Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 1 (1990). Selbstorganisation und Determination [1 ed.] 9783428470846, 9783428070848


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German Pages 236 [240] Year 1990

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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 1 (1990). Selbstorganisation und Determination [1 ed.]
 9783428470846, 9783428070848

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SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Herausgegeben von Dr. sc. phil. Uwe Niedersen (geschäftsführend); Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftstheorie und -geschichte, Gimritzer Damm, PF 8 D-0 4010 Halle (Saale) Wissenschaftlicher Beirat: Doz. Dr. Hans-Georg Bartel, Berlin / Prof. Dr. Werner Ebeling, Berlin / Doz. Dr. Rainer Feistel, Rostock / Prof. Dr. Hermann Haken, Stuttgart / Rainer M.-E. Jacobi, Halle und Berlin / Dr. Wolfgang Krohn, Bielefeld / Prof. Dr. Hans-Peter Krüger, Berlin / Dr. Bernd-Olaf Küppers, Göttingen / Dr. Günter Küppers, Bielefeld / Dr. Hans-Jürgen Krug, Berlin / Dr. Lothar Kuhnert, Berlin / Prof. Dr. Niklas Luhmann, Bielefeld / Prof. Dr. Reinhard Mocek, Halle / Doz. Dr. Uwe Niedersen, Halle / Prof. Dr. Ilya Prigogine, Brüssel / Prof. Dr. Peter Schuster, Wien / Dr. Dr. Frank Schweitzer, Berlin und Rostock.

Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung, welcher Art auch immer, außerhalb der engen Gren­ zen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für Übertragungen in eine von Maschinen insbes. Datenverarbeitungsanlagen verwendbare Sprache. Eine Haftung für unverlangt eingereichte Manuskripte wird nicht übernommen. Eine Rück­ gabe erfolgt nur, wenn Rückporto beigefügt ist. Die Einreichung des Manuskripts stellt ein Angebot an Verlag und Redaktion zur Übertragung des ausschließlichen Verlagsrechts für die Zeit bis zum Ablauf des Urheberrechts dar. Die Annahmeerklärung kann förmlich erfolgen, sie kann aber auch implizit durch Abdruck des Manuskripts ausgesprochen werden. Das übertragene Verlagsrecht schließt auch die Befugnisse zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie zu weiteren Vervielfältigungen zu gewerblichen Zwecken in jedem möglichen Verfahren ein. Dem Autor verbleibt die Befugnis, nach Ablauf eines Jahres anderen Verlagen eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Ein eventuelles Honorar hieraus steht dem Autor zu. Bestellungen können an jede Buchhandlung oder direkt an den Verlag gerichtet werden. Verlag Duncker & Humblot GmbH, Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41 Ruf: 0 30 / 79 00 06 - 0, Telefax: 0 30 / 79 00 06 31

Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-07084-4

Zum Geleit "Selbstorganisation" bezeichnet ein neues Paradigma in den Wissenschaften. Es umfaßt unterschiedliche Konzeptionen wie die Synergetik und die Autopoiese. Sie haben als gemeinsamen Bezugspunkt die Entstehung und Dynamik von Komplexität. Natur, Mensch und Gesellschaft können mithin als offene, innovative Wirklichkeits bereiche verstanden werden. Mit dem Paradigma "Selbstorganisation" wird eine grundsätzliche Kritik am mechanistischen Weltverständnis und seinem natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Reduktionismus vollzogen. Insofern die Geschichtlichkeit von Denkformen, so auch der kulturprägende Prozeß des neuen Paradigmas· selbst zum Thema wird, kommt diesem Modell eine über den wissenschaftlichen Rahmen weit hinausreichende Bedeutung zu. Die Vielfalt und Ambivalenz natürlichen und menschlichen Seins und Werdens im Lichte der "Selbstorganisation" darzustellen und zu hinterfragen, hierbei dieses Paradigma auch selbst zum Thema kritischer Betrachtungen zu machen, soll Aufgabe und Anspruch des Jahrbuchs sein. Es versteht sich als ein offenes Podium zur Beförderung des interdisziplinären und interkulturellen Dialogs. Dieser thematischen Breite sollen auch die Formen der Darstellung entsprechen: sie reichen vom wissenschaftlichen Aufsatz über den Bericht, die Rezension und die Edition bis hin zum philosophischen Traktat, dem polemischen Dialog sowie gelegentlich dem eher künstlerischen Essay. Halle u. a. im September 1990 Herausgeber und Beirat

Inhaltsverzeichnis Aufsätze llya Prigogine und Isabelle Stengers, Entwicklung und Irreversibilität ...........

3

Hermann Haken, Über das Verhältnis der Synergetik zur Thermodynamik, Kybernetik und Informationstheorie .....................................................

19

Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann, Komplexität, Singularität und Determination. Die Koordination der Heterogenität ........................................

25

Werner Ebeling, Instabilität, Mutation, Innovation, Erneuerung aus evolutionstheoretischer Sicht .................................................................

55

Ludwig Pohlmann und Uwe Niedersen, Dynamisches Verzweigungsverhalten bei Wachstums- und Evolutionsprozessen ........ ....................................

63

Rainer Feistei, Ritualisation und die Selbstorganisation der Information.........

83

Hans-Georg Bartel,Über Verwendungsmöglichkeiten der Theorie der Begriffsverbände zur Beschreibung von Aspekten der Evolution .......................

99

Wolfgang Krohn und Günter Küppers, Selbstreferenz und Planung ..............

109

Hans-Peter Krüger, Luhmanns autopoietische Wende. Eine komm}.lnikationsorientierte Grenzbestimmung ...........................................................

129

Christian Dahme, Selbstorganisation und Tätigkeitstheorie .......................

149

Reinhard Mocek, Einsicht statt Voraussicht - Aspekte einer Ethik der Selbstorganisation ........................................................................

163

Rainer-M. E. Jacobi, Die Einheit von Leben und Tod - Überlegungen im Vorfeld eines neuen Zugangs zur Struktur des Denkens in der Medizin ................

179

Hans-Georg Bartel und Jochen Hallo/, Der Aspekt der Selbstorganisation in altägyptischen Kosmogonien......................................................

195

2

Inhaltsverzeicbnis

Editionen Aus der Lebenschronik von Alwin Mittasch (Uwe Niedersen) ....................

219

Buchbesprechungen Cramer, Friedrich, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen (Uwe Niedersen) .. ... .... ............... .......... ................ .... ......... ....

229

Nicolis, Gregoire und Prigogine, Ilya, Die Erforschung des Komplexen. Auf dem Wege zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften (Frank Schweitzer)

230

Mocek, Reinhard. Neugier und Nutzen. Blicke in die Wissenschaftsgeschichte (Wolf Kummer) .....................................................................

232

Laszlo, Ervin, Evolution - die neue Synthese. Wege in die Zukunft (Gerd GebhordJ) ..•.......... ........... ............... ...................................

232

Riedl, Rupert, Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft (Michael Köhler) ...................................................

234

Autoralverz.eicbnis ..................................................................

235

Vorschau .............................................................................

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Entwicklung und Irreversibilität Von I1ya Prigogine und Isabelle Stengers, Brüssel'

1. Von einer geschlossenen Welt zum offenen Universum Alexandre Koyre 1 hat die intellektuelle und kulturelle Revolution, die die Geburt der modernen Physik begleitete, als die Zerstörung der Vorstellung (die wir den Griechen verdanken) einer geschlossenen, hierarchischen Welt, die um die Menschen zentriert war, beschrieben. An ihre Stelle trat die Vorstellung eines unendlichen Universums, in dem die Erde keine privilegierte Stellung mehr hat und in welcher die Wertvorstellungen der Menschen und ihrer Gesellschaften keine Rechtfertigungen mehr vorfinden. Zerstörung und Aufbau sind, wie Koyre mit großer Gründlichkeit zeigte, gerade den Prinzipien der neugeborenen Physik inhärent, allen voran dem Trägheitsprinzip. Denn ein Raum, in dem die gleichförmige Bewegung mit der gleichen Berechtigung wie die Ruhe als ein Zustand definiert werden kann, ist ebenfalls ein "stummer" Raum, in dem sich der Mensch als freies und bewußtes Individuum isoliert vorfindet, da er seinen Hoffnungen und Entscheidungen keinerlei Sinn gibt. Aber die Beschreibung Koyres läßt die eigentlichen Grenzen im Dunkeln, die die Entwicklung der Konzeption der Physik durch den Begriff des unendlichen Universums hervorgebracht hat. Das Universum als Gegenstand der Wissenschaft, die die aristotelische Kosmologie ablöste, ist unendlich in seinen Dimensionen, aber es enthüllt sich gleichfalls als eine geschlossene Welt im Sinne der Abwesenheit von Entwicklung und Neubildung. Es ist eine Welt, deren stabile und periodische Planetenbahnen um die Sonne ihre adäquate Darstellung sind. Aus dieser Perspektive ist die von Koyre beschriebene Revolution nur ein Vorspiel der Entdeckung des offenen Universums gewesen, in dem eine Entwicklung möglich ist, die sich nicht auf die Wiederholung des Gleichen reduzieren läßt. Der Übergang von einer "geschlossenen" Welt zu einem "unendlichen" Universum hat Begeisterung und Verwirrung aufleben lassen. Dagegen wurde der aus • Mit freundlicher Zustimmung des Autors erscheint dieser Text als ein redigierter Nachdruck aus: Uwe Niedersen (Hrsg.), Komplexität - Zeit - Methode (11), Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg }988/4 (A 102), Halle (Saale) 1988, S. 143 - 166. Hierbei handelt es sich um eine Ubersetzung des französischen Textes "Devenir et Irreversibilite" durch die Herren J örg Enderlein und Hartmut Linde. 1 A. Koyre, Edudes galileennes, Paris 1966. A. Koyre, Du monde clos a l'univers infini, Paris 1973. \*

Ilya Prigogine und Isabelle Stengers

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dieser Revolution hervorgehende radikale Charakter einer Negierung aller Entwicklung erst beim weiteren Ausbau der Theorie verstanden. Erst Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich der Gedanke durch, daß eine Bewegung nach den Gesetzen der Dynamik eine Symmetrie zwischen" Vorher" und "Nachher" (Vergangenheit und Zukunft) fordert und somit die Natur keine Unterscheidung zwischen einer Entwicklung und der umgekehrten, die ein System auf seinen Ausgangszustand wieder zurückführen würden, erlaubt. Das war auch der Zeitpunkt, in dem sich die Frage nach einer dynamischen Interpretation der irreversiblen Entwicklung, die der zweite Hauptsatz der Thermodynamik vorschrieb, stellte. Bis dahin existierte nämlich der explizite Begriff einer reversiblen Zeit noch nicht. Man unterscheidet gewöhnlich zwischen den Kulturen, in denen sich das "Werden" als zyklisch darstellt, und denjenigen, wie z. B. der jüdisch-christlichen Kultur, die von einer linearen Zeit ausgehen, die die Zeit des Heils oder des Fortschritts ist. Aber ein zyklischer Charakter der Entwicklung impliziert die Wiederholung und nicht die Symmetrie zwischen dem Vorher und dem Nachher. Der einzelne Zyklus wird sinnvoll durch Geburt, Wachstum und Tod. Was die Reversibilität der Zeit selbst betrifft, so schließt sie mit Recht die Möglichkeit einer für uns unbegreifbaren Welt ein, in welcher der Lauf der Dinge sich umkehren könnte, in der die Lebewesen sich fortlaufend verjüngen würden und sich selbst der Begriff eines Prozeßablaufs als illusionär erweist. In der beobachtbaren Welt liefern uns allein die periodischen Planetenbahnen oder das ideale Pendel ein Evolutionsmodell, welches nicht nur die ewige Wiederholung des gleichen darstellt, sondern auch die Symmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft. In diesem Sinne ist die Beziehung zwischen Irreversibilität und Entwicklung das eigentliche Problem der modemen Physik. Selbst das Wort "Irreversibilität" spiegelt als eine Negation diese Besonderheit wider: Indem es durch die Verneinung einer Eigenschaft gekennzeichnet ist, zeigt es nur die Voraussetzungen des gesamten Konzepts der Entwicklung (sei sie nun linear oder zyklisch) sowie der vollständigen Definition des Augenblicks. Man kam sagen, daß die Entdeckung der Einschränkungen, welche die Gleichungen der Dynamik dem Evolutionsbegriff auferlegen, eine ebenso fundamentale Revolution der Zeitkonzeption darstellte, wie es einige Jahre später durch die Relativitätstheorie Einsteins passierte. Es stellt sich die Frage, wie die modeme Physik über mehr als zwei Jahrhunderte lang diese Beschränkungen durch die (reservible) Dynamik ertragen konnte, ohne dabei in ihrem Fortschreiten gehemmt zu werden. Zurückblickend ist es leicht, die Methode der Konzeptionalisierung aufzuzeigen, die den "Pfeil der Zeit" zunichte macht. Sie trägt einen Namen, den ihr Leibniz 2 verliehen hat: das Prinzip der Kausalität oder des hinreichenden Grundes. Das bedeutet die Äquivalenz zwischen vollständiger Ursache und ganzer Wirkung. Dieses Prinzip sagt nichts weiter aus, als daß sich jede Sache erklären läßt 2

G. F. Leibniz, Essais de Theodicee, Paris 1969.

Entwicklung und Irreversibilität

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und sich nichts ohne Ursache vollzieht. Im Fall einer irreversiblen Evolution, die gemäß des Fourierschen Gesetzes zum Gleichgewicht führt, entspricht dies dem Gesetz der Verursachung. Eine solche Evolution hat eine Temperaturdifferenz zur Ursache, die sich dann bis auf Null abbaut. Das Prinzip des hinreichenden Grundes postuliert nicht nur die Existenz der Ursache, sondern die Äquivalenz von Ursache und Wirkung. Leibniz war es, der in der Bewegungslehre, die er "Dynamik" taufte, die Reichhaltigkeit dieses Prinzips aufdeckte, und tatsächlich bekam im Werk von Galilei und Huyghens nicht die Idee von einer Verkettung, sondern von einer Gleichheit von Ursache und Wirkung ihren Sinn. Ein beweglicher Körper bekommt auf einer geneigten Ebene eine solche Geschwindigkeit (im Idealfall), die ausreicht, um seine ursprüngliche Höhe wieder zu erreichen. Das, was der Fall "verbraucht" hat, ist gleich dem, was er "erzeugt" hat. Diese Gleichheit bestätigt sich durch die Möglichkeit, den Prozeßablauf umkehren zu können, denn indem der bewegte Körper die erzeugte Geschwindigkeit "verbraucht" , kann er das wiederfinden, was er verloren hat, nämlich seine Anfangshöhe. Diese Überlegung, die eine Konzeption zur Folge hat, die wir heute mit dem Begriff der (kinetischen und potentiellen) Energie verbinden, erlaubt es, das Gleichheitszeichen zwischen zwei Größen zu setzen: zwischen mgh, der "verlorenen" Quantität durch den Fall von h auf Null und m . v 2j2, der gewonnenen Quantität durch einen Fall, der einem Körper die Geschwindigkeit v verliehen hat. Von Galilei bis Lagrange und besonders Hamilton bekam der zureichende Grund tatsächlich den Status eines Prinzips der Begreifbarkeit, den Leibniz ihm zuerkannte, denn er erlaubte diese Gleichstellung und damit auch die reine kanonische Darstellung der gesamten Dynamik. Selbst in der Sprache der Dynamik fand er sich auf der syntaktischen Ebene wieder. Und damit verbunden, verallgemeinerte diese Sprache alles, was (im Sprachgebrauch von Galilei) den bewegten Körper seine Anfangshöhe wiedergewinnen ließ. Die Sprache der Dynamik bestimmte die Operation der gleichzeitigen Umkehrung der Geschwindigkeitsrichtungen aller Teile eines dynamischen Systems als äquivalent zur Umkehrung des Zeitpfeils. Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts diese Konsequenz einer derartigen Konzeptionalisierung der Dynamik nicht zur Kenntnis genommen wurde, waren der Determinismus und das Ideal der Allwissenheit, die ebenfalls daraus abgeleitet wurden, Gegenstand der Debatte. Gerade die Begriffe der vollständigen Ursache und der ganzen Wirkung drücken das Ideal der Allwissenheit aus. Am Beispiel des Buridanschen Esels, der zwischen zwei ganz gleichen Anziehungen schwankte, präzisierte Leibniz, daß in diesem Falle die Definition der vollständigen Ursache und der ganzen Wirkung auf denjenigen verweist, der in der Lage wäre, im Geiste des Esels die immense Menge von kleinen Eindrücken zu erkennen, die seine Einbezogenheit in das vollständige Universum ausdrücken. Jedoch einzig "Augen so durchdringend wie die Gottes" wären in der Lage, die Gegenwart wie die gesamte Zukunft und Vergangenheit zu entschlüsseln und vorauszu-

Ilya Prigogine und Isabelle Stengers

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sagen, welchen Heuhaufen der Esel wählen würde, und das ebenso sicher, wie der Astronom die Position des Mondes vor oder in einem Jahrhundert bestimmen kann. Das, was wir nach Laplace das "Newtonsche System" nennen, ist sozusagen ein als eine große Summe dynamischer Wechselwirkungen verstandenes Weltbild und ist tatsächlich das Werk von Leibniz gewesen. Die Newtonsche Welt war im Unterschied zu einer Welt, die durch den zureichenden Grund regiert wird, kein System im Sinne einer Zustandsdynamik. Nach Leibniz und seinen Nachfolgern muß die Welt als ein dynamisches System verstanden werden, in dem die Entwicklung einem Perpetuum mobile gleichzusetzen ist, welches sich erhält, ohne sich zu erschöpfen oder zu vermehren. Demgegenüber ist die Natur Newtons eine "unablässig tätige", oder genauer gesagt, die Natur wird unablässig von Gott in Tätigkeit gehalten, dessen Einwirkungen sich in der Fähigkeit, im materiellen Bereich zu gestalten, ausdrücken. Diese Fähigkeit wird durch den zureichenden Grund weder festgelegt noch eingeschränkt. Deshalb fanden sich zur großen Verwunderung der Historiker des 19. Jahrhunderts in der Newtonschen Physik keinerlei Hinweise auf das, was wir heute "Energie" nennen sowie ganz allgemein keine Untersuchung der Idee, ob unter all den mit der Veränderung von Geschwindigkeit und Beschleunigung verbundenen Größen eine sich erhalten könnte. Aus diesem Grunde gibt uns auch die Debatte zwischen Leibniz und Clarke, einem Wortführer Newtons, einen so einmaligen Einblick in die Fragestellung der Beziehungen von Entwicklung und Kausaliätsprinzip, bevor letzteres zu einer syntaktischen Selbstverständlichkeit im Kern der Bewegungslehre wurde. Diese Debatte 3 reichte aus, um den Widerspruch zwischen dem Prinzip des zureichenden Grundes und einer Entwicklung, in der etwas Neues entstehen kann, von Anfang an zu erkennen. "Alles das, was bei den Kräften des Lebens (und der Seele) Spontanität ist, und was wir in Hinsicht auf die moralischen Beweggründe mit vollem Recht Freiheit nennen", muß eine Handlungsfreiheit ausdrücken, welche nicht auf das Ergebnis kausaler Zusammenhänge reduziert werden kann, behauptete Clarke. Für Leibniz ist der Begriff der Triebkräfte, die die Fähigkeit zur Initiative und zur Erzeugung von etwas Neuem ausmachen, auf uns bezogen, die wir nicht die "durchdringenden Augen Gottes" besitzen und nicht in der Lage sind, die vollständigen haargenauen Ursachen und die ganz genauen Wirkungen zu bestimmen, mit Ausnahme von einfachen Fällen. Die Erneuerung, die Spontanität oder die Freiheit bestimmen (nicht zurückJührbar auf Ursachen) den Lauf unseres Lebens in praktischer und moralischer Hinsicht, aber andererseits sind, von der ,,Allwissenheit Gottes" ausgehend, spontane und freie Handlungen lediglich Illusionen. Es ist bemerkenswert, daß diese Debatte trotz ihrer philosophischen Fortführung (vgl. die 3. Kantsche Antinomie und ihre Lösung) keine echte Krise in der 3

A. Robinet (Hrsg.), Correspondance Leibniz-Clarke, Paris 1957.

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Physik auslöste. Die Newtonsehen Kräfte hatten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts in die Physik des zureichenden Grundes einordnen lassen, und der Determinismus wurde in Form des Laplaceschen Dämons offiziell anerkannt. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die theoretische Mechanik und das Kausalitätsprinzip untrennbar miteinander verbunden worden und der zureichende Grund war, wie Kant richtig gesehen hatte, zu einer Kategorie, wenn nicht des Inhalts, so zumindest der Sprache der Bewegungslehre geworden, während die Leibnizschen Gedanken selbst vom Nimbus theologisch-metaphysischer Spekulationen umgeben waren. In diesem Falle bricht die Krise nicht an den Grenzen der Physik aus, sondern im Zusammenhang mit der Handlungsmöglichkeit, der Spontanität und der Freiheit in ihrem Zentrum selbst. Sie betrifft die phänomenologische Physik, speziell den Wärme- und Druckaustausch in einem Gas, die uns nicht nur als rein physikalisch erscheinen, sondern die auch etwas repräsentieren, dank dessen unsere Welt wirklich voraussehbar und beeinflußbar erscheint. Wir wissen, daß ein heißer Körper sich stetig abkühlt, daß ein leerer Raum sich schon durch die kleinste Öffnung mit Luft füllt und daß sich schließlich ein Körper nicht spontan erhitzt oder sich ein Teil unserer Welt spontan entleert. Weder Leben noch Technik wären möglich ohne diese Asymmetrie, die das Gesetz über die Entropiezunahme bestätigt und die einer Welt des zureichenden Grundes fremd ist. Die Äquivalenz zwischen der "vollständigen Ursache" und der "ganzen Wirkung" wird nach Galilei tatsächlich durch die Symmetrie der Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung bewiesen. Das "Gleichheitszeichen" zeigt an, daß die ganzen Wirkungen zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen werden können, um die Anfangsbedingungen wieder herzustellen. Das ist die Herausforderung im Stil einer sehr grundlegenden Konzeptionalisierung der Dynamik, die Bergson 4 verleitet hat, vom Gesetz der Entropiezunahme als dem "metaphysi(kali)schsten" Gesetz zu sprechen, und Emile Meyerson 5 verleitet hat zu schließen, daß dieses Gesetz die Natur als "irrationelle" bestimmt, als Auflehnung gegen den Zwang des Kausalitätsprinzips. Tatsächlich begannen die Paradoxe, die durch die Boltzmannsche Interpretation der Dynamik hinsichtlich dieser Asymmetrie erzeugt wurden, zu dem Schluß zu führen, daß die "abweichenden" Prozesse, bei denen die Entropie spontan abnehmen würde, nicht als physikalisch unmöglich angesprochen werden könnten, sondern lediglich als zahlenmäßig unwahrscheinlich. Des weiteren erlaubt die Unwahrscheinlichkeit nicht die Privilegierung von Prozessen mit Entropiezunahme gegenüber inversen "anti-thermodynamischen Prozessen". Denn die probalistische Interpretation, die annimmt, daß alle dynamischen Zustände apriori gleich wahrscheinlich sind, führt zum Schluß, daß zu jedem Anfangszustand, der eine irreversible Evolution mit anwachsender Entropie erzeugt, ein komplementärer 4

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H. Bergson, L-evolution creatrice, Oeuvres, Paris 1970. E. Meyerson, Identite et realite, Paris 1951.

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Zustand gehört, der eine inverse Evolution erzeugt, die durch den zweiten Hauptsatz verboten ist. Der eine Zustand läßt sich durch die gleichzeitige Inversion aller Geschwindigkeiten in den anderen umwandeln. Wirklich bevorzugt sind nur die dynamischen Zustände, die zu einer Evolution gehören, welche das System in einem dem thermodynamischen Gleichgewicht entsprechenden makroskopischen Zustand halten, von Fluktuationen abgesehen. Das führte Boltzmann dazu, die These vom "fluktuierenden Universum" aufzustellen: Im Innern eines sich global im Gleichgewicht befindlichen Universums ohne Zeitpfeil entspricht die Mikroregion, die wir wahrnehmen können und der wir angehören, einer lokalen Fluktuation. In anderen Regionen des Universums sollte der Pfeil der Zeit folgerichtig eine umgekehrte Richtung haben. Diese Lösung führte zu großen Schwierigkeiten. Es ist unnötig zu betonen, daß diese Idee sehr an Plausibilität verloren hat, nachdem sich unsere astronomischen Beobachtungsergebnisse über unsere Galaxis hinaus ausgedehnt haben und nachdem die Idee einer globalen Geschichte des Universums aufkam. Dennoch hat die Unmöglichkeit, innerhalb der Theorie der reversiblen Transformationen (der Dynamik, aber inzwischen auch der allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik) eine andere als eine nur auf Erfahrung gegründete Unterscheidung zwischen den beiden Zeitrichtungen festzustellen, nichts an ihrer Aktualität verloren. So konfrontiert die Frage der Irreversibilität die Physik mit einer Entscheidung, die man in dem Maße "metaphysi(kali)sch" nennen könnte, wie es sich darum handelt, was als notwendige Bedingung für das sogenannte Werden erscheint. Das ist gleichermaßen die notwendige Bedingung für alle realen Wechselwirkungen mit der Welt einschließlich der Meßprozesse, ohne die man keine physikalischen Gesetze haben würde, ob reversible oder irreversible. Das wurde durch die Quantenmechanik und durch die Unmöglichkeit, den Meßprozeß auf die reversible Schrödingergleichung zurückzuführen, deutlich. Sicher kann diese Frage eine einfache Antwort erhalten, man kann z. B. die Gesetze der Dynamik und das aus ihnen folgende Prinzip des zureichenden Grundes verneinen, und das in voller Übereinstimmung mit den irreversiblen Phänomenen. Aber diese Gesetze der Dynamik, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik haben sich so erfolgreich in der Geschichte der physikalischen Welt erwiesen, daß es für die Physiker schwer ist, sie aufzugeben, ohne den Versuch zu machen zu verstehen, warum und wie sie ihre Gültigkeit verloren haben. In diesem Punkt hat die Physik während der letzten Jahre eine bemerkenswerte Entwicklung erfahren. Poincare hat auf eine sehr schroffe Weise den Versuch Boltzmanns kommentiert, der Entropie eine dynamische Interpretation zu geben: Wie kann man hoffen, einen Schluß ziehen zu können, der seinen Prämissen widerspricht? Und tatsächlich ist es das Werk Poincares, das eine grundlegende Umwandlung unserer Auffassungen über diese Prämissen einleitete und das die große Komplexität dessen aufdeckte, was sich hinter dem glatten Begriff "dynamisches

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System" versteckte. Wir haben es heute nicht mit solch einer einheitlichen Wissenschaft zu tun, welche Laplace erlaubte, einen Dämon zu ersinnen, der die Welt wie ein Physiker betrachtet, welcher denkt, er könne das Planetensystem so erfassen, wie er die Bewegungen eines Pendels verstehen kann. Seit Poincare weiß man, daß schon ein einfaches System aus drei wechsel wirkenden Körpern nicht allgemein integrierbar ist. Die Dynamik schreitet heute zu einer qualitativen Klassifizierung der Systeme, die sie untersucht. Das entspricht einer Modernisierung der Unterscheidung, welche es Leibniz erlaubte, der praktischen Freiheit des Menschen einen Sinn zu geben in einer in Hinsicht auf Gott deterministischen Welt, der Unterscheidung von stabil und instabil. Sicherlich, behauptete Leibniz, ist die Sünde, die einmal begangen wird, schon in der Bestimmung Adams festgeschrieben. Aber nur Gott allein hat Kenntnis von dieser Bestimmung. Für Adam selbst, für alle anderen war diese Sünde nicht voraussehbar. Jedes Wissen des endgültigen Charakters, so präzise es auch sei, kann nichts anderes als die Bestimmung eines "undeutlichen" Adam wiedergeben, weIcher sündigen könnte oder auch nicht. Dieser Leibnizschen Charakterisierung entsprechen heute die hochgradig instabilen dynamischen Systeme durch ihre stochastischen Eigenschaften. Wie groß die Genauigkeit bei der Bestimmung der Anfangsbedingungen eines derartigen Systems auch ist, so können wir doch daraus nur ein unbestimmtes Verhalten ableiten. Die geringste Ungenauigkeit wird sich in einer nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Unbestimmtheit ausdrükken. Diese Wahrscheinlichkeiten entsprechen im klassischen Kontext tatsächlich nur einer ungefahren Beschreibung im Hinblick auf die menschliche Persönlichkeit. Aber selbst der Begriff der Wahrscheinlichkeit enthüllt den ungenügenden Charakter einer solchen Idee der Approximation. Betrachten wir das Spiel ,,zahl oder Wappen". Im Idealfall sind die Chancen, beim Münzwurf Zahl oder Wappen zu bekommen, gleich groß. Die Wahrscheinlichkeit erschiene als ein Resultat der Approximation, die bei einer immer genaueren Analyse eines solchen Wurfes die Wahrscheinlichkeitsaussage bis zum Ideal einer deterministischen Beschreibung entwickeln würde, bei dem z. B. die Chance, ein Wappen zu erhalten, 0 % und die Zahl zu erhalten, 100 % ist. In dem Maße, in dem das nicht möglich ist, in dem eine noch genauere Beschreibung der Anfangsbedingungen die Unsicherheit nicht aufhebt, muß man sagen, daß das Ergebnis des Wurfes einer Münze dem Wesen nach zufällig ist. Die Entdeckung von solchen dem Wesen nach "zufälligen" (objektiv zufälligen) dynamischen Systemen führt auf eine absolute Entscheidung zwischen dem, was Leibniz als Standpunkt der völlig unbegrenzten göttlichen Allwissenheit definiert hat, und dem begrenzten Kenntnisstand, der durch den Genauigkeitsgrad bestimmt ist. Die Aufgabe der Voraussetzung der unendlich genauen Information (verbunden mit den Begriffen der vollständigen Ursache und der ganzen Wirkung) drückt sich für die hochgradig instabilen dynamischen Systeme in dem Maße

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aus, in dem das Ideal der Zurückführung des Verhaltens auf eine noch so genaue und vollständige Bestimmung der Anfangsbedingungen für diese Systeme nicht erreicht wird. Das ist ein Problem, welches Pierre Duhem als erster stellte: "Ein mathematischer Schluß ist physikalisch unnütz, solange er sich darauf beschränkt, festzustellen, daß aus einer absolut wahren Aussage mit absoluter Genauigkeit eine andere Aussage folgt. Um physikalisch sinnvoll zu sein, ist es nötig zu beweisen, daß die zweite Aussage fast exakt bleibt, selbst dann, wenn die erste nur fast wahr ist."6 Wenn sich das Ideal der Allwissenheit, getragen durch den Begriff der dynamischen Trajektorie, nicht mit der Instabilität der dynamischen Systeme verträgt, wenn das Prinzip des zureichenden Grundes aufhört, wie Leibniz es nannte, der Faden der Ariadne im Labyrinth der Erscheinungen zu sein, so bedeutet das ganz und gar nicht eine Niederlage, einen Verzicht. Es ist im Gegenteil ein Beginn, der Punkt des Auftauehens neuer Fragen. Es ist eine Neubestimmung der dynamischen Beschreibung, welches das neue, die dynamischen Systeme bildende Objekt als von Kategorien befreit darstellt, die tatsächlich nur den stabilen Systemen zueigen waren und nun als Ausnahmen erkannt wurden. Während der letzten Jahre war das von Poincare aus logischen Gründen verurteilte Boltzmannsche Programm fähig, durch eine Wandlung seiner Voraussetzungen aufzuerstehen. Wir wissen heute, nach dem Verzicht auf die Voraussetzung einer unbegrenzt genauen Information, daß die hochgradig instabilen dynamischen Systeme (die nach Kolmogorov benannten K-Systeme) eine völlig neue Darstellung bekommen können, welche die Zeitsymmetrie ihrer Evolutionsgleichungen bricht. und den ihnen immanenten Wahrscheinlichkeitscharakter zum Ausdruck bringt. Eine solche Darstellung gibt der Idee des Werdens, einer Entwicklung, die nicht nur die Wiederholung ihrer selbst wäre, einen Sinn. Ein Zustand ist dann nicht mehr nur ein momentaner Einschnitt, der symmetrisch durch die Vergangenheit bestimmt und die Zukunft bestimmend ist, sondern der in der Zeit gerichtet ist, eine Erinnerung einer Vergangenheit, die auch bei vollständiger Beschreibung sich nur in Informationen begrenzter Genauigkeit äußern kann und ein Spektrum von möglichen Ereignissen eröffnet. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik trat in die Geschichte der Physik als ein Unmöglichkeitstheorem: Es ist unmöglich, eine spontane Entwicklung, die ein System vom thermodynamischen Gleichgewicht auslenkt, zu beobachten oder ablaufen zu lassen. Der Maxwellsehe Dämon symbolisiert die Schwierigkeit, diese Unmöglichkeit als physikalisches Gesetz zu fassen: Derjenige, der die einzelnen Moleküle beobachten und manipulieren könnte, schien in der Lage zu sein, ein System zu zwingen, den Abhang der Irreversibilität wieder hinaufzurollen. Wir wissen inzwischen, daß der Maxwellsehe Dämon, falls er nicht Gott ist, in dieser Hinsicht so machtlos wäre wie wir. Der zweite Hauptsatz dient 6

P. Duhem, La theorie physique, son objet, sa structure, Paris 1981, S. 214.

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nunmehr zur Kennzeichnung des Ausschlusses einer wohlbestimmten Klasse dynamischer Zustände, derjenigen, die eine Entwicklung zur Folge hätten, die das System unbestimmt weit aus dem Gleichgewichtszustand auslenken würde. Niemals können wir ein System in solch einem Zustand antreffen, niemals wird eine dynamische Entwicklung zu ihm führen. Wir können ihn auch nicht künstlich erzeugen, denn seine Herstellung würde ein unendliches Wissen erfordern. Die geringste Ungenauigkeit in der Bestimmung der Koordinatenwerte (wobei wir immer nur mit Zahlen aus endlich vielen Dezimalstellen arbeiten können) genügt, um den dynamischen Zustand in die Klasse derjenigen, welche früher oder später ins Gleichgewicht zurückfallen, zurückzuführen. Die Herausforderung der Irreversibilität, die gleichzeitig durch unsere Beziehung zur Welt gefordert und durch die Art der klassischen Konzeptionalisierung der Physik ausgeschlossen wird, hat somit zu einer Befreiung unseres Entwicklungsbegriffs von der Perspektive der Allwissenheit geführt, die das theologische Denken und auch die modeme Wissenschaft belastet hat. Jedoch sind die Begriffe nicht notwendig ein und dasselbe. Welchen Sinn kann das "Werden" in einem Universum bekommen, das nunmehr als dissipativ und offen für eine unbestimmte Zukunft verstanden wird?

