 23 Was allein gegen den doppelten Zirkel von historischer Rekonstruktion und rationaler Selbstbehauptung spricht, ist am Ende - wohl die Geschichte selbst. So hat schon früh Reinhart KoseHeck zu argumentieren gesucht, als er schilderte, wie der Absolutismus - man könnte sagen, die letzte vorneuzeitliche Epoche - tatsächlich von einer Entwicklung abgelöst wurde, die mit der bürgerlichen Vernunftkritik begann, wie aber eben dieselbe Kritik durch ihre eigenen politischen Folgen in eine fundamentale, eigentlich selbstvernichtende Krise geführt wurde. Der Akzent KoseHecks lag seinerzeit auf der präzisen Unterscheidung zwischen dem "moralischen Innenraum" 24 der bürgerlichen Vernunft und dem "Bürgerkrieg" -eigentlich ein Hobbessches-Carl Schmittsches Deskript gesellschaftlicher Wirklichkeit, bei KoseHeck aber gleichzeitig das paradoxe Ergebnis der bürgerlichen Moralkritik. Die aporetische Engführung der bürgerlichen Emanzipation, die Koselleck damit verband, verdankte sich der Weigerung, die Anfechtung politischer durch den Nachweis moralischer Legitimität einfach beiseite zu schieben. Es war dies eine Verweigerung der neuzeitlichen geschichtsphilosophischen Gepflogenheit, das Faktische durch das Kontrafaktische, das Politische durch das Sittliche zu erklären. Der moralische Sinn, so wäre zu schließen, setzt sich nicht einfach durch Uminterpretation der Geschichte durch. Wenn es Sinn gibt, muß er sinnvoll sein auch gegen die Sinnlosigkeit von Geschichte - besser wohl: gegen die Sinn-Neutralität von Geschichte. Eine zweite Lektüre: "Auf der Zugfahrt nach London wurde Mr. Gibril Farishta verständlicherweise noch einmal von der Angst ergriffen, daß Gott beschlossen hätte, ihn für seinen Abfall vom Glauben zu bestrafen, indem er ihn in den Wahnsinn trieb . .. . Die schreckliche Angst davor, den Verstand an ein Paradox zu verlieren, von etwas vernichtet zu werden, an dessen Existenz er nicht mehr glaubte, ... war so stark, daß er nicht imstande war, sich längere Zeit damit zu befassen".25 Diese Sätze finden sich ungefähr im Schnittpunkt des ungeheuerlichen Chiasmus von Gut und Böse, den Salman Rushdie - unter anderem - in seinen "Satanischen Versen" beschreibt. Es handelt sich hier um den indischen Superstar Gibril Farishta, Hauptdarsteller zahlloser sogenannter Theologicals, Liebhaber unter anderem 23 Hartmut Kuh/mann, Lustreise zum Sinn. Über einige Aspekte der Mythologie der Aufklärung, in: Enno Rudolph (Hrsg.), Mythos zwischen Philosophie und Theologie, Darmstadt 1994 24 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt IM. 1973 (Freiburg I München 1959), S. 155. 25 Salman Rushdie, Die satanischen Verse, Artikel 19 Verlag 1989, S. 193.

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einer mehrfachen Bezwingerio des Mount Everest, naiv, erfolgreich, gesättigt, der durch den Sturz aus einem explodierenden Flugzeug in einen Engel Gottes verwandelt wird. Sein Gegenspieler ist Saladin Chamcha, ebenfalls Inder, aber mit sich und seiner Heimat zerfallen, schlägt sich in England als Witzfigur in einer Alien Show und als Sprecher in Werbespots durch - er fällt aus demselben Flugzeug; ihm wachsen aber Hörner, Bocksfüße und eine satyrhafte Männlichkeit. Am Ende des Buches hat sich dieser Saladin wieder zurückverwandelt Er kehrt nach Indien zurück, versöhnt sich mit seinem Vater und begleitet ihn in einen unweitlieh friedlichen Tod. Der Engel Gibril aber, wahnhaft getrieben von seiner unerfüllbaren Mission, wegen seiner rasenden Verbrechen von der Polizei gesucht, erschießt sich - im Vaterhaus Saladins. Die oben zitierten Sätze finden nach der ersten Verwandlung beider statt: Gibril zweifelt an seinem Verstand und an der Mission, auf die er geschickt wurde; er hat Angst, von Gott vernichtet zu werden. Sie formulieren ein logisches Paradox, darüber hinaus aber einen teuflischen Zirkel der Angst. Das Paradox beginnt einfach: Niemand kann von etwas vernichtet werden, das es objektiv nicht gibt, deshalb dürfte auch niemand subjektiv Angst vor der Vernichtung durch etwas haben, dessen Existenz er nicht akzeptiert. Natürlich kann Gibril aber durch etwas vernichtet werden, das er subjektiv vielleicht nicht anerkennt, das aber objektiv existiert. Damit würde seine Vernichtung nicht nur ihn, sondern zuerst seine Überzeugung, also seinen Verstand annihilieren. Aus diesem Paradox entwickelt sich der Zirkel der Angst: die Vernichtungsangst, die verursacht ist durch die Drohung des Wahnsinns, die selbst aber den Wahnsinn hervorbringt. Am Ende wird Gibril, wie erwähnt, eben diesem Wahnsinn zum Opfer fallen. Die Frage, ob er selbst oder Gott das Subjekt dieses Wahns ist, bleibt offen. Ich vermute, daß Rushdie auch diese kleine Skizze in negativer Entgegensetzung zu religiös-traditionellen Vorstellungen gebaut hat. Die Krise Gibrils hat wie diejenige Augustins ihren literarischen Platz innerhalb eines Berufungs- oder Bekehrungsberichts. Sie führt aber nicht zum Heil, sondern zum Unheil; ganz dementsprechend ist die Krise selbst nicht Ankündigung einer Erlösung, sondern Vorbote einer Verzweiflung, die durch Religion verursacht ist und zur Vernichtung führt. Wo bei Augustin narrative Konsequenz durch Glaubensgewißheit steht, finden wir bei Rushdie eine Narration, die sich durch Ungewißheit katastrophisch verwickelt. Die Pointe liegt aber ganz woanders: wo bei Augustin die Gewißheit einer tiefen Vertrautheit mit Gott spricht, redet bei Rushdie ein Autor, der den Leser durch Fabulieren vor dem Wahnsinn der Gegenwart retten will. Rushdie führt mit seiner Erzählung nicht nur die traditionelle Religiosität in eine Krise. Gleichzeitig -und das ist der nichttriviale Sinn seiner Kontrafaktur der Tradition durch Vermischung von Gut und Böse - ist es das moderne, neuzeitliche aufgeklärte Bewußtsein, dessen Krise beschrieben wird. Denn die Wahrheit der Bedrohung durch den Wahn ist universal - für den Kurzschluß des verhängnisvollen Wahnsinnszirkel ist es unerheblich, ob Gott existiert oder nicht. Wenn Gott

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existiert, läßt er aufgrund eines maßlosen Zorns sein Geschöpf zerbrechen; wenn nicht, zerbricht es nur an sich selbst. Der Roman läßt nicht nur beide Deutungen zu; er fordert ihr Nebeneinander heraus und provoziert damit einen tiefen Selbstzweifel über eine der liebsten Fiktionen des emanzipierten Bewußtseins.

VIII. Die zweite Lektüre behandelt ihr Objekt, Rushdies Roman, als Exempel, nicht als Prototyp. Er ist das Beispiel einer Sinnkrise ohne eschatologisches self-fulfilling. Er holt den Leser hinter seinem eigenen Rücken hervor, ohne ein Heilungsversprechen für die damit offenbarten Gebrechen geben zu können. Damit kehrt er das Erbarmen Gottes um in ein Erbarmen des Menschen - des Geschichtenerzählers nämlich - mit dem Menschen und verzichtet darauf, was uns die Geschichtsphilosophie gelehrt hat: die herrische Forderung der Versöhnung aller mit allen. Das geschichtstheoretische Äquivalent dazu ist wahrscheinlich tatsächlich die ,,Sinnlosigkeit" der Geschichte, 26 wenn dieser Ausdruck nicht gleichzeitig zu pathetisch und zu lakonisch wäre. Zu pathetisch ist er, weil auf Seiten der Geschichte "Sinn-Neutralität" oder "Sinn-Indifferenz" das passendere Wort wäre; zu lakonisch, weil in ihm die Enttäuschung der Sinnerwartung durch das Subjekt unterrepräsentiert ist. Den Desintegrationsdruck, den die nicht reduzierbare Überkomplexität der geschichtlichen Ereignisse auf das Subjekt ausüben kann, hat Rushdie als Wahn beschrieben. Dort, wo wiederum Wahn Sinnlosigkeit produziert und Existenzen mental und physisch vernichtet - wie es der deutsche Nationalsozialismus getan hat -, bleibt keine Wahl, als von einer namenlosen Katastrophe zu sprechen, die sich in Maßstäben von historischer Erklärung nachzeichnen, aber nicht einmal im negativen Modus mit "Sinn" versehen läßt. Für diese Meta-Katastrophe des Geschichtsdenkens - der Katastrophe der Sinnerwartung angesichts der fortgesetzten Katastrophen des 20. Jahrhunderts - hat die Theorie bislang noch keinen Begriff gefunden, 27 sieht man ab von Krisen-Begriffen, die bloß das Negative von bisherigen Moral- oder Gesellschaftsordnungen betonen können, das sich in den Katastrophen ereignet.

26 Reinhart Kose/leck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: Merkur 51 (1997), Nr. 577, S. 319 - 334. 27 Hartmut Kuh/mann, Ohne Auschwitz, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1997), Heft I, S. 101 - 110.

