Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 3 (1992). Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften [1 ed.] 9783428475155, 9783428075157


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Selbstorganisation: Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Band 3 (1992). Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften [1 ed.]
 9783428475155, 9783428075157

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SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Band 3

SELBSTORGANISATION Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften

Band 3 1992

Konzepte von Chaos und Selbstorganisation in der Geschichte der Wissenschaften Herausgegeben von Wolfgang Krohn, Hans-Jürgen Krug und Günter Küppers

Duncker & Humblot · Berlin

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0939-0952 ISBN 3-428-07515-3

Inhaltsverzeichnis Wolfgang Krohn, Günter Küppers und Hans-fürgen Krug, Organisation. Ein Grundthema der neuzeitlichen Wissenschaft - ungelöst und unabweisbar . . . . . . . . . . . . .

7

Eckhard Keßler, Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance . . . . . .

15

Wolfgang Krohn und Günter Küppers, Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Heinz Rieter, Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Michael Hutter, Organismus als Metapher in der deutschsprachigen Wirtschaftstheorie ... ... . ... ... . .. ... . .. .. . . . . . .. . . . ... . .. . . .. ... ... . .. .. . ... ..... .. . . . . .. . .. . ......

87

Hans-Georg Barte/, Johann Wilhelm Ritters Gedanken zur Selbstorganisation

113

Hans-fürgen Krug, Autokatalyse-Herkunft und Geschichte eines Begriffes

129

Reinhard Mocek, Hans Driesch und das Problem einer finalen Harmonie in der Morphogenese . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .. . . . . . .. . . . . ... . .. . . .. . . .. .. . .. . ... . .. . 155 Frank Schweitzer, Goethes Morphologie-Konzept und die heutige Selbstorganisations-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Aleksandr A. Pechenkin, Die Andronov-Schule als eine der Quellen der Synergetik in der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Mitchell G. Ash, Holismus, Systemgedanke und Selbstorganisation in der Psychologie am Beispiel der Gestalttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Ewald fohannes Brunner, Zur Entwicklung des Konstruktivismus in der Psychologie 227 Marie-Luise Heuser-Keßler, Keplers Theorie der Selbststrukturierung von Schneeflocken vor dem Hintergrund neuplatonischer Philosophie der Mathematik . . . . . 237 Klaus Mainzer, Chaos, Selbstorganisation und Symmetrie. Bemerkungen zu drei aktuellen Forschungsprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Uwe Niedersen, Leben, Wissenschaft, Klassifikation. Aus dem Nachlaß Wilhelm Ostwaids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Inhaltsverzeichnis Edition

Wilhelm Ostwald, Chemische Kulturgeschichte. Grundlegung (1929/30) (Uwe Niedersen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Buchbesprechungen

Kuhnert, Lothar und Niedersen, Uwe (Hrsg.), Selbstorganisation chemischer Strukturen. Arbeiten von Friedlieb Ferdinand Runge, Raphael Eduard Liesegang, Boris Pavlovich Belousov und Anatol Markovich Zhabotinsky (Karl-Heinz Jacob) 309 Bastian Till, Herausforderung Freud. Ökologie, Psychotherapie und politisches Handeln; Bastian Till (Hrsg.), Denken- Schreiben- Töten. Zur neuen "Euthanasie"Diskussion (Rainer-M. E. Jacobi) .. .. .. ... . . . ... .. . ... . .. . ... .. . .. ... .... ... . . . . .. . . 310 Scharf, Joachim-Hermann (Hrsg.), Vorträge anläßlich der Leopoldina-Jahresversammlungen der Jahre 1985, 1987, 1989; Köhler, Wemer (Hrsg.), Vorträge anläßlich der Leopoldina-Jahresversammlung 1991 (Rainer-M. E. Jacobi) . ... . .. .. . .. 312 Binnig, Gerd, Aus dem Nichts. Über die Kreativität von Natur und Mensch (Uwe Niedersen) ................................................. ............................ 315 Fischer, Hans Rudi (Hrsg.), Autopoiesis. Eine Theorie im Brennpunkt der Kritik (Rainer-M. E. Jacobi) .. . .. ... .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. .. . . . .. . .. ... .. . .. .. ... .. ... . .. 317 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

Organisation Ein Grundthema der neuzeitlichen Wissenschaft ungelöst und unabweisbar Von W. Krohn und G. Küppers, Bielefeld, H.-1. Krug, Berlin

Der Begriff "Organisation" geht auf den griechischen Begriff "organon", Werkzeug, zurück. Die Spezifikation "Selbst" verweist auf das griechische "auto", wie wir es in Begriffen wie "Automat", das Von-Selbst-Geschehende, "Autonomie", die Eigengesetzlichkeit als politische Selbständigkeit oder "Autopoiese", dem Von-Selbst- Gewachsenen, kennen. Dem Begriff des "Chaos" ist sein antiker Ursprung noch deutlicher abzulesen. Er verweist vor allem in die Schöpfungsmythen (Hesiod) und kosmogonischen Entwürfe (Anaxagoras) und bedeutet dort die gähnende Leere des Ursprungs oder auch das ungeordnete Durcheinander. 1 Man sollte also erwarten, daß eine historische Beschäftigung mit Selbstorganisation und Chaos mit Beiträgen aus der Antike zu beginnen hätte. Die Arbeiten dieses Bandes beschränken sich dagegen auf die Neuzeit und die sie vorbereitende Renaissance. Dies könnte das Ergebnis zufälliger Umstände sein, die das Entstehen von Sammelbänden begleiten. Aber es ist anders: Die Themen "Organisation" und erst recht "Selbstorganisation" sind solche der neuzeitlichen Natur- und Sozialwissenschaften. Sie sind im Anschluß an die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts zu einem zentralen Problem geworden, um dann seit dem 18. Jahrhundert ständig neu aufgeworfen zu werden. Entscheidend für diesen Wechsel sind zwei miteinander verbundene ideengeschichtliche Veränderungen, die den Übergang von den vorneuzeitlichen Erklärungsidealen, die in ihren Grundlagen wesentlich aristotelisch 2 bestimmt sind, zu denen der Neuzeit markieren. Die erste Veränderung betrifft die Bedeutung der Teleologie in der Naturerklärung, die zweite den Begriff der Form. I Siehe etwa Stichwort "Chaos" im Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1970, Bd. 3. Für Verbindungen zur modernen Chaostheorie vgl. W. Krohn I G. Küppers: Rekursives Durcheinander - Wissenschaftsphilosophische Überlegungen, in: Das Chaos. Kursbuch Nr. 98, 1989, S. 69-82. 2 Auch wenn mit Blick auf den in der Renaissance wiedererstarkten Platonismus die Allgemeinheit dieser Behauptung eingeschränkt werden müßte, ergeben sich hinsichtlich des G~gensatzes zwischen der antiken und der neuzeitlichen Konzeption der Kausalität keine Anderungen.

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W. Krohn, G. Küppers und H.-J. Krug

Zur teleologischen Erklärung Die teleologische Erklärung verliert ihren Status als eine evidente Letztbegründung. Bei einigen Philosophen, wie etwa Bacon, Descartes, Spinoza büßt sie die Anerkennung als Erklärungsschema in den Naturwissenschaften überhaupt ein 3• Die Existenz von Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit wird entweder bezweifelt und zum anthropomorphen Schein erklärt oder bedarf der Erklärung aus einem grundlegenderen Prinzip oder muß mit Verweis auf die Theologie aus dem Bereich des wissenschaftlich Erforschbaren ausgegrenzt werden. Zerbricht das Prinzip der Teleologie, dann wird die Selbstorganisation zu einem widerständigen Problem. Wie entsteht das Ganze aus seinen Teilen, wie erhält es sich? Aristoteles wie vor ihm Platon und nach ihm die stoische Philosophie haben sich um das Problem der systemischen Ganzheit bemüht, dessen zentrales Problem die Beziehung von Einheit des Ganzen und Vielheit der Teile (Glieder, Organe) waren. Zu den Beispieltypen solcher Organisation (ohne daß dieser Begriff dabei verwandt wurde) zählen Lebewesen, die Seele, Sozialverbände (der oikos und der Staat) und Kunstwerke. Für den Staat argumentiert Aristoteles: "Auch von Natur ursprünglicher aber ist der Staat als der häusliche Betrieb und jeder einzelne von uns. Denn das Ganze ist notwendig ursprünglicher als der Tei1." 4 Dieses Argument wird parallel geführt für das Verhältnis des Lebewesens (Ganzheit) zu seinen Organen (Teilen). 5 Die Organe existieren nur in der Einbindung in die Ganzheit; nur in dieser Ganzheit können sie ihre Funktion ausüben; ohne ihre Funktion wären sie etwas anderes als das, was sie als Organe sind. Eine abgeschnittene Hand hört schnell auf, Hand zu sein. Das Problem der Organisation der Ganzheit im Sinne einer Prozeßdynamik taucht also gar nicht erst auf, und daher kennt die griechische Philosophie keinen entsprechenden Begriff6• Wodurch wird dann aber die Einheit des Ganzen, die Integration der Teile garantiert? Bei Aristoteles wird dafür die Terminologie der Herrschaft herangezogen. Bei den Lebewesen herrscht die Seele über die Organe; innerhalb der Seelenteile herrscht die Vernunft über die Begierden; im Hauswesen der Herr über die Mitglieder; in der Politik der Staatsmann über die Regierten, in der Ehe der Mann über die Frau usw. Wo immer eine Ganzheit aus heterogenen Teilen besteht, wird die Einheit gewahrt durch Herrschaft. "Wo immer Eines aus Mehrerem zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht ... da zeigt sich Herrschendes und Beherrschtes." 7 Wichtig war dabei für Aristoteles- in 3 Brüchig geworden, freilich ohne zusammenzubrechen, ist das teleologische Schema schon im Mittelalter. vgl. die hervorragende Studie von A. Maier: Finalkausalität und Naturgesetz, in: A. Maier: Metaphysische Hintergründe der spätscholastischen Naturphilosophie. Rom, 1955, 273 ff. 4 Aristote/es, Politik, I, 2, 12533 a 19 ff. 5 Vgl. Aristoteles, De Anima, II, 4, 412 b, 415 b. 6 Organisation und organisieren sind neulateinischen Ursprungs. Die Verbform existiert griechisch nur in Verbindung mit der Benutzung von Musikinstrumenten (Organen), also als "musizieren".

Organisation

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polemischer Auseinandersetzung mit Platon 8 - die funktionale Bedeutung der Verschiedenheit der Teile. Die Höherwertigkeit der Herrschaft besteht in der Beherrschung dieser Verschiedenheit. Wie immer diese Metaphorik der Herrschaft in der naturwissenschaftlichen Analyse aufgelöst wird, so bleibt doch die aus ihr bezogene Leistungskraft der teleologischen Erklärung erhalten: Herrschaft verbindet die Teile zu einem funktionsfähigen Ganzen. Die römische Staats- und Naturlehre ebenso wie die christliche Lehre von der Kirche als dem Corpus Christi folgt ähnlichen Vorstellungen. 9 Das teleologische Interpretationsschema ist immer auch mehr oder weniger normativ. Organisation wird gestiftet durch Anordnung und Vorschrift. Vermutlich ist das antike und mittelalterliche Denken dem Problem der Organisation dort am nächsten gekommen, wo es sich mit der Entstehung von Ordnung, vor allem von der Ordnung des Verschiedenen befaßt hat. Hierfür stehen Begriffe zur Verfügung, die nicht nur die gegebene Ordnung (taxis, ordo), sondern die prozedurale Anordnung bezeichnen: compositio (Cicero), dispositio (Augustin), ordinatio und ordinare (Scotus Eriugena). 10 Aber in allen diesen Beispielen wird auf die göttliche Kraft der Ordnungsstiftung rekurriert. Die ideelle Zweckmäßigkeit und die normative Anordnung gewährleisten die Einheit des Verschiedenen. 11 Die einzige größere Schwierigkeit wird in dieser Konzeption durch die ontologische Frage nach der Existenzweise der Ganzheit aufgeworfen. Offensichtlich können die Organe nur eingebunden in die Einheit des Ganzen existieren - im Lebewesen, im Staatswesen. Aber wie ist es umgekehrt? In welcher Weise existiert das Lebewesen oder das Staatswesen selbst? Besonders unangenehm ist das Problem bei denjenigen Ganzheiten, die aus unzusammenhängenden Teilen, den corpora ex distantibus, bestehen: also bei allen sozialen Organisationen. Während bei Lebewesen durch den räumlichen Zusammenhang der Organe die Existenz der Ganzheit noch unproblematisch als die der Einheit in der Form des Lebewesens interpretiert werden kann, ist dies bei einem Heer, einer Religionsgemeinschaft, einer politischen Versammlung schwierig. Beruht die Idee der Einheit des Verschiedenen in einer Ganzheit vielleicht nur auf einer Sprechweise und einer nützlichen Vereinfachung der Betrachtung, der in Wirklichkeit nichts entspricht? Fragen dieser Art unterhöhlen seit dem späten Mittelalter das überkommene Ordnungsdenken. 12 7

Aristoteles, Politik I, 5, 1254 a 28.

Aristote1es wendet sich vor allem gegen Platons Postulat von der Besitzgemeinschaft und dagegen, daß das höchste des Staates die größtmögliche Einheit sei. Vgl. Politik, II, 1-2, 1261 a 1 ff. 9 Siehe H. Schlier, Artikel Corpus Christi, Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1970, Bd. 3. 10 Belege finden sich in dem Artikel Ordnung im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Hg. von J. Ritter I V. Gründer, Darmstadt 1971, Bd. 6. II In der Stoa und ihr nahestehenden Denkern wird gelegentlich die Anordnung in die Dinge selbst verlegt: autotaxis (Pseudo-Dionysos) übersetzt bei Scotus Eriugena mit perse ipsam ordinatio, Beleg: Artikel Ordnung, Hist. Wörterbuch der Philosophie (FN 10). 8

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W. Krohn, G. Küppers und H.-J. Krug

Zum Schema von Form und Materie Eine zweite Säule des antiken und mittelalterlichen Denkens ist das Schema von Form und Materie. Auch es verliert in der Neuzeit seine Ordnungsfunktion, zumindest seine grundlegende. Es wird ersetzt durch das Schema von Kraft und Materie (oder auch durch das von Element und Wechselwirkung 13 ). Der frühneuzeitliche Kraftbegriff hat sich bekanntlich aus dem aristotelischen Ursachenschema durch Heraustrennen der causa efficiens gelöst. Diese "Wirkursache" war eine, und zwar die unwichtigste von vier Komponenten, die den aristotelischen Begriff der Kausalität füllten 14 • Die drei anderen waren die causa formalis, die causa materialis und die causa finalis. Es ist oft bemerkt worden, daß dieses Erklärungsschema einem (handwerklichen) Fertigungsvorgang entlehnt ist. Ein Haus entsteht durch die Vorstellung eines Zweckes, dem Entwurf einer Struktur, der Bereitstellung bestimmter Baustoffe und schließlich dem Ingangsetzen des Bauvorgangs. Im neuzeitlichen Kraftbegriff bleibt nur dieses letzte übrig: Eine Kraft ist das lngangsetzen einer Veränderung in einem materiellen Substrat. Es ist hier nicht der Ort, diese Transformation des klassischen Kausalschemas historisch zu rekonstruieren. Der Hinweis soll genügen, daß es mit dem Wegfall der formgebenden Kausalität für die Geformtheit der Dinge und durch den Wegfall der zweckgebenden Kausalität für die Organisation der Beziehungen zwischen den Dingen keine plausible innerwissenschaftliche Erklärung mehr gab. Das Problem der Ordnungsstiftung, das bei den Griechen nur bei der Weltentstehung aus dem ungeordneten Chaos erklärt werden mußte 15 und bei Aristoteles durch die Theorie der immer schon geformten und daher ewigen Welt aufgelöst 12 Siehe zur gesamten Thematik die ausgezeichneten Artikel von G. Dohrn-van Rossum und E.-W. Bockenförde: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, hg. von Brunner, Conze, Koselleck, Stuttgart, 1978, Bd. 4, 519-560, 561-622. n Der Unterschied zwischen beiden Konzepten besteht darin, daß mit dem Begriff der Kraft eine von der Materie unabhängig gegebene Ursache der Veränderung angenommen wird, die "von außen" auf die Materie einwirkt, während in der Konzeption der Wechselwirkung zumindest dort, wo die Elemente selbst Quellen der Wechselwirkungen sind, die Ursachen nicht unabhängig von den Wirkungen bleiben. Teilchen erzeugen die Felder, in denen sie sich bewegen und ihre Bewegung verändert die Felder. Erst in den modernen Feldtheorien der Physik wird diese Rückkoppelung thematisiert. Zwar ist bereits bei Newton die Gravitation eine der Materie innewohnende Kraft, aber mit der Unabhängigkeit von Kraft und Bewegungsgleichung bricht er die Rückkoppelung der Bewegung auf die Kraft wieder auf. Das versperrt ihm letztlich den Weg, auch die Entstehung des Kosmos als Folge des Wirkens der Schwerkraft allein zu erklären. 14 Wieweit für Aristoteles diese vier Modi des Warum-Fragensein Schema der Kausalität bilden, kann hier offen bleiben. Das Schema bestand in der kodifizierten Form des mittelalterlichen Aristotelismus. 15 Der entscheidende Satz in Platons Timaios lautet: "Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut ... sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung ... " Tim. 30 a. Das Christentum konnte dem leicht folgen.

Organisation

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wurde 16 , wurde nun ein Problem, das alle Wirklichkeitssegmente durchzog. Wie kann Ordnung, gleichgültig ob fremd-geordnet oder selbst-geordnet, überhaupt entstehen ohne ordnende Kräfte? Wie kann aus Kräften, die nichts als Bewegungsveränderungen bewirken, die aber mit Blick auf Ziele "blind" sind, Ordnung entstehen oder aufrecht erhalten werden? Zur Beantwortung dieser Frage wurden schon früh im 17. Jahrhundert konkrete Modelle entwickelt, so z. B. von Kepler für die Entstehung von Schneekristallen. 17 Paradigmatisch beantwortet im Rahmen einer dynamischen Theorie eines mechanischen Systems wurde sie erstmalig von Newton: Die Ordnung des Planetensystems ergibt sich allein aus der Gravitation 18 • Das Planetensystem wurde zum Paradigma für die ordnende Wirkung einer "blinden" Kraft und begründete den Anspruch des mechanistischen Weltbildes, oder allgemeiner, den des neuzeitlichen Reduktionismus. Die harte Form des mechanistischen Reduktionismus galt wohl zu allen Zeiten den meisten Wissenschaftlern als eine unerfüllbare Utopie. Denn wie sollte man hoffen, die komplexe Ordnung in den Lebewesen, in den Kristallen, in der Gesellschaft usw. auf mechanische Kräfte zurückführen zu können? Die sorgfältige Betrachtung eines jeden Einzeldings sprach dagegen. In abgeschwächter Form kann der Reduktionismus auch andere als nur mechanische 19 Kräfte zulassen (solche, die nur in bestimmten Stoffklassen wirken), aber an dem Erklärungsanspruch festhalten, daß auch diese Kräfte nichts als Zustandsänderungen bewirken; sie wirken nur nicht universell. Mit solchen Annahmen von chemischen, elektrischen, magnetischen und anderen Kräften waren die Beispiele von Ordnungsbildung zu vermehren. 20 Das Newtonische Paradigma der mechanisch erklärten Ordnung des Planetensystems wies für die Möglichkeit solcher Erklärungen den Weg. Eine scheinbar radikale Grenze gegen die Hoffnungen des harten wie des weichen Reduktionismus bildeten freilich die Lebewesen. Es schien unausweichlich, eine hypothetisch angenommene Lebenskraft speziell für die zweckmäßige Organisation des Lebendigen einzuführen. Gleichgültig, ob dabei die Aufrechterhaltung des individuellen 16 Für Aristoteles besteht die Ewigkeit der Ordnung, weil Ordnung als eidos immer schon mit dem von Natur aus Seienden verbunden ist, vgl. Physik, li, 1, 193 a 28 ff. 17 Vgl. in diesem Band den Beitrag von M.-L. Heuser-Keßler. 18 An derselben Frage hatte sich schon Descartes probiert; erst Kant hat sie in die verschärfte Form gebracht, daß nicht nur die Ordnung sondern auch deren Entstehung erklärt werden müßte. Dazu mußte er Newtons Trennung von Kraft und Bewegung wieder aufgeben. Erst Einstein ist es gelungen, in der allgemeinen Relativitätstheorie eine befriedigende Lösung zu finden. V gl. zum Zusammenhang Descartes, Newton, Kant den Beitrag von W. Krohn I G. Küppers in diesem Band. 19 Hier sind mechanische Kräfte im ursprünglichen Sinne gemeint, nämlich Druckund Stoßkräfte. 2o Vgl. vor allem zu chemischen und elektrochemischen Prozessen die Beiträge von H.-G. Bartel und H.-J. Krug in diesem Band. Aber nicht immer sind solche Kräfte als "mechanische" Kräfte zu verstehen. Die von Ritter 1798 als alle Lebensprozesse begleitend erkannte Elektrizität wird eher als Synonym für "Lebenskraft" benützt.

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W. Krohn, G. Küppers und H.-J. Krug

Lebensprozesses, die Reproduktion der Gattungen, der Bestand der Biotope, ob Fragen der Fortpflanzung und Entwicklung, des Stoffwechsels oder der körperlichen Organisation behandelt wurden, ob von Krankheit und Gesundung oder von der Funktionsweise der Sinne die Rede war- überall stieß das 18. Jahrhundert an dieselbe Grenze: Man braucht Mechanismen der zweckmäßigen Ordnung, wenn die angenommen Kräfte "blind" wirken und sich die Zweckmäßigkeit aus einer von außen ungesteuerten Wechselwirkung der Komponenten "von selbst" ergeben soll. Die Annahme einer zwecksetzenden oder wenigstens formgebenenden Lebenskraft schien unausweichlich 21 • Die einzige Alternative waren reduktionistische "nichts-als" Trivialisierungen der materialistischen Philosophen 22 • Diese waren aber für die empirische Forschung wertlos, weil sie, anstau die besonderen Phänomene des Lebens zu erklären, diese nicht ernst nahmen 23 • Kant, der in seiner Kritik der Urteilskraft die konsequenteste Analyse der erkenntnistheoretischen Situation gegeben hat, kam zu dem skeptischen Ergebnis, daß Lebensphänomene sich letztlich der wissenschaftlichen Erkenntnis entziehen. Die Diskussionen über die Erklärbarkeil von Phänomenen des Lebens zeigen, daß es wissenschaftshistorisch unhaltbar wäre, von einem Sieg des mechanistischen Weltbildes zu reden. Aber insoweit hat dieses Weltbild doch gesiegt, als die Rückkehr zu teleologischen und formgebenden Prinzipien einer besonderen Rechtfertigung bedurfte: aus der Unzulänglichkeit der mechanischen Erklärung (aus Wirkursachen) wurde die Annahme von hypothetischen Lebenskräften begründet. Durch den Zusammenbruch der teleologischen Erklärung und die Ersetzung des Formbegriffs durch den der Kraft wurden Phänomene der Ordnung und Organisation zu zentralen erklärungsbedürftigen Problemen. Das hätte auch zur Folge haben können, daß ihnen das wissenschaftliche Interesse entzogen worden wäre. Diese Lösung hätte recht gut zu der Aufgabenteilung zwischen Wissenschaft und Religion gepaßt, die von Theologie und Philosophie mit Gott als Garanten der Ordnung durch die von ihm in Kraft gesetzten Naturgesetze angestrebt wurde. Aber das Gegenteil war der Fall. Aus verschiedenen Gründen wurde die Unruhe geschürt. Drei Gründe seien genannt. Erstens beruhigte die theologisch begründbare Physiko-Teleologie nicht die innerwissenschaftliche Fragestellung: Wie kann durch das Erlassen von Gesetzen Ordnung und Organisation entstehen und aufrechterhalten werden, wenn diese 21 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein waren solche Annahmen nicht nur verbreitet, sondern auch für den empirischen Erkenntnisfortschritt produktiv. Siehe hierzu T. Lenoir: The Strategy ofLife. Teleology and Mechanics in Nineteenth Century German Biology, Dordrecht I Boston 1982. In diesem Band siehe den Beitrag R. Mocek zu Hans Driesch. 22 Siehe dazu im Überblick die hervorragende Darstellung von F. A. Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2. Aufl. 1873, Neudruck Frankfurt 1974, vor allem Bd. II, 587-893. 23 Die heute naheliegende Meinung, daß produktive Forschung unter der Flagge des Reduktionismus, nicht unter der des Holismus fährt, ist historisch weder für das 18. noch das 19. Jahrhundert haltbar. Vgl. Lenoir: Strategy of Life (FN 21).

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Gesetze mechanischer Natur sind? Die Metapher des göttlichen Uhrmachers, die als Vorstellungshilfe bei der Erweiterung der mechanischen Theorien zum mechanischen Weltbild immer wieder bemüht wurde, warf nicht weniger Probleme auf als sie löste. Uhren erzeugen keine Uhren und sie reparieren sich nicht selbst. Einen zweiten Grund lieferte der Einfluß des Mikroskops auf die Biologie. Die zahlreichen Entdeckungen über die differenzierten Strukturen bis in jede neue Feinauflösung hinein ließen das Ziel, diese komplexen Organisationen mit wenigen mechanischen Gesetzen zu erklären, zumindest in weite Ferne rücken. Aus dem anfangliehen Optimismus, organische Zusammenhänge mechanisch zu erklären, wurde im 18. Jahrhundert allmählich der Gegensatz zwischen Organizismus und Mechanizismus. Ein dritter Grund liegt außerhalb der Naturwissenschaften: Gesellschaftswissenschaftler interessierten sich zunehmend für das Funktionieren der Wirtschaft und des sozialen Zusammenlebens. 24 Individueller Eigennutz und individuelle Handlungsfreiheit werfen die Frage nach der Ordnung des Ganzen auf. Wenn die positiven Vorschriften darüber, was einzelne im Interesse des Ganzen zu tun haben, abnehmen und die Optionen, nach eigenem Gutdünken zu handeln, zunehmen, wie ist dann die Wohlfahrt das Ganzen möglich? Es gab also genügend Anreize, die Fragen der Organisation auch unter den verschärften Bedingungen der wissenschaftlichen Erklärung nach mechanischen Prinzipien aufrecht zu erhalten. Dabei bleibt zunächst unberücksichtigt, ob die Kraft wie bei Newton als unabhängige und damit quasi externe Größe eingeführt wird (weil man ihre Abhänigkeit von der Dynamik vernachlässigt) oder ob wie bei Kant Kraft und Bewegung miteinander verbunden sind. Newton zeigt, daß Ordnung eine Folge mechanischer Kräfte ist und Kant sieht als erster in voller Klarheit die Notwendigkeit der zyklischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung, von Kraft und Bewegung, um auch die Entstehung dieser Ordnung erklären zu können. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir wollten in dieser Einleitung erklären, warum das Thema der Selbstorganisation ein neuzeitliches ist in dem doppelten Sinne, daß es erst durch das neuzeitliche wissenschaftliche Erklärungsideal bis an die Grenze der Unlösbarkeit schwierig wurde und dennoch nicht fallen gelassen werden konnte. Aber wie immer, wenn man historische Gegensätze dramatisiert, können nicht nur Gegenbeispiele gefunden werden 25, sondern auch allmähliche Übergänge und Konstruktionskompromisse. Untersuchungen der Philosophie des Spätmittelalters und der Renaissance stehen hier aus. 26 Wir haben hier die Behauptung vertreten, daß das mechaZum Folgenden siehe die Beiträge von H. Rieter und M. Hutter in diesem Band. Hier wäre vor allem an die atomistische Tradition der antiken Naturphilosophie (Demokrit, Epikur, Lukrez) zu denken, aber auch an die stoische Tradition. 26 Siehe in diesem Band den Beitrag von E. Keßler, der darstellt, wie das Problem der Ordnungsbildung sich schon herausbildet, als ihm nur das aristotelische Kleid zur Verfügung stand. 24

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nistische Denken die Erklärungsbedürftigkeit der Phänomene der Organisation in den Vordergrund schob; aber man wird zugleich erwarten, daß das mechanistische Weltbild möglich wurde, weil die Erkenntnisinteressen des Spätmittelalters und der Renaissance sich diesen Phänomenen zuwandten. Auch die Ideengeschichte unterliegt einer Dynamik der Selbstorganisation - über die wir bisher wenig wissen. Die folgenden Beiträge markieren wichtige Schritte dieses Prozesses.

Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance Von Eckhard Keßler, München

In der Renaissance gibt es den Begriff der Selbstorganisation noch nicht. Es gibt aber, wie mir scheint, genügend Hinweise für die Vermutung, daß Prozesse, die wir als Selbstorganisation bezeichnen können, in der Naturphilosophie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben. Denn wenn man bedenkt, daß im Begriff der Organisation der des Organismus enthalten ist und daß nach Aristoteles der lebende oder beseelte Körper als mit Organen ausgestattet zu denken ist 1, dann erscheint der Verdacht begründet, daß jene "neuen" Naturphilosophen der Renaissance, die die Welt als Ganze als beseelt zu denken versuchen, also die sogenannten "Animisten" des 16. Jahrhunderts 2 , die Welt als mit Organen ausgestattet und folglich als Organismus verstanden, der auf Organisation beruht. Nimmt man hinzu, daß zumindest in der platonischen Tradition, deren erneute Rezeption in der Renaissance so manches in Bewegung gesetzt hat3, die Seele als das gilt, was sich selbst bewegt\ dann dürfte es nicht völlig abwegig sein zu unterstellen, daß im Modell eines als Ganzen beseelten Weltorganismus so etwas wie Selbstorganisation mitgedacht worden ist. Um diesem Verdacht nachgehen zu können, müssen wir, ehe wir uns einzelnen Modellen zuwenden, zunächst einen Blick auf den philosophischen Kontext dieserneuen Naturphilosophien werfen. Dieser Kontext ist, wie generell für alle Renaissancephilosophie, die aristotelische Tradition.

1. Die aristotelische Tradition Grob betrachtet, bietet Aristoteles den in seiner Tradition stehenden Naturphilosophen zwei verschiedene Erklärungsmodelle an. I Aristoteles: De anima II, 1; 412 b 4 ff. z Vgl. Alfonso Ingegno, The new philosophy of nature, in: Ch. B. Schmitt (Hg.), The

Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988, S. 236-264. 3 Vgl. P. 0. Kristeller, Platonismus in der Renaissance, in: ders., Humanismus und Renaissance I, München 1974, S. 50-68. 4 Vgl. Platon, Phaidros 245 c ff.

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Das erste ist ein geschlossenes System, das nach dem Grundsatz, daß alles Natürliche das Prinzip von Bewegung und Ruhe in sich habe 5 , konstruiert ist. Zu ihm gehören der unbewegte erste Beweger und die von ihm in ewigem Kreislauf bewegten Planeten, welche die Unaufhörlichkeit und Gesetzmäßigkeit der von ihnen umfaßten Prozesse garantieren; zu ihm gehört die Lehre von den natürlichen Örtern der Elemente, welche für räumliche Ordnungsstrukturen sorgt 6 , und zu ihm gehört auch die Entstehung der Elemente auseinander 7 und der gemischten Körper aus den Elementen 8 durch die Tendenz der Primärqualitäten, sich zu reduplizieren und ihren Gegensatz zu assimilieren nach dem Grundsatz "Ein Mensch zeugt einen Menschen" 9 • Das andere Erklärungsmodell des Aristoteles ist das des Handwerkers oder Demiurgen. Seine Beispielhaftigkeit ist von Anfang an deutlich, wenn Aristoteles den Naturgegenstand in Abgrenzung vom Artefakt definiert 10 , an ihm orientiert sich die Lehre von den vier Ursachen 11 , und es erlaubt Aristoteles, Prozesse, die durch die Aktivitäten der Primärqualitäten nicht erklärbar zu sein scheinenwie die Entstehung der organischen Natur- durch die Zusatzannahme externer Bewegungsprinzipien zu retten: "Die Wärme der Sonne und die der Lebewesen zeugen ein Lebewesen" 12 • Beide Modelle versteht Aristoteles, wie das letzte Beispiel zeigt, nicht alternativ, sondern additiv, wobei das Handwerkermodell in das des geschlossenen Systems ohne Schwierigkeiten integriert werden kann. In der Geschichte des Aristotelismus scheint A verroes mit seinem radikalen Ewigkeitsdenken, für das -durchaus nicht ohne Basis bei Aristoteles 13 - alle Prozessualität des Werdens lediglich die unterste, in das zeitliche Nacheinander auseinandergezogene Stufe ewigen Seins darstellt, diese Integration am konsequentesten durchgeführt zu haben. Aber diese Integration war nicht zwingend. Schwierigkeiten bei der Erklärung der Entstehung der gemischten Körper aus den Elementen, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann 14, konnten offenbar dazu führen, den Sonderfall der Beteiligung einer äußeren Instanz beim Entstehen organischer Naturen zum Normalfall zu erheben und, wie bei A vicenna 15 , in allem natürlichen Werden einen dator Vgl. Aristoteles, Physik li, 1; 192 a 8 ff. Vgl. Aristoteles, Physik VIII, 3; 253 b 34 ff.; De caelo I, 7; 276 a 12 ff. 7 Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione II, 4; 331 a 12 ff. 8 Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione II, 7; 334 b 8 ff. 9 Vgl. Aristoteles, Metaphysik VII, 8; 1033 b 29 ff. 1o Vgl. Aristoteles, Physik II, 1; 192 b 8 ff. 11 Vgl. Aristoteles, Physik II, 3; 194 b 23 ff. 12 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium li, 3; 736 b 33 ff. 13 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium II, 1; 731 b 31 ff. 14 Vgl. Anneliese Maier, Die Struktur der materiellen Substanz, in: dies., An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, Rom 1952, S. 1-140. 5

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formarum, einen Formgeber als dem Prozess äußeren, diesen aber steuernden Demiurgen anzunehmen. Der Erfolg dieser Version aristotelischer Naturphilosophie- z.B. bei Albertus Magnus und durch ihn, noch im 15. Jahrhundert, z.B. bei dem führenden Naturphilosophen seiner Zeit, dem Paduaner Gaetano da Thiene 16 - ist sicherlich nicht nur durch ihre interne Erklärungsleistung bedingt, sondern auch durch ihre Nähe zum Demiurgenmodell des im ganzen Mittelalter bekannten platonischen Timaios 17 und mehr noch durch ihre Vereinbarkeit mit der christlichen Schöpfungslehre 18 •

Solange nun dieser dator formarum als innerhalb des geschlossenen Systems wirkend und seinen ewigen Gesetzen gehorchend gedacht werden kann - z. B. durch Identifikation mit dem Himmel- stört er die Ordnung des Kosmos ebenso wenig wie ein christlicher Schöpfergott, derkraftseiner Allwissenheit die natürliche Ordnung vollkommen kennt und ihr gemäß und zu ihrem Erhalt tätig ist. Zum Ende des Mittelalters hin aber lassen sich drei Ereignisse beobachten, die eine solche Neutralisierung des Demiurgenmodelles durch Integration in das System einer vorgegebenen, notwendigen Ordnung unmöglich machen. Das erste dieser Ereignisse ist 1277 das Verbot der Lehre von der Ewigkeit der Welt durch Bischof Stephan Tempier von Paris, wodurch die Bindung aller Prozesse mit Einschluß der Tätigkeiten eines dator formarum an die Periodizität der ewigen Gestirnsumläufe wegfällt. Die Welt hat nicht nur einen Anfang und ein Ende, sondern läßt auch prinzipiell Neues zu 19 • Das zweite Ereignis ist der um die Jahrhundertwende von Johannes Duns Scotus entwickelte Voluntarismus, der im göttlichen Demiurgen die Bindung des Willens an seine Allwissenheit und Weisheit aufhebt und sein nicht mehr periodisches Tun auch jeder anderen Gesetzmäßigkeit entzieht und der Freiheit seiner unbeschränkten Allmacht, der potentia absoluta, anheimgibt. Abhängig von einer allmächtigen Willkür wird die Welt zum - zumindest potentiellen Chaos 20 • 1s Vgl. Avicenna, Liber tertius naturalium: De generatione et corruptione Cap. XIII, ed. S. Van Riet, Leiden 1987, S. 139. 16 Vgl. Albertus Magnus, Kommentar zu den Meteorades Aristoteles IV, 1, 4, ed. A. Borgnet (Opera omnia IV), Paris 1890, S. 711 b ff.; Gaetano da Thiene, In IV Aristotelis Metheororum Libros Expositio (zu 378 b 31), Venedig 1491. 17 Vgl. Platon, Timaios 41 a ff.; R. Klibansky, The Continuity ofthe P1atonic Tradition during the Midd1e Ages, London 1939. 18 Vgl. Augustinus, De civitate Dei XII, 26. 19 Vgl. H. Denifle lA. Chatelain (Hrsg.), Chartu1arium Universitatis Parisiensis, Bd. 1, Paris 1899, Repr. Brüssel 1964, S. 544-553; dt. in: K. Flasch (Hrsg.), Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung II: Mittelalter, Stuttgart 1982, S. 358-363 2o Vgl. Johannes Duns Scotus, Quaestiones in Librum primum Sententiarum, dist. 39, q. 5; dist. 44, q. unica, in: Opera ornnia, ed. Wadding, Lyon 1639, Repr. Bildesheim 1968, Bd. V, 2, S. 1299 f.; S. 1368; vgl. zu dieser Thematik Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966. 2 Selbstorganisation, Bd. 3

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Das dritte dieser Ereignisse ist schließlich, gegen 1320, die Festschreibung der absoluten Singularität alles real Existierenden durch den Nominalismus Ockhams, welche dem omnipotenten Demiurgen erlaubt, Beliebiges zu schaffen oder zu annullieren, ohne daß anderes dadurch in Mitleidenschaft gezogen würde 21 • Die Welt besteht daher aus dem zufälligen Nebeneinander einzelner, willkürlich verursachter Dinge, welche keinerlei Beziehungen zueinander aufweisen und daher auch keinerlei Strukturen bilden. Sie stellt jenes Chaos dar, welches einer willkürlich schaffenden, omnipotenten Ursache entspricht. Es kann nicht überraschen, daß die Spätscholastik diese radikale Konsequenz, auf die sie nicht zu antworten wußte, nicht thematisierte, sondern lieber verdrängte und unter der salvierenden Bedingung, daß Gott von seiner Potenz keinen Gebrauch mache, weiterhin einen deterministisch geordneten und erkennbaren Kosmos voraussetzte 22 • Aber das drohende Chaos war damit doch nicht aus der Welt geschafft, sondern wurde durch eben diese Bedingung immer gegenwärtig gehalten- und konnte offenbar gelegentlich auch dazu verführen, ihm zu Zwecken der Problemlösung Zugang zu dem geordneten Kosmos zu gestatten, wenn z. B. der schon erwähnte Gaetano da Thiene für die Lösung der Unsterblichkeitsfrage ausdrücklich eine übernatürliche Verursachung der menschlichen Seele durch göttliche Schöpfung aus dem Nichts und in der Zeit zugesteht 23 • Im Augenblick aber, in dem, mit der Rezeption des Hermetismus und der neuplatonischen Magie durch Gaetanos Zeitgenossen Marsilio Ficino 24, dem ausgehenden 15. Jahrhundert ein Modell an die Hand gegeben wurde, aufgrund dessen es sich mit dem Chaos befreunden und in ihm tätig werden konnte - das Modell einer nicht nur von der Willkür eines allmächtigen Gottes, sondern auch von der Willkür einer Vielzahl von Geistern und Dämonen beherrschten Welt, deren Kräfte der Mensch zu seinen Zwecken nutzen kann - in diesem Augenblick also wird das vom späten Mittelalter vorgedachte Chaos zur gegenwärtigen Realität der Renaissance. Wenn zwei der bedeutendsten Naturphilosophen an der Wende zum 16. Jahrhundert, Alessandro Achillini und Agostino Nifo, die Existenz von Dämonen nicht mehr schlechthin zu leugnen vermögen, ja, im Falle Nifos sie sogar ganz offen zuzugestehen gezwungen sind 25 , dann manifestiert sich darin die Unfähigkeit

21 Vgl. Wilhelm von Ockham, Summa Logicae I, 15, edd. Ph. Boehner I G. Ga! I S. Brown, St. Bonaventure 1974. 22 Vgl. z.B. Biagio Pelacani da Parma (1365-1416), Quaestiones de anima, ed. G. Federici Vescovini, Florenz 1974, S. 76 ff. 23 Vgl. Gaetano da Thiene, Super libros de anima, Lib.Ill, ad t.c.S, Venedig 1493, S. 58 ra: " ... animam humanam non generari ab agente particulari, educente eam de potentia materiae, sed ab agente supernaturali, videlicet deo ipso creari ex nihilo, et materiae ab agente particulari praedispositae infundi et corpori humano uniri secundum esse." 24 Vgl. dazu D. P. Walker, Spiritual and Demonie Magie from Ficino to Campanella, London 1958; Francis A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964.

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des traditionellen geschlossenen Systems aristotelischer Naturphilosophie, sich weiterhin gegen das eindringende Chaos zu verteidigen. Die Natur ist, vom allmächtigen Gott über die überall gegenwärtigen Dämonen bis hin zum frei tätigen Menschen zum Spielball zwar unterschiedlich mächtiger, aber doch gleichermaßen willkürlich tätiger unberechenbarer und unvorhersehbarer Kräfte geworden und als solcher nicht mehr geeignet, Gegenstand von Wissenschaft und zuverlässiger Erkenntnis zu sein. Soll solche Erkennbarkeit zurückgewonnen werden, müssen neue Modelle gefunden werden, welche das Chaos zu integrieren und zu strukturieren vermögen. Man kann den Entwurf solcher Modelle als die Aufgabe und das Ziel der neuen Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts bezeichnen. Ich will im folgenden versuchen, drei solcher Versuche vorzustellen und auf Strukturen der Selbstorganisation hin zu analysieren.

2. Pietro Pomponazzi (1462 -1524) Der erste Fall ist der des Paduaner und Bologneser Naturphilosophen Pietro Pomponazzi, der sein Leben lang die naturgesetzliche Ordnung gegen das Eindringen übernatürlicher, der Naturgesetzlichkeit nicht unterworfener Faktoren verteidigt hat, so daß er als erster Philosoph der Renaissance gelten kann, bei dem die Beherrschung des hereingebrochenen Chaos zum zentralen Thema wird 26 • Diese Verteidigung hat einen konservativen Aspekt, der in Pomponazzis ausdrücklichem Rückgriff auf das aristotelische Angebot eines geschlossenen Modelles der Natur manifest wird, und sie impliziert einen Aspekt der Erneuerung, welcher darin besteht, daß Pomponazzi die empirische Wurzel der aristotelischen Naturphilosophie verabsolutiert und zu ihrer alleinigen Grundlage erhebt 27 • Damit ist ausnahmslos jedes sinnlich gegebene Phänomen, einschließlich aller von Theologie und Magie als göttlich oder dämonisch verursachte Wunder bezeichneten Ausnahmerscheinungen als Gegenstand der naturphilosophischen Erklärung 25 Vgl. zu beiden Charles H. Lohr, Latin Aristotle Commentaries li: Renaissance Authors, Florenz 1988, S. 236-239 (Achillini); S. 282-287 (Nifo); Paola Zambelli, I problemi metodologici del necromante Agastino Nifo, in: Medioeva 1 (1975) S. 129171; dies., Aut diabolus aut Achillinus. Fisionomia, Astrologia e Demonologia nel metodo di un Aristotelico, in: Rinascimento, 2a ser. 18 ( 1978) S. 59- 86. 26 Vgl. Lohr, Commentaries (FN 25), S. 347- 362; Wilhelm Totok, Handbuch der Geschichte der Philosophie III: Renaissance, Frankfurt 1980, S. 169- 173; Eckhard Keßler, Pietro Pomponazzi: Zur Einheit seines philosophischen Lebenswerkes, in: Tarnara Albertini (Hrsg.), Verum et factum. Festschrift S. Otto, Bem I Frankfurt 1992. 27 Vgl. die eindeutigen, wiederholten Aussagen, z.B. in: Pomponazzi, De reactione li, 1 (in: ders., Tractatus acutissimi, utillimi et mere peripatetici, Venedig 1525 S. 30 vb ): "Etenim cum omnis naturalis cognitio aut per sensum aut per rationem conformem sensui habeatur, ut et octavo Physicorum (253 a 33) et nono capite tertii de generatione animalium (760 b 31) dicit Aristoteles: ideo quae sensui manifesta sunt, a naturali sine ratione aliqua sunt accipienda; quod si aliquae sunt rationes, quae sensui contradicant, quantumcumque sint validissima, sensui et non rationi adhibenda est fides".

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definiert 28 , jegliche nicht sinnlich gegebene Realität und daher auch freie, willkürliche Ursachen göttlicher, dämonischer oder menschlicher Natur aber sind von dieser Naturerklärung ausgeschlossen; lediglich die Möglichkeit ihrer Manifestation innerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Natur vermag Gegenstand der naturphilosophischen Diskussion zu sein. Diese Diskussion, im 1525 veröffentlichten Traktat De actione reali und in der posthum veröffentlichten Schrift über den freien Willen durchgeführt 29 , kommt zu dem Ergebnis, daß keine der drei möglichen Instanzen willkürlicher Verursachung innerhalb der natürlichen Ordnung ihre Willkür durchzusetzen vermag. Gott, als Schöpfer der Natur, hat zwar die Möglichkeit, in der materiellsinnlichen Realität unmittelbar und uneingeschränkt tätig zu werden, aber in eben dieser Eigenschaft als Schöpfer ist seine Tätigkeit nicht eigentlich ein Wirken innerhalb der Realität, sondern sie ist Realitätsstiftung eines "Überseienden"- supra ens -,das jenseits aller Kategorien des Verstehens liegt 30• Soweit aber Gott als innerhalb der von ihm selbst gestifteten Natur tätig und daher vom naturphilosophischen Standpunkt aus betrachtet wird, unterliegt auch er deren, dem stoischen Fatum verwandten Gesetzmäßigkeit 31 • Auch jene Instanzen zwischen Gott und den Menschen, welche die Magie als Dämonen zu verstehen gelehrt hatte, können eine ursächliche Funktion für das natürliche Geschehen nur durch Vermittlung der sinnlich manifesten Ortsbewegung der Planeten ausüben, welche, durch die Ewigkeit ihrer Periodizität, auch deren Tun innerhalb der sinnlich gegebenen Natur einer Ordnung unterwirft 32 • 28 Dem Nachweis dieser Erklärbarkeil ist Pomponazzis Traktat, De naturalium effectuum admirandorum causis seu de incantationibus, Basel 1567, Repr. Hildesheim 1970, gewidmet. 29 Vgl. Pomponazzi, De actione reali, in: ders., Tractatus (FN 27), S. 38-40; ders., Libri quinque de fato, de Iibero arbitrio et de praedestinatione, Basel 1567, ed. R. Lemay, Lugano 1957. Vgl. Charles H. Lohr, The Sixteenth-Century Transformation of the Aristotelian Natural Philosophy, in: Eckhard Keßler I Charles H. Lohr I Walter Sparn (Hrsg.): Aristote1ismus und Renaissance. In memoriam Ch. B. Schmitt, Wiesbaden 1988, S. 89-99, hier S. 99. 30 Vgl. Pomponazzi, De actione (FN 29), S. 38 ra f.: "dei scientia causat res ... quapropter si deus est totius entis factor per suam scientiam factivam"; ebd. S. 38 rb: "Verum ut divus Dionysius dixit: ipse deus et sua species non est ens reale neque intentionale, neque ens, sed supra ens innominabile, incomprehensibile, sanctum terribile, ab ipso solo comprehensibile." 31 Vgl. Pomponazzi, De fato II, 7, 1, 31 (FN 29), S. 202, 11 ff.: ,,Rationabilior igitur videtur Stoicorum opinio opinione Christianorum, quandoquidem secundum Stoicos Deus se habet ut claudus sive claudicans ex natura, secundum Christianos vero se habet ut claudicans ex voluntate. Secundum enim Stoicos, Deus non potest aliter facere quam facit." Vgl. auch ders., Expositio super libros Metheororum, ParisBN lat. 6535, S. 13 r (zit. in Franeo Graiff, I prodigi e l'astrologia nei commenti di Pietro Pomponazzi a1 De caelo, alla Meteora e al De generatione, in: Medioevo 2 (1976) 359, Anm. 5) Vgl. auch Pomponazzi, De incantationibus (FN 28), S. 134. 32 Pomponazzi, De actione (FN 29), S. 38 rb: "Aristotelis autem sententia huic opponitur. Credit enim numerum intelligentiarum coaequari numero corporum caelestium, ab

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Schließlich kann auch die Umsetzung intentionaler Prozesse beim Menschen in reale Aktionen nicht auf die Vermittlung einer spezifischen Bewegungsinstanz, nämlich des in seiner Substanz dem Himmel vergleichbaren Spiritus 33, verzichten34. Auch sie muß sich daher den materiellen Bewegungsgesetzen anpassen, welche generell den Planetenbewegungen unterliegen, so daß auch der Mensch, insofern er als Verursacher sinnlich wahrnehmbarer, natürlicher Prozesse Gegenstand der Naturphilosophie ist, der siderischen Gesetzmäßigkeit unterliegt 35 . Das Modell der Natur, das Pomponazzi mit dieser Argumentation dem Chaos entgegenstellt, kann und will die Ursachen des Chaos nicht integrieren, sondern beruht auf deren Abschiebung in einen Bereich der Meta-Physik, für den der Naturphilosoph keine Kompetenz beansprucht, der er aber auch keine Kompetenz mehr in der Physik zugesteht. Schutzwall gegen ein Einbrechen der Ordnungslosigkeit und darum letzter Erklärungsgrund, auf den alle natürlichen Prozesse zurückgeführt werden können und müssen, sind im Makrokosmos die Planetenbewegungen, im Mikrokosmos die Bewegungen der Spiritus, die aber ihrerseits wieder den Planetenbewegungen unterworfen sind. Alles natürliche Geschehen ist daher entsprechend den ewigen Kreisbewegungen der Sterne periodisch geordnet und die von Magie und Theologie als Wunder bezeichneten Ereignisse sind lediglich ungewöhnliche Phänomene, die nur sehr selten, d. h. in sehr langen Perioden, auftreten 36. Als Ganzes ist dieses Modell der Natur, auch wenn seine initiale Abhängigkeit von einer überseienden schöpferischen und gesetzgebenden Instanz nicht ausgeschlossen wird, ein energetisch und operational geschlossenes System, in dem nicht-periodische Veränderungen nicht möglich sind. Alle Prozesse folgen darum einer internen Gesetzmäßigkeit, die auch ohne das System überschreitende Zusatzannahmen erkannt werden kann und Prognosen ermöglicht.

ipsaque intelligentia nihil immeditate provenire posse nisi motus localis corporum caelestium, per quem omnia haec inferiora generantur et corrumpuntur, ut satis et ex octavo Physicorum (265 a 13 ff.) et ex secundo De generatione (338 a 4 ff.) patet." 33 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium Il, 3; 736 b 33 ff. 34 Vgl. Pomponazzi, De actione (FN 29), S. 38 va: " ... peripatetici concordes posuere, quod intellectus practicus movet appetitum, qui appetitus movet spiritus et reliqua instrumenta requisita ad motum, neque ab ipso practico intellectu per se aliquid provenire potest nisi secundum hunc modum." 35 Vgl. Pomponazzi, De incantationibus (FN 28), S. 224: "Quod autem adducebatur de ratione, primo quoniam intellectus et voluntas non subiiciuntur corporibus coelestibus, dicitur quod quamquam primo et per se eis non subiiciantur quatenus intellectus et voluntas, tarnen quatenus humanus intellectus vel humana voluntas subiiciuntur, quoniam sine corpore operari non possunt, saltem ut sint unita, quoniam de animae immortalitate hic non disputo." 36 Vgl. Pomponazzi, De incantationibus (FN 28), S. 294: "Non sunt autem miracula quia sint totaliter contra naturam et praeter ordinem corporum coelestium: sed pro tanto dicuntur miracula, quia insueta et rarissime facta et non secundum communem naturae cursum, sed in longissimis periodis."

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Betrachtet man die Dynamik dieses in dieser Weise auf Selbstorganisation beruhenden Systems jedoch von innen heraus, dann zeigt sich, daß die Richtung der Organisation einsinnig ist: Sie verläuft von den Planeten zur sublunaren Welt, nicht aber von dieser auch wieder zu den Planeten. Die Planetenbewegung, welche die Natur gegen demiurgische Fremdorganisation abschirmt, verhält sich also ihrerseits wie ein - allerdings periodisch gezähmter - Demiurg. Wir könnten daher sagen, daß Selbstorganisation für dieses System lediglich ein Mittel ist, um jede Art freier und damit willkürlicher und chaotischer Verursachung von ihm femzuhalten. Die einzelnen Prozesse innerhalb des Systems wären als demiurgisch fremdverursacht zu beschreiben, wobei die Ursache-WirkungBeziehung nicht umkehrbar ist und daher jedes Phänomen virtuell durch eine lückenlose lineare Kausalkette von der ersten Ursache der Planetenbewegung her erklärt werden können muß.

3. Girolamo Cardano (1501-1576) Die Natur des Pomponazzi ist ein sich selbst organisierendes System, aber sie ist noch kein Organismus, in dem Selbstorganisation nicht nur das Ganze, sondern auch alle Teile konstituiert und strukturiert. Die Möglichkeit einer solchen Generalisierung des Prinzips der Selbstorganisation nach dem Vorbild des organischen Körpers hat Pomponazzi offenbar einmal im Kontext der Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie erwogen- nämlich als Projektion der Mikro- auf die Makrostruktur- dann aber wieder verworfen 37 • Offenbar scheut er sich, die aristotelische Unterscheidung zwischen anorganischer und organischer Natur aufzuheben. Girolamo Cardano, der eine Generationjüngere Arzt und Mathematiker, Astrologe und Traumdeuter, Hazardspieler und Erfinder 38 , schreckt vor einem solchen radikalen Eingriff in die aristotelische Naturphilosophie nicht mehr zurück. Denn anders als dem Professor für aristotelische Naturphilosophie liegt dem Medizinprofessor der organische Körper als Paradigma der Natur durchaus nahe und ist 37 Vgl. Pomponazzi, Expositio super libros De generatione (zit. nach Graiff(FN 31), S. 340, Anm. 1): "Homo est microcosmus, idest parvus mundus, unde videmus in homine quod est unum primum membrum a quo omnia membra, licet diversa maxime sint, dependent ... quare, ad hanc similitudinem alias existimavi mundum hunc gubernari a corporibus caelestibus quoniam corpora caelestia sunt sieut cor; equus, homo, plantae et sie de aliis, et elementa sunt sicut membra. ldeo talia faciunt diversos motus, tarnen omnes tales motus sunt a corde, scilicet caelo." 38 Vgl. zu Cardano: Totok (FN 26), S. 204-206; Lynn Thorndike, A History of Magie and Experimental Science, Bd. V, New York 1941, S. 563-579; M. Fierz, Girolamo Cardano (1501-1576), Basel I Stuttgart 1977; demnächst auch Eckhard Keßler (Hrsg.), Girolamo Cardano, Arbeitsgespräch 9.-12. Oktober 1989, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung) Wiesbaden, vorauss. 1992; berühmt ist seine Autobiographie: Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung ( De vita propria dt.), übers. v. H. Hefele, Jena 1914; Reprint München 1959.