2. Das "Werden" in einer dissipativen Welt Was ist die Bedeutung des zweiten Hauptsatzes? Obwohl während der letzten Jahre die Frage nach der dynamischen Interpretation einer Entwicklung mit wachsender Entropie keine befriedigende Antwort erhalten konnte, schien im Gegensatz dazu die phänomenologische Bedeutung dieses Prinzips klar zu sein. Falls man ein System nicht künstlich außerhalb vom Gleichgewicht festhält, so entwickelt es sich, sei es nun isoliert, geschlossen (Engergieaustausch mit einem Wärrnebad ist möglich) oder offen (Energie- und Stoffaustausch sind möglich), zum Gleichgewicht hin, in dem es dann unbeschränkt verbleibt. Jedes andere Verhalten wird vom zweiten Hauptsatz verboten. Doch was passiert, wenn die Randbedingungen das Gleichgewicht unerreichbar werden lassen? Diese Frage wird durch die Thermodynamik der Nichtgleichgewichtssysteme beantwortet. Hier hört der zweite Hauptsatz auf, lediglich eine Entwicklung zu einem gleichförmigen und inerten Zustand anzuzeigen. Schon die wohlbekannten Erscheinungen der physikalischen Chemie lehren uns, daß die Dissipation, die Entropiezunahme aufhören, ein Synonym für das Gleichförmigwerden zu sein, wenn der Austausch mit der Umgebung das System fern vom Gleichgewicht festhält. Nehmen wir also das klassische Beispiel der Thermodiffusion, bei dem ein Temperaturgradient in einem chemisch heterogenen System einen Wärrnestrom erzwingt, der zwar der Tendenz zur Temperaturgleichverteilung unter Entropiezunahme entspricht, der jedoch unter Kopplung an die Diffusion eine Komponententrennung und somit die Bildung einer räumlichen chemischen Differenzierung,

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die einer negativen Entropieproduktion entspricht, verursacht. Schon hier, in der Nähe des Gleichgewichtes, kommt die duale Eigenschaft der Irreversibilität zum Vorschein: Zerstörung und Neubildung, die untrennbar miteinander gekoppelt sind. Diese Dualität tritt bei der Untersuchung von Systemen fern vom Gleichgewicht voll in Erscheinung und wird durch den Begriff der "dissipativen Struktur" gekennzeichnet. Im Gegensatz zur Thennodiffusion hat die Entstehung einer dissipativen Struktur nicht nur die Auslenkung vom Gleichgewicht als Bedingung, sondern es müssen außerdem die stationären Zustände, die sich fern vom Gleichgewicht an den Gleichgewichtszustand anschließen (der sogenannte thennodynamische Zweig), ihre Stabiliät verlieren. Nur Systeme, deren Prozesse von nichtlinearen mathematischen Gleichungen beschrieben werden, können diese "Instabilitätsschwelle" haben. Hinter dieser Schwelle, die das Ende der Herrschaft des Attraktors darstellt, der sich an den Gleichgewichtszustand anschließt, dient die Dissipation als Quelle der Ordnung und der Neuschaffung. Das passiert nicht nur durch die Überlagerung zweier Prozesse, von denen der eine eine Differenzierung abbaut, während der andere eine neue schafft, sondern durch einen wirklich kollektiven Prozeß der Selbstorganisation, in dem periodisches Verhalten, räumliche Symmetriebrechung usw. auftreten. Das ist das Gebiet der "dissipativen Strukturen" . Bei der Erforschung von Systemen hinter der Instabilitätsschwelle bildet die Thennodynamik einen Bindestrich zwischen zwei Bereichen, die unsere Vorstellungen darüber, was in der Physik Entwicklung bedeutet, grundlegend verändert haben: der Theorie der kritischen Punkte der Instabilität (die Änderung des Gleichgewichtszustandes) und der mathematischen Theorie der Attraktoren. Während der erste Bereich unsere Vorstellungen über die Beziehung zwischen mikroskopischem Verhalten und den Mittelwerten erneuert hat, so führte der zweite zur Aufdeckung der Reichhaltigkeit eines makroskopischen Begriffes, des Attraktorzustandes. Der Gleichgewichtszustand, dessen Stabilität der zweite Hauptsatz garantiert, bildet das Bezugsmodell für das Problem der Beschreibung eines großen Ensembles wechselwirkender Einheiten. Wenn es sich um Demographie, Ökonomie oder Soziologie handelt, so erscheint die Möglichkeit, solche Ensembles durch Mittelwerte zu beschreiben, als selbstverständlich. Es gibt sogar einen Soziologen, Quetelet, welcher mit Hilfe der Definition eines "mittleren Menschen" die Idee der Autonomie der Mittelwerte in Bezug auf die Verschiedenheit der Individuen einführt. In der Folge wurden alle makroskopischen Parameter (Druck, Temperatur, chemische Konzentration), welche zur Bestimmung des thennodynamischen Gleichgewichtes ausreichen, vollkommen als Mittelwerte interpretiert. Das thermodynamische System im Gleichgewicht ist somit durch einen grundlegenden Gegensatz zwischen mikroskopischem, per definitionem unkontrollierbaren Verhalten einerseits und dem aus ihm resultierenden mittleren Zustand, welcher durch die Randbedingungen vollständig bestimmt und kontrollierbar ist, andererseits, charakterisiert. Doch die durch den zweiten Hauptsatz gewährte Unempfind-

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lichkeit der Mittelwerte gegenüber Fluktuationen, die die unablässige Bewegung der Systembestandteile widerspiegeln, ist keine allgemeine Wahrheit, sondern nur eine Wahrheit relativ zur Art und zur Intensität der dissipativen Prozesse im System, also relativ zum Abstand von Gleichgewicht. Diese Unempfindlichkeit ist eigentlich ein besonderer, ein "singulärer" Fall. Der Gleichgewichtszustand gilt als singulärer Zustand, in welchem die Korrelationen zwischen verschiedenen Systemteilen gleich Null sind, was bedeutet, daß jede Region unempfindlich gegenüber möglichen Abweichungen vom Mittelwert in einer benachbarten Region ist. Die Instabilitätsschwelle fern vom Gleichgewicht entspricht im Gegensatz dazu einer Situation, in der Korrelationen makroskopischer Art und Intensität auftreten. In diesem Fall kann kein Unterschied mehr zwischen Mittelwerten und Fluktuationen definiert werden. Das System verhält sich als ein "Ganzes", welches empfindlich zum Geschehen in jedem seiner Bereiche ist. Der Begriff der Korrelation selbst macht eine Unterscheidung zwischen Systemen im thermodynamischen, kinetischen oder dynamischen Sinne. Das dynamische System besteht aus wechselwirkenden Körpern, und die Wechselwirkung zwischen zwei Körpern kann unabhängig von ihrer Bewegung bestimmt werden. Die Wechselwirkung gehört folglich zu einem Problem, welches der Physiker lösen muß, wenn er das Verhalten des dynamischen Systems berechnet. Im Gegensatz dazu entstehen oder verschwinden die Korrelationen entsprechend der Intensität der Prozesse, von denen das System beherrscht wird. Die Korrelation gehört nicht zum Reich des zureichenden Grundes. Sie ist Ausdruck, statistisch gesehen, einer Verkettung von Ursachen und Wirkungen und nicht ihrer Äquivalenz. Sie ist die Antwort auf die Frage: Welche Ursache, welches Ereignis mit der Folge einer lokalen Abweichung von den Mittelwerten zieht eine Wirkung nach sich, und welches ist unbedeutend und ohne Folgen? Die An- oder Abwesenheit von Korrelationen kann sich folglich in einer qualitativen Veränderung des Aktivitätsregimes des wechselwirkenden Ensembles (und damit auch in der Art der erforderlichen Beschreibung) ausdrücken. Je nach dem vorliegenden Fall muß "dasselbe" Ensemble, welches von denselben Wechselwirkungen (Zusammenstöße, chemische Reaktionen, Diffusion usw.) beherrscht ist, als "unkoordiniert", zerlegbar in zueinander indifferente Teile, oder im Gegensatz dazu als "Chaos", in welchem nichts indifferent ist, wo jedes Ereignis Bedeutung gewinnt und Konsequenzen zur Folge hat, beschrieben werden. Man findet im Studium der attrahierenden makroskopischen Zustände bei der Verwendung der Sprache der Mittelwerte das Problem der Zweideutigkeit in der Definition eines Systems. Die stationären Zustände, welche dem thermodynamischen Zweig angehören, können vollständig durch ihre Zusammensetzung und die Randbedingungenn beschrieben werden. Als Ausdruck einer deterministischen Entwicklung behalten sie keine Erinnerung an die Vergangenheit des Systems. Eine dissipative Struktur dagegen ist empfänglich für eine wirkliche Geschichte, welche das Zufalls spiel der Fluktuationen und den Determinismus der Mittelwert-Gesetze verbindet. Für die durch die Randbedingungen bestimm-

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ten Werte sind tatsächlich mehrere stabile attrahierende Zustände möglich. Welcher sich davon verwirklicht, hängt von dem Weg ab, den das System tatsächlich wählt. Wenn das System durch die Wechselwirkung mit der Umgebung immer weiter vom Gleichgewicht entfernt wird, so durchschreitet das System Zonen der Instabilität gegenüber bestimmten Fluktuationen (Bifurkationen) und sein Entwicklungsweg kann einen recht ereignisreichen "historischen" Charakter bekommen. In den Bifurkationsbereichen entscheiden die Fluktuationen, in welchem Arbeitsregime sich das System danach befinden wird. Zu den Bestimmungsgrößen eines Nichtgleichgewichtssystems gehört deshalb, neben seiner Zusammensetzung und den Randbedingungen, auch die eigene Vergangenheit. Andererseits muß die Beschreibung der Randbedingungen gegebenenfalls selbst modifiziert werden. Das gesamte System ist beispielsweise dem Gravitationsfeld unterworfen. Der gesamte Stoff- und Energiestrom, der zur Unterhaltung des Systems dient, ist immer etwas fluktuierend. Die Gravitation und das stochastische Rauschen haben im thermodynamischen Zweig keinen Einfluß auf die Lage der stabilen Zustände und können folglich vernachlässigt werden. Hinter der Instabilitätsschwelle jedoch können sie aufhören, vernachlässigbar zu sein. Man kann sagen, daß die Materie fern vom Gleichgewicht gegenüber Einflüssen empfindlich wird, gegenüber welchen sie im Gleichgewicht unempfindlich war. Diese Empfindlichkeit drückt sich nicht durch eine Wirkung aus, die der hervorrufenden Ursache ähnlich ist. Der rauschende, fluktuierende Charakter der Flüsse drückt sich nicht in einem irregulären Verhalten aus, sondern im Anfachen neuer Strukturierungsmöglichkeiten. Die Gravitation äußert sich nicht durch einen Dichtegradienten, sondern durch eine Veränderung der Wege der Bifurkation, die dazu führt, 4aß von zwei Strukturen, die bei Abwesenheit der Gravitation mit gleicher Wahrscheinlichkeit angenommen würden, die eine bevorzugt wird. Mit anderen Worten, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung verliert völlig ihren allgemeinen Charakter. Es ist der dissipative Vorgang selbst, welcher bestimmt, was als Ursache bezeichnet werden wird und was die Wirkungen sein werden. Schließlich hat die Entdeckung "seltsamer" oder "chaotischer" Attraktoren einen anderen Typ von Sensibilität enthüllt, der unmittelbar das Problem der Beziehung von Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit stellt. Die dissipativen Strukturen, welche fern vom Gleichgewicht auftreten, sind durch ein reguläres und stabiles Verhalten außerhalb der Bifurkationsgebiete gekennzeichnet. Ein System, das durch einen chaotischen Attraktor beschrieben wird, besitzt ein zufalls artiges Verhalten selbst dann, wenn die es beschreibenden Gleichungen völlig deterministisch sind. Tatsächlich erzeugen diese Gleichungen einen Attraktor, welcher weder einem Punkt (stationärer Zustand), noch einer geschlossenen Linie (periodisches Verhalten), sondern einem dichten Ensemble (meistens in Verbindung mit einer "fraktalen" Dimension) von Punkten entspricht. Obwohl jeder Punkt eines chaotischen Attraktors das Ende einer möglichen Systementwicklung darstellt, besitzt dieser Endzustand nicht die Stabilitätseigenschaften, welche ge-

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wöhnlich einen attrahierenden Zustand kennzeichnen. Eine kleine Variation der das System beschreibenden Parameter kann ausreichen, um das System in einen völlig anderen Zustand zu überführen. Die Evolution auf den Attraktor zu zeigt sich ganz besonders empfindlich gegenüber jeder Änderung der Anfangsbedingungen. Da die Beschreibung eines makroskopischen Systems auf den fluktuierenden Mittelwerten basiert, bedeutet das, daß ein durch einen chaotischen Attraktor beschriebenes System ohne Ende von Zustand zu Zustand irrt. Die chaotischen Attraktoren versetzen somit dem starren Gegensatz von Deterministischem und Zufälligem den Gnadenstoß. Selbst in dem Falle, wo man behaupten kann, den Mechanismus der Evolution eines Systems völlig verstanden zu haben, ihn sozusagen auf ein System von deterministischen Gleichungen zurückgeführt zu haben, ist es möglich, daß das einzige, was man voraussagen könnte, die Grenzen unserer Voraussagemöglichkeiten wären. Umgekehrt ist es angesichts eines Ensembles von zufällig erscheinenden Meßwerten nunmehr möglich, die Anwesenheit eines chaotischen Attraktors festzustellen und somit die zugrundeliegenden deterministischen Evolutionsgleichungen zu finden. Die zeitgenössischen physikalisch-mathematischen Konzeptionen haben nun endgültig das Diskussionsgebiet von Newton und Leibniz verlassen. Einerseits kommen wir zu der Einsicht, daß Deterministisches und Zufälliges nicht mehr als unvereinbar gegensätzliche Kategorien in Erscheinung treten, sondern in Beziehung zu einer anderen Unterscheidung zu stehen scheinen, welche sie in stabil und instabil einteilt. Es ist die Stabilität eines dynamischen Systems bezüglich unkontrollierbarer Störungen und Fluktuationen, welche die Möglichkeit einer deterministischen Beschreibung in der Sprache der Trajektorien oder der makroskopischen Evolution sichert. Diese Unterscheidung, für welche Leibniz eine praktische Bedeutung bezüglich des Problems der Wabl und der Freiheit aufgezeigt hat, bestimmt nunmehr die Wabl unserer Theoriesprache, deren stark von den Systemen abhängigen Charakter sie unterstreicht. Andererseits hat sich die Frage der Kausalität ebenfalls verändert. Schon die instabilen dynamischen Systeme haben begonnen, den Wirkungscharakter des Prinzips des zureichenden Grundes zu verlieren. Aber das Studium gekoppelter dissipativer Prozesse fern vom Gleichgewicht stellt ein neues Problem dar, welches die zu einfache Verkettung von Ursachen und Wirkungen aufhebt: Welche Zusammenhänge gelten denn als Ursachen? Wie unterteilen sie sich in "wesentliche" und "unwesentliehe"? Weiterhin hört hier der zweite Hauptsatz auf, eine allgemeine Stabilitätsgarantie zu sein, und der Gegensatz zwischen den Einzelereignissen im Schoße eines zahlenmäßig großen Ensembles und den Mittelwerten äußert sich in einer Dialektik zwischen Stabilitätsbereichen, in denen das Einzelereignis unbedeutend ist, und Instabilitätsbereichen, in denen es das gesamte System mit seinen Mittelwerten in ein qualitativ neues Arbeitsregime führen kann. Der Gegensatz zwischen der Unterwerfung des thermodynamischen Systems unter seine Randbedingungenn und dem Begriff einer spontanen Entwicklung

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muß ebenfalls relativiert werden, da es fern vom Gleichgewicht die dissipative Aktivität ist, die ihre eigenen Ursachen und Eigenschaften selbst bestimmt. Damit verbunden ändern sich die Begriffe der Triebkraft und der Kausalität: Die Triebkräfte, d. h. die Austauschprozesse des Systems mit seiner Umgebung erscheinen nicht mehr als Einschränkungen, sondern als notwendige Bedingungen für das Entstehen neuer Verhaltensweisen. Die Kausalität erscheint nicht mehr als allgemeine Beziehung, sondern als Widerspiegelung der Singularität des Systems. Kurz, die Frage ist nicht mehr, welchen Zwängen das System unterliegt, welchen Einflüssen es ausgesetzt ist, sondern auf welche Weise seine Triebkräfte dem System eine deutliche Entwicklung erlauben. Selbst die Art der Einführung eines Weltbildes erscheint daher als ein Problem seiner Entwicklung.

3. Perspektiven Es ist schwer, heute das Ausmaß der Folgen dieser Umwandlung in den Fragen und Voraussagen, die das Studium physikalisch-chemischer Systeme mit sich bringt, anzugeben. Eines ist aber sicher: Die Gegenüberstellung von "menschlicher" und "materieller" Entwicklung hat seit der Begründung der modernen Wissenschaft unsere Kultur gestaltet und Zwiespalte genährt, die unüberbrückbar schienen. Der aktuelle Ausblick besteht nicht so sehr in einer Zurückführung, sondern in einer Neuzusammensetzung der Fragen. Im speziellen haben die Begriffe des Systems und der Neuschöpfung, welche zur Zeit des Streites zwischen Leibniz und Clarke unvereinbar schienen, aufgehört, entgegengesetzt zu sein. Neue Fragen stellen sich in einem neuen Typ der Verbundenheit dar: Auf die gleiche Weise, wie wir nicht apriori und auf allgemeine Weise entscheiden können, was die "richtigen" zu stellenden Fragen sind, was die wesentlichen Kategorien sind, um zu verstehen, welche Möglichkeiten ein System aus gekoppelten Einheiten besitzt, müssen wir uns fragen, welche Beziehungen ein solches System mit seiner Umwelt aufbauen kann. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Eine stark diskutierte Frage der letzten Jahre ist die des Begriffs der Information. Was kennzeichnet eine Information? Im Shannonschen Sinne müßte man folgern, daß die reichhaltige Nachricht eine völlig zufällige Folge von Zeichen ist. Im Gegensatz dazu erzeugt die Redundanz einer Folge ihren verdichtbaren Charakter und folglich einen extrem armen Inhalt. Seit Markov wissen wir, daß jede Zeichenfolge (eine Notenpartitur, Sätze eines Briefes usw.) weder rein zufällig noch wiederholend ist. Die Vielfalt kann nicht durch Verdichtung reduziert werden und besitzt dennoch nicht die Zufälligkeit, die der berühmte maschineschreibende Affe von Borel deutlich machte. Wie soll man innerhalb der physikalisch-chemischen Welt die Genese von so etwas wie einer Botschaft begreifen, die hier nicht als selbstverständlich zu existieren scheint? Möglich, daß das korrelierte Zufallsspiel, welches das Verhalten des Systems mit chaotischen Attraktoren bestimmt und die Beziehungen, die ein

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solches System mit seiner Umwelt aufbauen kann, nicht schon eine Antwort, sondern erst der Beginn eines Weges sind. Wir wissen heute, daß, falls sich ein System chaotischer chemischer Reaktionen seine Umwelt "merken" kann, wenn z. B. immer ein Überschreiten kritischer Grenzwerte den Anbau einer entsprechenden Einheit an ein Makromolekül bewirkt, das Resultat einer Markovschen Kette entsprechen würde, die den Charakter einer nicht verdichtbaren Information mit nicht gerichteter Lesart besitzt. Da ein solches Makromolekül eine singuläre Rolle erlangt und wir dadurch ein wirkliches Modell der "Sinnentstehung" im Rahmen der physikalisch-chemischen Welt besitzen, kann es so vielleicht das rätselhafte Problem vom Ursprung des Lebens erklären. Die Entwicklung, die als Problem mit Sicherheit ebenso alt ist wie das theoretische Denken selbst, ist heute mehr denn je im Zentrum der Problemstellungen der modernen Wissenschaften. Lange Zeit behaupteten die verschiedenen wissenschaftlichen Theorien, sie auf etwas anderes als auf sie selbst zurückführen zu können. Nunmehr kann man keine Verallgemeinerungen mehr darüber machen. Möglicherweise ist das eindrucksvollste Beispiel für diese neue Situation die Veränderung der Theorien, die nach Einstein das Universum selbst zum Gegenstand haben. Gibt es ein besseres Sinnbild für eine die Entwicklung verneinende Physik, als das statistische vierdimensionale Universum, welches Einstein erdacht hat? Seit der Entdeckung der Hintergrundstrahlung 1965 wurde die Kosmologie zur Kosmogenese, zur Geschichte der Genese dessen, was sich heute als Bedingung der Entwicklung darstellt, an welcher wir teilhaben. Nunmehr können selbst die Elementarteilchen als Nichtgleichgewichtsobjekte erscheinen, als komplexe und instabile Strukturen, welche zur gleichen Zeit wie die Photonen vom Urknall an, der den irreversiblen Ursprung unserer Welt kennzeichnet, entstanden sind. Auch hier finden wir wieder die fundamentale Dualität Schöpfung / Zerstörung, die gleichzeitige Entstehung der komplexen Ordnung der Teilchen und der inerten Photonenstrahlung, welche ohne Zweifel der dafür zu zahlende Preis ist. Die eingangs genannte Umwandlung ist nur ihr Anfang. Wir haben gesehen, wie das "phänomenologische" Problem der Irreversibilität, dank der dynamischen Instabilität, selbst zum Überdenken von Kategorien der klassischen Dynamik geführt hat. Ohne Zweifel wird sich diese Bewegung in naher Zukunft auf die beiden Bereiche ausdehnen, welche ebenfalls auf dem Ideal einfacher Systeme mit reversiblem Verhalten beruhen, auf die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie. Vielleicht trägt dies auch dazu bei, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Erkenntnisformen zu verändern, um zusammenzufügen, was häufig gegensätzlich scheint, das, was wir glauben zu wissen, und das, was wir (er)leben.

2 Selbstorganisation. Bd. I

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Weiterführende Literatur Bhaskar, R.: ARealist Theory of Sciene, Leeds 1975. -

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Cartwright, N.: How the Laws of Physics Lie, Oxford 1983. Deleuze, G.: Difference et repetition, Paris 1972. Diderot, D.: Pensees sur !'interpretation de la nature, in: Le reve de I'Alembertet autres ecrits philosophiques, Paris 1984. Dumouchel, P.I J. P. Dupuy (Hrsg.): L'auto-organization. De la physique au politique, Paris 1983.

Ekeland, 1.: Le calcul, l'imprevu, Paris 1984. Gould, S. J.: Ontogeny and Phylogeny, Cambridge (Mass.) 1977. McMullin, E.: Newton on Matter and Activity, Notre Dame (Indiana) 1978. Perrin, J.: Les Atomes, Paris 1970. Prigogine, 1.: Physique, temps et devenier, Paris 1982. Prigogine, 1/ Stengers, 1.: La nouvelle alliance, Paris 1986. Popper, K.: La quete inachevee, Paris 1981. Scott, W. S.: The Conflict between Atomism and Conservation Theory, 1644 - 1860, Londres 1970. Simondon, G.: L'individu et sa genese physico-biologique, Paris 1964. Whitehead, A. N.: Process and Reality, New York 1979.

Über das Verhältnis der Synergetik zur Thermodynamik, Kybernetik und Informationstheorie' Von Hermann Haken, Stuttgart Die Synergetik, die ich 1969 begründete, ist ein interdisziplinäres. Forschungsgebiet. In den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft befassen wir uns mit Objekten, die selbst wieder aus vielen einzelnen Teilen bestehen. In der Physik z. B. besteht ein Kristall oder eine Flüssigkeit aus vielen Molekülen, in der Biologie besteht ein Lebewesen aus vielen Zellen oder in der Technik besteht ein Motor aus vielen Einzelteilen. Das gleiche gilt auch für die Sozialwissenschaften, wo wir es mit dem Zusammenwirken vieler einzelner Menschen zu tun haben. Besonders in der Biologie beobachten wir nun, wie durch das Zusammenwirken vieler einzelner Teile, etwa vieler Zellen, auf makroskopischer Ebene qualitativ neue Phänomene entstehen, etwa die Fortbewegung, die Atmung usw. Es handelt sich hier also um das Phänomen der Selbstorganisation, wo olme direkte Einwirkung von außen her ein System spezielle räumliche, zeitliche oder funktionale Strukturen hervorbringen kann. Die Synergetik hat sich nun zur Aufgabe gesetzt, allgemeine Prinzipien aufzusuchen, die solchen Selbstorganisationsvorgängen zugrundeliegen, unabhängig von der Natur der Teilsysteme. Durch das Zusammenwirken können also spontan geordnete Strukturen oder geordnete Funktionsabläufe entstehen. Gerade diese spontane Entstehung von Ordnung hat den Physikern seit langer Zeit viel Kopfzerbrechen bereitet, weil dies fundamentalen Gesetzen der Physik, die im sogenannten 2. Hauptsatz der Wärmelehre verankert sind, widerspricht. Nach dem 2. Hauptsatz sollte nämlich in einem abgeschlossenen System, etwa einem Gas in einem Behälter, die Unordnung immer zunehmen, bis sie einen maximalen Wert erreicht, der durch die sogenannte maximale Entropie gekennzeichnet ist. Die Möglichkeit der spontanen Entstehung biologischer Systeme, die ja eine hohe Ordnung aufweisen, mußte vom Standpunkt dieser thermodynamischen Betrachtung ein Rätsel bleiben. Bei der Auffindung allgemeiner Prinzipien. die die Bildung geordneter Strukturen ermöglichen und dennoch nicht im Widerspruch zur Thermodynamik sind, • Mit freundlicher Zustimmung des Autors erscheint dieser Text als ein redigierter Nachdruck aus: Uwe Niedersen (Hrsg.), Komplexität - Zeit - Methode (n), Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wiuenberg 1988/4 (A 102), Halle (Saale) 1988, S. 143 - 166. 2"

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Hennann Haken

kam uns ein glücklicher Umstand zu Hilfe. In der Lichtquelle "Laser" fanden wir ein physikalisches System, das in der Lage ist, sich selbst zu organisieren und dabei einen hochgeordneten Zustand einzunehmen, der es dann gestattet, das sogenannte kohärente Licht zu produzieren. Der Laser ist aber ein offenes System, d. h. eines, in das ständig Energie hineingepumpt wird und aus dem ständig Energie herausfließt. Damit löste sich in ganz natürlicher Weise der Widerspruch, der zwischen biologischen Systemen und der Thermodynamik zu bestehen schien, und zwar einfach dadurch, daß der 2. Hauptsatz in dem oben genannten Sinne auf ein offenes System gar nicht angewendet werden darf. An seine Stelle treten neuartige Prinzipien, die auf verschiedenen Ebenen der Betrachtungsweise formuliert werden können. Beginnt man mit einer mikroskopischen Theorie, die von der Bewegung oder dem Verhalten der einzelnen Teilsysteme ausgeht, so ist natürlich zu erklären, wie diese ihr kollektives, geordnetes Verhalten finden. Allgemein kommt es dabei zu folgenden Vorgängen. Ändert man z. B. den Energiefluß in einem physikalischen System oder ändert andere Parameter, so kann der bisherige ungeordnete Zustand instabil werden. Jenseits dieses Zustandes kommt es zur Ausbildung von einem oder mehreren sogenannten Ordnungsparametern, die die Ordnung des Systems einerseits beschreiben, andererseits aber wieder den einzelnen Teilen des Systems Befehle erteilen, wie sie sich zu verhalten haben, um den Ordnungszustand aufrechtzuerhalten. Es kommt hier zu einer Art von zirkularer Kausalität. Einerseits werden die Ordnungsparameter durch die einzelnen Teile des Systems erst geschaffen, andererseits bestimmen sie aber dann das Verhalten der einzelnen Teile. Die Ordnungsparameter können materieller oder ideeller Natur sein. Z. B. wird man eine kohärente Lichtwelle, die als Ordnungsparameter auftritt, als einen materiellen Gegenstand betrachten können. Zum anderen kann eine wissenschaftliche Idee, die ja durch die Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler entsteht, aber andererseits auch deren Arbeiten wieder beeinflußt, als ein Ordnungsparameter betrachtet werden. Beim Auftreten geordneter Zustände aus ungeordneten heraus kommt es zu einem Umschlag von Quantität in Qualität. Der geordnete Zustand besitzt Systemqualitäten, die vorher bei den einzelnen Systemen nicht vorhanden waren. Zum Verhältnis zwischen der Synergetik und der Thermodynamik läßt sich also sagen, daß hier kein Widerspruch besteht, daß aber die Thermodynamik durch neue Prinzipien ergänzt werden muß, um dem Auftreten geordneter Strukturen gerecht zu werden. Die Frage blieb, was an die Stelle der Entropie tritt. Gibt es auch für offene Systeme einen adäquaten Entropiebegriff? Es ist lange in der Thermodynamik versucht worden, ihren Entropiebegriff auf offene Systeme auszudehnen. Hierbei traten allerdings charakteristische Schwierigkeiten auf, so daß einige Forscher versuchten, an die Stelle der Entropie Kriterien über Entropieproduktion und ähnliches zu stellen.