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Was ist metaphysische Schuld?* Von Dominic Kaegi, Heidelberg

Reiner Wiehl zum 70. Geburtstag

Im Wintersemester 1945 I 46, parallel zur Wiedereröffnung der Philosophischen Fakultät 1, hielt Jaspers eine Vorlesungsreihe über "Die geistige Situation in Deutschland". Angekündigt waren vier Teile 2 , die in einem für Jaspers nicht untypischen Duktus von den "allgemeinen Grundlagen der Zeit" zum "Ethos im jetzt möglichen Dasein" führten. Das Zentrum jedoch bildeten die Überlegungen zur Schuldfrage. Jaspers ließ sie bereits 1946 veröffentlichen - "um Mißverständnisse zu vermeiden", wie er sagte. 3 Ein Jahr später erschien der erste Band der Philosophischen Logik: "Von der Wahrheit". 4

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Internationalen Symposion "Zeitwelten Denken zwischen Religion und Philosophie", Hermann-Cohen-Akademie Buchen, 14.16. November 1999. Carsten Dutt danke ich für zahlreiche Hinweise. I Am 15. Dezember 1945, gemeinsam mit der Juristischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät; die Immatrikulationsfeier fand Anfang Januar statt, vgl. Joachim-Felix Leonhard, Neubeginn und Weggang. Kar! Jaspers in Heidelberg 1945- 1948, in: ders. (Hrsg.), Kar!Jaspers in seiner Heidelberger Zeit. Heidelberg 1983. S. 125-157, 131 f. 2 Vgl. Leonhard (FN 1), S. 147. 3 Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Neuauflage unter dem Titel: Die Schuldfrage. Zur politischen Haftung Deutschlands, München 1974, 2 1996. - "Als Deutscher unter Deutschen" wolle er "mit all diesen Erörterungen Klarheit und Einmütigkeit fördern", hieß es im Vorwort zur Schuldfrage (S. 7). Das Resultat waren Ignoranz oder Polemik, bis hin zur Curtius-Debatte von 1949. "Was [Jaspers]1945 zur Schuldfrage . .. formuliert hat, ist in seiner nüchternen Abwägung zwischen Entlastung und Belastung kaum rezipiert worden. Die Unterscheidungen zwischen krimineller und moralischer Schuld, zwischen politischer Haftung und metaphysischer Verantwortlichkeit - diese Distinktionen schienen im dichten Nebel· der deutschen larmoyanten Selbstentschuldigungen und Selbstbeschuldigungen nicht zu greifen." (Reinhart Koselleck, Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische, in: Jeanne Hersch et. al. (Hrsg.), Kar! Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, München 1986, S. 291-302, 293.) Aus verschiedenen Quellen geht hervor, daß das Thema der Schuldfrage auch unter den Studierenden Irritationen auslöste. In einer für Daniel Penham verfaßten Denkschrift berichtet Joachim Boeckh, seinerzeit Leiter des Collegium Academicum, "die Erörterung der Schuldfrage rufe Abwehrreaktionen hervor; die junge Generation fühle sich in Wahrheit von der älteren Generation verführt und mißbraucht. Das Wort ,Demokratie' treffe auf Skepsis, nachdem der Begriff zwölf Jahre lang unaufhörlich verhöhnt worden sei" (Volker Sellin, Die Universität Heidelberg im Jahre 1945, in: Jürgen C. Heß et. al. (Hrsg.), Heidelberg 1945, Stuttgart 1996, S. 91 - 106, 97). Vgl. auch Penhams eigenes Memorandum an das Counter Intelligence Corps vom Februar 1946: "In the course of a Iecture delivered by

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Dominic Kaegi

Geschichte, auch Ideengeschichte, wiederholt sich nicht. So glich die Konstellation von 1946 nur äußerlich der von 1931. Damals hatte Jaspers seiner Philosophie "Die geistige Situation der Zeit" vorausgeschickt. Sie sollte die auf das "Zeitlose" gerichtete Perspektive des opus magnum ergänzen durch eine Analyse der "Gegenwart".5 In den darauffolgenden "bittersten Jahren" entstand Von der Wahrheit, geschrieben "im Hinblick auf das Unheil der Unwahrheit, der verdrehten Wahrheit, des Bösen"6 , und wieder geht der philosophischen Reflexion eine Darstellung der Gegenwartsbezüge voran. Aber die Gegenwart ist jetzt Deutschland, die geistige Situation der Zeit die geistige Situation in Deutschland. Der Essay über die >Schuldfrage< thematisiert nicht länger den "Weltzustand"7 , sondern "die Lage in Deutschland", er thematisiert Schuld nicht primär als existenzielle, sondern als "deutsche Schuld". Wie immer man diese Wendungenvers le concret bewertet: sie bedeuten keine Entwicklung "vom esoterischen zum politischen Denker". 8 Unbestreitbar haben jene bittersten Jahre der Stigmatisierung und Verfolgung, die Erfahrungen von Illoyalität und Gleichgültigkeit Jaspers' Denken politisiert. Aber diese Politisierung war in seinem Denken angelegt, sie hat die Orientierung seines Philosophierens vertieft, nicht verändert. "Erst mit meinem Ergriffenwerden von der Politik gelangte meine Philosophie zu vollem Bewußtsein bis in den Grund auch der Metaphysik."9 Es ist also kein "anderer Jaspers", der 1945 "aus der Verborgenheit der Unterdrückung hervortrat". 10 Es ist, um im Bild zu bleiben, auch nicht genau derselbe. Im "Ergriffenwerden von der Politik" kommt eine Ambivalenz zum Austrag, die den Jaspers der Schuldfrage unterscheidet vom ungebrochen aristokratischen Gestus der Geistigen Situation der Zeit. Dort erging von der Philosophie der Aufruf zum eigentlichen Selbstsein, das philosophische Leben sollte eine "Nähe selbstseiender Menschen" 11 Professor J aspers, the students started Jaughing and scraping their feet on the floor at the mention of democracy, in connection with the spiritual Situation of Germany. As soon as this began, Professor Jaspers interrupted the lecture and declared that he would not talerate such a demonstration." (in: Heß et. al., Heidelberg 1945, S. 423). 4 Kar[ Jaspers. Philosophische Logik. Erster Band: Von der Wahrheit, München 1947 ( 4 1991). 5 Vgl. Kar/ Jaspers, Philosophie. 3 Bde., München 5 1994, Bd. 1, S. XXII; ders., Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe, München 2 1984, S. 72. 6 Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie (FN 5), S. 88. 7 Kar[ Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 13 1979, S. 5; noch das Geleitwort zur 6. Auflage von 1946 unterstreicht die "Weltperspektive", die das Buch damals eingenommen habe. Sie scheint Jaspers unverändert gültig "trotz der Ereignisse, die zwischen seinem ersten Erscheinen und dem gegenwärtigen Neudruck liegen" (S. 194). s Heidrun Pieper, Selbstsein und Politik. Jaspers' Entwicklung vom esoterischen zum politischen Denker, Meisenheim I Glan 1973. 9 Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie (FN 5), S. 85. IO Dolf Stemberger, Jaspers und der Staat, in: Hans Saner (Hrsg.), Kar! Jaspers in der Diskussion, München 1973, S. 418 - 423,419. II Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (FN 7), S. 178.

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schaffen, eine exklusive Solidarität der Wenigen und Besten - Politik, mitsamt rechtsstaatlicher Institutionen, gehörte in die Sphäre anonymer Daseinsregulierung. "Wo Menschen wie Staub durcheinandergewirbelt werden, ist Wirklichkeit mit Gewißheit dort, wo Freunde echte Freunde sind in der faktischen Kommunikation ihres Offenbarwerdens und der Solidarität persönlicher Treue": "Es gibt die in keinem Vertrag zu fixierende Bindung, welche stärker ist als nationale, staatliche, parteiliche und soziale Gemeinschaft." 12 Hinter der Geistigen Situation der Zeit stand "eine Philosophie der Innerlichkeit - als solche, wie Jaspers wußte und wollte, eine spezifisch deutsche Philosophie - und eine Philosophie zu zweien. Selbstsein war ihr mehr als Dasein, verinnerlichte Gemeinschaft mehr als Gesellschaft, Chiffre mehr als reales Weltsein, Scheitern mehr als Wirken." 13 Die Schuldfrage löst diese Gegensätze auf und reproduziert sie zugleich auf einer höheren Ebene. Einerseits erschütterten die "unerwarteten Erfahrungen, die seit 1933 ... unumgänglich wurden" 14, das Vertrauen in die Selbstgenügsamkeit eigentlicher Existenz. Der "Adel", an den Jaspers in der Geistigen Situation der Zeit die Würde des Menschen geknüpft hatte, die bloß verinnerlichte Gemeinschaft erwiesen sich als überspannte Kategorien, wo es um die industrieförmige Vernichtung von Millionen und die alltägliche Mißachtung elementarer Menschenrechte ging. Aus der Freiheit einzelner, heißt es im Geleitwort zur Wandlung, "ist noch kein Leben möglich": "Freiheit ist nur in dem Maße, in dem alle frei sind.'d 5 Die Freiheit aller wird damit zur Voraussetzung der Freiheit einzelner, die politische Freiheit zur Voraussetzung der existenziellen. Andererseits bleibt Jaspers dabei, den "Ursprung unserer Freiheit" in der "Gemeinschaft selbstseiender Wesen" 16 zu lokalisieren, wie sie, in letzter Instanz, die existenzielle Kommunikation stiftet. "Freiheit ist in dem Maße, als Kommunikation tief und aufrichtig ist.'d 7 Das koppelt die Freiheit zurück an die Intimität der "Kommunikation mit dem anderen Selbst": Der normative Gehalt der Freiheit aller wird von Jaspers weiterhin in Kategorien einer Gemeinschaft gedacht, die ihren Ort in "der Wahrhaftigkeit zwischen zwei Personen" 18 hat. Ebd., S. 178 f. Hans Saner, Kar! Jaspers, Reinbek b. Harnburg 10 1996, S. 104. 14 Kar/ Jaspers, Philosophische Autobiographie (FN 5), S. 72: "Was den Menschen möglich ist an Ungeheuerlichkeit, was geistig Begabten an Wahn, was scheinbar guten Bürgern an Treulosigkeit, was dem scheinbar ordentlichen Menschen an Bosheit, was der Menge an Gedankenlosigkeit .. . möglich ist, das wurde in einem Umfang wirklich, daß das Wissen um den Menschen anders werden mußte." 15 Kar/ Jaspers, Geleitwort für die Zeitschrift ,Die Wandlung', in: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München 1951, S. 148-151, 150. 16 Kar/ Jaspers, Gefahren und Chancen der Freiheit, in: Rechenschaft und Ausblick (FN 15), S. 293-313,303. 11 Ebd., S. 305. 18 Reiner Wieh/, Moralische Verantwortung - privat und öffentlich. Überlegungen im Anschluß an Kar! Jaspers' Essay über Die Schuldfrage, in: Maria-Sibylla Lotter (Hrsg.), 12 13

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Von dieser Spannung lebt der Begriff der metaphysischen Schuld. Aus den politischen Erfahrungen der NS-Zeit gewinnt Jaspers die Idee einer absoluten Solidarität aller Menschen, die den Privatismus einer "Philosophie zu zweien" korrigiert. Weil diese Korrektur aber nicht auf den Begriff der existenziellen Kommunikation durchschlägt, wird die Verpflichtung zur absoluten Solidarität nur in ihrer Verletzung sichtbar - als Grenze der existenziellen Kommunikation selbst. Das wenigstens ist die These, die ich in zwei Schritten vortragen möchte: einem Resümee der Differenzierungen des Schuldbegriffs in der Schuldfrage (I) sowie einigen eher kursorisch gehaltenen Bemerkungen zum Verhältnis von metaphysischer Schuld und existenzieller Kommunikation (II). I.