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er - auch wenn er stets im aristotelischen Kontext denk:t 39 - in seiner Theorieentwicklung nicht ständig an den Argumentationsgang der zur Kommentierung anstehenden Schrift des Aristoteles gebunden. Cardano geht daher auch das Problem der Neutralisierung des Chaos nicht, wie Pomponazzi, direkt, d. h. in der Terminologie, in der es in der aristotelischen Tradition auftritt, an und versucht es auch nicht mit den Mitteln der aristotelisch vorstrukturierten Empirie zu lösen, sondern sein Ausgangspunkt ist eine, durch Plotin inspirierte, metaphysische Einheitsspekulation 40 • Gleich zu Beginn seines Traktates De natura, in dem Cardano nachweist, daß und inwiefern die Welt in all ihren Teilen als beseelt und damit als organisch und lebendig gedacht werden muß, formuliert er als Grundsatz, daß alles eines sei wie der Mensch und das Pferd 41 • Damit beruft er sich für die Begründung seines Naturbegriffs auf die Argumentation und das Ergebnis seiner kurzen Schrift De uno, "Über das Eine", in der er sich fragt, wie überhaupt etwas, sei es ein einzelner Naturgegenstand wie ein Mensch oder die Gesamtheit der Welt als Eines und in sich identisches, einheitliches Ganzes gedacht werden und existieren könne 42 • Die Antwort auf diese Frage lautet, daß, wenn solche Einheit sich darin manifestiert, daß unterschiedliche Tätigkeiten ein und demselben Subjekt zugerechnet werden, diese Einheit als Identität des Subjektes oder Einheit des Prinzipes bestimmt werden muß 43 • Damit dieses einheitliche Prinzip aber diese Vielfalt unterschiedlicher Tätigkeiten hervorzubringen vermag, muß es sich unterschiedlicher Instrumente in unterschiedlicher Weise bedienen 44 • Die so aus der Einheit des Prinzips entstehenden Prozesse sind jedoch ihrerseits wieder hingeordnet auf die Konstitution und Erhaltung eben jener naturgegenständlichen Einheiten, als deren Tätigkeiten sie gelten 45 • 39 Vgl. dazu Massimo L. Bianchi, Scholastische Motive im ersten und zweiten Buch des De subtilitate Girolamo Cardanos, in: Keßler, Cardano (FN 38). 40 Für die Bedeutung Plotins vgl. Cardano, De subtilitate XVI, in: ders., Opera omnia, ed. Ch. Spon, 10 Bde., Lyon 1663, Repr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, Bd. III, S. 608.1 41 Cardano, De natura, in: ders., Opera omnia (FN 40), Bd. Il, S. 283-298, hier S. 283.1.41 ff.: "Quod enim unum sint omnia, sicut homo et equus, manifestum est." 42 Cardano, De uno liber, in: ders., Opera omnia (FN 40), Bd. I, S. 277-283, hier S. 278.1.21 ff.:"Es steht fest, daß die Teile des Menschen, seine Füße und Hände, mehrere sind, der Mensch selbst aber Eines ist, nicht nur aus so vielen verschiedenen Teilen zusammengesetzt (ex diversis partibus compositum) ... Ich aber frage nach der Ratio, aufgrundderen eines Eines genannt wird und ist." 43 Cardano, De uno (FN 42), S. 278.2.37: "Die Einheit des Menschen ist also die Einheit des Prinzips (unitas principii). Denn der Mensch ist ein und derselbe und unteilbar (individuus), der erkennt, wahrnimmt, verdaut, geht, so daß er in Wahrheit Eines ist." 44 Cardano, De uno (FN 42), S. 278.2.69 ff.: "Aber wenn dieses Prinzip unteilbar ist, wie hat es dann Teile? Es scheint aber wahrzunehmen, zu erkennen und sich vorzustellen und dieses alles ist zwar unteilbar, ist aber dennoch mehreres. Insofern aber das Prinzip den unterschiedlichen Teilen des Körpers auf unterschiedliche Weise verbunden ist, ist auch die Ratio der Tätigkeiten verschieden, so wie die Tätigkeit der Sonnenstrahlen in hohlen und flachen Spiegeln, im Wasser, im Schlamm, im Wachs verschieden ist."

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Einheit in der Natur entsteht also dadurch, daß ein identisches Prinzip, die Seele, sich unterschiedlicher Einheiten zu seinen Tätigkeiten bedient und sie damit einerseits zu seinen Instrumenten oder Organen macht und ihnen andererseits, indem es diese Tätigkeiten einander zuordnet, den Charakter organischer Teile eines Ganzen gibt. Diese Konstitution natürlicher Einheit setzt immer schon die Existenz natürlicher Einheiten voraus, sie ist daher keine Weltentstehungshypothese, sondern eine dynamische Strukturhypothese, welche die unendliche Teilbarkeit der Materie als unendliche Auflösbarkeit der Welt in funktional einander zugeordnete Organe versteht. Die Einheit der Natur manifestiert sich daher als Zuordnung der Tätigkeiten ihrer einzelnen Teile zu funktionalen Systemen, welche in sich geschlossen sind, ihrerseits aber wieder anderen, übergeordneten funktionalen Systemen als organische Teile zugeordnet sind. Dies setzt sich fort bis hinauf zum alles umfassenden System des Erdkreises, in dem alle Subsysteme ihre Funktion haben und zur Ordnung kommen 46 • Die Erklärungsleistung dieser funktionalen Ordnungshypothese schließt eine vollkommene Erkenntnis der Welt in der Über- und Unterordnung aller ihrer Systeme ausdrücklich aus 47 • Sie bedarf aber, im Unterschied zu Pomponazzi, bei dem alles Geschehen letztlich nur dann als erkannt gelten konnte, wenn es auf die Planetenbewegungen als auf die erste Ursache zurückgeführt war, auch keiner Erkenntnis des Ganzen der Welt, um einzelne ihrer Teile erkennen zu können. Daher braucht diese Ordnungshypothese auch sogenanntes willkürliches Handeln von Dämonen und Menschen nicht auszuschließen, sondern kann diese scheinbar chaotischen Einbrüche als besonders geartete funktionale Systeme integrieren, welche die Ordnung nicht stören sondern notwendig, wenn auch in noch nicht bekannter Weise, zur Vollendung des Ganzen beitragen. 45 Vgl. Cardano, De uno (FN 42), S. 278.2.47-58: .,Denn es scheint, daß das unsterbliche Prinzip mit dem gleichen Vermögen, mit dem es sich des Körpers bedient, denselben auch gemacht hat ... Es scheint aber absurd und nicht möglich zu sein, daß der ganze Körper alles in Eins zusammenbringt, es sei denn, er hätte es aus Einem empfangen." Vgl. auch ders., De natura (FN 41), S. 286.1.9: .,Was ursprungich entstanden ist, ist seiner Natur nach so ausgerüstet, daß es sich schützt und bewahrt." 46 Vgl. Cardano, De uno (FN 42), S. 279.l.l3-24: "Es ist also offenbar, daß alles um Eines willen ist, das je andere aber um eines anderen willen. Wie der Bauch um der Leber willen, die Leber um des Herzens willen, der Schlund um des Bauches willen, der Mund um des Schlundes willen,_ die Zähne um des Mundes willen, die Lippen um der Zähne willen. So sieht man also bereits richtig sieben Ordnungen, alle aber sind um des Menschen willen. Wieviel mehr Dinge und wieviel mehr Ordnungen folglich gibt es in der Welt selbst; alles aber ist um Eines willen, untereinander aber sind nicht alle aufeinander zugeordnet. Weshalb wundem wir uns dann, daß die Fliegen nicht um unseretwillen geschaffen sind und wundem uns nicht, daß die Hände nicht um der Füße willen, der Anus nicht um der Blase willen geschaffen sind." 47 Vgl. Cardano, De uno (FN 42), S. 279.2.20-36: .,In der Welt aber ist, da sie alles umfaßt, nichts um etwas anderen willen wie im Menschen. Wir wissen dies aber nicht in der Welt, da wir nicht alle ihre Tätigkeiten kennen und wie sie auf eines hingeordnet sind, wie wir es beim Menschen kennen. Wer sollte also die hauptsächlichsten Tätigkeiten der Welt und ihre Ordnung erkennen und um welcher Zwecke willen alle Teile gemacht wurden?".

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Für den analytischen Betrachter stellt sich damit Cardanos Welt als ein System dar, das nicht nur als Ganzes die Prinzipien seiner Strukturierung und seiner Erhaltung in sich trägt und realisiert, sondern in dem auch die Teile als Subsysteme in gleicher Weise sich selbst organisieren, d. h. zu einem Ganzen strukturieren, dessen Teile als Organe im Sinne der Selbsterhaltung des Ganzen dynamisch aufeinander zugeordnet sind. Obwohl so das Prinzip der Selbstorganisation in Cardanos animistischem Kosmos im Unterschied zu Pomponazzis astrologisch geregelter Natur generalisiert ist und eben dadurch dämonisch-willkürlich verursachte Prozesse nicht, als chaotisch, ausschließen muß, sondern als der kosmischen Ordnung entsprechend integrieren kann, enthält Cardanos Modell dennoch ein letztes Moment von Fremdorganisation bzw. demiurgischer Rationalitätsstiftung. Denn auch in der als Organismus gedachten Welt bleibt die Selbstorganisation einsinnig. Es ist immer das Ganze, welches aufgrund seines Einheitsprinzipes, der Seele, seine Organe ausbildet und benutzt und so sich als Organismus konstituiert, nie aber das Teil, das von sich aus sich als Organ verhält und mit anderen Teilen zu einem funktionalen Ganzen vereinigt. Die organische Einheit der Welt entsteht nicht aus dem freien Zusammenspiel ihrer Teile, sondern verdankt sich dem vorgegebenen Einheitsprinzip der Seele 48 , deren ordnende Weisheit in jedem einzelnen Prozess manifest ist 49 •

4. Bernardino Telesio (1509-1588) Wenn dies unter dem Aspekt der Selbstorganisation ein Mangel ist, dann scheint dieser Mangel allen "animistischen" Systemen anzuhaften und nur überwunden werden zu können, wenn der Begriff der vorgegebenen, Einheit stiftenden Seele aufgegeben wird. Eben dies scheint bei dem in Padua ausgebildeten aber in Süditalien lebenden und lehrenden Bemardino Telesio der Fall zu sein, dessen Lebenswerk sich in einem einzigen Buch "Über die Natur der Dinge nach den ihr eigentümlichen Prinzipien" niedergeschlagen hat 5°, und den man in unserem 48 Cardano, De uno (FN 42), S. 279.1.48-52: "Wenn daher vieles nach Einem strebte, wäre dieses zufällig und das viele würde manchmal abirren. Also strebt es nicht nach Einem, sondern geht vom Einen hervor. Denn so kann es nicht abirren. Von der Seele also ist alles." Vgl. auch ebd. 278.2.55-58. 49 Cardano, De natura (FN 41), S. 286.1.23-27: "Da also die Natur eines jeden kunstvolle Werke hervorbringt und in nichts abirrt, kann es nicht anders sein als daß alles von einer Weisheit gelenkt wird, die wir Seele nennen." so Bernardino Telesio, De rerum natura iuxta propria principia, lt. I it. ed. Luigi De Franco, 3 Bde., Cosenza I Florenz 1965 - 1977; die diese Naturphilosophie vorbereitenden Untersuchungen Telesios sindjetzt gesammelt in: ders., Varii de naturalibus rebus libelli, ed. L. De Franco, Florenz 1978. Vgl. zu Telesio: Totok (FN 26) S. 207- 209; Luigi De Franco, Vita e Opere di Bemardino Telesio, Cosenza 1989 sowie die- noch nicht publizierte- Münchener Dissertation von Martin Mulsow, Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance, München 1991.

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Kontext als eine Kombination von Pomponazzischem Metaphysikverzicht und Cardanischer Funktionsanalyse charakterisieren könnte. Mit Pomponazzi verbindet Telesio nämlich der Anspruch, nur sinnlich gegebene Daten und aus diesen abgeleitete Argumente gelten zu lassen 5 1• Das bedeutet aber, daß er die Grundprinzipien der Natur und deren Eigenschaften - ihre facultates und condiciones 52 - aus sinnlich erfahrbaren Gegebenheiten ableitet 53 , daß er es ablehnt, über die Entstehung dieser Welt aus einer ersten göttlichen Ursache und über ihre Abhängigkeit von der göttlichen Allmacht zu spekulieren 54 und daß er stattdessen beansprucht, die Ordnung und Notwendigkeit der Welt aus ihrer Konstruktion und ihren internen Bedingungen nachzuweisen 55 • Das im Titel des Werkes gemachte Versprechen, die Natur der Dinge nach den ihr eigentümlichen Prinzipien darlegen zu können, unterstellt daher, daß alles, was den Bestand der Welt und ihr Funktionieren ausmacht, in dieser selbst sinnlich erfahrbar gegeben sein muß. Mit Cardano dagegen verbindet Telesio der Ansatz, die Welt nicht als substantielles, sondern als funktionales Ganzes zu verstehen und zu analysieren. Diese Analyse ergibt nun, daß die Natur durch zwei unkörperliche, aktive Prinzipien - die in der Sonne und allgemein im Himmel zentrierte Wärme und die in der Erde zentrierte Kälte - und ein körperliches, passives Prinzip - die Materie - konstituiert wird 56 • Während nun die beiden aktiven Prinzipien einander entgegengesetzte Eigenschaften aufweisen, stellt das passive Prinzip die reine Privation dieser Eigenschaften dar, d. h. während das Prinzip der Wärme weiß anzusehen und beweglich ist und die Materie zu verdünnen vermag, ist das 51 Telesio, De rerum natura I, Prooemium (FN 50), Bd. I, S. 28,9-17: "Wir sind ... Liebhaber und Pfleger der menschlichen Weisheit, die zu ihrem Gipfel gelangt zu sein scheinen muß, wenn sie, was der Sinn offenbart hat und was aus der Ahnliehkeil der von dem Sinn wahrgenommenen Dinge erhalten werden kann, eingesehen hat." 52 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 1 (FN 50), Bd. I, S. 38, 23 ff. 53 Vgl. die Überschrift des Prooemiums von Telesio, De rerum natura (FN 50), Bd. I, S. 26, 5-8: "Die Konstruktion der Welt und die Größe und Natur der in ihr enthaltenen Körper dürfen nicht mit dem Verstand (ratio), wie es die Alten gemacht haben, sondern müssen mit dem Sinn wahrgenommen und von den Dingen selbst abgenommen werden." 54 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 9 (FN 50), Bd. I, S. 90, 5-11. 55 Vgl. die Kapitel I, 9 und I, 10, deren Überschriften lauten (Telesio, De rerum natura (FN 50) Bd. I, S. 88, 7 -10; S. 94, 1- 3): "Es ist nicht zu untersuchen, auf welche Weise die Welt so, wie sie ist, konstituiert wurde, sondern warum sie so konstituiert werden mußte, und warum sie mit jenen Bewegungen, mit denen der Himmel bewegt wird, bewegt werden mußte."; "Warum die Welt so, wie sie konstruiert ist, konstruiert werden mußte und den himmlischen Kreisen die Bewegungen verliehen wurden, nach denen sie sich zu bewegen scheinen." 56 Vgl. die zusammenfassende Überschrift von Kap. I, 4 (Telesio, De rerum natura I, 4 (FN 50), Bd. I, S. 50, 8- 14): "Wänne und Kälte sind unkörperlich und beide bedürfen, um zu subsistieren, einer körperlichen Masse, und aus ihr bestehen überhaupt alle Seienden. Daher sind alle Prinzipien der Dinge drei: zwei tätige, unkörperliche Naturen und, die diese aufnimmt, eine körperliche Natur. Und diese ist ohne jede Tätigkeit und ohne jedes Handeln und ihrer Natur nach unsichtbar und schwarz."

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Prinzip der Kälte finster und unbeweglich und vermag die Materie zu verdichten 57 , die Materie aber besitzt keine dieser Eigenschaften. Sie ist daher hervorragend geeignet, die aktiven Prinzipien mit ihren Eigenschaften ohne Widerstand und ohne Verfalschung aufzunehmen 58 und ihren Tätigkeiten entgegenzukommen, welche darin bestehen, sich gegenseitig aus der Materie zu vertreiben und sie stattdessen selbst in Besitz zu nehmen. Dabei besitzen die aktiven Prinzipien energetische Autonomie, insofern sie sich in ihren Zentren - der Sonne und der Erde - selbst zu generieren und von diesen nach allen Seiten hin auszubreiten vermögen, und sie besitzen Operationale Autonomie, insofern sie fähig sind, dank eines zweiwertigen, "angenehm" und "unangenehm" anzeigenden Wahrnehmungsvermögens, zwischen eigener, selbsterhaltender und fremder, zerstörenscher Tätigkeit zu unterscheiden und entsprechend der auf Selbsterhaltung zielenden Grundausrichtung ihrer Aktivität zu reagieren 59 • Daß aber nun dieser energetisch und operational autonome Antagonismus zweier Kräfte nicht zum finalen Sieg der einen oder zur gegenseitigen Paralysierung beider führt, sondern die Vielfalt natürlicher Gegenstände erzeugt, beruht auf der vorgegebenen asymmetrischen Grundstruktur des Kosmos 60 , aufgrund deren ungleichmäßige Wärmeeinwirkungen des Himmels die Oberfläche der Erde ungleichmäßig verändern, und diese wiederum ihrerseits den nachfolgenden Wärmeeinwirkungen ungleichmäßige Widerstände bietet, so daß sich durch Rückkopplung jene Vielzahl spezifischer Interaktionsmodelle ergibt, aus welchen die Vielfalt der natürlichen Gegenstände hervorgeht 61 •

57 Vgl. die grundlegende Analyse in Kap. I, 2, dessen zusammenfassende Überschrift lautet (Telesio, De rerum natura I, 2 (FN 50), Bd. I, S. 40, 1-5): "Die Wänne ist ihrer Natur nach beweglich, die Kälte dagegen unbeweglich. Und daher ist jener die Fähigkeit gegeben, die Masse, in die sie eindringt, dünn und leicht, dieser aber, sie dicht und schwer zu machen. Und alle Weiße ist das Aussehen der Wänne und gleichsam ihr Angesicht." 58 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 4 (FN 50), Bd. I, S. 56, 29-58, 10. 59 Vgl. vor allem Telesio, De rerum natura I, 6 (FN 50), Bd. I, S. 64-74, mit der zusammenfassenden Überschrift: "Der Wänne und der Kälte ist beiden gemeinsam die Fähigkeit zugeteilt worden, sich ständig zu generieren und zu vervielfaltigen und nach allen Seiten sich auszugießen und die gesamte Masse zu besetzen und sich gegenseitig zu bekämpfen und aus den ihnen eigentümlichen Sitzen zu vertreiben und sich in ihnen zu konstituieren und darüber hinaus die Tätigkeiten der anderen und das eigene Leiden wahrzunehmen und zu empfinden." Für die Wahrnehmungsfähigkeit vgl. besonders ebd. S. 64.30-66.7: " ... so mußte, wenn beide bewahrt werden sollten, beiden ein Sinn eingegeben worden sein, die eigenen Leiden und die Tätigkeiten und Kräfte der anderen wahrzunehmen, und zwar für die eigenen und die ihnen ähnlichen Handlungen, durch die sie begünstigt und erhalten werden, ein sehr angenehmer Sinn, für die entgegengesetzten und ihnen unähnlichen Handlungen aber, durch die sie gefährdet und zerstört werden, ein äußerst unangenehmer. Und dies ist offenbar auch der Fall." 60 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 10 (FN 50), Bd. I, S. 96, 14 ff. 61 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 11 (FN 50), Bd. I, S. 104, 22-106, 9.

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Ich kann hier den Versuch, Telesios Modell der Natur zu rekonstruieren, abbrechen, denn das bisher Vorgestellte ist für unsere Zwecke ausreichend. Traditionell gilt Telesio, weil er den beiden aktiven Prinzipien Wärme und Kälte und damit implizit auch allen durch sie konstituierten Naturgegenständen Wahrnehmung zubilligt, als "Animist", welcher die ganze Welt beseelt sein läßt. Wenn manjedoch beachtet, daß diese Beseelung lediglich in jenem zweiwertigen Unterscheidungsvermögen besteht, welches die Voraussetzung des einfachsten Antagonismus ist und, wie ein Computer, nichts mit organischem Leben, zu dessen Erklärung die Seele angenommen wurde, zu tun hat, und wenn man darüber hinaus bedenkt, daß diese Beseelung nicht zu dem Zweck angenommen wird, höher organisierte Körper vernünftig zu organisieren und daß schöpferische Weisheit zwar für die Strukturierung der Randbedingungen der natürlichen Dynamik, nicht aber für diese Dynamik selbst in Anspruch genommen werden muß 62 , dann scheint die sogenannte Allbeseelung bei Telesio eher auf eine Allentseelung, auf die Aufhebung der Schranke zwischen organischer und anorganischer Natur durch Generalisierung der anorganischen Natur hinauszulaufen 63 • Denn in der Tat ist die Seele bei Telesio nicht, wie bei Cardano, ein auf Vernunft beruhender Garant höherer Organisationen, der sich bereits auf den untersten Stufen elementarer Prozesse leitend und lenkend manifestiert, sondern sie ist das Ermöglichungsprinzip des elementaren Antagonismus selbst, welcher keinerlei Steuerung bedarf, um die höheren Organisationsformen lebender Körper hervorzubringen. So erscheint die Welt bei Telesio als eine Maschine, die Gott, wie ein guter Handwerker auf Dauer hin gemacht hat 64 • Ihr Funktionieren hängt von keiner äußeren Steuerung ab, weder von einem in periodischem Gleichmaß bewegten Himmel als erster und allgemeiner Ursache noch von einer Seele als weisem Dirigenten, sondern steuert sich durch die Rückkopplungsprozesse des asymmetrisch angelegten Antagonismus selbst. Diese Maschine kann daher auch nicht, durch Aufhebung des Steurungsmechanismus, chaotisch werden. Da sie keiner Vernunft folgt, kann sie auch keiner Unvernunft zum Opfer fallen. Die WeltMaschine des Telesio würde damit das Chaos ausschließen, nicht, weil ihre Ordnung so sicher abgeschirmt oder so weise begründet ist, sondern weil sie, aristotelisch gesprochen, nicht der Gegensatz des Chaos, sondern die Privation beider, der Ordnung wie des Chaos, in gleicher Weise ist. Vgl. Telesio, De rerum natura I, 10 (FN 50), Bd. I, S. 100, 35-102, 8. Hierauf hat, soweit ich sehe, zum ersten Mal Mulsow (FN 50) aufmerksam gemacht. 64 Vgl. Telesio, De rerum natura I, 10 (FN 50), Bd. I, S. 94, 12-21: "Denn wenn jegliche Handwerker, auch jene, die ihrer Natur nach in höchstem Maße schlecht und übeltätefisch sind, am meisten danach streben und auf alle Weise dafür sorgen, daß die Werke, die sie selbst konstruieren, möglichst in höchstem Maße dauerhaft seien, wer könnte dann argwöhnen, daß der bei weitem beste Schöpfer des Himmels und der Erde gewollt habe, daß die Seienden, die er selbst geschaffen hat, nicht ewig sein können und nicht in der Lage sind, sich in ewiger Zeit in den ihnen eigentümlichen Kräften zu bewahren, sondern sei es gegenseitig von einander oder das eine von dem anderen zerstört werden kann?". 62 63

Selbstorganisation in der Naturphilosophie der Renaissance

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Die Welt als Maschine zu rekonstruieren, wird sich im mechanistischen Weltbild des 17. Jahrhunderts durchsetzen, das sich im Wettbewerb mit dem animistisch-organischen Weltbild als das erfolgreichere erweist. Der Gründe dafür gibt es viele. Wenn es richtig ist, daß Telesios Maschinenkonstruktion der aus dem Zusammenbruch des Mittelalters überkommenen Bedrohung durch das Chaos am besten zu antworten vermag, wie es der Vergleich mit Pomponazzi und Cardano nahelegt, dann könnte dies ein weiterer, bisher nicht beachteter Grund für die Durchsetzung der mechanistischen Weltsicht sein. Wenn darüber hinaus die Auswahl der vorgestellten Autoren nicht willkürlich, sondern exemplarisch ist und ihre Abfolge nicht nur chronologisch, sondern auch, wie die Analyse zu suggerieren scheint, entwicklungslogisch begründet ist, dann könnte man die zusätzliche These wagen, daß die animistisch-organische Naturphilosophie der Renaissance nicht eine folgenlose Eskapade des noch in Gärung befindlichen philosophischen Geistes gewesen ist, sondern - im Kontext der Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Chaos-Bedrohung- eine notwendige Stufe zwischen aristotelischem Kausaldeterminismus und mechanistischer Selbstorganisation.

Die natürlichen Ursachen der Zwecke* Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation Von Wolfgang Krohn und Günter Küppers, Bietefeld

I. Einleitung Die mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft aufkommende Konzeption, alle beobachtbaren Veränderungen in der (belebten und unbelebten) Natur als Wechselwirkungen (actio und reactio) der Materie zu deuten, war revolutionär wegen ihres ebenso fundamentalen wie programmatischen Anspruchs. Newtons besonderer Erfolg innerhalb dieses Programms lag darin, diese Wechselwirkung als eine der Materie innewohnende Kraft, die Schwerkraft, zu identifizieren und damit die Bewegungen im Himmel und auf der Erde auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen. Er wurde so zum Begründer der klassischen Mechanik. Neben der natürlich offenen Frage, auf wie viele Phänomenbereiche (optische, elektrische, chemische Prozesse) die ,,klassische Mechanik" erfolgreich anwendbar sein würde, blieb ein qualitatives Problem ungelöst: Können (mechanische) Gesetze, die die geordnete Bewegung der Planetenumläufe am Himmel richtig beschreiben, auch die Entstehung dieser Ordnung erklären? Können die Gesetze, die den chemischen Metabolismus von Organismen richtig beschreiben (und dies war zur Zeit Kants ohnehin eine spekulative Unterstellung), auch die Entstehung der Organismen beschreiben? Allgemein gefaßt: Kann eine allgemeine Theorie der Wechselwirkung der Materie zugleich eine Theorie der Bildung von Ordnung, Struktur und zweckmäßiger Organisation sein? Obwohl die Interpretation einiger Phänomene (etwa die Kristallbildung) die Möglichkeiten eines reduktionistischen Programms offen hielten, erschien es praktisch aussichtslos, eine empirisch gehaltvolle Theorie zu formulieren, die beides leistete. Daher trat neben das reduktionistische Programm eine zweite Forschungsstrategie. Während der Reduktionismus darauf setzte, einen komplexen Gesamtzusammenhang (System) in seine Teile zu zerlegen und Eigenschaften des Systems durch die seiner Elemente erklären zu können, bemühte der Holismus zusätzliche verborgene Kräfte wie z.B. die Lebenskraft oder den Bildungstrieb, um das Entstehen komplexer Strukturen und Organisationen zu beschreiben und zu verstehen. Empirische Teilerfol• Dieser Beitrag erscheint ebenfalls in: G. Rusch I S. J. Schmidt (Hrsg.), Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung. Frankfurt, Suhrkamp 1992.

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Wolfgang Krohn und Günter Küppers

ge gab es auf beiden Seiten sowohl im 18. wie im 19. Jahrhundert zur Genüge. Aber den theoretischen Ansprüchen war auf keiner Seite jemals ein dauerhafter Erfolg beschieden. Blieben einerseits die reduktionistischen Erklärungsansätze für ihre Gegner bloße Spekulation, weil sie Erklärungen der komplexen Organisation nur in Aussicht stellten aber nicht durchführten, überwanden andererseits auch die besten experimentellen Belege des Holismus nicht den reduktionistischen Einwand, daß holistische Prinzipien "okkulte" Kräfte seien, die nur den Stand unseres Nicht-wissens verschleiern. Ein Durchbruch zur Formulierung einer Theorie diesseits der Kontroverse von Reduktionismus und Holismus gelang erst in den frühen 60er Jahren unseres Jahrhunderts. Unter verschiedenen Namen wie Synergetik, Autopoiese, dissipative Strukturen, selbstreferente Systeme wurden Konzepte entwickelt, die die Entstehung von Ordnung und komplexer Organisation erklären sollten. Aber der erste, der der Härte der Problemstellung nicht auswich und eine begriffliche Lösung konstruierte, die den Erklärungsansprüchen des Reduktionismus und den Erklärungszielen des Holismus genügte, war Immanuel Kant ( 1724- 1804). In zwei Phänomenbereichen - Entstehung des Kosmos, Entstehung des Lebens - hat er die Frage aufgeworfen, ob die Strukturbildung auf dieselben Kräfte zurückgeführt werden kann, die für die Beschreibung der beobachteten Strukturen benutzt werden. Er hat die Frage für beide Phänomenbereiche gleichartig gestellt, aber verschieden beantwortet. Für den Kosmos ließ er sich von der Überzeugung leiten, daß eine von rein mechanischen Gesetzen regierte Welt auch- und zwar ausschließlich - aus solchen Gesetzen entstanden sein sollte. Für das Leben dagegen hat er nicht geglaubt, daß es nach rein mechanischen Gesetzen hat entstehen können. Theoretisch sieht Kant einen qualitativen Unterschied zwischen einer, in seiner Ausdrucksweise, "äußeren" Zweckmäßigkeit und Ordnung des Kosmos und der "inneren" .Zweckmäßigkeit und Ordnung des Lebens. Diese Differenz werden wir unten erläutern. Nach unserem Verständnis ist es aber nicht ausschlaggebend, daß Kant einmal optimistisch, einmal skeptisch zu Werke geht, sondern daß er in beiden Fällen die Konstruktion eines mit der Mechanik kompatiblen theoretischen Modells der Selbstorganisation konsequent angegangen ist. Wir vermuten sogar, daß es gerade seine Skepsis gegenüber einer mechanistischen Erklärung der Entstehung des Lebens gewesen ist, die ihn dazu geführt hat, die Bedingungen einer solchen Erklärung präzise zu erfassen. Wenn wir hier von Selbstorganisation bei Kant sprechen, kann natürlich nicht von einer formalen Theorie der Selbstorganisation im Sinne der Theorie dynamischer Systeme die Rede sein. Hier müssen qualitative Indikatoren genügen. Diese sind: a) offene Systeme und daher keine Gleichgewichte, b) Operationale Geschlossenheit bzw. Autonomie der relevanten Prozesse und Reproduktion einmal erreichter Ordnungszustände.

