Schuld bekennen - Versöhnung feiern: Die Beichte im lutherischen Gottesdienst 9783666623882, 9783525623886


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Schuld bekennen - Versöhnung feiern: Die Beichte im lutherischen Gottesdienst
 9783666623882, 9783525623886

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften Pastoraltheologie und Wege zum Menschen und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 46

Vandenhoeck & Ruprecht

Thomas Böttrich

Schuld bekennen – Versöhnung feiern Die Beichte im lutherischen Gottesdienst

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Kornelia, Dorothea und Johannes

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62388-6

© 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel I Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Anfragen an die gottesdienstliche Beichte . . . . . . 1.1. Allgemeine Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Systematisch-theologische Fragen . . . . . . . . 1.3. Liturgische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die engere Bedeutung von „Beichte“ . . . . . . 2.2. Die erweiterte Bedeutung von „Beichte“ . . . . 2.2.1. Das Sündenbekenntnis . . . . . . . . . . . 2.2.2. Die Absolution . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Das Verhältnis der drei Beichtarten zueinander 3. Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hinweise zum Zitationsverfahren . . . . . . . . . .

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Kapitel II Untersuchungen zur geschichtlichen Entwicklung der gottesdienstlichen Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Entwicklung bis zur Reformation . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Entwicklungen seit der Karolingerzeit . . . . . . . . . 1.2.1. Geschichte der Offenen Schuld . . . . . . . . . . 1.2.2. Geschichte des Confiteor . . . . . . . . . . . . . 1.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entwicklung seit der Reformation . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Kontinuität und neue Formen im 16. Jh. . . . . . . . . 2.1.1. Luther und die gottesdienstliche Beichte . . . . . 2.1.2. Die Beichte in den Kirchenordnungen des 16. Jh. 2.2. Die Verbreitung der Gemeinsamen Beichte im 17. und 18. Jh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Der Beichtstreit in Aurich (1677–1706) . . . . . . 2.2.2. Der Berliner Beichtstuhlstreit (1693–1698) . . . . 2.3. Wandel der gottesdienstlichen Beichte seit dem 18. Jh. 2.4. Gegenwärtige Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel III Systematisch-theologische Untersuchungen zur gottesdienstlichen Beichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sünde und Sündenvergebung in dogmatischen Entwürfen des 20. Jh. . . . . . . . . . . . 1.1. Paul Althaus d. J. (1888–1966) . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Der Mensch als Bild Gottes und Sünder . . . . . 1.1.2. Sünde als Unglaube und Lieblosigkeit . . . . . . 1.1.3. Vergebung als Tat der Liebe Gottes . . . . . . . 1.1.4. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5. Impulse für die Liturgik . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Paul Tillich (1886–1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Die menschliche Existenz als Sein in Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Sündliche Entfremdung als Unglaube, Hybris und Konkupiszenz . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Vergebung als Teilgabe am Neuen Sein in Jesus als dem Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5. Impulse für die Liturgik . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Karl Barth (1886–1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Der Mensch als Bundesgenosse Gottes und Sünder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Sünde als Hochmut, Trägheit und Lüge . . . . . 1.3.3. Vergebung als Ereignis und Verheißung . . . . . 1.3.4. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5. Impulse für die Liturgik . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Problematik plausiblen Redens von Sünde . . . . . . . 2.1. Sünde und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die „strukturelle Sünde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die „Sünde“ und die „Sünden“ . . . . . . . . . . . . . 3. Stärken und Schwächen liturgischer Texte und Ordnungen 3.1. Liturgische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Liturgische Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel IV Überlegungen zu einer angemessenen Praxis . . . . . . . . . . . .

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1. 2. 3. 4.

252 255 256 257

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Zur Stellung der Beichte im Gottesdienst Zur Gestaltung von Beichttexten . . . . Zur Gestaltung von Absolutionen . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263 268 268

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Mit der Drucklegung meiner Dissertation ist das Ende eines langen Weges erreicht. An seinem Anfang stand der Hinweis meines Doktorvaters, Prof. Wolfgang Ratzmann, dass eine zusammenhängende Darstellung von Entwicklung und Bedeutung der unterschiedlichen Formen von Beichte im lutherischen Gottesdienst fehle. Als ich mich auf diesen Weg begab, ahnte ich noch nicht, welche interessante historische Entwicklung ich auffinden würde. Zudem war mir noch nicht klar, dass dieser kleine Bereich der Liturgik auch von der systematischen Theologie bisher kaum beachtet worden ist. Es war entsprechend schwierig, gangbare Wege durch die komplizierte Thematik zu finden. Dass dies gelang, habe ich sehr vielen Menschen zu verdanken. An erster Stelle ist Prof. Wolfgang Ratzmann zu nennen, der mit viel Geduld und Verständnis die Arbeit begleitete und förderte. Viele Freunde und Verwandte ermutigten mich, den begonnen Weg bis zum Ende zu gehen. Insbesondere danke ich meiner Frau, Kornelia Böttrich, dass sie mich immer wieder motivierte und mir Freiräume für die wissenschaftliche Arbeit ermöglichte. Auch meinen Kindern Dorothea und Johannes bin ich dankbar dafür, dass sie Verständnis für das Vorhaben aufbrachten. Manche Freunde haben ganz praktisch geholfen, indem sie mir einen ruhigen Arbeitsplatz zur Verfügung stellten. Herrn Dr. Langer, Leipzig, danke ich für das Durchsehen der Übersetzungen aus dem Althochdeutschen und dem Mittelhochdeutschen. Frau Silvia Fehlberg, Auerbach, bin ich zu Dank für das Durchsehen der Übersetzungen aus dem Lateinischen verpflichtet. Viele Erfahrungen, die ich im Pfarramt machte, flossen in dieses Buch ein. Zahlreiche Gespräche mit Gemeindegliedern der St. Laurentius-Kirchgemeinde Auerbach/V. und der Philippus-Kirchgemeinde Dresden-Gorbitz brachten mich in meiner Arbeit weiter. Die Mitarbeit im Liturgischen Ausschuss der VELKD ließ mich aus einer ganz neuen Perspektive auf die Gestaltung von Liturgien sehen. Und obwohl sich die Arbeit länger hinzog als geplant, war auch das nicht nur von Nachteil. So konnten das Evangelische Gottesdienstbuch und erste Erfahrungen, die Gemeinden mit ihm machten, mit einbezogen werden. Ich danke dem Prüfungsausschuss der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig für die Annahme dieser Arbeit als Dissertation. Herrn Prof. Jürgen Ziemer bin ich sowohl für sein Zweitgutachten als auch dafür dankbar, dass er sich mit Prof. Eberhard Hauschildt als Herausgeber 9

für die Aufnahme des Buches in die Reihe „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“ eingesetzt hat. Das Kirchenamt der VELKD, Hannover, hat freundlicherweise einen Teil der Druckkosten übernommen. Auch meine Kirche, die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, beteiligte sich mit einem Druckkostenzuschuss. Dafür bin ich sehr dankbar. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere den Mitarbeitern Eva Jain, Tina Bruns sowie Frau Daniela Weiland, danke ich für die Unterstützung bei der Anfertigung der Druckvorlage. Das ganze Buch wäre aber nicht entstanden, wenn mich nicht meine Eltern, Annelies und Albert Böttrich, frühzeitig auf den Weg des Glaubens gebracht hätten. Ihnen verdanke ich, dass mir der Gottesdienst wichtig und wertvoll geworden ist. Ohne sie hätte ich auch nicht gelernt, was Schuld und Schuldvergebung bedeuten. Dass jede Gemeinschaft darauf angewiesen ist, lerne ich täglich aufs Neue. Dresden, im November 2007

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Thomas Böttrich

Kapitel I

Vorfragen 1. Anfragen an die gottesdienstliche Beichte 1.1. Allgemeine Fragen Die gottesdienstliche Beichte teilt mit jeder Form von Beichte oder Schuldeingeständnis heute das Schicksal, für die meisten Menschen nicht mehr unmittelbares Bedürfnis zu sein. Der Mensch des 21. Jh. ist nicht mehr ein von Erlösungssehnsucht getriebener Sünder wie die Menschen in mittelalterlicher Zeit, die nach Heilsvergewisserung strebten.1 „Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie kriege ich einen gnädigen Gott ? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du, Gott? Er leidet nicht mehr unter dem Zorn Gottes, sondern unter dem Eindruck von Gottes Abwesenheit, er leidet nicht mehr unter seiner Sünde, sondern unter der Sinnlosigkeit seines Daseins, er fragt nicht mehr nach dem gnädigen Gott, sondern ob Gott wirklich ist.“2 Menschen unserer Zeit machen mehr denn je die Erfahrung, Zwängen ausgeliefert und in ihrer Existenz bedroht zu sein. Aber einerseits werden diese Erfahrungen nur selten in Beziehung zu „Sünde“ gesetzt, andererseits nimmt man dabei kaum individuelle Schuld wahr. Trotzdem lässt sich nicht generell sagen, dass das „Sündenbewusstsein“ der Menschen geschwunden sei.3 Denn Unter1 „Ein gewaltiger Hunger nach dem Göttlichen hatte viele Menschen [der vorreformatorischen Zeit, T. B.] ergriffen. Sie ließen sich von dem Gedanken leiten, daß Demut, religiöse Tiefe und ein tugendhaftes Leben den Weg zur Seligkeit bereiten. Um diese Heilssehnsucht zu befriedigen, griff man begierig nach den von der Kirche angebotenen Frömmigkeitsformen.“ Schlemmer, Karl: Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation. Würzburg 1980. Würzburg, Univ. , theol. Diss. 1977, 345. (FFKT; o.A.) „Spätmittelalterliche Frömmigkeit, auch im persönlichen Bereich, war stark von Leistungsdruck und Quantitätsdenken gekennzeichnet. Man wollte sich unbedingt Verdienste sammeln, die beste Garantie dafür boten, das ewige Ziel zu erreichen. Der Bereich der Buße bot sich solchen Bestrebungen geradezu an.“ Schlemmer, Gottesdienst, 349. 2 Helsinki 1963/hg. von Erwin Wilkens. Berlin/Hamburg 1964, 456. 3 Zuweilen wird das konstatiert, z. B.: „Der allgemeine Schwund des Sündenbewußtseins macht auch vor der gottesdienstlichen Versammlung nicht halt.“ Gottesdienst und öffentliche Meinung: Kommentare und Untersuchungen zur Gottesdienstumfrage der VELKD/hg. von Manfred Seitz und Lutz Mohaupt. Stuttgart/Freiburg 1977, 15.

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suchungen zeigen auch, dass nicht nur Christen das Faktum der Sünde anerkennen.4 Aber der Begriff der Sünde ist schwieriger zu fassen als in früherer Zeit (s. u. 226ff).5 Und ein öffentliches Bekenntnis von Sünde und Schuld ist für viele unzumutbar geworden. 1.2. Systematisch-theologische Fragen Ganz grundsätzlich muss gefragt werden, ob ein Ritual von Beichte und Absolution notwendig in den Gottesdienst gehört. Abgesehen davon, dass sich im ntl. Zeugnis keine eindeutigen Belege dafür finden lassen,6 ist auch mit Luther darauf hinzuweisen, dass im Gottesdienst das rechtfertigende Wort Gottes die Menschen in gleicher Weise in der Predigt des Evangeliums und im Sakrament erreicht.7 Die verschiedenen Erscheinungsformen der gottesdienstlichen Beichte – Confiteor, Offene Schuld und Gemeinsame Beichte – werfen zusätzlich die Frage nach ihrer speziellen systematisch-theologischen Begründung auf. Ganz unterschiedlich sind dabei die Antworten der Theologen. Albrecht Peters sieht ähnlich wie Luther das Positive und Befruchtende einer Vielzahl von Beichtformen: „Die in unseren Überlegungen auf die Einzelbeichte konzentrierten unterschiedlichen Ausprägungen von Buße und Schlüsselamt, die Herzensbeichte vor Gott, die Aussöhnung mit dem Menschenbruder, die heimliche Beichte, die offene Schuld oder Gemeindebeichte, aber auch das seelsorgerliche Gespräch sowie das Gruppengespräch, sollten sich nicht gegenseitig verdrängen, sondern ergänzen und befruchten. Jede Form hat ihre relativen Vorzüge, jedoch auch ihre Einseitigkeiten und Nachteile.“8 Dagegen führten die verschiedenartigen theologischen Auffassungen in der Agendenreform der 50er Jahre des 20. Jh. zu einer unterschiedlichen Gewichtung der gottesdienstlichen Beichtformen. Im Gegensatz zur Gemeinsamen Beichte sollten Confiteor (Rüsthandlung) und Offene Schuld keine ausdrückliche Absolution 4 Vgl. Kerkhofs, Jan: Wertewandel: Das Verständnis von Gewissen, Reue und Sünde in Westeuropa. In: Säkularisierung und Wertewandel: Analysen und Überlegungen zur gesellschaftlichen Situation in Europa/hg. von Walter Kerber. München 1986, 63–74. (Fragen einer neuen Weltkultur; 2) 5 Vgl. Gestrich, Christof: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt: Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung. Tübingen 1989, 13ff. 6 Vgl. Böttrich, Thomas: Confession of Sin – a Question for Ecumenism: A Comparative Study of Confession in the Roman Catholic and the Lutheran Traditions. Dublin, Univ. , M. Phil. (Ecum.) 1991, 4ff. 7 Vgl. WA.B 6, 454, 5ff (Nr. 2010), s. u. 70f. 8 Peters, Albrecht: Buße – Beichte – Schuldvergebung in evangelischer Theologie und Praxis. KuD 28 (1982), 70.