Den unmittelbaren Anlaß zur "Differenzierung deutscher Schuld" in der Schuldfrage bildete die Kollektivschuldthese, die These also, daß Schuld, und im Maße der Schuld Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes alle Deutschen - das deutsche Volk - trifft. "Das ist Eure Schuld", stand bei Kriegsende auf Plakaten, die Bilder aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen zeigten. 19 Die Plakate, schreibt Jaspers, sind "schon vergessen. Was dort von uns erfahren wurde, ist jedoch geblieben: ... die Realität einer Weltmeinung, die uns als gesamtes Volk verurteilt". 2 Für Jaspers war der Vorwurf der Kollektivschuld keine Ideologie, sondern Realität21 ; um so bereitwilliger hat man seine Differenzierungen als Kritik der Kollektivschuldthese veranschlagt. Nicht ganz zu Recht. Schuld läßt sich zwar nach Jaspers unter jedem der vier Begriffe krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld nur Individuen zuschreiben. In diesem Sinne kann kein Kollektiv schuldig sein. Durchaus aber kann jeder Einzelne eines Kollektivs schuldig sein, und in der Summe gibt es dann natürlich auch kollektive Schuld. "Kollektivschuld gibt es ... notwendig als politische Haftung der Staatsangehörigen, nicht aber darum im gleichen Sinne als moralische und metaphysische Schuld und als kriminelle Schuld. " 22

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Nonnenbegründung und Nonnenentwicklung in Gesellschaft und Recht, Baden-Baden 1999, S. 96-106, 105. 19 Vgl. Aleida Assmann I Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuugart 1999, S. 126 f. 20 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 30. 2 1 Darauf hat zuletzt Hermann Lübbe hingewiesen: Moralische Entscheidung, politische Option und der Lauf der Welt. Kar! Jaspers als politischer Denker, in: Reiner Wiehl/ Dominic Kaegi (Hrsg.), Kar! Jaspers-Philosophie und Politik, Heidelberg 1999, S. 35 - 56, 43. - Zur ideologischen Funktion der Kollektivschuldthese vgl. Norbert Frei, Von deutscher Erfindungskraft oder: die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Rechtshistorisches Journa/16 (1997), S. 621-634. 22 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 41. Man muß einräumen, daß Jaspers in diesem sensiblen Punkt kollektiver Schuld nachlässig und manchmal gegen die eigene Terminologie formuliert. Im Rückblick hat er auch die politische Haftung nicht mehr als Kollektiv-

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Kriminelle Schuld resultiert aus Verstößen gegen geltendes Recht: Planung und Durchführung eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - Versklavung, Deportation, Erschießung?3 Kriminell schuldig sind Einzelpersonen oder Organisationen - Jaspers nennt neben der Gestapo, der SA und SS auch das Oberkommando der Wehrmacht -, deren Verurteilung Angelegenheit eines nationalen oder internationalen Gerichts ist. Kriminelle Schuld unterscheidet sich damit nicht qualitativ von strafrechtlicher Schuld. Die Untaten selbst "sadistischer und mordlustiger Kreaturen" sind grundsätzlich "nach dem StGB zu erfassen" 24 , sie zu dämonisieren war Jaspers ein Zeichen mangelnder "Nüchternheit" - "man muß ... die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen" 25 . Entsprechend hat er in den Debatten der 60er Jahre für die konsequente Ausschöpfung bereits bestehender Rechtsmittel plädiert und im Anschluss an Art. 25 GG, der die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechts erklärt, die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit auch über die Verjährungsfrist für Mord hinaus gefordert. 26 schuld verstehen wollen (vgl. Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 2 1990, S. I 09). Das steht quer zu den Ausführungen der Schuldfrage (vgl. "Politische Haftung und Kollektivschuld", S. 51 ff.), in denen über politische Haftung hinaus sogar von "moralischer Kollektivschuld" die Rede ist (S. 51). Noch weiter geht Jaspers in einer Nachlaßnotiz- "vertraulich für Gustav Radbruch" (20. 5. 1949)- "im Metaphysischen" könne "das Wort ,Collectivschuld' einen Sinn gewinnen ... , der alter Überlieferung entspricht, und von manchem Deutschen als lebensentscheidend in den Jahren vor 1945 erfahren worden ist. Wenn es anerkannt wäre, würden alle Vorwürfe wegen einer Collektivschuld unmöglich sein." (DLA Marbach, Nachlaß Kar! Jaspers, Nr. 102, vgl. Leonhard, Kar! Jaspers in seiner Heidelberger Zeit (FN 1), S. 157). 23 Jaspers orientiert sich hier am Statut des Internationalen Militärgerichtshofes vom August 1945. Die juristischen Probleme des Nürnberger Prozesses sind ihm bewußt gewesen, er hielt sie durchaus nicht mit dem Hinweis auf die "authority of the occupiers" erledigt (Anson Rabinbach, Kar! Jaspers' Die Schuldfrage: A Reconsideratio, in: HeB et. al. (FN 3), S. 149-158, 154; vgl. dagegen Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 1), S. 36). Allerdings war "in der Schuldfrage noch die Hoffnung lebendig, daß das Nürnberger Statut und der Nürnberger Prozeß der institutionelle Anfang eines Weltrechts sein könnten" (Hans Saner; Vorbemerkung, in: Kar! Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München I 979, S. 7). Diese Hoffnung sah Jaspers im nachhinein enttäuscht, mit übertriebener Bitterkeit sprach er im "Nachwort 1962 zu meiner Schuldfrage" nur mehr von einem "Scheinprozeß", der "das Mißtrauen gegen das Recht gesteigert" habe. 24 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen - Gefahren -Chancen, München 10 1988, S. 60. 25 Brief an Hannah Arendt vom I 9. 10. 1946, in: Hannah Arendt/ Kar! Jaspers, Briefwechsel 1926 - 1969, hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 3 1993, S. 99. Jaspers reagiert damit auf die Kritik Arendts, die "Definierung der Nazi-Politik als Verbrechen (,kriminelle Schuld')" sei "fraglich": "Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat" (Brief an Kar! Jaspers vom 17. 8. 1946, ebd., S. 90). Vgl. auch Hannah Arendt, Organisierte Schuld, in: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt/M. 1976, S. 32-45, 38 f. [Erstdruck unter dem Titel "Organized guilt and Universal Responsibility", Jewish Frontier, 12/1, Januar 1945, S. 19-23].

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Anders als die kriminelle Schuld ist die politische Schuld nicht justiziabel. 27 Der Begriff der politischen Schuld geht davon aus, daß jeder Staatsbürger mitverantwortlich ist für den Staat, dem er angehört, und für die Handlungen seiner politischen Führungsriege. 28 "Mitverantwortlich" unter zwei Voraussetzungen: zum einen ist die Zugehörigkeit zu einem Staat, bis zu einem gewissen Grade jedenfalls, Sache der persönlichen Freiheit. Das unterscheidet den Staat vom Volk. Das Volk, dem man durch Geburt und Muttersprache, durch die Bindungskraft historischer und kultureller Traditionen angehört, steht nicht zur Disposition, der Staat, in dem man lebt, steht zur Disposition. Wer 1933 deutscher Staatsbürger blieb, hatte sich, wie minimal die realistischen Alternativen waren, für diesen Staat entschieden. Was im Namen dieses Staates geschah, geschah im Namen aller Staatsangehörigen. Eben deshalb betreffen die Konsequenzen der politischen Haftung ausnahmslos alle deutschen Staatsbürger, den Parteifunktionär, den Mitläufer, den Widerstandskämpfer. Man muß diesen Rigorismus der Haftung richtig verstehen: Er stellt nicht in Abrede, daß es einen Unterschied machte, Parteifunktionär oder Widerstandskämpfer zu sein. Aber der Unterschied ist einer der moralischen Beurteilung, und die politische Schuld - das ist die zweite Voraussetzung - besitzt per se keine moralische Dimension. "Haftbarmachen heißt nicht als moralisch schuldig erkennen. " 29 Gewiß gibt es in der Praxis immer eine moralische Dimension. So sind für Jaspers bereits Treuebekenntnisse, Loyalitätsadressen an den "Führer" oder "Gebärden wie der Hitlergruß" moralische Verfehlungen und nicht einfach durch Opportunitätsgründe zu entschuldigen. 30 Doch das schließt jenen Sinn von 26 Kar/ Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? (FN 24), S. 60 ff. In der Schuldfrage spielt die spätere Unterscheidung zwischen Verbrechen gegen die Menschheit und Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch keine Rolle. 21 Vgl. ebd., S. 234. 28 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 40: "Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit. ( ... ) Die Frage ist, in welchem Sinne jeder von uns sich mitverantwortlich fühlen muß. Zweifellos in dem politischen Sinne der Mithaftung jedes Staatsangehörigen für die Handlungen, die der Staat begeht, dem er angehört." Entsprechend bereits in der "Antwort an Sigrid Undset", erschienen in: Die Neue Zeitung, 1945 I I Nr. 6, S. 4- 5; vgl. Kar/ Jaspers, Rechenschaft und Ausblick (FN 15), S. 152-158, 153. 29 Kar[ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 41.- Im Blick auf die Reichstagswahlen vom März 1933 spricht Jaspers allerdings auch von einer "sittlich-politischen Schuld" (Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, München 7 1983, S. 442). Der Kontext macht indes deutlich, dass hier keine Mischform moralischer und politischer Schuld gemeint ist: Politisch schuldig an den Konsequenzen der 1933 "noch freien Wahl" sind alle Deutschen - "die politische Haftung für die Folgen demokratischer Entscheidungen tragen alle." Über die politische Haftung hinaus moralisch schuldig sind die Wähler der NSDAP, der DNVP und der KPD, weil das Votum für jede dieser Parteien ein Votum gegen den Rechtsstaat und gegen die Demokratie bedeutete. Zur politischen Schuld kommt die moralische hinzu, aber die politische Schuld ist nicht an sich moralische Schuld. 30 Vgl. Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 42 f. ; moralisch kompromittierend ist auch die Scheinobjektivität der Wissenschaften, die äußere Anpassung - "und seien es nur Zitate aus Rosenberg oder anderen nationalsozialistischen Schreibern" (Die Wissenschaft im Hitlerstaat, in: Rechenschaft und Ausblick (FN 15), S. 186 - 191, 189).