Die Synergetik - ein interdisziplinäres Forschungsgebiet

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Wie wir am konkreten Beispiel des Lasers und später auch allgemeiner zeigen konnten, muß aber die Entropie im thermodynamischen Sinne durch ein neues Konzept ersetzt werden. Wie dieses ganz allgemein auszusehen hat, ist zur Zeit noch unbekannt, aber immerhin konnten wir eine große Klasse von Selbstorganisationsvorgängen finden, bei denen die Information im Shannonschen Sinne an die Stelle der Entropie tritt. Auch hier wieder ist, wie in der Thermodynamik, ein Extremalprinzip am Werke. Während man in der Thermodynamik aber den Wert der Entropie maximal machen muß unter der Nebenbedingung, daß die Energie des Systems konstant ist, müssen wir bei offenen Systemen die Information maximal machen unter ganz anderen Nebenbedingungen, nämlich z. B. beim Laser unter der Nebenbedingung, daß die Intensität des Laserlichts und seine Schwankungen im Mittel bekannt sind. Interessanterweise zeigt es sich dabei, daß sich die Information im Shannonschen Sinne, die wir über ein offenes System, das sich selbst organisiert, besitzen, in zwei Anteile aufspalten läßt. Der eine Anteil stellt die in den Ordnungsparamatern niedergelegte Information dar, während der zweite Anteil sich auf die Information der vom Ordnungsparameter versklavten Untersysteme bezieht. Tritt Selbstorganisation ein, so ändert sich der Anteil der Ordnungsparameterinformation in drastischer Weise, während die Information der versklavten Systeme sich kontinuierlich ändert. Das interessante Verhalten des Systems, das sich in seiner Informationsänderung widerspiegelt, ist also durch die Ordnungsparameter allein gekennzeichnet. Nur das geordnete kollektive Verhalten des System wird nach außen hin wirksam. Aus der Information der Ordnungsparameter läßt sich dann ablesen, wie viele verschiedene makroskopische Zustände das System annehmen kann. Dies ist natürlich von Bedeutung für technische und biologische Systeme, die Information speichern oder verarbeiten sollen. Betrachten wir schließlich noch das Verhältnis zwischen der Synergetik und der Kybernetik. Wie schon der aus dem Griechischen genommene Name "Kybernetik" (Steuermannskunst) besagt, ist die Kybernetik mit der Theorie der Steuerung befaßt, wobei insbesondere Norbert Wiener auf enge Analogien zwischen maschinellen und biologischen Systemen bei Steuerungsvorgängen hinweist. Wie wir z. B. bei Andockmanövern von Satelliten sehen, hat diese Steuerungskunst einen enorm hohen Grad erreicht. Um aber die Grundaufgabe der Kybernetik ins Gedächtnis zu rufen, verweisen wir auf das oft gebrachte, fast schon triviale Beispiel der Regulierung der Zimmertemperatur. Hier wird ein Wert, der sogenannte Sollwert, vorgeschrieben. Die Heizung des Raumes muß nun so erfolgen, daß der Sollwert wirklich erreicht wird. Dazu sind einerseits Meßfühler angebracht, die den tatsächlichen Wert, den sogenannen Istwert, an einen zentralen Prozessor senden, der dann aus der Differenz zwischen Ist- und Sollwert berechnet, wie stark etwa ein Ventil der Heizung zu öffnen bzw. zu schlieBen ist, damit der Sollwert erreicht wird. Dieses System sorgt natürlich insbesondere dafür, daß der Sollwert unter wechselnden Umgebungsbedingungen beibehalten werden kann, etwa wenn es draußen wärmer oder kälter wird.

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Hermann Haken

Die AufgabensteIlung der Synergetik ist hingegen eine völlig andere. Auch hier sind Systeme, etwa der Laser, verschiedenen Umweltbedingungen ausgesetzt, z. B. indem die Pumpstärke der Energie in den Laser hinein von außen her geändert wird. Nun ist aber kein Kontrollsystem aufgebaut, das dafür sorgen soll, daß der Zustand des Lasers auch unter den geänderten Bedingungen beibehalten wird. Ganz im Gegenteil untersucht man in der Synergetik, wie sich nun der Laser in selbstorganisierter Weise auf die neuen Umgebungsbedingungen einstellt und insbesondere dabei einen neuen hochgeordneten Zustand einnehmen kann. Der Unterschied zwischen der Kybernetik und der Synergetik kann also durch die Schlagworte "Organisation" bzw. "Selbstorganisation" gekennzeichnet werden. Wenn man tiefere Einblicke in die Prinzipien und Mechanismen der Selbstorganisation gewinnt, kann man diese natürlich in einem nächsten Schritt auch wieder zur Organisation verwenden. Wie so etwas erfolgen kann, können wir uns am Laserbeispiel deutlich machen. Hier erreichen wir durch eine einfache Erhöhung der Pumpstärke den automatischen Übergang des Lasers vom ungeordneten in den geordneten Zustand. Ähnliche Verfahrensweisen, wenngleich auch viel komplizierter, konnte man auch bei anderen viel komplexeren Systemen anwenden und es bestehen Hinweise, daß biologische Systeme oft von diesem Verfahren Gebrauch machen. So gibt es z. B. Versuche an Katzen, wo eine einfache Änderung einer Stimulierung genügte, damit diese etwa vom Gehen in den Trott verfallen. Mit diesen kurzen Bemerkungen konnte ich natürlich nur ganz wenig über die Beziehungen zwischen der Synergetik und den anderen Wissenszweigen, wie Thermodynamik, Kybernetik und Informationstheorie sagen. Aus dem Gesagten mag aber erhellen, daß wir es in der Synergetik mit einer eigenständigen Wissenschaft zu tun haben, die neuartige Paradigmen eingeführt hat. Die Grundideen und mathematischen Methoden der Synergetik haben inzwischen Eingang in viele Spezialgebiete der Wissenschaft gefunden, von denen hier nur einige genannt seien: in der Physik, Laser, Flüssigkeitsdynamik, Plasmen, in der Chemie, Bildung makroskopischer Strukturen, die auch Oszillationen ausführen können, in der Biologie, detaillierte Modelle über Änderungen von Verhaltensmustern bei Handbewegungen oder bei der Fortbewegung, die Ausbildung von Organen und dergleichen. Anwendungen dieser Prinzipien reichen hin bis zu der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften. Interessanterweise ist die Synergetik auf sich selbst im Sinne einer Epistemologie anwendbar. Die Synergetik behandelt ja das Auftreten neuer geordneter Strukturen. Die Synergetik selbst, als Wissenschaft betrachtet, ist eine solche neue geordnete Struktur, die durch ihre ausgeprägten Kohärenzeigenschaften gekennzeichnet ist. Kohärenz, gemeint im Sinne weitgehender Korrelationen oder Koordinationen. Hier erkennen wir eben Koordinationen oder Korrelationen plötzlich zwischen ganz verschiedenen Wissensgebieten, wenn wir die Systeme untersuchen, bei denen Selbstorganisationsvorgänge auftreten. In diesem Sinne

Die Synergetik - ein interdisziplinäres Forschungsgebiet

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stellt auch die Synergetik eine gemeinsame Sprache und Begriffswelt zur Verfügung, die in der Tat interdisziplinär ist. Natürlich konnte ich mit meinen Bemerkungen das Gebiet der Synergetik nur ganz kurz umreißen. Der Leser, der sich für mehr Details interessiert, sei etwa auf die unten zitierten Bücher oder auf die "Springer Series in Synergetics", in der bisher über 30 Bände erschienen sind, verwiesen. Ich hoffe aber, daß ich dem Leser einige Denkanstöße geben konnte, sich näher mit den von der Synergetik aufgeworfenen epistemologischen oder philosophischen Fragen zu befassen.

Weiterführende Literatur Haken, Hermann: Synergetik, Eine Einführung, Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo

1983.

Haken, Hermann: Erfolgsgeheirnnisse der Natur, Stuttgart 1986.

Komplexität, Singularität und Determination Die Koordination der Heterogenität Von Uwe Niedersen, Halle (Saale), und Ludwig Pohlmann, Berlin

1. Einführung in die Problemlage Francis Bacon (1561 - 1626) hat in seinem Novum Organon die Triebkraftwirkung der Naturwissenschaft und Technik sowie ihrer Experimentalmethodik für den Fortschritt der Gesellschaft nachdrücklich herausgearbeitet. Das vor allem im 19. Jahrhundert uneingeschränkte Vertrauen gegenüber der Naturwissenschaft, alle die im gesamtgesellschaftlichen Kontext auftretenden Schwierigkeiten prinzipiell überwinden zu können, ist in der heutigen Zeit eher verhaltenem Enthusiasmus gewichen. Die Öffentlichkeit begleitet kritisch den gesellschaftlichen Umgang mit der mathematisierten Naturwissenschaft und der Technikanwendung. Die Menschheit steht einer bisher noch nie so empfundenen Komplexität gegenüber, die offenbar mit der traditionellen Geisteskultur und dem sich eingebürgerten Praxisverständnis nicht ohne weiteres bearbeitet werden kann. Ohne die Vielfalt in dem damit berührten Fragen- und Aufgabenvolumen auch nur annähernd anzusprechen, wollen wir die Problematik auf einige wesentliche Momente des Zusammenhangs "Erkennen und Komplexität" konzentrieren. Der Einstieg für unsere inhaltlichen Ausführungen ergibt sich aus einigen Überlegungen dreier Naturalisten des 19. Jahrhunderts. Hertz (1857 - 1894) leitet die "Prinzipien der Mechanik" mit folgenden Worten ein: "Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können." I

Der heute erreichte Technisierungsgrad reflektiert außer dieser Voraussichtsforderung auch das Problem der Sicherheit der Erkenntnis, vor allem bei der Technikanwendung. Die wissenschaftliche Voraussage mit optimaler Sicherheit ist eine grundsätzliche Forderung der Gesellschaft an das verantwortungsbewußte Wirken der Naturalisten. Eine große Sicherheit bei der Voraussicht zu erlangen bedeutet, dem quantitativen Anteil der Bestimmungen besondere Beachtung zu widmen. Wissensinhalte mit quantitativer Bestimmung setzen funktionelle AbI Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1894, S. 1 ff.; mit einem Vorwort von Hermann von HeImholtz. Gesammelte Werke von Heinrich Hertz, Bd. III.

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hängigkeiten voraus, d. h. die Verwendung von Zahl und Größe. Funktionelles Erkennen verlangt die Kommensurabilität der aufzunehmenden Variablen. Seine Verwirklichung geschieht ausschließlich in einem homogenen, eigens dafür hergerichteten Bereich. Die Schwierigkeiten, einem solchen naturwissenschaftlichen Kredo nachzugehen, Komplexität aber dennoch hinreichend bearbeitet zu haben und damit einer allgemein-gesellschaftlich anerkannten Ethik genügen zu können, zeigen sich für Ostwald (1853 - 1932) in der permanenten Spannung zwischen wissenschaftlich Homogenem und natürlichem Heterogenen. "Die allgemeinen Gesetze über das Geschehen sind bisher nur für solche Gebilde klar bekannt, welche im Sinne der Mechanik als zwangsläufig bezeichnet werden können, d. h. der Zustand durch eine einzige willkürliche Veränderliche vollständig bestimmt ist. Sind mehrere unabhängige Veränderliche vorhanden oder gar unbestimmt viele, wie bei jeder wirklichen Naturerscheinung, so tritt ein neues Problem auf, das Koordinationsproblem, dessen Bearbeitung noch ganz der Zukunft angehört." 2 Das von Ostwald in das Zentrum seiner Betrachtung gerückte Koordinationsproblem hat im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb eine grundlegende Bedeutung und eine einfache Kennzeichnung: Es ist nicht gelöst. So ist zum Beispiel schnell einsichtig, daß die Dynamik der Wissenschaften zumindestens durch den aktuellen Stand inhaltlich-rationaler Aussagen der jeweiligen WissenschaftsdiszipliIi, durch die Psyche des Forschers, seiner besonderen subjektiven Art zu arbeiten sowie das soziale Umfeld der Wissenschaften bestimmt wird. Innerhalb der relativ eigenständig determinierend wirkenden Einzelbereiche lassen sich die Abhängigkeiten plausibel vorführen. Die Voraussicht einer zukünftigen Wissenschaftsdynamik bereitet jedoch besagte Schwierigkeiten, weil die Koordination der untereinander nicht kompatiblen drei Einflußbereiche wissenschaftlich nicht beherrscht wird. Neben der hier im Beispiel vorliegenden Spannung zwischen internen und externen Einflußfaktoren auf den Fortgang einer Wissenschaft lassen sich hinsichtlich des angesprochenen Koordinationsproblems beliebig viel andere Heterobereiche aufzählen: Kontemplation und Prognose, Reduktionismus und Holismus, Effektivität und Humanität, mehr harte und mehr weiche Wissenschaft usw. 3 2 Wilhelm Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. 1895, in: Abhandlungen und Vorträge, Leipzig 1904. Bei dem Zitat handelt es sich um die Anmerkung (52), ebd., S. 465. Um Ostwalds Gedanken zu komplettieren, sei das vollständige Zitat wiedergegeben: "Unsere allgemeinen Anschauungen über Maschinen und mechanische Gebilde im allgemeinen setzen meist das Vorhandensein der Zwangsläufigkeit stillschweigend voraus, und aus der Unaufmerksamkeit auf diese Voraussetzung sind die unendlichen Streitigkeiten über die Willensfreiheit und ähnliche Fragen entstanden. Ebenso rühren die Beunruhigungen der Biologen über die ,,Maschinentheorie" der Lebewesen hauptsächlich daher, daß sie unter einer Maschine ein zwangsläufiges Gebilde mit einer einzigen Unabhängigen verstehen. Um dieser Unzulänglichkeit abzuhelfen, werden dann neue Begriffe, wie "Dominanten" und ähnliche aufgestellt.

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Die Tatsache der sich relativ fremd gegenüberstehenden Dualismen wird besonders deutlich offenbar, wenn zur Überwindung der "heterogenen Nachbarschaft" oder besser, der daraus resultierenden allgemeinen Probleme, empfohlen wird, durch eine Expansion aus dem Ressourcenbereich eines Gebiets heraus die Schwierigkeiten mit der Heterogenität insgesamt zu kompensieren. Die Erfahrungen besagen, daß unter dem Vorzeichen des linearen Wachstums aus einem homogenen Bereich resultierend oder um der wissenschaftlichen Voraussicht zu genügen, vom Bekannten zum Bekannten mittels Zahlen und Größen eilen zu wollen, keine durchgängigen Erfolgsaussichten für die Bearbeitung des Koordinationsproblems beschieden sind. Auch die einfache Umkehrung, das alternative Denken und Tun, das Anmahnen und Maßhalten sowie das Verweigern haben letztlich unter dem entgegengesetzen Vorzeichen nur ein lineares Abbremsen, Verzögern und Zerstören entgegenzusetzen. Wir müssen nüchtern konstatieren:

Es ist kein ReJerenzrahmenJür die Bearbeitung der Koordination heterogener EinflußJelder in Sicht. Das Koordinationsproblem zu lösen bedeutet, dem konkreten Prozeß in seiner Strukturierung Aufmerksamkeit zu widmen. Die inner-zeitliche Strukturierung des Geschehens ist jedoch entscheidend davon abhängig, ob eine enthemmte Potentialsituation existiert oder ob sich bereits ein Gleichgewicht herausgebildet hat. Im ersten Fall ist die Voraussicht wiederum kompliziert, weil Auslösungen und Verstärkungen mit Nichtlinearitäten einhergehen und die Herausbildung neuartiger Qualitäten zur Folge haben können. Auf diesen Umstand verweist J. R. Mayer (1814 - 1878). Er hat in den letzten Jahren seines Lebens, um 1875, Überlegungen zu nichtlinearen Prozessen, im besonderen zu Auslösungen getroffen. Über die Situation einer Potentialanhäufung und deren Auslösung durch ein konkretes Objekt / Subjekt führt Mayer aus, daß "die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Größe zu nennen ist . . . Die zahllosen Auslösungsprozesse haben nun das entscheidende Merkmal gemein, daß bei denselben nicht mehr nach Einheiten zu zählen ist, weithin die Auslösung überhaupt kein Gegenstand mehr für Mathematik ist. Das Gebiet der Mathematik hat, wie jedes andere Reich auch, seine natürlichen Grenzen, und unser jetziges Gebiet liegt eben außerhalb dieser Grenze. Die unendliche Menge von

3 Vgl. die Übersichtsrabeit von Reinhard Mocek, Neugier und Nutzen: Blicke in die Wissenschaftsgeschichte, Berlin 1988. In den Mitteilungen der Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung 2 (1990), S.4, ist vermerkt: "Der - etwa noch bei Popper oder Lakatos - ausgeprägte normative Anspruch ist immer mehr in den Hintergrund getreten. Stattdessen verlagerte sich der Schwerpunkt des Interesses hin zu einer deskriptiv ausgerichteten, an konkreten Objekttheorien orientierten Untersuchung der logischen Struktur und funktionsweise empirischer Theorien." Uns scheint, daß über deskriptive Untersuchungen ein Zugang zu Fragen der Koordination nichtkompatibler Einflußbereiche und deren theoretische Verallgemeinerung gefunden werden kann.

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Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann Auslösungsvorgängen entzieht sich jeder Berechnung, denn Qualitäten lassen sich nicht, wie Quantitäten, numerisch bestimmen."4

Der Lösung des Koordinationsproblems stehen unter der Bedingung, das Kredo der Wissenschaften in der quantitativen Sicherheit der Voraussicht zu sehen, zwei prinzipielle Barrieren entgegen: Erstens die innerhalb des Definitionsrahmens "Wissenschaft" nicht bearbeitbaren kausalen Einflüsse zwischen relativ strukturunverträglichen (heterogenen, nichtkompatiblen, inkommensurablen ... ) Zusammenhängen und zweitens der quantitativ nicht voraussehbaren innovativen Wirkung des konkreten Einzelnen bei Potentialauslösungen auf die sich neu herausbildende Qualität des betrachteten Zusammenhangs. Unsere Strategie zur Bearbeitung des Koordinationsproblems zielt darauf ab, die Auslösung durch das konkrete Einzelne mit dem wechselwirkenden Einfluß der relativ strukturunverträglichen Bereiche zu verbinden. Eine Auslösung kann ja bekanntermaßen nur erfolgen, wenn das veranlassende Einzelne sich innerhalb der überhaupt vorhandenen Vielzahl der Objekte oder Subjekte anders zeigt. Wenn es heterogen ist. Unser weiteres Vorgehen hat sich darauf zu konzentrieren, möglichst wissenschaftlich zu formulieren, wie sich die Auslösung durch die Heterogenität konkret vollzieht und welche Schlüsse sich für die letztlich gesellschaftliche Gestaltung dieser Prozesse ziehen lassen. Die Beschäftigung mit der Koordination von Heterogenem bedeutet, einen Beitrag zur Bearbeitung der Komplexität einzubringen. "Komplexität" wird in den einschlägigen Sammelwerken und Lexika nicht definiert. Das liegt wohl an dem Umstand, daß es sich hierbei um etwas handelt, das anders ist, als die Zusammenhänge, die für die Voraussicht mit quantitativer Sicherheit homogenisiert wurden. Ein System ist komplex bzw. es besitzt die Eigenschaft Komplexität, wenn es eine heterogene Vielzahl der untereinander im allgemeinen hierarchisch koordinierenden Zusammenhänge aufweist (Komponente des Seins) und zugleich solche Potentialsituationen existieren, daß bei Auslösungen durch das konkrete Einzelne mitunter spontan Innovationen auftreten (Komponente des Werdens).5 Diese beschriebene Problemsicht wollen wir in den weiteren Ausführungen realisieren. Es erscheint uns günstig, bevor wir unseren konzeptionellen Ansatz selbst vorstellen, historische Wurzeln und aktuelle Wissenschaftszweige, die den von uns vertretenen Auffassungen nahe stehen, in einigen kennzeichnenden Passagen vorzutragen. Betont werden muß, daß hierbei keineswegs die inhaltliche Vollständigkeit bei der Darstellung des wissenschaftlichen Gedankenguts angestrebt wird. Vielmehr gilt es, die zu nennenden Konzeptionen hinsichtlich ihrer Relevanz zum Koordinationsproblem aufzuzeigen. 4 Julius Robert Mayer, Über Auslösung, in: Wilhelm Ostwald über J. R. Mayer (Hrsg.: Alwin Mittasch), Weinheim 1953. 5 Bei einer Weiterentwicklung des Inhalts des Komplexitätsbegriffs muß die Selbstreferentialität, d. h. das operational geschlossene Tun des Subjekts, einbezogen werden.

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2. Historische und aktuelle Bezüge zum Koordinationsproblem Der Chemiker Mittasch (1869 - 1953) sieht die Katalyse als eine Unterart der Kausalität an. Er nimmt eine relative Trennung zwischen der Auslösekausalität (auch bezeichnet als Anstoß-, Anregungs-, Veranlassungs-, Ungleichheitskausalität) und der Erhaltungskausalität (auch Gleichbleibungskausalität) vor. Erhaltungskausalität steht als Begriff für die quantitative Ursache-Wirkung-Relation. Auslösekausalität sei auch ein Moment der Erhaltung sowie der Entropiezunahme, d. h. der allgemeinen Richtungsgebung jeglichen Geschehens, doch ermögliche und bezeichne sie vor allem den Aspekt der relativen Unbestimmtheit und der relativen Freiheit in einer Potential- bzw. Nichtlinearitätssituation bezüglich der inneren, innovativen Zeit, der Hervorrufung und der Lenkung sich realisierender Prozeßbahnen. 6 Zur näheren Beschreibung der Prozeßstruktur der Auslösekausalität wird von ihm die Katalyse in Analogie zum veranlassenden Willen gesetzt und die Autokatalyse mit der eigendynamischen, operationalen Geschlossenheit eines lebenden Systems in Verbindung gebracht. 7 Mittasch entwickelt eine Rangordnung der Kausalität in folgender hierarchischer Reihung: physikalische, chemische Kausalität; physiologisch-biologische Reizkausalität und Ganzheitskausalität; psychophysische und seelisch-geistige Kausalität mit der Motivation als Oberform und eine universelle Naturkausalität mit Plan und Ziel, in welcher die vorherigen Einzelkausalismen aufgehen. 8 In diesem Zusammenhang ist eine Feststellung von Interesse, daß relativ strukturunverträgliche Momente untereinander - z. B. gehört der Wille einem anderen Strukturfeld an als eine entsprechende physiologische Reizwirkung und diese ist wiederum strukturell anders als der mikroskopisch ablaufende Chemismus nur dann verändernden Einfluß erzeugen, wenn für .das Gesamtsystem Potentialsituationen, also Möglichkeiten der Auslösekausalität, gegeben sind. 9 Diese Erkenntnis ist generalisierbar: Nur in der ausgelösten Potentialsituation ist eine Wirkung zwischen relativ strukturunverträglichen Systemen konstatierbar. Der Vorgang der Hierarchisierung muß dabei vorausgesetzt werden. In der Situation des Gleichgewichts gibt es keine Wirkungen zwischen nichtkompatiblen Bereichen. Bei der Auslösung durch das konkrete Einzelne geht Mittasch davon aus, daß der Anstoß stets auch eine gewisse "Mitteilung" IO in sich schließt, doch bleibe 6 Alwin Mittasch besitzt auf dem Gebiet der Auslösungen einen reichen Erfahrungsschatz, den er sich bei der theoretischen und praktischen Durchdringung der Katalyse erworben hat. Er knüpft an Vorstellungen einiger Naturforscher und Philosophen an: J. R. Mayer, W. Ostwald, H. Driesch ... sowie Leibniz, Kant, Schopenhauer, Nietzsche u. a. Vgl. auch ders., Julius Robert Mayers Kausalbegriff, Berlin 1940, S. 144. 7 Ders., Katalyse und Determinismus, Berlin 1938, S. 62. 8 Ebd., S. 1. 9 Ebd., S. 44 ff.

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"immer noch das Zusammenstimmen von Ursächlichkeit und Zielstrebigkeit in der ,Individuation" mit ihren unerschöpflichen Formen unseren Blicken verborgen." 11 Das Zusammenstimmen von Ursächlichkeit und Zielstrebigkeit, gemäß der Sprechweise Mittaschs, ist lediglich eine andere Bezeichnung für das, was wir das Koordinationsproblem nennen. Der Physikochemiker Sachsse (geb. 1906) definiert neben der Gesetzlichkeit einer allgemeinen auch eine individuelle Kausalität als "Form der Notwendigkeit, die sich keinen erkennbaren Regeln (keinen funktionellen Abhängigkeiten U.N. / L.P.) fügt." 12 Das Erkennen müsse deshalb nicht nur rational sein, sondern durchaus eine intuitive Seite besitzen.Das, was individuelle Kausaliät kreativ und innovativ vermag, wird von Sachsse nicht ausdrücklich bearbeitet. Allerdings spricht er der Erstursache, von ihm auch "Ur-Sache" genannt, die Fähigkeit der Erneuerung zu. Als Erneuerer erlebe "der Mensch sich selbst in seinem Handeln als den Anfang einer Kausalreihe, als eine echte erste Ursache."13 Der Mensch sei im täglichen Leben an der Wirklichkeit des konkreten Einzelnen interessiert. Er müsse abschätzen, was ihn im jeweiligen Einzelfall erwartet. Dafür stehe ihm oft nur eine Teilinformation zur Verfügung. Eine vom Menschen registrierte Geringfügigkeit ist es bisweilen, die bei ihm eine bestimmte Erwartungshaltung ausbildet und ihn letztlich den Schluß von der aufgenommenen Einzelinformation auf einen größeren Zusammenhang vollziehen läßt. Diese Erkennensweise sei nicht rational im Sinne einer traditionellen wissenschaftlichen Methode. Sie stehe aber jedem Menschen bei individueller Ausprägung zur Verfügung. Er schlage vor, dafür den Begriff "intuitive Erkenntnis" zu verwenden, um dieses Moment vom "rationalen Erkennen" abzuheben. 14 Sachsse gelangt zu dem Schluß, daß die beiden Erkennensparadigmen durch keine "logische Brücke" miteinander verbunden seien. Beide sind aber zugleich vorhanden und koordinieren als Heterobereiche miteinander. Die Erfasssung der Koordination relativ strukturunverträglicher Gebiete bleibt wiederum als ungelöstes Grundproblem bestehen. Der Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit muß auf der Erforschung der Auslösewirkung, der "Mitteilung" des konkreten Einzelnen liegen. Das haben die Inhalte der Gedanken Mittaschs und Sachsses nur noch einmal bestätigt. Es gilt neben der Voraussicht mit quantitativer Sicherheit auch die qualitative Seite des Erkennens, des Festmachens von Determinationen in Form von komparativen und auch nominativen Aussagen zu genügen. Dieses Terrain muß gründlich bearbeitet werden, ohne dabei die Quantitäten außer acht zu lassen. Die bisherigen Feststellungen bestätigen sich auch, um das gleich vorweg zu nehmen, wenn wir 10 11

12

S.5. 13 14

Ebd., S. 150. Ebd., S. 141. Hans Sachsse, Kausalität, Gesetzlichkeit, Wahrscheinlichkeit, Darmstadt 1979,

Ebd., S. 19, S. 54 ff. Ebd., S. 153.

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in gebotener Kürze Inhalte und Vermögen einiger Wissenschaftszweige betrachten, die sich mit den Prozessen der Selbstorganisation beschäftigen. Das Wesensmoment der Prozeßstruktur der Komplexität ist die Selbstorganisation. Selbstorganisation ist eine spontane Strukturierung (bzw. Umstrukturierung) vorher ungeordneter (bzw. anders geordneter) Systeme ohne eine prinzipielle äußere Formaufprägung. Wesentliche Bedingungen und zugleich Charakteristika für die Selbstorganisation sind die Offenheit des Systems und die Nichtlinearität der Kräfte und Flüsse in Form von Energie, Stoff, Information. Prigogine und Mitarbeiter haben das Konzept der dissipativen Strukturbildung entwickelt. ls Dissipative Strukturen entstehen beim Überschreiten thermodynamischer Stabilitätsgrenzen. Das Herausbilden einer dissipativen Struktur ist an folgende Bedingungen gebunden: - Das System muß einen überkritischen Abstand vom thermodynamischen Gleichgewicht erlangen. Das bedeutet, daß hinreichend viel verwertbare Energie, die dann teilweise bei der Strukturausbildung wieder dissipiert (zerstreut) wird, in das System einfließen kann. -

Das System muß somit offen für Stoff- und Energieflüsse sein.

- Im System herrscht eine deutliche Nichtlinearität zwischen den Kräften und Flüssen, die in Form von Kopplungen, Ketten- und Lawinenreaktionen in Erscheinung tritt.

Prigogine gibt eine allgemeine, auf thermodynamischer Basis fußende Definition für eine breite Klasse von Strukturbildungsphänomenen. Ein thermodynamisches Konzept, auch für den nichtlinearen Bereich, kann definitionsgemäß nur mit allgemeinsten Aussagen zur Lösung des Koordinationsproblems beitragen. Die Aussage, daß eine dissipative Strukturbildung thermodynamisch möglich ist, bedeutet ja nicht, daß sie sich auch real verwirklicht. Unser Problem ist aber gerade im Übergangsfeld zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit angesiedelt. Haken hat die Synergetik, die Lehre vom Zusammenwirken, entwickelt. 16 Die Synergetik ist als ein teilchenmäßiges Konzept angelegt. Sie befaßt sich mit Kooperationen, genauer mit Strukturbildungen, die durch Objekte / Subjekte und deren Wirkungen auf ein Ensembleumfeld resultieren. Die Synergetik ist eine Querschnittsdisziplin. Die kooperative Strukturbildung ergibt sich aus dem Übergang von einem Systemverhalten (Phase) zu einem qualitativ anderen durch die Korrelation konkreter Einzelobjekte/-subjekte. Sie ist folgendermaßen bedingt und charakterisiert: - Die Innovation erfolgt stets aus dem Zustand der Instabilität des traditionellen Systems. IS Gregoire Nicolis u./lya Prigogine, Self-Organization in Non-Equilibrium Systems, New York 1977; /lya Prigogine, Vom Sein zum Werden, 2. Aufl., München 1980. 16 Hermann Haken, Synergetics. An Introduction, Berlin usw. 1978.

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Die Instabilitätssituation ist durch eine Vielzahl aufretender Fluktuationen gekennzeichnet. In einer Konkurrenz setzt sich ein auslösendes konkretes Einzelnes durch. Die weitere Etablierung erfolgt durch einen Ordnungsparameter (Ordner), der sich durch eine "Taktgebung" eines konkreten Einzelnen und einer "Taktbefolgung" durch die Vielzahl der anderen einzelnen Objekte / Subjekte des Ensembles herausbildet. Der Ordner taktet die Systemelemente. Gleichzeitig aber konstituieren die getakteten Systemelemente den Ordnungsparameter. Eine Art "Hand-in-Hand-Wirkung" charakterisiert den Übergang. - Die neue kooperative Struktur ist durch eine weit geringere Zahl von Variablen gegenüber der vorangehenden instabilen Situation bestimmt. Mittels eines mathematischen Instrumentariums (Versklavungsprinzip) wird für die Laserinstabilität, das ist das Fallbeispiel der Synergetik, beschrieben, wie bei angeregten Atomen, die individuell Licht aussenden, in einer noch unterkritischen Situation (Lampenregime), dann bei einer überkritischen Pumprate spontan ein kooperatives Verhalten einsetzt (Laserregime). Der Begriff "überkritische Pumprate" yerweist in der Synergetik ganz allgemein auf qualitative Strukturveränderungen in beliebigen offenen, getriebenen Systemen, also unabhängig von stofflichen Trägern. Hinsichtlich der Diskussion des Koordinationsproblems ist erstens der teilchenmäßige Ansatz der Synergetik für uns von Interesse, da er Analogiebildungsmöglichkeiten bietet. Die Synergetik ist zweitens als ein ganzheitliches Vorgehen konzipiert, d. h. die kooperative Strukturbildung wird zwar durch die Erforschung der Mikroebene, im besonderen der Konkurrenz auslösender konkreter Einzelobjekte vorgenommen, doch solchen Erfordernissen folgend, die an das Funktionieren des Systems als Ganzes gestellt werden. Damit ist es möglich, neben dem Aufbau der kooperativen Struktur, auch die Zurückjührung von Teilinformationen auf ein zuvor markiertes Muster zu erklären und zu vollziehen. Diese Art von Assoziation wird für das Wiedererkennen komplexer Strukturen interessant. 17 Die Synergetik orientiert genau auf das von uns zentral behandelte Moment der Auslösung durch das konkrete Einzelne. Aber nicht der qualitative Aspekt der schöpferischen Wirkung des veranlassenden Einzelnen steht im Vordergrund, sondern die quantitative Bewertung einer Konkurrenzsituation mehrerer einzelner Auslösungen. Mittels Optimierungsgleichungen wird eine Voraussicht über die Entscheidung der Konkurrenz quantitativ möglich. Die Väter der hier angesprochenen selektiven Selbstorganisation sind Eigen und Schuster. 18 Von ihnen wurde die erste quantitative Entwicklungstheorie entworfen. Wie aber gerade festgestellt, steht hier nicht die Individuation, sondern Ders., Der Computer erkennt mein Gesicht, in: Bild der Wissenschaft (1988), H. 8. Man/red Eigen, Self-Organization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, in: Die Naturwissenschaften 58 (1971), S. 465 ff.; ders., u. Peter Schuster, The Hypercyc1e. Principle of Natural Self-Organization, in: Die Naturwissenschaften 64 (1977), H. 11, 65 (1978), H. 4, 65 (1978), H. 7. 17

18

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die Regularität in ihrer quantitativen Bestimmung im Mittelpunkt der Betrachtung. Vom Bekannten zum Bekannten, vorwärts und rückwärts, kann auffunktioneller Linie der Vollzug erfolgen. Der Sicherheitsgrad der Voraussicht von Entwicklungsprozessen nimmt allerdings mit zunehmender Komplexität und Geschehensdauer rapide ab. Eine vierte Selbstorganisationskonzeption, die Autopoiese, wird durch Maturana angeboten. Sie geht aus der Kybernetikschule Heinz von Foersters hervor. 19 Autopoiese bedeutet Selbstmachen bzw. selbsterhaltendes Tun. Das lebende System und seine Fähigkeit, auf äußere Störungen durch erneuernde Selbstreparatur zu reagieren und somit seine arttypische Funktion und sein Verhalten zu stabilisieren, ist die modellmäßige Grundlage des autopietischen Ansatzes. Die Autopoiese ist phänomenologisch angelegt. Die tei1chenmäßige Mikrostruktur ist nicht definitorischer Bestandteil der Konzeption. Die Autopoiese hat den Fall der Auslösung durch das konkrete Einzelne und seine strukturbildende Wirkung nicht in ihrem Programm. Aber gerade weil die Autopoiese phänomenologisch angelegt ist, gelingt es ihr, Momente des Koordinationsproblems heterogener Zusammenhänge bearbeitbar zu gestalten. Indem sie den Subjekt-Objekt-Dualismus beim Erkennen durch die Selbstreferenz überwindet, wird hier ein interessanter Hinweis für die Lösung des Koordinationsproblems gegeben. Eine Selbstreferenz aufzubauen bedeutet, daß der erkennende Mensch dem Objekt nicht mehr gegenübersteht. Er stellt keine Fakten irgendwo da draußen fest. Erkennen ist Tun. Realität wird beim Erkennen erst erzeugt. Das menschliche Tun ist Koordination zwischen Subjekt und Objekt. Die Handlung homogenisiert die Heterobereiche. Zumindest ist damit auf einer allgemeinen Ebene die Koordination nichtkompatibler Zusammenhänge durch die Tätigkeit des Subjekts vollzogen. Die Autopoiese ist eine tätigkeitswissenschaftliche Konzeption. Das veranlassende Subjekt tritt als Auslöser auf. Der tätige Mensch ist es, über oder besser durch den Koordination möglich wird. Die Autopoiese bestätigt unsere getroffene Aussage: Die Koordinierung in der Heterogenität erfolgt durch das Wirken des konkreten Einzelnen. Eine Tätigkeitskonzeption kann jedoch nicht umfassend wirksam werden, wenn die existierende Mikrostrukturiertheit und deren Ordnungs strategien in dem gerichteten Geschehen unberücksichtigt bleiben. So sind beispielsweise die allgemeineren Aussagen der Synergetik von ordnungswissenschaftlicher Art. Das synergetische "Prinzip der Versklavung" sowie seine Umkehrung, das "Prinzip der Assoziation" sind Ordnungsgesetze. Sie besitzen eine Mikrostruktur, die wissenschaftlich bearbeitbar ist. Dieser Aspekt fehlt der Autopoiese. Ordnungen in den Prozessen sind dynamische Strukturen. Sie treten als Rhythmen, Oszillationen, Takte, d. h. in der Wiederholung und Wiederkehr von Teilstrukturen, auf. Chronologische Elemente realisieren sich während des Geschehens als "Lebens19 Humberto Maturana, Erkennen, Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig I Wiesbaden 1982; ders. u. F. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bem usw. 1987.