Die natürlichen Ursachen der Zwecke

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II. Kosmologie Descortes Wirbeltheorie- eine natürliche Ordnung der Welt? Noch zu Zeiten Keplers herrschte die aristotelische Vorstellung von der Struktur des Kosmos. Das Universum war in zwei Gebiete aufgeteilt- in die sublunarische und die supralunarische Region. Dadurch war das Veränderliche vom ewig Bestehenden getrennt. Die Übereinstimmung mit der Erfahrung war evident der Fixsternhimmel zeigte sich als unveränderlich und auf der Erde beobachtete man ein ständiges Werden und Vergehen. Im November 1572 erschien plötzlich im Sternbild der Kassiopeia ein neuer Stern und zwar in einer Helligkeit, daß er selbst am hellen Mittag zu sehen war. Der Landgraf Philip von Kassel schrieb an den Mathematiker Kaspar Peucer in Wittenberg: "Der Stern muß entstanden sein nicht in der Elernentarregion, wohin die Physiker die Kometen setzen, sondern im Äther selbst, in der Region des Unvergänglichen, Unzerstörbaren, nicht weit von der Sonne. Wir können nicht so leichthin behaupten, Gott habe einen neuen Stern geschaffen, da so etwas seit Erschaffung der Welt nicht gehört worden ist." I

Im Jahr 1600 erschien ein neuer Stern, diesmal im Sternbild des Schwans und 1604 ein dritter im Sternbild des Schlangenträgers. Kepler, der diesen dritten Stern bis zu seinem Verschwinden beobachtete, bemerkte: "Der neue Stern muß entweder durch einen göttlichen Akt erschaffen oder durch irgend eine Naturkraft hervorgebracht sein. Ich bin aber der Meinung, daß man erst alles andere versuchen muß, bevor man seine Zuflucht zur Schöpfung nimmt, denn mit ihr hört jede wissenschaftliche Erörterung auf." 2

Damit war die Möglichkeit einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung des "Weltgebäudes" eröffnet und der erste, der eine Theorie der Entstehung des Universums versuchte war Descartes 3• Am Anfang ist sein Universum gleichartig und gleichmäßig mit einem Stoff erfüllt, der von Gott in eine (differentielle) Rotationsbewegung um ein Zentrum (die Sonne) versetzt wird. "Die allgerneine Ursache (der Bewegung, d. Verf.) kann offenbar keine andere als Gott sein, welcher die Materie zugleich mit der Bewegung und Ruhe im Anfang erschaffen hat"4.

Diese Rotationsbewegung erzeugt Wirbel, in deren Mittelpunkten die Planeten und die Erde um die Sonne kreisen.

1 Zitiert nach H. Schmidt, Die Kant-Laplace'sche Theorie. Ideen zur Weltentstehung von Irnrnanuel Kant und Pierre Laplace, Leipzig 1925, S. XI. 2 Zitiert nach H. Schmidt (FN 1), S. XII. 3 Genau genommen entwirft er eine Theorie des Sonnensystems. 4 R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, zweiter Teil, 36, übersetzt von A. Buchenau, Harnburg 1955, S. 48.

3 Selbstorganisation. Bd. 3

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Wolfgang Krohn und Günter Küppers "Denn so wie man in Flüssen an Stellen, wo das Wasser in sich zurückkehrend Wirbel bildet, einzelne darauf schwimmende Grashalme sich mit dem Wasser zugleich fortbewegen sieht, andere aber sich um die eigenen Mittelpunkte drehen und ihre Kreisbewegungen um so schneller beenden, je näher sie dem Mittelpunkt des Wirbels sind, und obgleich sie immer nach Kreisbewegungen streben, doch niemals vollkommene Kreise beschreiben, sondern in die Länge oder Breite davon abweichen, ebenso kann man sich dasselbe bei den Planeten leicht vorstellen, und damit allein sind alle Erscheinungen erklärt." 5

Grundlage des Modells sind a priori gemachte Annahmen über die Struktur der Welt. Descartes geht aus von der Gleichartigkeit der Materie der Erde und des Himmels, d. h. von der stofflichen Einheit der Welt 6 und von der Unendlichkeit des Raumes. Zusätzlich nimmt er an, daß die Urmaterie den Raum voll erfüllt. Mehr noch: seine Vorstellung der Materie ist die eines Raumes; über ihre Ausdehnung ("etendue") definiert die Materie den Raum 7• Konsequenterweise hat die Materie nur geometrische Merkmale wie Form, Größe und Bewegungszustand. Einen leeren Raum, in dem eine Kraft eine Wirkung über eine unendliche Entfernung ausübt, verwirft er und kommt zwangsläufig auf seine Wirbeltheorie, in der die Bewegung der Planeten durch die "Strömung" mitgenommen wird, so wie ein "Schiff, wenn kein Wind oder Ruder es fortstößt und kein Anker es festhält, mitten im Meere still(steht), obgleich vielleicht die ungeheuere Wassermasse in einem unsichtbaren Strome abfließt und das Schiff mit sich führt." 8 Mit "Strömung" im Sinne seines Verständnisses von ausgedehnter Materie ist hier eine Eigenschaft des Raums gemeint, die die Bewegung der Planeten bestimmt. Deshalb entspricht Descartes Theorie (ähnlich wie später die Einstein'sehe Theorie) einer "Geometrisierung" der Physik. Die Materie definiert den Raum und der Raum bestimmt die Bewegung der Materie. 9 Newtons Prinzipien der Dynamik Newton glaubt ebenfalls nicht an die Wirkung einer Kraft durch den leeren Raum ohne ein vermittelndes Agens - zumindest hält er dies nicht physikalisch für realistisch. 10 Dennoch "erfindet" er (theoretisch) eine Kraft, die den Mond Descartes (FN 4), S. 74. Descartes (FN 4), S. 41. 7 Descartes (FN 4), S. 35ff. s Descartes (FN 4), S. 72. 9 Vgl.: hierzu J. Charon, Geschichte der Kosmologie, München 1970, S. 151. 10 In einem Brief an Bentley schreibt Newton arn 25. Februar 1692: "Es ist undenkbar, daß die leblose Materie ohne die Vermittlung irgendeiner stofflichen Substanz und ohne gegenseitigen Kontakt auf eine andere Materie einwirken könnte ... ; (diese Idee) ist für mich zu absurd, als daß irgend ein Mensch, der zu philosophischen Gedanken befähigt ist, jemals auf sie verfallen könnte." Letters to Dr. Bentley, Lett Ill, Op IV, pag. 438; Übersetzung von J. Charon (FN 9), S. 135. 5

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auf die Erde fallen läßt und von seiner geradlinigen Trägheitsbewegung ablenkt. Indem er die Schwere als eine verborgene Eigenschaft der Materie erklärt und diese Schwerkraft als Ursache der Planetenbahnen einführt, gelingt es ihm, Galileis Mechanik zu präzisieren und mit der Kepler'schen Himmelsmechanik zu vereinen. Seine Zeitgenossen sahen freilich in der Einführung einer Kraft eine Rückkehr zu der durch ihre willkürlichen Annahmen in Mißkredit geratenen aristotelischen Schule. Eine Rezension der Principia kam deshalb zu dem Urteil, das Werk sei "ohne jeden Wert für die Physik, denn es erfüllt nicht die Bedingung, das Universum intelligibel zu machen."" Roger Cotes, der Herausgeber der 2. Auflage der "Prinzipien" sieht sich deshalb veranlaßt, in der Vorrede der Behauptung entgegenzutreten, die Schwerkraft sei eine "causa occulta". Vielmehr sei sie eine Ursache, deren Wirksamkeit sich in den Erscheinungen der Planetenbahnen wahrnehmen ließe. 12 Newton lehnt Descartes Wirbeltheorie ab, u.a. weil aus ihr die Kepler'schen Gesetze nicht ableitbar sind. Sie sei deshalb ein Beispiel für eine Hypothese a priori, die nicht auf wahrnehmbaren Tatsachen beruhe. 13 In der Wissenschaft ,,nehmen wir die beobachtbaren Tatsachen und generalisieren sie alsdann durch logische Schlußfolgerungen" 14, so lautet sein wissenschaftstheoretisches Credo im Schlußwort der zweiten Auflage seiner "Prinzipien". Damit verbaut er sich die Frage nach dem Ursprung des Universums, denn die Strukturbildung kann er nicht beobachten und daraus deren Gesetzmäßigkeiten ableiten. So gelingt beiden, Decartes und Newton, lediglich die Ausarbeitung eines Teilaspekts einer einheitlichen Theorie von der Entstehung und der Struktur des Universums. Descartes "wollte in kühnem Flug zu den Quellen der Allheit gelangen und sich zum Meister der ersten Prinzipien mit Hilfe weniger klarer und einfacher Ideen machen, so daß er dann zu den Phänomenen der Natur als den notwendigen Folgen nur noch herabzusteigen brauchte. Der andere aber - Newton - war ängstlicher (oder bescheidener) und begann seinen Weg, indem er von den Phänomenen aus Schritt für Schritt zu unbekannten Prinzipien vordrang". So formuliert Fontenelle, Sekretär der Pariser Akademie der Wissenschaften, den Unterschied der beiden Theorien. 15 Physikalisch und weniger pathetisch formuliert hat Descartes die richtige Vorstellung von den "Elementen" (im Sinne Zitiert nach Charon (FN 9), S. 149. Vgl.: A. Heller, Geschichte der Physik, Band 2, Stuttgart 1882, Nachdruck Wiesbaden 1965, S. 270. 13 Zitiert nach Charon (FN 9), S. 150. I4 Zitiert nach Charon (FN 9), S. 150. 15 Zitiert nach Charon (FN 9), S. 151. 11

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eines Substrats), deren "Wechselwirkung" er freilich nicht genau kennt. Newton kennt dagegen die "Wechselwirkung" (Gravitation), aber nur zum Teil das Substrat, auf das sich diese bezieht. Ausführlicher: Descartes entwickelt eine Vorstellung eines Zusammenhangs von Raum I Zeit und Masse als Substrat und damit eine moderne Konzeption der Kraft als Geometrie. Aber die Bewegungsgesetze bleiben ihm unbekannt, und deshalb muß er eine übernatürliche Ursache für die Rotation der Materie am Anfang voraussetzen. Newton dagegen kennt die Kraft und die Bewegungsgleichungen, aber ihm fehlt die Verbindung zwischen beiden; der Raum ist für ihn "ein passives Ge faß allen Geschehens" 16 und damit unabhängig von der Materie. Erst Einstein gelingt es, beiden Aspekten voll gerecht zu werden. Die Massen definieren die Geometrie des Raums und der Raum kontrolliert die Bewegungen der Massen. Newton analysiert also die "Symptome", ohne die Frage nach den Ursachen beantworten zu können, obgleich auch sie ihn interessiert hätten. Aber es gab keine Möglichkeit sie zu beobachten. Deshalb muß auch er noch den lieben Gott ins Spiel bringen. Die vollkommene Ordnung der Planeten mußte eine übernatürliehe Ursache haben. "Ein solches System mit allen seinen Bewegungen zu machen, erfordert eine Ursache, ... die nicht blind und zufällig ist, sondern der Mechanik und Geometrie sehr gut kundig." 17 Mehr noch: "Die Hypothese der Entstehung des Weltgebäudes vermöge mechanischer Prinzipien unter der Annahme einer durch den Raum gleichmäßig ausgebreiteten Materie ist mit meinem System unvereinbar". 18 Zwar gesteht er zu, daß die Gravitationskraft die Planten in Bewegung versetzen könnte, aber dann müsse ihnen "durch eine göttliche Intelligenz das gehörige Mass von Seitengeschwindigkeit mitgeteilt worden sein". Newton weist nach, daß es keine Anfangsbedingung geben könne, von wo aus die Planeten "dermassen fallen könnten, dass sie in ihre Bahn einbiegend mit der in Wirklichkeit bestehenden Geschwindigkeit um die Sonne kreisen könnten" und weil die Gravitationskraft eine innere Eigenschaft der Materie ist, "so ist es der Materie der Erde und allen Planeten und Sternen unmöglich fortzufliegen, und sich, ohne eine übernatürliche Kraft, durch alle Himmel gleichförmig auszubreiten." 19 16 17 18

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A. Einstein, Mein Weltbild, Bertelsmann, Gütersloh ohne Jahreszahl. Op. Tom. IV, pag. 431; Übersetzung von A. Heller (FN 12), S. 293. A. Heller (FN 12), S. 293. Newton, Op. Tom. IV, S. 441.

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Und was jetzt in die eine Richtung nicht möglich ist, kann wegen der Reversibilität mechanischer Systeme früher auch in die andere Richtung nicht möglich gewesen sein.

Kants Konzept der Selbstorganisation des Universums Kant gelingt es, beide Aspekte, Descartes "Ontologie" und Newtons "Empirie", aufeinander zu beziehen und Ursache und Wirkung zirkulär miteinander zu verknüpfen. Auch für ihn sind zu viele Gesetzmäßigkeiten in der Gesetzmäßigkeit der Planetenbewegung, als daß es Zweifel an einer natürlichen Ursache (an eine übernatürliche Ursache zu glauben, lehnt er im Gegensatz zu Newton entschieden ab) geben könnte. Die in einer Ebene liegenden kreisähnlichen Umlaufbahnen der Planeten mit einheitlichem Drehsinn sowie die zu ihren Massen passenden Abstände und Umlaufzeiten schließen einen blinden Zufall aus. Aber auch die Abweichungen von der absoluten Regelmäßigkeit (Ellipsen statt Kreise und keine exakte Ebene der einzelnen Bahnkurven) liefern ihm einen weiteren Grund, auf natürliche Ursachen zu schließen, denn Gott hätte es einfach besser gemacht. "Bei einer unmittelbar göttlichen Anordnung können niemals unvollständig erreichte Zwecke angetroffen werden, sondern allenthalben zeigt sich die größeste Richtigkeit und Abgemessenheit, wie man unter anderen am Bau der Tiere gewahr wird." 20 Kants Ziel ist es, die heutige Gestalt des Universums nur mit Hilfe mechanischer Prinzipien aus einer homogenen Anfangsverteilung der Materie abzuleiten. Aber das Problem ist alles andere als einfach. Unser Sonnensystem dient ihm dabei als Modell. Durch die Schwerkraft werden die Planeten von der gradlinigen Bahn abgelenkt und in eine Kreisbahn gezwungen; aber welche Kraft verursacht diese gradlinige Trägheitsbewegung? Nur Materie kann auf Materie einen Einfluß ausüben. Der leere Raum dagegen kann die Planeten nicht beeinflussen und die "Übereinstimmung unter ihren Bewegungen nach sich ziehen ... Newton, durch diesen Grund bewogen, konnte keine materialische Ursachen verstatten, die durch ihre Erstrekung in dem Raume des Planetengebäudes die Gemeinschaft der Bewegungen unterhalten sollte". 2 1 Deshalb, so glaubt Kant, muß der leere Raum "ehemals anders beschaffen und mit genugsam vermögender Materie erfüllet gewesen sein, die Bewegung auf alle darin befindlichen Himmelskörper zu übertragen, und sie mit der ihrigen, folglich alle untereinander einstimmig zu machen, und nachdem die Anziehung besagte Räume gereinigt und alle ausgebreitete Materie in 2o /. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes. A 164. 21 /. Kant, Allgemeine Naturgeschieht und die Theorie des Himmels, (AN), A 25. Ein weiteres Problem besteht darin, daß die Newtonsehen Gleichungen jeweils für einen Planeten gelöst wurden und nicht für das n-Körperproblem.

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Wolfgang Krohn und Günter Küppers besondere Klumpen versammelt: so müssen die Planeten nunmehro mit der einmal eingedrückten Bewegung ihre Umläufe in einem nicht widerstehenden Raume frei und unverändert fortsetzen." (AN, A 26).

Daß seine Überlegungen nicht nur für unser Sonnensystem gelten, vermutet Kant aufgrund von Argumenten des Engländers Thomas Wright of Durham. Dieser führt Gründe dafür an, daß das Universum strukturiert ist. Er stellt die Hypothese auf, der Sonne komme keine Sonderstellung zu, sie sei vielmehr eine Sonne unter vielen (Fixsternen). Außerdem seien die Himmelskörper nicht homogen im Raum verteilt, sondern auf bestimmte Gebiete konzentriert. Die Milchstraße sei eine rotierende Scheibe endlicher Dicke und die Sonne liege in der Zentralebene in der Nähe des Mittelpunkts. Es gäbe sogar Anlaß zu der Vermutung, daß die MilchstaBe nicht das einzige Sternensystem sei, d. h. daß es noch andere Galaxien gibt. 22 Kants Modell geht wie einige Modelle seiner Vorläufer von einer chaotischen Verteilung der Materie am Anfang aus. (AN, A 27). Ein kosmischer Nebel, mit der heutigen Verteilung der verschiedenen Elemente und zufälliger Anordnung im Raum ist Ausgangspunkt, der "unmittelbar an die Schöpfung grenzt". (AN, A 27). Eine solche Anfangsverteilung ist wegen der Dichteunterschiede in hohem Maße instabil; diese bewirken Gravitationskräfte und die zerstreute Materie setzt sich in Bewegung und verdichtet sich. Auf diese Weise entstehen die "zentralen Weltkörper", das sind Sonnen für Planetensysteme oder riesige Massenzentren für ganze Galaxien. Daß dieser Prozeß nicht nur zur Klumpenbildung der kosmischen Materie führt, liegt an einer ,,Zurückstoßungskraft", die die frei in die Gravitationszentren fallende Materie ablenkt; "und der senkrechte Fall schlägt in Kreisbewegungen aus, die den Mittelpunkt der Senkung umfassen". (AN, A 30). Haben die Gravitationszentren eine kritische Masse überschritten, so behindern sich die in das Zentrum stürzenden Massen gegenseitig, und es entstehen aus den resultierenden Kräften Wirbelbewegungen, die nach dem Prinzip der kleinsten Wirkung (Maupertuis) freie Kreisbewegungen um die Zentralmasse ausführen. (AN, A 32). Ist nun die "Kraft des Falles größer als die des Schwunges" 23, so wird alle Materie gegen den Zentralkörper getrieben und vergrößert dessen Masse. Im Falle der Gleichheit schließt sich die Wirbelbewegung und die Materie umkreist in freien Bahnen, die sich gegenseitig nicht mehr behindern, ringförmig den Zentralkörper. In diesen Ringen gibt es wieder Dichteunterschiede, die zur Zusammenklumpung der Materie, d. h. zur Entstehung der Planeten führen. Da diese Ringe dieselbe Drehachse haben wie der Zentralkörper, liegen die Planetenbahnen automatisch in der Äquatorialebene des Zentralkörpers und haben dieselbe Rotationsrichtung. 22 Th. Wright of Durham, An Original Theory or New Hypothesis of the Universe, London 1750, S. 59 f. und 195 ff. 23 A. Heller (Fn 12), S. 434.

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Dieses Modell erklärt die Entstehung des Planetensystems als Gesamtstruktur, aber auch die aller anderen kosmischen Ordnungen (Milchstraße oder andere Galaxien) allein aufgrund mechanischer Ursachen aus einem homogenen Ausgangszustand. Im Gegensatz zu Newton ist es nicht mehr die Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten von Einzel bahnen, sondern eine Beschreibung des Gesamtzusammenhangs. Das Modellliefert eine einheitliche Beschreibung für das gesamte Universum. Es ist dynamisch und sieht die Entstehung immer neuer Galaxien, Planetensysteme etc. vor. " ... allein die Sphäre der ausgebildeten Natur ist unaufhörlich beschäftiget, sich auszubreiten. Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke" (AN, A 113).

Diese Dynamisierung ist keinesfalls selbstverständlich. Zwar hatte sich seit ungefähr 1630 die Erkenntnis durchgesetzt, daß sich sämtliche Regionen des Kosmos entwickeln. Galilei hatte mit der Entdeckung der Jupitermonde gezeigt, daß es Phänomene gibt, die unabhängig von ihrer Entfernung von der Erde ablaufen und von gleicher Natur sind. Aber noch Descartes geht in seiner Kosmologie davon aus, daß das Universum, so wie es ist, auf einmal geschaffen wurde und sich nicht ständig weiter entwickelt. Kant dagegen glaubt, "daß die Natur nur in einem unendlich kleinen Teile nach ausgebildet sei, und unendliche Räume noch mit dem Chaos streiten, um in der Folge künftiger Zeiten ganze Heere von Welten und Weltordnungen, in aller gehörigen Ordnung und Schönheit, darzustellen" (AN, A 116,117). Aber Welten entstehen in Kants Theorie nicht nur, sie vergehen auch. Dennoch bleibt die Natur fruchtbar und ihre Geschöpfe werden nicht "Opfer der Vergänglichkeit". Denn an anderen Orten "ergänzet die Natur den Mangel ... Auf die gleiche Art (wie bei Tieren und Pflanzen, d. Verf.) vergehen Welten und Weltordnungen, und werden von dem Abgrunde der Ewigkeiten verschlungen; dagegen ist die Schöpfung immerfort geschäftig, in anderen Himmelsgegenden neue Bildungen zu verrichten, und den Abgang mit Vorteile zu ergänzen." (AN, A 119). Im einzelnen ,,hebt es bei den Weltkörpern an, die sich dem Mittelpunkte des Welt-Alls am nächsten befinden, so wie die Erzeugung und Bildung neben diesem Centro zuerst angefangen: von da breitet sich das Verderben und die Zerstörung nach und nach in die weiteren Entfernungen aus, um alle Welt, welche ihre Periode zurückgelegt hat, durch einen allmählichen Verfall der Bewegung, zuletzt in einem einzigen Chaos, zu begraben. Andererseits ist die Natur, auf der entgegengesetzten Grenze der ausgebildeten Welt, unablässig beschäftiget, aus dem rohen Zeuge der zerstreuten Elemente Welten zu bilden, und, indem sie an der einen Seite neben dem Mittelpunkte veraltet, so ist sie auf der anderen jung und an neuen Zeugungen fruchtbar." (AN, A 122,123). Durch dieses ständige Werden und Vergehen existiert die Welt insgesamt unendlich lange. Newton dagegen

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Wolfgang Krohn und Günter Küppers "sah sich genötigt, der Natur ihren Verfall durch den natürlichen Hang, den die Mechanik der Bewegungen dazu hat, vorher zu verkündigen" (AN, A 120).

Die Prinzipien der Selbstorganisation Kant beschreibt einen Prozeß der Entstehung von Ordnung aus Chaos. Ausgehend von einer chaotischen Anfangsverteilung der Materie, zeigt er wie allein durch die Wechselwirkung der Materie- ihre Anziehung über weite und ihre Abstoßung über kurze Distanzen - eine geordnete Gesamtstruktur entsteht. Während Newton lokal - Bahn für Bahn - die Ordnung am Himmel erklärt, entwirft Kant eine globale Ordnung. Sie reicht vom Plantensystem zur Milchstraße und zu anderen Galaxien und letztlich zu Strukturen die diese eventuell noch bilden. Ursache dieser Selbstorganisation ist das Fehlen externer Kräfte, d. h. die operationale Geschlossenheit einer rekursiven Prozeßdynamik. Diese drückt sich darin aus, "daß der Ursprung der Massen zugleich den Ursprung der Bewegung und die Stellung der Kreise in ebendemselben Zeitpunkt darstellt" (AN, A 35). "Die Elemente haben wesentliche Kräfte, einander in Bewegung zu setzen, und sind sich selber eine Quelle des Lebens." (AN, A 29). Der Ordnungszustand ist ein dynamisches Gleichgewicht. "Die Umlaufbewegungen bestehen aus der Verbindung der sinkenden Kraft, die eine gewisse Folge aus den Eigenschaften der Materie ist, und aus der schießenden Bewegung, die, als die Wirkung der ersteren, als eine, durch das Herabsinken, erlangte Geschwindigkeit kann angesehen werden, in der nur eine gewisse Ursache nötig gewesen, den senkrechten Fall seitwärts abzubeugen. Nach einmal erlangter Bestimmung dieser Bewegung ist nichts ferner nötig, sie auf immer zu erhalten. Sie bestehen in dem leeren Raume, durch die Verbindung der einmal eingedrückten schießenden Kraft mit der aus den wesentlichen Naturkräften fließenden Attraktion, und leiden weiterhin keine Veränderung." (AN, A 149). Für die Einheitlichkeit der Ordnung auf allen Ebenen gibt es keinen anderen Grund als den Mechanismus der Erzeugung selbst. "Denn was erstlieh die durchgängige Übereinstimmung in der Richtung betrifft, so ist offenbar, daß hier kein Grund sei, woher die Weltkörper, gerade nach einer einzigen Gegend, ihre Umläufe anstellen müßten, wenn der Mechanismus ihrer Erzeugung sie nicht dahin bestimmet hätte." (AN, A 152). Letztlich zeigt das Beispiel der Kosmogenese auch wie die "blinde" und ,,rohe" Natur "anständige Folgen hervor(bringt), die der Entwurf einer höchsten Weisheit zu sein scheinen." (AN, Vorr., A XX). Diese Folgen entstehen nicht von ungefähr oder durch einen Zufall, sondern man sieht:

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"daß sie durch ihre natürlichen Gesetze eingeschränkt sind, auf keine andere als diese Weise zu wirken." (AN, Vorr., A XX,XXI). "Diese unerwartete Auswickelung der Ordnung der Natur im Großen wird mir anfänglich verdächtig, da sie auf so schlechten und einfachen Grunde eine so zusammengesetzte Richtigkeit gründet. Ich belehre mich endlich aus der vorher angezeigten Betrachtung: daß eine solche Auswickelung der Natur nicht etwas Unerhörtes an ihr ist, sondern daß ihre wesentliche Bestrebung solche notwendig mit sich bringt, und daß dieses das herrlichste Zeugnis ihrer Abhängigkeit von demjenigen Urwesen ist, welches sogar die Quelle der Wesen selber und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat." (AN, Vorr., A XXII,XXII).

111. Leben

Das innere Prinzip des Lebens Die Entstehung und Erhaltung des Lebens ist auf dem Boden einer rnechanizistischen Grundüberzeugung gegenüber der Kosmogonie mit einem Zusatzproblern belastet, das eine wissenschaftliche Erklärung in Kants Augen fast aussichtslos erscheinen läßt. "Leben heißt das Vermögen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln ... zu bestirnrnen." 24 Dieses innere Prinzip wird Begehrungsvermögen genannt. Seine Funktion ist es, Leben entgegen den materiellen Gesetzen durch Gesetze der Zweckmäßigkeit aufrechtzuerhalten. Der Unterschied zum Kosmogonieproblern besteht darin, daß bei Lebewesen die Zweckmäßigkeit als ein inneres Organisationsprinzip vorgegeben sein muß, damit überhaupt die Prozesse gesteuert werden können, über die die Einheit des Lebewesens erzeugt werden und bestehen kann. Dagegen ergibt sich die Zweckmäßigkeit kosmologischer Strukturen unter bestimmten Bedingungen zwangsläufig aus mechanischen Gesetzen; ernergente Phänomene treten nicht auf. Die aus heutiger Sicht entscheidende Frage, warum Kant eine solche strikte Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Prinzip der Zweckmäßigkeit vornimmt, ist schwer zu beantworten; die Frage wird im folgenden immer wieder berührt werden ohne schlüssig behandelbar zu sein. Sicherlich war Kant durch die vor allem durch das Mikroskop unterstützten Befunde der experimentellen Forschung beeindruckt, die die Kluft zwischen einer Struktur als physikalische Ordnung (etwa im Kristall, aber auch in einem Wirbel) und einer Struktur als komplexe Organisation (etwa schon in dem einfachsten Einzeller) fast unüberbrückbar erscheinen ließ. Die mechanischen Modelle eines Descartes wirken demgegenüber lächerlich und erklären ohnehin allenfalls die Funktionalität des Organischen, nicht dessen Entstehen. Andererseits hat Kant das Argument nirgendwo ausgeführt, daß die Entstehung von Organischern aus Nicht-organischem, also die Entstehung von innerer Zweckmäßigkeit aus äußerer, unmöglich sei. 24 /.

Kant, Kritik der praktischen Vernunft (KpV), Vorrede, A 16.

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Diese "generatio äquivoca" nennt er in einer Anmerkung zwar "ungereimt" (KU § 80, S. 370 Anm.), wir haben aber nicht gefunden, daß er einen entsprechenden Unmöglichkeitsbeweis führt 25 • Wir wollen im folgenden zeigen, daß es interessanterweise gerade Kants ambivalente Position hinsichtlich dieses inneren Prinzips ist, die ihn dazu bringt, ein präzises begriffliches Modell der Selbstorganisation zu formulieren und darüberhinaus die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen dieses Modell im Falle rein mechanischer Wechselwirkung anwendbar wäre. Gerade weil er an diese Anwendung nicht glaubte, zwang er sich dazu, die Bedingungen der Anwendung zu präzisieren 26 • Zusätzlich hat er ein Forschungsprogramm skizziert, mit dem eine empirische Erforschung der biologischen Organisation vorangetrieben werden kann, unabhängig davon, ob und in welcher Art das innere Prinzip der Zeckmäßigkeit besteht. Die etwas verschlungene, letztlich aber konsequente Gedankenführung Kants wird im folgenden rekonstruiert.