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Schuld nicht aus, in dem selbst der moralisch Integre als Staatsbürger politisch haftbar für die Aktionen des Staates ist, gegen den er opponiert. 31 Ausdruck der politischen Haftung sind legitime Forderungen der Sieger und Ansprüche der Opfer: der Verzicht auf die territoriale Restitution Deutschlands einerseits, Wiedergutmachungsleistungen andererseits. Was die Wiedergutmachungsleistungen angeht, gilt die politische Haftung im übrigen bis heute und gilt, jenseits völkerrechtlicher Standards, auch gegenüber Einzelpersonen. Wenn etwas an den aktuellen Verhandlungen über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter skandalös ist, dann der zur Schau getragene Großmut deutscher Firmen, der einstigen Profiteure, Wiedergutmachung aus moralischen Gründen zu leisten. Entschädigungszahlungen sind keine moralische Verpflichtung, sondern schlicht die Folge politischer Haftung. Im Gegensatz zur kriminellen und politischen Schuld hängt die moralische Schuld vom Schuldbewußtsein des Einzelnen ab. Während man kriminell oder politisch schuldig sein kann, ohne sich schuldig zu fühlen, impliziert moralische Schuld die Fähigkeit zur Reue: die Zuschreibung moralischer Schuld ist stets Selbstzuschreibung, ihre Instanz das Gewissen als internes Forum "moralischer Selbstdurchleuchtung'm. Moralische Schuld setzt deshalb morali~chen Sinn voraus: Wer sein Handeln gar nicht erst unter moralischen Kategorien begreift, kann nicht moralisch schuldig sein. "Hitler und seine Komplizen, die kleine Minorität von Zehntausenden, stehen außerhalb der moralischen Schuld, solange sie sie überhaupt nicht spüren. ( ... ) Moralisch schuldig sind die Sühnefähigen. " 33 Dem widerspricht nicht, daß es einen offensichtlichen kausalen Zusammenhang zwischen moralischer Schuld, krimineller oder politischer Schuld gibt. "Moralische Verfehlungen sind Grund der Zustände, in denen politische Schuld und das Verbrechen erwachsen."34 Was es nicht gibt, ist ein analytischer Zusammenhang zwischen der Anerkennung moralischer Schuld durch das eigene Gewissen und der Zuschreibung politischer oder krimineller Schuld durch andere.35 In Organisierte Schuld illustriert Hannah Arendt dieses Auseinanderklaffen von Selbst- und Fremdzuschreibung an einem beklemmenden Beispiel: "Did you kill people in the camps? - Yes. Did you poison them with gas? - Yes. ( .. . ) Do you know that the Russians will hang you?" Und die Antwort "unter Tränen": "Why should they? What have I done?"36 Natürlich gilt umgekehrt, daß nur die Sühnefähigen sich selbst als moralische, d. h. als freie Wesen verstehen können. In der Selbstzuschreibung moralischer Schuld stellt sich die Freiheit des Menschen und damit die Möglichkeit eines Neuanfangs, einer vita nuova dar. Mit einigem Pathos beschreibt 31

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Vgl. auch Karl Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung (FN 22), S. 20. Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 42. Ebd.

Ebd., S. 19. V gl. Hans Saner, Zum systematischen Ort der ethischen Reflexion im Denken von KarI Jaspers, in: Jahrbuch der Österreichischen Kar! Jaspers Gesellschaft 12 (1999), S. 9- 27, 22 f. 36 Hannah Arendt, Organisierte Schuld (FN 25), S. 39. 34 35

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Jaspers den "Weg der Reinigung" und "Verwandlung", auf dem "das Übernehmen der Schuld, . . . die aus unserem Gewissen spricht, zu einem Grundzug unseres deutschen Selbstbewußtseins wird". 37 Die moralische Schuld hat viele Gesichter: das "Leben in der Maske", die Teilnahmslosigkeit am Schicksal anderer, die naive Überheblichkeit der Intellektuellen, den "Führer führen" zu können, das beinahe ubiquitäre Mitläufertum. Im konkreten Fall - Jaspers bezieht sich auf die Ereignisse der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 -lag moralische Schuld bei denen, die "noch Macht hatten", und nicht eingriffen, um Lynchjustiz und die Zerstörung der Synagogen zu verhindern. Für jeden deutschen Soldaten bestand die Pflicht, dem Unrecht, das sich vor seinen Augen abspielte, entgegenzutreten, Bedrohte auch mit Gewalt zu schützen. "Denn der Soldat ist zum Schutz aller da, wenn Verbrechen in einem Umfang geschehen, daß die Polizei sie nicht verhindern kann oder versagt. Sie taten nichts."38 Im Extrem hätte die Situation verlangt, das eigene Leben für die Verfolgten zu riskieren, und wer dieses Risiko nicht trug, machte sich moralisch schuldig. Die Moral fordert allerdings in keiner Situation den bedingungslosen Einsatz des Lebens. "Moralisch kann ich verpflichtet sein zum Wagnis meines Lebens, wenn es sich um Verwirklichung handelt. Aber moralisch besteht keine Forderung, das Leben zu opfern bei sicherem Wissen, daß damit nichts erreicht wird." 39 Das ist die Schnittstelle zwischen moralischer und metaphysischer Schuld. Die metaphysische Schuld beginnt dort, "wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. ( ... ) Es genügt nicht, daß ich mein Leben mit Vorsicht wage, um [Unrecht und Verbrechen] zu verhindern. Wenn es geschieht, und wenn ich dabei war und wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiß: daß ich noch lebe, ist meine Schuld."40 Auf Anhieb scheint der Gedanke einer solch metaphysischen Schuld, wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat, absurd - "spleenig" wie 37 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 80. Das Pathos hat häufig zu Mißverständnissen geführt: "Dieses ganze ethische Reinigungsgebabbel", schreibt Heinrich Blücher, bringe Jaspers dahin, "sich solidarisch in die deutsche Volksgemeinschaft sogar mit den Nationalsozialisten zu begeben statt in die Solidarität mit den Entwürdigten" (Brief an Hannah Arendt vom 15.7. 1946, in: Hannah Arendt/Heinrich Blücher; Briefe 1936-1968. Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Lotte Köhler, München 1996, S. 146f.). Blücher übersieht, daß die Emphase der moralischen Umkehr weder die kriminelle oder politische noch die metaphysische Schuld aufhebt, vor allem aber, daß der "Weg der Reinigung" die Anerkennung moralischer Schuld voraussetzt - und nicht ihre Verdrängung. 38 Kar[ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 48. - Anders als der Wehrmacht war der Polizei ausdrücklich Zurückhaltung befohlen; "der Führer wünscht, daß die Polizei nicht eingreift", lautete etwa die Direktive der SA-Gruppe Nordsee. Daß die Einschaltung des Militärs durchaus, wenn auch nur kurzfristig, Folgen hatte, zeigt die Kritik des Oberbefehlshaber Ost, Blaskowitz, an den Gräueltaten der SS unmittelbar nach der Besetzung Polens, vgl. Hermann Gram/, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988, S. 28, 195 ff. 39 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 48. 40 Ebd.

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Jaspers einräumt. 41 Man hat denn auch nie viel mit dem Begriff der metaphysischen Schuld und der Unterscheidung zwischen metaphysischer und moralischer Schuld anfangen können;42 eine ansonst gediegene Monographie kommt jüngst allen Ernstes zu dem Schluß, die Einführung des Begriffs habe damit zu tun, "daß sich der Philosoph in der Zeit der NS-Herrschaft intensiv mit der Bibel" befaßte. 43 Gewiß liegt eine theologische Deutung der metaphysischen Schuld zunächst nahe, schließlich heißt es explizit, die Instanz metaphysischer Schuld sei "Gott allein".44 Schon Hannah Arendt hat, wenngleich in einem Nebensatz, das "Unbedingte" der metaphysischen Schuld damit in Verbindung gebracht, daß hier "in der Tat kein irdischer Richter mehr anerkannt werden kann". 45 Ein irdischer Richter ist freilich auch das Gewissen als Instanz der moralischen Schuld nicht. Für die theologische Deutung spricht vielmehr, daß Jaspers im weiteren Zusammenhang auf die "gemeinsame Schuld des Menschseins" vor Gott rekurriert. 46 Aber diese kreatürliche oder "Daseinsschuld" ist nicht die metaphysische Schuld. Metaphysische Schuld entsteht in Situationen, "wo wir wählen müssen: entweder ohne Zweck, weil ohne Erfolgsaussicht das Leben einzusetzen oder wegen Erfolgsunmöglichkeit vorzuziehen, am Leben zu bleiben". 47 Sie ist nicht einfach gegeben, wie die kreatürliche Schuld der Endlichkeit, und sie ist nicht unvermeidlich.48 Unter dem Aspekt der Wahl hätte die metaphysische Schuld ein theologisches Pendant allenfalls in der Sünde als bewußter Übertretung göttlicher Gebote. Selbst wenn man von Jaspers' Kritik am Dogma der Erb41 Ebd., S. 50; vgl. auch Kar/ Jaspers, Von der Wahrheit (FN 4), S. 931: ,.der für den endlichen Verstand absurde Gedanke: ich bin schuldig an dem Bösen, das in der Welt geschieht, wenn ich nicht bis zum Opfer meines Lebens getan habe, was ich konnte, um es zu verhindern; ich bin schuldig, weil ich lebe und weiterleben kann, während dies geschieht". 42 "Diese beiden Schuldbegriffe decken sich in ihrem moralischen Gehalt so sehr, daß ihre Unterscheidung problematisch erscheint" (Kurt Salamun, Kar! Jaspers, München 1985, S. 169); "ihr Unterschied wird nicht hinreichend deutlich" (Klaus von Beyme, Zeitkritik: Von der Kulturkritik zur Politikkritik im Werk von Kar! Jaspers, in: Wiehl/ Kaegi (Hrsg.), Kar! Jaspers-Philosophie und Politik (FN 21), S. 57 - 79, 64). - Donald Brinkmann (Die Schuldfrage als philosophisches Problem. Eine Auseinandersetzung mit Kar! Jaspers, in: Theologische Zeitschrift 5 (1949), S. 264 - 284) hält den metaphysischen Schuldbegriff immerhin "für den entscheidenden Punkt" (S. 273), ohne über gelehrte Assoziationen zur tragischen und zur christlichen Schuld, die Jaspers vermenge, hinauszukommen. Im Ergebnis vermißt Brinkmann "vor allem" Jaspers' "Bekenntnis zur eigenen Schuld" (S. 282). Es gehört ein gewisses Abstraktionsvermögen dazu, gerade im Begriff der metaphysischen Schuld dieses Bekenntnis nicht zu sehen. 43 Ralf Kadereit, Kar! Jaspers und die Bundesrepublik Deutschland. Politische Gedanken eines Philosophen, Paderborn 1999, S. 32. 44 Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 18. 45 Brief an Kar! Jaspers vom 17.8. 1946, in: Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969 (FN 25), S. 91 46 Vgl. Karllaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 50f. 47 Ebd., S. 18. 4B Dazu besonders prägnant die Antwort auf Paul Ricreur: Kar! Jaspers, Antwort, in: Paul A. Schilpp (Hrsg.), Kar! Jaspers. Stuttgart 1957, S. 750-853, 778.

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sünde49 absehen wollte: Es gibt kein Gebot Gottes, das verlangt, was der Begriff metaphysischer Schuld impliziert - nennen wir es vorläufig den metaphysischen Imperativ -, das eigene Leben "ohne Zweck .. . einzusetzen". 50 Gott fordert Gehorsam und prüft die Gerechten, er fordert nicht die "Wahl eines sicheren Untergangs". Statt den Begriff metaphysischer Schuld zu klären, verschärft seine theologische Deutung die Aporie. Nicht einmal Gott kann an uns den Anspruch stellen, den der metaphysische Imperativ stellt: sinnlos, "weil ohne Erfolgsaussicht", das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Was also ist metaphysische Schuld? "Sie haben völlig recht", schreibt Heidegger an Marcuse, "daß ein öffentliches, allen verständliches Gegenbekenntnis von mir fehlt; es hätte mich ans Messer geliefert, und die Familie mit. Jaspers sagt dazu: Daß wir leben, ist unsere Schuld."51 Aus der metaphysischen Schuld wird hier der Sachzwang des Mitläuferturns - auch diese Wendung erlaubt der Begriff, pro captu lectoris.