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erhalten. Zu der sich daran entzündenden Diskussion schreibt Mahrenholz: „Aus den Gliedkirchen, die den Rüstakt nicht kennen, wird eingewandt, daß er die Gefahr mit sich bringe, die Beichte vor dem Abendmahl zu verdrängen. Als Beichthandlung sei der Rüstakt wegen der fehlenden Absolution aber nicht ausreichend […] Nun ist aber mit keinem Wort ausgesprochen, daß die in den Gliedkirchen übliche Beichte vor dem heiligen Abendmahl allgemein durch den Rüstakt verdrängt oder ersetzt werden soll. Wir haben im Gegenteil […] auf die große Bedeutung der Beichte hingewiesen und vorgeschlagen, die Beichte als besondere Feier am Sonnabendabend zu halten. Die Frage aber, um die es hier geht, ist die, ob etwa durch Augustana Artikel XXV die Beichte mit Absolution vor dem Gottesdienst verpflichtend gefordert ist, so daß der Rüstakt vor dem Gottesdienst eine abschwächende Dublette zur Beichte darstellt.“9 „Die Offene Schuld hat die Aufgabe, die Weckung des Sünderbewußtseins und die Verheißung der Sündenvergebung, die in der Predigt realiter geschehen ist, in einer gedrängten Formulierung zusammenzufassen. An den Äußerungen zur Offenen Schuld zeigt sich besonders deutlich die jeweils in Übung stehende landeskirchliche Tradition – von den einen wird die Offene Schuld als ‚fossile Sonderbarkeit‘, als ‚Entwertung der Beichte‘ oder als unangebrachte Konkurrenz zur Rüsthandlung verworfen. Ja, man äußert sogar das Bedenken, daß dadurch die Wortverkündigung in der Predigt gegenüber der ‚Absolution‘ in der Offenen Schuld zu einer nur vorläufigen Funktion ‚herabgewürdigt‘ wird, die erst zum Empfang der eigentlichen Gnadenmitteilung vorbereite. Anderen Kritikern ist die Offene Schuld dagegen nicht ausreichend genug, und man wünscht hier die Ersetzung durch eine förmliche Beichte mit Absolution (gegebenfalls mit Zusatz einer Retention)10 […] Wir glauben auch heute noch, daß unser Vorschlag allen Anliegen am besten gerecht wird und dabei doch alles vermeidet, was an den bisher üblichen Fassungen der Offenen Schuld theologisch beanstandet werden könnte.“11 An anderer Stelle muss Mahrenholz aber eingestehen: „Daß diese [volle Gemeinsamkeit, T. B.] im gegenwärtigen Augenblick noch nicht erreichbar ist, liegt entscheidend mit daran, daß es sich in beiden Fällen um theologisch noch nicht ganz geklärte Probleme handelt. Zwar ist das Rüstgebet […] am Anfang in der Gestalt von Agende I eindeutig eine ‚Offene Schuld‘ und weder eine Beichte noch ein Reinigungsakt. Aber die Stimmen wollen nicht verstummen, die an dieser Stelle das Confiteor entweder als ‚un9 Mahrenholz, Christhard: C. Ordinarium und Proprium. AELKG(E), 4, 39. 10 Retentionsformeln halten die Sündenvergebung zurück, wenn Reue nicht erkennbar ist, z. B. „Der Herr Jesus Christus hat seiner Kirche die Vollmacht gegeben, den bußfertigen Sündern die Sünden zu vergeben, den unbußfertigen aber die Sünden zu behalten, solange sie nicht Buße tun.“ AELKG, zu 24011 und 12. 11 AELKG, 65.

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evangelisch‘ ganz verbieten oder aber den Vergebungswunsch ganz zur Absolution ausbauen möchten.“12 Die Diskussion um die theologische Rechtfertigung eines Sündenbekenntnisses zu Beginn des Gottesdienstes ist nicht ganz neu. Bereits 1898 war diese Frage von Friedrich Spitta aufgegriffen worden. „Daß die Gemeinde auch im Gottesdienste nach evangelischem Verstande, ja dort erst recht, sich beugen muß im Gefühl ihrer Unwürdigkeit und Heilsbedürftigkeit, bedarf wohl keiner weiteren Bemerkung. Aber dem Ausdruck dieses Gefühls ist ja durch das ‚Herr erbarme dich unser‘ u.s.w. Genüge gethan, auch würde dasselbe vielleicht nach der Predigt eine noch passendere Stelle haben. Dagegen erinnert das unmittelbar nach den Eingangsworten folgende Sündenbekenntnis daran, daß der Priester sich vor der Vollziehung des heiligen Meßopfers entsündigen muß, wie der jüdische Priester vor dem Eintritt ins Heilige.“13 Grundsätzlich stellt Spitta die übermäßige Thematisierung von Sünde und Sündenvergebung im evangelischen Gottesdienst in Frage: „Der evangelische Christ steht im Gottesdienste Gott gegenüber nicht als der zitternde Sünder, der, ehe er durch das wiederholte Opfer Christi Entsündigung erlangt hat, in den Staub gehört, sondern als freies, frohes Kind vor seinem lieben Vater, der ihm in Christus ein für alle Mal die Vergebung seiner Sünden verbürgt hat.“14 Entscheidet man sich trotzdem für eine Beichte mit Absolution im Gottesdienst, muss andererseits bedacht werden, dass die allgemeine Absolution nicht zur „billigen Gnade“ verkommt. Mahrenholz trägt hier besondere Bedenken. „Jesus Christus hat in seinen Erdentagen die Sündenvergebung expressis verbis immer nur dem Einzelnen zugesprochen. Die Kirche ist ihm darin zu allen Zeiten gefolgt; sie gewährt die Absolution nur dort, wo sie wirklich begehrt wird und wo auch die Möglichkeit ihrer Verweigerung besteht […] Wohl ist ihr aufgetragen, die Botschaft von der sündenvergebenden Gnade Gottes auf den Straßen und von den Dächern in aller Öffentlichkeit zu predigen. Aber in gleicher Weise mit der Absolutionsformel ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘ umzugehen, ist ihr nach dem Herrenwort Matth. 7,6 verwehrt.“15 Theologisch kaum zu begründen ist das sehr lange bestehende Junktim zwischen Beichte und Abendmahl. Die Absolution nach erfolgter Beichte als Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang nimmt etwas voraus, das 12 Mahrenholz, Christhard: Die Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Band I (1958). In: Musicologica et liturgica. Gesammelte Aufsätze von Christhard Mahrenholz. Kassel 1960, 455. 13 Spitta, Friedrich: Zur Reform des evangelischen Kultus : Briefe und Abhandlungen. Göttingen 1891, 45. 14 Spitta, Reform, 34. 15 Mahrenholz, Christhard: Vorwort. AELKG(E) Teil 3, 16.

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im Abendmahl selbst zugesprochen wird. Außerdem ist diese Vorbereitung sehr einseitig und verdeckt andere Dimensionen des Herrenmahls. „Wie bereiten wir uns auf die Feier der Gemeinschaft mit Christus und den Christen vor, außer einzugestehen, daß wir sie kaum leben? – Wie bereiten wir uns auf die Feier der Hoffnung vor, außer einzugestehen, daß wir die kaum haben? – Wie bereiten wir uns auf die Feier des Teilens vor, außer einzugestehen, daß wir uns damit sehr schwer tun?“16 1.3. Liturgische Fragen Sehr eng verbunden sind die liturgischen Fragen mit den systematischtheologischen Problemen. Je nachdem, wie die systematisch-theologischen Vorentscheidungen ausfallen, werden die Texte für gottesdienstliche Sündenbekenntnisse und Absolutionen formuliert und der Beichte im Gottesdienst eine bestimmte Stelle innerhalb der Liturgie zugewiesen. Das zeigen die Arbeiten an Agende I von 1957. Eine ganz neue Situation ist gegeben, seit mit dem Vorentwurf der Erneuerten Agende begonnen wurde, eine Vielzahl von alternativen Möglichkeiten für die gottesdienstliche Beichte – sowohl was den liturgischen Ort als auch was die Auswahl der Texte betrifft – anzubieten. Ohne eine genaue Kenntnis der historischen Entwicklung der einzelnen Beichtarten, ohne Klarheit über deren mögliche Funktionen innerhalb des Gottesdienstes, ohne gründliche Reflexion systematisch-theologischer und sozialwissenschaftlicher Fragestellungen kann kaum verantwortlich mit den neuen Möglichkeiten umgegangen werden. Es ist zu vermuten, dass viele Liturginnen und Liturgen – noch mehr aber Gemeindeglieder in Gottesdienst-Vorbereitungsgruppen – mit diesen Aufgaben überfordert werden.17 Nicht geringer ist das Problem, das sich aus der Diskrepanz zwischen theologisch verantwortlichem Gebrauch der gottesdienstlichen Beichte von Seiten der Liturginnen und Liturgen und dem Unverständnis der Gemeinde bzw. deren Festhalten an alten Traditionen ergibt. Dabei muss überlegt werden, wie einerseits liturgische Entscheidungen Gemeindegliedern vermittelt werden können und wie sie andererseits Erwartungen und Bedürfnisse der Gemeinde aufnehmen.

16 Scholz, Ingrid/Horst, Peter: Gottesdienste zur Konfirmation. Frankfurt/M. 1990, 147 (Materialhefte; 57). 17 Mit Einführung der ErA(V) bzw. des EGb werden zugleich hohe Anforderungen an die liturgische Bildung gestellt. Vgl. Ratzmann, Wolfgang: Studierenden der evangelischen Theologie liturgische Bildung vermitteln – eine Problemanzeige. GAGF 14 (1992), 22–32.

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2. Terminologie Wohl kaum ein anderer liturgischer Terminus ist so vieldeutig und missverständlich wie der der „Beichte“. Im Althochdeutschen wurde „Beichte“ noch in der Bedeutung der ἐξομολόγησις verwendet,18 einem Bekenntnis, das zugleich Sündenbekenntnis und Lobpreis Gottes war.19 Dann, seit dem 12. Jh., differenzierte man auch terminologisch. Die confessio laudis wurde im Mittelhochdeutschen mehr und mehr als „urgiht“, die confessio peccatorum als „bîhte“ bezeichnet.20 Infolge der Verbreitung der wiederholbaren privaten Buße und des zeitlichen Zusammenlegens von Sündenbekenntnis und Absolution seit dem 9. Jh.21 sowie mit der Ausformung des Sakramentsbegriffs in der Hochscholastik erfuhr der Terminus „Beichte“ einen weiteren Bedeutungswandel. Was ursprünglich nur das Sündenbekenntnis bezeichnete, wurde nun auf das gesamte Bußsakrament angewandt und schloss die Absolution mit ein.22 Die reformatorische Theologie führte zu einer zusätzlichen Differenzierung. Wenn in der vorliegenden Arbeit der Terminus „Beichte“ gebraucht wird, ist also zunächst zu klären, in welcher Bedeutung er Anwendung findet. Von der ursprünglichen Bedeutung ausgehend, soll „Beichte“ hier im engeren Sinn als Sünden- oder Schuldbekenntnis23 verstanden werden 18 „bigiht“ wird sowohl in der Bedeutung „Lobpreis“ als auch „Sündenbekenntnis“ verwendet (darüber hinaus noch „Gelöbnis“). Vgl. Schützeichel, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 31981, 15. 19 Vgl. Michel, Otto: ὁμολογέω, ἐξομολογέω, […] ThWNT 5 (1954), 202ff, 213ff. 20 Vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1872, 271. [Nachdruck: Stuttgart 1992]; s. u. Anm. 29. 21 Vgl. Gy, Pierre Marie: Das Sakrament der Buße. HLW(M) 2 (o. J. [1967]), 110f. 22 Bis heute ist „Beichte“ die umgangssprachliche Bezeichnung für das „Sakrament der Wiederversöhnung“ (Bußsakrament) in der röm.-kath. Kirche. Vgl. Beichte. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. 3 (1971), 725. 23 Häufig findet sich der Ausdruck „Beichtbekenntnis“, vgl. Fischer, E[mil]: Zur Geschichte der evangelischen Beichte. 2 Bd. Leipzig 1902–1903, 12 u. ö.; Hautkappe, Franz: Über die altdeutschen Beichten und ihre Beziehungen zu Cäsarius Von Arles. Münster 1917, 116 u. ö. (Forschungen und Funde; 5); Rietschel, Georg/Graff, Paul: Lehrbuch der Liturgik. Göttingen 21952, 791 u. ö.; Mahrenholz, Christhard: Begleitwort zu den Ordnungen der Beichte. In: Musicologica et liturgica: Gesammelte Aufsätze von Christhard Mahrenholz. Kassel 1960, 481 u. ö.; Schmidt, Eberhard: Der Gottesdienst am Kurfürstlichen Hofe zu Dresden: Ein Beitrag zur liturgischen Traditionsgeschichte von Johann Walter bis zu Heinrich Schütz. Berlin 1961, 142; Hausammann, Susi: Buße als Umkehr und Erneuerung von Mensch und Gesellschaft: Eine theologiegeschichtliche Studie zu einer Theologie der Buße. Zürich o. J. [1975], 54. (SDGSTh; 33); Bezzel, Ernst: Frei zum Eingeständnis: Geschichte und Praxis der evangelischen Einzelbeichte. Stuttgart 1982, 88, 144 (CThM R.C.; 10); Kalb, Friedrich: Grundriß der Liturgik: Eine Einführung in die Geschichte, Grundsätze und Ordnungen des lutherischen Gottesdienstes. München 31985, 270; Schulz, Frieder: Der Gottesdienst bei Luther. In: Leben und Werk Martin Luthers von