3 Selbstorganisation, Bd. I

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lauf". Außerdem fixiert sich der abgelaufene irreversible Prozeß in Form von Musterbildern wie konzentrischen Ringen, Spiralen, Hexagonen usw. Je nach den herrschenden Bedingungen des vorangegangenen Ablaufs können die Ränder der Muster eine mehr oder weniger starke Rauhigkeit (Zerklüftetheit) aufweisen. Solche gezackten Ränder weisen eine Selbstähnlichkeit auf, d. h. ein bestimmter Ausschnitt einer fixierten Prozeßstruktur wiederholt sich unendlich oft in immer kleinerem Maßstab. Mandelbrot hat dafür den Begriff "Fraktal" eingeführt. Fraktale sind in viele kleine Segmente zerbrochene Prozeßstrukturen. 20 Ein tätigkeitswissenschaftliches Konzept wird ohne die ordnungswissenschaftliche Seite nicht auskommen. Neben diesen beiden Konzeptionen zur Bearbeitung des komplexen gerichteten Geschehens tritt noch eine dritte hinzu. Es ist der arbeitswissenschaftliche Bereich. Er ist uns bereits in dem thermodynamischen Ansatz der dissipativen Strukturbildung begegnet. Wie bereits gesagt, hiermit kann bestimmt werden, ob ein Geschehen energetisch überhaupt realisierbar ist, ob der Prozeß die notwendige Arbeit, z. B. für eine beliebige Musterentstehung bereitstellen kann. Ohne die Möglichkeit einer Arbeitsleistung kann sich keine strukturelle Ordnung und seine Tätigkeit verwirklichen. Werden also die Perturbationen (Veranlassungen) einzelner Menschen aus autopoietischer Sicht untersucht, dann sind für die Beschreibung der selbstreferentiellen Tätigkeit nicht nur die entsprechenden Erkenntnisse etwa der Psyche und des Sozialen vonnöten, sondern auch die von ordnungs- und arbeits wissenschaftlicher Art. Auf einer unterdessen sehr allgemeinen Stufe sehen wir uns wieder mit dem Problem der Koordination nichtkompatibler Bereiche konfrontiert. Die Heterobereiche sind hier die arbeits-, ordnungsund tätigkeitswissenschaftlichen Konzepte. Das Koordinationsproblem hat seinen Bestand in den einzelnen und den allgemeinen Zusammenhängen. Auch das ist ein Beispiel für Selbstähnlichkeit. Für den weiteren Fortgang der Darlegungen ergeben sich aus dem bisher Ausgeführten folgende Schwerpunkte: Obgleich die Autopoiese das Moment der Selbstreferenz besitzt, d. h. Systeme bearbeitet, die für sich die traditionelle Heterogenität durch menschliches Tun zu koordinieren vermag und damit das bestehende Problem scheinbar löst, scheitert sie an ihrem Tabu gegenüber der teilchenmäßigen Mikrostrukturiertheit des betrachteten Prozesses. Für uns bedeutet das, vorerst nicht der autopoietischen Phänomenologie nachzugehen, sondern erstens die strukturbildende Wirkung des konkreten auslösenden Einzelnen näher zu markieren.So legen wir die Aussage zugrunde, daß das real zur Auslösung gelangende Einzelne gegenüber den Mitkonkurrenten anders, eben heterogen sein muß. Wir sehen im singulär auftretenden konkreten Einzelnen und seiner Veranlassung in der hypersensitiven Situation den Zugang zur Lösung des Koordinationsproblems auf der Mikroebene. 20

Benoit Mandelbrot, The Fractal Geometry of Nature, San Francisco 1983.

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Schließlich wird dann zweitens im übernächsten Kapitel eine Methode zur Bearbeitung der Komplexität vorgestellt, die bereits wesentliche Erkenntnisse der Forschungen über das konkrete Einzelne berücksichtigt.

3. Die singuläre Determination 21 Es existieren zwei grundlegende Strategien in der Natur. Das natürliche Geschehen kann sich in der Situation des Gleichgewichts befinden. "Gleich" heißt hierbei, es wirkt eine Strategie, die alle Bestrebungen dämpft, die den etablierten Zustand zu überwinden versuchen. Es ist eine Strategie, die hinsichtlich einer bestehenden Struktur erhaltend und stabilisierend wirkt. In dieser Situation gilt aus teilchenmäßiger Sicht betrachtet eine allgemeine Bedeutungslosigkeit für den einzelnen konkreten Fall. Er wird lediglich mit in die große Zahl, in das Ensemble hineinaddiert. Bei hinreichend großem Ensemble ist die Existenz und das Schicksal eines bestimmten Einzelnen uninteressant: die Bedeutungslosigkeit des Grashalms in einer Wiese, des Sandkorns am Meeresstrand, des Zuschauers in einem Einhunderttausend-Mann-Stadion. Unter bestimmten Bedingungen, nämlich bei der Bereitstellung und Ausschöpfung eines Potentials, kann der Tradition die Innovation entwachsen. Die Innovation setzt dann die Nutzung eines bis dahin gehemmten Potentials oder einen von außen eingehenden fluß an verwertbarem Material wie Energie, Stoff, Information als Bedingung voraus. Ein solches getriebenes System besitzt eine hohe Sensitivität. Angezeigt wird sie durch registrierbare Schwankungen. Diese Fluktuationen sind relativ autonome Auslösungen, welche über eine interne Konkurrenz Wege in die neue Systemstruktur selbst organisieren. Die konkrete Selbstorganisation beginnt mit dem Auslösungsprozeß und einer nachfolgenden autokatalytischen Verstärkung. Jede Auslösung benötigt direkt das anstoßende konkrete Einzelne. In der Situation des Nichtgleichgewichts wird das einzelne Objekt / Subjekt bedeutungsvoll. Das veranlassende Einzelne ist ein Individuum. Individualität heißt, das betrachtete Einzelne besitzt Eigenschaften, die es mit keinem anderen teilt. In der Auslösungsphase kommt es gerade auf die Heterogenität an. Anders als in der Gleichgewichtssituation kann hier die Heterogenität nicht reduktionistisch homogenisiert werden. Ohne die Verschiedenartigkeit, ohne die Einmaligkeit des impulsgebenden Einzelnen gäbe es keine Auslösung. Individualität und Nichtgleichgewicht sind wichtige Voraussetzungen der Innovation. 21 Einige konzeptionelle Aufsätze zur Thematik "Singuläre Detennination" sind in den Protokollbänden Komplexität . Zeit . Methode, Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Hrsg.: U. Niedersen) erschienen: Komplexitätsbewältigung - eine Einführung, 1986/69 (A 90), Halle 1986; Gestalt und Selbstorganisation, 1988 /4 (A 102), Halle 1988; Physikalische Chemie - Historie: Muster und Oszillation, 1988 /56 (A 110), Halle 1988; Wachstum, Muster, Detennination 1990/20 (A 124), Halle 1990.

3*

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Die Fluktuationen in der hypersensitiven Situation sind es, die immer wieder die Vielfalt bestehender Möglichkeiten anzeigen, daß Erneuerungen über bestimmte Prozeßbahnen vollziehbar sind. Die konkurrierenden Fluktuationen "ertasten" den neu einzunehmenden Ordnungszustand. Die Konkurrenz wird von der Fluktuation entschieden, die die umgebende Vielzahl der Objekte / Subjekte eines Ensembles auf sich orientieren kann. Die Rolle, die das auslösende Einzelne spielt, ist in allen getriebenen Systemen mit Innovationen gleich charakterisiert: In der Nichtgleichgewichtssituation kann das konkrete Einzelne zu einem besonderen Einzelnen werden, wenn es in Form einer Hand-in-Hand-Wirkung mit seinem Ensembleumfeld dasselbe immer unentrinnbarer taktet. Die Dominanz bildet sich gemäß des Prinzips, "wer bereits hat, der bekommt noch mehr dazu", heraus. Aus dem konkreten bzw. besonderen Einzelnen ist in der Innovationssituation ein ausgezeichnetes Einzelnes geworden. Die Individualität wird durch die "Taktgebung" und die "Taktbefolgung" durch das Umfeld allgemein. Die determinierende Wirkung des konkreten Einzelnen in getriebenen Systemen ist zwar wissenschaftlich unbestritten, aber der Zielstellung der mathematisierten Naturwissenschaften, Voraussicht mit hoher Sicherheit anzustreben, kann nur ungenügend nachgekommen werden, weil das singulär auftretende und veranlassende Einzelne als Determinante quantitativ nicht definierbar ist. Die wahrscheinlichkeitsmäßige Voraussage des Eintreffens eines bestimmten Ereignisses geht hier gegen Null. Der Begriff "Singularität" wird in den einzelnen Wissenschaften wie Mathematik, Meteorologie usw. unterschiedlich verwendet. Für das Verständnis der hier dargestellten Zusammenhänge genügt es, die Singularität in der Bedeutung einer vereinzelten Erscheinung, einer Besonderheit sowie Einzigartigkeit zu sehen. 22 Bei einer Untersuchung von Determinationen und Innovationen in selbstorganisierenden Systemen rückt die Forschung des sich auszeichnenden Einzelnen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Was können wir über das konkrete Einzelne und seine Wirkungen in getriebenen Systemen mit Strukturinnovationen wissen? In dem Zustandder Tradition weiß der Forscher über die Vielzahl der einzelnen Objekte alles, alles in dem Sinne, daß hinsichtlich einer Systeminnovation nichts Bedeutungsvolles und Umwerfendes vom einzelnen Objekt / Subjekt ausgehend geschieht. In dem Zustand der sich anbahnenden Systeminnovation weiß der Bearbeiter punktual erst einmal nichts, weil bei der Erneuerung eines Systems aufgrund der singulären Wirkungen beinahe alles möglich ist. Die beiden Aussagen sind gewissermaßen die Eckpunkte der Determination in einer Komplexität mit der Selbstorganisation als Prozeßstruktur. Die auf die klassische Mechanik und Quantenmechanik rekurrierenden Determinationskonzeptionen finden freilich auch bei der Erfassung der Prozeßstruktur getriebener Systeme ihre Anwen22

Deutsches Fremdwörterbuch, 4. Band, Berlin / New York 1978.

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dung. Eine wesentliche Einschränkung gibt es aber doch: in komplexen System können individuelle Wirkungen einer auslösenden Singularität auch deshalb nicht durchgängig punktual und statistisch vorausgesagt werden, weil beispielsweise das veranlassende Einzelne während der Dauer des Geschehens erst "geboren" werden könnte. Die traditionellen Konzeptionen beschreiben hinreichend exakt den Start des Prozesses und folgern daraus mit einer gewissen Sicherheit das Ergebnis. Sie gehen stets vom Bekannten zum Bekannten vor. Dieser Anspruch ist für das komplexe Geschehen nicht durchgängig erfüllbar. Aus klassischer Sicht liegt das Interesse des Forschenden ja gar nicht auf der Seite der Einzigartigkeit und seiner schöpferischen, erneuernden Wirkung, sondern auf der Seite einer allgemeinen Notwendigkeit. Der Fall, in dem ein konkretes Einzelnes zu einem ausgezeichneten wird, ist nicht in der Optik des traditionellen Determinismusbildes. Ein philosophischer Determinismus kann seine Inhalte nicht ausschließlich aus den Bedingungen und Bestimmungen der klassischen Mechanik und der Quantenmechanik beziehen. Für eine solche einseitige Auffassung gibt es Beispiele. 23 Ein Philosophieren an und mit naturwissenschaftlichen Begriffen und Theorien in diesem Zusammenhang muß der Tatsache der singulären Determination gebührende Beachtung schenken. Die singuläre Determiniertheit will den philosophischen Determinismusbegriff durch das Einbringen ihrer Artspezifik bereichern und dabei neue Akzente setzen. Sie belegt genau das Terrain, das Erkennenskonzeptionen, die auf der punktualen Bestimmung und Statistik beruhen, nicht mehr erreichen, um es vor der Postulierung einer prinzipiellen Indetermination zu bewahren. So gilt für die Bearbeitung der Komplexität ganz allgemein: Komplexität setzt beim Erkennenden eine theoretische Denkhaltung und ein methodisches Instrumentarium voraus, welche jeweils selbst Komplexität zu unterlegen haben.

Aus der Blickrichtung der singulären Determination ergibt sich weiterhin, daß grundsätzlich zur Kenntnis genommen werden muß, daß keine Technologie ohne Risiko ist. Veränderungen in getriebenen Systemen können auch als Katastrophe in Erscheinung treten. Unangenehmes kann ebensowenig ausgeschlossen, wie angenehme Ereignisse mit geradezu perfekter Automatik eingeschlossen werden. Die Entwicklung der Menschheit hat bewiesen, daß der gesellschaftliche Fortschritt bewußt gestaltet werden kann, aber eben nicht ausschließlich unter dem Ideal, den Zufall so zu organisieren, um ihn als unliebsamen Nebeneffekt auszumerzen oder ihn doch wenigstens wahrscheinlichkeitsmäßig beherrschen zu wollen. Es geht vielmehr auch darum, Komplexität zu organisieren, um Überraschendes, Kreatives, Innovatives zu ermöglichen. Das Schöpferische ist ein wesentliches Moment des Zufalls. 23 Herbert Hörz, Der dialektische Determinismus in Natur und Gesellschaft, 5. Aufl., Berlin 1974; ders. u. Karl-Friedrich Wessei, Philosophische Entwicklungstheorie, Berlin 1983; ders., Philosophie der Zeit, Berlin 1989.

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Die singuläre Detenniniertheit ist eine philosophische Entsprechung der Verhältnisse, die aus der Beschäftigung mit der Komplexität folgen. Dabei werden philosophische Begriffe bereichert, erweitert und erneuert.

Die singuläre Determiniertheit ist eine Form des Determinismus, die unter Beachtung der Einheit von Ordnung und Unordnung, von Einmaligkeit und Wiederholbarkeit, von Taktgebung und Taktbefolgung in komplexen Systemen die Auszeichnung eines singulären, konkreten Einzelnen bei Strukturinnovationen bearbeitet. Der bisher nicht widerlegten Aussage folgend, daß Auslösungen mit anschließender Verstärkung stets von einem konkreten Einzelnen ihren Ausgang nehmen, sei auf zwei Prozeßeigenschaften der Individualität in diesem Zusammenhang hingewiesen: Da ist erstens die anstoßende Lenkung durch das auslösende Einzelne zu nennen. In dem einfachsten Fall von Selbstorganisation ist es die Entweder-oderEntscheidung, d. h. die simple Verwirklichung einer von zwei Möglichkeiten. Wenngleich die innere Strukturiertheit des veranlassenden Individuums komplex ist, wird von dieser Komplexität in der Auslösungssituation nur soviel an Struktur und Verhalten benötigt, um gerade eine Entweder-oder-Entscheidung zu realisieren. Darin erschöpft sich bereits die Freiheit des konkreten Einzelnen, seine Einmaligkeit massenhaft zu verstärken. Der einmal durch einen minimalen Impuls ausgelöste Prozeß läuft lawinenartig mit zwingender Notwendigkeit ab. Der Anstoß durch das aktive Einzelne ist makroskopisch längst wieder "vergessen". Quasi so nebenbei haben wir damit auch die Grundstrukturen eines" VergessensModell" genannt. Die zweite typische Prozeßeigenschaft des veranlassenden Einzelnen ist die Übertragung seiner Struktur und seines Verhaltens auf das umgebende System. Dazu bedarf es neben der Komplexität des entsprechenden Einzelnen auch einer hohen Dynamik in der Komplexität des umgebenden Ensembles. Für die Übertragung individueller Eigenschaften auf das Ensembleumfeld reicht eine einfache Entweder-oder-Entscheidung nicht aus. Die hohe Dynamik in der Komplexität der Umgebung zeigt sich darin, daß hier eine Auslösungssituation die andere ablöst und das Einzelne immer wieder Gelegenheit bekommt, seine Individualität in das Umfeld einzubringen. In der Kooperation zwischen Taktgebung durch das Einzelne und der Taktbefolgung durch das Ensemble zeichnet sich das Einzelne durch das Erlangen von Allgemeinheit aus. Das Ensemble wird dabei "einzigartig". Die Verstärkung zum ausgezeichneten Einzelnen ist das Resultat eines Prozesses, welcher seine Entsprechung in den philosophischen Begriffen "allgemeine Einzigartigkeit" bzw. "einzigartige Allgemeinheit" findet. Damit ist auf allgemeiner Ebene eine Bereicherung des Kategorienpaares ,,Einzelnes / Allgemeines" vorgenommen worden. Die vollzogene Bereicherung hat weitere Konsequenzen:

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In der sensitiven Situation, dem Übergang von der Tradition zur Innovation, gilt dann auch die Aussage: "Der Teil ist mehr und anders als das Ganze". Die gewöhnliche Aussage: "Das Ganze ist mehr und anders als die Summe seiner Teile", wird dabei keineswegs negiert. Letztere philosophische Aussage bezeichnet den Zustand des bereits etablierten und relativ stabilen Systems. Der Begriff "allgemeine Einzigartigkeit" bereichert auch die Kategorien ,,zufall" und "Gesetz". In der Situation der Auslösung wirkt, wie gesagt, Einzelnes singulär. Der Zufall, die philosophische Entsprechung dieses Zusammenhangs, erlangt in der Innovationsphase eine wesentliche Bedeutung beim Etablieren der neuen Struktur. Die "Struktur" ist Ausdruck des Wesentlichen eines Systems. Hegel belegt das wesentliche Verhältnis mit der Kategorie "Gesetz". Der Zufall leitet also Wesentliches ein. Seine Einmaligkeit führt zu einern allgemein-notwendigen Zusammenhang. Der Zufall bringt das Gesetz hervor. Die Aussage: "Der Zufall führt zum Gesetz", bezogen auf das Moment des schöpferischen Emeuems, ist damit genauso relevant, wie die verbreitete Aussage: "Das Gesetz steuert den Zufall". Die letztere Aussage charakterisiert wieder die Situation der bereits etablierten, ,,ruhigen" Prozeßstruktur. Sie trifft für die Bilanz des Gesamtprozesses zu. Es erscheint nicht abwegig, einmal darüber nachzudenken, ob philosophische Begriffe, z. B. die "allgemeine Einzigartigkeit", einen Einfluß auf mögliche Fortschritte bei der naturwissenschaftlichen Ermittlung der Voraussicht in komplexen Systemen haben. Konkreter gefragt: Ist es für die modeme mathematisierte Naturwissenschaft, deren Zielstellung es ist, möglichst quantitativ vorauszusagen, überhaupt ein relevantes Problem, das singulär auftretende und durch Abstraktion als "allgemeine Einzigartigkeit" bezeichnete ausgezeichnete Einzelne wissenschaftlich zu bearbeiten? Wir meinen, daß hierzu einige Gesichtspunkte aufgeführt werden können: - Kann bei der wissenschaftlichen Bearbeitung eines Vorgangs die punktrnechanische oder statistische Determination Anwendung finden, dann ist voraussagbar, daß eine Voraussicht des Ergebnisses mit quantitativer Sicherheit möglich wird. Hierfür gilt: Die Voraussicht der Voraussicht. Individualität und deren strukuraufbauende Wirkung ist nicht im traditionellen Sinne voraussagbar. Die Voraussicht der Voraussicht erweist sich für das Moment des Schöpferischen in der anhebenden Innovation als eine Illusion. Es gilt: Die Voraussicht der NichtVoraussicht. Die Voraussicht der Nicht-Voraussicht ist wie die Voraussicht der Voraussicht ein gleichwertiges Element der neuen Symmetrie"Voraussicht". Die neue Voraussicht ist mehr als die einfache Voraussicht mit quantitativer Sicherheit und mehr als die bloße Voraussicht der Unsicherheit. - Die Einbeziehung der Individualität sowie der Singularität und des Zufalls in den wissenschaftlichen Rahmen läßt Kreativität, Originalität, Konstruktivität, geronnen in dem Begriff "Schöpferturn" , näher definieren: Schöpferturn ist der Prozeß und das Ergebnis, in dem Individualität in einem geeigneten Umfeld der

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unbelebten, belebten und sozialen Wirklichkeit selbstorganisierend eine allgemeine Einzigartigkeit entwickelt. Als geeignetes Umfeld sind die wiederholt sensitive Situation, die entsprechenden Auslösungen und die Ausbildung von Hand-inHand-Wirkungen zwischen dem Einzelnen und dem Ensemble in komplexen Systemen zu verstehen. - Wenn es in komplexen Systemen zu Situationen kommt, die nur eine minimale Sicherheit der Voraussage zulassen, kann der Vorsatz, dennoch einer klassischen Voraussicht genügen zu wollen, katastrophal werden. Es existieren während des Geschehens mitunter keine Regulierungsmöglichkeiten, so daß der erkennende Mensch erstens, falls ein solcher Fall absehbar wird, eine solche Situation besser meidet oder zweitens den Geschehensablauf abwartet und die Ergebnisstruktur wissenschaftlich untersucht. Daraus läßt sich dann mitunter eine Gattungsstruktur, wie etwa das Fraktal, ermitteln und zu einer Konzeption des wissenschaftlichen Erkennens von Komplexität erweitern. - Zeigt der Übergang von der Tradition zur Innovation eine Prozeßstruktur, die es gestattet, die konkret sich ausbildenden Potentiale, deren singuläre Auslösungen durch ein bestimmtes, mitunter spontan auftauchendes Objekt / Subjekt und das Resultat der Verstärkung im einzelnen zu ermitteln, dann besteht die Möglichkeit, den Prozeß parallel zum Original aufzuzeichnen. Dabei muß nicht immer das Prinzip der Gleichzeitigkeit erfüllt sein. Handelt es sich z. B. um historische Daten, dann kann der Prozeßverlauf ,,nachgeschöpft" werden. Die Methode selbst bleibt allerdings die gleiche. Im nächsten Kapitel wird die Komplexographie als eine Methode der Gleichzeitigkeit bzw. Parallelaufschreibung vorgestellt. - Schließlich läßt die "allgemeine Einzigartigkeit" in ihren einzelwissenschaftlichen Entsprechungen solche Forschungen favorisieren, die zum einen die Zielstellung haben, das relativ unabhängige einzelne Objekt / Subjekt zu beschreiben. Es ist höchst legitim zu fragen, wie die Struktur und Dynamik des potentiell möglichen, veranlassend wirkenden Einzelnen beschaffen ist. Zum anderen zeigt die "allgemeine Einzigartigkeit" an, daß in ihren konkreten einzelwissenschaftlichen Fällen "ursächliche" Daten aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart "unverschüttet" und rein, durch das verstärkte Anzeigen von Struktur, erhalten worden sind. Die Frage danach, wie es früher einmal war, erhält auch von dieser Seite wissenschaftliches Profil. 4. Die Komplexographie

4.1 Allgemeines zur Methode Die Komplexographie ist eine Methode, die die ordnungswissenschaftlichen Elemente in der Komplexität sowie der Selbstorganisation zur Beschreibung beliebiger getriebener Systeme mit deutlicher Heterogenität sowie anhaltender

Komplexität, Singularität und Detennination

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Prozeßdauer anwendet. Sie vereint in komplementärer Ergänzung punktmechanisehe, statistische und singuläre Aspekte des Determinismus und will über die Beschreibung der Komplexität und ihrer Dynamik eine umfassendere Voraussicht realisieren. So ist die Komplexographie nicht einfach nur eine Handlungsanleitung zur Beschreibung von Vielfalt und Dauer, sondern sie will selbst auch Methodologie und Ordnungsgesetzlichkeit evolvierender Prozesse sein. Der Anspruch, eine komplexographische Bearbeitung beliebiger getriebener Systeme vornehmen zu wollen, verlangt eine charakteristische Darstellungsform der Methode. Die Darstellungsform der Komplexographie ist in jedem Fall eine Längsschnittanalyse, die so aufgebaut werden muß, daß einzelne Prozeßstrukturen, wie auch die Struktur des Gesamtprozesses zur Übersicht gebracht werden kann. Selbstorganisationsprozesse sind sowohl in ihrer Ganzheit als auch in ihren Teilakten strukturiert. Bei Strukturinnovationen getriebener Systeme konstruiert eine innere Zeit solche Zwischenakte, die nicht mittels Minuten und Stunden vollständig zu messen und nicht durch einen von außen aufgeprägten Zeitmaßstab erfaßt sind. Die Zeit ist Selbstkonstruktion und Schöpfung, fernab von einem von außen angelehnten Zeittakt. Innerhalb der prozessualen Gesamtstruktur werden relativ eigenständige Teilstrukturen auftreten. Diese wollen wir Phasenporträts nennen. Phasenporträts können durch Anlegen eines Zeittaktes zwar äußerlich gemessen werden, diese "Von-bis-Zeit" hat aber aus der Sicht der Zeit als schaffendes Element eine bloß sekundäre Bedeutung. Die Beschreibung der gewordenen Struktur einer Phase, die möglichst mathematisch erfolgen sollte, eröffnet den Zugang zur Formulierung einer allgemeinen Aussage. Allgemeine Aussagen sind die Voraussetzung der Prognose. Solche abstrakten Strukturen dienen auch zur Erklärung von Einzelzusammenhängen. Die ermittelte abstrakte Prozeßstruktur gestattet das Folgern und somit, wenn auch auf einer allgemeinen Ebene, Handlungen zu planen. Diese Art der Planung bedeutet aber nicht das Ausmerzen des Zufalls. Geplant wird letztlich, wie oben bereits gefordert, die Organisation der Komplexität. Die erste und unterste Ebene einer Komplexographie sind die Basisbedingungen in Form von Reservoirs bzw. Potentialen für mögliche Auslösungen und Verstärkungen. Jene gilt es zu markieren. Strukturerkenntnis auf der Ebene der Basisbedingungen bedeutet im besonderen, den vorhandenen Bestand und die Herausbildung von Potentialen zu erfassen. Zu untersuchen ist, welche konkreten Einzelobjekte / -subjekte oder Detailprozesse es sind, die ein Potential zum Ausgleich und das System zur Strukturerneuerung veranlassen. Die Koordination von Inkommensurablem wird in ihrer konkreten Form fortlaufend sichtbar werden, und zwar letztlich als auslösende Singularität auf der einen Seite und dem inhaltlich-strukturellen Aspekt des Potentialzusammenhangs auf der anderen. Zu erkunden ist, welche konkreten Einzelobjekte / -subjekte oder Detailprozesse es sind, die ein Potential zum Ausgleich und das ganze System zur Strukturerneuerung veranlassen. Potentiale entstehen durch das Einfließen von verwertbaren Materialien in das System. Dieser fluß ist durch eine Außen- oder Fremdorganisa-

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Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann

tion regelbar. Die Selbst- und die Fremdorganisation sind keine prinzipiell gegensätzlichen Strategien. Selbstverständlich muß der handelnde Mensch darauf achten, daß die Fremdorganisation nicht zum Dogmatismus entartet. Potentiale entstehen aber auch durch systeminterne Konstellationen, d. h., die fortlaufenden stets aktuellen Schwankungen produzieren solche Anordnungen, die gegenüber Anstößen sensibler reagieren als wieder andere Zusammenhänge. Eine Vielfalt strukturell unterschiedlicher Potentiale bedingt eine Vielfalt von konkurrierenden Schwankungen. Mit der Beschreibung der zweiten Ebene wird von der Konkurrenz der Schwankungen der Blick auf die wirklich auslösenden Singularitäten gerichtet. Singularitäten sollten ermittelt werden, die den Gesamtprozeß wesentlich beeinflussen. Die singulären Auslösungen sind es, die auf der dritten Ebene Ordnungsstrukturen sich herausbilden lassen. In diesem Aktionsfeld bilden eine oder mehrere Ordnungsstrukturen das entsprechende Phasenporträt. Mehrere Phasenporträts vereinen sich zu einer gesamten Prozeßstruktur. Wird beispielsweise das Leben und Werk eines großen Wissenschaftlers komplexographisch dargestellt, so hat es sich bewährt, neben der unteren Ebene der Basisbedingungen sowie der Aktionsebene zur Herausbildung von Ordnungsstrukturen einen äußeren Zeit- und Raummaßstab anzufügen. Die Zeitachse ist dann durch die Altersangabe der Person, etwa in Form von Jahreszahlen, zu bezeichnen. Räume bedeuten Wohnorte oder Arbeitsstätten des Forschers. Weiterhin sollten in einer speziellen Anordnung die konkreten Leistungen wie Publikationen, Einführung neuer Methoden in Lehre und Forschung, Erfindungen etc. von den drei direkten Geschehensebenen, in der sich die eigentliche Selbstorganisation ereignet, abgehoben werden. Es ist jedoch zu beachten, daß Zeit, Raum und Leistungen nicht absolut getrennt von dem inneren "Lebenslaufgetriebe" betrachtet werden. Sie alle können in ihrer Dynamik Einfluß auf die Ausbildung der Potentiale nehmen oder sind über ihre konkreten Objekte an den Auslösungen beteiligt.