Nun hängen die Schwierigkeiten im Begriff der metaphysischen Schuld zum Teil damit zusammen, daß Jaspers mehrere Kriterien ins Spiel bringt, wo genau die "moralisch sinnvolle Forderung" endet. Und nicht alle Kriterien sind gleichermaßen plausibel. Nach dem ersten Kriterium scheint der moralische Standpunkt einseitig auf den Erfolg, resp. die "Verwirklichung" festgelegt, während beim metaphysischen Imperativ die Forderung, mein Leben zu wagen, wenn es um die 49 Vgl. Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 69; ders. Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, S. 361 ff. 50 Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 18. 51 Brief an Herbert Marcuse vom 20. I. 1948, in: Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1910-1976. Gesamtausgabe Bd. 16, hrsg. von Hermann Heidegger, Frankfurt IM. 2000, S. 430-431,431. Heidegger bezieht sich auf eine entsprechende Formulierung Jaspers' in: "Erneuerung der Universität" (Die Wandlung I (1945156), S. 6674; Wiederabdruck in Kar/ Jaspers, Rechenschaft und Ausblick (FN 15), S. 137-147, 138: "Daß wir noch leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt.") Eine Antwort auf die Schuldfrage, die Jaspers ihm im März 1950 zuschickte, hielt Heidegger nicht für nötig. "Ich erwartete ... ein kritisches Wort zu dieser kleinen Schrift", mahnt Jaspers nach über zwei Jahren (Brief an Martin Heidegger vom 24.7. 1952, in: Martin Heidegger I Kar! Jaspers, Briefwechsel 1920-1963. Hrsg. von Hans Saner und Walter Biemel, FrankfurtiM. 1990, S. 207-211, 208)- Wie weit Heideggers Selbstrechtfertigung absteht von dem, was "Jaspers sagt", zeigt etwa das Nachwort zur zweiten Auflage der Vorlesungen über Existenzphilosophie, in dem Jaspers seine persönliche Situation der dreißiger Jahre reflektiert: "Anspielungen auf Erscheinungen des Nationalsozialismus" wären "damals tödlich gewesen. Ich gehörte zu denen, die entschlossen waren, nicht durch Fahrlässigkeit dem Terrorapparat zu verfallen. ( . . . ) Es galt für uns, naiv zu tun, sich weltfremd zu gebärden, eine natürliche Würde zu wahren (die noch in manchen Lagen schützte), gegebenenfalls bedenkenlos zu lügen": "Spinozas Caute, ein hoher und schwerer Anspruch, stand zwar ständig vor Augen, aber ihm zu folgen tat nicht genug. Das Bedenkliche dieser Lage habe ich in meiner Schrift ,Die Schuldfrage ' (1946) ausgesprochen." (Kar/ Jaspers, Existenzphilosophie. Drei Vorlesungen gehalten am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M. September 1937, Berlin 4 1974, S. 86-90, 88). Zum "Caute" (der Inschrift auf Spinozas Siegel) vgl. auch den nicht abgeschickten Brief an Heidegger vom I. 3. 1948, in: Martin Heidegger I Kar! Jaspers Briefwechsel (FN 51), S. 167.

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Realisierung moralischer Zwecke geht, umkippt in den irrationalen Anspruch, das Leben auch dann zu wagen, wenn "damit nichts erreicht wird". Doch das wäre ein Mißverständnis bereits des moralischen Standpunkts. Moralische Schuld, nicht erst die metaphysische, besteht nach Jaspers darin, "nicht jede irgend mögliche Aktivität zum Schutz Bedrohter, zur Erleichterung des Unrechts, zur Gegenwirkung getroffen zu haben". 52 Der moralische Imperativ fordert, alles zu tun- jede irgend mögliche Aktivität -, um Unrecht und Verbrechen entgegenzuwirken. Mehr als alles kann man nicht fordern, und zwar in logischer, nicht bloß in psychologischer Hinsicht. Weil der moralische Imperativ jede irgend mögliche Aktivität fordert, fordert er natürlich auch Handlungen, die das Wagnis des eigenen Lebens einschließen. Beispiele dafür braucht man nicht umständlich zu konstruieren. Der Schutz Bedrohter, die Verhinderung von Unrecht und Verbrechen sind Fälle, in denen das eigene Leben hinter der moralischen Forderung zurücksteht. Insofern wirken die Zusatzbedingungen, die Jaspers einbringt - Erfolgsaussicht, Verwirklichung -, deplaziert: auch vom moralischen Standpunkt ist der Einsatz des Lebens ohne Rücksicht auf Erfolg, und in diesem Sinne bedingungslos gefordert. Es gibt wichtigere moralische Pflichten als die Selbsterhaltung, höhere moralische Werte als das Leben: Der moralische Standpunkt ist nicht erfolgsorientiert. Aber er ist handlungsorientiert. 53 Das ist das zweite Kriterium. Die moralische Forderung gilt für alle und nur die Situationen, in denen überhaupt ein Handeln möglich ist. "Die Ohmacht entschuldigt"54 - moralisch, nicht metaphysisch. Situationen "völliger Ohnmacht"55 , wie Jaspers sie im Blick hat, sind Situationen, in denen jedes Handeln zum "sicheren Untergang" führt. Erst hier endet in Wahrheit jede sinnvolle moralische Forderung. Der moralische Imperativ fordert "nur", das Wagnis des eigenen Lebens, selbst den "sicheren Untergang" in Kauf zu nehmen, um jede irgend mögliche Aktivität zur Verhinderung von Unrecht und Verbrechen zu treffen. Er fordert nicht, den eigenen Tod zu wählen, wenn die Situation gar kein Handeln zuläßt, durch das Unrecht und Verbrechen verhindert werden könnten. Der metaphysische Imperativ dagegen weist auch noch Situationen "völliger Ohnmacht" als Situationen aus, in denen "wir wählen müssen" nicht was wir tun, sondern wie wir leben wollen. Nach diesem dritten Kriterium verlangt der metaphysische Imperativ eine "Lebenswahl"56, konkret die Entscheidung, ob ich mein Leben unter Bedingungen (weiter)führen will, unter denen AnKar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 47. "Handlungsorientiert" in dem weiten Sinne, in dem auch Unterlassungen als Handlungen zählen; zur Unterscheidung zwischen Ohnmacht und moralisch schuldhafter Passivität vgl. ebd. 54 Ebd. 52

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Ebd., S. 49. In der Philosophie (Philosophie li: ExistenzerheBung [FN 5], S. 307 f.) gebraucht Jaspers diesen Ausdruck allgemeiner, als ich ihn hier verwende: Lebenswahl bezeichnet dort die Wahl des Leben angesichts der Möglichkeit des Selbstmords, nicht die Wahl eines bestimmten Lebens. 55

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deren das Lebensrecht verweigert wird. Daß in Situationen völliger Ohnmacht die Entscheidung gegen ein solches Leben der "Wahl des sicheren Untergangs" gleichkommt, hebt den Charakter der Wahl als Lebenswahl nicht auf. Die Entscheidung gegen ein Leben unter Bedingungen des Unrechts ist auch dann die Entscheidung für ein anderes Leben, wenn sie sich nur noch in einem Handeln äußern kann, das den eigenen Tod bedeutet. In der Situation völliger Ohnmacht zeigt sich meine Wahl für ein Leben, das Unrecht und Verbrechen nicht toleriert, in diesem Handeln, dessen Sinn nicht der eigene Tod, sondern die Solidarisierung mit dem Anderen ist. Diese Solidarisierung wiederum ist es, die der metaphysische Imperativ gebietet: wir können "nur gemeinsam oder gar nicht leben, falls dem einen oder anderen Verbrechen angetan werden oder falls es sich um eine Teilung physischer Lebensbedingungen handelt". 57 Wenn das Leben des Anderen bedroht oder gewaltsam ausgelöscht wird, bin ich verpflichtet, mein eigenes einzusetzen, weil wir einander die Solidarität schulden, nur gemeinsam oder gar nicht leben zu können. Metaphysische Schuld ist dann "der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen." 58 Jaspers spricht vom "Mangel", nicht vom vollständigen Fehlen der Solidarität. Das hat eine präzise und auch im unmittelbaren Sinn persönliche Bedeutung. Es gibt Bereiche, den Bereich der Freundschaft, den der Lebensgemeinschaft, in denen die absolute Solidarität selbstverständlich sein kann. "Nur gemeinsam oder gar nicht zu leben, falls dem einen oder anderen Verbrechen angetan werden", zeichnet die engsten menschlichen Verbindungen aus. Sie sind das Paradigma absoluter Solidarität zwischen Menschen - nur das Paradigma, nicht das Ganze. "Daß irgendwo zwischen Menschen das Unbedingte gilt, nur gemeinsam oder garnicht leben zu können, macht die Substanz ihres Wesens aus. Aber daß dies nicht in der Solidarität aller Menschen, nicht der Staatsbürger, nicht einmal kleinerer Gruppen liegt, sondern auf engste menschliche Verbindungen beschränkt bleibt, dies macht diese Schuld von uns allen."59 Wenn es zutrifft, daß Jaspers moralische und metaphysische Schuld effektiv durch zwei Kriterien unterscheidet, "Ohnmacht des Handelns" und "Lebenswahl", auf welchem Kriterium liegt der Akzent? Die Wahl eines bestimmten Lebens ist nicht notwendig an Situationen geknüpft, in denen man nichts mehr gegen Unrecht und Verbrechen tun kann. Müssen wir den metaphysischen Imperativ im Ausgang von Situationen der Ohmacht oder im Ausgang von der Lebenswahl verstehen? Im einen Fall wäre die Verpflichtung zur absoluten Solidarität das, was als metaphysische Forderung bleibt, wenn die moralisch sinnvolle Forderung aufgehört hat, weil alle Handlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Im anderen Fall wäre die Verpflichtung zur absoluten Solidarität das, was als metaphysische Forderung jeder moralisch sinnvollen Forderung vorausgeht - nicht, weil es ohne sie keine mora57

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Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 18. Ebd., S. 48. Ebd., S. 18.