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(s. u. 2.1.).24 Andererseits wird „Beichte“ aber auch in der erweiterten Bedeutung gebraucht, die Sündenbekenntnis (s. u. 2.2.1.) und Absolution (s. u. 2.2.2.) im gottesdienstlichen Geschehen zusammenfasst (s. u. 2.2.).25 2.1. Die engere Bedeutung von „Beichte“ Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Beichte“ legt es nahe, die Beichte primär und im engeren Sinn als Sündenbekenntnis zu verstehen.26 Auch Luther hatte seine Auffassung der Beichte als Bekenntnis von der Etymologie des Wortes abgeleitet. Nachdem er bereits 1526 in seinem „Sermon von dem Sakrament“27 auf Herkunft und Bedeutung des Wortes „Beichte“ hingewiesen hatte,28 schrieb er 1533 in dem „Sendschreiben an die zu Frankfurt a. M.“: „Denn Beyjichten heisst bekennen, wie auch im Gericht das wort noch jnn ubung ist, ‚Urjicht‘,29 und man sagt: das jicht er, das hat er bejicht etc. Und sind zwey unterschiedlich j jnn dem wort Bejicht, welchs mit der zeit ist jnn

1526 bis 1546: Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. 1 Bd. und Registerband/hg. von Helmar Junghans. Berlin 21985, 300; Erneuerte Agende: Vorentwurf. Hannover/ Bielefeld 1990, 130; Schulz, Frieder: Das Sündenbekenntnis im evangelischen Gottesdienst: Rückblick und Gestaltungsvorschläge in der „Erneuerten Agende“. LJ 41 (1991), 147; Lins, Hermann: Buße und Beichte – Sakrament der Versöhnung. In: Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche/hg. von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Karl-Heinrich Bieritz. Leipzig/Göttingen 1995, 359; EG 799; EGb, 199 u. ö. Diese tautologische Bezeichnung sollte vermieden werden. 24 Vgl. Campbell, Alasdair V./Tellini, Gianfranco: Art. „Beichte“, EKL3 1 (1986), 398; Asmussen, Jes P.: Art. „Beichte I. Religionsgeschichtlich“, TRE 5 (1980), 411; Beichte. In: Brockhaus-Wahrig: Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden/hg. von Gerhard Wahrig. Bd. 1. Wiesbaden 1980, 573; Kalb, Grundriß, 331. 25 Vgl. Zezschwitz, Gerhard von: Art. „Liturgie“, RE2 9 (1881), 787ff; Niebergall, Friedrich: Art. „Beichte II“, RGG2 1 (1927), 364; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 831ff; Kalb, Grundriß, 260ff. 26 Diese Auffassung steht der von Mahrenholz entgegen. Vgl. Mahrenholz, Begleitwort, 480. 27 Vgl. WA 19, 513. 28 Für Luther ist außerdem die zweifache Bedeutung des Wortes „Bekenntnis“ von Belang: Bekenntnis als Bekenntnis des Glaubens und als Bekenntnis der Sünde. Auf Grund ihres Bekenntnisses zum christlichen Glauben wurden die Märtyrer als „Bekenner“ oder „Bejychter“ bezeichnet. In dieser zweifachen Bedeutung kann Beichte für Luther sowohl Ort des Sündenbekenntnisses als auch Ort des Glaubensbekenntnisses bzw. der Unterweisung im rechten Glauben sein. Vgl. WA 19, 513, 15ff. 29 Dieses mittelhochdeutsche Wort hat die schlichte Bedeutung „Aussage“, „Bekenntnis“, im engeren Sinn die hier zitierte Bedeutung „Aussage eines Missetäters vor Gericht“. Vgl. Lexer, Handwörterbuch, 1, 2004. Die Vorsilbe „ur-“ entspricht oft unserem Präfix „er-“, vgl. Lexer, Handwörterbuch, 1, 1999.

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ein .j. verwandelt und durch misbrauch Beicht als mit einem .j. geschrieben und geredt, wie viel andere alte deudsche wörter also verderbet sind.“30

2.2. Die erweiterte Bedeutung von „Beichte“ Luther kann das Wort „Beichte“ aber auch in einer erweiterten Bedeutung verwenden, vor allem wenn er über die „heimliche Beicht“ schreibt.31 Danach besteht die Beichte aus zwei Stücken – aus dem Sündenbekenntnis und der Absolution.32 Ob und wie dies auf die Beichte im lutherischen Gottesdienst angewendet werden kann, wird zu prüfen sein. 2.2.1. Das Sündenbekenntnis Für die Untersuchung der Beichte im lutherischen Gottesdienst kommen als Sündenbekenntnis vor allem die liturgischen Stücke in Betracht, die als Ganzes menschliche Schuld und Sünde aussprechen. Insofern sind sie Beichte in der engeren Bedeutung des Wortes.33 Der Adressat ist in letzter Instanz Gott, deshalb haben sie oft die Form von Gebeten bzw. werden als solche bezeichnet.34 Derartige liturgische Stücke finden sich in den jüngeren Agendenwerken35 vor allem in drei jeweils verschiedenen liturgischen Zusammenhängen, nämlich im Eingangsteil, im Verkündigungsteil bzw. im Abendmahlsteil des Gottesdienstes. Jedes der Sündenbekenntnisse hat sich auf 30 WA 30,3, 567f. Bereits die althochdeutsche Kirche verwendet „pijiht“ bzw. „pigiht“ für confessio. Daraus werden im Mittelhochdeutschen „begiht“, „bîht“ und „bîhte“, im Neuhochdeutschen „Beicht“ und „Beichte“. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 1. München 1984, 1359. 31 Für Luther war die Einzelbeichte der Normalfall, s. u. 56. 32 Luther hatte dies in Abgrenzung zur römischen Lehre u. a. in „Ein kurze Vermahnung zu der Beicht“ (WA 30,1, 233–238) festgestellt, die er der 2. Auflage des großen Katechismus 1529 beifügte; vgl. WA 30,1, 235f. Noch klarer ist seine Formulierung in der Beichtanweisung „Wie man die Einfältigen soll lehren beichten“ (WA 30,1, 383–387) im kleinen Katechismus von 1531; vgl. WA 30,1, 383. 33 Davon wird hier einfach ausgegangen, auch wenn in der Liturgiegeschichte teilweise komplizierte Unterscheidungen vorgenommen wurden und manche der Beichten sich in eine andere Richtung entwickelt haben. 34 Häufig findet sich die Bezeichnung „Beichtgebet“; vgl. Achelis, Ernst Christian: Lehrbuch der Praktischen Theologie. Bd. 1. Leipzig 21898, 389 u. ö.; Rietschel/ Graff, Lehrbuch, 832ff; Klaus, Bernhard: Die Rüstgebete. Leiturgia 2 (1955), 552. Manchmal wird dieses Sündenbekenntnis auch als „Bußgebet“ bezeichnet; vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 389; ErA(V), 27; EGb, 37, 494. 35 Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 1: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Heiligem Abendmahl und die sonstigen Predigtund Abendmahlsgottesdienste. Berlin 1957; Agende für die Evangelische Kirche der Union. Bd. 1: Die Gemeindegottesdienste. Bielefeld 31981; ErA(V); EGb.

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eigene Weise entwickelt und spezielle Bezeichnungen erhalten (s. u. 2.3.). Dennoch gibt es in der Literatur keine einheitliche Terminologie. Infolge der vielfältigen historischen Einflüsse hat sich der jeweils besondere Charakter der drei Sündenbekenntnisse nicht durchgängig erhalten können. Es kam teilweise zu Angleichungen in der Form und zum Austausch hinsichtlich des liturgischen Ortes. Die Vielfalt in der Terminologie ist darauf zurückzuführen, dass ganz unterschiedliche Bezeichnungskriterien herangezogen wurden. Manchmal waren ursprüngliche Bezeichnungen des Sündenbekenntnisses an den jeweiligen liturgischen Orten maßgebend (z. B. Confiteor, Offene Schuld), manchmal die Funktion des liturgischen Stückes (z. B. Rüsthandlung, Rüstakt), manchmal die Form (z. B. Rüstgebet) bzw. manchmal die Bemühung um modernen Sprachgebrauch (z. B. Vorbereitungsgebet). Im Folgenden sollen die verschiedenen Arten der gottesdienstlichen Beichte entsprechend ihrem liturgischen Ort mit dem traditionellen Terminus benannt werden.36 Es handelt sich einmal um das Sündenbekenntnis im Eingangsteil des Gottesdienstes, das hier Confiteor37 genannt wird. In der Literatur finden sich auch die Bezeichnungen „Rüsthandlung“,38 „Rüstakt“39 oder „Rüstteil“ bzw. „Rüstgebet“40 der Gemeinde. Der Vorentwurf der Erneuerten Agende nennt die Rüsthandlung „Vorbereitungsgebet“41 statt „Rüstgebet“. Das Vorbereitungsgebet ist aus dem Confiteor des Priesters hervorgegangen (s. u. 48ff), weist aber nur noch selten die dialogische Form bzw. den Textbestand des Confiteor auf.42 Die Charakterisierung als

36 Frieder Schulz schreibt: „Die Klärung der Terminologie erfolgte bei der Revision der lutherischen Beichtagende 1958: Confiteor bzw. Rüstgebet = Öffentliche Beichte der ganzen Gemeinde zu Beginn des Gottesdienstes; Offene Schuld = Dasselbe nach der Predigt ; Gemeinsame Beichte = Selbständige Handlung mehrerer Konfitenten.“ Schulz, Sündenbekenntnis, 151, Anm. 49. Wie die nachfolgenden Beispiele teilweise zeigen, hat sich die Terminologie trotzdem nicht allgemein durchgesetzt. 37 Diese Bezeichnung leitet sich aus dem ersten Wort vieler lateinischer Beichttexte ab (s. Anh. Nr. 2, Nr. 9). Vgl. Zezschwitz, Liturgie, 788; Klaus, Rüstgebete, 547ff; Hertzsch, Erich: Die Wirklichkeit der Kirche : Kompendium der Praktischen Theologie. 1. Teil: Die Liturgie. Halle/S. 1956, 87f; AELKG, 197f. 38 Vgl. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden: Entwurf. Bd. 1: Der Gemeindegottesdienst. Teil 1: Vorwort und Ordinarium. O. O. 1951, 50ff, 72. 39 Vgl. AELKG(E), Teil 1, 42 u. ö.; AELKG(E). Teil 4: Berichtigungen und Ergänzungen sowie kritische Besprechung der zu Teil 1 und 2 geäußerten Bedenken und Änderungsvorschläge. O. O. 1953, 38ff. 40 Vgl. AELKG, 197f; Klaus, Rüstgebete, 523–567 (Klaus fasst den Begriff „Rüstgebete“ sehr weit, so rechnet er auch die „Offene Schuld“ u. a. zu den Rüstgebeten); Kalb, Grundriß, 110ff; ErA(V), 27 u. ö. 41 ErA(V), 465ff; EGb, 37, 65, 493ff. 42 Für ein Rüstgebet, das dem ursprünglichen Confiteor sehr nahe kommt, vgl. ErA(V), Nr. 321, 469f; EG 786.2.

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„Confiteor im Stil der Offenen Schuld“43 trägt der Tatsache Rechnung, dass die Rüsthandlung den Platz des Confiteor eingenommen hat, in ihrer Form aber mehr der Offenen Schuld ähnelt.44 Ein größerer Konsens in der Bezeichnung lässt sich bei der Offenen Schuld45 feststellen, dem öffentlichen Schuldbekenntnis, das meist im Zusammenhang mit der Predigt seinen liturgischen Ort hat. Auch Entstehung und Entwicklung der Offenen Schuld zeigen diese Bindung an die Predigt (s. u. 33ff). Synonym dazu findet sich die Bezeichnung „Allgemeine Beichte“.46 Als dritte Art der gottesdienstlichen Beichte begegnet in Verbindung mit dem Abendmahl die Gemeinsame Beichte,47 deren Wurzeln vor allem in der Privatbeichte48 liegen (s. u. 113ff). Sie wird ebenso wie die Offene Schuld auch als „Allgemeine Beichte“49 bezeichnet oder sogar mit der Offenen Schuld50 gleichgesetzt. Die herausgehobene Stellung, die der gemeinsamen Beichte von manchen Liturgikern gegeben wird (s. u. 23), führt darüber hinaus zu der lapidaren Bezeichnung „Beichte“51. 43 Vgl. Klaus, Rüstgebete, 550 u. ö.; Kalb, Grundriß, 113f. 44 Grethlein gibt eine eigenwillige Definition, wenn er schreibt: „Inhaltlich ist das Confiteor keine Beichte, sondern eine sog. Offene Schuld, also ein Bekenntnis des grundsätzlichen Verwiesenseins des Menschen auf Gott, im Sinne von: Wir stehen in Gottes Schuld. […] Das Confiteor soll also kein ‚Reinigungsakt‘ sein, sondern der Vorbereitung auf den Gottesdienst dienen.“ Grethlein, Christian: Abriß der Liturgik. Gütersloh 1989, S. 120. Hierbei wird der Charakter des Confiteor als Sündenbekenntnis in Frage gestellt und zudem der Begriff „Offene Schuld“ nicht etymologisch erklärt („Offene Schuld“ hat die Bedeutung „öffentliches Schuldbekenntnis“, vgl. Grimm, Bd. 13, 1170; Bd. 15, 1881). 45 Vgl. Rietschel, Georg: Die offene Schuld im Gottesdienste und ihre Stellung nach der Predigt mit besonderer Berücksichtigung der sächsischen Agende. MGkK 1 (1896/97), 396–402; Achelis, Lehrbuch, 1, 389ff; Zezschwitz, Liturgie, 787; Klaus, Rüstgebete, 533ff; Hertzsch, Wirklichkeit, 88; AELKG(E), Teil 1, 42; AELKG, 238 u. ö.; Niebergall, F., Beichte, 864; Kalb, Grundriß, 112ff; ErA(V), 27 u. ö.; EGb, 543ff. 46 Vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 389; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 369 u. ö.; AELKG, 24011 und 12. 47 Vgl. Kunze, Johannes: Art. „Schlüsselgewalt“, RE3 17 (1906), 639; Mezger, Manfred: Art. „Beichte V. Praktisch-theologisch“, TRE 5 (1989), 437; Kalb, Grundriß, 268ff; ErA(V), 505; EGb, 543f. 48 Traditionell wird die Einzelbeichte im Luthertum als „Privatbeichte“ bezeichnet, weil Luther selbst den Begriff confessio privata gebrauchte (s. u. 61, Anm. 227), vgl. Bezzel, Eingeständnis, 5 u. ö. Im Folgenden soll die auch im ökumenischen Gespräch übliche Bezeichnung „Einzelbeichte“ Verwendung finden, um falsche Konnotationen zu vermeiden. 49 Vgl. Zezschwitz, Gerhard von: Art. „Beichte“, RE2 2 (1878), 226; Rietschel/ Graff, Lehrbuch, 831ff; Niebergall, F., Beichte, 864; AELKG, 24011. 50 Vgl. AELKG, 24011. 51 Vgl. AELKG(E), Teil 3: Sonstige Gemeindegottesdienste, Richtlinien allgemeiner Art. O. O. 1953, 15; AEKU, 1, 131.