Zweckmäßigkeit: Heuristische Fiktion oder materielles Prinzip? Für die empirische Forschung stellte sich als zentrale Frage: Welchen Zugang zur Untersuchung dieses inneren Prinzips des Lebens gibt es? Kants Antwort ist radikal: Er sieht keinen Zugang - und er glaubt auch nicht, daß ein solcher gefunden werden kann. Dabei wird das Erkenntnisproblem des Lebens nicht nur auf eine, sondern auf vielfache Weise aufgeworfen: Als Biogenese, Ontogenese, Phylogenese, und als Gesamtzusammenhang des Lebendigen in der Natur. Innere Prinzipien der Zweckmäßigkeit wurden unter wechselnden Benennungen zumindest für die ersten drei Problemkreise formuliert. Für die Biogenese die Lebenskraft; für die Ontogenese als Bildungstrieb; für die Phylogenese eine Entwicklungskraft. 27 25 An anderer Stelle (KU § 81 B 378 f.) bezieht sich Kant auf Johann Friederieb Blumenbach als Zeugen dafür, daß die spontane Entstehung des Lebens als "vemunftwidrig" verworfen werden muß. Davon kann allerdings bei Blumenbach nicht die Rede sein. Zwar ist richtig, daß Blumenbach diese in "ihre sehr engen Schranken" zurückweist und sie zu den "abentheuerlichen Einbildungen des scholastischen Stumpfsinns" rechnet (§ 11, 22); aber er schließt keineswegs aus, daß man bei einfachen "organisierten Körpern ... mit ungleich größerer Wahrscheinlichkeit wieder zu einer Art Zeugung ohne Saamen Generatio aequivoca (oder spontanea) wird zurückgehen und zugeben müssen, daß allerdings wol zuweilen allerhand Säfte durch eine besondre Art von Gährung oder Fäulnis einen Bildungstrieb erhalten ... "(§ 12, S. 23). Diese interessante Position kann Kant also nicht zum Zeugen dienen, die spontane Entstehung von Leben für ungereimt vernunftwidrig (i. e. widersprüchlich!) zu erklären. Johann Friederich Blumenbach, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781, Nachdruck Stuttgart 1971. 26 Der Struktur nach handelt es sich um eine indirekte Beweisführung. Um nachzuweisen, daß etwa das Verhältnis von Diagonale und Seitenlänge im Quadrat nicht kommensurabel ist, muß man die Bedingung der Kommensurabilität genau spezifizieren. 27 Es ist hier nicht der Raum, die komplexen Begriffs- und Namensgeschichten des 17. und 18. Jahrhunderts zu den Wortfamilien Entwicklung (evolutio), Bildung (formatio)

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Zahlreiche theoretische Wege wurden beschritten, diese Prinzipien aufeinander zu beziehen (vor allem im Streit zwischen Präformationstheorie und epigenetischer Theorie), sie ins Verhältnis zu ihren theologischen Entsprechungen zu setzen (zum Ursprung des Lebens als Schöpfung und zur Teleologie des Schöpfungsplans) und an die mechanistische Begrifflichkeit anzuschließen (etwa als zusätzliche materielle Prinzipien im Hylozoismus oder im Leibnizschen Sinne als den Bewegungsprinzipien parallele Perzeptionsprinzipien). Für Kant hatte die gesamte Diskussion aber einen im Ansatz unbefriedigenden Ausgangspunkt: Die Annahme solcher Prinzipien als Erklärungsgründe ist illegitim; legitim ist nur ihre Unterstellung als "heuristische Fiktionen" (KdrV B 799) oder regulative Prinzipien der Forschung. In scharfer Form drückt er dies in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft aus: "Eine transzendentale Hypothese, bei der eine bloße Idee der Vernunft zur Erklärung der Naturdinge gebraucht würde, würde daher gar keine Erklärung sein, indem das, was man aus bekannten empirischen Prinzipien nicht hinreichend versteht, durch etwas erklärt werden würde, davon man gar nichts versteht." (KdrV B 800). Das stellt die Forschung vor die Alternative, entweder die Prinzipien des Lebens als "physischen Erklärungsgrund" nachzuweisen oder auf sie zu verzichten. Die erste Alternative ist aber nur eine scheinbare. Denn die verschiedenen Vermögen sind gerade deswegen unterstellt, weil ein den physischen, i.e. mechanischen Prinzipien entgegengesetztes Prinzip benötigt wird. Die Annahme, dieses Prinzip sei letztlich auch mechanischer Natur, macht es entweder entbehrlich oder führt zu einem Widerspruch: "Die Möglichkeit einer lebenden Materie (deren Begriff einen Widerspruch enthält, weil Leblosigkeit (inertia), den wesentlichen Charakter derselben ausmacht) läßt sich nicht einmal denken." (KU § 73, B 327). Verbleibt also die zweite Alternative. Dazu schreibt Kant nun in der schon angeführten Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft: "Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Natur muß wiederum aus Naturgründen und nach Naturgesetzen erklärt werden, und hier sind selbst die wildesten Hypothesen, wenn sie nur physisch sind, erträglicher als eine hyperphysische ... Denn das wäre ein Prinzip der faulen Vemuft (ignava ratio) alle Ursachen, deren objektive Realität, wenigstens der Möglichkeit nach, man durch fortgesetzte Erfahrung kann kennen lernen, auf einmal vorbeizugehen, um in einer bloßen Idee, die der Vernunft sehr bequem ist, zu ruhen." (KdrV B 800 f). Für die Kosmogonie hat Kant die "wildesten Hypothesen" gewagt und dafür auch nach der kritischen Wende die "Lizenz" (KdrV B 801) ausgestellt. Aber hinsichtlich des Lebens?

und Organisation zu verfolgen. Es sei auf die einschlägigen Artikel der philosophiehistorischen Lexika verwiesen.

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Die Definition des Lebens als Selbstorganisation In der "Kritik der Urteilskraft" kreist Kant das Problem der Erklärung des Lebens begrifflich ein, bevor er sich auf Hypothesen einläßt. Zunächst ist es eingebettet in das allgemeine Problem der Erklärung der (inneren) Zweckmäßigkeit in der Natur. Zweckmäßigkeit wird überall dort wahrgenommen, wo wir auf Formen stoßen, deren Bildung nach mechanischen Gesetzen kausal unerklärlich erscheint. 28 "Um einzusehen, daß ein Ding nur als Zweck möglich sei, d. h. die Kausalität seines Ursprungs nicht im Mechanismus der Natur ... bestimmt wird ... dazu wird erfordert: daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei ... sondern daß selbst ihr empirisches Erkenntnis, ihrer Ursache und Wirkung nach, Begriffe der Vernunft voraussetze." (KU, § 64, B 284) Die Kausalität einer zweckmäßig operierenden Natur bestimmt Kant als technische, also als eine Kausalität der Mittel mit Rücksicht auf einen Zweck 29 • Kant spricht auch von der "organischen Technik" der Natur 30 , wobei "organisch" bezogen wird auf den Werkzeugcharakter eines Zwischenprodukts (organon) und den Organismus als Zweck. Der entscheidende Schritt ist nun Kants Definition dieser Kausalität: "Ich würde vorläufig sagen: ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst ... Ursache und Wirkung ist." (KU§ 64) Diese Bestimmung hält Kant für widerspruchsfrei und konsistent mit der physikalischen Kausalität. Als Beispiele der Erläuterung führt er an: die Selbsterhaltung einer Gattung dadurch, daß die Erzeugung der individuellen Exemplare sowohl Wirkung der Existenz der Gattung, wie auch Ursache der (selbsterhaltenden) Weiterexistenz ist; -

die Selbstausbildung des Individuums "vermittels eines Stoffes, der ... sein eignes Produkt ist," auch wenn die Bestandteile als Rohstoffe aufgenommen werden;

28 Die schwierige Frage, ob an dieser Stelle der Argumentation der Begriff der "Form" nicht-lebendige (Planetensystem) und lebende Beispiele umfaßt, umgehen wir hier. Kant greift zur Kategorie der Zufälligkeit als unterscheidendes Merkmal: Eine Form, die nach Naturgesetzen nicht entstanden sein kann, weil dies völlig unwahrscheinlich wäre (z.B. ein regelmäßiges Sechseck im Sand), verweist auf eine verständige Verursachung. Das wirft aber zwei Probleme auf, die Kant nicht schlüssig behandelt: Erstens, wie kennzeichnet man erkenntnistheoretisch Zufälligkeit, so daß sie nicht nur als ein Unwissen, sondern als ein konstruktives Merkmal benutzt werden kann? Zweitens, wenn es Grade der (Un)wahrscheinlichkeit gibt, müßte es Übergänge oder Zwischenformen zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit geben; das aber ist bei Kant wohl ausgeschlossen, da es sich, wie gleich zu sehen sein wird, dabei um kategoriale Unterschiede handelt. 29 Ausführliche Erörterung dieser "Technik der Natur" in der Ersten Fassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, Kap. I u. II, Ausgabe Weisehedei S. 178 ff. 30 Ausg. Weisehedei KU, Ein!. Erste Fassung (FN 29), S. 212.

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die Selbsterhaltung der Teile (Strukturen) eines Individuums so, "daß die Erhaltung des einen von der Erhaltung des andem wechselweise abhängt." (KU § 64, B 286 f.). Die Konsistenz mit der Physik beruht darauf, daß jedenfalls prima facie das Zweck-Mittel Verhältnis als ein Ursache-Wirkung Verhältnis ausgedrückt ist. Aber Kant macht den Selbsteinwand, daß die Kennzeichnung eines "sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung" verhaltendes Naturprodukts noch ein "uneigentlicher und unbestimmter Ausdruck ist, der einer Ableitung von einem bestimmten Begriff bedarf."(§ 65, B 289). Die Schwierigkeit liegt darin, daß im üblichen Begriff der Kausalität die Verknüpfung von Ursache und Wirkung zeitabhängig gerichtet ist, so daß eine Wirkung niemals Ursache ihrer eigenen Ursache sein kann. Zwar hat Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" auch die Kausalität zeitgleicher Wechselwirkung behandelt 31 • Aber diese nützt an dieser Stelle nichts. Denn für das Argument der Selbstherstellung eines Dinges unterstellt man Zustandsänderungen im Prozeß der Selbstherstellung und nimmt damit an, daß ein vorhergehender Zustand dynamischer Wechselwirkung den späteren bedingt. Wenn ein Zustand einen früheren voraussetzt, dann kann er nicht Ursache dieses früheren sein. 32 Der nächste Schritt gilt der Überwindung dieser Schwierigkeit: "Soll aber ein Ding, als Naturprodukt, ... eine Beziehung auf Zweke enthalten: so wird ... dazu erfordert: daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme." (KU § 65, B 290 f.) Mit dieser Idee, die Zweckmäßigkeit als über die Struktur der Teile determinierte Organisation zu fassen, erreicht Kant den Begriff der Selbstorganisation: "In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle

übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d.h. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist ... ; sondern als ein die andem Teile (folglich jeder dem andem wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefemden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können." (KU § 65, B 290 f.) 31 In der dritten Analogie der Erfahrung: "Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung, oder Gemeinschaft", (KdrV, B 256 ff). 32 Für Kant werden Ursache und Wirkung auch deswegen nicht symmetrisch, weil empirische Erkenntnis an die Idee der Handlung, i.e. die Angabe und eventuell Einrichtung von Bedingungen gebunden ist, unter denen eine Zustandsänderung auftritt. Wenn man kausal die Selbstorganisation eines Systems begriffen hat, dann kann man im Prinzip diese durch Einrichtung von Anfangsbedingungen bewirken. Vergl. zur Beziehung von Kausalität und Handlung KdrV B 249 f.

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Die besondere Feinheit der Definition liegt darin, die Notwendigkeit der Produktion der das System produzierenden Komponenten mit einzubeziehen. 33 Denn nur hierdurch wird der Selbsteinwand hinsichtlich der kausalen Wechselwirkung entkräftet. Kant klärt dies durch die Unterscheidung zwischen Artefakt und natürlicher Selbstorganisation. In einer mechanischen Uhr (der neben der Mühle häufigsten technischen Metapher für das Leben) ist zwar jede Komponente um der anderen wegen zweckmäßg eingebaut, aber eben nicht kausal durch die anderen eingebaut, geschweige denn geformt. Dies machen Feinmechaniker und Uhrmacher. Eine Natur, die selbst Uhrmacher wäre, müßte einen Prozeß ingangsetzen, indem alle zweckmäßigen Komponenten ohne Unterstellung eines naturfremden Verstandes entstehen. Woher aber soll in der Natur die Konzeption der Uhr, die zweckmäßige Ordnung und die daraus folgende Struktur der Komponenten stammen, wenn die Uhr noch nicht existiert? Eine radikale Möglichkeit wäre der Verweis auf einen sehr unwahrscheinlichen Zufall. Aber da der Zufall kein Agens ist, sondern nur die Bezeichnung für die völlige Unwahrscheinlichkeit, daß etwas nach bekannten Gründen entstanden ist, kann man eine Zufallshypothese auch nur stärken, indem man gegen sie prüft. Die einfachste realistische Vorstellung zur Selbstherstellung einer Uhr wäre wohl: Eine Uhr zeugt eine Uhr. 34 Vorgeprägt wurde dieses scharfsinnige Argument zur Differenz zwischen Artefakt und Selbstorganisation von Leibniz, der aber mit seinen Grundgedanken des Infinitesimalen und der Präformation andere Lösungswege eingeschlagen hat. In der Monadologie heißt es: "So ist jeder organische Körper eines Lebewesens eine Art ... natürlicher Automat, der alle künstlichen Automaten unendlich übertrifft. Denn eine durch Menschenkunst gebaute Maschine ist nicht auch Maschine in jedem ihrer Teile. So hat z.B. der Zahn eines Messingrades Teile oder Stücke, die für uns nichts Kunstvolles mehr sind ... Aber die Maschinen der Natur ... sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche hinein, Maschinen." (Monadologie § 64) Einen letzten definitorischen Gesichtspunkt bietet Kant auf, der sogar diese Maschinen- oder Automatenmetapher zu schwach erscheinen läßt: Die Fähigkeiten eines selbstorganisierten Wesens zur Ersetzung verloren gegangener Teile, zur Selbstreparatur, wenn es in "Unordnung" geraten ist und zu "schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert" (KU § 65 B 292 f.). Wenn man auch diese Merkmale der Selbstreparatur und Anpassung nicht unbedingt zum definitorischen Kern der Selbstorganisation rechnen muß 35, so 33 Selbstorganisation ist also für Kant zwangsläufig Autopoiese: Selbstherstellung der Komponenten. 34 Man denke an von Neumanns berühmten Beweis, daß ein Automat einen mindestens gleichkomplexen Automaten herstellen kann. 35 Wenn allerdings Selbstorganisation daran gebunden ist, daß Organisches nur aus Organischem entstehen kann, dann sind Selbstreparatur und bei einer wechselnden Umwelt auch Variation notwendig.

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rückt auch ohne sie das Ziel, die Selbstorganisation des Lebens nur nach mechanischen Prinzipien, i.e. aus materieller Wechselwirkung, zu erklären, in weite Feme. Es vollständig zu erreichen hält Kant ohnehin für unmöglich. Wie aber könnte die empirische Forschung verfahren und wo setzt möglicherweise das Prinzip der Selbstorganisation dieser Forschung Grenzen?

Empirische Hypothesen Es wurde schon erwähnt, daß das Problem des Lebens als eine Organisation der inneren Zweckmäßigkeit sich mehrfach stellt: als biotischer Gesamtzusammenhang, als Erhaltung der Gattungen, als Existenz der Individuen; zudem noch als Reproduktion der Komponenten des Individuums, und, wie Kant auch sieht, als die "Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung aufeinander." (KU, § 82, B 381) Wenn man nun nicht umhin kann, für zweckmäßige Organisation letztlich ein unerkennbares nicht-mechanisches Prinzip zu unterstellen, hat man es dann mit einem einzigen solchen zu tun, oder mit ebensoviel verschiedenen, wie man systematisch an Organisationsstrukturen unterscheidet? Diese Frage ist deswegen schwierig, weil unklar ist, ob sie als empirische oder als deduktive (transzendentale) gestellt wird. Angenommen, sie wird empirisch gestellt. Dann sind alle Möglichkeiten, die man aufwenden kann, um auf solche Prinzipien zu stoßen, solche der Forschung nach mechanischen Gesetzen (i.e. der empirischen Kausalität) von Selbstorganisation. Eine andere Forschung gibt es nicht für Kant. Die Anzahl solcher empirischer Gesetze ist ohne angehbare Grenze, ihr logischer Zusammenhang offen. Ob und wann diese Möglichkeiten der Suche nach empirischen Beziehungen, die an der Selbstorganisation beteiligt sind, ausgeschöpft sind und daher die Unterstellung einer teleologischen Kausalität (eines architektonischen Verstandes in der Natur) erzwungen wird, kann nicht gewußt werden- außer man besäße eine vollständige Kenntnis aller empirischen Gesetze und einen Begriff dieser Vollständigkeit. In diesem Fall könnte man dann angeben, daß es nichts mehr zu erforschen gibt. 36 Wir sind also, unabhängig von der Anzahl der teleologischen Prinzipien, immer darauf angewiesen, die Forschung nach "bloßen Mechanismen" fortzusetzen. "Ob also das produktive Vermögen der Natur auch für dasjenige, was wir, als nach der Idee von Zwecken geformt oder verbunden, beurteilen, nicht eben so gut als für das, wozu wir bloß ein Maschinenwesen der Natur zu bedürfen glauben, zulange: darüber kann unsere ... Vernunft schlechterdings keine Auskunft geben." (KU § 71, B 317).

36 Ersichtlich hängt diese Argumentation an der restriktiven Position Kants hinsichtlich der Zulassung einer neuen nicht-mechanischen Grundkraft, i.e. an seinem harten Reduktionismus.

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Könnte es sich erweisen, daß durch die Zunahme der Kenntnis empirischer Gesetze die Annahme teleologischer Prinzipien einfach entbehrlich wird? Könnte sich zeigen, daß der Maxime unserer Urteilskraft gar kein objektives Prinzip in der Natur entspricht, sondern uns Schritt für Schritt an die mechanische Kausalität der Selbstorganisation heranführt 37 ? (vergl. § 72, 319). "Hier müßte nun freilich jene unbestrittenen Maxime in die ein weites Feld zu Streitigkeiten eröffnende Aufgabe übergehen: Ob die Zweckverbindung in der Natur eine besondere Art der Kausalität beweise; oder ob sie, an sich und nach objektiven Prinzipien betrachtet, nicht vielmehr mit dem Mechanismus der Natur einerlei sei, oder auf ein und demselben Grund beruhe ... " (KU § 72, B 320). Kant geht gegenüber allen Varianten auf Distanz, weil man weder die Annahme einer "besonderen Art der Naturerzeugung" beweisen kann, noch einen Unmöglichkeitsbeweis "der Zweckeinheit in der Materie durch den bloßen Mechanism derselben führen" (KU § 73 B 328). 38 Und da man, ob man nun ein teleologisches Prinzip annimmt oder nicht, letztlich nur verstanden hat, was nach dem "Prinzip des Mechanismus" erklärt ist, gründet sich darauf die "Befugnis" und der "Beruf, alle Produkte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten, so weit mechanisch zu erklären, als es immer in unserm Vermögen (dessen Schranken ... wir nicht angeben können) steht" (KU § 78, B 363). Seine eigene empirische Hypothese formuliert Kant im Anschluß an die Ergebnisse der ,,komparativen Anatomie": "Die Analogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung derselben, durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur andem ... bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften, nach mechanischen Gesetzen ... die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip denken, abzustammen scheint." (KU § 79, B 369). Mit dieser Hypothese ist nun vorgezeichnet, daß ein Rekurs auf ein nichtmechanisches Prinzip allenfalls an einer anfangliehen Stelle notwendig wäre, nicht aber für die Entstehung aller einzelnen Arten und Individuen. Für die empirische Durchführung dieser Hypothese, die zunächst nur einen "schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt" fallen läßt (KU § 79, B 369), wendet sich Kant an die Untersuchung der "übriggebliebenen Spuren" der Evolution, an den ,.Archäologen der Natur". Diesem stünde es frei, sich den gemeinsamen Ursprung und die durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft vorzustellen. "Er kann den Mutterschoß der Erde, die eben aus ihrem chaotischen Zustande herausging ... anfanglieh Geschöpfe gebären lassen."(KU § 80, B 370). 37 Man kann auch sagen: Könnte sich herausstellen, daß der unwahrscheinlich erscheinende Zufall einer mechanischen Selbstorganisation kausal determiniert ist? 38 Zur Möglichkeit der "mechanischen Erzeugung" eines zweckmäßigen Ganzen vergl. auch KU § 77 B 351.

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Die Bestätigung einer solchen Hypothese würde die Erklärungskraft des mechanischen Prinzips weit ausdehnen. Hiermit liegt nun eine solche wilde, aber doch empirische Hypothese vor, wie Kant sie in der "Kritik der reinen Vernunft" bezeichnet hat. In einer Anmerkung nennt er sie "ein gewagtes Abenteuer der Vernunft", aber kein ungereimtes, denn in dem Grundgedanken, daß alles Organische aus gattungsmäßig anderem Organischen entstanden ist, liegt kein Widerspruch, "z.B. wenn gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren, und aus diesen, nach einigen Zeugungen, zu Landtieren ausbildeten" (KU § 80, B 370, Anm.). Man kann die Frage aufwerfen, an welchen Forscher sich Kant mit dieser Hypothese anlehnt- und stößt auf Johann Gottfried Herder. Dessen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" von 1784 hat Kant 1785 rezensiert. Dort heißt es: ,,Nur eine Verwandschaft unter ihnen, da entweder eine Gattung aus der andem, und alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschoße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt." (Rez. A 22, Ausg. Weischedel, Bd. VI, 792). Über welche Stationen bei Kant die zurückbebende Vernunft sich hat entschließen können, sich auf ein gewagtes Abenteuer einzulassen, ist nicht leicht auszumachen. Eine wichtige Rolle spielen sicherlich die Fortschritte der epigenetischen Theorie, deren Formulierung durch Blumenbach Kant beipflichtet. Blumenbach leistet - bei Anerkennung eines die jeweilige Organisation strukturierenden Bildungstriebs - die Formulierung eines allgemeinen Evolutionsprinzips. Im § 36 seines kleinen, aber einflußreichen Werkes heißt es: ,,Anders ist es hingegen mit dem Clima, mit den Nahrungsmitteln, der Lebensart und mehreren dergleichen Ursachen der Ausartung beschaffen, die allerdings einen zwar langsamen aber kräftigen, für die Folge desto dauerhafter und tiefer wurzelschlagenden Einfluß auf den Bildungstrieb äußern ... " (§ 36, S. 63).

IV. Schlußbemerkung Offensichtlich ist es Kant hinsichtlich des Phänomens des Lebens nicht gelungen, ein durchgestaltetes Modell einer mechanischen Theorie der Selbstorganisation vorzulegen. Wegen seiner harten Formulierung des Reduktionismus, der gemäß alle empirische Erklärung als Ableitung aus mechanischer Wechselwirkung auftreten muß, ist es ihm aber gelungen, erstens das Prinzip der Selbstorganisation als zentrale Kennzeichnung des Lebens zu erkennen, es zweitens begrifflich klar in der Sprache der mechanischen Kausalität zu definieren, und drittens eine empirische Hypothese vorzulegen oder zu unterstützen, die die reduktionistische Forschung zur Selbstorganisation ohne Einschränkungen voranzutreiben erlaubt. 4 Selbstorganisation, Bd. 3

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Wolfgang Krohn und Günter Küppers

Weitgehend offen geblieben ist in unserer Analyse das Verhältnis zwischen den beiden Anläufen Kants zur Erklärung von Selbstorganisation - Theorie des Himmels und Theorie des Lebens. Und es bedarf der Aufklärung, warum er selbst darüber schweigt. Ohne Frage ist Kant durch das gegenüber der Kosmogonie härtere Problem des Lebens dazu gebracht worden, die Konzeption der Selbstorganisation präzise und vollständig durchzuarbeiten. Denn Kants Stärke besteht darin, als Reduktionist sich keine triviale Auflösung des Lebensproblems zu erlauben. Aber er konnte sich offenbar nicht zu dem Schritt entschließen, eine universelle, axiomatische Theorie der Selbstorganisation aufzubauen, unter die dann Leben, Planetensystem und möglicherweise weitere Beispiele fallen würden. Ein solcher Schritt hätte allerdings auch einen hohen Preis gehabt. Denn während bei der "Theorie des Himmels" bei einer vollständigen Beschreibung nach mechanischen Gesetzen wir im Prinzip zu einer Erklärung der Himmelsprozesse vordringen, würde man bei einer entsprechenden Beschreibung des Lebens immer noch vor dem "Rätsel" stehen, daß ein Organismus seine Wahrnehmungen, Kognitionen, Emotionen und Handlungen organisiert, um eben nicht zur Resultante der auf ihn wirkenden Kräfte zu werden. In der heutigen Problemlandschaft der Forschungen zur Selbstorganisation steht dahinter das Problem der Emergenz, das wohl kaum als vollständig gelöst betrachtet werden kann.

Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft Von Heinz Rieter, Hamburg*

I. Zum gegenwärtigen Selbstverständnis der Wirtschaftstheorie Grundlagen- und Methodendiskussionen gelten nicht erst seit Thomas S. Kuhn als Krisensymptom einer Wissenschaft. Ob sie freilich noch den Niedergang oder schon die Wende zum ,Besseren' signalisieren, ist oft schwer auszumachen. Ohne Zweifel ist die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft zugleich eine Geschichte solcher Debatten. Auch heute noch wird tüchtig über Gegenstand und Zweck der ökonomischen Wissenschaft wie über ihre Forschungsmethoden gestritten. Während manche meiner Fachgenossen dies für höchst überflüssig halten, weil die Disziplin längst ihr gültiges Paradigma gefunden habe, erhoffen sich andere davon gerade einen Paradigmenwechsel, weil sie der herrschenden Wirtschaftslehre die nötige Erklärungskraft absprechen. Die orthodoxe, meist neoklassisch genannte Lehre ruht auf dem liberalistischutilitaristischen Fundament der klassischen Nationalökonomie. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erneuerte sie sich vor allem mikroökonomisch, sie ist seitdem marginalistisch-mathematisch orientiert. Ab den vierziger Jahren absorbierte sie keynesianische Gedanken und gewann damit geldtheoretisch und makroökonomisch an Format. Inzwischen sind die neoklassischen Forschungsziele noch weiter gesteckt: Institutionen wie Eigentumsrechte, Gesetzgebung, Familie, Ehe, Verbrechen, Erziehung oder Wissenschaft werden untersucht, weil auch hier knappe Ressourcen eingesetzt werden müssen, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Und "as economics continues to expand its empire" 1 , werden weitere Forschungsfelder sicherlich hinzukommen. • Meinen Mitarbeitern Mattbias Schmolz und Boris Burauel danke ich herzlich für die fachliche resp. technische Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrages. Wertvolle Anregungen verdanke ich den Diskutanten meines Referates sowie meinem Hamburger Kollegen Christian Scheer. I Mitton Friedman, Old Wine in New Bottles, in: The Economic Journal, Vol. 101 (1991), S. 33-40, hier S. 39. Vgl. auch Gunther Engelhardt, Imperialismus der Ökonomie?, in: Hans-Bernd Schäfer I Klaus Wehrt (Hrsg.), Ökonomisierung der Sozialwissenschaften, Sechs Wortmeldungen, Frankfurt am Main I New York 1989, S. 19-49. 4*

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Heinz Rieter

Viele Kritiker, die diesen "Korpus der orthodoxen neoklassischen Theorie" auf die "Schlachtbank" legen wollen 2, wetzen seit Jahren das gleiche Messer 3• Sie wollen den allwissenden, automatisch reagierenden homo oeconomicus bzw. seinen jüngeren Bruder Remm, den "resourceful, evaluating, maximizing man"\ opfern, weil letztlich beide Ausdruck einer mechanistischen und deterministischen Deutung ökonomischen Verhaltens seien, die den gedachten Wirtschaftsablauf linearisiere, ihn zeitlos und reversibel erscheinen lasse. Von daher werden auch bestimmte methodische Werkzeuge wie das Denken in geschlossenen Kreisläufen oder statischen Gleichgewichten abgelehnt. Die Kritiker fordern eine neue Wirtschaftsanthropologie und möchten die Wirtschaft dynamisch, als zeitbeanspruchenden irreversiblen Prozeß verstanden wissen. Sie halten es für falsch, komplexe wirtschaftliche Phänomene in reduktionistischen Modellen zu autonomisieren und warnen vor der ausufernden Mathematisierung der Wirtschaftstheorie. Jene heterodoxen Gruppierungen, die auf diese Weise Kritik an der Neoklassik üben 5 , gehen demnach von methodologischen Positionen aus, die ebenso oder

2 Paul Davidson, Die Postkeynesianische Wirtschaftswissenschaft Die Lösung der Krise in der Wirtschaftstheorie, in: Daniel Bell I Irving Kristol (Hrsg.), Die Krise in der Wirtschaftstheorie, Berlin et al. 1984, S. 190-217, hier S. 190. 3 Beispiele aus dem jüngeren Schrifttum: J ohannes Baumgardt, Der Mensch als Homo Oeconomicus- gilt das noch heute?, in: Gert Hummel (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaften zum gegenwärtigen und zukünftigen Menschenbild, Bonn 1990, S. 97 -120; Bernd Biervert I Martin Held (Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie, Zur Natur des Menschen, Frankfurt am MainiNew York 1991; Hans Werner Holub, Ökonomische Theorie: Fragwürdige Dominanz, in: Wirtschaftswoche, Nr. 28, 7. 7. 1989, S. 66-69; Ulrich Kazmierski, Volkswirtschaftslehre und Analytische Handlungstheorie, Zur Diagnose, Ätiologie und Therapie einer Wissenschaftskrise, Berlin 1990; Walter Ötsch, Gibt es eine Grundlagenkrise der neoklassischen Theorie?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 208 (1991), S. 642-656; Bernd-Thomas Ramb (Hrsg.), Krise der Ökonomie, München 1989; Dieter Schneider, Aufstieg und Niedergang eines Forschungsprogramms: allgemeine Gleichgewichtsanalyse, in: Harald Scherf (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie IX, Berlin 1990, S. 95125. An älteren Schriften seien genannt: Helmut Arndt, Irrwege der Politischen Ökonomie, Die Notwendigkeit einer wirtschaftstheoretischen Revolution, München 1979 (amerikanische Ausgabe: Economic Theory versus Economic Reality, Michigan State Univ. Press 1984); Jan Jarre (Hrsg.), Die Zukunft der Ökonomie, Wirtschaftswissenschaftliche Forschungsansätze im Vergleich, Loccumer Protokolle 15 I 1984, Rehburg-Loccum 1985; Lester C. Thurow, Dangerous Currents: The State of Economics, Oxford Univ. Press 1983 (deutsche Ausgabe: Gefährliche Strömungen, Wirtschaftspolitik in der Krise, Frankfurt am MainiNew York 1984). 4 Vgl. u. a. ManfredTietzel, Die Rationalitätsannahme in den Wirtschaftswissenschaften, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 32 (1981), S. ll5-138, hier S. 125. 5 Daneben gibt es starke Positionen, deren Kritik an der Neoklassik anders ansetzt, vor allem die neoricardianisch-postkeynesianische Schule, die die subjektivistische Wertlehre verwirft und im Rahmen einer langfristigen Betrachtung die werttheoretische Lehre der klassischen Schule fortzuentwickeln sucht. Siehe z. B. Postkeynesianismus, Ökonomische Theorie in der Tradition von Keynes, Kalecki und Sraffa, Marburg 1987. Einen anderen Weg beschreitet Reinhard Blum, Organisationsprinzipien der Volkswirtschaft,

Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft

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ähnlich von jenem Forschungprogramm vertreten werden, das fachübergreifend den Anspruch erhebt, das wissenschaftliche Weltbild zu revolutionieren- der Theorie der Selbstorganisation in ihren verschiedenen Spielarten 6 • Das Interesse aneinander ist damit vorprogrammiert. Dies gilt zumindest für einen Teil der Heterodoxie, namentlich die ökologisch orientierte Volkswirtschaftslehre und die sog. evolutorische Ökonomik. Sie haben sich Konzepte der Selbstorganisation zu eigen gemacht, was - soweit ich sehe - für andere heterodoxe Strömungen, etwa die (New) Austrian Economics und die Wirtschaftsethik, trotz gleicher Stoßrichtung (noch) nicht gilt. Die Wiederbelebung der Österreichischen Schule durch Lachmann, Kirzner und andere richtet sich vor allem gegen die neoklassische Übung, Marktprozesse wie mechanische Vorgänge zu behandeln 7 • Die "Neo-Österreicher" erkennen dagegen im Marktgeschehen einen zum Teil von unsicheren Erwartungen beeinflußten ,,Prozeß ohne Anfang und Ende", in dem in der Regel keine gleichgewichtigen Ruhelagen auftreten. Sie sind zudem dagegen, der Ökonomik eine naturwissenschaftliche Methodik überzustülpen. Eine Hinwendung zu geisteswissenschaftlichen Erkenntnismethoden, etwa des Verstehens, dürfe nicht verbaut sein. In bester subjektivistischer Tradition der alten Österreichischen Schule wird die Aggregation ökonomischer Größen für abwegig gehalten, die Verwendbarkeit mathematischer Methoden in Zweifel gezogen und dem methodologischen Individualismus das Wort geredet. Die neuerdings sehr in Mode gekommenen Bemühungen, die Ethik in die Wirtschaftswissenschaft zurückzuholen bzw. die Wirtschaftsethik als wissenschaftliche Disziplin neu zu begründen, vereint eine Reihe von Volks- und Betriebswirten, die hier an einem Strang ziehen 8 • Sie beklagen die ungerechtfertigte Dominanz wirtschaftlichen Denkens in der Gesellschaft und konstatieren Widersprüche zwischen wirtschaftlichem Verhalten und ethischen Überzeugun-

Neue mikroökonomische Grundlagen für die Marktwirtschaft, Frankfurt am Main I New York 1983. Er will die neoklassische Entscheidungslogik durch systemorientierte Ansätze der modernen Betriebswirtschaftslehre ersetzen. 6 Siehe zur ersten Orientierung Wolfgang Krohn I Günter Küppers (Hrsg. ), Selbstorganisation, Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig I Wiesbaden 1990. 1 Einen guten Einblick gewähren: Ludwig M. Lachmann, Der Markt ist kein Uhrwerk, Zur Lage der Wissenschaften vom Menschen (5): die Wirtschaftstheorie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 266, 24. 11. 1984, S. 25; Israel M. Kirzner, Austrian School of Economics, in: J. Eatwell et al. (Eds.), The New Palgrave, Vol. I, London 1987, S.l45-151. s Vgl. u. a. Georges Enderle (Hrsg.), Ethik und Wirtschaftswissenschaft, Berlin 1985; Bernd Biervert I Martin Held (Hrsg.), Ökonomische Theorie und Ethik, Frankfurt am Main 1987; dies. (Hrsg.), Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie- Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt am Main 1989; Reinhard Blum, Wirtschaftsethik oder Ethik in der Wirtschaft, in: Helmar Krupp (Hrsg.), Technikpolitikangesichts der Umweltkatastrophe, Heidelberg 1990, S. 127 -146; Kar/Homann (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik, Berlin 1992.

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Heinz Rieter

gen. Wie jedoch eine Volkswirtschaftslehre aussehen soll, die ökonomische Analyse mit ethischer Reflexion verschmelzt, und wie eine Theorie der Wirtschaftsethik auszusehen hat, ist bislang bestenfalls in Umrissen erkennbar. Zu den einflußreichsten Vordenkern der gegenwärtigen Opposition ist der amerikanische Ökonom Niebolas Georgescu-Roegen zu zählen. Einst selbst ein führender neoklassischer Theoretiker, hat er die Fronten gewechselt 9• Er gelangte zu der Einsicht, daß "arithmomorphe Modelle" nach dem Vorbild der klassischen Mechanik das falsche Rüstzeug für Ökonomen sind. Thermodynamik und Biologie lieferten die passenderen Vorbilder, da sich wirtschaftliche Prozesse irreversibel in der historischen Zeit vollzögen. Georgescu-Roegens Schüler haben seine Lehre inzwischen zum Programm erhoben. Sie haben sich in einer European Associationfor Bioeconomic Studies zusammengeschlossen und nähern sich, wie ihre regelmäßigen Veröffentlichungen zeigen, der ökologisch-ethischen Volkswirtschaftslehre stark an, die sich ihrerseits schon lange auf Georgescu-Roegen beruft 10 • Das Forschungsgebiet, das sich die evolutorische Ökonomik 11 auserkoren hat, deckt sich weitgehend mit dem der zuvor geschilderten Richtungen. Sie will die statische bzw. komparativ-statische Analyse der Neoklassik endgültig überwinden und zu einer Theorie der sozioökonomischen Evolution gelangen. Während sich die Orthodoxie bislang darauf konzentriert habe, die Reaktionen der Wirtschaft auf exogene "Schocks" zu untersuchen, sollen nun die endogenen, von den wirtschaftenden Menschen und ihren Institutionen selbst erzeugten Impulse wirtschaftlichen Wandels erörtert werden. Nach eigenem Bekunden speist sich dieses Forschungsprogramm aus verschiedenen Quellen: Es bezieht die verhaltenswissenschaftliche Organisationslehre, nicht-lineare Wirtschaftsmodelle und die Chaostheorie mit ein, es greift auf biologistische Ansätze zurück, schätzt die Arbeiten der (neu-)österreichischen Schule sowie die deutschen Beiträge zur dynamischen Markt- und Wettbewerbstheorie und setzt große Hoffnungen in die Wiedergeburt und Fortbildung der Innovations- und Entwicklungstheorien Joseph Schumpeters 12 • Die Theorie der Selbstorganisation kommt also auch hier zum Zuge. 9 Vgl. u. a. Nicholas Georgescu-Roegen, The Entropy Law and the Economic Process, CambridgeiMass. 1971; ders., The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect, in: Eastern Economic Journal, Vol. 12 (1986), S. 3-25; ders., Time and Change in Economics, in: Eberhard K. Seifert (Hrsg.), Ökonomie und Zeit, Beiträge zur interdisziplinären Zeitökonomie, Frankfurt am Main 1988, S. 29-52. 10 Vgl. u. a. Hans Christoph Binswanger, Ökologisch orientierte Wirtschaftswissenschaft, in: Jan Jarre (Hrsg.), Die Zukunft der Ökonomie, Loccumer Protokolle 15 I 1984, Rehburg-Loccum 1985, S. 141-160; ders., Geld & Natur, Das wirtschaftliche Wachstum im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie, Stuttgart I Wien 1991; Hans G. Nutzinger, Der Ansatz der ökologisch orientierten Wirtschaftswissenschaft, in: Jan Jarre (Hrsg.), Was leistet die Wirtschaftswissenschaft zur Lösung von Umweltproblemen?, Loccumer Protokolle 2011985, Rehburg-Loccum 1986, S. 32-45. 11 Einen ersten Eindruck von der Spannweite vermitteln die Beiträge in: Ulrich Witt (Hrsg.), Studien zur Evolutorischen Ökonomik I, Berlin 1990.

Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft

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Mein Beitrag wird sich im weiteren jedoch nicht mit dem Entwicklungsstand oder den Zukunftsaussichten der wirtschaftswissenschaftlichen Selbstorganisationsforschung 13 befassen. Er will lediglich einen Aspekt aus der aktuellen Diskussion aufgreifen, um ihn dogmenhistorisch zu beleuchten, nämlich das Verhältnis zwischen Natur- und Wirtschaftswissenschaft Es geht dabei, genauer gesagt, um die Frage, ob die Ökonomik der Physik oder der Biologie nähersteht bzw. in welcher Weise sie sich mechanistischer und organismischer Ansätze bedient. Joseph Schumpeter vertrat zwar die Ansicht, daß der Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken "ökonomischer Mechanismus oder Organismus ... wirklich des Staubes nicht wert (ist), den ihr Gebrauch oder Mißbrauch aufgewirbelt hat ••• " 14, doch meines Erachtens ist das ein Fehlurteil. Es ist eher so, daß der in diesem Begriffspaar enthaltene Zündstoff die Entwicklung des ökonomischen Denkens von Anbeginn bis heute mitgeprägt hat. Seit sich Menschen systematisch mit ökonomischen Problemen beschäftigen, benutzen sie sowohl physikalischmechanistische als auch biologisch-organismische Begriffe. Dynamik, Statik, Gleichgewicht, Transmission, Impuls, Marktkräfte, Umlaufgeschwindigkeit, Preismechanismus, Oszillation, Gravitation, Elastizität, Triebfeder sind Beispiele für das eine, Kreislauf, Diagnose, Krise, Selbstheilungskräfte, Sozialökonomie für das andere Vokabular. Oftmals handelt es sich dabei bloß um eine metaphorische Sprechweise oder um ein Stilmittel, manchmal jedoch transportieren diese Sprachbilder viel mehr, sie sind Ausdruck einer inhaltlichen Entsprechung. In diesen Fällen wird entweder per Analogie die Ähnlichkeit zwischen einem ökonomischen und einem physikalischen bzw. biologischen Phänomen oder sogar eine Isomorphie behauptet.

12 Vgl. zu letzterem z. B. Horst Hanusch I Arnold Heertje I Yuichi Shionoya, Schumpeter- der Ökonom des 20. Jahrhunderts, Vademecum zu einem genialen Klassiker, Düsseldorf 1991, und die dort angegebene Literatur. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die chaostheoretischen Überlegungen Wolfgang F. Stolpers (Gleichgewicht und Konjunktur bei Schumpeter, unveröff. Vortrag am 15. 4. 1991 an der Universität Hamburg) zur Schumpeterschen Konjunkturtheorie. 13 Vgl. u. a. Horst Georg Koblitz I Heinz Rieter, Wirtschaftliches Gleichgewichtzum ,Glanz-Verfall' der zentralen Konzeption der theoretischen Ökonomie, in: Günter Ollenburg I Wilhelm Wedig (Hrsg.), Gleichgewicht, Entwicklung und soziale Bedingungen der Wirtschaft, Berlin 1979, S.243-272, insbes. S.257ff.; H. UlrichiG. J. B. Probst (Eds.), Self-Organization and Management of Social Systems, Insights, Promises, Doubts, and Questions, Berlin et al. 1984; Ekkehart Johannes Schlicht, Ökonomische Theorie, speziell auch Verteilungstheorie, und Synergetik, in: Andrea Dress I Hubert Hendrichs I Günter Küppers (Hrsg.), Selbstorganisation, München I Zürich 1986, S. 219227; Michael Hutter, The Self-organisation of the Economy, in: Kurt Dopfer I Karl F. Raible (Eds.), The Evolution of Economic Systems, London et al. 1990, S. 100-110; Jess Benhabib (Ed.), Cycles and Chaos in Economic Equilibrium, New York 1992. 14 Joseph Schumpeter, Edgeworth und die neuere Wirtschaftstheorie, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 22 (1925 II), S. 183-202, hier S. 186.

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II. Dogmenhistorische Übersicht Das nachfolgende Schema (Abb. 1) veranschaulicht grob die durchgängige Verbreitung solcher mechanistischen und organismischen Tendenzen in der Wirtschaftswissenschaft Mein Schaubild hält sich an die in der ökonomischen Dogmengeschichte übliche Einteilung und Bezeichnung der hauptsächlichen Schulen und Strömungen. Die Größe der Kästchen entspricht nicht unbedingt der tatsächlichen Bedeutung der dargestellten Lehrmeinungen. Das Schema gibt zudem nur Entwicklungen wieder, die themenrelevant sind. Die Namen wurden nach verschiedenen Kriterien ausgewählt. Einige ermöglichen eine leichtere Orientierung, weil sie bekanntermaßen die jeweiligen Schulen repräsentieren, die anderen werden als typische Vertreter mechanistischer und I oder organismischer Denkansätze aufgeführt - unabhängig davon, ob sie in ihrer Zeit oder aus heutiger Sicht belangvoll waren. Die Aufzählung ist keinesfalls vollständig. Auf einige Lehren gehe ich weiter unten genauer ein. Mein Schema berücksichtigt außerdem alle Ökonomen, die Michael Hutter in seinem Beitrag zu diesem Jahrbuch behandelt hat (Müller, List, Roscher, Knies, Lilienfeld, Schäffle, Spann, Sombart, Eucken). Die meisten von ihnen sind eindeutig dem organismischen Flügel zuzurechnen. Um unnötige Überschneidungen zu vermeiden, werde ich die von Hutter erörterten Fälle ausklammern und verweise hiermit auf seine Darstellung. Die besondere Problematik meines Schaubildes besteht selbstverständlich in der Schwierigkeit, mechanistisches und organismisches Denken hinreichend klar voneinander abzugrenzen. Daß die beiden Ansätze teils unbedenklich vermengt oder komplementär verwendet, teils strikt antagonistisch verstanden werden, liegt nicht unbedingt am methodologischen Laienverstand der Ökonomen, sondern auch in der Natur der Sache. Die Wissenschaftsphilosophie als zuständige Disziplin liefert keine genauen Begriffsbestimmungen, denn: "Historisch wie systematisch sind Wortbedeutung und Programm des Mechanizismus schillernd ..." 1\ entsprechend "vielfältige Definitionen von ebenso mehrdeutigem Gehalt" 16 finden sich bezüglich des Organizismus. So gibt es grundlegende Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Konzeptionen überhaupt gleichrangig sind oder ob die eine nicht nur als Negation der anderen zu fassen ist. Sie sind auch nicht immer auf der gleichen Ebene angesiedelt, z. B. dann, wenn mit Hilfe mechanistischer Modelle erklärt wird, wie Organismen oder einzelne ihrer Organe funktionieren. Schließlich ist eine Abgrenzung von ähnlichen philosophischen Lehrmeinungen schwer. Wo sind etwa die Grenzen zwischen Mechanismus und Rationalismus zu ziehen, oder zwischen Organizismus auf der einen und Vitalismus, Animismus, Biologismus, Historismus und Gestaltheorie auf der anderen Seite? 1s Peter Janich, Mechanismus, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, Mannheim 1984, S. 826 f., hier S. 826. 16 R. Konersmann, Organizismus, in: Joachim Ritter I Karlfried Gründer (Hrsg.}, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, S. 1357-1361, hier S. 1357. Siehe auch A. Meyer, Organismus, ebd., S. 1330-1358.

Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft

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l

I{((::A\;$:., Organismische Ansätze

D

Grenznutzenschulen Thünen (1826) Cournot (1838) Gossen (1854) Menger (1871) Jevons (1871) Walras (1874)..----l-""T""------",..

Neo-

mechanik Keynesianismus Keynes (1936) Hicks (1936 ff.) Samuelson (1939 ff.) Hansen (1941)

Föbl

(1936) Eucken (1939 ff.)

Abbildung 1

Mechanistische Ansätze

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Wie auch immer, beide Ansätze waren und sind in der Ökonomik gebräuchlich, sie werden meist unreflektiert verwendet und selten in Frage gestellt. Sie fixieren eine Weltanschauung oder Sichtweise, von der sich Ökonomen bewußt oder unbewußt bei der Arbeit leiten lassen. Ziehe ich die Quersumme aus meinen Studien, so scheinen die folgenden Elemente - in wechselnder Gewichtung den mechanistischen bzw. organismischen Blickwinkel zu bestimmen:

(a) Merkmale des mechanistischen Ansatzes: -

Anwendung der Gesetze der (klassischen) Mechanik (Kinematik, Dynamik, Statik) bzw ., allgemeiner, der Gesetze der Physik und Chemie auf die unbelebte und I oder belebte Natur, auf natürliche und künstliche Organismen und (geschlossene) Systeme, auf Individuen, Kollektive und Institutionen.

-

Mechanismus: Apparat I Bedingung für die (optimale) Verarbeitung (Absorption, Transmission) von (exogenen) Schocks (Störungen des Systems) durch das System. Gleichgewicht versus Ungleichgewicht

-

Kausalität: Determination aller Vorgänge durch effiziente Ursachen.

-

Quantifizierung, Messung: ,Handwerklich-technische' Tradition der Mechanik; keine Aussagen über das ,Wesen der Dinge'.

-

Rationalismus im Sinne von Formalisierung, ,Mathematisierung', Axiomatisierung: Modellbildung, Deduktion allgemeiner (universeller, raum- I zeitloser) Gesetze.

-

Reduktionismus im Sinne von Atomismus oder Merismus: Reduzierung (Zurückführung) aller Dinge auf kleinste (einheitliche) Bausteine (Teile). Das Ganze ist die Summe seiner Teile (Additionstheorem), das Ganze ist definiert (determiniert) durch seine Teile, Priorität der Teile (Partikularismus).

(b) Merkmale des organismischen Ansatzes: -

Anwendung von funktionalistischen (oft biologischen) Gesetzen des Organismus (z. B. Physiologie, Metabolismus, Anatomie) auf das jeweilige Erkenntnisobjekt.

-

Organismus: (Hierarchisch) geordnetes (organisiertes) System (Lebewesen, Gruppe, Staat, Nation, Gesellschaft, Volkswirtschaft usw.), das aus (vielen) verschiedenen Teilen besteht, die interdependent sowie reaktions- und reproduktionsfähig sind.

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-

Teleologie: Aussagen über Sinn I Zweck des Organismus, auch in Relation zu seinen Teilen (z. B. individueller Wille).

-

Normativismus: Aussagen über Sinn/Wesen, Wert, Qualität (Gesundheit, Stabilität; Krankheit, Labilität) des Organismus.

-

Evolutorik I Dynamik: Veränderungen des Organismus (Entwicklung, Prozeß, Geschichte, offenes System).

-Holismus: Das Ganze (Ganzheit, Gestalt) ist mehr als die Summe seiner Teile, Priorität des Ganzen (der Totalität), das Ganze determiniert die Teile, die Teile können nicht isoliert vom Ganzen verstanden werden.

111. Mechanistische und organismische Ansätze einige Beispiele aus der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft 1. Diffuse Positionen a) Thomas Hobbes (1588-1679) Hobbes leitet seinen Leviathan ( 1651) bekanntlich mit einem mechanistischen Gleichnis ein: Der "große Leviathan ... , genannt Gemeinwesen oder Staat", ist ein ,,künstlicher Mensch", der wie "alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr) ... ein künstliches Leben" hat 17 • Vorbild dieser gesellschaftlichen und damit wirtschaftlichen Mechanik, die für das merkantilistische Denken so typisch ist, war die mittelalterliche ars mechanica am Übergang zur Neuzeit. Sie war eine Handwerkskunst des Maschinenbaus. Ihr Sinnbild und technisches Meisterwerk zugleich war die Räderuhr. Sie gehorcht den physikalischen Gesetzen der cartesianischen Nahwirkungs- oder Impetusmechanik. Wie stark Hobbes diesem (früh-)mechanistischen Weltbild verhaftet war, erkennt man daran, daß er- wie sein Meister Descartes - selbst den menschlichen Organismus mechanistisch deutet: Dessen Organe (Herz, Nerven, Gliederbau) glichen dem Räderwerk der Uhr. Andererseits schätzt Hobbes - gerade im ökonomischen Kontext - organismische Formeln. Im 24. Kapitel "Von der Ernährung und Nachkommenschaft eines Staates" 18 werden die Funktio11 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gehalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, übersetzt von Walter Euchner, Neuwied und Berlin 1966, Taschenbuch-Ausgabe (1984), 3. Aufl., Frankfurt am Main 1989, S. 5. 18 Ebd., S. 190-195, hier insbes. S. 193 f. (Hervorhebungen zum Teil durch mich).

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nen des Staatskörpers medizinisch-biologisch beschrieben. Die "Zubereitung und Verwendung" der Güter, die zur "Ernährung des Staates" nötig sind, ließen sich "füglich mit dem Verdauungsgeschäft im menschlichen Körper vergleichen", weil "nämlich alle Nahrungsmittel nicht auf einmal verbraucht werden, sondern auch zum künftigen Gebrauch aufgespart werden können ..." 19 . Dem entspräche die Rolle des (Edelmetall-)Geldes als WertaufbewahrungsmitteL Sind zudem Feingehalt und Gewicht durch die amtliche Prägung garantiert, können die Goldund Silbermünzen als allgemein anerkanntes Zahlungsmittel zirkulieren. Erst dies ermögliche den Kreislauf der Waren, denn: " ... Sie wandern innerhalb des Staates von Mensch zu Mensch und ernähren auf ihrem Umlauf jeden Teil, den sie berühren. Insofern ist diese Verarbeitung gewissermaßen der Blutkreislauf des Staates, denn das natürliche Blut entstand auf die gleiche Weise aus den Früchten der Erde und ernährt durch Zirkulation unterwegs jedes Glied des menschlichen Körpers." Darin verwoben ist der Strom der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben. Ihn beschreibt Hobbes in Analogie zum großen (Körper-)Kreislauf des Blutes: "Und auch darin bleibt die Ähnlichkeit des künstlichen Menschen mit dem natürlichen bestehen, dessen Venen das Blut aus verschiedenen Teilen des Körpers erhalten und zum Herzen leiten wo es vom Herzen belebend gemacht und durch die Arterien wieder ausgesandt wird, um alle Glieder des Körpers zu beleben und zur Bewegung zu befähigen." Wenn Hobbes schreibt, daß das Blut den Körper "ernährt" und "belebt" sowie "seine Glieder bewegt", so vermischen sich hier mechanistische und organismische Gedanken zu einer falschen Vorstellung von der menschlichen Biologie. Das ist nicht überraschend, weil der menschliche Körper nach der cartesianischen Lehre nicht mehr und nicht weniger als ein (komplizierter) Mechanismus ist, der in seiner biologischen Funktionsweise noch weitgehend unerforscht war. Es ist nicht einmal sicher, ob es die bedeutsame physiologische Entdeckung des Blutkreislaufs (genauer: der Herzfunktion) durch seinen Freund Harvey war, die Hobbes dazu inspiriert hat, wirtschaftliche Vorgänge in Analogie zum Blutkreislauf zu betrachten. Nach Lowry 20 hatte Hobbes dabei ganz andere Vorbilder im Kopf - die mythologische Gleichsetzung von Gold und Blut sowie den Vitalkreislauf im Sinne der hippokratischen Medizin. Vielleicht geht auf sie der organismische Kerngedanke seiner Kreislauf-Metaphorik zurück, der dann in der ökonomischen Literatur bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ständig wiederkehrt21: Die Kreislaufströme "ernähren" den menschlichen wie den gesellschaftli19 Der aufschlußreiche Anfangssatz dieser Passage fehlt in der Euchner-Übersetzung. Daher zitiere ich hier nach der (gekürzten) Reclam-Ausgabe: Thomas Hobbes, Leviathan, 1. und 2. Teil, übersetzt von Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1980, S. 219. 2o Vgl. S. Todd Lowry, The Archaeology of the Circulation Concept in Economic Theory, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 35 (1974), S. 429-444, hier S. 438 f. 21 In meiner dogmenhistorischen Skizze (Abb. 1) stehen dafür die Namen Garczynski, Justi, Denis und Oncken. Zu den Quellen und zur Erläuterung vgl. Heinz Rieter, Quesnays

Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft

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chen Körper, sie versorgen ihn mit lebenswichtigen Stoffen, die ungestört fließen müssen, damit der Organismus am Leben bleibt. Mit anderen Worten: Die Volkswirtschaft ist wie der Mensch nur dann "gesund", wenn das Geld und die Güter (wie Blut und Lymphe) ungehemmt und gleichmäßig zirkulieren können; beide sind ,,krank" oder gehen sogar zugrunde, sobald der Kreislauf stockt und unregelmäßig wird. Die Analogie impliziert damit auch eine therapeutische Aussage: Störungen im Kreislauf müssen beseitigt werden, indem entweder die "natürlichen" Lebens- bzw. Wirtschaftsbedingungen wiederhergestellt werden oder indem von außen korrigierend eingegriffen wird. Die Blutkreislauf-Analogie dient hier weniger dazu, den Wirtschaftskreislauf an sich und seine "Mechanik" zu veranschaulichen, als dazu, den "Gesundheitszustand" resp. das "Krankheitsbild" einer Volkswirtschaft, gleichsam die Stabilitätsbedingungen ihres Kreislaufs, zu kennzeichnen. b)

Fran~ois

Quesnay (1694- 1774)

Erst unter dem Einfluß der P hysiokratie, jener kurzlebigen französischen "Ökonomisten"-Schule im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts, begann sich die Politische Ökonomie in eine theoretische Wissenschaft zu verwandeln. Auch diese Entwicklung ist in die mechanistisch-organismische Gedankenwelt eingebettet. Da ich die relevanten Zusammenhänge bereits andernorts ausführlich erörtert habe 22 , beschränke ich mich hier auf Andeutungen. Der Kopf der physiokratischen Bewegung, der Hofarzt Quesnay, war und blieb ein Eklektiker, als er in fortgeschrittenem Alter der "Oeconomie animale", wie er die Wissenschaft vom menschlichen Körper nannte, den Rücken kehrte und sich ganz der Ökonomie des gesellschaftlichen Organismus zuwandte. Er brachte dabei sein medizinisch-biologisches Wissen mit ein, verarbeitete theologische und naturrechtliche Erkenntnisse und war der cartesianischen Physik und Philosophie sehr zugetan. Sein berühmtes "Tableau Economique" (1758), das die Entstehung, Zirkulation und Reproduktion des Einkommens in einer Volkswirtschaft sichtbar machen will, ist mechanistisch zu interpretieren. Quesnays Kausalanalyse zielt hier darauf ab, "unabänderliche" und "unverbrüchliche" Wirtschaftsgesetze abzuleiten. Sie sollen die Bedingungen angeben, unter denen das Sozialprodukt auf möglichst hohem Niveau ständig reproduziert werden kann. Das ist das Modell einer stationären Wirtschaft im Gleichgewicht, das einem Tableau Economique als Uhren-Analogie, in: Harald Scherf (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie IX, Berlin 1990, S. 57-94, hier S. 60-65. 22 Heinz Rieter, Zur Rezeption der physiokratischen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft, in: Harald Scherf (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie III, Berlin 1983, S. 55-99; ders. (FN 21); darüber hinaus Alfred Bürgin, Das "tableau economique" des Fran~ois Quesnay - eine moderne volkswirtschaftliche Gesamtrechnung?, Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum der Universität Basel, Sonderdruck Nr. 7, Basel 1991.