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lischen Forderungen geben könnte, sondern weil sie vorgängig meine Lebenswahl betrifft, in deren Horizont erst moralische Forderungen für mich verbindlich werden. Im einen Fall stünde der metaphysische Imperativ für eine Art Residuum, im anderen Fall für den Primat der Lebenswahl vor moralischen Handlungsanforderungen. Die erste Option hat, hermeneutisch gesehen, zwei Vorteile: einen kleinen und einen großen. Der kleine Vorteil besteht darin, daß es für den metaphysischen Imperativ in Situationen völliger Ohnmacht eine eindeutige Klasse von Beispielen gibt: das Opfer.60 Der große Vorteil besteht darin, daß im Rekurs auf Situationen völliger Ohnmacht der metaphysische Imperativ Gültigkeit behält unabhängig von der inhaltlichen Bestimmung der Solidarität, die er fordert: Offensichtlich bleibt der Begriff einer absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen, wie Jaspers ihn einführt, allgemein und vage. Wohlwollend interpretiert kann man sagen, daß der Begriff allgemein und vage bleiben muß, da jede Spezifikation der Solidarität als politischer Solidarität61 , rechtlicher62 oder moralischer Solidarität im Sinne einer "Moral der universellen Achtung"63 die metaphysische Schuld auf politische, kriminelle oder moralische Schuld reduzieren würde. Selbst dann allerdings besäße der metaphysische Imperativ immer noch den Sinn, Solidarität auch in den Situationen zu fordern, in denen sie unter Gesichtspunkten des Handeins nicht mehr gefordert werden kann. Metaphysische Schuld wäre so der Mangel an politischer, rechtlicher oder moralischer Solidarität in Situationen völliger Ohnmacht. -Die erste Option hat aber auch einen gravierenden Nachteil. Es ist kontraintuitiv, die Verpflichtung zur absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen an Ausnahmesituationen völliger Ohnmacht festzumachen. Wenn es eine solche Verpflichtung gibt, dann gilt sie in allen Situationen. 64 Gilt sie in allen Situationen, entsteht freilich das umgekehrte Problem, die Auflösung der anderen Schuldbegriffe in den metaphysischen. 65 60 Als eine der drei Bestimmungen des Überpolitischen hat Jaspers die Kategorie des Opfers ausführlich im Buch über Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (FN 29, S. 70 - 92) beschrieben. Zum Zusammenhang von metaphysischer Schuld und Opfer vgl. Reiner Wiehl, Jaspers' Bestimmung des Überpolitischen, in: ders. I Dominic Kaegi, Kar! Jaspers-Philosophie und Politik (FN 21), S. 81 - 96, 87 ff. 61 Das ist der Vorschlag von Hannah Arendt (Brief an Kar! Jaspers vom 17. 8. 1946, in: Hannah ArendtiKarl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969 [FN 21), S. 91)- den Jaspers ausdrücklich zurückweist (vgl. S. 99). 62 Vgl. dazu Gregory Walters, Human Rights, World Philosophy, and the Quest for Global Solidarity: Kar! Jaspers's Abiding Contribution, in: Jahrbuch der Österreichischen-Karl-Iaspers-Gesellschaft 10 (1997), S. 127 - 150. 63 Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt IM. 1993, S. 80. 64 Vgl. Reiner Wiehl, Die Zeitlichkeit der Verantwortung, in: ders., Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte, FrankfurtiM. 1998, S. 242-262, 248. 65 Vgl. Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 19: "Würden wir Menschen von jener metaphysischen Schuld uns befreien können, wir wären Engel, und alle drei anderen Schuldbegriffe würden gegenstandslos."

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Vor diesem Hintergrund spricht viel für die zweite Option, den metaphysischen Imperativ als die Forderung aufzufassen, ein Leben in absoluter Solidarität mit allen Menschen zu wählen. Metaphysische Schuld ist, in dieser Perspektive, die Entscheidung für ein Leben "teilbarer" Solidarität - Solidarität in den engsten menschlichen Verbindungen. Weil die Differenz des metaphysischen vom moralischen Imperativ dabei an das Kriterium der Lebenswahl gebunden ist, erlaubt die zweite Option zugleich einen gehaltvollen Begriff der Verantwortung: Verantwortlich bin ich für das Leben, das ich wähle. Da wir alle ein Leben geteilter Solidaritäten gewählt haben, uns jedenfalls einer entsprechenden Lebensweise nicht widersetzen, wird die Verantwortung sehr schnell sehr konkret. 66 Allerdings lastet auch auf der zweiten Option eine Hypothek, die Hypothek, zu zeigen, daß man die Verpflichtung zur absoluten Solidarität überhaupt als internes Moment der Lebenswahl verstehen kann. An diesem Punkt weist die Schuldfrage über sich hinaus. II. Im philosophischen Diskurs der Nachkriegsära ist der Essay über die Schuldfrage rasch in Vergessenheit geraten; bereits die 50er Jahre gehörten (wieder) Heidegger.67 "Es ist meine Schrift, die am allerwenigsten Leser gefunden hat", beklagt Jaspers. 68 Wo sie rezipiert wurde, verstand man sie als ethisch-politischen Traktat - im Grunde gegen den Duktus des Textes. Dolf Sternherger hat zurecht darauf hingewiesen, daß "diese Abhandlung ihren Kern nicht in ethischen, sondern in 66 Vgl. Hans Saner; Katastrophenmüdigkeit, in: ders., Macht und Ohnmacht der Symbole. Essays, Basel 1993, S. 147-167, 164 ff. -Nicht sonderlich plausibel erscheint dagegen die Mitverantwortlichkeit eines jeden "für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt", die Jaspers selbst aus der absoluten Solidarität ableitet, vgl. Kar! Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 17. Ähnliche Vorstellungen findet man bei Sehe/er ("Reue und Wiedergeburt", in: Vom Ewigen im Menschen. Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von Maria Scheler, Bem 5 1968, S. 27-59, 51 f., 53) und, in ganz anderem Zusammenhang, bei C. G. Jung ("Nach der Katastrophe", in: Zivilisation im Übergang. Gesammelte Werke, Bd. 10, hrsg. von Lilly JungMerker und Elisabeth Rüf, Olten 2 1981, S. 219 - 244, 220ff.). Jaspers korrigiert diese Hypertrophie einer universellen Schuld bereits in Von der Wahrheit: Der Einzelne wird "schuldig an dem, was in seiner Zeit an Bösem geschieht, sofern er nicht getan hat, was er konnte, sofern er nicht sein Leben einsetzte, um es zu verhindern, und um das Gute hervorzubringen. Er ist am Leben geblieben nur um den Preis, das Böse in seiner Welt untätig zuzulassen. ( ... ) Dagegen ist die in der christlichen Welt besonders des Ostens behauptete Mitschuld eines Jeden für alles, was Menschen tun, eine Übersteigerung. Diese irreale, unfaßliche, als Phantastik zu verwerfende Solidarität hat, wie gewöhnlich das Maßlose, zur Folge das Versäumen der praktisch möglichen Solidarität und eine im Metaphysischen sich beruhigende Passivität." (Kar/ Jaspers, Von der Wahrheit (FN 4), S. 536 f.) 67 Vgl. Dieter Henrich, Die deutsche Philosophie nach zwei Weltkriegen, in: ders., Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt IM. 1987, S. 44-65. 68 Kar/ Jaspers, Freiheit und Wiedervereinigung (FN 22), S. 109. - Die schweizerische Lizenzausgabe (Zürich 1946) verkaufte sich im übrigen besser: in vier Auflagen bereits zwischen 1946 und 1947; vgl. den Hinweis von Saner in: Martin Heidegger I Kar! Jaspers Briefwechsel (FN 51), S. 288.

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logischen Unterscheidungen hat, in der Sonderung der Begriffe, nämlich von der kriminellen, der politischen, der moralischen und der metaphysischen Schuld". Für Steroberger ist das zwar "bedeutsam, wenn auch kaum mehr als irritierend. Im übrigen und auf die Länge" sei es "gewiß wahr", daß sich Jaspers selbst die in der Schuldfrage verhandelten Probleme und Phänomene "als ethische Probleme und Phänomene darstellen". 69 Aber "auf die Länge" ist hier zu lang. Unstrittig soll die Schuldfrage nicht Theorie sein, sondern Bezüge zur Praxis eröffnen; in diesem Sinne freilich sind (fast) alle Schriften Jaspers' , ist sein gesamtes Denken "ethisch". Im engeren Sinne jedoch werden in der Schuldfrage "ethische Probleme und Phänomene" nicht thematisch als Probleme und Phänomene der Jasperssehen Ethik. Thematisch wird die Moral und der moralische Standpunkt, nicht die Ethik. Sicher darf man die Termini nicht forcieren, 70 bis zu einem gewissen Grade sind beide Begriffe bei Jaspers operative Begriffe. Aber sie sind nicht nur operative Begriffe: Der zweite Band der Philosophie über Existenzerhellung enthält eine differenzierte Analyse ethischer Existenz, 71 von der fast nichts in die Schuldfrage eingeht - und das ist irritierend. So erscheint gerade der für den Begriff metaphysischer Schuld entscheidende Gedanke einer Wahl jenseits des moralischen Standpunkts unbestimmt, obwohl Jaspers' Konzeption der ethischen Existenz auf genau diesem Gedanken aufbaut. 72 Das Stichwort lautet existenzielle Wahl. "Existenzielle Wahl" ist der "Entschluß, im Dasein ich selbst zu sein". 73 Mit dem Entschluß, ich selbst zu sein, den Jaspers auch als "inneres Handeln" 74 beschreibt, ist nicht gemeint, daß ich mich entschließe, mein "Selbst" zu sein, wie ich mich entschließe, Mitglied der SPD, Abonnent des ,Kicker' oder Elternsprecher zu sein. Das "ich selbst" der existenziellen Wahl ist kein Gegenstand, nicht etwas, wofür oder wogegen ich mich entscheiden könnte. Mich entschließen, ich selbst zu sein heißt, mir selbst als dem Ursprung dessen, was ich jeweils bin, bewußt zu werden. In diesem Sinne ist die existenzielle Wahl eine Wahl zweiter Ordnung, nicht der Wille, so-und-so zu handeln oder das-und-das zu sein, sondern der Wille, daß ich mich entschließe, so-und-so zu handeln, das-und-das zu sein. "Ich weiß, daß ich nicht nur da bin und so bin und infolgedessen so handle, sondern daß ich im Handeln Ursprung bin meiner Handlung und meines Wesen zugleich." 75 Zu diesem Wissen gehört, daß ich, jenseits DolfStemberger, Jaspers und der Staat (FN 10), S. 419. Zur Terminologie vgl. Hans Saner, Zum systematischen Ort der ethischen Reflexion im Denken von Kar! Jaspers (FN 35), S. 13. 71 Vgl. Franz-Peter Burkard, Ethische Existenz bei Kar! Jaspers. Würzburg 1982. n Vgl. Franz·Peter Burkard, Der Ansatz einer existenziellen Grundlegung der Ethik bei Kar! Jaspers, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 3 /4 (1990/91), S. 46-55. 73 Kar! Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung (FN 5), S. 181; zur Unterscheidung von Dasein und Existenz vgl. Kurt Salamun, Kar! Jaspers (FN 42), S. 54 ff. 74 Kar! Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung (FN 5), S. 324. 75 Ebd., S. 182. 69