4.2 Ein Fallbeispiel Die einleitenden Darlegungen über die Komplexographie getriebener Systeme mit Strukturinnovationen sollen für die ordnungswissenschaftliche Bearbeitung eines konkreten Falles zugrunde gelegt werden. Das von uns ausgewähle Fallbeispiel muß die wesentlichen Inhalte der Konzeption wiedergeben können. Es besitzt eine Pilotfunktion für den Einstieg in eine umfassende Handlungs- und Anwendungsempfehlung durch die Komplexographie. Zwei allgemeinere Aufgaben ergeben sich für den Anwender: Er benötigt erstens einen Fall, der ihm hinreichend Informationen bietet, die wiederum die innere OrdnungsstruktUT erkennbar und komplexographisch bearbeitbar werden lassen. Zweitens ist die oben aufgezeigte Darstellungsform der Komplexographie zu verwenden, weil

Komplexität, Singularität und Detennination

43

sie geeignet erscheint, beliebig viele weitere Informationen in den ,,Längsschnitt" aufzunehmen. Folgend wird das Leben und Werk Raphael Eduard Liesegangs (1869 - 1947) komplexographisch bearbeitet. 24 Die Schwierigkeiten einer Lebensbeschreibung Liesegangs, eines Pioniers der Kolloidchemie, sah Wo. Ostwald darin, daß dieser Forscher "ein derartig polyvariables System darstellt, daß auch seine besten Freunde sich außerstande erklärten, ihn so zu beschreiben, daß ihm gerecht geschähe".25 So geschah dann zum 60. Geburtstag Liesegangs wieder einmal eine der vielen Kuriositäten, die demjenigen entgegentreten, der sich mit dem Leben und Werk dieses Chemikers vertraut macht. Wo. Ostwald hatte seinen älteren Freund Liesegang gebeten, also den zu seinem Ehrentag zu Beschenkenden, selbst sein Forscherleben aufzuschreiben, da sich einfach keiner dazu befähigt fühlte. Die ansonsten mit ,,mimosenhaftem Zartgefühl" 26 ausgestattete Person ging wohl aufgrund der Ungewöhnlichkeit, ja Absonderlichkeit des Anliegens darauf ein und verfaßte zu seinem 60. Geburtstag einige Seiten Autobiographie, die mit den Worten enden: "Ich bin ein freier Student geblieben."2? Eine andere, sehr kurze Autobiographie aus Liesegangs Feder beginnt mit den Worten: "Das erste wichtige Geschehnis in meinem Leben war ein Traum ..." 28 Schließlich gelang es einem Verleger, zwei Jahre vor Liesegangs Tod, ihn noch einmal zu veranlassen, Autobiographisches zu liefern: Liesegang hatte mit den einfachsten Mitteln, ohne alle besondere Apparatur, trotz seiner vielen, vor allem psychischen Eigenheiten, die ihn als eine faustische Person erscheinen ließen, erstaunliche Leistungen vollbracht. Der Verleger drängte, gerade wegen der vielen Anormalitäten im Leben des Forschers, eine Information darüber weiterzureichen. Weil nun auch Liesegang im fortgeschrittenen Alter zurückblikkend sagen konnte: "Und doch ist etwas daraus geworden!" trotz, wie er schrieb, "all dem Mangelhaften (und selbst) auf die Gefahr hin, daß die Schule das Buch (die Selbstbiographie - U. N./L. P.) auf den Index setzen wird und das es nur 24 Eine ausführlichere Version ist als Aufsatz publiziert: Uwe Niedersen, Die Komplexographie - eine Beschreibungsmöglichkeit beliebiger getriebener Systeme. Fallstudie: Raphael Eduard Liesegangs Leben und Werk unter Beachtung einiger Aspekte der Selbstorganisation, in: Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg 1988/4 (A 102), S. 31 ff. 25 Wolfgang Ostwald, Kolloid-Zeitschrift XLIX (1929), H. 3. 26 Ernst Küster, Kolloid-Zeitschrift 117 (1950), S. 2. 2? Raphael Eduard Liesegang, in: (FN 25). 28 Ders., Photographischer Almanach 23 (1903), S. 127.

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etwas Brauchbares wird als Beispielbuch für jene Ärzte, die andere Schwachsinnige behandeln" 29, willigte er ein. Es existiert keine Biographie über Liesegang von fremder Hand. Es gibt, wie angeführt, drei mehr oder weniger ausführliche Selbstdarstellungen, einige Nekrologe und das beinahe zu umfangreiche und verstreut in den Publikationsorganen anzutreffende Material an Forschungsleistungen. Die Frage nach den Möglichkeiten, einen Forscher vorzustellen, der ein besonders hohes Maß an Individualität und Komplexitätsausprägung besaß, ist eine solche nach der Darstellungsart und -form einer selbstorganisierenden Prozeßstruktur mit Innovationen. Individualität ist bekanntlich wissenschaftlich schwer zu bearbeiten, schwierig zu fassen. Liesegang hat nun aber aus dieser seiner Einzigartigkeit heraus immerhin über 600 Zeitschriftenpublikationen, über 20 Monographien, zehntausend Referate abgefaßt, Patente angemeldet und die Chemie und die Grenzgebiete zur Physik, zur Biologie und Medizin, zur Geologie und Technik auf dem Gebiet der Diffusion und Kapillarität, gemäß des Vermögens seiner Phänomenologie und der von ihm angewandten induktiven Methode, überschaut. Zuzüglich muß die ausgedehnte schriftstellerische Tätigkeit erwähnt werden. Wie kann man den Dynamismus der Verknüpfung von Singularitäten mit der beachtlichen Produktion von Forschungsresultaten bester Güte zur Darstellung bringen? Wir schlagen die Kamplexagraphie, die Beschreibung getriebener Systeme mit Strukturinnovationen vor. (Unbedingt zu beachten ist die auf den folgenden vier Seiten eingefügte kurze Übersicht der konkreten Komplexographie Liesegangs!) Die Darstellungsform berücksichtigt, wie oben bereits allgemein angezeigt, den äußeren - oder Rahmenzeittakt - und den inneren - oder Eigenzeittakt. Die äußere Raumzeit wird durch die Jahreszahlen der Linie: Geburt - Tod markiert. Zugleich werden die Orte bzw. Institutionen des Wirkens des Forschers dem äußeren Bereich zugeordnet. Ein äußerer Raumzeitpfeil ist somit gezogen. Der innere Zeittakt wird durch die objektiv bestehende Ordnungsstruktur in Form spezifischer Phasenporträts dargestellt. Auf der Potentialebene auslösend wirkende Singularitäten lassen sich bei Vorhandensein eines hinreichend großen Informationsangebots im allgemeinen benennen. Die in den je weil igen Phasen wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen Liesegangs sind ebenfalls in der folgenden Übersicht erfaßt 30,31. Ders., Und doch! Autobiographie, 10. 8. 1945, unveröffentlicht. Die Informationen zur Anfertigung der Liesegang-Komplexographie sind folgenden Quellen entnommen worden: R. E. Liesegang (FN 28); ders. (FN 29); Hans KnölI, Archivmaterial der Leopoldina Halle, unveröffentlicht. Auf der Grundlage dieser Archivalien war der Zugang und ein gezieltes Durchsehen wichtiger Fachpublikationen Liesegangs möglich geworden, die hier aber nicht im einzelnen aufgeführt werden sollen. Baris Rajewsky, Ein Leben für die wissenschaftliche Forschung, in: Natur und Volk 69 (1939), S. 607 - 611. Ralf Jäger, Raphael Eduard Liesegang, in: Kolloid-Zeitschrift 115 (1949), S. 6 ff. E. A. Hauser, Raphael Eduard Liesegang 1869 - 1947, in: Journal of 29

30

Komplexität, Singularität und Determination

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Das erste Phasenporträt weist eine Ordnungsstruktur auf, die im wesentlichen durch den disharmonierenden Einfluß der Schule auf die durch biotische, psychische und soziale Zusammenhänge in der Familie geprägte Individualität des Heranwachsenden ausgebildet ist. Die psychische Überhemmung, die Unfahigkeit, selbständige Gedanken zu haben, wird zu einem unerträglichen psychischen Spannungszustand (Potential). Die Singularität, ein Traum, in dem der Jugendliche eine Photographie durch den Telegraphendraht erschaut (erfindet), löst die Strukturinnovation aus. Im zweiten Phasenporträt (in der neuen Systemstruktur) dominieren deutlich die Freude am Forschen, die Gewißheit, wissenschaftlich arbeiten zu können, die Publikationsfülle und Anerkennungen. Der junge Forscher empfindet das erste Mal das schöne Gefühl, verwertbare Entdeckungen produzieren zu können. Der hier bereits zur Entfaltung gelangende Typ des freien Forschers und die individuell angelegte und so charakteristisch gelenkte Forschung sollen zeitlebens die Ordnungsstruktur und das Idealbild Liesegangs bleiben. Der Einsatz in der Fabrik des Vaters nach dem Studium, die Leitung eines Verlages, die persönlichen Erfahrungen beim Behaupten der Firma im Konkurrenzkampf, die hier und dort einsetzende wissenschaftliche Kritik anderer Forscher an eigenen Arbeiten lassen wiederum einen Spannungszustand entstehen, den Liesegang durch den Verkauf eines Teiles der Fabrik abzubauen beginnt. Schließlich kommt es noch nach einer Verbindung mit einer anderen Frau zu einer ,,Flucht aus Düsseldorf'. Der als Forscher und Fabrikant auch engagiert literarisch Tätige durchlebt eine Bifurkation: Der alte Ordnungszustand, das Weiterbetreiben der Fabrik ist ihm ganz unmöglich geworden, doch der Entscheid, ob nun weiter als freier Naturforscher oder als freier Literat zu arbeiten, bleibt vorerst unbestimmt. Wir kennen nun nicht die Singularität, die Liesegang schließlich doch und endgültig in den naturwissenschaftlichen Bereich hineinführt. Damit ist das dritte, und zwar das am längsten andauernde Phasenporträt eröffnet. Liesegang gelingt es, die ersehnte Ordnungsstruktur als freier Forscher, ihn interessierende Arbeiten auszuführen, zu realisieren. Trotz gelegentlicher äußerer Eingriffe erhält sich Liesegang diese Prozeßstruktur und läßt sie aktiv andauern. Selbst das ehrenvolle Angebot earl Boschs, ein Kaiser-Wilhelm-Institut für Biophysik zu leiten, wird abgelehnt. Chemical Education 25 (1948), S. 156 ff. E. Küster, Zum Gedächtnis von R. E. Liesegang, in: (FN 26). 31 Uns geht es bei den komplexographischen Darstellungen nicht um die Wiedergabe jeder der vorliegenden Detailinformationen. Das ist im Rahmen dieses Aufsatzes schon aus Platzgründen nicht realisierbar. Es muß sogar in Kauf genommen werden, daß der Leser möglicherweise nicht jede eingetragene Einzelinformation lückenlos in den Gesamtzusammenhang einzuordnen versteht. Dennoch haben wir in knapper Form hinreichend viele der wesentlichen Zusammenhänge in die Darstellungsformen eingeordnet, die es dem Leser erlauben sollten, zum einen das Prinzip einer Komplexographie zu verstehen und zum anderen aus der Sicht der Selbstorganisation als Ordnungs gesetzlichkeit, Einblick in das Leben und Werk Liesegangs zu nehmen.

92

91

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89

1888

1887

1816

1869

Zeit

(1888 - 92)

Freiburg LBr.

in

Chemiest~dium

Chemiesch~le

R. Fres8nius'

Sch~le

iJ? Grijnebach

~'otografie­

(1816 - 81)

I>Usseldorf

in

healgymnasium

Ort

Arbeiten am grUnen Tisch;

Einflüese: Ernst Kapps B~ch "Philosophie der TeChnik" von 1877; künsterberg (Psychologie) ~. Wilhelm Roux (Entwicklungsmechnik);

ein Semester experimentelle Psychologie bei Hugo MUnsterberg gehijrt;

sitätea~sbildung;

L. bes~cht nur zwei Vorlesungen und kaum ein Praktikum in Chemie; systematisches Sichten von Zeitschriften ersetzen die angebotene Univer-

Raphsel Ed~ard Liesegang (L.) 1869 1947), 4 Brüder ' und 1 Schwester; L. hat ein a~sgezeichnetes Gedächtnis, doch kein ,Z ahlenverständnis; Schule: dreimaliges Sitzenbleiben;

Liesegangs gehijren dem liberalen Bürgertum an;

Johannes Paul Liesegang (18)8 - 1896), Berufe. Wissenschaftler ~. Pabrikant für Fotopapier u. ,Projektionstechnik;

Priedrich Wilhelm Liesegang (180) 1871), Ber~fe. Zeichenlehrer, Bild- ' hauer und SChriftsteller; ein Preund Preiliggraths;

Basisbedingungen (Reservoir,Potential) Ordn~ngsstr~kt~ren

Pernsehen. Fotografie durch den Telegrafendraht erscheint ihm mijgl1ch;

L.8 Traum vom

Laborgefäß mit wertvollem Inhalt zerschlagen, dara~fhin wird das UDiverd tätslabor gemieden;

herausgerissen, damit Heliochromieversuche durchgeführt;

Konfirmations~

silbernes ueckblatt a~s der

alt; über Herder Worte;

Enthemmung, moralische A~slijsung: Wagen, nicht n~ Wissen enhä~fenl

Hhapeodie. kechaDik der Ästhetik (1894);

Der ~onism~s. He~­ rietik der Erfindung ( 1892);

Elektrisches Pernsehen (1889);

der D~rchbruch. Gewißheit, eigene Gedanken z~ haben, über alle Maßen glücklich; Mechanisierung allen Geschehens ist die Erklärungsweise L.s: Komplexes bei Pflanze, Tier, ~ensch als Heuristik, um es in der Chemie experimentell nachzuahmen;

Sammlung über Potochemie ~nd Pl~ore8zenz (1888, ungedruckt);

ale 16/11jähri&er eine Malayische Grammatik mit Wijrterbuch verfaBt (ungedr~ckt);

k~nft

Samml~ng

Leistungen

L. meint, er sei ~nfähig, selbständige Gedanken z~ haben;

L. besitzt psychische Überhemmungen;

als Untersekundaner mit Frimaner über Geologie und Kants Kosmogonie debattiert;

Sch~le ist Zwang, deshalb passiver Widerstand;

Großvaters Bücher entdeckt, die waren leider WunSCh, allein z~ sein; schon 50 Jahre einseitig Interessen nachgehen;

Sing~laritäten

g

~ ä

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i

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c::::

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1900

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1894

technik

Frojektions-

und

Fotopapier

Fabrik für

väterliche

Wsseldorf,

L. ist ~itglied 1m Literaturverein, spielt 1m Theater den Cäsar,

zuerst Kooperation mit der GroBinduetrie (1904), dann Verkauf der Fabrik an Bayer (1908);

für die Strukturforschungen L.s, Wo. Köhler sieht darin Analogien zur Gestaltpsychologie; Ostwald prägt Begriff "Li.segang-Ringe" und erklärt das Fhänomen;

Verworn, Drude, Roux interessieren sich

W. Nernst über L.s Strukturuntersuchungen. Versuche dieser Art liegen mir nicht, das ist mehr die Linie W. Pfeffer, W. Ostwald;

des Forschers";

Fabrikforschung versus Laborforschung (Auseinandersetzung); Meinungen von KOllegen: Ausdehnung des Arbeitsgebietes "zerstöre den Charakter

zu sein;

Forschung tritt zugunsten der Technikbeaufsichtigung zurück; Konkurrenz um Hohpapier, Erfahrungen mit Fatentverkäufen: L. möchte kein Unternehmer mehr sein; so doch Fabrikerweiterung und ~aschi­ nen Einkauf: Geld verdienen, um frei

Fabr1kgeheimniase wahren zu mUseen. erbringt "neue Hemmung";

schinen, eigene aktive Re-aktion verhindert vorerst die industriemäßige FrOduktion;

neuas Fotopapier verlangt moderne Ma-

Erste Verheiratung (1895), L. übernimmt Leitung des LiesegangVerlags. betreut 3 Ztschr. u. 1 Jahrb.;

Man6el an Familiensinn;

allein zu sein, nur forschen;

Neigung zum SChweigen; Wunsch nach einem Gefängnis, um

finden: "Alles selbst machen I"

als'Titelloser' Anerkennung

Ehescheidung: ".at ? Ne' neue Frau 7" Flucht aus Jlüsse Idorf (1908);

Carl J)uisberg möchte nach Kauf des FotopapierBetriebes L. als Leiter haben doch Angebot abgelehnt. " Ich gehe in kein Gefängnis I"

Fabrikant

Forscher und

Forschung und zugleich als Fabrikant arbeiten - unmögliCh, L. möchte entweder freier Literat oder freier Naturforscher sein.

schreiben;

erst reifen lassen, dann auf-

scbes gern zurUckgenommen;

L. hätte mitunter zu Fhantasti-

laasen;

vom subjektiven Faktor leiten

müssen;

querel und M. Curie machen dann " Pläne ? Ja, um sie zu verändern !" die groBen EntL. möchte kein Lehrer se1n, um deckungen, nicht mit anderen arbeiten zu

genutzt, Bec-

Möglichkeit zur Bearbeitung der Joachimsthaler Uranerze nicht

1896 'rod des Vaters

Fhilosophie der Versöhnung (1906),

(1906),

Jenseits vom Nur

(1905),

Willensbefre1ung

Geschichtete Strukturen (1906),

Fhotographische Fhysik (1899),

Chemische Reaktionen in Gallerte (1898),

Das bist Du (1896), Kunstkritiker;

Lieasßang-Hinge (1896), Farbfofografie;

Fhotographische Chemie (1895),

Arrhenius-Hypothese vorweggenommen (1891);

zur Fotopapier-ForBchung (unveröffentl.),

20 000 Eintragungen

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1918

1912

einen Arbeitsplatz gefunden. keine zeitliche Bindung und nur vorübergehende Beteiligung an Institutsarbeiten;

Leiter des Narkotikadepots;

Umgang mit Malern, Musikern, Schauspielern;

wissenschaftlicher Anschluß in ~ar­ burg mißlingt. dortiger Physikochemiker ist ein Ostwald-Gegner, der Botaniker 1st zu alt, die experimentelle Psychologie zu neu; intensive Nutzung der Uni-Bibliothek, Experimente in der Wohnung durchgefUhrt; L. als nicht angestellter Mitarbeiter bei Edinger. Suche nach Antifakten;

L.s Wohnung wird "heimliches Konsulat für Nichtarier";

Balneologisches Institut, Bad Homburg, Frankfurt a.l4. Besuch des l4endelejew-Kongresses in Charkow (1932);

Institut für physikalische Grundlagen der medizin, Frankfurt a.lO)

verknüpft l7 • Das Auftreten dieser Zahlen läßt sich im Zusammenhang mit kultischen Bauten des Alten Ägypten und Sudan vermuten bzw. sogar nachweisen, wobei die Abgrenzung zu den Potenzen von 2 nicht scharf zu ziehen ist l8 • Immerhin treten in der Fibonacci-Folge 1, 1,2,3,5,8 ... die in der Kosmogonie wichtigen Zahlen ,,3" und ,,8" auf, die sich in den Gottertriaden und -achtheiten wiederfinden. Um den eventuellen "Kosmogonischen" Gehalt der iterativen Genierung (6) zu verdeutlichen, wurde diese in die Form des Schemas (7) gebracht. Aus der Einheit {1,1} entsteht durch Selbstorganisation die homogene Gesamtheit {2}. Die beiden Einsen sind hier als der Ausdruck der dualen Einheit zu verstehen, als die äußerlich nicht unterscheidbaren, aber potentiell und latent 14 Gardiner (FN 9), S. 460. 15 Gardiner (FN 9), S. 531. 16 Elisabeth-Christine Strauß, Die Nunschale - Eine Gefaßgruppe des Neuen Reiches (Münchner Ägyptologische Studien, Heft 30), München/Berlin 1974. 17 Nikolaj Nikolaevic Worobjow, Die Fibonaccischen Zahlen, Berlin 1971. 18 Vgl. Friedrich W. Hinkel, Pyramide oder Pyramidenstumpf? Ein Beitrag zu Fragen der Planung, konstruktiven Baudurchführung und Architektur der Pyramiden von Meroe (Teil A), in: ZÄS 108 (1981), S. 112, 115 - 116; Hans-Georg Bartei, Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen Pyramiden und Rechtecken im ägyptischen alten Reich, in: Altorientalische Forschungen 17 (1990), Heft 2, S. 223 - 243.

Der Aspekt der Selbstorganisation in altägyptischen Kosmogonien Einheit

(7)

203

heterogene Gesamtheit "absolut"

homogene Gesamtheit -----H~-:B

vorhandenen Seiten der einen Wesenheit. {2} ist noch kein Plural, da sie aus der Vereinigung der gleichartigen Teile der Einheit hervorging, 1 + 1. Erst die weitere Zusammenführung dieser Gesamtheit mit der Einheit, 1 + 2, ist heterogen, da sie aus verschiedenen Anteilen entstanden ist. Im Falle der ,,3" sind es die Einheit und der Dual, die hier den ersten wirklichen Plural bilden. Alle weiteren Bildungen (2 + 3, 3 + 5 ... ) verbleiben der Qualität nach in dieser heterogenen Gesamtheit. Daß das im alten Ägypten so empfunden wurde, zeigt sich z. B. darin, daß in der hieroglyphischen Schrift der Dual mit zwei, jeglicher Plural aber jeweils nur mit drei Strichen angezeigt wurde 19. In einer anderen Schreibmöglichkeit wurde für den Dual das entsprechende Zeichen zweimal, für den Plural dreimal aufgeführt 20. Aus dem Gesagten folgt sofort die Wichtigkeit der Zahlen ,,1", ,,2" und ,,3". Aber auch die Bedeutung der ,,5" und ,,8" läßt sich auf Grund der Bildung im Fibonacci-Schema andeutungsweise ableiten: Die ,,3" wird aus der homogenen Gesamtheit und der Einheit, die ,,5" aus der heterogenen Gesamtheit und einem Element der heterogenen Gesamtheit und erst die ,,8" und die weiteren Glieder der Folge werden nur aus Elementen der heterogenen Gesamtheit gebildet. Die ,,8" ist somit die kleinste Zahl einer quasi "absolut" heterogenen Gesamtheit, in dieser Hinsicht zeigt sie, wenn auch nuanciert, Ähnlichkeit mit der ,,3". Hinsichtlich des Zusammenhanges von Zahlenerzeugung und Schöpfung ist somit die ,,8" der Ausdruck der Vollendung, nach der qualitativ nichts Neues mehr geschieht. Die ,,9" ist wieder als Vereinigung der Vollkommenheit mit der vollkommenen Einheit oder als 3 . 3, d. h. als Plural des Plurals, Vollkommenheit der Vollkommenheit zu verstehen. In bezug auf weitere Bemerkungen zum Auftreten wichtiger Zahlen und Zahlenbeziehungen sei auf den speziellen Teil verwiesen 21. Es ist an dieser Stelle noch unbedingt zu betonen, daß die hier gegebenen Darlegungen nur Möglichkeiten im Sinne von Arbeitshypothesen aufweisen, also keinen Anspruch auf den Charakter von bewiesenen Aussagen legen.

19 20 21

Vgl. die Zeichen Z2-4 in: Gardiner (FN 9), S. 535 - 537. Vgl. Gardiner (FN 9), S. 58 - 61; Budge (FN 9), S. 107 - 109. Vgl. auch Kees (FN 12), S. 155 - 171.

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Hans-Georg Bartel und Jochen Hallof

6. Zahlen und Naturwissenschaft Es kann aber andererseits auf Grund der Ausführungen als gesichert gelten, daß die altägyptische Kosmogonie Gedankenführungen aufweist, die mit denen moderner Betrachtungen, die im Zusammenhang mit der Selbstorganisation stehen, in Übereinstimmung sind und in gewissem Sinne als vorweggenommenes, aber vergessenes Gut gelten können. Auch ist nicht daran zu zweifeln, daß mit diesen frühen Ideen abstrahierende Vorstellungen über das zustandekommen, die Bedeutung und Stellung bestimmter Zahlen, von denen die Zahl ,,2" einen zentralen Platz einnimmt, verbunden sind. Somit entstammen diese Zahlen und deren Beziehungen zueinander einer Erfahrungsgrundlage, die, zwar in mythologischkosmogonisches Gewand gekleidet, ursprünglich aber sicher aus der Natur genommen wurde, wobei das Phänomen der Selbstorganisation eine bedeutende Rolle spielte. Bedenkt man die ,,Rahmenwirkung" der Mathematik 22 und insbesondere der Zahlen und deren außerordentliche Wichtigkeit für die von ihr umgebenen Naturwissenschaften Physik, Chemie usw., so wird sofort verständlich, warum sich so bedeutende Mathematiker wie Dedekind (1831 - 1916) und Frege (1848 bis 1925) wiederholt der Herkunft der Zahlen und des Ursprungs der Arithmetik zugewandt haben, aber auch, warum ein Studium der altägyptischen Kosmogonie gerade aus diesem Blickwinkel so lohnend erscheint. Bei Dedekind läßt sich die Richtung auf die Physik und die weiteren Naturwissenschaften durch Angabe der Vorstufen "Menge" (bei Dedekind "System"), ,,zahl" und "Raum/Zeit" umreißen. In seiner Schift "Was sind und was sollen die Zahlen?" heißt es: ,,Indem ich die Arithmetik (Algebra, Analysis) nur ein Teil der Logik nenne, spreche ich schon aus, daß ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, daß ich ihn vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluß der Denkgesetze halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte Frage lautet: Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen." 23 Frege hatte anfangs die Arithmetik mit der Logik in Verbindung gesetzt, später aber mit der Geometrie (und damit bereits mit einer Stufe der Physik). In dem kleinen Aufsatz ,,zahlen und Arithmetik" schreibt er:

22 Hans-Georg Bartei, Physikalische Chemie .•. stationärer Kosmos. Zur Universalität des Physikers Walther Nemst, in: Uwe Niedersen (Hrsg.), Komplexität - Zeit Methode (III), Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale) 1988, S. 22 - 39; ders., Theoretische Chemie im Wandel, in: Spectrum 19 (1988), Heft 10, S. 22 - 24. 23 Richard Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen?, Berlin 1967, S. III.

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" ... bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Arithmetik und Geometrie auf demselben Grunde erwachsen sind und zwar auf geometrischem, so dass die ganze Mathematik eigentlich Geometrie ist."24, und in einem "neuen Versuch der Grundlegung der Arithmetik" von 1924 / 25: "Die Arithmetik braucht der Sinneswahrnehmung keinen Beweisgrund zu entnehmen ... Ich habe die Meinung aufgeben müssen, daß die Arithmetik ein Zweig der Logik sei ... , daß die Arithmetik der Anschauung keinen Beweisgrund zu entnehmen brauche, unter Anschauung verstehe ich die geometrische Erkenntnisquelle, die Erkenntnisquelle nämlich, aus der die Axiome der Geometrie fließen."25 In diesen Begründungen des Zahlenreiches spielt aber die Zahl ,,2" nicht die Rolle, die ihr offensichtlich in der Natur zukommt. Es ist also zu hoffen, daß der aus letztlich natürlicher Erfahrung herrührende Zugang zu den Zahlen im Alten Ägypten durch seine Betonung der Dualität Anstöße geben wird, die dazu führen, mit einem aus dieser Quelle stammenden, modifizierten Zahlenverständnis die grundlegenden Zusammenhänge in der Natur noch besser zu begreifen und abzubilden.

11. Spezieller Teil 1. Kosmogonien -

ihre Überlieferung und Bedeutung

Zusammenhängende Berichte über die Erschaffung der Welt sind uns nur wenige überliefert. Am bekanntesten dürfte wohl das theologische Traktat über die Erschaffung der Welt durch den Gott Ptah sein (der sogenannte SchabakoStein).26 Weitaus weniger bekannt ist die Erzählung über die Erschaffung der Welt durch die Göttin Neith, die uns aus den Inschriften des Tempels von Esna überliefert ist. 27 Den beiden genannten Texten lassen sich noch einige große Hymnen an den Gott Amun aus dem Neuen Reich (1550 - 1075 v. u. Z.)28 an die Seite stellen, in denen der Gott Amun zum Ruhme seiner Weltschöpfung rezitiert und gepriesen wird. 29 24 Gottlob Frege, Schriften zur Logik. Aus dem Nachlaß, Berlin 1973, S. 240 - 241. 25 Frege (FN 24), S. 242. 26 Vgl. Hermann Junker, Die Götterlehre von Memphis (Schabaka-Inschrift). Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1939, Phil.-hist. Klasse, Nr. 23, Berlin 1940; Hermann Schlägel, Der Gott Tatenen nach Texten und Bildern des Neuen Reiches. Orbis Biblicus et Orientalis 29, Fribourg I Göttingen 1980. 27 Serge Sauneron, Le Temple d'Esna II1, Le Caire 1969, Nr. 206; ders., Les fetes religieuses d'Esna aux derniers siecles du paginisme, Le Temple d'Esna V, Le Caire 1962, S. 253 - 271. 28 Zeitang!lben nach Jürgen von Beckerath, Handbuch der Ägyptischen Königsnamen, (Münchner Agyptologische Studien, Heft 20), München 1984, S. 158 - 166. 29 Jan Assmann, Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18. - 20. Dynastie, Orbis Biblicus et Orientalis 51, Fribourg I Göttingen 1983, S. 226 234.

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Was wir sonst noch über altägyptische Kosmogonien wissen, mußte recht mühsam aus vielen Anspielungen und Darstellungen, in denen auf Ereignisse der Weltschöpfung Bezug genommen wird, zusammengetragen werden. Manche auf diese Weise gewonnene Kosmogonie können wir sicher rekonstruieren, andere Vorstellungen bleiben für uns aber fragmentarisch. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß es im Gegensatz zur christlichen Religion keine einheitliche Vorstellung über die Erschaffung der Welt durch die Götter gab. Zentrale Figur der Kosmogonien ist ein göttlicher Weltschöpfer, der auf eine ihm spezifische Art und Weise die Welt formen oder den Formierungsprozeß in Gang setzen konnte. Die Kosmogonien überliefern uns verschiedene Gottheiten in der Rolle eines Schöpfergottes. Ihre Auswahl ist sowohl traditionellen Gründen wie uralten Mythen, in denen sie als Schöpfergott agierten, als auch politischreligiösen Motiven geschuldet. Wenn z. B. der Gott Amun seit dem Neuen Reich (1550 - 1075 v. u. Z.) in den Texten als Schöpfergott auftaucht - eine Rolle, die er bis dahin nicht spielte - , so ist dies direkt seinem Aufstieg zum überragenden "König der Götter" in dieser Zeit geschuldet. Bei den alten Ägyptern war Mythologie und die "Wissenschaft" von der Natur derart eng miteinander verschmolzen, daß eine wie auch immer geartete Darstellung der Welt und ihrer möglichen Entstehung vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus nicht angestrebt wurde - aber auch nicht zu erwarten war. Vielmehr sind wir gezwungen, aus den überlieferten Mythen und Anspielungen den rationalen Kern, d. h. vor allem die Denkansätze herauszuschälen. Hierbei stoßen wir sofort auf eine weitere Schwierigkeit, die im ägyptischen Denken begründet liegt: In ihm wird nichts vergessen und nichts ausgeschlossen. Neue Gedanken und Zusammenhänge, die im Laufe der Zeiten zu einem spezifischen Gegenstand (wie den Schöpfungsmythen) gefunden oder erschlossen wurden, baut man in die vorhandenen mythisch geprägten Strukturen ein, selbst wenn sie zu ihnen im Widerspruch stehen. Insofern bieten die erwähnten Kosmogonien ein schwer zu entwirrendes Knäuel von Widersprüchen und logischen "Ungereimtheiten", die durch die vielen sekundären Texte, Anspielungen und Darstellungen eher verstärkt als gelöst werden. So verschieden aber auch die Mythen über die Weltentstehung sind, gewisse Grundzüge sind ihnen gemeinsam. Sie stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, da in ihnen Aspekte stecken, die durchaus als Prinzipien der Selbstorganisation angesehen werden können.

2. Die Welt vor der Schöpfung Die Welt ist nicht aus dem Nichts hervorgegangen. Vor der Schöpfung existierte ein Urwasser, ägyptisch Nu (bzw. in Anlehnung an das Verb nini - "träge sein" Nun) genannt. 30 Woher dieses Urwasser kommt und wie es entstanden ist,

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darüber hüllen sich die ägyptischen Quellen in Schweigen. In den Texten wird es als schon ewig existierende träge, bewegungslose, in Dunkelheit gehüllte, grenzenlose Wasserwüste beschrieben, in der später die geschaffene Welt schwimmen und von ihr an allen Seiten umgeben sein wird. Die ägyptischen Theologen haben das U rwasser als "Negation der real existierenden Welt" angesehen und dementsprechend beschrieben. So heißt es in den um 2350 - 2200 v. u. Z. in den Begräbnispyramiden der in jener Zeit regierenden Pharaonen Unas, Teti, Pepi und Mentuhotep eingemeißelten Pyramidentexten, einer religiösen Spruchsammlung, die den verstorbenen Herrschern ein gesichertes Weiterleben im Jenseits garantieren sollten: "Dieser König (gemeint ist der verstorbene König, in dessen Pyramide dieser Spruch angebracht ist) wurde im Nun geboren, als der Himmel noch nicht existierte, als die Erde noch nicht existierte, als noch nichts existierte, das einst existieren wird "31

Das Urwasser war schon vor der eigentlichen Schöpfung existent. In dieser liquiden Substanz, deren geistige Nähe zur jährlichen Nilüberschwemmung unleugbar ist (viele Texte sehen das Urwasser als Quelle des Nilwassers an), ruhen die schöpferischen Kräfte, die die Schöpfung zuwerke bringen. In der Literatur wird der Begriff Nun oft mit "Chaos" übersetzt. Obwohl man diese Übersetzung nicht wählen sollte, da ihr ein bestimmter pejorativer Gehalt innewohnt, drückt sie einen wichtigen Aspekt des "Nun" sehr prononciert aus: seinen ungeordneten Zustand. 3. Das "Erste Mal" der Weltentstehung

Am Tag des "Ersten Mals" fand ein geheimnisvolles Ereignis statt: Aus dem Urozean heraus entstand der Weltschöpfer. Dieses Ereignis wird in einer dem Gott Atum - einem der Schöpfergötter - in den Mund gelegten Rede reflektiert, die uns im Spruch 714 der Sargtexte, einer Sammlung religiöser Sprüche auf Särgen des Mittleren Reiches (ca. 2000 - 1870 v. u. Z.) überliefert ist. 32 Atum sagt von sich selbst: ,,Ich bin das Urwasser, indem ich allein bin, ohne daß es einen Zweiten gibt. Es geschah mir zum großen Zeitpunkt meines Schwimmens, daß ich existierte. Ich bin der, der sich entwickelte, der kleine Kreis, der in seinem Ei war. In bin der Eine, der zuerst begann, im Urwasser zu existieren. Siehe, die Urwasserflut, aus ihr kam ich heraus. Siehe, ich bin übriggeblieben. Durch mein Wirken brachte ich meinen Körper hervor ... Ich bin es, der sich selbst erschuf." 33 30 J. P. Allen, Genesis in Egypt. The Philsophy of Ancient Egyptian Creation Accounts, Yale Egyptological Studies 2, New Haven, Connecticut 1988, S. 4. 31 Kurt Sethe, Die altägyptischen pyramidentexte, Leipzig 1908 - 1922, J 1040 a - d. 32 Adriaan de Buck / Alan H. Gardiner, The Egyptian Coffin Texts, Vol. VI: Texts of speils 472 - 786, The University of Chicago, Oriental Institute Publications Vol. LXXXI, Chicago, III, 1956, S. 343. 33 Übersetzung nach Allen (FN 30), S. 13.