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Manchmal wird die Gemeinsame Beichte auch „Gemeindebeichte“52 genannt. 2.2.2. Die Absolution Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass im lutherischen Gottesdienst, der ein „Werk Gottes“53 ist und dessen Gestaltungsprinzipien als „angewandte Rechtfertigungslehre“54 verstanden werden, dem Sündenbekenntnis eine Absolution folgen muss. Sehr viel schwieriger ist aber die Frage zu beantworten, in welcher Form die Absolution zum Ausdruck kommen kann. Luther selbst hat sich dazu auf unterschiedliche Weise geäußert und neben der persönlich zugesprochenen Absolutionsformel auch die Predigt des Evangeliums sowie den Empfang der Sakramente als Absolution verstanden (s. u. 68ff). Für die in liturgischen Formularen begegnenden Absolutionsformeln gibt es wieder eine Vielzahl von Bezeichnungen. Die Formeln55 lassen sich nach ihrer Form in drei Gruppen einteilen.56 Zunächst gibt es deprekative57 oder „supplikative“58 Formeln, die eine direkte Bitte um Sündenvergebung beinhalten. Im Unterschied dazu drücken optative59 Formeln nur den Wunsch nach Vergebung der Sünden aus. Ein Beispiel dafür ist das Indulgentiam, das lange Zeit als Absolutionsformel im Anschluss an das Confiteor galt.60 Indikative61 Absolutionsformeln, die die Sündenvergebung in der Wirklichkeitsform zusprechen, lassen sich unter verschiedenen Aspekten einordnen. Nach der Art des Zusprechens der Ab52 Vgl. AELKG(E), Teil 1, 42; ErA(V), 27 u. ö. 53 Vgl. Vajta, Vilmos: Die Theologie des Gottesdienstes bei Luther. Berlin 1958, 117ff. 54 Vgl. Cornehl, Peter: Art. „Gottesdienst VIII. Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart“, TRE 14 (1985), 55ff. 55 Nicht alle Absolutionsformeln, die in der Geschichte der Liturgie Verwendung fanden, werden heute von lutherischen Liturgikern als solche aufgefasst. 56 Darin wird dem Vorschlag Jungmanns gefolgt. Vgl. Jungmann, Josef Andreas: Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Innsbruck 1932, 202ff. (FGIL; 3/4) 57 Vgl. Jungmann, Bußriten, 202ff; Eppacher, Anton: Die Generalabsolution : Ihre Geschichte (9.–14. Jhdt.) und die gegenwärtige Problematik im Zusammenhang mit den gemeinsamen Bußfeiern. ZKTh 90 (1968), 391ff. Rietschel/Graff, Lehrbuch, 826 u. ö. weisen darauf hin, dass deprekative Absolutionsformeln für die lutherische Beichte nicht in Frage kommen. 58 Vgl. Jungmann, Bußriten, 202, Anm. 147. 59 Vgl. Jungmann, Bußriten, 202, Anm. 147; Baumgarten, Otto: Art. „Bußwesen: V. Evangelische Beichte und Absolution“, RGG 1 (1909), 1490; Klaus, Rüstgebete, 531 u. ö. 60 Vgl. Jungmann, Bußriten, 218f; Klaus, Rüstgebete, 531. 61 Vgl. Jungmann, Bußriten, 202; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 833; Klaus, Rüstgebete, 531 u. ö.; Eppacher, Generalabsolution, 391ff.

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solution muss man zwischen exhibitiven62 und deklarativen63 Formeln unterscheiden. Nach dem theologischen Verständnis der Wirksamkeit der Absolution lässt sich ein Unterschied zwischen effektiven64 bzw. „realen“65 und signifikativen66 Absolutionen machen. Die neueren lutherischen Agenden verwenden größtenteils indikative Absolutionsformeln, wobei die Absolution als effektiv aufgefasst wird.67 Dagegen vermeidet man, von deprekativen oder optativen Absolutionsformeln zu sprechen, wenn solche in Anwendung kommen. Hier finden sich Bezeichnungen wie „Gnadenzusage“68, „allgemeine Tröstung“69, „Gnadenversicherung“70, „Gnadenwort“71 o.ä. 2.3. Das Verhältnis der drei Beichtarten zueinander In Abhängigkeit davon, wie „Beichte im Gottesdienst“ definiert wird, gestalten sich die Relationen von Confiteor, Offener Schuld und Gemeinsamer Beichte zueinander.72 Nach der hier vorgelegten Definition enthalten sie alle eine Beichte in der engeren Bedeutung des Wortes – also ein Sündenbekenntnis – und in Verbindung mit einer wie auch immer 62 Diese darbietende Form der Vergebung erfolgt z. B. im „absolvo te“ oder „Deine Sünden sind dir vergeben“. Vgl. Baumgarten, Bußwesen, 1490; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 816. 63 Z. B. „Ich verkündige euch Vergebung aller eurer Sünden.“ Vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 92ff; Baumgarten, Bußwesen, 1487ff; Niebergall, F., Beichte, 864; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 815. 64 Vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 94f; Baumgarten, Bußwesen, 1487ff; Niebergall, F. , Beichte, 864; Rietschel/Graff, Lehrbuch, 815f. 65 Vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 94; Baumgarten, Bußwesen, 1490. 66 Vgl. Achelis, Lehrbuch, 1, 94. 67 Das EGb übersetzt „Absolution“ mit „ausdrückliche Lossprechung“. Vgl. EGb, 544. Für deprekative Absolutionsformeln wird die Bezeichnung „Vergebungsbitte“ verwendet. Vgl. EGb, 493. 68 Vgl. AELKG(E), Teil 1, 52; EGb, 70. 69 Vgl. Zezschwitz, Liturgie, 788. 70 Vgl. Glaue, Paul: Art. „Offene Schuld“, RGG2 4 (1930), 672. 71 Vgl. Niebergall, F., Beichte, 867. 72 Mahrenholz definiert Beichte nur in der erweiterten Bedeutung: „Dieser Definition [Luthers im Kleinen Katechismus, T. B.] entsprechend wird im folgenden unter ‚Beichte‘ weder das Bekenntnis unserer Verfehlungen verstanden, das täglich in der Herzensbeichte Gott dem Herrn gegenüber und als Versöhnungsbeichte in besonderen Fällen gegenüber dem Mitchristen geschieht, noch die Botschaft von der Sündenvergebung, die uns auch ohne vorheriges Sündenbekenntnis überall dort erreicht, wo das Evangelium von Jesus Christus gepredigt wird. Beichte im Sinne der Ausführungen dieses Geleitwortes ist dort, wo diese beiden Stücke zusammentreffen: das Bekenntnis meiner Schuld und der Zuspruch der Vergebung an mich im Namen Gottes.“ Mahrenholz, Begleitwort, 480.

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beschaffenen Absolution sind sie Beichte in der erweiterten Bedeutung. Jede der drei gottesdienstlichen Beichtarten hat liturgische Intentionen und erfüllt bestimmte Funktionen im Gottesdienst. Deshalb muss auch Klarheit darüber geschaffen werden, inwieweit die verschiedenen Arten der Beichte im Gottesdienst theologisch und liturgisch verantwortet werden können. In den Agenden der letzten 50 Jahre und der teilweise im Zusammenhang mit ihnen entstandenen Literatur wird die Tendenz deutlich, Confiteor und Offene Schuld allenfalls als Beichte in der engeren Bedeutung des Wortes zu verstehen. Darin werden diese Beichtarten untereinander austauschbar.73 Ganz deutlich hob man noch in der Mitte des letzten Jh. die Gemeinsame Beichte von Confiteor und Offener Schuld ab, indem man nur ihr den Charakter einer Beichte in der erweiterten Bedeutung des Wortes zubilligte.74 Darüber hinaus sollte die Gemeinsame Beichte auf die Einzelbeichte hinweisen, denn es wurde davon ausgegangen, dass die Gemeinsame Beichte immer noch Elemente der Einzelbeichte enthält. Diese Tendenzen setzen sich in ErA(V) und EGb fort, wobei die Relevanz einer Beichte in der erweiterten Bedeutung des Wortes immer geringer wird (s. u. 243ff).

3. Abgrenzung Das Thema der Arbeit weist bereits darauf hin, dass die gottesdienstliche Beichte im Mittelpunkt steht.75 Es kann also nicht die Problematik der Einzelbeichte erörtert werden. Zwangsläufig wird aber von der Einzelbeichte zu sprechen sein, insoweit es um Zusammenhänge mit den Arten der gottesdienstlichen Beichte geht. Weiterhin soll die Beichte im lutherischen Gottesdienst untersucht werden, der reformierte Gottesdienst wird also weitgehend unberück73 Vgl. Klaus, Rüstgebete, 533 u. ö.; Kalb, Grundriß, 269; ErA(V), 27. 74 „Eine Absolution [nach dem Confiteor, T. B.] haben wir mit voller Absicht vermieden, um aus der Rüsthandlung nicht eine Wiederholung der Beichthandlung zu machen und damit letzten Endes Wert und Übung der Beichte empfindlich zu schmälern.“ AELKG(E), Teil 1, 52. „Der eigentümliche und einmalige Komplex, der hier vorliegt, läßt sich in der Tat nur durch den althergebrachten Terminus ‚Offene Schuld‘ umschreiben. Er ist auch sachlich richtig, denn er stellt deutlich das heraus, was diesen Akt von der Beichte, die eine nichtöffentliche, im geschlossenen Kreise oder nur mit einem einzelnen Christen stattfindende Handlung mit dem Schwerpunkt auf der Absolution darstellt, unterscheidet.“ AELKG(E), Teil 4, 66; Vgl. auch Mahrenholz, Begleitwort, 497ff; Grethlein, Abriß, 120f; Vismann, Dieter: Beichte und Abendmahl. In: Die Beichte/hg. von Ernst Henze. Göttingen 1991, 58. (Dienst am Wort; 55) 75 Eingrenzend ist zu sagen, dass darunter die Beichte im Sonn- oder Festtagsgottesdienst verstanden wird. Die wenig praktizierte Sonderform des Beichtgottesdienstes ist dabei nicht primär im Blick.

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sichtigt gelassen. Trotzdem bedarf diese Absicht weiterer Abgrenzungen. Es kann nicht die große Vielfalt der Gottesdienste im weltweiten Luthertum berücksichtigt werden. Deshalb soll sich die Untersuchung auf den lutherischen Gottesdienst in Deutschland beschränken. Durch Grenzveränderungen in den letzten 500 Jahren ist diese Abgrenzung nicht eindeutig. Grundsätzlich ist vom heutigen deutschen Staatsgebiet auszugehen, wobei früher zu Deutschland gehörige Gebiete (z. B. Schlesien, Pommern) teilweise mit einbezogen werden. Für die Suche nach den Ursprüngen der gottesdienstlichen Beichte ist der geografische Rahmen noch weiter gesteckt. Aber auch die konfessionelle Abgrenzung muss etwas relativiert werden. Seit der Mitte des 19. Jh. kam es in verschiedenen deutschen Ländern zu Kirchenunionen von Reformierten und Lutheranern. Ganz bewusst werden liturgische Entwicklungen im unierten Bereich nicht ausgeblendet, besonders wo sie parallel zu Entwicklungen im lutherischen Gottesdienst verlaufen oder gar auf diesen einwirken. Der große Umfang des Themas bringt es trotz der genannten Abgrenzungen mit sich, dass in der Darstellung keine Vollständigkeit erreicht werden kann. Die Einschränkung auf eine Form der gottesdienstlichen Beichte (z. B. das Confiteor oder die Offene Schuld) erscheint aber nicht sinnvoll, weil alle drei Arten der gottesdienstlichen Beichte miteinander – und darüber hinaus mit der Einzelbeichte – in Beziehung stehen. Die Entscheidung für eine zusammenhängende Darstellung76 aller drei Beichtarten im Überblick und das Aufzeigen der Zusammenhänge geht allerdings zu Lasten der Vollständigkeit und vieler Details. Aus dem gleichen Grund wurde auch darauf verzichtet, kulturhistorische bzw. kultursoziologische Einflüsse auf die Veränderung des Bußund Beichtverständnisses gründlich zu untersuchen.