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maschinellen System wie dem der Uhr sehr ähnelt. Quesnay fundiert seine makroökonomische Kreislaufmechanik zudem mikroökonomisch durch die Annahme rationalen Verhaltens. In alldem offenbart sich cartesianisches Denken. Mit dieser naturphilosophischen Leitvorstellung waren die Physiokraten freilich nicht auf dem laufenden. Sie hielten an einem mechanistischen Weltbild fest, das schon längst -jedenfalls außerhalb Frankreichs - durch die Newtonsehe Mechanik grundlegend verändert worden war. Manchmal jedoch scheint sich der Mediziner gegen den Mechaniker Quesnay durchzusetzen, wenn er die wirtschaftlichen Mißstände seiner Zeit (vornehmlich die hohe Staatsverschuldung und eine ungenügende Produktivität der Landwirtschaft) untersucht. Er geht dann wirklich wie ein Arzt vor, der sich auf seine praktischen Erfahrungen stützt. Er nimmt die Symptome wahr, forscht nach der Vorgeschichte des Leidens und empfiehlt eine Therapie. Da er sich in seinen medizinischen Schriften intensiver mit dem Fieber befaßt hat, nimmt es nicht wunder, daß er der französischen Wirtschaft eine (physiokratische) Roßkur in der Absicht verordnet, deren Selbstheilungskräfte zu stimulieren. Darüber hinaus finden sich so gut wie keine organismischen Konzepte bei Quesnay. Das ist insoweit nicht überraschend, als Quesnays medizinische Kenntnisse offenbar nicht auf der Höhe der Zeit waren, insbesondere fehlte es ihm an einem vertieften Verständnis der biologischen Lebensvorgänge. c) Ernst Wagemann (1884-1956) Mechanistische und organismische Begriffe oder Konzepte sind auch in späterer Zeit in der Wirtschaftswissenschaft immer wieder diffus verwendet worden, obwohl sich inzwischen Biologie und Chemie neben der Physik als exakte Naturwissenschaften etabliert hatten. Ein Beispiel aus diesem Jahrhundert soll das belegen. Im Jahre 1940 schrieb Ernst Wagemann 23, Universitätsprofessor in Berlin, Präsident des Statistischen Reichsamtes von 1923 bis 1933 und Gründer sowie (bis 1945) Leiter des Berliner Instituts für Konjunkturforschung (des heutigen DIW), ein kleines Buch über "Geldschöpfung und Finanzlenkung in Krieg und Frieden" 24 • Die nationalsozialistische Führung versprach sich davon, wie es im Vorwort des Reichswirtschaftsministers heißt, "daß hier von einem in der ganzen Welt als Autorität auf seinem Fachgebiete anerkannten Wissenschaftler die nationalsozialistische Geldpolitik wissenschaftlich durchleuchtet und begründet ... und hier zum ersten Male volkstümlich dargestellt" werden sollte. Wagemann hat diese Erwartungen nur teilweise erfüllt. Er macht zwar einige Verbeugungen vor dem Regime, streut völkische Parolen ein und teilt 23 Vgl. Albert Wissler, Ernst Wagemann, Begründer der empirischen Konjunkturforschung in Deutschland, Berlin 1954. 24 Ernst Wagemann, Wo kommt das viele Geld her? Geldschöpfung und Finanzlenkung in Krieg und Frieden, Düsseldorf o. J. (1940).

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Seitenhiebe aus gegen die "liberalistisch-individualistischen" Lehren neoklassischen und keynesianischen Zuschnitts. Andererseits schöpft er freimütig aus deren Fundus und erörtert theoretische Sachverhalte meist schulmäßig. Den Zweck des Buches vor Augen bemüht sich Wagemann besonders darum, anschaulich zu sein. Ökonomische Zusammenhänge werden anband von Schaubildern illustriert, die sich- im Fall der nachfolgend wiedergegebenen- physikalischtechnische, chemische und biologische Vorgänge, die dem Leser vertraut sind, zunutze machen 25 • Für Wagemann ist das übrigens keine fragwürdige populärwissenschaftliche Methode, er vertraut ihrer Überzeugungskraft ebenso in seinen strenger fachwissenschaftlich konzipierten Werken 26 • Wagemann ist der festen Überzeugung 27 , daß zumindest die "staatlich gelenkte Volkswirtschaft" als ein "Organismus höherer Art" aufzufassen ist, der nach "organischen Prinzipien gesteuert" werden muß. Da Organismen stets "auf höchste Ökonomie in ihren Funktionen hin (streben)", sei die Wirtschaft durch eine "biologische Analogie" zu charakterisieren: "Die Steuerung der Lebensvorgänge beruht offenbar auf zwei ,antagonistischen', d. h. einander entgegengesetzten Wirkungen. Die parasympathischen Nerven wirken z. B. auf eine Verlangsamung, die sympathischen Nerven im engeren Sinne auf eine Beschleunigung der Herztätigkeit hin. In analogerWeise wirken die innersekretorischen Drüsen zusammen, d. h. in einem gewissen Gegeneinander. Man kann den Lebensprozeß auffassen als fortwährende Gleichgewichtsstörungen, die dauernd hervorgerufen und dauernd gezügelt werden. Es mag dies aufs engste zusammenhängen mit der symmetrischen Bildung der Organe, die der Zweiteilung und Doppelung im Fortpflanzungsvorgang entspringen dürfte. Und ich stelle mir vor, daß der Lebensprozeß im Ringen der einander entsprechenden Gegenstücke vor sich geht. Nur banausischer Sinn kann übersehen, daß die Wirtschaft nach demselben Lebensprinzip arbeitet." 28 Angesichts solch flotter Urteile über den Erkenntnisstand der Biologie und die Übertragbarkeit ihrer Gesetze fragt sich natürlich der verdächtigte Leser, wer hier eigentlich der "Banause" ist. Und wie man gleich sehen kann, verfängt sich Wagemann nicht nur diesmal in den Fallstricken vorschneller Analogieschlüsse. Das "Uhrengleichnis des Finanzierungssystems" (Abb. 2) soll verdeutlichen, wie die Volkswirtschaft mit Geld versorgt wird. Wagemann beschreibt dabei das Uhrwerk - wie üblich - mechanistisch, deutet es aber organismisch 29 • Er glaubt, eine "erstaunliche Parallele zwischen den wirkenden Prinzipien des organischen Lebens" und "der maschinellen Konstruktion" der Uhr zu erkennen. Als Begründung führt er an, daß "Werkzeuge, die der Mensch sich schafft, im Grunde Wagemann (FN 24), S. 86, 92, I 10. Vgl. z. B. Ernst Wagemann, Wirtschaftspolitische Strategie, Von den obersten Grundsätzen wirtschaftlicher Staatskunst (1937), 2. Aufl., Harnburg 1943, S. 304 ff. 21 Ders. (FN 26), S. 99. 28 Ders. (FN 26), S. 99 f. 29 Ders. (FN 24), S. 87 f. und 92 f. 25

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Nachbildungen seiner eigenen Organe seien". So habe das "Herz als Vorbild bei der großen Erfindung des Uhrwerks gedient". Und: "In der Tat äußern sich alle Lebensvorgänge als Antrieb und Hemmung; durch ein ungeheuer verwickeltes Zusammenspiel der Hormone und Nerven werden sie reguliert und durch ein ,Zeigerwerk' kontrolliert, das wir als Lust und Schmerz und andere Empfindungen unmittelbar wahrnehmen."

·.· ... I.·.

DAS UHRENGLEICHNIS DE INANZIERUNGS· SYSTEMS

... . '.)

Abbildung 2

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Mechanistische und organismische Ansätze in der Wirtschaftswissenschaft

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Solche Vergleiche sind nicht nur technikgeschichtlich und biologisch dubios, sondern verkennen gänzlich den Maschinencharakter der mechanischen Uhr. Sie ist ein unbelebtes und geschlossenes, in seinen Funktionsabläufen strikt determiniertes System, das sich nicht selbst regulieren kann. Ähnlich paradox gerät Wagemanns Erläuterung der Abb. 3 "Kreislauf und Ströme des Geldes", in der die volkswirtschaftliche Einkommens- und Vermögenszirkulation analog zum kleinen und großen Blutkreislauf dargestellt ist. Wider Erwarten argumentiert er hier nicht biologisch-organisch, sondern physikalisch-technisch ("Stromkreise", "Schaltwerk des Geldsystems")3°. Unklar bleibt schließlich, warum der Güterkreislauf, der das Gegenstück zum Einkommenskreislauf bildet, auf ganz andere Weise versinnbildlicht wird, nämlich als "chemisches Laboratorium der Güterwirtschaft" 31 (Abb. 4). Zudem wirken- wie in den Fällen zuvor - auch hier die Metaphern - z. B. die thermodynamische Interpretation des Verbrauchs als "Feuerungsmaterial für den Antrieb der Produktion"- eher verwirrend als erhellend.

KREISLAUF UND STRÖME DES GELDES BEWEGUNG DER GELOKAPITAUEN STROMKREIS

DES

EINKOMMENS

Abbildung 3 30 31

Ders. (FN 24), S. 92 ff. Ders. (FN 24), S. 111 ff.

5 Selbstorganisation, Bd. 3

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DAS LABORATORIUM DER GÜTERWIRTSOfAFT (DER 6ÜTER-KREISL.AUF)

PRO

UHR

lW~

Abbildung 4

2. Komplementärer Gebrauch der Ansätze Oftmals waren Ökonomen bestrebt, beide Ansätze - den mechanistischen und den organismischen - als sich ergänzende Bausteine in ihre Theorien einzufügen. Ich will dafür drei Beispiele geben. a) Adam Smith (1723-1790) Smith, der große Ahnherr der modernen Wirtschaftswissenschaft, war - wie die neuerliche Aufarbeitung seines Werkes immer deutlicher macht 32 - ein Universalgelehrter. Er war auf vielen Gebieten bewandert und an vielem interessiert, so auch am naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt, der sich revolutionär vor seinen Augen vollzog. Er kannte sogar einige der Protagonisten persönlich -den Geologen James Hutton, den Chemiker Joseph Black und James Watt, den Erfinder der Dampfmaschine. Zudem trat er selbst mit einem Werk zur "Geschichte der Astronomie" hervor. Smith war daher fachkundig genug, um zu wissen, daß die Lehre Newtons der cartesianischen Mechanik überlegen ist. 32 Vgl. u. a. Gerhard Streminger, Adam Smith- mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Harnburg 1989; Heinz D. Kurz (Hrsg.), Adam Smith (1723-1790), Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte, Marburg 1990.

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Mehrfach hat er sich in diesem Sinne geäußert 33 . Auch insoweit ist verständlich, warum Smith die cartesianische Ökonomik der Physiokraten- bei aller Sympathie für ihre wissenschaftliche Pionierleistung und ihre freiheitliche Gesinnung -zu überwinden sucht und einer Politischen Ökonomie den Vorzug gibt, die zu dem neuen mechanistischen Weltbild besser paßt. Newton verallgemeinerte die mechanischen Gesetze und gelangte damit über die einengende (Maschinen-) Vorstellung der durch Stoß und Zug übertragenen Nahwirkungen sich bewegender Körper hinaus. Kräfte (bei Newton die Gravitation, später auch Magnetismus und Elektrizität) wirken (unsichtbar) sogar über weite Entfernungen. Sie sind in der Lage, ein System im Gleichgewicht zu halten, sie stabilisieren es durch rückkoppelnde Effekte, sobald Störungen auftreten. Dieses Naturverständnis liefert Metaphern, die - im Gegensatz zu der von Merkantilisten und Physiokraten geschätzten Symbolik des starr geregelten Uhrwerks - bestens geeignet sind, liberale, sich selbst regulierende Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme zu kennzeichnen34. Auch Smith macht von ihnen hin und wieder Gebrauch. So wird man unmittelbar an Newtons Himmelsmechanik erinnert, wenn Smith den Preismechanismus für die kurze wie für die lange Frist erläutert. Konkurrenz und Faktormobilität verhindern dabei, daß sich ein Marktpreis dauerhaft vom natürlichen (d. h. die Reproduktionskosten deckenden) Preis entfernen kann. Unter optimalen Bedingungen nähert er sich schrittweise dem Gleichgewichtswert, seinem Gravitationszentrum: "The natural price, therefore, is ... the central price to which the prices of all commodities are continually gravitating."35 Der Technikhistoriker Mayr sieht darüber hinaus eine Parallele zwischen den mechanistischen Wirtschaftslehren von Smith und gleichzeitigen Entwicklungen in der Regelungstechnik- die Erfindung von feedback-Mechanismen wie Temperatur- und Hiebkraftregler sowie deren Anwendung (Dampfmaschine). Mayr 36 zeigt u. a., wie die Smithschen Mechanismen sowohl für den Gütermarkt (Abb. 5) als auch für den Arbeitsmarkt (Abb. 6) in Form von geschlossenen Regelkreisen wiederzugeben sind.

33 Vgl. D. D. Raphael, Adam Smith, Frankfurt am Main/New York 1991, S. 128. 34 Vgl. Otto Mayr, Authority, Liberty and Automatie Machinery in Early Modem Europe, Haitimore and London 1986; deutsche Ausgabe: Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit, München 1987. 35 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations (1776), Vol. I, London et al. 1904, S. 65. 36 Otto Mayr, AdamSmithund das Konzept der Regelung, Ökonomisches Denken und Technik in Großbritannien im 18. Jahrhundert, in: Ulrich Troitzsch I Gabriele Wohlauf (Hrsg.), Technik-Geschichte, Frankfurt am Main 1980, S. 241-268, hier insbes. (wegen der beiden Abbildungen) S. 245 ff. 5*

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-

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c

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c

produktive Industrie

Markt

Allgemeine Theorie von Adam Smith über Angebot und Nachfrage (r = Nachfrage nach einem Gut, c = Angebot, m = Marktpreis und n = natürlicher Preis (d. h. tatsächliche Kosten)) Abbildung 5

c

c

Arbeitsmarkt

Arbeiterklasse

Theorie von Adam Smith über die Bestimmung der Größe der Arbeiterklasse durch die Nachfrage nach Arbeitskräften (r = Nachfrage nach Arbeitskräften, c =Angebot an Arbeitskräften (d. h. zahlenmäßige Größe der Arbeiterbevölkerung), h = Lohnniveau und u = allgemeines PreisnifJeau für Konsumgüter) Abbildung 6 Eine mechanistische Ausdrucksweise scheint Smith für angebracht zu halten, wenn er sich mit der Ökonomie der "commercial society" befaßt, einer gedachten Wirtschaftsgesellschaft, in der die Wirtschaftssubjekte allein ihrem Eigeninteresse folgen und das Ideal der "natürlichen Freiheit" voll verwirklicht ist. Er meidet sie verständlicherweise, wenn er - wie in seiner historischen Stadien- und Stufenlehre - die wirtschaftliche Entwicklung realer Gesellschaften verfolgt. Organismische Sprachbilder hingegen bemüht Smith - soweit ich sehe - nur dort, wo er die Fähigkeit des "natürlichen" ökonomischen Systems zur Selbstregulierung und Selbstheilung beschwört. Sie sei vonnöten, weil (oft gutgemeinte) Eingriffe von außen Schäden anrichten, die das System selbst korrigieren müsse. Smith verdeutlicht dies in seiner Kritik am physiokratischen System mit folgendem biologisch-medizinischen Vergleich:

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"Gewisse erfindungsreiche Ärzte scheinen sich eingebildet zu haben, daß die Gesundheit des menschlichen Körpers nur durch eine genau bestimmte Diät und Bewegung erhalten werden könne, und daß jede, auch die kleinste Abweichung davon notwendig einen Grad von Krankheit oder Unpäßlichkeit verursachen müsse, der dem Grade der Abweichung angemessen sei. Die Erfahrung dürfte aber zeigen, daß der menschliche Körper, wie es wenigstens allen Anschein hat, oft bei der allerverschiedensten Diät, und selbst bei einer, die allgemein für alles eher denn gesund gehalten wird, dennoch vollkommen gesund bleibt. Es dürfte sich aber zeigen, daß der gesunde Zustand des menschlichen Körpers in sich selbst ein gewisses unbekanntes Prinzip der Erhaltung habe, wodurch die schlimmen Folgen der fehlerhaftesten Diät mannigfach abgewendet oder erleichtert werden können. Quesnai [sie!], der selbst Arzt ... war, scheint von dem Staatskörper einen ähnlichen Begriff gehabt und sich eingebildet zu haben, daß er nur bei einer gewissen genau bestimmten Diät, der strengen Diät vollkommener Freiheit und vollkommener Gerechtigkeit, blühen und gedeihen könne. Es scheint, daß er nicht in Erwägung zog, wie in dem Staatskörper das natürliche Bestreben, das jeder Mensch andauernd bewährt, seine Lage zu verbessern, ein Prinzip der Selbsterhaltung ist, wodurch die schlimmen Folgen einer parteiischen und drückenden Volkswirtschaftspolitik mannigfach abgewendet und erleichtert werden können." 37

b) Nicolas

Fran~ois

Canard (1755-1833)

Die Schrift, die der Professor für Mathematik an der Pariser Hochschule für das Mühlenbauwesen unter dem nicht gerade bescheidenen Titel Principes d' Economie Politique 1801 vorlegte, wurde damals preisgekrönt als beste Antwort auf die (physiokratische) Frage nach den ökonomischen Wirkungen der Besteuerung in einem Agrarland. Ein Ehrenplatz in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft gebührt Canard jedoch nicht deshalb. Die Preisaufgabe betraf ein Problem, das eigentlich schon damals obsolet war. Aber wie Canard die Aufgabe zu lösen versuchte, war um so origineller. Seine Zeitgenossen haben dies kaum registriert, sein Werk geriet schon bald in Vergessenheit. Canard entwickelt in seinem Buch 38 eine mathematisch-mechanistische Mikroökonomik sowie eine makroökonomische Analyse in strenger Analogie zum Blutkreislauf. Die Untersuchung beginnt mit einer anthropologischen Prämisse: "Bedürfnisse und Kräfte sind eine Gabe der Natur. Jedes empfindungsfähige Wesen vereinigtbeydein sich, und soll den Trieb zu seiner Erhaltung um so mehr ausbilden, als ihm hierzu die Mittel nicht mangeln . . . Der Mensch besitzt auch noch einen 37 Adam Smith, Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes (1776), Waentig-Ausgabe, 2. Bd., Jena 1923, S. 537. Und an anderer Stelle heißt es mit gleichem Tenor kurz und bündig: ,,Like the unknown principle of animallife, it frequently restores health and vigour to constitution, in spite not only of the disease, but of the absurd prescriptions of the doctor." [Smith (FN 35), S. 383]. 38 N. F. Canard, Grundsätze der Staatswirtschaft (Principes d'Economie Politique), deutsch-französisch, mit einer interpretierenden Einleitung von W. G. Waffenschmidt, Stuttgart 1958.

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Trieb nach überflüssigem Genusse ... Thätigkeit und Anstrengung der Kräfte sind es also, welche den gesellschaftlichen Menschen von dem natürlichen oder rohen Menschen trennen."39 Canard übernimmt den Kraft-Begriff der Physik, er ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Wirtschaftsmechanik. Sie beinhaltet ein Marktmodell, das die Newtonsehe Bewegungsphysik zum Vorbild hat: ( 1) Der Ruhelage oder gleichförmigen Bewegung eines Körpers (Trägheits- oder Inertialgesetz) entspricht das Marktgleichgewicht, gedacht als ein Zustand, in dem keine immanente Änderungstendenz bezüglich des Marktpreises und der angebotenen sowie nachgefragten Gütermenge besteht. (2) Die Bewegung eines Körpers hängt allein von den auf sie einwirkenden Kräften ab (Kraftgesetz). Analog dazu kennt die Ökonomie die Angebotsund Nachfragekräfte, die das Preis-Mengen-Gleichgewicht auf dem Markt bestimmen. (3) Das in der Natur gültige Gesetz, daß die Wirkung einer Kraft stets der

Gegenwirkung gleich ist (actio = reactio ), findet seine Parallele im Kräftespiel von Angebot und Nachfrage bei Veränderungen des Marktgleichgewichts.

Canard hat seine Theorie nur algebraisch und nicht durchweg klar vorgetragen. Walter G. Waffenschmidt hat sich daher bemüht, Canards Gedankengang mit Hilfe geometrischer Darstellungen genau nachzuvollziehen 40 • Um die mechanistische Struktur des Modells sichtbar zu machen, reicht es hier, drei seiner Diagramme wiederzugeben:

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Abbildung 7 39 Ders. (FN 38), S. 57 bzw. 187 (Hervorhebung durch mich). Ders. (FN 38), S. 5 ff.

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Abbildung 8

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L Abbildung 9

Angebot und Nachfrage werdenjeweils als funktionale Beziehungen zwischen Güterpreis (Abszisse) und Gütermenge (Ordinate) dargestellt (Abb. 7, 8, 9). Die Steigung sowohl der Nachfragefunktion NB als auch der Angebotsfunktion nb ist durch die Anzahl der Nachfrager bzw. Anbieterund deren Präferenzen festgelegt. Da annahmegemäß bis zu einer Preishöhe von OR noch nichts auf dem

Heinz Rieter

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Markt angeboten wird, beginnt die Angebotskurve erst im Punkt A. Analog gilt für die Nachfragekurve, daß sie nur bis I normal verläuft. Der Schnittpunkt der Kurven (P) markiert das Marktgleichgewicht (Gleichgewichtspreis und Gleichgewichtsmenge). Vergleicht man alternative Gleichgewichtskonstellationen miteinander (Abb. 8 und 9), so ist das mechanische Spiel zwischen der "Kraft des Käufers" und der "Kraft des Verkäufers" gut zu erkennen. Die Angebotskurve z. B. verläuft um so steiler ("elastischer"), je größer die Zahl der miteinander konkurrierenden Anbieter und I oder je stärker ihr Verkaufsdrang ist. Vorausgesetzt, die Nachfrager wissen das, so ist damit ihre Verhandlungsposition stärker. Sie können davon ausgehen, daß die Widerstandskraft der Marktgegenseite, also der Anbieter, in diesem Fall relativ schwach ist. Bezogen auf eine hypothetische Ungleichgewichtslage (z. B. beim Preis OR in Abb. 8) sind Mengenreduzierung und Preisanstieg (die Strecke x), die die Nachfrager bei Annäherung an das Marktgleichgewicht P in Kauf nehmen müssen, relativ gering. Bei umgekehrten Elastizitätsverhältnissen (Abb. 9) trifft genau das Gegenteil zu. Verallgemeinert heißt das: Auch im Marktmechanismus gibt es eine Wechselwirkung von actio und reactio, sie determiniert- geometrisch betrachtet- die Lage des Gleichgewichts im Koordinatenraum. Seiner mechanistischen Mikroökonomik stellt Canard eine organismische Makroökonomik zur Seite. Sie enthält kurz- und langfristige Aspekte und ist dem "Gemählde des Blutumlaufes" vollständig nachempfunden 41 : So wie das Blut in einer Richtung durch die Venen und in Gegenrichtung durch die Arterien strömt, gibt es in der Volkswirtschaft den realen Kreislaufstrom ("Umlauf der Waare oder des Products der Arbeit") und den entgegengesetzt fließenden monetären Kreislaufstrom ("Umlauf des Geldes"). Alle ,,Züge dieser Aehnlichkeiten, welche zwischen diesen beyden Arten von Umlauf obwalten", beschreibt Canard in allen Einzelheiten. So könne das "Magazin des Handelsmannes ... mit der einen und seine Casse mit der andern Herzkammer verglichen werden", und alle "Individuen, welche zu ihrem Verbrauche einkaufen, bilden eben so viel kleine Gefäße ... wie ... die letzten Aeste und Nebenäste der Schlag- und anderen Adern", so daß sich in diesem Kapillarsystem beide Kreisläufe schließen. Da der "Umlauf des Blutes" zugleich den Körper "ernährt", wächst er "durch die Verlängerung und Ausbreitung der Blutgefäße": "Der Umlauf des Blutes macht also die physische Existenz des Menschen aus: so wie der Umlauf der Arbeit dessen vollendete Existenz begründet", denn: "Auf gleiche Art und Weise vermehrt die Thätigkeit nicht nur die ... Systeme der Ausbreitung des Umlaufes, sondern auch, ... alle Quellen des Einkommens, und die vollendete Existenz des Menschen nimmt dabey verhältnißmäßig zu." Darüber hinaus vergleicht Canard auch die Entwicklung einer Volkswirtschaft mit den Prozessen des organischen Lebens: 41

Ders. (FN 38), S. 90 f. bzw. 204 f. und S. 114-122 bzw. S. 215-219.

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"In der Jugend wächst der Körper schnell empor", doch "diese Ausdehnung (hat) auch ihre Gränze; das Blut, dessen Masse sich stets vermehrt, wird überflüssig ..." Schließlich zirkuliert es "nach ganz heterogenen Richtungen, welche früh oder spät Schwächlichkeit, Krankheit und den Tod verursachen ... das Nähmliche hat statt beydem allgemeinen Systeme der Arbeit. Wenn eine Nation entsteht, so müssen die Quellen des Einkommens zuvor gebildet, d. h.: die Ausbreitung der Zweige und Nebenzweige erst befördert werden; ist aber die Nation kraftvoll und thätig, so vermehren sich jene von selbst schnell genug; ... auch die Ausbreitung der Arbeitszweige geschieht alsdann mit Schnelligkeit, wie der menschliche Körper in der Jugend schnell zunimmt. Nach dem Verhältnisse der Anhäufung überflüssiger Arbeit werden dadurch die Quellen des Einkommens gesättigt, und der relative Ertrag derselben verringert; ... so verringert sich das Bedürfniß oder das Verlangen nach Erwerb und Anhäufung, und die Aufwandslust nimmt dagegen zu; ... das System des Umlaufes hört auf, sich zu vergrößern; die Quellen des Einkommens werden zerstört; die Thätigkeit der Nation wird immer mehr entkräftet; die Volksvermehrung nimmt ab; ... Eitelkeit ohne Erhabenheit der Seele, Pracht ohne Vermögen, Trägheit und Elend, dieß - sind die Erscheinungen des Alters der Völker ... Kriege, Revolutionen und Elend sind das Ziel ihrer Existenz und zugleich das Prinzip ihrer -Wiedergeburt."

c) Alfred Marshall (1842-1924) Marshall war am Ende des letzten und zu Beginn dieses Jahrhunderts der führende englische Volkswirt 42 • Er gilt als Begründer der Cambridge-Schule und damit als einer der Väter der Neoklassik. Die Wirtschaftswissenschaft verdankt ihm vor allem viele Methoden, die noch heute zum täglichen Handwerkszeug der meisten Ökonomen gehören. Er hat uns u. a. gelehrt, komplexe ökonomische Zusammenhänge in Teilstücke zu zerlegen (Partialanalyse), einzelne Einflußgrößen aus dem interdependenten Geschehen zu isolieren (Ceteris-Paribus-Klausel) und ökonomische Abläufe kurz- und langfristig im Sinne einer operationalen Zeitvorstellung zu untersuchen. Er hat das Elastizitätskonzept verfeinert und die Marginalanalyse ausgebaut. Des weiteren gab er den Ökonomen mit dem Gleichgewichtsdiagrarnm der sich schneidenden Angebots- und Nachfragekurven (Marshallsches Kreuz) ein Instrument in die Hand, das ihnen erlaubte - wie Keynes sich ausgedrückt hat - "to discover a whole Copernican system, by which all the elements of the economic universe are kept in their places by mutual Counterpoise and interaction" 43 • Bei aller Begeisterung über solche (neoklassischen) Verdienste Marshalls darf man nicht vergessen, daß er seinen Methoden enge Grenzen gesteckt hatte. Er, 42 Zu Leben, Werk und Wirkung Marshalls vgl. u. a. Heinz Rieter, Alfred Marshall (1842-1924), in: Joachim Starbatty (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, 2. Bd., München 1989, S. 135-157, 316 f. und 335-340. 43 lohn Maynard Keynes, Alfred Marshall, 1842-1924, in: The Economic Journal, Vol. 34 (1924), S. 311-372, repr. in: The Collected Writings of J. M. Keynes, Vol. X: Essays in Biography, Cambridge 1972, S. 161-231, hier S. 205.