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moralischer Bewertungsmaßstäbe, die sich stets auf Handlungen als konstatierbare Tatsachen beziehen, mein äußeres Handeln als Folge meines inneren begreife. Durch die existenzielle Wahl "mache ich mich schlechthin verantwortlich für mich, während ich von außen verantwortlich gemacht werde für die Handlung nach ihrer bloßen Faktizität."76 Die existenzielle Wahl antwortet also auf eine unbedingte Forderung - die Forderung, ich selbst zu sein -, unter der mein Leben stehen soll, unabhängig von den bedingten Forderungen, unter denen es von außen steht. "Die unbedingte Forderung tritt an mich heran als die Forderung meines eigentlichen Selbst an mein Dasein . . . Ist der Grund meines Willens ein unbedingter, so werde ich seiner inne als dessen, was ich eigentlich selbst bin und dem mein Dasein entsprechen soll.'m Der Kontrast zwischen der Außenperspektive moralischer Beurteilung und der Verantwortung mir selbst gegenüber stellt sich in der Philosophie als Kontrast zwischen der unbedingten Forderung und Sollensgesetzen dar, "welche allgemein aussagen, was zu tun sei". 78 Sollensgesetze drücken bestimmte Imperative - "Du sollst nicht lügen", "Du sollst nicht töten" - als objektiv gültig aus, ohne Bezug darauf, ob ich das, was "zu tun sei", vor mir selbst verantworten kann. Jaspers nennt sie deshalb auch "Rechtssätze". "Wie diese sind sie gleichsam mechanisch und tot, sie sagen immer dasselbe und bedeuten, wenn sie befolgt werden, die Berechenbarkeil des Handelns. Sie scheinen absolut gültig. Es fehlt ihnen nur die Zwangsgewalt, welche den Rechtssätzen eignet, wenn sie faktisches Recht sind."79 Gleichwohl hat die Objektivität der Solleusgesetze einen guten Sinn. Am Beispiel des Lügenverbots zeigt Jaspers, daß der allgemeine Satz "Du sollst nicht lügen" nicht nur allgemein akzeptiert wird; er besitzt auch eine unmittelbare Evidenz. Jeder stimmt ihm "nicht nur zu, sondern fühlt sich innerlich von einer Wahrheit angesprochen". 80 Ebenso evident sind freilich die Ausnahmen: die Notlüge, die Lüge "im Interesse des Anderen, z. B. um ihm das Leben zu retten" etc. Solche Ausnahmen heben indes die objektive Geltung des Gesetzes nicht auf, "das Gesetz ,du sollst nicht lügen' [bleibt] als allgemeines unausweichlich." 81 Jaspers' Pointe ist umgekehrt, daß die Ausnahmen nicht objektivierbar sind. "Wenn ich lüge, so kann ich es nicht rechtfertigen. Der Versuch, in die Objektivität zu bringen, was ich mit der Lüge getan habe, kann . . . daraus kein Gesetz machen. " 82 Ich kann nur für mich in Anspruch nehmen, daß eine Lüge, in der konkreten Situation, unter den-und-den Umständen, das einzige ist, was sich vertreten läßt. 76

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Ebd. Kar! Jaspers, Der philosophische Glaube. München 9 1988, S. 32. Kar! Jaspers, Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 339. Ebd., S. 359. Ebd., S. 356. Ebd., S. 357. Ebd.

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Das Beispiel illustriert zunächst, daß die unbedingte Forderung durchaus im Gegensatz stehen kann zur moralischen Forderung. 83 Isoliert genommen paßt es nicht exakt auf die Konstellation, die in Schuldfrage zwischen metaphysischer Schuld und moralischer Schuld, metaphysischem Imperativ und moralischem Imperativ besteht. Dort ist die Tendenz, daß der metaphysische Imperativ auch dann noch eine Verpflichtung enthält, wenn alle moralischen Forderungen erfüllt sind. Nur an einer Stelle deutet Jaspers an, daß der "zwecklose" Einsatz des Lebens moralischen Forderungen widersprechen kann. 84 Die Quintessenz jedoch, die aus dem Beispiel des Lügenverbots zu ziehen ist, läßt sich unabhängig von der Frage darstellen, ob die unbedingte Forderung im Einzelfall der moralischen Forderung konform geht oder nicht. Entscheidend ist, daß die unbedingte Forderung eine andere Qualität der Verpflichtung ins Spiel bringt, der noch nicht Genüge getan ist, wenn ich mich an Imperativen allgemeiner Handlungsanweisungen und -normen orientiere. Ohne die moralische Forderung zu desavouieren - die Sollensgesetze bleiben "unausweichlich" - reicht die unbedingte Forderung über den Anspruch des Moralischen hinaus. Manövriert sich Jaspers aber nicht in die Position eines existenziellen Dezisionismus, wenn er gegen die Objektivität der Moral die Wahrheit der Ausnahme in Anschlag bringt? Dezisionistisch wäre die existenzielle Wahl, wenn die Intention, ich selbst zu sein, aufginge in dem, was ich faktisch bin. Der Entschluß, im Dasein ich selbst zu sein, käme dann dem Willen gleich, mich selbst, meine Vorlieben und Antipathien, meine Werturteile, meinen Charakter, im Handeln durchzusetzen. Aber so wie das Selbst keine quasi-gegenständliche Instanz ist, ist es kein Bündel von Eigenschaften, die der existenziellen Wahl im Rücken lägen - es entsteht erst in der existenziellen Wahl. Selbstsein ist das, was ich sein kann, sobald und solange ich mich entschließe, im Dasein ich selbst zu sein. "Das" Selbst bin ich selbst: als mögliche Existenz. 85 Deshalb impliziert die existenzielle Wahl, daß ich mich vom dem, was ich faktisch bin, distanziere, mein empirisches Dasein "transzendiere" in Richtung auf mögliche Existenz. Diese Distanzierung denkt Jaspers als die Bereitschaft, sich durch den Anderen in Frage stellen zu lassen. Die existenzielle Wahl ist in diesem Sinne "ursprünglich kommunikativ. Wahl meiner selbst ist mit der Wahl des Anderen."86 Gewählt wird der Andere als Partner, Partnerin 83 Vgl. Franz-Peter Burkard, Existenzphilosophie und Strebensethik, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Iaspers-Gesellschaft 12 (1999), S. 29-41, 35 f. - Jaspers verschleift diesen Gegensatz, indem er die existenzielle Wahl gleichsetzt mit dem Willen zum Guten (Existenzerhellung, FN 5, S. 171) und von da aus das existenzielle Sollen als Aneignung der Sollensgesetze begreift: "Existentielles Sollen ist in der Gestalt der Aneignung durch eine Subjektivität, die sich als objektiv gegenüberstellt, wodurch sie bestimmt wird." (Ebd., S. 355) Allerdings ist das Gute hier rein formal bestimmt; es bleibt immer die Möglichkeit, daß, was aus Sicht meiner existenziellen Wahl als das Gute erscheint, durch Sollensgesetzte nicht gedeckt ist. 84 Vgl. Kar{ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 48. 85 Vgl. Kar/ Jaspers, Philosophie 1: Weltorientierung (FN 5), S. 13. 86 Karl Jaspers, Philosophie II: Existenzerhellung (FN 5), S. 182.

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einer existenziellen Kommunikation, die einen wechselseitigen Prozeß des Selbstwerdens anstößt. Beide Seiten wagen "rückhaltlos sich zu zeigen und infragestellen zu lassen"87 ; beide Seiten begegnen einander "auf gleichem Niveau" 88 und auf gleichem Niveau streiten beide Seiten um die Konkretisierung möglicher Existenz im Blick auf bestimmte "Weltinhalte". Die existenzielle Kommunikation entzündet sich immer an "Sachen" - an Ideen, an Aufgaben und Zwecken in der Welt -, die mir wichtig sind, weil sie den Anderen beschäftigen und die dem Anderen wichtig sind, weil sie mich beschäftigen. Aber ihr Ziel ist nicht die Klärung von Ideen wie in der Kommunikation des Geistes oder der diskursiv hergestellte Konsens von Einzelinteressen wie in der Daseinskommunikation, sondern das Selbstwerden des einzelnen im "liebenden Kampf' mit dem Anderen. 89 Wo existenzielle Kommunikation gelingt, sind "Selbstsein und In-Kommunikation-Sein ... untrennbar" 90 . Dafür, daß sie gelingt, gibt es kein Rezept, obwohl Jaspers sich bemüht, "Regeln" des Kampfes um Offenbarkeit zu formulieren, die man auch als notwendige Bedingungen der existenziellen Kommunikation interpretieren kann. 91 Aber diese Regeln, alle Karten aufzudecken, Niveaugleichheit, der Verzicht auf "Macht und Überlegenheit" etc. drücken doch nur auf verschiedene Weise eine einzige Grundvoraussetzung existenzieller Kommunikation aus: die durch keine strategischen Gesichtspunkte eingeschränkte Solidarität untereinander. "Im Kampf der Kommunikation ist eine unvergleichliche Solidarität. Diese erst macht jenes Äußerste an Infragestellung möglich, weil sie das Wagnis trägt, zu einem gemeinsamen macht und mithaftet für das Resultat"92 : In dem Maße, in dem die existenzielle Wahl die Bereitschaft zur Infragestellung in existenzieller Kommunikation voraussetzt, setzt die existenzielle Kommunikation die Bereitschaft zur "existenziellen Solidarität"93 voraus. Darin bekundet sich der intrinsische Zusammenhang zwischen Selbstwahl und Wahl des Anderen; die existenzielle Wahl ist ursprünglich kommunikativ, die existenzielle Kommunikation ursprünglich solidarisch. Indem ich mich entschließe, im Dasein ich selbst zu sein, entschließe ich mich zur Solidarität mit dem Anderen. Der Entschluß, der mein Dasein an meine Freiheit als mögliche Existenz bindet, bindet es zugleich an die Freiheit des Anderen. Es bezeichnet Stärke und Schwäche des Begriffs der existenziellen Kommunikation, daß er auf die Beziehung zwischen zweien, daß das Wagnis der Offenheit auf Ebd., S. 65. Ebd., S. 68. 89 Zur Systematik der verschiedenen Kommunikationsformen vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit (FN 4), S. 375- 381. 90 Ebd., S. 546. 91 Vgl. Kurt Salamun, Moral Implications of KarlJaspers' Existentialism, in: Philosophy and Phenomenological Research 49 (1988/89), S. 317-323,321 ("necessary conditions of existential communication"). n Karl Jaspers, Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 65. 93 Ebd., S. 69. 87 88