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Dieser geheimnisvolle Vorgang wird durch keinerlei äußere Kräfte oder Einflüsse in Gang gesetzt. Im Gegenteil: Die Texte betonen immer wieder, daß der Gott "aus sich selbst heraus" entstanden ist. Er wird daher oft mit dem Beinamen "der Einsame" versehen. Der Beiname resultiert auch aus der Vorstellung, daß der entstandene Schöpfergott weder Vater noch Mutter hat, d. h. zum Zeitpunkt seiner Selbstschöpfung allein existierte. Ein weiterer Beiname, der den Schöpfergöttern zuerkannt wird, lautet: "Vater der Väter, Mutter der Mütter". Der Beiname drückt zweierlei aus: zum einen, daß dieser Gott alle zukünftigen Mütter und Väter erschaffen wird, zum anderen, daß er Mutter und Vater in einem ist, d. h. nach altägyptischen Vorstellungen als hermaphroditisches Wesen galt. Beide Beiworte finden wir in der Charakterisierung der Schöpfergöttin Neith innerhalb der Kosmogonie von Esnaß wieder, die lautet: "Vater der Väter, Mutter der Mütter, Göttliche, die zuerst existierte, indem sie sich inmitten des Urgewässers befand, die aus sich selbst herauskam, als die Erde noch in Dunkelheit und Finsternis war und das Land noch nicht herausgekommen war und die Pflanzen noch nicht in die Höhe getrieben waren."34 Der Vorgang des Entstehens wird altägyptisch mit dem Wort cheper bezeichnet. Cheper im Kontext der Schöpfung bedeutet letztlich die materielle Verwirklichung einer bereits virtuell bestehenden Wesenheit, 35 d. h. weniger "Schöpfung" als vielmehr ,,Änderung eines Zustandes" und hier im konkreten Fall die Umwandlung des ungeformten, unorganisierten Urgewässers in ein materielles Wesen, den Schöpfergott. Dieser trägt alle Elemente der weiteren Schöpfung in sich, die er im weiteren Verlauf seiner Tätigkeit freisetzt und die in ihrer Gesamtheit die Summe aller Kräfte und Elemente der geordneten Welt ausmachen. Am Tage des "Ersten Mals" wird somit der Schöpfungsprozeß durch die Entstehung des Schöpfergottes in Gang gesetzt. Es wird der Weg freigemacht, daß sich aus der uranfänglichen Einheit die Vielfalt der Welt entwickeln kann. 36 Diese Vielfalt ist im Gegensatz zum vorher existierenden Urwasser ein geordnetes System, in der alle schon geschaffenen oder noch zu schaffenden Elemente (wie Luft, Erde, Himmel, Licht, Wasser etc. - oft in Form von Gottheiten personifiziert) ihren festen Platz haben und in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Für diese "richtige Weltordnung" haben die Ägypter einen eigenen Begriff geschaffen: Ma'at. Bei der Schöpfung wird nur ein Bruchteil des Urwassers umgewandelt. Das Urwasser selbst bleibt auch nach dem Schöpfungsakt allgegenwärtig, umgibt das geordnete Gebilde und bedroht dessen Existenz. Gegen diese tagtägliche Bedrohung galt es, das geordnete System in Balance zu halten. 37 34 Übersetzung nach Sauneron, Les fetes (FN 27), S. 253. 35 Sauneron, Le Temple (FN 27), S. 253; ders.1 Jean Yoyotte, Sources orientales 1.: La Naissance du Monde, Paris 1959, S. 27 - 28. 36 Allen (FN 30), S. 29 - 30, S. 36.

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Natürlich hat der Schöpfergott immer einen konkreten Namen. Uns sind aber interessanterweise bis auf die Göttin Neith nur männliche Schöpfergottheiten überliefert. Als Göttin scheint Neith im Pantheon der Urgötter eher eine Ausnahme darzustellen, obwohl dem hermaphroditischen Charakter zufolge der Urgott durchaus auch weiblichen Geschlechts sein konnte. Es ist wohl anzunehmen, daß Neith erst sekundär in diese Rolle schlüpfte. Mit den vielen unterschiedlichen Schöpfergottheiten tritt uns aber auch eine oft an die jeweilige Gottheit gebundene und auf ihren Hauptkultort lokal begrenzte Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen über die konkrete Gestaltung der weiteren Weltschöpfung und der Rolle, die der Schöpfergott spielt, entgegen. Die verschiedenen Kosmogonien sind nicht zeitgleich entstanden. Die ältesten für uns faßbaren Vorstellungen über die Entstehung der Welt sind mit dem Gott Atum und der Stadt Heliopolis verbunden. In den oben erwähnten Pyramidentexten finden wir schon grundlegende Aussagen zur Erschaffung der Welt aus dem Urozean durch diesen Gott. Im Mittleren Reich (2065 -1781 v. u. Z.)trittunsdieausHermopolisstammende und an die dort verehrten vier Urgötterpaare gebundene Weltschöpfung entgegen. Das Neue Reich (1550 - 1075 v. u. Z.), die wohl größte Blütezeit der ägyptischen Geschichte, brachte die mit den Göttern Amun und Ptah verbundene thebanische bzw. memphitische Variante der Weltschöpfung hervor. Doch auch aus dem Ende der ägyptischen Geschichte, der Ptolemäer- und Römerzeit (332 v. u. Z. - 379 u. Z.) - einer Zeit, die oft als Niedergang charakterisiert wirdsind uns noch Kosmogonien (wie z. B. die latopolitanische aus Esna) überliefert und legen Zeugnis von der geistigen Regsamkeit dieser Zeit ab. Auf die erwähnten Kosmogonien sei im folgenden eingegangen.

4. Die Weltschöpfung nach heliopolitanischen Vorstellungen Vom antiken Heliopolis, das nordwestlich vom heutigen Kairo zu lokalisieren ist, sind kaum mehr Reste vor Ort erhalten. In der einstigen Hauptstadt des dritten unterägyptischen Verwaltungsbezirkes wurde seit alters her der Sonnengott (hieraus leitet sich auch der Name der Stadt her: Helios: Sonne, Polis: Stadt) in seinen verschiedenen Erscheinungen und Namen verehrt. Einer der verehrten Gottheiten war Atum, der nicht nur als Sonnen-, sondern vor allem als Schöpfergott und in Kombination beider Aspekte als Beginn und Quelle, aber auch (im Zusammenhang mit dem Sonnenuntergang und der Vorstellung der Nacht als Zeit des Todes) als Ende allen Lebens angesehen wurde. Alle Zeugnisse betonen, daß Atum aus sich selbst entstanden ist. Nach seiner Entstehung schuf er dann als Bestandteil seiner selbst eine Folge von Götterpaaren, mit deren Hilfe er die Schöpfung vollendete. In der Reihenfolge erzeugte Atum durch Sekretion (entwe37

Allen (FN 30), S. 57.

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der durch Speichelaus\yurf oder Masturbation) das Götterpaar Schu und Tefnut. Hierbei gilt Schu als Personifizierung der Luft und des Lichtes und Tefnut als Personifikation der Feuchtigkeit. Feuchtigkeit, Luft und Licht bilden nun die Voraussetzung zur Erzeugung des zweiten Götterpaares: Geb und Nut. Von den beiden durch Schu und Tefnut geschaffenen Göttern galt Geb als Inkarnation der Erde, ja sogar als Erdgott selbst, dem später die Aufgabe zufiel, Pflanzen und Minerale zu schaffen. Die Göttin Nut wurde mit dem Himmel identifiziert. Zwischen beide Götter, Nut und Geb (d. h. Himmel und Erde), schob sich zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schöpfung der Luftgott Schu und hob den Himmel empor. Jetzt war der Weg frei, daß die Erde mit Lebewesen bevölkert werden konnte. Der Überlieferung nach waren dies als erstes die Göttergeschwister Osiris, Isis und Seth, alles Kinder von Geb und Nut. Von Osiris, dem ersten Herrscher auf Erden, leiten schließlich alle späteren ägyptischen Pharaonen ihre Herkunft ab. Die Zahl dieser Göttergeschwister schwankt. Viele Texte zählen noch die Göttin Nephthys als Schwester der Isis hinzu. Damit wären neun Gottheiten existent. Die Zahl 9 spielt in den ägyptischen Vorstellungen eine große Rolle. Sie steht als Ausdruck des absoluten Plurals (3 . 3) für die endg\iltige Vollkommenheit und Vollendung eines Systems, hier der Schöpfung (vgl. auch die Ausführungen im allgemeinen Teil). Nun zu einigen ägyptischen Aussagen. In den Pyramidentexten lesen wir: ,,Atum offenbarte sich unter der Gestalt eines Selbstbefriedigers in Heliopolis. Er nahm seinen Phallus in seine Faust. Ein Zwillingspaar kam zur Welt, Schu und Tefnut."38 Die gleiche Aussage finden wir in einem magischen Ritual aus späterer Zeit wieder. 39 Dort berichtet Atum: "Ich vereinte mich mit meinem eigenen Leib, so daß sie aus mir hervorgingen, als ich mit meiner Faust Erregung erzeugt hatte und mein Verlangen Wirklichkeit geworden war durch meine Hand, als mein Same aus meinem Mund gefallen war. Ich spie aus als Schu und warf Speichel aus als Tefnut. Ich war entstanden als ein einziger Gott und siehe, drei Götter waren es, zu denen ich geworden bin .... Schu und Tefnut brachten Geb und Nut zur Welt, Geb und N~t brachten aus ihrem Leibe nacheinander Osiris, Horns, Seth, Isis und Nephthys zur Welt, und diese brachten eine Menge (von Dingen) zur Welt."40 Wir haben in der heliopolitanischen Weltschöpfung einen stufenförmigen Aufbau vor uns, bei dem die Fibonacci-Zahlenreihe eine gewisse Rolle zu spielen 38 Sethe (FN 31), J 1248. 39 Die Schöpfunsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten. Mit einem Vorwort von Mircea Eliade. Berechtigte Übertragung aus dem Französischen unter Zugrundelegung der deutschen Textausgabe von Elisabeth Klein unter Mitarbeit von Wolfgang Schenkel und Ouo Roessler. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage, Darmstadt 1980, S. 67. 40 Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 70 -71.

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scheint: ein Gott erzeugt ein Götterpaar, zu diesen drei Personen gesellt sich ein weiteres Paar, denen in der nachfolgenden Generation drei Göttergeschwister (Osiris, Seth, Isis - die im Text erwähnten Götter Horus und Nephthys stellen schon eine Erweiterung des ursprünglichen Personenkreises dar) folgen. 5. Die Weltschöpfung nach hermopolitanischen Vorstellungen

Die Fibonacci-Zahlen waren nicht das einzige und auch nicht das dominierende Zahlensystem, das altägyptischen kosmogonischen Vorstellungen unterlegt werden kann. Das wird besonders an der mit der Stadt Hermopolis verbundenen Kosmogonie deutlich. Die in Mittelägypten ca. 250 km südlich von Kairo gelegene Stadt Hermopolis besaß in ägyptischer Zeit den Namen Schmunu - "acht". Der Name weist auf die in dieser Stadt verehrten vier Paare von Urgöttern hin, die die vier charakteristischsten Eigenschaften des Urwassers personifizieren. Es sind dies: Nun und Naunet - das Urwasser Huh und Hauhet - die räumliche Endlosigkeit Kuk und Kauket - die undurchdringliche Dunkelheit Amun und Amaunet - die unsichtbare Verborgenheit. Diese acht Gottheiten sind: "die Paare, die das Licht schufen, die Väter und Mütter des Re (des Sonnengottes), die Göttervorfahren, die den Gott des Horizontes machten."41 Sie sind es, die den eigentlichen Weltschöpfer entstehen lassen: den Sonnengott. Dies konnte auf verschiedene Weise geschehen. Eine entscheidende Rolle spielt in allen Versionen aber der Urhügel. Der Urhügel ist das erste Stück Land, das durch die Tätigkeit der Urgötterpaare aus dem Urwasser emportaucht. Auf ihm konnte sich der Urlotos entfalten oder konnte das Urei abgelegt werden, aus dem der jugendliche Sonnengott herausschlüpfte und die Vollendung der Schöpfung in Angriff nahm. Die eigentlichen Urgötter greifen nicht mehr in die Schöpfung ein, sie verhalten sich passiv. Unter den Darstellungen an Tempelwänden finden wir öfter Szenen, in denen der König den Göttern Lotos als Opfergabe darbringt. In den dazugehörigen Beischriften finden sich interessante Aussagen zur Funktion des Lotos. So heißt es in einer Szene auf den Wänden des Edfu-Tempels: 42 "Ihr (gemeint sind die vier Urgötterpaare) habt aus einer von euch ausgestoßenen Flüssigkeit einen Keim gemacht, ihr habt diesen Samen auf den (Lotos) ausgegossen . . . . Ihr habt sie im Urozean niedergelegt. ... und euer Erbe entstand."43

41 Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 74. Maxence de Rochemonteix / Emile Chassinat: Le Temple d'Edfou IV, Le Caire

42

1929, S. 139. 14*

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Und zum Urei findet sich folgende Aussage: "Du (gemeint ist der Sonnengott) bist hoch hinaufgestiegen, als du aus dem geheimnisvollen Ei (hervorkamst) als Kind der Acht (d. h. der vier Urgötterpaare)."44

6. Die Weltschöpfung nach memphitischen Vorstellungen Hauptgott der 25 km südlich vom heutigen Kairo gelegenen altägyptischen Stadt Memphis war der Gott Ptah, der hier einen der größten Tempel des Landes besaß. Als Gott der Handwerker, der mit seinen Händen Lebewesen und Gegenstände formte, war er besonders geeignet, die Funktion eines Schöpfergottes zu übernehmen. Die wichtigste Quelle, die uns über die Weltschöpfung durch den Gott Ptah Auskunft erteilt, ist der schon erwähnte "Schabako-Stein". Der auch unter dem Namen "Denkmal memphitischer Theologie" in der Literatur bekannte, heute im British Museum aufbewahrte Stein, enthält den Text einer auf Befehl des Pharaos Schabako (Regierungszeit: 713 - 698 v. u. Z.) angefertigten Kopie eines "von Würmern zerfressenen" Papyrus. Das dadurch der Nachwelt erhalten gebliebene theologische Traktat ist wohl gegen Ende des Neuen Reiches, in der Ramessidenzeit (1291 - 1075 v. u. Z.) verfaßt worden. 45 In ihm lesen wir: "Es hat etwas Gestalt als Herz. Es hat etwas Gestalt als Zunge. Es ist Ptah, der ,Sehr Große', da er [Leben] überwiesen hat allen Göttern und ihren Kas (d. i. eine Art Seele) durch dieses Herz und diese Zunge. Es haben das Herz und die Zunge Macht über alle (anderen) Glieder ... indem das Herz alles denkt, was sie will . . . . Das Sehen der Augen, das Hören der Ohren, das Luftatmen der Nase, sie erstatten dem Herzen Meldung. Es ist es, das jede Erkenntnis hervorkommen läßt; die Zunge ist es, die wiederholt, was vom Herzen erdacht wird. So wurden alle Götter geschaffen. . . . Es entstand ja jedes Gotteswort durch das, was von dem Herzen erdacht und von der Zunge befohlen wurde. . .. Man nennt Ptah ,Der das All schuf und die Götter hervorbrachte'. Er ist ja Ta-tennen, der die Götter schuf, aus dem alle Dinge hervorgegangen sind, an Speise und Nahrung, an Opfern der Götter, an guten Dingen .... So war Ptah zufrieden, nachdem er alle Dinge und alle Gottesworte gemacht hatte. Er schuf die Götter, er machte die Städte, er gründete die Gaue, er setzte die Götter auf ihre Kultstätten, er setzte ihre Opfer fest, richtete ihre Heiligtümer ein, er machte ihren Leib so, wie sie wünschten. So sind alle Götter bei ihm versammelt, ... zufrieden und vereint."46 Gegenüber den schon vorgestellten Kosmogonien läuft nach dieser die Weltschöpfung etwas anders ab. Während dort der Schöpfergott die Welt durch sein Handeln unmittelbar einrichtet und gestaltet, erdenkt sich Ptah die Welt vorher durch sein Herz und setzt dann mittels Befehlen sein Konzept in die Realität Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 79. 44 Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 81. 45 Schlögel (FN 26), S. 110 - 117. 46 Übersetzung nach Junker (FN 26), S. 40,48,58,59,63,65; vgl. auch Allen (FN 30), S. 42 -47. 43

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um. In der Reihenfolge schuf er zuerst die Götter und dann die anderen Lebewesen. Obwohl nicht explizit ausgedrückt, wird aber auch in dieser Kosmogonie vorausgesetzt, daß Ptab der erste selbstentstandene Gott gewesen ist. 47 Die Umsetzung seiner Vorstellungen in die Realität konnte Ptab auch durch handwerkliche Tätigkeit erreichen. Diesen Aspekt stellen andere Texte in den Mittelpunkt. So wird in einer um 1100 v. u. Z. entstandenen Hymne aus dem Neuen Reich Ptab mit folgenden Epitheta geschmückt: "Gegrüßt seist du, 0 Ptah, angesichts deiner Götter, die du gemacht hast, nachdem du entstanden warst als Gott. . .. Du Gott, der die beiden Länder geformt hat. Du hast keinen Vater, der dich gezeugt hat, als du entstandest. Du hast keine Mutter, die dich geboren hat .... Was dein Mund gezeugt hat und deine Hände geschaffen haben, du hast es aus dem Urwasser herausgenommen. Das Werk deiner Hände ist deiner Schönheit angeglichen."48 7. Die Weltschöpfung nach thebanischen Vorstellungen Zentralgott der thebanischen Schöpfungsvorstellungen war der Gott Amun, dessen Schicksal eng mit der politischen Bedeutung Thebens als Hauptstadt Ägyptens im Mittleren (2065 - 1871 v. u. Z.) und Neuen Reich (150 - 1075 v. u. Z.) verknüpft war. Mehrere große Amun-Hymnen berichten uns detailliert über den Ablauf der Schöpfung. 49 Gemäß diesen entstand Amun im Urwasser. Nach seiner Entstehung erdenkt sich Amun einen Schöpfungsplan, den er Stück für Stück in die Tat umsetzt. Er erschafft Erde und Himmel, hebt den Himmel empor, erzeugt das Licht für seine Geschöpfe, gründet den die Erde umgebenden Ozean und das lebenspendende Wasser und formt die Lebewesen. Ihnen haucht er Fortpflanzungsfähigkeit ein, und differenziert sie schließlich nach Sprache und Hautfarbe. 50 In dieser Konzeption begegnet uns viel Gedankengut, das uns schon aus der memphitischen Theologie bekannt ist. Auch hier erdenkt sich der Schöpfergott einen Plan, den er dann Schritt für Schritt verwirklicht. Dennoch sind die Theologen noch einen Schritt weitergegangen. Wenn es in einem kultischen Hymnus aus der Zeit um 1300 - 1200 v. u. Z heißt: "Die Achtheit (d. h. die vier Urgötterpaare) war deine erste Erscheinung, bis du ihre Zahl vollendetest als der Eine ... ; du verwandelst dich in Ta-tennen, um die Urgottheiten zur Zeit deines Uranfangs zur Welt zu bringen.... Du bist als erster entstanden, als noch nichts vorhanden war."51, Allen (FN 30), S. 60. 48 Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 85 - 86.

47

Assmann (FN 29), S. 226 - 234. Jan Assmann, Artikel "Schöpfung", in: Lexikon der Ägyptologie, Bd. V, Wiesbaden 1984, Spalte 683 - 684. 51 Übersetzung nach Schöpfungsmythen (FN 39), S. 89. 49

50

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kann das nur dahingehend interpretiert werden, daß Amun nicht nur die Welt, sondern auch deren materielle Voraussetzung, das Urwasser, geschaffen hat. Dieses schafft er zuerst (und ist als PersonifIkation der "unsichtbaren Verborgenheit" auch ein Teil dieser Substanz) und formt dann zu einem späteren Zeitpunkt aus diesem Stoff die Welt. 52 Zwar ist Amun wie alle anderen Schöpfergötter von selbst entstanden, jedoch diesmal aus sich selbst heraus, denn außer ihm existierte nichts. Dieses theologische Konzept führt schon nahe an das der christlichen Weltschöpfung heran, wie es in der Bibel (1. Mose 1,1 - 31) überliefert ist - der ewig und vor allem anderen existierende Gott erschafft die Welt durch seine Aussprüche. Eigenständige alte lokal-thebanische Vorstellungen zur Weltschöpfung klingen nur in wenigen Texten an, etwa dann, wenn in einem der Texte ausgeführt wird, daß die Sonne die Tochter eines Schlangengottes, Ir-ta, sei, der wiederum von der geheimnisvollen Urschlange Kematef geboren wurde. Beide Reptile gelten als Erscheinungsform des Amun. 53

8. Die Weltschöpfung nach latopolitanischen Vorstellungen Auf den Wänden des Tempels von Esna, einer Stadt 60 km südlich von Luxor, die von den Griechen Latopolis genannt wurde, ist eine weitere vollständige Kosmogonie aus der Zeit des römischen Kaisers Trajan (Regierungszeit: 98 bis 117 u. Z.) erhalten geblieben. Der Tempel, von dem nur noch die Vorhalle stehenblieb, ist dem widderköpfIgen Gott Chnum geweiht. Er spielt aber bei der Weltschöpfung keine Rolle. Hauptakteurin ist die Göttin Neith. Sie ist die: "Göttliche, die zuerst existierte, indem sie sich befand in der Mitte des Urgewässers, die aus sich selbst herauskam .... Sie wandelte ihre Gestalt in eine Stierin (sie!), die die Götter an all ihren Aufenthaltsorten nicht kennen. . .. Sie ließ hellwerden die strahlenden Blicke ihrer Augen. Es entstand die Helligkeit. Da sagte sie: ,Ach gäbe es doch für mich eine Erdaufschüttung inmitten des Urgewässers, damit ich auf ihr Halt fande'. Dieser Ort, er wurde gegründet ... wie sie es gesagt hatte .... Sie schuf die dreißig Götter, indem sie ihre Namen einen nach dem anderen aussprach .... Dann sprach sie: ,Ein hochheiliger Gott wird sogleich entstehen' .... Da wurde dieser Gott (der Sonnengott) aus dem Körpersaft, der aus ihrem (Neiths) Fleisch herauskam und den sie in das Innere des Körpers dieses Ureis gegeben hatte, geboren. Das Ei zerbarst das Urgewässer.... Re ist es (der Sonnengott). Er hatte sich verborgen gehabt inmitten des Urgewässers. Seine Mutter, die Stierin, rief mit starkem Schall ihrer Stimme: ,Komme zu mir, komme zu mir' .... Es kam dieser Gott .... Er warf sich an ihren Hals .... Dann weinte er in das Urgewässer hinein .... Es wurden die Menschen aus den Tränen seines Auges geboren. Er 52

Allen (FN 30), S. 60 - 61.

Kurt SeIhe, Amun und die acht Urgötter von Hermopolis. Eine Untersuchung über Ursprung und Wesen des ägyptischen Götterkönigs, Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Nr. 4, Berlin 1929, JJ 106, 110, 115. 53

Der Aspekt der Selbstorganisation in altägyptischen Kosmogonien

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speichelte, als er sie (d. i. Neith) wiedersah. Es entstanden die Götter aus dem Speichel seiner beiden Lippen. . .. " S4 Damit ist die eigentliche Weltschöpfung beendet. Der nachfolgende Text berichtet lediglich von Kämpfen des Sonnengottes gegen seine Feinde, der Ankunft der Göttin Neith in Esna und der Einführung ihres Kultbildes in den dortigen Tempel. In dieser Weltschöpfung ist der Sonnengott der eigentlich Handelnde, der die Welt einrichtet und die Menschen und Götter erzeugt. Aber er ist das Kind einer Gottheit, die ihrerseits aus dem Urgewässer hervorgegangen ist, das Fundament für seine Existenz und sein Wirken (Licht, Urhügel, Ei, Körpersäfte) legt und damit diejenige ist, die die Schöpfung auslöst. Gleichberechtigt neben Neith wird in zahlreichen Texten dem Tempelherrn selbst die Rolle als Weltschöpfer zuerkannt. Ähnlich Ptah prädestiniert ihn seine Funktion als Töpfergott für diese Aufgabe, und viele Hymnen preisen ihn dahingehend. "Preis dir, Chnum! ... Du bist der Meister der Töpferscheibe, dem es gefällt auf der Scheibe zu bilden, der wohltätige Gott, der das Land belebt, der die Keime der Erde (miteinander) in Berührung bringt. ... Du bist der Allmächtige ... du hast die Menschen auf der Scheibe gebildet, du hast (die Götter) geschaffen, Kleinvieh und Großvieh hast du gestaltet, alles hast du auf deiner Scheibe gebildet täglich in deinem Namen Chnum, der Töpfer."s5 Eine vollständige Kosmogonie ist uns aber im Gegensatz zu derjenigen der Göttin Neith nicht überliefert. 9. Das WeItende

Die Welt kann auf vielerlei Arten geschaffen werden. Doch genauso wie die Welt zu irgendeinem Zeitpunkt eingerichtet wurde, kann dieses geordnete System auch wieder zugrundegehen, zumal die Welt zwar geordnet, aber letztlich ein Gebilde von im Gleichgewicht gehaltenen Gegensätzen war. 56 Beschreibungen vom WeItende sind uns nur selten überliefert. Das kann auch gar nicht anders sein, bestand doch das Streben der Ägypter darin, mittels kultisch ausgeübter Religion den geordneten Zustand zu erhalten und einen Rückfall in das Chaos zu verhindern. Die Gefahr des Vergehens der Welt war immer gegeben. Zu drei Zeitpunkten war die Weltordnung besonders gefährdet: a) am Morgen eines jeden Tages. Hier stand vor dem Ägypter die bange Frage, ob es das Sonnenschiff auch diesmal geschafft hat, durch die mit gefährlichen 54 55 S6

Sauneron, Le Temple (FN 27), Nr. 206, I - 12. Sauneron, Le Temple (FN 27), Nr. 319,16 - 17. Allen (FN 30), S. 57.

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Wesen bevölkerte Unterwelt zu kommen und am östlichen Horizont aufzutauchen. b) am Jahresanfang, der mit dem Beginn der jährlichen Nilüberschwemmung einherging, die für die ägyptische Landwirtschaft von überragender Bedeutung war und deren Ausbleiben eine katastrophale Hungersnot nach sich zog. c) beim Tod des Pharaos. Als alleiniger Mittler zwischen Mensch und Gott war er der entscheidende Garant für die Stabilität der Weltordnung. Mit ihm starb die einzige Person, die die Macht besaß, direkt mit den Göttern in Kontakt zu treten und von ihnen Dauer, Glück, Reichtum, Macht aber auch ein starkes Königtum und eine gesicherte Weltordnung als Gegengaben für die kultischen Opfer wie Brot, Bier, Wein, Rinder, Geflügel, Öl, Weihrauch und vieles andere mehr zu erlangen. Die möglichen Folgen waren schrecklich: "Die Zeiten (d. h. Tag und Nacht) sind nicht getrennt. Man kann nicht Körper von Schatten unterscheiden. Die Quellöcher (des Nils) sind verstopft. Das Haar der Erde (d. h. Pflanzen und Bäume) ist verdorrt. Leben ist den Lebenden genommen.", heißt es in einem Zauberspruch. 57 Ein weiterer Text erwähnt unter den Erscheinungen des Weltuntergangs das Herauflodern einer Flamme aus der Mitte des Urwassers und deutet damit einen alles vernichtenden Weltbrand an. 58 Letztlich "wird sich der Himmel mit der Erde vereinen".59 Was wird aus der Welt nach dem Weltende? Darüber gibt Spruch 175 des Totenbuches Auskunft. Als der Schöpfergott Atum den Totengott Osiris in sein Reich einführt, fragt dieser: "Was ist meine Lebenszeit?" Hierauf entgegnet Atum: "Du wirst (länger) leben als Millionen von Millionen nämlich eine lange Lebenszeit von Millionen an Jahren. Ich werde aber die alten Götter vernichten und alles zerstören, was ich geschaffen habe. Die Erde wird wieder zu Urwasser, zu einer wogenden Flut, wie sie es in ihrem einstigen (Zustand) war. Ich werde übrigbleiben mit Osiris. Ich werde mich wieder in etwas anderes, nämlich in eine Schlange verwandeln, welche die Menschen nicht kennen und die Götter nicht (mehr) sehen." 60

57 Übersetzung nach Siegfried Schott, Altägyptische Vorstellungen vom Weitende, Studia Biblica et Orientalis 3: Oriens Antiquus, Roma 1959 = Analecta Biblica 12, 1959, S.323. 58 Vgl. Laszlo Kdkosy, Schöpfung und Weltuntergang in der ägyptischen Religion, Studia Aegyptiaca VII, Budapest 1981, S. 62. 59 Schott (FN 57), S. 328. 60 Übersetzung nach Schott (FN 57); vgl. auch Raymond O. Faulkner, Tbe Ancient Egyptian Book of the Dead, London 1985, S. 175.

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Die Welt ist wieder in ihren Urzustand zurückgefallen. Inwieweit von ihm aus noch einmal ein geordnetes System entstehen kann, darüber haben uns die Ägypter keine Aussagen hinterlassen. 61 10. Zusammenfassung

Die Ausführungen konnten nur einen beschränkten Ausschnitt aus der Fülle der altägyptischen Vorstellungen zur Weltschöpfung wiedergeben. Zu vielschichtig und zu verwoben sind die verschiedenen theologischen Konzepte, als daß sie hier mit der ihnen gebührenden Vollständigkeit und Tiefe hätten vorgestellt werden können. Hinzu kommt, daß die zitierten ägyptischen Texte aus einem Zeitraum von über 2500 Jahren stammen, in denen die Vorstellungen über die Weltschöpfung Wandlungen erfahren haben, die hier nur partiell nachvollzogen werden konnten. Hier kam es vor allem darauf an, innerhalb des zeitlich differenzierten Materials Grundaussagen offenzulegen. Allen Kosmogonien liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Welt ein geordneter Zustand ist, der sich aus einem ungeordneten entwickelt hat. Diese Entwicklung geschah aus sich selbst heraus - keiner der Schöpfergötter entstand durch einen äußeren Anstoß. Erst in diesem geordneten System war Leben und Existenz möglich, konnten Menschen, Götter, Tiere und Pflanzen entstehen. Die Vorstellungen vom Chaos und der Selbstorganisation des Kosmos sind somit 2 000 Jahre älter, als es W. Ebeling annahm. 62 Das selbstorganisierte System mußte ständig durch Erneuerung der es tragenden Kräfte aufrechterhalten werden. Sind sie verbraucht, war das Gleichgewicht der Kräfte in Gefahr und es drohte der Zusammenbruch. Dieser Zustand wurde in zyklischen Abständen (Tagesbeginn, Jahresanfang) oder zu diskreten Zeitpunkten (Tod des Pharaos) erreicht. Zu diesem Zeitpunkt griff der Ägypter mit Hilfe des Kultes ein, regenerierte die ordnenden Kräfte und stabilisierte das selbstorganisierte Weltsystem. 63 Schöpfung bedeutet letztlich die Entwicklung der Vielfalt aus der Einheit. 64 Aus dem selbstentstandenen, allein seienden Schöpfergott entstehen neue Gottheiten, Lebewesen oder Dinge, die in ihrer Verflechtung und Beziehung zueinander die Qualität der Welt bestimmen. Bei diesem Prozeß scheint ein "numerischgenealogisches Ordnungssystem"65 eine bedeutende Rolle gespielt zu haben, dergestalt, daß ein geordneter Zustand erst dann erreicht war, wenn eine bestimmte Anzahl von Gottheiten existierte. 61

Kakosy (FN 58), S. 68.