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der gelernte Mathematiker, hat sich sehr dezidiert über "Mechanical and Biological Analogies in Economics" 44 geäußert: Mit der physikalischen Statik bzw. Dynamik könne der Ökonom nur insoweit etwas anfangen, als sich die Vorstellung von der relativen Bewegungslosigkeit ("moving equilibrium") in den (Referenz-)Modellen des "stationary state" wiederfinde, wo sich ökonomische Größen stets in festen Proportionen verändern. Hydrodynamik, Fahrrad und Kreisel bilden hier die passenden Analogien. Die physikalische Dynamik im eigentlichen Sinne (z. B. das Planetensystem), die wegen komplizierter Rückkopplungen großen mathematischen Aufwand erfordere, sei kein geeignetes Vergleichsobjekt: "The most helpful applications of mathematics to economics are those which are short and simple, which employ few symbols." Die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Marshall zum Ende des letzten Jahrhunderts konstatiert, ließen seiner Ansicht nach nicht einmallangfristig Gleichgewichtszustände zu, so daß die stationäre Wirtschaftstheorie als Erklärungsinstrument versagen müsse. Die ökonomischen und sozialen Kräfte wandelten sich nicht mehr nur quantitativ, sondern auch qualitativ, und zwar in immer kürzeren Intervallen mit der Folge, daß "economic events react upon the conditions by which they where produced; so that future events cannot happen under exactly the same conditions as they did". Mit anderen Worten: Der ökonomische Prozeß ist irreversibel geworden, mechanistische Analogien müssen hier versagen. Wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftlicher Fortschritt bedeuten nicht oder nicht nur quantitatives Wachstum, sondern "organic growth", das von unzähligen Faktoren abhängig sei, die sich wechselseitig beeinflussen, wobei die Wechselwirkung zudem noch "varies with the stages which the respective factors already reached in their growth". Insoweit gelte für alle "sciences of life", daß sie "unlike physical sciences" seien. Marshall empfiehlt daher, mechanistisch-physikalische Analogien nur in "earlier stages of economic reasoning" zu verwenden, während "in the later stages of economics", wenn sie "reaches to its highest work", " ... biological analogies are to be preferred". Marshall hat für seine Ansicht eindringlich geworben: "The Mecca of the economists lies in Economic Biology rather than in dynamics." Und:" ... from what is we have to leam what is becoming; from das Seinwehave to leam das Werden." 4 5

44 In: A. C. Pigou (Ed.), Memorials of Alfred Marshall, London 1925, S. 312-318, gekürzter Nachdruck von: Alfred Mars hall, Distribution and Exchange, in: The Economic Journal, Vol. 8 (1898), S. 38-59. Die nachfolgenden Zitate sind diesem Beitrag entnommen, soweit nichts anderes vermerkt ist. 45 Alfred Marshall, The Old Generation of Economists and the New (1897), repr. in: Pigou (FN 44 ), S. 295- 311, hier S. 300. Bezeichnenderweise hat sich auch ein Klassiker der Selbstorganisationstheorie vom gleichen Wortspiel inspirieren lassen: llya Prigogine, Vom Sein zum Werden, Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München I Zürich 1979.

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Die Auffassung ist weit verbreitet, Marshall habe diesen Anspruch zwar erhoben, ihn aber selbst nicht eingelöst. Vor allem die einseitige neoklassische Rezeption seines Werkes hat diesen Eindruck entstehen lassen. Die neuere Forschung bemüht sich daher, das tradierte Marshall-Bild zu revidieren 46 • In der Tat findet sich in seinen Schriften mehr als der bloße Ansatz zu einer evolutorischen Wirtschaftswissenschaft Schon ihre wirtschaftsanthropologische Grundlegung hat Tiefe. Marshall ist dagegen, den ökonomischen Menschen auf die Rolle des hedonistischen Nutzenmaximierers zu reduzieren. Er werde von allerhand Motiven und Bedürfnissen gesteuert, darunter Pflichtbewußtsein, gesellschaftliche Anerkennung und der Wunsch nach Abwechslung. Diese sehr ausführlich erörterten Dinge bilden das Fundament, auf dem seine Wachstums- und Entwicklungstheorie für industrialisierte Gesellschaften ruht. Sie trägt außerdem ethische und sogar ästhetische Züge 47 • Sie will moralische, soziale und kulturelle Wertvorstellungen mit dem Ziel vermitteln, die materiellen Lebensverhältnisse insbesondere der unteren (armen) Schichten zu verbessern sowie die Produktions-, Arbeitsund Konsumbedingungen menschenwürdiger und schöner zu gestalten. Marshall verspricht sich davon ein "ethical growth", das den menschlichen Charakter fortgesetzt läutert, damit die Menschheit - so träumte er - schließlich in einer Gesellschaft leben könne, die " ... in its higher forms ... is the home of sympathetic fancy, of graceful enthusiasm, of beautiful ideals" 48 • Eine Volkswirtschaftslehre, "die organisches Wachstum und nicht bloß mechanische Bewegungen" behandeln will 49 , benötigt zwangsläufig organismische Ansätze. Marshall benutzt mehrere. So deutet er die Arbeitsteilung als "gesteigerte Funktionsverteilung" im "sozialen Organismus" Volkswirtschaft 50 • Und das in der Ökonomie so beliebte Gleichgewichtskonzept dürfe nun nicht mehr als Balance zwischen "crude mechanical forces" verstanden werden, sondern müsse sich auf "the organic forces of life and decay" beziehen 5 1• Marshall demonstriert das am Wachsturn der Unternehmung, wobei ihm der Lebenszyklus des Baumes die entsprechende Analogie liefert. Seine Lehre von der Entwicklung des volkswirtschaftlichen Wohlstandes ist ebenfalls aufschlußreich. Der Prozeß des "organischen" oder "ethischen Wachstums" steuert sich nämlich unter Umständen selbst durch entsprechende Rückkopplungen zwischen quantitativen und qualitativen W achstumsdeterminanten. Marshall schreibt: Vgl. Rieter (FN 42), S. 152 ff. und die dort angegebene Literatur. Vgl. vor allem zu den ästhetischen Aspekten Heinz Rieter, A1fred Marshall und die viktorianische Kunst, in: Bertram Schefold (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XI, Berlin 1992, S. 191-238. 48 Alfred Marshall, Some Features of American Industry (1875), repr. in: The Ear1y Economic Writings of Alfred Marshall, 1867-1890, ed. and introduced by J. K. Whitaker, Vol. II, London and Basingstoke 1975, S. 352-377, hier S. 375. 49 Alfred Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre, 1. (einziger) Bd., Stuttgart/ Berlin1905, S. 717. 50 Marshall (FN 49), S. 72 bzw. S. 269 f. 51 Ders. (FN 44), S. 318. 46 47

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Die "physische, geistige und moralische Gesundheit und Kraft" eines Volkes bildet "die Grundlage der wirtschaftlichen Leistungsflilligkeit, und von dieser hängt wiederum die Schaffung des materiellen Wohlstandes ab; andererseits liegt die Hauptbedeutung des materiellen Wohlstandes in der Tatsache, daß er bei weiser Verwendung die physische, geistige und moralische Gesundheit und Kraft der Menschheit vermehrt" 52. Neben den üblichen Einflußgrößen (Bevölkerungszahl, Menge der Produktionsfaktoren usw.) subsumiert Marshall darunter qualitative Faktoren wie Bildung und Erziehung, Tatendrang ("energy", "enterprise"), Führungskraft ("recognized leadership"), sittliche Haltung (u. a. "economic chivalry"), Kunstsinn ("beauty", "design"), Charakterstärke ("self-respect", "self-mastery"). Zwei dieser Aspekte sieht Marshall besonders eng verknüpft - Erziehung und Charakter: "lt is to educate character, faculties and activities." 53 Dabei denkt Marshall sowohl an Individuen als auch an Nationen. Daß er gerade auf die charakterliche Erziehung so viel Wert legt und daraus sogar einen Erziehungsauftrag für die Wirtschaftswissenschaft ableitet, hat viel mit dem englischen Erziehungsideal zu tun. Nach ihm soll der Charakter des Menschen, verstanden als ganzheitliches Spiegelbild seiner Persönlichkeit, geformt werden. Sucht man nach den Ursprüngen des Organizismus bei Marshall, wird man an unterschiedlichen Orten fündig: Seine Evolutionsökonomik hat Gedanken der zeitgenössischen Evolutionsbiologie (Darwin, Spencer und andere) 54 und der Persönlichkeitspsychologie (Galton) aufgenommen. Sie hat sich von Werken der älteren wie der jüngeren Historischen Schule anregen lassen. Noch stärker ist sie von der idealistischen Philosophie Kants (Pflichtethik) und Hegels (Fortschrittsglaube) geprägt worden 55 • Schließlich ist der Einfluß englischer Geisteswissenschaftler, Literaten und Künstler unverkennbar 56, überwiegend Kritiker des englischen Kapitalismus und der ihn tragenden Ideologien: Samuel Taylor Coleridge, Thomas Carlyle, Charles Dickens, Matthew Arnold, John Ruskin, William Morris, George Eliot und Arnold Toynbee. Bleibt festzuhalten: Marshalls organismische Volkswirtschaftslehre hat biologistische und kulturwissenschaftliche Wurzeln.

52 53

Ders. (FN 49), S. 229. Ders. Principles of Economics (1890), 8th ed. (1920), reset and repr., London

1949, s. 597. 54 Vgl. u. a. Bruno Foa, Marshall Revisited in the Age of DNA, in: Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 4 (1982), S. 3-16; John M. Gowdy, Biological Analogies in Economics: A Comment, in: Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 5 (1983), s. 676-678. 55 Vgl. Hans-Martin Niemeier, William Stanley Jevons und Alfred Marshall- Untersuchungen zum Verhältnis von Ökonomie und Weltanschauung in der frühen englischen Neoklassik, Regensburg 1989, S. 22-43. 56 Vgl. Rieter (FN 47), S. 200, 203-205, Abschn. V und VI.

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3. Antagonistische Positionen Meine dogmenhistorische Übersicht (Abb. 1) zeigt, daß es schon immer Schulen bzw. einzelne Gelehrte gab, die alternativ entweder den mechanistischen oder den organismischen Standpunkt eingenommen haben. Die jeweilige Gegenposition erschien ihnen zumeist suspekt oder wissenschaftlich unfruchtbar. Für den organismischen Ansatz hat dies Michael Butter in seinem Beitrag zu diesem Jahrbuch exemplarisch dargelegt. Ich verweise nochmals auf seinen Bericht und beschränke mich nachfolgend auf die Position des mechanistischen Dogmatismus. Sie ist (vgl. Abb. 1) typisch sowohl für bestimmte mikroökonomisch fundierte Systeme wie Marginalismus, Neoklassik und Monetarismus als auch für mehr makroökonomisch orientierte Lehren wie die Wirtschaftsmechanik oder den "hydraulischen Keynesianismus" (Joan Robinson). Viele dieser Dinge sind inzwischen wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeitet worden 57 • Ich kann mich daher kurz fassen und werde zur mikroökonomischen wie zur makroökonomischen Variante nur je ein Beispiel genauer erörtern. Wesentlichen Anteil an der Entstehung der mechanistischen Wirtschaftslehre hatte John Stuart Mill. Seine Principles of Political Economy wollten nicht nur das klassische System vollenden und festschreiben, sie sollten auch der weiteren Forschung den Weg weisen 58 : Um die Politische Ökonomie endgültig in den Rang einer theoretischen Wissenschaft zu erheben, müsse sie in die Lage versetzt werden, "Gesetze" abzuleiten, die den "Charakter physikalischer Wahrheiten" haben. Dies sei möglich in einem Modell der (vollkommenen) Konkurrenz mit strikten Verhaltensannahmen, in dem bestimmte mechanische Gesetzmäßigkeiten wie "the principle of the Composition of Forces" gelten, demzufolge das Zusammenwirken verschiedener Kräfte - auch in der Ökonomie - nichts anderes als "a simple act of addition" ist (Additionstheorem). Die mechanistische Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaft verfestigte sich, als man begann, die Infinitesimalrechnung anzuwenden (Marginalismus) und/ oder die Höhe des Güterwertes subjektivistisch zu bestimmen (Grenznutzenprinzip). Beides sollte darauf hinauslaufen, die klassische Wirtschaftswissenschaft zu renovieren (Neoklassik). Hermann Heinrich Gossen, der lange Zeit vergessene ,Entdecker' der GrenznutzenGesetze, war überzeugt davon, "daß es sich in der Nationalökonomie um das Zusammenwirken verschiedener Kräfte handelt, daß es aber unmöglich ist, das Resultat der Wirksamkeit von Kräften zu bestimmen, ohne zu rechnen". Und wie Gott "durch die Gesetze der Schwerkraft 57 Vgl. vor allem Philip Mirowski, More heat than light, Economics as social physics: Physics as nature's economics, Cambridge et al. 1989, insbes. Kap. 5, 6 und 7; Charles M. A. Clark I Robert Heilbroner, Economic Theory and Natural Philosophy. The Search for Natural Laws in the Economy, Chaltenham 1992. 58 lohn Stuart Mill, Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy (1848), London 1909, repr. Fairfield, N. J. 1987, S. 199; ders., Autobiography (1873), repr. London 1924, S. 159 f.

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Heinz Rieter seinen Welten ihre Bahnen ewig und unabänderlich vorschrieb, so schrieb er durch die Gesetze der Kraft zu genießen dem Menschen ewig und unabänderlich seine Bahn im Zusammenleben mit seines Gleichen vor"59.

William Stanley Jevons und Leon Walras, die unabhängig voneinander die Gossensehen Gesetze noch einmal ,entdeckt' haben, vermochten sich die Wirtschaftstheorie ebenfalls nicht anders vorzustellen als eine mechanistisch-mathematische Wissenschaft. Nach Jevons ist die "wahre Theorie der Ökonomie" eine "Mechanik des Eigennutzes und der Nützlichkeit", die "Ähnlichkeit mit der Theorie des Hebels" aufweist 60 • Und Walras beruft sich bei der Ausarbeitung seines allgemeinen Gleichgewichtsmodells ausdrücklich auf Newtons Himmelsmechanik61. Der Hang zum Mechanizismus blieb bis weit in dieses Jahrhundert hinein charakteristisch für alle neoklassischen Schulen. So hatte beispielsweise Hubert D. Henderson, ein Ökonom aus dem Kreis der Cambridger Marshall-Schule, keinerlei Bedenken, die "allgemeinen Gesetze von Angebot und Nachfrage" in ihrer Strenge und Allgemeingültigkeit dem Gravitationsgesetz und den Bewegungsgesetzen der Physik gleichzustellen 62 . Oder: Der norwegische Wirtschaftstheoretiker und Methodologe Ragnar Frisch traktierte mikroökonomische Gleichgewichtsproblerne mit Hilfe der Pendelgesetze 63 . a) lrving Fisher (1867- 1947) Der größte unter den neoklassischen Mechanikern war jedoch der Amerikaner Irving Fisher 64 , ein Schüler des Mathematikers und Physikers J. William Gibbs. Er schrieb eine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation 65 , die sogleich als glanzvolle Übung in reiner ökonomischer Theorie gefeiert wurde. Fisher analysiert darin die Wert- und Preisbildung Schritt für Schritt mittels Nutzenfunktionen. Durch das einfache Postulat, daß jedes Wirtschaftssubjekt gemäß seinen Wünschen handelt, gelingt es ihm, den Grenznutzen eines Gutes ohne Rückgriff auf die Handlungsmotivation zu definieren. Er ist dann Ausdruck objektiver, quantifizierbarer Güterbeziehungen. Damit- so Fisher-sei viel gewonnen, die Ökono59 Hermann Heinrich Gossen, Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854, zit. nach Erich Schneider, Einführung in die Wirtschaftstheorie, IV. Teil, 1. Bd., Tübingen 1962, S. 171 und 175. 60 William Stanley Jevons,}'he Theory of Political Economy (1871); dt. Übersetzung: Die Theorie der politischen Okonomie, Jena 1923, insbes. S. XXXIII und S. 97 ff. 61 Vgl. zusammenfassend Ötsch (FN 3), S. 642 f. 62 Hubert D. Henderson, Angebot und Nachfrage, Berlin 1924, S. 16 ff. 63 Ragnar Frisch, Alfred Marshall's Theory of Value, in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 64 (1950), S. 495-524. 64 Zu Leben, Werk und Wirkung Fishers vgl. Hans G. Monissen, lrving Fisher (18671947), in: Starbatty (FN 42), S. 211-230 und 348-350. 65 /rving Fisher, Mathematical Investigations in the Theory of Value and Prices (1892), New Haven 1925, repr. New York 1965.

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mik könne (endlich) als exakte (mathematische) Wissenschaft betrieben werden, und " ... the economist need not envelop his own science in the hazes of ethics, psychology, biology and metaphysics"66. Um die Notwendigkeit dieses Reifeprozesses zu unterstreichen, zieht Fisher eine physikgeschichtliche Parallele 67 • Der Kraft-Begriff hätte zunächst auch nur eine common sense-Bedeutung - wie der Grenznutzen - gehabt, bis er von der wissenschaftlichen Mechanik genau definiert werden konnte. Die Ökonomen könnten jedoch nicht nur aus der Geschichte der Mechanik lernen, sondern deren Methoden seien ebenso lehrreich, denn: "The student of economics thinks in terms of mechanics far more than geometry." 68 Fisher selbst erprobt die Methode 69 bei der Analyse von zunächst additiven und später interdependenten Nutzenfunktionen für alle denkbaren Modellkombinationen mit 1 bis n Konsumenten oder Produzenten und 1 bis m Gütern. Alle Modelltypen werden nach dem Prinzip kommunizierender Röhren als hydrostatische Systeme veranschaulicht - entweder in schematischer Weise oder als Zeichnungen bzw. Fotos solcher Zisternensysteme, die Fisher eigens gebaut hat. Das mechanische Prinzip selbst besteht darin, das Verhalten des jeweiligen Wirtschaftssubjektes aus dem Zusammenwirken von (subjektiven) Präferenzen und (objektiven) Restriktionen zu erklären. Im einfachsten Fall ( 1 Gut I 1 Konsument), in dem sich das System auf 1 Gefäß reduziert, wirkt das Prinzip folgendermaßen (vgl. Abb. 10):

Abbildung 10 66 Ders. (FN 65), S. 23. 67 Ders. (FN 65), S. 17. 68 Ders. (FN 65), S. 24. 69 Ders. (FN 65), vor allem Part I, Chap. II ("Mechanism") und Part II, Chap. III ("Mechanica1 Analogies"); die wiedergegebenen Abbildungen 10 und 11 befinden sich aufS. 25 bzw. S. 28.

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Form und Größe des dargestellten Behälters (Nutzenfunktion) sind durch bestimmte Parameter, insbesondere die Bedürfnisstruktur des Konsumenten, vorgegeben. Die Gutsmenge, die er konsumiert, entspricht dem gefüllten (schraffierten), deren Grenznutzen dem ungefüllten Volumen, hier gemessen an den Frontflächen, weil die Gefäßdicke als I Einheit definiert ist. Unter der Voraussetzung, daß der Grenznutzen mit zunehmender Menge fällt, der Markt vollkommen ist und somit der gegebene Stückpreis durch den Konsumenten nicht verändert werden kann, ferner der Konsument die Quantität begehrt, die ihm unter den gegebenen Bedingungen den größtmöglichen Nutzen verschafft, muß er genau die Gutsmenge nachfragen, für die der Grenznutzen, ausgedrückt in Geldeinheiten, gleich dem gegebenen Preis ist (hier OR). Würde erz. B. weniger konsumieren, wäre der Grenznutzen größer als der Preis. Er würde also die zuletzt hinzugefügte Gütereinheit höher schätzen als die dafür zu entrichtenden Geldeinheiten. Er wird folglich weiter konsumieren, bis der Grenznutzen um so viel gefallen ist, daß er das niedrigere Niveau des gegebenen Preises erreicht hat. Es ist, allgemein gesprochen, ein mikroökonomischer Mechanismus in diesem Modell wirksam, der Abweichungen vom Gleichgewicht selbst korrigiert. An diesem Prinzip ändert sich im wesentlichen nichts, wenn die Fälle komplizierter werden. Abb. 11 skizziert beispielsweise ein Modell mit I Gut und 4 Konsumenten. Die Gleichgewichtsbedingung lautet hier: Die gegebene Menge des Gutes, das den vier Marktteilnehmern zur Verfügung steht, verteilt sich auf diese in der Weise, daß die jeweiligen, in Geld gemessenen Grenznutzen übereinstimmen und gleich dem Marktpreis sind. Auch hier sorgt ein Mechanismus für die Erhaltung dieses Gleichgewichts. Wird über die PumpeS mehr Wasser (eine größere Gütermenge) in das System gebracht, steigt der Wasserspiegel in allen Zisternen mit dem Ergebnis, daß die Grenznutzen sowie der einheitliche Marktpreis in gleichem Umfang sinken. Das Gleichgewicht ist auf mechanischem Wege wiederhergestellt- wie in der Natur: "The water will seek its own Ievel. This is exactly what happens in the economic world." 70

Abbildung 11 10

Ders. (FN 65), S. 28.

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Für Fisher sind mechanistische Analogien mehr als anschauliche Sprachbilder, sie sind Abbilder des ökonomischen Geschehens: "The notion of a cistem is also natural ... The economic man is to be regarded as a number of cistems or stomachs, each relative to a particular commodity." 71 Das Kapitel "Mechanical Analogies" 72 soll zusammenfassend zeigen, wie die Grenznutzentheorie Punkt für Punkt der physikalischen Mechanik nachzubilden ist. Abb. 12 gibt den Anfang von Fishers Glossarium wieder.

In Mecho.nics.

corresponds to

A particle Space Force Work Energ;y

,,"

" "

" "

"

"

In Eccm.omics. An individual.

Commodity. Marg. ut. or disutility. Disutility. Utility.

Abbildung 12 b) Walter G. Waffenschrnidt (1887-1980) Der Ingenieur und Ökonom Waffenschrnidt gehört zu den Pionieren der mathematischen Wirtschaftstheorie in Deutschland. Mit seinem Versuch, die ökonomische Wissenschaft als Wirtschaftsmechanik neu zu begründen, ist er jedoch am Ende gescheitert. Als W affenschrnidt zu Beginn des Ersten Weltkrieges mit einer Arbeit über die "Graphische Methode in der theoretischen Ökonomie" promovierte 73, war er in Deutschland ein Außenseiter. Noch dominierte die jüngere Historische Schule die wissenschaftliche Diskussion. Sie hielt nichts von mathematischen und mechanistischen Ansätzen in der Nationalökonomie, sie vertraute mehr den organismischen. Waffenschrnidt war damals besorgt, die deutschen Volkswirte könnten den Anschluß an die internationale Entwicklung des Faches verpassen. Dort beschritt man bereits den "Weg reiner theoretischer Forschung", die sich mathematischer Methoden und einer an den exakten Naturwissenschaften geschulten Erkenntnistheorie bediente. Mechanik-Analogien waren dabei - so Waffenschrnidt- äußerst willkommen 74, denn Physik und Ökonomik untersuchen quantitative Beziehungen, brauchen das Gleichgewichtskonzept und unterscheiden zwischen statischer und dynamischer Betrachtung. Die Ökonomik habe sich wie die Mechanik mit "Systemen der Ruhe, der Bewegung, der Kräfte" zu befassen. 11

Ders. (FN 65), S. 31.

n Ders. (FN 65), S. 85 f. 73 Walter G. Wa.ffenschmidt, Graphische Methode in der theoretischen Oekonomie,

dargestellt in Anlehnung an das Tauschproblem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 39. Bd. (1915), S. 438-481 und 795-818. 74 Ders. (FN 73), S. 456 f. und 797. 6 Selbstorganisation. Bd. 3

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Waffenschmidt hat diese Gedanken zeitlebens in Lehre und Forschung verfolgt. Er hat sie vertieft und ergänzt, indem er die Theorie technischer Regelvorgänge auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge angewandt hat. Schließlich sollte daraus eine "Allgemeine Wirtschaftsmechanik" mit allen Attributen einer selbständigen Disziplin (Vor-Geschichte, Paradigma, Schule) hervorgehen 75 • Waffenschmidt hoffte, daß damit die "Herrschaft der Worte" in der Volkswirtschaftslehre beendet werden könnte. Die "formale Gesetzmäßigkeit" der Mechanik sollte stattdessen den Ton angeben. Waffenschmidt hielt vor allem den Transfer des "anschaulich Elementaren" für zulässig 76, zumal die Mechanik "physischer Massen" nur "operativ" oder "instrumental" bei der Analyse "wirtschaftlicher Massen" eingesetzt würde. Den Einwand, die Physik habe es mit "Objekt-ObjektBeziehungen" zu tun, die Wirtschaftswissenschaft hingegen mit "Subjekt-ObjektBeziehungen", läßt Waffenschmidt nicht gelten. Das Geld sei in der modernen Wirtschaft als "Nutzmaß" an die Stelle des Subjektiven getreten und habe der Ökonomie einen "physisch-technischen Charakter" verliehen. Insoweit erscheint die Wirtschaftsmechanik geeignet, ökonomische Probleme zu lösen. Bei makroökonomischen Erklärungen und Gestaltungsaufgaben könne der Wirtschaftsmechaniker jedenfalls darauf vertrauen, daß sich gemäß dem Gesetz der großen Zahl individuelle Abweichungen in einer Volkswirtschaft gegenseitig autbeben. Waffenschmidt unterscheidet zwei Arten von wirtschaftsmechanischen Modellen- ,,Schaltmodelle, die die Massen schlichtweg verteilen und zusammenfassen und ... Reglermodelle, die Störungen, insbesondere Konjunkturwellen beseitigen"77. Abb. l3 zeigt ein "Blockschaltbild der Volkswirtschaft" 78 in einer Schematisierung, wie sie in den Ingenieurwissenschaften üblich ist. In seiner Darstellung entspricht es dem technischen Modell z. B. eines Wasserkreislaufs mit Wehren, Überläufen und Klappen. Die Ströme werden durch Verteiler und Schließmechanismen (Ventile, Schleusen) geregelt. Die Befehle dazu geben vorprogrammierte Schaltzentralen unter Berücksichtigung der eingehenden (Rück-) Meldungen von den Stromstrecken. So besteht beispielsweise das Produktionsmodell in der Mitte von Abb. 13 aus dem Stromblock "Betrieb", in dem Produktionsfaktoren in Güter transformiert werden, und dem darunter angeordneten Schaltblock. Er steuert aufgrundder ökonomischen Daten (Lohnhöhe, Zinssatz usw.) und der ökonomischen Prinzipien (Minimalkostenkombination, Gewinnmaximierung usw.) über entsprechende Mechanismen die Input- und Outputströme. 75 Vgl. vor allem Walter G. Waffenschmidt, Wirtschaftsmechanik, Stuttgart 1957; ferner: Volkswirtschaftliche Regelungsvorgänge im Vergleich zu Regelungsvorgängen der Technik, Vorträge, zusammengestellt von H. Geyer und W.Oppelt (mit einer kurzen Einführung von Waffenschmidt), München 1957. Vgl. auch Arbeiten aus dem Kreis der Waffenschmidt-Schüler, u. a. Kar[ Brandt, Struktur der Wirtschaftsdynamik, Frankfurt am Main 1952; Rudolf Henn, Über dynamische Wirtschaftsmodelle, Stuttgart 1957. 76 Vgl. Waffenschmidt (FN 75), insbes. Abschn. I, 1. Die wörtlichen Zitate sind den S. 3 ff. und 15 f. entnommen. 77 Ders. (FN 75), S. 154 f. 78 Ders. (FN 75), S. 222 ff., s. auch S. 154 ff.

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