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den Nächsten beschränkt bleibt. Der Nächste ist zwar prinzipiell jeder Andere, in der konkreten Situation jedoch immer dieser Andere - dieser einer oder diese eine, nicht die ideale Kommunikationsgemeinschaft "In der Kommunikation, durch die ich mich selbst getroffen weiß, ist der Andere nur dieser Andere: die Einzigkeit ist Erscheinung der Substantialität dieses Seins."94 Man muß sich klar machen, daß das nicht nur eine kontingente Einschränkung ist. Habermas hat in dieser Richtung die Fixierung auf das ethisch-existenzielle Gespräch kritisiert und dagegen die "kommunikative Verfassung unserer kulturellen Lebensformen selbst" gestellt. In ihnen spiegle sich eine Einsicht wider, die "allem vorausliegt, was sich innerhalb einer existenziellen Kommunikation erschließen mag" - die Einsicht, daß Verständigung "nur unter Bedingungen symmetrisch eingeräumter Freiheiten und reziprok vorgenommener Perspektivenübemahmen" möglich sei. 95 Jaspers' Replik wäre eindeutig: zu symmetrisch eingeräumten Freiheiten und reziprok vorgenommenen Perspektivenübernahmen kommt es nur in der existenziellen Kommunikation zwischen Einzelnen, nur die existenzielle Kommunikation ist wirklich herrschaftsfrei. Außerhalb der existenziellen Kommunikation gibt es immer eine reservatio, gibt es strategische Interessen - oder aber die eingeräumten Freiheiten und übernommenen Perspektiven sind nicht wirklich die Freiheiten und Perspektiven des Anderen, weil von vomherein aufgehoben in der Einheit des Bewußtseins überhaupt. Und Jaspers hätte vermutlich hinzugefügt, daß das Vertrauen in die "kommunikative Verfassung unserer kulturellen Lebensformen" ein zu optimistisches Bild zeichnet, das uns blind werden läßt für die konkreten Situationen, in denen die Chance, aber auch die Herausforderung zu einer Kommunikation besteht, "durch die ich mich selbst betroffen weiß". Hier, könnte man sagen, steckt ein Stück harter Realismus im Begriff der existenziellen Kommunikation. Aber dieser Realismus bedeutet zugleich, daß sich der Solidarisierungseffekt existenzieller Kommunikation auf den Nächsten reduziert. In der existenziellen Kommunikation kann durchaus eine Wahrheit gesucht werden, die alle Menschen verbindet, "so daß sie eine einzige Gemeinschaft würden".96 Die Gemeinschaft aber, die sich im Prozeß der existenziellen Kommunikation herstellt, ist nur die Gemeinschaft der jeweils Kommunizierenden. Von daher rührt das Motiv des Geheimnisses, das noch beim späten Jaspers virulent bleibt. Die existenzielle Kommunikation ist "immer das Geheimnis jeweils zweier" 97 ; sie darfnicht öffentlich werden und dadurch die gegenseitige Solidarität verraten. "Regel dieser Solidarität ist ... , daß diese Menschen sich absolut vertrauen und daß ihr Kampf kein für Andere sichtbarer, objektivierEbd., S. 58. Jürgen Habermas, Vom Kampf der Glaubensmächte. Kar! Jaspers zum Konflikt der Kulturen, in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays. Frankfurt/M. 2 1997, 41-58, 58. - Vgl. Helmut Fahrenbach, Kommunikative Vernunft - ein zentraler Bezugspunkt zwischen Kar! Jaspers und Jürgen Habermas, in: Kurt Salamun (Hrsg.), KariJaspers. Zur Aktualität seines Denkens. München 1991, S. 189-216. 96 Kar/ Jaspers, Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 63 97 Ebd., S. 65. 94 95

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barer ist, der Parteien stiften könnte."98 Kommunikation zu zweit, schafft die existenzielle Kommunikation eine unbedingte Gemeinschaft, aber diese Gemeinschaft ist wesentlich "nicht universal". 99 Die Solidarität, auf der sie basiert, gilt zwischen mir und dem Nächsten, auf Kosten aller anderen. Insofern beinhaltet jede existenzielle Kommunikation einen konstitutiven Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. "Daß irgendwo zwischen Menschen das Unbedingte gilt, nur gemeinsam oder garnicht leben zu können, macht die Substanz ihres Wesens aus. Aber daß dies nicht in der Solidarität aller Menschen, nicht der Staatsbürger, nicht einmal kleinerer Gruppen liegt, sondern auf engste menschliche Verbindungen beschränkt bleibt, dies macht diese Schuld von uns allen." 100 Liest man diese Passage aus der Schuldfrage noch einmal vor dem Hintergrund der Jasperssehen Analyse ethischer Existenz, wird deutlich, daß es zwischen metaphysischer Schuld und existenzieller Kommunikation eine Strukturanalogie gibt: die Nichteinbeziehung der Anderen. "Ich zerstöre schon Kommunikation, wenn ich sie mit möglichst Vielen suche", heißt es lapidar in der Philosophie, und schon in der Philosophie zieht Jaspers daraus den Schluß, daß mit der existenziellen Kommunikation "die Enge ihrer Erscheinung" als "unausweichliche Schuld" 101 verbunden sei. Die Schuld der existenziellen Kommunikation bildet soweit aber nur einen Spezialfall der Schuld als Grenzsituation, der existenziellen Schuld. 102 Als Grenzsituation resultiert die Schuld aus der Partikularität des Handelns, die auch für das innere Handeln gilt. "Wenn ich im Dasein mögliche Existenz bin, werde ich wirklich durch das Eine. Das Eine ergreifen, heißt anderes Mögliche ... zurückzuweisen. Das Andere aber sind Menschen als mit mir mögliche Existenzen."103 In der Zurückweisung der Anderen liegt unmittelbar Schuld, eine Schuld jedoch, die Jaspers noch nicht als Mangel an der absoluten Solidarität mit allen Menschen erkennt. Daß man die Niveauunterschiede, die auch noch die existenzielle Kommunikation etabliert - nicht zwischen den existenziell Kommunizierenden selbst, sondern zwischen ihnen und allen anderen -, auf sich nehmen muß, ist die These der Philosophie. Wollte ich allen gerecht werden, würde ich die jeweils gegebenen Möglichkeiten existenzieller Kommunikation ausschlagen, "mein Dasein mit Oberflächlichkeiten [erfüllen] und mich wegen einer imaginären universalen Möglichkeit der je eigenen geschichtlichen Möglichkeit in ihrer Begrenzung [versagen]". 104 Daß die Enge der existenziellen Kommunikation zugleich Präferenzen erzeugt, die zu einem Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Ebd., S. 67. Ebd., S. 427. 100 Karl Jaspers, Die Schuldfrage (FN 3), S. 18. 101 Karl Jaspers, Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 60. 1o2 Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, München 7 1985, S. 273- 280; ders., Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 246-249. 103 Karl Jaspers, Philosophie II: ExistenzerheBung (FN 5), S. 247; vgl. S. 249. 104 Ebd., S. 60. 98 99

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Menschen als Menschen führen, ist die Einsicht der Schuldfrage. Dahinter stehen bittere Erfahrungen; Erfahrungen verweigerter Solidarität, aber auch und vor allem die Erfahrung, Anderen Solidarität schuldig geblieben zu sein. Wir sollten uns nicht zutrauen, diese Erfahrungen adäquat nachvollziehen und bruchlos in argumentative Diskurse übersetzen zu können. Auf der Ebene des argumentativen Diskurses indes, auf die sich Jaspers selbst begibt, enthält die Schuldfrage im Begriff der metaphysischen Schuld vielleicht die radikalste Kritik an der Idee der existenziellen Kommunikation - eine Selbstkritik ex silentio. 105 Welch« Konsequenzen bieten sich an? Die Verortung der absoluten Solidarität auf der Ebene des metaphysisch Guten, der Liebe, statt auf der Ebene ethischer Existenz? 106 Aber die metaphysische Schuld ist nicht das metaphysisch Böse, der Haß als Wille zur Zerstörung, und die Liebe existenziell nicht weniger exklusiv als die existenzielle Kommunikation. 107 Die Erweiterung der existenziellen Kommunikation zu einer allumfassenden Kommunikation der Vernunft? Problematisch ist nicht der Zusammenhang von Vernunft und Existenz, wie ihn erstmals die Groninger Vorlesungen von 1935 herausstellen 108 -im Gegenteil. Aus diesem Zusammenhang folgt andererseits nicht, daß man die Universalität der Vernunft und die Existenzialität der Kommunikation gewissermaßen addieren könnte zu einer universellen existenziellen Kommunikation. Jaspers gebraucht den Ausdruck "Vernunft" häufig als Äquivalent für das, was er im Rahmen der existenzieller Kommunikation "Offenheit", "Anerkennung des Anderen", vorbehaltlosen "Kampf um Wahrheit", radikale "Infragestellung" nennt. "Vernunft" unterstreicht hier nur die Unbedingtheit des Willens zur Kommunikation, ohne einen "quantitativen" Zuwachs in der Kommunikation zu erzielen. "Die Wurzel aller Kommunikation" bleibt "die vom Einzelnen zum Einzelnen". 109 An anderen Stellen tritt der Ausdruck "Vernunft" in der Tat als "Bindeglied zwischen Privatbereich und Öffentlichkeitsbereich" auf und bezeichnet die "Aufgabe, permanent an der Universalisierung der normativen, existenziellen Gehalte und moralischen Werthaltungen zu arbeiten, die der Einzelne in den Grenzsituationen und in der existenziellen 105 Es ist auffällig, daß Jaspers das begriffliche Repertoire der Existenzerhellung in der Schuldfrage nur im Schlußabschnitt über "Unsere Reinigung" einsetzt (Kar/ Jaspers, Die Schuldfrage (FN 5), S. 70 ff.; vgl. dazu Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die Zerstörerische Macht des Schweigens, Frankfurt/M. 1997, S. 52f.). Hier fallen auf engem Raum gleich drei zentrale Ausdrücke: "inneres Handeln", "Transzendenz" und "liebender Kampf' (S. 81); hier greifen die Kategorien der Existenzerhellung, weil das Eingeständnis der Schuld in existenzieller Kommunikation zwischen Einzelnen geschieht (vgl. S. 17, 70). 106 Zwischen dem moralisch, ethisch und metaphysisch Guten (bzw. Bösen) unterscheidet Jaspers in "Das Unbedingte des Guten und das Böse" (Das Wagnis der Freiheit, S. 86- 98), vgl. auch Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge. München 25 I 986, S. 57 ff. Zum Verhältnis der drei Stufen untereinander Hans Saner; Zum systematischen Ort der ethischen Reflexion im Denken von Kar! Jaspers (FN 35), S. 21 f. 107 Vgl. Kar/ Jaspers, Von der Wahrheit (FN 4), S. 997. 108 Vgl. Kar/ Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen. München 4 1987, S. ?Off. 109 Kar/ Jaspers, Von der Wahrheit (FN 4), S. 976.

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Kommunikation verwirklichen soll.'" 10 Aber existenzielle Gehalte lassen sich nicht universalisieren oder "in einen öffentlichen Raum transponieren" 111 ; das verraten die bizarren Vorstellungen einer "Gemeinschaft der Funken", die einander erhellen und gegen das Dunkle abstehen, einer "unsichtbaren Kirche" der Vernünftigen, die allmählich die staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen infiltrieren soll. 112 Existenzielle Kommuni!