62 Vgl. Ebeling (FN 4). 63 Sauneron, Les fetes (FN 27), S. 381. 64 65

Allen (FN 30), S. 27. Erik Hornung, Der Eine und die Vielen, Darmstadt 1973, S. 213 - 219.

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Zweiheiten (Götterpaare), Dreiheiten (Götterpaar mit Kind), Vierheiten, Achtheiten und Neunheiten sind die wichtigsten Schemata, zu denen sich die Gottheiten arrangieren. Hierbei nimmt die Neunheit als "gesteigerte Vielzahl" (3 . 3, wobei Drei als Synonym für Plural steht (6 ) einen besonderen Platz ein (auch wenn sie gelegentlich mehr oder weniger als neun Götter umfaßt). Von entscheidender Qualität ist aber die kleinste Einheit, die Zweiheit. Diese kleinste, minimale Differenzierung (meist auch geschlechtlich) stellt die Stufe dar, die der jeweilige Schöpfergott zumindest erlangen mußte (durch Masturbation, Speien, schöpferische Tat seiner Hände, durch Aussprüche, Aufspaltung und anderes mehr), um die Schöpfung in Gang zu bringen. ,,Für den Ägypter kommt die Welt aus dem Einen, weil das Nichtsein Eines ist. Aber in seinem Werk differenziert der Schöpfer nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst. Aus dem Einen geht die Dualität der ,Zwei Dinge', geht die Differenzierung der ,Millionen' Schöpfungsgestalten hervor.... Das Getrennte ist aufeinander angewiesen, aber bleibt getrennt, solange es seiend ist. Nur die Wiederkehr des Nichtseins (beim Weitende) bringt den Zusammenfall des Getrennten und hebt die Differenzierung wieder auf." 67

66 67

Hornung (FN 65), S. 217. Hornung (FN 65), S. 249.

Edition Aus der Lebenschronik von Alwin Mittasch Ausgewählt und kommentiert von Uwe Niedersen, unter Mitwirkung von Edmund Fröse und Friedemann Schmidt, Halle (Saale) Das erste Jahrbuch für Selbstorganisation erscheint in besonders bewegter Zeit. Jeder Tag schreibt Geschichte. Prinzipielles wird entschieden. Das gilt auch für den einzelnen Menschen. Fernab von allen gewendeten Äußerlichkeiten, von Rationalität und deren Regelwerk sucht das Individuum seine Identität. So kommt es nicht von ungefähr, wenn folgend ,Identität' ediert werden soll. Die Gedankenwelt Alwin Mittaschs während einer vergangenen Zeitepoche äußeren und inneren Zusammenbrechens und wieder neuen Anhebens sei die aktuelle Botschaft. Es ist ein politischer Rechenschaftsbericht eines besonderen Menschen, der vielen von uns heute helfen mag, zu sich selbst zu fmden, mit sich wieder zu rechnen und sich einbringen zu können; freilich nicht, um erneut eine Tendenz prägen zu wollen! Den Text dieser Edition bilden einige Passagen aus der in ihrer Gesamtheit nicht für die Veröffentlichung bestimmten Lebenschronik Alwin Mittaschs. Als Motiv dieser ausgewählten Veröffentlichung galt uns die konkrete Sendung jenseits der gewöhnlichen Mitteilung. Es geht um die Vermittlung des besonderen, also Individualität durch Individualität! Auch dies ist ein Vermächtnis Alwin Mittaschs. Alwin Mittasch (1869 - 1953) war nach 1900 einer der führenden deutschen Chemiker. Nach sehr erfolgreicher Berufstätigkeit in der chemischen Großindustrie fand er in der gezielten Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen und wissenschaftsethischen Problemen eine späte Berufung. Bei der gedanklichen Vereinigung der Naturwissenschaften mit der Philosophie bzw. der Ethik wird nicht nur eine theoretische Harmonisierung des an sich relativ Unverträglichen vollzogen, sondern durchaus der real bestehende partielle Gegensatz als Konflikt angezeigt. Als Meister der Katalyse trug Mittasch beispielsweise maßgeblich dazu bei, daß die Fixierung des Stickstoffs aus der Luft großtechnisch ermöglicht wurde. Der aus Ammoniak, als Salpetersäure gebundene Stickstoff aber ist in der Hand des Menschen ein Lebens- und ein Vernichtungsstoff. Ein solch äußerer Gegensatz muß freilich immer auch im Inneren des Menschen selbst ausgehalten werden.

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Helmut Mittasch merkt dazu an: ,,Je älter mein Vater wurde, desto stärker hat er unter dem Gedanken gelitten, daß er, wenn auch ohne seinen Willen, ein Werkzeug des Schicksals auf dem Wege in das Verhängnis geworden war. Das Bewußtsein, daß sein wissenschaftliches Wirken als Chemiker nicht nur Segen, sondern auch Fluch nach sich gezogen hat, war ihm eine Qual. Das habe ich deutlich empfunden" I. Aus dem, was Menschen wollen, und dem, was sie sollen, sind immer ganz persönliche Bekenntnisse politischer, weltanschaulicher, ethischer und auch alltäglicher Art erwachsen. Diese Sendungen sind es, die in ihrer Originalität individuelle Aufnahme bewirken. Hierzu entnehmen wir der Lebenschronik von Alwin Mittasch die folgende politische Botschaft 2 • Wie in meinem privaten Leben war ich auch hinsichtlich der politischen Verhältnisse stets auf Abschwächung von Gegensätzen, auf vermittelnde Stellungnahme bedacht. Fast durchweg habe ich mit dem Nationalliberalismus sympathisiert; an der Sozialdemokratie wirkte die frühere demagogisch-agitatorische Tendenz abstoßend, bei aller Würdigung des sozialen Gedankens. Unsachliches Parteigezänk ist mir immer zuwider gewesen. Daß ich zeitlebens national empfunden habe, brauche ich kaum zu beteuern; auch das "soziale" Moment ist mir im Grunde immer Selbstverständlichkeit gewesen. Der "Kunstwart"3 von Ferdinand Avenarius 4 (später "Kulturwart" genannt) und die ,,Hilfe"5 von Friedrich Naumann 6 habe ich jahrelang (bis zum Erlöschen der Zeitschrift) gern und zumeist mit Zustimmung gelesen. Kultur- und Gesellschaftsverhältnisse, wie sie Naumann und Ferdinand Avenarius als Ziel vorschwebten, entsprachen meinen eigenen Wünschen. Als eine Art Synthese beider oder besser als Höherführung ist schließlich für mein Empfinden der Name Albert Schweitzer in den Vordergrund getreten: ein Humanitär-Sozialismus auf christlicher Grundlage mit der Grundforderung: Ehrfurcht vor seelischem Leben!

I Helmut Mittasch, Salpetersäure aus Ammoniak, persönlicher Bericht, Essen 1989 (unveröffentlicht). 2 Alwin Mittasch, Chronik meines Lebens. Auftrag und Erfüllung (begonnen den 1. Oktober 1944). Zitiert wird zunächst die Passage "Und meine politische Einstellung?" aus Kapitel IX, Elf Jahre Ruhestand, 1934 - 1944 (Teil A, Lebensführung und Erlebnisse seit 1934), S. 214 - 216; sodann aus ,,Politischer Rechenschaftsbericht (11)", S. 299 - 306. 3 "Der Kunstwart": Konservative Kulturzeitschrift, von F. Avenarius 1887 in Dresden begründet, halbmonatlich ercheinend, ab 1894 in München verlegt. 1912 - 1915 und 1919 - 1925 unter "Der Kunst- und Kulturwart", 1916 - 1919 unter "Deutscher Wille", ab 1932 unter "Deutsche Zeitschrift", 1937 eingestellt. 4Ferdinand Avenarius (1856 - 1923), deutscher Schriftsteller, Neffe Richard Wagners, starker Einfluß als Kunsterzieher, Herausgeber des "Kunstwart" und Gründer des "Dürerbundes". 5 "Die Hilfe", Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst, 1895 von Friedrich Naumann gegründet und bis 1919 geleitet, bis 1936 herausgegeben von T. Heuss, 1943 eingestellt. 6 Friedrich Naumann (1860 - 1919), liberaler deutscher Politiker, Gründer und Herausgeber der Tageszeitung "Die Zeit", Gründer des Nationalsozialen Vereins 1896, ab 1898 als Schriftsteller in Berlin, 1907 - 1918 Mitglied des Reichstags, seit 1919 Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei.

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Ein christlich orientierter Sozialismus, durchdrungen von "Goethescher Humanität", erscheint mir so als erstrebenswertes Ziel. Meine Stellung zum Nationalsozialismus ist von Anfang an die gleiche geblieben: Zu den positiv gerichteten Programmpunkten besteht weitgehend Zustimmung: "Volksgemeinschaft", Organisierung der Arbeit, Hebung des Bauernstandes, Einreihung des Werkarbeitens in volle Gleichberechtigung, Fürsorge für Mutter und Kind, Hebung der Arbeitsfreudigkeit usw. Nicht aber kann ich zu den negativ gerichteten Tendenzen Ja sagen. Die Bekämpfung eines geschichtlich rückständigen ,,Liberalismus" kann ich zwar gutheißen, nicht aber eine den Boden des Rechtes verlassende Bekämpfung des Judentums und gleichfalls nicht die in weiten Kreisen des Nationalsozialismus übliche schroffe Bekämpfung des Christentums 7. Was die Judenfrage betrifft, so ist mir eine Bausch- und Bogen-Verurteilung schon darum innerlich unannehmbar, weil ich in meinem Werdegang immer wieder Juden in Wissenschaft und Praxis (insonderheit chemischer und biologischer) kennengelernt habe, an denen kein einziger unehrenhafter Zug zu beobachten war, und die so manchem ,,Arier" als nachahmenswertes Vorbild sittlicher Haltung dienen konnten; manche darunter, so auch Sanitätsrat Dr. Kaufmann, Ludwigshafen, haben mir persönlich in kritischer Lebenslage (1932) wertvollen Beistand geleistet. Ich habe es demnach mit dem Ausspruch von Ludwig Klages 8 gehalten, der etwa so lautet: "Gewiß gibt es einen zu bekämpfenden jüdischen Geist; jedoch nicht jeder Jude hat ihn, und auch außerhalb des Judentums ist er zu finden." Wenn mir persönlich Rechtlichkeitssinn und Treuebedürfnis - wohl auch eine germanische Tugend? - verbietet, den Juden an sich und von vornherein für ein minderwertiges Geschöpf Gottes (- oder, wie ich einst lesen mußte, als ein Geschöpf des Teufels-) zu halten, so bin ich mir doch von jeher bewußt, daß die Judenfrage eine brennende Frage ist; ich bin jedoch immer der Meinung gewesen, daß dieses Problem unmögllich von einer Nation selbständig und endgültig gelöst werden kann, sondern nur durch internationale Vereinbarung, selbstverständlich auf der Grundlage allgemeiner Menschenrechte. Zur Illustrierung des Gesagten sei noch angeführt: Es mag im Jahre 1930 gewesen sein, daß unser in München studierender Sohn Heinz uns bei einem Besuch in Heidelberg sagte, er sei der Nationalsozialistischen Partei beigetreten. Ich erwiderte, er möge sich doch das Programm der Partei einmal näher daraufhin ansehen, ob er jeden Paragraphen mit gutem Gewissen unterschreiben könne. Beim nächsten Zusammentreffen hieß es: Vater, ich bin wieder ausgetreten. Daß ich jede Rechtsbeschränkung für Juden gemißbilligt und gar die anschließende Judenverfolgung verabscheut habe, brauche ich bei meinem 7 Das Christentum wurde besonders als eine dem Nationalsozialismus feindliche Weltanschauung bekämpft. So wurden bis 1939 fast alle politischen Vereine der Katholischen Kirche aufgelöst. Die Zentrumspartei, größte politische Organisation der Christen, löste sich am 5. Juli 1933 auf. Der weltanschauliche Gegensatz zum NS wurde im "Mythus des 20. Jahrhunderts" von A. Rosenberg, der später zum Beauftragten für die gesamte geistige und weltanschauliche Bildung und Erziehung der Partei wurde, dargestellt. Dieses Werk wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt. Das religiöse Leben wurde durch politische und juristische Zwangsmaßnahmen stark behindert, teilweise unmöglich gemacht. 8 Ludwig Klages (1872 - 1956), deutscher Philosoph und Psychologe, führender Vertreter der "Metaphysik des Lebens", Arbeiten zu Charakterologie und Graphologie, denen er wissenschaftliche Geltung verschaffte.

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langjährigen freundschaftlichen Verkehr mit Juden (Bredig 9 , WillstätterIO, A. v. Weinberg 11, Berl l2 , Frankenburger 13 , Färber l4 ) kaum zu betonen. Und meine innere Einstellung zu diesem Kriege? Ein uns von erbitterten Gegnern des Deutschtums aufgezwungener Krieg muß konsequent durchgeführt werden, so viele furchtbare Opfer er auch fordern mag! Möge er ein glückliches Ende fmden! Anmerkung 1946: Ich habe obige Sätze unverändert stehen gelassen, obwohl die Folgezeit gezeigt hat, daß sie großenteils auf irrigen Voraussetzungen beruhen. An späterer Stelle werde ich hierauf zurückzukommen haben; hier sei nur so viel bemerkt: Bei meiner angeborenen Vertrauensseligkeit und der geringen Menschenkenntnis, die mir auch im persönlichen Leben oftmals Enttäuschungen gebracht hat, habe ich mir in keiner Weise vorzustellen vermocht, daß in Berlin eine Regierung am Werke sein könnte, die grundsätzlich jede Lüge und jedes Verbrechen für erlaubt hält, um ihre Ziele zu erreichen! Im einzelnen hatte ich mich durch geschickte Propaganda überreden lassen, daß erstens bei anderen Mächten Vernichtungsabsichten gegenüber dem deutschen Reiche bestünden, zweitens die Russen nur auf einen passenden Zeitpunkt warteten, um uns zu überfallen, und drittens die Polen der herausfordernde Teil gewesen seien; hiernach wäre der von uns erklärte Krieg im Grunde ein Akt der Notwehr, ein Verteidigungskrieg gegenüber aggressivem Imperialismus oder auch Bolschewismus gewesen! Wie ahnungslos ich aber hinsichtlich der moral widrigen Praxis Hitlers gewesen bin, beweist folgende Tatsache: Als in der späteren Kriegszeit Hitler einst "prophezeite", daß es nach dem Kriege in Europa keinen Juden mehr geben werde, habe ich kopfschüttelnd zu meiner Frau gesagt: Wie kann denn Hitler annehmen, daß die Staaten in fremden Erdteilen ohne weiteres bereit sein werden, die europäischen Juden aufzunehmen oder auch Staaten wie die Schweiz und Schweden ihre Juden nach femden Erdteilen auszuweisen! Erst nach Ende des Krieges habe ich erfahren, "was wirklich geschah" und welche Vernichtungen kultureller Werte auch ein für Deutschland erfolgreicher Kriegsausgang mit sich gebracht hätte! Im "Politischen Rechenschaftsbericht (11)" heißt es sodann: 15 Wiederholt habe ich Fragebogen ausgefüllt, zuerst als Mitglied der hiesigen Akademie. Vom Säuberungsgesetz 16 bin ich nicht betroffen. Wie lege ich mir selber Rechenschaft ab? 9 Georg Bredig (1868 - 1944), Physikochemiker, Professor in Karlsruhe und Zürich, Arbeiten über Ionenbeweglichkeit und Katalyse. 10 Richard Willstaetter (1872 - 1944), Chemiker, Professor in München und Zürich, Nobelpreisträger 1915, arbeitete zu Pflanzeninhaltsstoffen, 1939 aus Protest gegen Judenverfolgungen emigriert. 11 Arthur von Weinberg (1860 - 1943), Chemiker, Verw.-Rat der IG Farben Industrie seit 1925, zahlreiche Publikationen, Patente, Auszeichnungen. 12 Ernst Berl (1877 - 1946), technol. Chemiker, 1919 - 1933 Professor in Darmstadt, Emigration nach USA, Arbeiten zu Bleikarnmerprozeß, Stickstoff-Oxidation u. a. 13 Walter Frankenburger (später Frankenburg) (1893 - 1957), Physiker, Chemiker und Biochemiker, 1923 - 1938 IG Farben Oppau und Ludwigshafen, 1938 Emigration USA, Tätigkeit in Industrie. 14 Euard Färber (später Farber) (1892 - 1969), Chemiker, Technologe, Geschichte der Chemie, 1928 - 1938 Chefchemiker Holzhydrolyse AG Heidelberg, 1938 Emigration USA. 15 Mittasch (FN 2).

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An der Mit-Verantwortlichkeit für das vo~ Deutschland ausgegangene Unheil besteht keinerlei Zweifel. Wie aber verhält es sich mit der Mitschuld? (Vergl. hierzu die Ausführungen von Jaspers über juristische, moralische und metaphysische Schuld 17.) In bezug auf meine politische Entwicklung und Einstellung sei in Ergänzung des S. 214 ff. Gesagten noch folgendes bemerkt: Im kaiserlichen Deutschland (1880 - 1900) war die Meinung herrschend, daß mit dem deutsch-französischen Kriege Deutschlands Entwicklung am Ziele angelangt sei und daß es nun gelte, in friedlicher Kulturentwicklung schrittweise vorwärtszukommen. Meine Jugendjahre verlebte ich in solch politischem Sicherheitsgefühl, und zwar unter konservativen Einflüssen; der vorwiegend landwirtschaftliche Bautzner Kreis ist in dem späteren ,,roten" Sachsen einmal der einzige rechts wählende Wahlkreis gewesen! Erst in Leipzig kam ich mit liberalistischer und sozialistischer Denkweise in Berührung, ohne daß - bei meinen starken wissenschaftlichen Interessen - das Parteileben für mich irgendwelche größere Bedeutung gewonnen hätte. Man ging gegebenenfalls zur Wahlurne, stimmte für einen konservativen oder (später vorwiegend) nationalliberalen Abgeordneten - so wie es schon mein Vater getan hatte - , und damit war die Beteiligung an der Politik für eine längere Zeit wieder abgetan. Viel anders ist das auch in meinen späteren Jahren - bis 1914 - nicht geworden; keiner Partei bin ich beigetreten. Im ersten Weltkriege habe ich eine Zeit lang mit dem Alldeutschen Verband 18 geliebäugelt, bald aber seinen Mangel an Wirklichkeitssinn empfunden. Als die Weimarer Republik zustande gekommen war, hat mich das maßvolle und geschickte Auftreten von Fritz Ebert 19 und seinen Parteigenossen angenehm überrascht. Das Anschwellen der kommunistischen Bewegung aber bereitete um so stärkere Sorge, da wir in der Ludwigshafener Fabrik die zersetzende Wirkung solcher Tendenzen für Wirtschaft und Kultur unliebsam genug kennenlernen konnten. Wie dann die nationalsozialistische Gegenbewegung sich geltend machte, habe ich mit Unlust die Arbeitslosen-Haufen vor den Mannheimer Büros und Zeitungsgebäuden der neuen Partei gesehen und starke Bedenken hinsichtlich ihrer Fähigkeiten gehabt. Ich bezweifelte auch, ob der alte Hindenburg der Mann sein könne, der die neue zum Kommunismus hinzutretende Gefahr zu meistern vermochte. All dies hat mich nur gelegentlich bewegt, nicht aber dauernd beschäftigt. Vermag ich doch nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, wie ich in den kritischen Nachkriegsjahren von Fall zu Fall gewählt habe. Das gilt auch für die Wahlen nach 1930 20 • Das aber weiß ich noch genau, daß ich hinsichtlich der Alternative ..Kommunismus oder NationalGesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4. 1933. Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, Zürich 1947,4. Auflage. 18 Der Alldeutsche Verband ist aus dem 1886 gegründeten Allgemeinen Deutschen Verband zur Förderung überseeischer Interessen durch Namensänderung hervorgegangen. Die Umbennung fand am 12.4. 1894 statt; offizielle Namensänderung ab 1. Juli 1984. Damit wurde am 10. Mai 1894 auch die Satzung verändert. Ziel war die ..Weckung und Pflege des Bewußtseins der rassenmäßigen und kullurdlen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile" . Er wurde am 13. 3. 1939 durch eine Verfügung R. Heydrichs aufgelöst. 19 Friedrich Ebert (1871 - 1925), seit 1889 Mitglied der Sozialdemokratie, ab 11. 2. 1919 Reichspräsident. 20 September 1930 Reichstagswahlen; März 1932 Wahl des Reichspräsidenten (keine Entscheidung); April 1932 Wahl des Reichspräsidenten (2. Wahlgang); Juli 1932 Reichstagswahlen; November 1932 Reichstagswahlen; März 1933 Reichstagswahlen. 16

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sozialismus" - ein dritte Möglichkeit war nirgends sichtbar - den Nationalsozialismus als das kleinere Übel ansah (wie mir heute klar ist: wohl zu Unrecht!). Dabei spielte die (wie sich weiter gezeigt hat, unzutreffende) Erwartung eine Rolle, der Nationalsozialismus werde sich im Besitz der Herrschaft ebenso günstig ,,mausern" und "vernünftig" regieren lernen, wie es nach dem Kriege bei der Sozialdemokratie der Fall gewesen war. Allerdings habe ich schon in den ersten Regierungsjahren Hitlers gegenüber Enthusiasten gesagt: "Die Zukunft wird erst lehren, ob Hitler für Deutschland ein guter oder ein böser Dämon ist." Unsere siegreichen Gegner scheinen wenig Verständnis dafür aufbringen zu können, wie verschiedenartig das politische Denken in weitesten bürgerlichen Kreisen Deutschlands gegenüber der demokratischen Einstellung Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten durch Jahrzehnte, ja Jahrhunderte gewesen ist. In geradezu verhängnisvoller Weise hat in dieser Beziehung insbesondere das Luthertum mit seiner Betonung der "Obrigkeit von Gottes Gnaden" gewirkt. ,,Jedermann sei untertan der Obrigkeit" usw. trotz aller neueren Auslegungsversuche doch eine religiöse Ächtung jeder revolutionären Haltung, jeder Widerstands- und Untergrundbewegung! Dazu kommt das - wie wir heute sagen müssen - schicksalhafte Versagen der Revolution von 1848 und der große äußere Erfolg der Bismarck-Ära, der das deutsche Regierungssystem zu rechtfertigen schien. Nicht zu vergessen ist auch die heute geflissentlich übersehene oder bestrittene Tatsache, daß im Nationalsozialismus sich anfangs Gut und Böse fast die Waage hielten und daß erst allmählich das dämonische Böse volles Übergewicht gewonnen hat. Werden nicht gegenwärtig z. B. in England zahlreiche soziale Maßnahmen durchgeführt, welche offensichtlich Vorgänger in nationalsozialistischen Absichten und Experimenten besitzen? Kann man wirklich glauben, daß das deutsche Volk in seiner Gesamtheit bewußt ein verbrecherisches Regiment gewählt und gutgeheißen hätte, so daß - etwa nach Hermann Hesse und Ernst Wiechert 21 - geringe Aussichten auf zukünftige Gesundung eines moralisch so arg verseuchten Volkskörpers bestünden 22? Um von mir selber zu sprechen: Erziehung und Unterricht, Lektüre und Erfahrung - insbesondere auch das vielfach abstoßend demagogische Gebaren der komunistischen Partei mußten mich dazu führen, daß ich auch das nationalsozialistische Regiment, nachdem es - unter Versagen des alten Hindenburg - anscheinend auf legalem Wege zustande gekommen war, formal bejahte (ebenso wie früher das Ebert-Regiment) zumal da es ja von allen anderen Mächten anerkannt und niemals politisch geächtet worden ist (wie neuerdings Franco-Spanien) 23. Ist nicht um 1934 den deutschen Katholi21 Ernst Wiechert (1887 - 1950), deutscher Schriftsteller. Anton Kaes verweist auf den resignativ-unpolitischen Ton und die " ... christlich-innerliche Thematik ..." bei Wiechert, vgl. A. Kaes (Hrsg.), Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 1939, Stuttgart 1983. 22 "Die paar guten Geister der Revolution, welche keine war, sind totgeschlagen, unter Billigung von 99 % des Volkes. Die Gerichte sind ungerecht, die Beamten gleichgültig, das Volk vollkommen infantil", in: Hermann Hesse, Briefe, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1964. Zu verweisen wäre auf Hesses zweifelnde Position zu Technik, Industrie, Modernität und seinen Austritt aus der Dichterakademie. 23 Im Dezember 1946 empfahl die Vollversammlung der Vereinten Nationen seinen Mitgliedern den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und damit die Abberufung ihrer Gesandten aus Spanien. Auch von der Mitarbeit in den Vereinten Nationen und ihren Organisationen wurde Spanien ausgeschlossen.

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ken vom Vatikan der Eintritt in die Partei freigegeben worden 24? Als dann der anfanglich zweifelhafte Charakter des Systems immer mehr zu einem eindeutig verwerflichen vor allem in Rassefragen - wurde, war die Waffe des Stimmrechts dem einzelnen praktisch schon aus den Händen genommen; auch waren Grad und Umfang der Unmoralität und Unhumanität an den maßgebenden Stellen der Partei tatsächlich weitesten Kreisen unbekannt, so viel man auch heute das Gegenteil behaupten mag. Besonders erschwerend fällt ins Gewicht, daß eine geschickte Propaganda es von Anfang an verstand, uns Deutsche als die kulturell und politisch Bedrohten, als die Eingekreisten und schließlich Angegriffenen hinzustellen, so daß dann unser Krieg als ein Verteidigungskrieg gelten mußte. Wer aber will einem in Notwehr Handelnden in die Arme fallen, so bedenklich manches an jenem erscheint. Und schließlich: Märtyrertum ist Gnade! Im einzelnen sei noch bemerkt: Bestechend wirkte in den Anfangen der konstruktive Teil der nationalsozialistischen Wirklichkeit: Die Beseitigung der drückenden Massenarbeitslosigkeit, die (wenigstens anscheinende) Hebung des Bauernstandes, die soziale Fürsorge z. B. in der Bewegung "Mutter und Kind" sowie Winterhilfe. Mehr und mehr abstoßend aber mußten die zunehmenden Maßlosigkeiten der Parteiregierung in der Judenfrage bis zur ungeheuerlichen späteren Judengesetzgebung wirken und man empfand es als wohltuende Erleichterung, wenn man etwa bei einem Aufenthalt in der Schweiz ein freieres Leben beobachten und in den dortigen Zeitungen freimütige Aburteilungen des in Deutschland herrschenden Systems lesen konnte.

Die Judenverfolgung, die auch von mir hochgeschätzte Personen traf (Professoren Bredig und Willstätter, Arthur von Weinberg) hat mich mit Schmerz erfüllt. Dabei hatte man aber noch keine Ahnung, daß die Ächtung und Ausweisung die Anfange einer systematischen Ausrottung sein würden! Der ausbrechende Krieg erregte zwiespältige Gefühle: Von Presse und Rundfunk war uns eingeredet worden, wir Deutschen seien die von heimtückischem Überfall und Vernichtung Bedrohten, unsere kriegerische Aktion sei ein Akt der Notwehr gegenüber einer Verschwörung von Kommunimus und Plutokratie. Mußte man da nicht den Sieg der deutschen Waffen dringend ersehnen und erhoffen? So bedenklich auch Hitlers Worte lauteten, man werde nach dem Kriege die gesteckten Ziele noch fanatischer verfolgen! Von dem Grad und Ausmaß der Unmenschlichkeiten, zu denen sich Hitler und die Seinen mehr und mehr hinreißen ließen, hatte man ja in meinen Heidelberger Kreisen 25 wenigstens keine Ahnung. Für mich persönlich kommt ein gewichtiger angeborner Mangel hinzu: Ich bin von Hause aus geneigt, von Menschen, die ich neu kennenlerne, Gutes zu denken, und ich bin durch meine Vertrauensseligkeit schon viel Enttäuschungen ausgesetzt gewesen. So ist es mir nie eingefallen, es auch nur für möglich zu halten, daß deutsche Männer in maßgebenden hohen Stellungen Verbrechernaturen sein oder sich zu solchen entwickeln könnten. Mit um so stärkerer Wucht hat mich in den letzten Jahren die Aufdeckung der Scheußlichkeiten getroffen, deren Verübung von nun an dem deutschen Namen als Makel anhaftet; schmerzvoll fragt man sich, wie dergleichen in dem Lande eines Kant 24 Gemeint ist sicherlich die Kundgebung der Fuldauer Bischofskonferenz vom 28. März 1933, die am 29. und 30. März in der Presse erschien. Offiziell wurde die Reichsregierung vom Vatikan durch den Abschluß des Konkordats am 22.7. 1933 anerkannt; Ratifizierung am 10.9.33. 25 Mittasch schied 1934 aus der IG Farbenindustrie aus und siedelte nach Heidelberg über. 1937 erfolgte die Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 15 Selbstorganisation. Bd. 1

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und Goethe möglich werden konnte und wie eine moralische Wiedergutmachung denkbar sei. Einiges Gewicht kommt schließlich folgender Erwägung zu: Männer geschichtlicher Tat sind kaum jemals das gewesen, was man "sympathische Menschen" nennt: Männer von Geist und Gemüt, sondern stattdessen ,,Jenseits von Gut und Böse" - und vielleicht eben deshalb als Instrument zum Weitertreiben der Entwicklung tauglich. Die Geschichte wählt anscheinend regelmäßig ganz irreguläre Naturen, zumeist wohl krankhaft übersteigerter Art, für die Verwirklichung ihrer Ziele. Sollte Adolf Hitler - so spielten meine Gedanken - trotz des vielen Abstoßenden in seinem Wesen vom Schicksal ausersehen sein, die Deutschen zu einer großen Nation zusammenzuschmieden, ähnlich der französischen und englischen? Es ist mir heute nicht mehr recht verständlich, warum ich geneigt gewesen bin, Hitler auch dadurch etwas zu "entlasten", daß ich Himmler und Goebbels als seine bösen Dämonen angesehen habe, deren Einflüsterungen er allzu willig Gehör schenke. Daß die totale Verlogenheit und Verkommenheit, zu der sich das Parteisystem schrittweise entwickelte, in Hitlers Natur selber ihren Ursprung hatte, mochte mir Jahre hindurch nicht recht einleuchten. Es ist doch recht niederdrückend, wenn man am Abend eines langen Erdenwallens miterlebt, wie Deutschlands geschichtliche Entwicklung nach wiederholten vielverheißenden Ansätzen schließlich im Abgrund münden muß. Die Frage taucht auf, ob es nicht das große Verhängnis des letzten Jahrhunderts war, daß die im Geiste der Frankfurter Nationalversammlung 26 unternommene Revolution von 1848 gewaltsam unterdrückt und damit ein wahrhaft demokratischer Zusammenschluß der damals in Bewegung befindlichen deutschsprachigen Länder im Keim erstickt wurde. (Eine Million guter demokratischer Deutscher ist damals ausgewandert.). Was folgt aus all diesem hinsichtlich der auch für mich aufzuwerfenden Frage einer politischen und moralischen Mitschuld? (Auf die metaphysische Schuld - nach Japsers - soll nicht eingegangen werden.) 1. Wenn es fehlerhaft ist, ein unpolitischer Mensch gewesen zu sein und von einem vorbildlich geführten demokratischen Staatswesen keine klare Vorstellung gehabt zu haben, dann bin ich dieses Mangels teilhaftig. 2. Wenn starke politische Vertrauensseligkeit und Leichtgläubigkeit trotz wiederholter Enttäuschungen verurteilenswert ist, so bin ich mit getroffen. Desgleichen, wenn ein Unvermögen schuldhaft ist, sich das später erwiesene Ausmaß moralischer Schlechtigkeit in regierenden Kreisen als möglich vorzustellen. 3. Wenn es verurteilenswert ist, durchaus dem uns in Deutschland von Kindheit her geläufigen - und, wie ich gesagt habe, unheilvollen - Spruch zu folgen: ,,Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat" USW. 27 , dann bin ich mitschuldig. (Die mehrfachen neueren Bemühungen, den klaren autokratischen Sinn dieses Bibelspruches demokratisch-moralisch umzubiegen, sind zu fadenscheinig, namentlich angesichts der historischen Stellung des Luthertums zur "Obrigkeit" und der herr26 Die Frankfurter Nationalversammlung konstituierte sich am 18. Mai 1848. Ziel war die Schaffung eines bügerlichen demokratischen deutschen Nationalstaates in Gestalt eines konstitutionalmonarchischen Bundesstaates. Sie wurde am 18.8. 1848 von preußischen und österreichischen Truppen, die die Stadt besetzten, gewaltsam aufgelöst. 27 ,,Jedermann sei untertan ..." NT, Römer. 13 /1.