4. Hinweise zum Zitationsverfahren In den Anmerkungen erscheinen Literaturhinweise an der ersten Stelle jeweils vollständig, an allen nachfolgenden Stellen mit Kurztiteln, die sich mit Hilfe des Literaturverzeichnisses gut auflösen lassen. Zitate sind stets wörtlich und in der jeweiligen Rechtschreibung aus der Primär- oder Sekundärquelle einschließlich der Hervorhebungen (Kursivdruck) und der in Klammern gesetzten Textstellen übernommen. Eigene Hervorhebungen oder Hinzufügungen sind in eckige Klammern gesetzt und zusätzlich mit Initialen markiert. Fremdsprachige Textstellen 76 Seit dem beachtlichen Aufsatz von Klaus sind viele Arbeiten zur Einzelbeichte, aber noch nicht wieder eine zusammenhängende Darstellung der gottesdienstlichen Beichte erschienen. Vgl. Klaus, Rüstgebete.

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werden in der Regel – sofern es sich nicht um geläufige Termini handelt – kursiv gedruckt. Auch Besonderheiten in Druck und Satz bleiben weitgehend berücksichtigt, z. B. die Unterscheidung von „v“ und „w“ in Quellentexten. Dagegen werden die Umlaute in den heute üblichen Schrifttypen „ä, ö, ü“ wiedergegeben sowie heute nicht mehr gebräuchliche Abkürzungen in lateinischen Texten ausgeschrieben.

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Kapitel II

Untersuchungen zur geschichtlichen Entwicklung der gottesdienstlichen Beichte 1. Entwicklung bis zur Reformation 1.1. Die Anfänge Bevor die Beichte in den uns bekannten Formen einen festen Platz im christlichen Gottesdienst erhielt, vergingen mehrere Jh.1 Dennoch war die Beichte als Eingeständnis von Sünde und Schuld von Anfang an Bestandteil der christlichen Buße,2 wurde Buße doch als Umkehr zu Gott (hb;WçT]) und Abwendung vom sündlichen Tun (μετάνοια) verstanden.3 Somit musste Sünde bewusst gemacht und als solche benannt und bekannt werden. Allerdings gab es in den ersten zwei Jh. n. Chr. im Christentum wohl kaum eine Institution bzw. allgemein verbreitete liturgische Formen für Buße und Beichte.4 Aus der Didache lässt sich für die erste Hälfte des 2. Jh. schließen, dass in manchen Gemeinden dem Herrenmahl ein Sündenbekenntnis vorausging (Did 14,1),5 wenn auch nicht sicher ist, in welcher Form dies geschah. Streitenden war ohne vorherige Versöhnung

1 Für die Geschichte der Buße in den ersten Jh. vgl. besonders folgende grundlegenden Werke: Poschmann, Bernhard: Paenitentia secunda: Die kirchliche Buße im Ältesten Christentum bis Cyprian und Origenes. Bonn 1940. (Theoph.; 1); Poschmann, Bernhard: Die abendländische Kirchenbuße im Ausgang des christlichen Altertums. München 1928. (MSHTh; 7); Poschmann, Bernhard: Die abendländische Kirchenbuße im frühen Mittelalter. Breslau 1930. (BSTRG; 16). Zu einem Überblick über größere Zeiträume vgl.: Poschmann, Bernhard: Buße und letzte Ölung. Freiburg 1951. (HDG; 4/3); Mahrenholz, Begleitwort; Messner, Reinhard: Feiern der Umkehr und Versöhnung. GDK 7,2 (1992), 49–240. 2 Zu religionsgeschichtlichen Parallelen vgl. Wissmann, Hans: Art. „Buße I. Religionsgeschichtlich“, TRE 7 (1981), 432. 3 Vgl. Welten, Peter: Art. „Buße II. Altes Testament“, TRE 7 (1981), 433–439 und Becker, Jürgen: Art. „Buße IV. Neues Testament“, TRE 7 (1981), 446–451. 4 Vgl. Campenhausen, Hans Freiherr von: Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten. Tübingen 1953, 144. (BHTh; 14) 5 „An jedem Herrentage, wenn ihr zusammenkommt, brecht das Brot und sagt Dank, nachdem ihr zuvor eure Verfehlungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei.“ Die Apostolischen Väter: Griechisch-deutsche Parallelausgabe […]/hg. von Andreas Lindemann u. Henning Paulsen. Tübingen 1992, 19.

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eine Teilnahme am Abendmahl verwehrt, damit das Opfer nicht entweiht würde (Did 14,2).6 Im dreimaligen täglichen Beten des Vaterunsers (Did 8,3) wurde Gott regelmäßig auch um Erlassen der Schuld gebeten (Did 8,2).7 Sündenbekenntnisse scheinen in den Gemeindeversammlungen jener Christen Brauch gewesen zu sein (Did 4,14).8 Zu dieser Zeit konnte das Sündenbekenntnis mit der Buße gleichgesetzt werden, zudem waren in der ἐξομολόγησις noch Bekenntnis und Lobpreis Gottes miteinander verbunden.9 Die Institutionalisierung, Gestaltung und Vereinheitlichung von Buße und Beichte wurde schließlich von äußeren Einflüssen vorangetrieben,10 die die Gemeinden nötigten, sich mit dem Thema der Buße auseinanderzusetzen.11 Das Abwehren der Gnosis hatte die Organisation der Gemeinden gestärkt, so dass die Ausgestaltung der Bußdisziplin im Austausch untereinander und in der Klärung strittiger Fragen erfolgte.12 Dadurch, dass die Gemeinden zahlenmäßig anwuchsen und immer wieder Verfolgungen über sie hereinbrachen, wurden auch das Abfallen vom Glauben und das Sündigen nach der Taufe zunehmend zum Problem. Schwere Sünden13 führten ebenso wie Unbußfertigkeit zum Ausschluss aus der Gemeinde, weniger schwere Sünden wurden mit Bußleistungen wie Beten, Fasten und Almosen gesühnt. Diese rigorose Praxis ließ sich aber besonders in den Zeiten der Verfolgung nicht durchhalten. Viele Christen hatten nur unter äußerstem Druck ihrem Glauben abgesagt und be6 „Jeder aber, der Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich versöhnt haben, damit euer Opfer nicht entweiht werde.“ Die Apostolischen Väter, 19. 7 Vgl. Die Apostolischen Väter, 12f. 8 „In der Gemeindeversammlung sollst du deine Übertretungen bekennen, und du sollst nicht hintreten zu deinem Gebet mit schlechtem Gewissen.“ Die Apostolischen Väter, 11. 9 Vgl. Poschmann, Buße, 11f. 10 „Die weitere Entwicklung geht von den Notwendigkeiten der kirchlichen Praxis aus und nicht von der theologischen Reflexion.“ Campenhausen, Amt, 235. 11 Die Auffassung, dass die Formen von Buße und Beichte von bedeutenden soziokulturellen Veränderungen beeinflusst wurden, vertritt sehr dezidiert Dallen, James: The Reconciling Community: The Rite of Penance. Collegeville 1991. 12 Zu den Bußstreitigkeiten vgl. Campenhausen, Amt, 235ff; Benrath, Gustav Adolf: Art. „Buße V. Historisch“, TRE 7 (1981), 452ff; Poschmann, Paenitentia, 261ff. 13 Es war nicht einfach, hierfür genaue Festlegungen zu treffen (vgl. Poschmann, Buße, 44). Rigoristische Strömungen vertraten z. B. die Meinung, dass bei Abfall vom Glauben, Mord, Häresie oder Ehebruch eine Wiederaufnahme des Sünders nicht möglich sei (vgl. Campenhausen, Amt, 240). Seit dem 4. Jh. wurde dagegen im Allgemeinen die Kirchenbuße wirksam, wenn schwere Sünden wie „Idolatrie, Häresie und Schisma, Mord, Abtreibung, Ehebruch, schwerer Diebstahl, unversöhnlicher Haß, Verleumdung, Trunksucht, Besuch unmoralischer Theateraufführungen […]“ usw. begangen worden waren. Baus, Karl: Die Liturgie. HKG( J) 2/1 (1973), 309.

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gehrten später wieder Aufnahme in die Gemeinde. So entwickelte sich seit dem Ende des 2. Jh. ein Bußinstitut, das die Wiederaufnahme reuiger Sünder ermöglichte.14 Nachdem das eigentliche Sündenbekenntnis unter vier Augen vor dem Bischof abgelegt worden war,15 bekannte sich der Sünder vor Gott und der Gemeinde in der Exhomologese16 öffentlich zu seiner Sünde, bat um Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Kirche und zeigte mit Sack und Asche für alle sichtbar die Bereitschaft zur Umkehr. Nach einer unterschiedlich langen Zeit der Buße konnten die Sünder dann durch Handauflegung von Bischof und Klerus wieder mit der Gemeinde und Christus versöhnt werden.17 Neben der Stärkung des Amtes und der Schlüsselgewalt gegenüber Ansprüchen von Geistträgern waren in den Bußstreitigkeiten wichtige Bedingungen für die weitere Entwicklung von Sündenbekenntnis, Buße und Absolution geschaffen worden. „Es ist das bleibende Verdienst der Kirche des 3. Jh. , in den oft heißen Kämpfen um das rechte Verständnis christlicher Buße gegenüber dem immer wieder aufflammenden Rigorismus den Geist barmherzigen Verstehens für den Sünder […] verteidigt, andererseits den Einbruch laxistischer Tendenzen in die christliche Bußdisziplin abgewehrt zu haben.“18 Es gab also nur zwei Arten der Buße – die tägliche Buße für leichte Sünden und die öffentliche Buße für schwere Sünden. Dabei geschah das Namhaftmachen der – gegebenenfalls nicht öffentlich bekannten – schweren Sünde außerhalb des Gottesdienstes vor dem Bischof, der die Schlüsselgewalt ausübte. Die Rekonziliation war dann aber ein Akt, der die gesamte Gemeinde betraf. Der Sünder, der sich durch seine Verfehlung aus der Gemeinschaft selbst ausgeschlossen hatte, wurde durch die Rekonziliation wieder in die Gemeinde aufgenommen, die ihn während der Bußzeit fürbittend und helfend begleitet hatte. Insgesamt war die Intention der öffentlichen Buße weniger Strafe, Demütigung oder Bloßstellung des Sünders, sondern das Hervorheben der gemeinsamen Verantwortung der gesamten Gemeinde für den Sünder.19 Die allgemeine 14 Vgl. Campenhausen, Amt, 238f. 15 Vgl. Jungmann, Bußriten, 44; Poschmann, Buße, 48; Messner, Feiern, 90. 16 Tertullian beschreibt in „De paenitenita“ das Bußinstitut, wie es sich relativ früh in Nordafrika entwickelt hatte. Dabei füllt er den Begriff der Exhomologese, der gottesdienstlichen Bekenntnishandlung, theologisch ganz neu und verwendet ihn als Terminus für das kanonische Bußverfahren (vgl. Messner, 68f, 89ff). Exhomologesis ist nicht mehr nur ein verbaler Akt, sondern vielmehr Genugtuung durch Bußleistungen, die sündentilgende Kraft besitzen. Genugtuung wird durch die exhomologesis bewirkt, aus der exhomologesis entsteht die Reue („De paenitentia“ 9,2), vgl. Poschmann, Buße, 23ff. 17 Vgl. Baus, Karl: Die frühchristliche Großkirche. HKG( J) 1 (1963), 375f. 18 Baus, Großkirche, 388. 19 Vgl. Poschmann, Buße, 45.

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Auffassung, dass nach der Taufe nur einmal die Möglichkeit der öffentlichen Buße gegeben sei,20 sollte in der Zukunft schwerwiegende Folgen für das Bußinstitut haben. Eine neue Situation entstand, als nach der öffentlichen Anerkennung des christlichen Glaubens am Anfang des 4. Jh. ein rasches Wachstum der Gemeinden einsetzte und die Kirche in der Diaspora zu einer Massenkirche und schließlich zur Staatskirche wurde. In Anbetracht der Nichtwiederholbarkeit der Buße schreckten viele Katechumenen vor den Konsequenzen der Taufe zurück und zogen es vor – gar nicht so selten bis kurz vor ihrem Tod – im Katechumenat zu bleiben.21 Die Katechumenen mussten ermahnt werden, sich in das Register der Taufbewerber aufnehmen und taufen zu lassen.22 „Mit dem Abschluß der Christianisierung der Mittelmeervölker und der nun fast ausschließlich praktizierten Kindertaufe fand auch diese Form des Katechumenats ihr Ende.“23 Die Folge war eine noch bedrückendere Macht der öffentlichen Buße. Die Bußzeit konnte je nach Bewertung der Sünde mehrere Jahrzehnte oder mitunter lebenslang dauern. Sie setzte die öffentlichen Büßer großen psychischen Belastungen nicht nur dadurch aus, dass jene – ähnlich wie die Katechumenen – nur noch am Wortgottesdienst teilnehmen durften,24 sondern ein Versagen innerhalb der Zeit der Buße zum völligen Ausschluss führte und sogar nach erfolgter Rekonziliation soziale Benachteiligungen bestehen blieben.25 Dennoch hielt die Kirche an ihrer strengen Bußdisziplin und dem Grundsatz der einmaligen öffentlichen Buße fest.26 Die strengen Forderungen wurden vor allem zwischen dem 4. und 6. Jh. durch „canones“ verschiedener Synoden und Bußbriefe verbindlich festgelegt, weshalb von diesem Zeitpunkt an von der „kanonischen Buße“ gesprochen wird.27 20 Diese Auffassung setzte sich wahrscheinlich im Anschluss an die einseitige Interpretation der Prophetie des Hermas durch. Vgl. Campenhausen, Amt, 239ff. 21 Dies wird z. B. auch von Ambrosius von Mailand berichtet, der noch Katechumene war, als ihn die Volksmenge bat, das Bischofsamt zu übernehmen. Vgl. Moreschini, Claudius: Ambrosius von Mailand. In: Gestalten der Kirchengeschichte/hg. von Martin Greschat. Bd. 2: Alte Kirche II. Stuttgart/Berlin u. a. 1984, 102. 22 Vgl. Baus, Liturgie, 304. 23 Baus, Liturgie, 305. 24 Im Osten gab es gewisse Abstufungen im Grad der Teilnahme der Büßer an der gottesdienstlichen Versammlung. Vgl. Gy, Buße, 105; Messner, Feiern, 97f. Im Westen wurden die öffentlichen Büßer nicht aus dem Gottesdienstraum entlassen. Der Kommunionempfang blieb aber auch ihnen verwehrt, und es war ihnen ein fester Platz im Kirchenraum zugewiesen. Vgl. Messner, Feiern, 101f. 25 So waren beispielsweise lebenslang keine Heirat und kein ehelicher Verkehr gestattet. Es durften keine öffentlichen Ämter bekleidet oder bestimmte Berufe ausgeübt werden. Vgl. Baus, Liturgie, 310; Messner, Feiern, 116ff. 26 Vgl. Poschmann, Buße, 54ff. 27 Vgl. Poschmann, Buße, 43.