Aus der Lebenschronik von Alwin Mittasch

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schenden kirchlichen Praxis. Die gegensätzliche Weisung: Thr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen 28, ist doch allzusehr in den Hintergrund getreten, zumindest im Protestantenturn.) 4. Wenn es unrecht war, aus falschen Voraussetzungen an den Erfolgen der deutschen Waffen in den ersten Kriegsjahren Freude und über die spätere unglückliche Entwicklung Schmerz empfunden zu haben, dann bin ich mitschuldig. 5. Wenn meine Auffassung schuldhaft ist, der innerlich empfundene Zwang zur Vollendung meiner Lebensaufgabe rechtfertige es, durch äußere Anbequemung, ja auch durch gelegentliche Tarnung, mich politischer Verfolgung zu entziehen (gemäß dem Bibelspruch: "Seid klug wie die Schlangen, doch ohne Falsch wie die Tauben"), 29 anstatt durch freies Bekenntnis zum Märtyrer zu werden, dann bin ich mitschuldig. Hierzu eine Parabel: Zwei Unschuldige werden von böswilligen Häschern verfolgt. Der eine macht sich unkenntlich, indem er etwa in den Wald flüchtet, wo er sich mit Zweigen und Laub tarnt, daß er für das Auge im Busch verschwindet. Der andere steigt in einen Nachen und flüchtet in ein fernes Land. Ist das Tun des Letzteren moralisch hoch erhaben über das Tun des Ersteren? (Mitunter bin ich in bezug auf Tarnung durch Anbequemung vielleicht etwas weiter gegangen, als bei strenger Beurteilung zu billigen ist.) 6. Wenn es verwerflich ist, zeitweilig dem Traume der Schaffung eines starken und den anderen Großmächten gegenüber gleichberechtigten deutschen Reiches nachgehangen zu haben, eines Reiches, das auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Vereinigung des Altreiches mit den 1866 abgetrennten deutschsprachigen Gebietsteilen des österreichischen Staates 30 sowie eventuell auch mit gewissen anderen fremdstaatlichen Randgebieten deutschsprachiger Mehrheit. Alles in allem stimme ich der von Fritz Harzendorf in seinem Buche "So kam es"31 ausgesprochenen Erkenntnis zu, "daß in einem Volk, das einen solchen Irrweg gegangen ist wie das deutsche, Schuld und Unschuld so ineinander übergehen, daß kaum einer sich als völlig Gerechter und Gerechtfertigter hinstellen kann". "Mea culpa est." Und die Schuld der Siegernationen, vorher und nachher?

Wo stehen wir heute? Wohin des Weges? Die ungeheuerliche Katastrophe, die über Deutschlands politisches, wirtschaftliches und kulturelles Leben hereingebrochen ist, fordert jeden einzelnen zur Besinnung und zur Prüfung seines seither erworbenen Gedankenguts auf. Fragen erheben sich wie die folgenden: Bedarf meine Einstellung zu nationalen und internationalen, zu politischen und kulturellen, zu weltanschaulichen und religiösen Problemen einer Änderung? Stehen wir an einer Zeitwende insofern, als die von Nietzsche vorausgesagte einheitliche ,,Erdre-

"Thr sollt Gott ..." NT, Apost. Gesch. 5/29. "Seid klug wie ... " NT, Matt. 10 / 16. 30 1866: Preußisch-Österreichischer Krieg, den Österreich verlor. Damit wurde der deutsche Bund aufgelöst. Die Staaten Norddeutsch1ands bildeten unter Führung Preußens den Norddeutschen Bund. Die Staaten südlich der Mainlinie und auch Sachsen konnten sich dem Norddeutschen Bund nicht anschließen, da Napoleon III. energisch für die Selbständigkeit der südlichen Staaten eintrat, andernfalls drohte er mit Krieg. 31 Fritz Harzendorj, So kam es. Der deutsche Irrweg von Bismarck bis Hitler, Konstanz 1946. 28

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gierung" naht? Und wird diese Erdregierung schließlich demokratischer oder kommunistischer Art sein? (Die uns vorgesetzte Fiktion, der östliche Kommunismus sei nur eine Abart der westlichen Demokratie, wird ja von ihren Urhebern selber nicht geglaubt!) Ist Deutschland das Gebiet, in welchem der Endkampf zwischen "Plutokratie" und Sozialismus ausgefochen wird? Und mit was für Waffen (politisch- wirtschaftlich-geistigen statt militärischen?) wird dieser Kampf entschieden werden? Wie sind die Aussichten des Christentums? Befinden wir uns in einer Umwertung aller Werte und in welcher Richtung geht diese Umwertung? Die Geschichte kennt keine Sentimentalität - nach Oswald Spengler - , sie ist ein endloses willenbestimmtes Auslösungsgewebe, steht dieses wohl in unserer Epoche vorwiegend nicht zu Gott, sondern zum Satan? Ist die ganze Menschengeschichte im großen gesehen ein Kampf von Glauben und Unglauben, zugleich vielleicht ein Kapitel in einem kosmischen Kampf des guten und des bösen Prinzips, mit einem Endsieg des Guten? (Politische Geschichte, nach Goethe "ein Wirrwarr von Irrtümern und Gewalttätigkeiten"). In näherliegender Beziehung wird man fragen: Dürfen wir für unser deutsches Volk erhoffen, daß es den Zustand hoffnungslosen Damiederliegens überwinden und in absehbarer Zeit zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Existenzmöglichkeit gelangen wird, die nicht klaftertief unter der Lebensführung anderer Nationen liegt und die einigermaßen an seine ruhmreiche kulturelle Vergangenheit anschließt? Die unvernünftige Abmontierung und Zerstörung von Industriewerken, die leicht für friedliche Zwecke gebraucht bzw. umgestellt werden könnten, macht es schwer, durchweg an einen auf dieses Ziel gerichteten Helferwillen der Siegermächte zu glauben. (Sicher könnte die Reparation viel leichter, rascher und vollkommener geschehen, wenn statt dessen zahlreiche Werke im Inland jahrlang - weitgehend oder gar vorwiegend - für Wiedergutmachungszwekke arbeiten würden.) Die Grenze zwischen berechtigtem Patriotismus - wie er z. B. für den Engländer und Franzosen selbstverständlich ist - und verwerflichem Nationalismus ist nicht leicht zu ziehen. Vielleicht gibt aber "der gute Europäer" (in Vereinigten Staaten von Europa) die historische Lösung der schwierigen Frage? Schließlich: Bedeuten Hitlers Taten und Untaten nur das auslösende Moment für eine unausweichliche weltgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus bzw. gar Kommunismus? Sollte es sich bewahrheiten, daß für uns Deutsche das heilsame ,,Licht" schließlich aus dem Osten, aus dem Lande eines Tolstoj und Dostojewski, kommen wird, entgegen allem Anschein der letzten Jahrzehnte? Es ist dies doch schwer zu glauben."

Buchbesprechungen eramer, Friedrich, Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Stuttgart 1988, Deutsche Verlags-Anstalt. 320 S. Der Chemiker Friedrich Cramer hat ein informatives und zum Disput anregendes Buch über Selbstorganisation verfaßt. Der Begriff "Selbstorganisation" ist bekanntlich nicht unumstritten. Manche meinen, daß das, was "Selbstorganisation" belegt, besser (weil nüchterner) mit "Wachstum" zu bezeichnen sei. Aus der Sicht jener wäre "Selbstorganisation" begrifflich mehr allgemein-philosophisch denn wissenschaftlich geprägt. In dieser angedeuteten partiellen Diskussion um einen Begriff tritt letztlich das belastete Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften in Erscheinung. Welchen Weg beschreitet nun Cramer, um die Vielfalt der für diese Thematik aussagefähigen Wissenschaftsdisziplinen in ein rechtes Verhältnis zueinander zu setzen? Er beginnt zunächst mit der Evolution des Lebendigen (S. 16 ff.). Sein Sprachstil, verbunden mit der Gabe, Kompliziertes einfach und doch schlüssig zu präsentieren, wird auch dem interessierten Laien reiche Informationen und Genuß an den biophysikalischen und chemischen Inhalten der Zusammenhänge, die mit Gen, Mutation, Hyperzyklus und auch Chaos, Fraktal, Selbstorganisation, Komplexität, Evolutionsfeld usw. bezeichnet werden, geben. Cramers Begriffsschöpfung ,,Evolutionsfeld" (S. 231 ff.) stellt gewissermaßen die Kür auf seinem Denkweg von der Evolution zu einer neuen Qualität von Zusammenhängen, eben zum Evolutionsfeld, dar. Das Evolutionsfeld bezeichnet einen materiellen prozessualen Zustand, der sich nur in thermodynamischer Gleichgewichtsferne ausbildet, spontan und ideenträchtig (S. 229) sowie in der Bewegung nach vorn offen, d. h. zeitlich gerichtet ist. Dieser natürliche Zusammenhang ist fundamental komplex. ,,Fundamentale Komplexität" ist eine Aussage, genauer wohl ein ,Maßstab'. Ein fundamental-komplexer Zusammenhang erfordert zu seiner adäquaten Darstellung einen gleichermaßen komplexen Erkenntnisalgorithmus, eine komplexe Denkweise also. Dies aber kann Naturwissenschaft nicht mehr allein leisten. Das traditionelle Gebiet der Naturerkenntnis wird verlassen, weil keine eingreifende Reduktion mehr sichere, d. h. quantitative Voraussicht produziert (S. 237 f., 275 ff). Cramer verdeutlicht anband anschaulicher Beispiele, wie in einer gleichgewichtsfernen Situation der Mechanismus einer deterministischen Transformation von Stoff, Energie, Information sich zu einem unregelmäßigen Dynamismus hineinorganisiert und so einen Chaos-Zustand erreicht (z. B. S. 247 ff.). Was für viele Konkreta gilt, findet im großen seine Entsprechung, beispielsweise in den Bewegungen der Wissenschaften selbst. So ist der Naturwissenschaft als ihr Credo eine Voraussicht mit quantitativer Sicherheit eigen, zumindest wird dies angestrebt. Es gilt die Voraussicht, daß die Voraussicht beim wissenschaftlichen Arbeiten auch weiterhin fortdauern wird. Der Realbereich aber, den Wissenschaft zu bearbeiten hat, dabei stets gemäß dem Hempel-Oppenheirn-Schema deterministisch beginnend, ist nicht nur ohne informelle Verluste in diese Ratio zu fügen, sondern wird bei dem Erreichen des Maßes, das mit fundamentaler Komplexität benannt werden kann, objektiv unregelmäßig, chaotisch, nicht mehr wie gewohnt voraussehbar. Das ist Voraussicht der Nichtvoraus-

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sicht. Dennoch wäre es verfehlt, etwa von einem aufkommenden Pessimismus in den Naturwissenschaften zu sprechen. Es geht vielmehr um eine Bereicherung des naturwissenschaftlichen Credos. Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft wird revolutioniert und nicht nur dieses. Es genügt heute nicht mehr, ein Wissen von der Wissenschaft zu haben. Gesucht ist ein Wissen über das Wissen von der Wissenschaft. Eine ausgereifte Lösung zur Überwindung des Dualismus zwischen Natur und Geist, danach haben wir eingangs gefragt, hat Friedrich Cramer nicht angeboten. Aber wer kennt diese schon? Im letzten Kapitel trägt der Autor ab S. 286 ff. philosophische Gedanken zur Wirklichkeitsbewältigung vor, denen im konkreten nachzugehen sich lohnen wird. Uwe Niedersen, Halle (Saale)

Nicolis, Gregoire, und Prigogine, Ilya, Die Erforschung des Komplexen. Auf dem Wege zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften. München, Zürich 1981, Piper & Co. 384 S. Noch bis vor 15 Jahren trug sich die Naturwissenschaft weithin mit der Überzeugung, daß die makroskopischen Naturgesetze, die unsere Alltagswelt beherrschen, bekannt und auch hinreichend verstanden seien. Das Neuland, auf dem die wichtigen Entdeckungen erst noch bevorstehen, sah man jenseits dieser Alltagswelt, im Bereich des ganz Kleinen oder des ganz Großen, in der Elementarteilchen- und Hochenergiephysik, in der Kosmologie. Was hat dazu geführt, daß dieses scheinbar schon abgeklärte Naturverständnis inzwischen einer neuerlichen Revision unterzogen wurde? Es ist wohl vor allem die Einsicht, daß der Mensch mit der Natur und die Naturphänomene untereinander in einem weitaus verzweigteren Zusammenhang stehen, als bisher angenommen wurde. In unserer Lebenswelt zeigt sich dies schmerzhaft in der ökologischen Krise, die bereits globale Ausmaße annimmt - aber auch in den sozialen Umbrüchen, die zu einer Neuordnung des menschlichen und staatlichen Zusammenlebens führen und zu einer Neustrukturierung ökomonischer Verflechtungen. Wir leben in einer Welt des Übergangs, und es ist unsere Aufgabe, die Gesetzmäßigkeiten dieses Wandels rechtzeitig zu erkennen und gezielt zu nutzen, um einem ökologischen, ökonomischen oder sozialen Chaos zu entgehen. Dazu bedarf es einer eingehenden Analyse der strukturellen und funktionellen Verflechtungen der verschiedenen Prozesse - eine Forderung, die als Erfassung der Komplexität zusammengefaßt wird. Das Neue und zugleich Schwierige einer solchen Komplexitätsanalyse ist ihr interdisziplinärer, ihr fachübergreifender Charakter. Um das hierzu notwendige Verständnis der Fachwissenschaftier verschiedenster Gebiete untereinander und mit einem interessierten Publikum zu fördern, hat der Piper-Verlag München im Jahre 1981 eine eigene Buchreihe begründet. Sie trägt den Titel "Die Beherrschung des Komplexen" und wird von den beiden namhaften Wissenschaftlern G. Nicolis und I. Prigogine herausgegeben. Insbesondere der ,Nobelpreisträger I. Prigogine ist auch dem allgemeininteressierten Publikum bereits durch verschiedene Bücher bekannt, die eine wissenschaftsphilosophisch orientierte Reflexion über ,,zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften" und über ,,Neue Wege des naturwissenschaftlichen Denkens" (so die Untertitel) zum Gegenstand haben. Darüber hinaus zählen Prigogine und Nicolis zu denjenigen Fachwissenschaftlern, die durch ihre Arbeiten zur Theorie der irreversiblen Prozesse die physikalische Einsicht in die Komplexität der Naturerscheinungen wesentlich geprägt und befördert haben.

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Das Ziel der Reihe ,,Die Beherrschung des Komplexen" besteht darin, zu zeigen, wie die Wissenschaft auf verschiedensten Gebieten und mit interdisziplinären Ansätzen Komplexität erforscht. Die beiden Herausgeber stellen sich diesem Anspruch auch als Autoren des ersten Bandes dieser Reihe. Sie eröffnen ihr Buch "Die Erforschung des Komplexen" nach einleitenden Bemerkungen über die Wissenschaft in der Übergangsphase mit einer Reihe von illustrativen Beispielen, die dem Leser die Erscheinung der Komplexität durch Selbstorganisation in physikalischen, chemischen und biologischen Systemen vor Augen führt. Das Kapitel 2 versucht, ein "Vokabular des Komplexen" einzuführen, ohne daß jedoch eine hinreichende Definition oder ein Maß für die Komplexität gegeben werden kann. Die Bedeutung von Dissipation, Nichtlinearität und Rückkopplung, von Bifurkation und Symmetriebrechung bei der Entstehung komplexer Strukturen wird im Kapitel 3 mit Hilfe der Theorie dynamischer Systeme weiter diskutiert. Dazu erfolgt ein instruktiver Abriß über die Grundzüge dieses modernen Wissenschaftsgebietes. Das Kapitel 4 ist dem Einfluß von Fluktuationen auf die Selbstorganisation von Systemen im Nichtgleichgewicht und der Verknüpfung von Irreversibilität und Information gewidmet. Der Werdegang der Darstellung bis zu diesem Punkt vollzieht sich von der phänomenologischen Beschreibung, die zunächst vom Beispiel ausgeht, bis hin zu einer mikroskopischen Betrachtung von komplexen Phänomenen, wobei der Grad der theoretischen Abstraktion und die damit verbundene mathematische Beschreibung ständig zunehmen. Dies wird vor allem für einen Leser, der keine physikalische Vorbildung besitzt und vorrangig an einer populären Darstellung der Problematik interessiert ist, eine gewisse Hürde darstellen. Eine Vielzahl von erläuternden Skizzen soll jedoch die Verständlichkeit erleichtern. Die abschließenden Kapitel 5 und 6 unternehmen den Versuch, die Komlexitätsbeschreibung zu verallgemeinern und auf Fragen außerhalb der Physik, wie Klimaentwicklung, Verhalten staatenbildender Insekten und Selbstorganisation in Humansystemen anzuwenden. Es liegt in der Natur dieser Probleme, daß hierbei nicht alle relevanten Fragen behandelt werden können und eine Reihe von Betrachtungen zwangweise sehr modellhaften Charakter tragen. Jedoch stellen sich die Autoren dem Anspruch, die Konzepte der Selbstorganisation und Komplexitätsbeschreibung auch interdisziplinär wirksam werden zu lassen, ohne blinde Verallgemeinerungen zu versuchen. Dem Buch sind vier Anhänge beigegeben, die dem Fachwissenschaftier einen Einblick in die technischen Methoden, beispielsweise der Bifurkationsanalyse, vermitteln. Abschließende ,,Literaturempfehlungen" liefern eine, etwas einseitige Auswahl der zahlreichen Publikationen auf den behandelten Gebieten. Das Buch ist Lesern zu empfehlen, die einen instruktiven Überblick über die modernen Entwicklungen zur Theorie der Selbstorganisation und Komplexitätsanalyse erhalten möchten, insbesondere Fachwissenschaftier werden hier eine kompakte und denk-anregende Zusammenfassung finden. Aber auch Leser ohne physikalische Vorbildung erhalten zumindest einen illustrativen Einblick in die Herangehensweise und den heuristischen Erklärungswert moderner physikalischer Theorien. Darüber hinaus bieten die Versuche der Autoren, die Komplexitätsbetrachtung zu verallgemeinern, eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die wissenschaftsphilosophische Diskussion. Frank Schweitzer, Berlin

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Mocek, Reinhard, Neugier und Nutzen. Blicke in die Wissenschaftsgeschichte. Berlin (Ost) 1988, Dietz-Verlag. 351 S. Wollte man den Inhalt dieses Buches unter einen Leitgedanken stellen, so müßte es wohl derjenige der humanistischen Verantwortung sein, die aus jeder Zeile spricht und mit Blick auf die Zukunft angemahnt wird. Das Phänomen Wissenschaft ist zweifellos ein dankbares Objekt philosophischer Reflexion, um diesem Anliegen Gestalt zu verleihen. Das Buch zeichnet sich durch umfassende Sach- und Literaturkenntnis, subtiles Urteilsvermögen und einen gefälligen Stil aus. Als Realist und Dialektiker legt der Autor Wert darauf, auch "die Kainszeichen der Destruktion, der mangelnden Verantwortlichkeit der Urheber des Neuen für das Neue" in der Wissenschaftsgeschichte offenzulegen (S. 5), um zu einer belegbaren Einschätzung des Wertes der Wissenschaft in der Geschichte zu gelangen. Das 1. Kapitel (Auf der Suche nach den großen Zusammenhängen) offenbart schon wesentliche Vorzüge des Buches: Eine möglichst kritisch-genaue und allseitige Darstellung der Problemlage (so im Abschnitt "Wissenschaftsentwicklung - zufällig oder gesetzmäßig?") sowie die Exemplifizierung theoretischer Fragen an typischen Beispielen (z. B. der Wissenschaftsdynamik am Beispiel des Aufschwungs der Naturwissenschaften in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), die auch für sich genommen eigenständige wissenschaftshistorische Studien darstellen, mit denen der Autor gleichsam probehalber seine eigene Vorstellung von wissenschaftshistorischer Arbeit praktiziert. Das 2. Kapitel (Im Disput um das Wesentliche, Theorien der Wissenschaftsentwicklung im Überblick) läßt wohl alle wichtigen Konzepte zur Wissenschaftsentwicklung der jüngeren Vergangenheit - von Carnap hin zu Maturana - Revue passieren, ist orientierend und instruktiv für den Nichtfachmann. Es war wohl nicht zu vermeiden, daß Darstellung und erst recht Kritik dieser Vielzahl von Ansätzen recht knapp ausfallen. Die abschließend in 8 Thesen offerierten Umrisse einer eigenen Konzeption legen gut abgesicherte Fundamente, ohne doch schon weitergehende originäre Ideen anzubieten. In puncto Ausführlichkeit wird man durch die Fallstudien des 3. Kapitels (HaeckeI, Driesch, Loeb, Daniels) entschädigt. Dabei ist die differenzierte Darstellung der Haekkelschen WeItsicht einschließlich ihrer reaktionären Tendenzen, verbunden mit einer Verteidigung Haeckels gegen Daniel Gasmans "Protofaschismusvorwurf" (S. 189) von prickelnder Aktualität. Die Abschnitte über Driesch und Loeb bestechen durch ihre souveräne Darstellung und Einschätzung der Mechanismus- Vitalismus-Kontroverse. Im abschließenden 4. Kapitel (Pflichten, Ideale und Universalien der Wissenschaft in Geschichte und Gegenwart) mit den Abschnitten ,,Neugier und Nutzen - Universalien einer jeden Wissenschaft", "Wissenschaft im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung" , "Vom Ethos der Wissenschaft" bricht der Autor eine Lanze für die Neugier als Stimulus wissenschaftlicher Forschung (wobei auch der Nutzen nicht zu kurz kommt), vor allem aber für einen verantwortungsvollen Humanismus aller in der Wissenschaft Tätigen. Wolf Kummer, Halle (Saale)

Laszlo, Ervin, Evolution - die neue Synthese. Wege in die Zukunft. The Club of Rome - Information Series, Vol. 3. Wien 1987, Europa-Verlag. Laszlo gelingt es, das evolutionäre Paradigma als Bedingungsgefüge für den Richtungsvektor vom Urknall zur kosmischen und planetaren Evolution, von der Entstehung des Lebens und der biotischen Evolution bis zur soziokulturellen Evolution des Menschen zu generalisieren. Die bekannten Grundlagen werden allgemeinverständlich referiert:

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a) Gleichgewichtsferne Bedingungen mit der kosmologischen Ursache, daß im Universum irreversibel "die Dichte der in der Strahlung enthaltenen Energie zunehmend geringer wird als die Dichte der in der Materie gebundenen Energie" (S. 39, 85 ff.) b) Nicht-deterministisches, von Störparametern abhängiges Verhalten (Instabilität) ermöglicht: c) Bifurkation(skaskad)en und zufällige Annäherung an verschiedene, neue entstehende Dauerzustände (Attraktoren) oder d) die Fähigkeit struktureller Selbstreproduktion (Autopoiesis). e) Das Kontinuum der Evolution läßt sich durch folgende Parameter gleichgewichtsferner Systeme beschreiben (S. 39): Größe, Organisationsniveau (zunehmend hierarchisch), abnehmende Bindekräfte und Komplexitätsgrad: Letzterer ist auf jeder neuen Integrationsebene - z. B. der Gesellschaft - zunächst geringer als derjenige ihrer Bestandteile - z. B. der beteiligten Gehirne. Die Dynamik der biotischen Makro-Evolution (S. 95 ff.) wird als Resultat von Mutation und evolutionärer Konvergenz (Symbiose bereits vorhandener Bausteine) betrachtet. Hauptpunkte Laszlos evolutionärer Geschichtstheorie sind: a) Die menschliche Gesellschaft ist Ergebnis menschlichen Zusammenwirkens, aber nicht Ergebnis einer bewußten Gestaltung durch den Menschen (S. 113). b) Als Richtung der nicht teleologisch (S. 110) ablaufenden Geschichte konstatiert Laszlo eine ,,zunahme der Fähigkeit zu Aufnahme, Speicherung und Nutzung dichter, freier Energiepotentiale" (S. 117, 130) bei der Aufeinanderfolge technischer Innovationen. c) Sozial- und Ideensysteme leiten sich maßgeblich vom jeweiligen Technologietypus ab. Die Begriffe ,,Fortschritt" und ,,Entwicklung" bestimmen sich durch die innewohnende Reversibilität: Der geschichtliche Zeitvektor verläuft "stets von der Harke zum Pflug und nicht umgekehrt" (S. 122 ff.). d) Aus dem Bündel technischer, konflikt- und ökonomischer Bifurkationen (S. 128), die die Dynamik sozialer Veränderungen bestimmen, ist keine Vorhersage oder Herbeiführung eines bestimmten Systemzustandes von außen möglich. "Die Evolution der menschlichen Gesellschaft kann (aber) von jenen ( ... handlungswilligen Aktivisten ... ) beherrscht werden, die von innen her agieren - auf die richtige Art, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit" (S. 139). e) Die vornehmlich an politische Entscheidungsträger gerichtete Hauptbotschaft ist, daß es keine lineare Aufreihung der Gesellschaften auf einem Einbahngleis gibt, sondern daß "alle Fahrzeuge auf zunehmend verflochtene Gleissysteme gelangen. Während sich die aus eigener Kraft fortbewegenden Fahrzeuge entlang des wechselseitig verbundenen Weichensystems ... auf ihre individuellen und dennoch gemeinsamen Ziele zubewegen, sind (andere) der Gefahr des Entgleisens mehr ausgesetzt ... : die Wechselbeziehungen zwischen den Weichen verursachen plötzliche Richtungsänderungen, die von den Fahrern viel Geschick und Können verlangen". Gerd Gebhardt, Potsdarn

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Riedl, Rupert, Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft (3. Aufl. Paul Parey, Berlin und Hamburg 1981) Das Buch richtet sich an den naturwissenschaftlich und den erkenntnistheoretisch interessierten Leser. Anhand der Problematik des Gewinnens von Informationen in biologischen Systemen wird gleichzeitig in die modemen Gebäude der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung eingeführt. Die Überschneidung biologischer Phänomene und philosophischer Kategorien ergibt sich ganz zwangsläufig aus der Zusammenfügung der neuen Ergebnisse biologischer Forschung und dem Versuch, auf Axiome im Gedankengebäude weitgehend zu verzichten. Die in der naturwissenschaftlichen Forschung bewährte Methode der Verallgemeinerung und Prüfung von Erfahrungen wird als ein Grundprinzip herausgearbeitet, das bereits auf biologischer Ebene wirkt. Erkenntnisgewinn durch Entwicklung zieht sich als roter Faden dieser "Evolutionären Erkenntnistheorie" von den Anfängen des Lebens bis zur menschlichen Vernunft. Zugleich wird gezeigt, daß die Evolution selbst als fortgesetzte Erkenntnisgewinnung zu verstehen ist - mit der Konsequenz, daß sich gerade auch der beschreibende, reflektierende Wissenschaftler als Akteur im evolutionären Prozeß begreifen muß. Erfolg und Irrtum menschlichen HandeIns, Verantwortung und Risiko rücken in den Kontext der biologischen Vergangenheit des Menschen. Neben dem Nachweis naturgesetzlicher Ursachen für menschliche Verhaltensweisen verleiht die Reflexion über die unvermeidlichen Folgen von Entscheidungen und Entwicklungen dem Buch eine weit über die philosophischen Zusammenhänge hinausgehende gesellschaftspolitische Dimension. Der Forderung nach neuen ethischen Maßstäben wird der Autor durch seine eigene Haltung gerecht, indem er aufzeigt, daß die Menschheit nur als Ganzes und als integraler Bestandteil der Ökosphäre ihre Weiterentwicklung sichern kann. Die Unmöglichkeit der völlig rationalen Bewältigung der neuen evolutionären Mechanismen unserer hochtechnisierten Gesellschaft entbindet dabei nicht von der Verantwortung, nach vernünftigen Wegen zu suchen. Der Autor führt den Leser konsequent an fundamentale naturwissenschaftliche und philosophische Probleme heran: Zeit und Zeitpfeil, Gesetz und Zufall, Wahrheit und Gewißheit, Ursache und Wirkung, Sinn und Zweck, Komplexität und Hierarchie, Gleiches und Analoges und vieles andere. Daneben werden speziellere Schwerpunkte gesetzt, die sich wie z. B. das biologische Homologieproblem beinahe nebenbei aus den allgemeinen Zusammenhängen ergeben. Der oft überschätzten Rationalität im menschlichen Handeln werden die ratiomorph geprägten biologischen Strukturen gegenübergestellt. Menschliche Logik erscheint dabei nicht als Gegensatz, sondern als Entwicklungsprodukt der biologischen Mechanismen des Erkenntnisgewinns. Die durchaus komlizierten Gedankengänge werden dem Leser durch eine Fülle von anschaulichen Beispielen aus der Forschung und durch informative, übersichtliche Abbildungen nahe gebracht. Dazu trägt die Einbeziehung der Erfahrungswelt des Lesers durch gelungene Darstellungen bei. Die Benutzung des Buches bietet dem an weiterführender Literatur Interessierten und allen interdisziplinär Arbeitenden durch einen mehrteiligen Apparat wichtige Informationen. Neben dem ausführlichen Literaturverzeichnis, dem Autoren- und dem Sachregister werden fundamentale Begriffe in einem Glossar allgemeinverständlich erläutert und in einem Anmerkungsteil Hinweise zu einzelnen Textstellen gegeben. Die abwechslungsreiche inhaltliche Gestaltung, die feine Gliederung des Textes und der einfache Sprachstil eröffnen einen angenehmen Zugang zu der neuen Sicht auf die bedeutenden biologischen und erkenntnistheoretischen Forschungsergebnisse. Michael Köhler, Jena

Autorenverzeichnis Prof. Dr. lIya Prigogine und Dr. Isabelle Stengers, Service de Chimie Physique 11, Code Postal n° 231, Campus Plaine U. L. B., Brd. du Triomphe, 1050 Bruxelles, Belgique Prof. Dr. Hermann Haken, Universität Stuttgart, Institut für theoretische Physik und Synergetik, Pfaffenwaldring 57/4, W-7000 Stuttgart 80 (Vaihingen) Doz. Dr. Uwe Niedersen, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftstheorie u. -geschichte (Sektion Philosophie), Gimritzer Damm, PF 8, 0-4010 Halle (Saale)

Dr. Ludwig Pohlmann, Akademie der Wissenschaften, Zentralinstitut für physikalische Chemie, Rudower Chaussee 5, 0-1199 Berlin Prof. Dr. Wemer Ebeling, Humboldt-Universität Berlin, Sektion Physik, Unter den Linden, 0-1080 Berlin Doz. Dr. Rainer FeisteI, Universität Rostock, Sektion Schiffstechnik, Albert-EinsteinStraße, 0-2500 Rostock 1 Doz. Dr. Hans-Georg BarteI, Humboldt-Universität Berlin, Institut für Physikalische und Theoretische Chemie, Bunsenstraße, 0-1080 Berlin

Dr. Wolfgang Krohn und Dr. Günter Küppers, Universität Bielefeld, Universitätsschwerpunkt Wissenschaftsforschung, Universitätsstraße, W-4800 Bielefeld 1 Prof. Dr. Hans-Peter Krüger, Akademie der Wissenschaften, Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaften, Prenzlauer Promenade 149 - 152, 0-1100 Berlin

Dr. Christian Dahme, Humboldt-Universität Berlin, Sektion Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsorganisation, Unter den Linden, 0-1080 Berlin Prof. Dr. Reinhard Mocek, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftstheorie u. -geschichte (Sektion Philosophie), Gimritzer Damm, PF 8, 0-4010 Halle (Saale) Rainer-M. Jacobi, Humboldt-Universität Berlin, Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenese, Am Kupfergraben 5, 0-1086 Berlin

Dr. Jochen Hallo/, Humboldt-Universität Berlin, Institut für Ägyptologie, Unter den Linden, 0-1080 Berlin

Vorausschau

Jahrbuch 1991 Thematik:

Der Mensch in Ordnung und Chaos Herausgeber: Uwe Niedersen und Ludwig Pohlmann

Jahrbuch 1992 Thematik:

Geschichte der Selbstorganisationsforschungen, im besonderen in den Naturwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts

Anmerkung: Es besteht die Möglichkeit, eine kleinere Anzahl von Aufsätzen (ca. 15 S.) zu den genannten Themen in das jeweilige Jahrbuch aufzunehmen. Die Manuskripte müssen jedoch bis März 1991 bzw. Januar 1992 den Herausgeber des Jahrbuchs erreichen. Sie unterliegen der Begutachtung durch den wissenschaftlichen Beirat. Die Publikation kann also nicht von vornherein garantiert werden.