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Die deutliche Verrechtlichung, die offenbar römischem Wesen entsprach, führte ebenso wie die Erstarrung des Bußinstituts schließlich die kanonische Buße in eine schwere Krise. Schon zu Tertullians Zeiten hatte die in der öffentlichen Buße doch tief empfundene Demütigung „sehr viele“28 abgeschreckt. Nun wurde die kanonische Buße – manchmal sogar auf Anraten des Klerus29 – wegen ihrer schweren Durchführbarkeit, ähnlich wie früher das Katechumenat, möglichst lange aufgeschoben und diente bald nur noch der Vorbereitung auf den Tod.30 Mit dieser Entwicklung war auch ein Wandel ihrer Bewertung verbunden. Galt die öffentliche Buße vorher als Einzelmaßnahme für den Fall schwerer Sünde, so wurde sie nun immer mehr zu einer allgemeinen Frömmigkeitsübung vor dem Sterben.31 Nachdem sich im 4. Jh. die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern (Quadragesima) durchgesetzt hatte,32 verbanden sich die liturgischen Riten von Katechumenat und kanonischer Buße immer stärker mit dieser Zeit.33 Im Allgemeinen wurden die öffentlichen Sünder am Mittwoch nach Quinquagesima, dem späteren Aschermittwoch, in den Büßerstand (ordo paenitentium) aufgenommen.34 Während der Buß- und Fastenzeit galt ihnen die besondere Aufmerksamkeit der Gemeinde. „Bei jeder Messe legte ihnen der Bischof die Hände auf und sprach ein Gebet über sie, und die ganze Gemeinde betete für sie in den Fürbitten (oratio fidelium). Wo die Büßer vor dem Offertorium entlassen wurden, da segnete sie der Bischof und verrichtete ein bestimmtes Gebet für sie.“35 Wenn Büßer wieder in die volle kirchliche Gemeinschaft aufgenommen wurden, dann geschah das mit geringfügigen regionalen Unterschieden stets kurz vor Ostern.36 Der Bischof hielt eine Ansprache und erflehte wieder unter Handauflegung für jeden Büßer Gottes Erbarmen.37

28 „plerosque“ (De paenitentia 10,1), vgl. Tertullian: De paenitentia. De pudicitia/ hg. von Erwin Preuschen. Tübingen 21910, 14. 29 Vgl. Messner, Feiern, 119. 30 Vgl. Poschmann, Buße, 56f. 31 Vgl. Poschmann, Buße, 57. 32 Vgl. Hall, Stuart George/Crehan, Joseph H.: Art. „Fasten/Fasttage III. Biblisch und Kirchenhistorisch“, TRE 11 (1983), 51; Jungmann, Bußriten, 11. 33 Vgl. Jungmann, Bußriten, 13. 34 Vgl. Gy, Buße, 104f. Jungmann geht davon aus, dass dieser Eröffnungsritus zunächst fünf Tage später, am Montag nach dem ersten Fastensonntag stattfand, vgl. Jungmann, Bußriten, 48ff. Dies würde mit der Genese der Fastenzeit übereinstimmen, vgl. Bieritz, Karl-Heinrich: Das Kirchenjahr. Berlin 1986, 92f. 35 Gy, Buße, 105. 36 In Rom und Mailand erfolgte die Aufnahme am Gründonnerstag, in Spanien am Karfreitag zur Sterbestunde Christi. Die Teilnahme an der österlichen Kommunion war damit ermöglicht. Vgl. Gy, Buße, 106f. 37 Vgl. Gy, Buße, 107f.

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Das Prinzip der Nichtwiederholbarkeit der Buße38 hatte die Institution der kanonischen Buße in eine Sackgasse geführt, ihre strengen Forderungen versagten den Menschen ein brauchbares Bußinstitut. Zusätzlich vollzog sich allmählich eine Umdeutung des Bußverfahrens. Die herausgehobene Rolle des Amtsträgers bei der Rekonziliation drängte die Funktion der Gemeinde in der Versöhnungshandlung in den Hintergrund.39 Mit der Aufschiebung der Buße aufs Sterbebett kam den sühnenden Werken bei Lebenszeit eine größere Bedeutung zu.40 So wurde einem neuen Bußinstitut der Weg bereitet. Eine solche Einrichtung sollte auf dem europäischen Festland vor allem mit der Missionstätigkeit keltischer Mönche seit dem Ausgang des 6. Jh. bekannt werden.41 Die keltische Kirche unterschied sich ganz wesentlich von der des Festlandes, denn infolge ihrer Abgeschlossenheit hatte sie sich viele Eigenheiten bewahren können.42 So war ihre Struktur monastisch organisiert, zwischen Klöstern und Laien gab es vielfältige Verbindungen – auch seelsorgerlicher Art.43 Wahrscheinlich wurde auf diesem Weg die unter den Mönchen gepflegte regelmäßige Laienbeichte nachhaltiger auf das Volk ausgedehnt, als das woanders der Fall war.44 Die nichtwiederholbare kanonische Buße war den Kelten unbekannt.45 Damit entstand ein Institut der privaten Buße, in dem vor einem Mönch das Sündenbekenntnis abgelegt wurde, der daraufhin eine Bußleistung erteilte. Die Bemessung der Bußleistungen erfolgte kasuistisch, wobei man sich an Festlegungen in verschiedenen Bußbüchern orientierte.46 Eine liturgisch geordnete Rekonziliation nach Ausführung der Bußleistungen gab es nicht.47 Es ist nur zu verständlich, dass die keltischen Mönche, die während ihrer asketisch gedachten peregrinatio unter den oft zwangsbekehrten fränkischen Stämmen noch viel heidnisches Brauchtum vorfanden, Buße

38 Dies gilt zumindest im Westen für lange Zeit, vgl. Messner, Feiern, 117. 39 Vgl. Messner, Feiern, 115f. 40 Vgl. Messner, Feiern, 117ff. 41 Vgl. Poschmann, Buße, 65ff. 42 Bei der Christianisierung Irlands hatte man die kirchliche Organisation nicht auf Strukturen der spätrömischen Reichsorgansation aufbauen können. Die dezentrale politische Struktur Irlands und starke kulturelle Widerstände sorgten dafür, dass die großen Klöster zu Zentren der irischen Kirche wurden. Erst im 12. Jh. erhielt Irland eine Diözesanverfassung. Vgl. Bradshaw, Brendan: Art. „Irland“, TRE 16 (1987), 273ff. 43 Vgl. Ewig, Eugen: Die Anfänge des Christentums in Irland und Schottland. HKG( J) 2/2 (1975), 100f.; Messner, Feiern, 63ff. 44 Das trifft zumindest für den Westen zu. In den Kirchen des Ostens wurden die Mönchsbeichte sowie die geistliche Führung durch Mönche von vielen Laien in Anspruch genommen. Vgl. Messner, Feiern, 134ff. 45 Vgl. Poschmann, Buße, 66. 46 Vgl. The Irish Penitentials/hg. von Ludwig Bieler. Dublin 1963. (SLH; 5) 47 Vgl. Messner, Feiern, 164.

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predigten und das ihnen vertraute Bußinstitut gebrauchten.48 Dass sich die neue Art der privaten Buße in der gallischen Kirche etablierte, geht aus vielen fränkischen Bußbüchern seit dem 8. Jh. hervor, die neben kanonischen Quellen aus dem Material keltischer und angelsächsischer Bußordines schöpften.49 Die große Akzeptanz der wiederholbaren privaten Buße auch für schwere Sünden erklärt sich u. a. aus den im Vergleich zur kanonischen Buße relativ milden Bußleistungen.50 Karolingische Reformsynoden bemühten sich zwar später, die öffentliche Buße wieder zu beleben,51 doch ihr Charakter war verändert, sie blieb in der Zukunft die Ausnahme und stellte oft eine Zwangsmaßnahme dar.52 Liturgische Umgestaltungen betonten dabei das Ausstoßen der Büßer aus der kirchlichen Gemeinschaft.53 Die Buße war – auch für schwere Sünden – wiederholbar geworden, aber sie wurde nicht mehr getragen von der Fürbitte der Gemeinde. Während bei der öffentlichen Buße die Unterstützung des Büßers durch die ganze Gemeinde im Vordergrund stand, verlagerte sich nun der Schwerpunkt auf Bestrafung und Individualisierung der Buße. Es war der Grund dafür gelegt, dass das exakte Erfüllen einer Bußleistung wichtiger erscheinen konnte als tiefgreifender Sinneswandel. Besondere Bedeutung kam in der privaten Buße dem Bekennen der Sünde zu, woraus sich der veränderte Sprachgebrauch für confessio seit dem 8. Jh. erklärt. Das gesamte Bußinstitut zog die Bezeichnung an sich, die bisher dem Sündenbekenntnis allein vorbehalten gewesen war.54

48 Vgl. Poschmann, Buße, 70f. 49 Vgl. Poschmann, Buße, 71; Die Bussordnungen der abendländischen Kirche/ hg. von F[riedrich] W[ilhelm] H. Wasserschleben. Halle/S. 1851, 13. [Nachdruck: Graz 1958] 50 Vgl. Poschmann, Buße, 70f; Poschmann, Mittelalter, 8ff. Die Erklärung Dallens, der die Ursache dieser Erscheinung darin sieht, dass sich keltische und teutonische Mentalität insofern ähnelten, als bevorzugt etwas durch das Vollbringen heroischer Taten erreicht wurde, ist weniger einleuchtend. Diese Möglichkeit bestand eher im Rahmen der kanonischen Buße. Vgl. Dallen, Community, 106. 51 Dabei begegnet im 9. Jh. die Minimalforderung, öffentliche Sünden öffentlich zu büßen, heimlich begangene Sünden in der Ohrenbeichte zu bekennen. Vgl. Messner, Feiern, 121. 52 Poschmann sieht diese Annahme u. a. von Quellen bestätigt, die über das Einschließen der Büßer von Aschermittwoch bis Gründonnerstag, z. B. in einem Kloster, berichten. Vgl. Poschmann, Buße, 72f. 53 In Analogie zur Vertreibung aus dem Paradies werden die Büßer aus der Kirche vertrieben. Das spiegelt sich in den Texten der Gebete und Ansprachen wider. Die Liturgie wird dramatisch gestaltet und ausgeschmückt. Vgl. Gy, Buße, 108f. Reste der öffentlichen Buße erhielten sich bis zum Ende des 17. Jh. , vor allem in Frankreich. Vgl. Messner, Feiern, 129f. 54 Vgl. Poschmann, Buße, 73f.

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1.2. Entwicklungen seit der Karolingerzeit 1.2.1. Geschichte der Offenen Schuld Ursprünglich hatte die Privatbuße keinen Rekonziliationsakt enthalten.55 Nach dem privaten Sündenbekenntnis hatte der Beichthörende Bußauflagen erteilt und den Beichtenden mit dem Büßersegen entlassen.56 Später vollzog sich die Privatbuße dann in zwei Schritten. Erst nachdem zumindest ein Teil der Bußleistung erfüllt worden war, konnte die Versöhnung erfolgen.57 Seit dem Ende des 9. Jh. wurde es Brauch, auch private Büßer und irgendwann die gesamte Gemeinde in Form einer Generalabsolution in die Rekonziliation am Gründonnerstag (s. o. 30) einzubeziehen.58 Die praktische Schwierigkeit der Trennung von Sündenbekenntnis und Rekonziliation führte aber schließlich zum Zusammenlegen beider Akte und zur Erteilung der Absolution vor Ableistung der Buße. Dennoch wurde diese bischöfliche Absolution für die gesamte Gemeinde in der Gründonnerstagsliturgie weiterhin praktiziert und kann als ein Markstein auf dem Weg zur „Offenen Schuld“ im Gottesdienst betrachtet werden.59 Die Generalabsolution wurde auf ein allgemeines Sündenbekenntnis der Gemeinde erteilt, das sich Evangelium und Predigt anschloss.60 Bald beschränkte sich die bischöfliche Generalabsolution nicht mehr auf Gründonnerstag, sondern fand auch zu besonderen festlichen Anlässen statt.61 Es war nur eine Frage der Zeit, dass dieses ursprünglich bischöfliche Privileg schließlich auf den niederen Klerus übertragen und 55 Vgl. Messner, Feiern, 169ff. 56 Vgl. Jungmann, Bußriten, 143ff. 57 Dabei kam anfangs eine Rekonziliation nur für schwere Sünden in Frage, bei leichten Sünden wurde wie in der Laienbeichte nur eine Bußleistung auferlegt. Vgl. Poschmann, Buße, 76f. 58 Vgl. Poschmann, Buße, 77. 59 Vgl. Messner, Feiern, 76, 81f, 130f. 60 Vgl. Hautkappe, Beichten, 121. 61 Zur Einweihung der Abteikirche des heiligen Remigius in Reims 1049 nahm Papst Leo IX. das allgemeine Sündenbekenntnis des Volkes entgegen und sprach darauf die Generalabsolution. Vgl. PL 142, 1430 u. 1438. Auf einer Synode in Clermont im Jahr 1095 erhielten die Versammelten, nachdem Kardinal Gregorius ein allgemeines Sündenbekenntnis gesprochen hatte, Generalabsolution und Segen. „His ita completis, unus ex cardinalibus, nomine Gregorius, pro omnibus terrae prostratis dixit confessionem suam, et sic omnes pectora sua tundentes, impetraverunt de his quae male commiserant absolutionem, et facta absolutione, benedictionem […]“ PL 155, 673 B. („Dies wurde so vollzogen: Einer der Kardinäle, Gregorius mit Namen, sprach vor allen, die sich auf die Erde niedergeworfen hatten, sein Sündenbekenntnis. Und während sich alle so an die Brust schlugen, erwirkten sie eine Absolution von den Dingen, die sie in Bosheit begangen hatten, und nach erteilter Absolution den Segen.“ e. Ü.).

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zu einem viel geübten Brauch in der Pfarrmesse wurde.62 Diese Änderung scheint sich im 11. Jh. vollzogen zu haben. Aus dem Brief eines Speyrer Klerikers an den Kölner Erzbischof lässt sich jedenfalls schließen, dass um die Mitte des 11. Jh. die priesterlichen Generalabsolutionen nicht überall bekannt waren und wohl auch Anlass zu Missverständnissen boten.63 Der Kleriker führt Beschwerde darüber, dass Priester unverzüglich auf das allgemeine Sündenbekenntnis des Volkes die Absolution mit einer Leichtigkeit erteilten, wie sie von finanziellen Schulden vielleicht nicht einmal einen geringfügigen Betrag erlassen würden.64 Er empfindet diese Absolutionen als unzulässige Neuerung, die das Volk täuschten.65 Die Erwiderung des Kölner Erzbischofs ist uns unbekannt. Einige Formulare für allgemeine Beichten enthalten jedoch Hinweise auf das rechte Verständnis dieser Art von Beichte und Absolution. Nicht von Anfang an scheint sicher gewesen zu sein, welche Sünden diese allgemeine Beichthandlung tilgen konnte. So betont in der ersten 62 Aus dem Traktat „De officiis ecclesiasticis“ des Johannes von Avranches (11. Jh.) geht hervor, dass die Generalabsolution von Priestern vollzogen wurde, wenn kein Bischof zur Verfügung stand. „Ipso die hora sexta populus ad ecclesiam conveniat. Si episcopus fuerit, convocatio poenitentium, et absolutio, chrismatis et olei consecratio, juxta episcopalem ritum ordinetur: ubi vero defuerit, in primis tam clerus quam populus prostrati in terra cum lacrymis et gemitu absolutionem criminum a majori sacerdote accipiant […]“ PL 147, 49A. („Am gleichen Tag soll sich das Volk zur sechsten Stunde in der Kirche versammeln. Wenn ein Bischof da ist, sollen das Zusammenrufen der Büßer, die Absolution und die Weihe des Salböls und des Ölgefäßes gemäß dem bischöflichen Ritus geordnet werden. Wo er aber fehlt, sollen besonders der Klerus so wie das Volk, die sich auf die Erde niedergeworfen haben, mit Weinen und Seufzen von einem höheren Priester Vergebung der Schuld empfangen.“ e. Ü.) 63 Vgl. Thalhofer, Valentin: Vom Pronaus, speciell von den an die Pfarrpredigt sich anschließenden Gebeten und Verkündigungen. ThPQ 38 (1885), 36. Vgl. Heinz, Andreas: Die deutsche Sondertradition für einen Bußritus der Gemeinde in der Messe. LJ 28 (1978), 194ff. 64 Vgl. PL 151, 693f. Vgl. Thalhofer, Pronaus, 36. 65 „[…] nec ita dicendum: ‚Dimittat tibi Dominus peccata tua, et ego tibi dimitto,‘ nisi forte familiaris sit injuria, quae sacerdoti ipsi a reo sit illata. De tali utique peccato fidenter dicere potest: ‚Indulgeat tibi Dominus et ego.‘ Sed quemadmodum nemo ita justus, nemo ita sanctus est, ut dicere ipse praesumat: ‚Ego justus sum ego sum sanctus,‘ sic et multo magis cavenda est haec blasphemia in Spiritum sanctum, cujus proprium opus est remissio peccatorum, ne quisque homo homini dicere audeat: ‚Ego peccata tua dimitto.‘“ PL 151, 696 B. („Man darf aber nicht so sprechen: ‚Der Herr vergebe dir deine Sünden und ich vergebe dir‘, wenn es nicht gerade bekanntes Unrecht ist, das dem Priester selbst von dem Schuldigen zugefügt wurde. Von einer solchen Sünde kann man durchaus zuversichtlich sagen: ‚Es vergebe dir der Herr und ich.‘ Aber so wie niemand so gerecht, niemand so heilig ist, dass er sich selbst anmaßt zu sagen: ‚Ich bin gerecht, ich bin heilig‘, so und viel mehr muss man sich vor dieser Lästerung des Heiligen Geistes hüten, dessen ihm zugehöriges Werk die Vergebung der Sünden ist, damit nicht jeder Mensch sich erdreistet, einem Menschen zu sagen: ‚Ich erlasse dir deine Sünden.‘“ e. Ü). Vgl. Messner, Feiern, 172.

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Hälfte des 12. Jh. Honorius Augustodunensis in seinem „Speculum Ecclesiae“, dass das allgemeine Sündenbekenntnis nur für bereits gebeichtete oder unwissentlich begangene Sünden gelte. Schwere Sünden müssten, sofern sie öffentlich begangen worden seien, öffentlich gebüßt, ansonsten vor dem Abendmahlsempfang dem Priester gebeichtet werden.66 Noch im 12. Jh., bevor der Sakramentsbegriff in der Hochscholastik ausgebildet und die Ohrenbeichte mit indikativer Absolution allein als sakramentale Beichte anerkannt wurde, galt zumindest für lässliche Sünden das allgemeine Sündenbekenntnis und die darauf erteilte Generalabsolution in Form des Indulgentiam als sakramental (s. u. 42f).67 Schwere Sünden mussten weiterhin in der Ohrenbeichte bekannt werden. Das öffentliche Bußinstitut war für diejenigen Pönitenten verbindlich, deren schwere Sünden öffentlich bekannt waren. In großer Ähnlichkeit zu Honorius’ Ausführungen folgt dem Indulgentiam einer Offenen Schuld, die sich in einer Handschrift des 12. Jh. aus Benediktbeuren findet, folgende Ermahnung: „Vil guoten liute, so getaniu bîhte hilfet einigenote die ir bihte tougliche habent getan unde die ouch tougeliche suntint. die auer offenlich habent gesuntit, die schuln ouch offenlich buozzen. houbthafte sunde heizzint die, die charrîne unde iâruasten nach vuorente sint, also sint manslahte, uberhuor, sippehuor. swelhe die sint, die houpthafte sunte habent getân unde noch der christenheit niht ze wizzene sint getan, den râtin wir, also vater kinde râtin sol, daz si zuo ir pharrari chomin unde im îr nôt chlagen. swie getane buozze si da uon ir ewarte enphahent, leistint si, daz er in gebiutet, unde geâuernt si iz denne niht mêr, si sint in uor gôt uergebin.“68 („Ihr demütigeren Sünder, eine so abgelegte Beichte hilft einzig und allein denen, die ihre Beichte heimlich getan und die auch heimlich gesündigt haben. Welche aber öffentlich gesündigt haben, die sollen auch öffentlich büßen. Todsünden heißen diejenigen [Sünden, T. B.], die nach der Fastenzeit und den jährlich wiederkehrenden Fasttagen begangen worden sind, das sind Mord, Ehebruch, Blutschande. Wenn irgendwelche sind, die Todsünden begangen haben und der Christenheit noch nicht bekannt sind, denen raten wir, wie ein Vater seinem Kind raten soll, dass sie zu ihrem Pfarrer kommen und ihm ihre Not klagen. Sobald sie die Buße getan haben, die sie von ihrem Priester auferlegt bekommen haben, wenn sie befolgen, was er ihnen gebie-

66 „ideo moneo vos, ut peccata quae publice gessistis, publice inde paenitentiam suscipiatis. quae autem occulte commisistis, occulte presbiteris vestris confessionem inde ante faciatis quam ad corpus domini accedatis.“ PL 172, 826. („Deswegen ermahne ich euch, dass ihr für die Sünden, die ihr öffentlich begangen habt, infolgedessen öffentlich Buße tut, die ihr aber im Verborgenen begangen habt, infolgedessen heimlich bei euren Priestern die Beichte ablegt, bevor ihr zum Leib des Herrn herantretet.“ e. Ü.) 67 Vgl. Jungmann, Josef Andreas: Missarum Sollemnia: Eine genetische Erklärung der Römischen Messe. 2 Bd. Wien 51962, 1, 398. 68 Zitiert nach: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler/hg. von Elias von Steinmeyer. Berlin 1916, 361. [Nachdruck: Dublin/Zürich 31971]

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tet, und sie es [die entsprechende Sünde, T. B.] dann nicht mehr wiederholen, so sind sie [die Todsünden, T. B.] ihnen vor Gott vergeben.“ e. Ü.)

Literaturwissenschaft und liturgische Forschung haben zu klären versucht, wie sich die seit dem 11. und 12. Jh. in relativ großer Zahl auftauchenden alt- und mittelhochdeutschen Texte für gottesdienstliche Beichthandlungen entwickelten und wo ihre Wurzeln liegen. Bereits in althochdeutschen Handschriften aus dem 9. Jh. liegen Beichtformeln vor, die denen der mittelhochdeutschen Periode sehr ähnlich sind. In der Tat konnte nachgewiesen werden, dass die meisten mittelhochdeutschen Beichttexte auf vorliegendes Traditionsgut zurückgriffen und ein liturgisches Erbe des 9. Jh. bewahrten.69 Die Annahme einer nahezu durchgängigen und ungebrochenen Tradition ließ sich allerdings nicht aufrechterhalten.70 Forschungen ergaben, dass sich eine deutsche „Urbeichte“ rekonstruieren lässt, aus der durch Zuwächse verschiedene Gruppen von Beichten entstanden.71 Offenbar wurden Teile einer lateinischen Vorlage kurz vor 800 im Kloster Lorsch ins Althochdeutsche übersetzt und fanden von dort aus im Zuge der Kirchenreformen Karls des Großen weite Verbreitung.72 Karl der Grosse hatte in der zweiten Hälfte des 8. Jh. die Klöster Lorsch und Fulda zu Königsklöstern erhoben73 und machte sie in der Folgezeit zu Zentren seiner liturgischen Reformen.74 Infolge territorialer Erweiterungen und verschiedener kultureller Einflüsse herrschte im Reich Karls eine große liturgische Vielfalt, die auch im Bemühen um die Herstellung einer inneren Ordnung des Reiches begrenzt werden musste.75 Politische Einsichten waren dabei sicher ebenso maßgebend wie das Selbstverständnis 69 „Bei diesen vielfachen Umgestaltungen sind die ererbten Formeln niemals völlig vernichtet worden; vielmehr haben ein Kerngehalt und ein Formschema die Jahrhunderte überdauert.“ Zimmermann, Charlotte: Die deutsche Beichte vom 9. Jahrhundert bis zur Reformation. Weida 1934. Leipzig, Univ., phil. Diss. , 1. 70 Baesecke konstatierte zum ersten Mal eine ununterbrochene literarische Abhängigkeit von Beichtformularen aus der Zeit Karls des Großen bis ins 15. Jh. hinein und nahm davon nur die sog. Würzburger sowie die Bamberg-Wessobrunner Beichte aus (bei Steinmeyer Nr. XLIV und XXVIII). Vgl. Baesecke, Georg: Die altdeutschen Beichten. BGDS 49 (1925), 268ff. 71 Die umfangreichste Gruppe besteht aus 21 eng miteinander verwandten Beichten. „Sie gehören einer ununterbrochenen, vom 9. […] bis zum 15. Jh. […] reichenden Traditionskette an.“ Eggers, Hans: Art. „Beichtformel“, RDL2 1 (1958), 142. 72 Eggers nimmt an, dass die Vorlage der „Urbeichte“ in dem lateinischen Text zu suchen ist, der im Lorscher Cod. Pal. 485 vor der althochdeutschen Lorscher Beichte steht. Vgl. Eggers, Beichtformel, 142. 73 Vgl. Ewig, Eugen: Die Abrundung des fränkischen Großreichs. HKG( J) 3/1 (1966), 72. 74 Vgl. Eggers, Beichtformel, 142. 75 Vgl. Ewig, Eugen: Die Reform von Reich und Kirche und der Beginn der karolingischen Renaissance. HKG( J) 3/1 (1966), 85; Jungmann, Josef Andreas: Sakramente und Gottesdienst. HKG( J) 3/1 (1966), 342ff.

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des Herrschers als „Gubernator omnium Christianorum“.76 Zudem hatte sich gegen Ende des 8. Jh. die Überzeugung durchgesetzt, dass das wichtigste Mittel von Mission nicht mehr Gewalt, sondern christliche Unterweisung sein müsse.77 Aus diesen Gründen wurde die Liturgie auf der Grundlage römischer Formulare vereinheitlicht, und die Geistlichen wurden dazu angehalten, mit der Predigt erzieherisch auf das Volk einzuwirken.78 Damit diesen Bemühungen Erfolg beschieden war, musste die Predigt in der Volkssprache gehalten werden.79 Zweckmäßigerweise hatte man sich auch bei allen katechetischen Aufgaben der Landessprache zu bedienen.80 Auf diese Weise entstanden neben Predigtsammlungen81 vor allem liturgische Formulare in deutscher Sprache (s. u. 38), die zusätzlich zu ihren gottesdienstlichen oft katechetische Funktionen hatten. Dennoch lässt sich nicht nachweisen, dass die althochdeutschen Beichttexte bereits im 9. Jh. als Offene Schuld im Gottesdienst Verwendung fanden,82 wie dies für mittelhochdeutsche Texte als sicher gilt. Man schließt den gottesdienstlichen Gebrauch der Beichtformeln aus ihrer Zusammenstellung mit anderen liturgischen Texten sowie mit Predigtsammlungen und besonders aus pluralischen Anreden bzw. Aufforderungen durch den Priester, die sich somit an eine Gemeinde richten müssen.83 Beispielsweise 76 Vgl. Ewig, Eugen: Vom Regnum Francorum zum Imperium christianum. HKG( J) 3/1 (1966), 102. In der „Admonitio generalis“ von 789 „erscheint Karl als Kirchenreformer nach dem Vorbild von Israels König Josias, der das ihm von Gott verliehene Reich circumeundo, corrigendo, ammonendo zur wahren Religion zurückzuführen bestrebt war.“ Ewig, Reform, 84. 77 Das wurde u. a. 796 von einer bayrischen Synode festgelegt, vgl. Ewig, Regnum, 100. 78 So z. B. in der „Admonitio generalis“, vgl. Ewig, Reform, 85. Credo und Paternoster waren von den Gläubigen auswendig zu lernen, vgl. Ewig, Reform, 90. 79 Das verlangten z. B. die Reformsynoden von 813 und die Mainzer Synode von 847, vgl. Jungmann, Josef Andreas: Klerus und Seelsorge. HKG( J) 3/1 (1966), 355. 80 Vgl. Ewig, Reform, 90. 81 Cruel weist darauf hin, dass Predigten in lateinischer Sprache bereits zu Zeiten der iroschottischen Mission nur in klerikalen Kreisen gehalten wurden. Vgl. Cruel, Rudolf: Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter. Detmold 1879, 8f. [Nachdruck: Darmstadt 1966]. Lateinische Predigten wurden in die Landessprache übersetzt, wenn man sie als Volkspredigt hielt. Vgl. Cruel, Predigt, 16, 35ff, 258. 82 Hauck schließt aus dem angenommenen hohen Alter zweier altslawischer Beichtformeln, die als Übersetzung eines deutschen Textes gelten (Vgl. Hauck, Albert: Kirchengeschichte Deutschlands. Bd. 2. Berlin 91958, 479), dass „die Ausbildung dieser gottesdienstlichen Form dem neunten Jahrhundert angehört.“ Hauck, Kirchengeschichte, 2, 755. Dagegen kann Baesecke die altslawischen Übersetzungen frühestens dem Anfang des 12. Jh. zuordnen, vgl. Baesecke, Beichten, 353. Selbst wenn die Texte sehr alt wären, wäre damit noch nichts über ihren Gebrauch ausgesagt. 83 Heinz zählt zu den im Gemeindegottesdienst verwendeten Formeln nur „Sangaller Glauben und Beichte II“, „Süddeutscher (Münchner) Glauben und Beichte“, „Wessobrunner Glauben und Beichte II“ und „Benediktbeurer Glauben und Beichte III“ (vgl. Sprachdenkmäler, 341ff), vgl. Heinz, 198, Anm. 16. Unzweifelhaft gehören dazu aber

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steht die Absolutionsformel der sog. „Sangaller Beichte I“ vom Anfang des 11. Jh. (s. Anh. Nr. 1) im Plural: „Unter der Bedingung gewähre ich euch Ablass […] aller eurer Sünden.“84 Im Unterschied dazu finden sich bei den meisten althochdeutschen Beichttexten allenfalls singularische Anredeformen,85 was den Schluss zulässt, dass diese Texte „für den Gebrauch des einzelnen“ bestimmt waren.86 Die lateinischen Einleitungen mancher Beichttexte weisen auf deren Verwendung in der Ohrenbeichte hin.87 Es kann nur vermutet werden, welche Aufgabe die althochdeutschen Beichten im Zusammenhang mit der Ohrenbeichte hatten. Eine Schwierigkeit ist, dass sie einerseits umfangreiche Kataloge spezieller Sünden noch „Sangaller Glauben und Beichte I“, vgl. Sprachdenkmäler, 340f (s. Anh. Nr. 1). Zimmermann rechnet zu dieser Kategorie noch weitere von Steinmeyer abgedruckte Sprachdenkmäler, z. B. „Sangaller Glauben und Beichte III“, „Benediktbeurer Glauben und Beichte I und II“, sowie „Alemannischer Glauben und Beichte“, vgl. Zimmermann, Beichte, X. 84 Sprachdenkmäler, 340, 13ff. Vgl. Zimmermann, Beichte, 3. Die Ansprache vor „Sangaller Glauben und Beichte II“ (12. Jh.) richtet sich ebenso an eine Versammlung von Gläubigen („O geloubigin liute, ir der pruodere unte swestere in gote genennet pird […]“, Sprachdenkmäler, 341, 23ff) wie die nachfolgende Absolutionsformel („habent îr diz getan míttér innikheit iures muotes […]“, Sprachdenkmäler, 344, 7ff). Ähnlich verhält es sich mit der mittelhochdeutschen Aufforderung zum Sprechen von Glaubensbekenntnis und Beichtformel der sog. „Süddeutschen (Münchner) Glauben und Beichte“ aus dem 12. Jh. („Nu sprechet nach mir […]“, Sprachdenkmäler, 346, 15) und der auf die Beichte folgenden lateinischen Absolutionsformel („Misereatur uestri omnipotens deus et dimittat uobis omnia peccata uestra […]“, Sprachdenkmäler, 348, 71ff) sowie einem Verbindungstext zwischen den sog. „Wessobrunner Glauben und Beichte II“, ebenfalls 12. Jh. („Dizze ist der heilige gloube, der ain bischirmidi iu sîn schol […]“, Sprachdenkmäler, 355, 20ff). Auch die Ansprachestücke der sog. „Benediktbeurer Glauben und Beichte III“ (12. Jh.) sind im Plural verfasst („Mit disem glouben schult ir leben, da mit sult ir sterben […]“, Sprachdenkmäler, 357, 20ff). 85 So ist die Absolutionsformel der „Lorscher Beichte“ (letztes Viertel des 9. Jh.) im Singular verfasst („Dominus custodiat te ab omni malo […]“, Sprachdenkmäler, 324, 46ff), das Bruchstück der sog. „Vorauer Beichte“ (10. Jh.) enthält die singularische Beichtaufforderung: „Quid nu: Ih gihu gote almahtigin fatere […]“ (Sprachdenkmäler, 326, 4ff). 86 Zimmermann, Beichte, 3. 87 Z. B. im Cod. Vaticanum 3548 steht vor der sog. „Fuldaer Beichte“ (erste Hälfte des 11. Jh.) die Einführung „sacerdos inquirat eum diligenter et faciat confiteri delicta sua dicens […]“ (Hautkappe, Beichten, 111). („Der Priester soll ihn sehr sorgfältig verhören und ihn seine Vergehen beichten lassen, indem er sagt […]“ e. Ü.) Und in einer Handschrift des 9./10. Jh. wird die sog. „Pfälzer Beichte“ folgendermaßen eingeführt: „Quisquis tibi uoluerit confessionem facere, sinceriter interroga illum prius, si uoluerit omnem emendacionem de peccatis suis promittere, his dictis loquere ad illum.“ (Sprachdenkmäler, 331). („Wenn irgend jemand bei dir eine Beichte ablegen möchte, befrage ihn zuvor ernsthaft, ob er jede Besserung von seinen Sünden versprechen will – mit diesen Worten sprich zu ihm.“ e. Ü.).

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enthalten, andererseits nichts von der „Individualität des bekennenden Sünders sichtbar“ werden lassen.88 Es ist kaum denkbar, dass diese Texte, vom Beichtenden in der überlieferten Form aufgesagt, als vollwertige Beichte galten, denn die individuellen Sünden sollten nach verschiedenen Beichtordines vom Beichtvater erfragt werden.89 Man hat deshalb angenommen, dass die altdeutschen Beichtformeln als Mustertexte für die individuell abzulegende Ohrenbeichte verwendet wurden, denn die Sündenregister der althochdeutschen Formeln weisen auffällige Gemeinsamkeiten mit frühneuhochdeutschen Beichtspiegeln auf.90 Der Hauptgrund ihrer Überlieferung dürfte aber gewesen sein, dass die Ohrenbeichte mit einem allgemeinen Sündenbekenntnis beschlossen werden musste, damit die möglicherweise unvollständige Beichte vervollständigt würde.91 Die allgemeine Beichtformel wurde damit zu einer „Vervollkommnung und Ergänzung der speziellen Beichte“. Außerdem dienten die altdeutschen Formulare wohl als Gebete für die Herzensbeichte.92 Die Epoche, in der sich die Offene Schuld im Gottesdienst entwickelte (s. o. 33ff), konnte also auf überlieferte Formeln zurückgreifen und brauchte diese nur noch der neuen Funktion entsprechend umzugestalten. Ausführliche Sündenkataloge wurden reduziert, an ihre Stelle traten allgemeine Formulierungen über die Sündhaftigkeit des bekennenden Menschen.93 In der Beichtempfängerformel94 wurden zunehmend namentlich genannte Heilige angerufen.95 Das 12. Jh. bietet aber bei gleichem Grundmuster der Texte für die Offene Schuld bereits eine Vielfalt mit unterschiedlicher Akzentuierung. So finden wir sehr 88 Zimmermann, Beichte, 3. 89 Z. B. nach der „Pseudo-Beda’schen Bußordnung“ (vgl. Die Bussordnungen, 253ff) oder dem „Poenitenitale Sangermanense“ (vgl. Die Bussordnungen, 350ff) u. ö. 90 Vgl. Zimmermann, Beichte, 5ff; Hautkappe, Beichten, 107ff. 91 Morinus schreibt: „Itaque confessio illa generalis speciali praeposita sive postposita nihil aliud est quam confessionis specialis perfectio et complementum […]“ Morinus Johannes: Commentarius historicus de disciplina in administratione sacramenti Poenitentiae tredecim primis seculis in ecclesia occidentali et huc usque in orientali observata […] Antwerpen 1682, Anh. S. 55, zitiert bei Hautkappe, Beichten, 113. („Deshalb ist jene allgemeine Beichte, die der speziellen vorangestellt ist oder folgt, nichts anderes als die Vervollkommnung und Ergänzung der speziellen Beichte.“ e. Ü.) 92 Vgl. Hautkappe, Beichten, 13. 93 Vgl. Zimmermann, Beichte, 8ff. 94 Bei dem meist viergliedrigen Schema der Beichttexte nennt die Einleitung Gott, Heilige, Engel und den Priester als diejenigen, vor denen das Sündenbekenntnis abgelegt wird. Im zweiten Teil folgt die Aufzählung von Tat- und Gedankensünden, im dritten Teil Unterlassungssünden. Zum Schluss werden nochmals die Beichtempfänger angerufen, es wird um Vergebung gebeten und Besserung gelobt. Vgl. Eggers, Beichtformel, 141. 95 Zimmermann sieht darin eine Entlehnung aus der Litanei. Vgl. Zimmermann, Beichte, 9ff.

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knappe Formeln mit meist ganz allgemeiner Beschreibung der Sündhaftigkeit96 neben ausführlicheren Texten, die in besonderer Weise die Zerknirschung und Demütigung des Sünders deutlich werden lassen,97 und Texten der Offenen Schuld, die noch einen mehr oder weniger langen Sündenkatalog enthalten.98 Letzteres wirft die Frage auf, wie die Aufzählung konkreter Sünden in einem allgemeinen Sündenbekenntnis zu interpretieren ist. Diese absolute Sündenaufzählung lässt sich einmal im konditionalen Sinn deuten. Der Sünder bekennt sich schuldig für den Fall, dass er durch diese oder jene konkrete Tat gesündigt hat. Dabei sind die konkreten Sünden Ausdruck der menschlichen Sündhaftigkeit schlechthin.99 Eine andere Deutung berücksichtigt, dass die Offene Schuld von der Gemeinschaft der Gläubigen gesprochen wird. Auch wenn der Einzelne nicht alle Sünden begangen hat, finden sich die Einzelsünden summarisch in der christlichen Gemeinde als Gesamtheit.100 Eine dritte Erklärung ist die, dass der Sünder mit dem Bekennen nicht begangener konkreter Einzelsünden besondere Demut beweisen wollte.101 Ursprünglich hatte man angenommen, dass die Offene Schuld nach der Predigt zur Liturgie eines speziellen Beichtgottesdienstes gehörte.102 Aber bereits im vorletzten Jh. wurde diese Ansicht korrigiert und nachgewiesen, dass die Offene Schuld zusammen mit Absolution, Glaubensbekenntnis, Fürbittgebet und Vaterunser in der Landessprache Bestandteil der Pfarrmesse war.103 Die Reihenfolge der zum sogenannten „Pro-

96 Z. B. „Sangaller Beichte III“ (vgl. Sprachdenkmäler, 353), „Sangaller Beichte II“ (s. Anh. Nr. 3). 97 Z. B. „Süddeutsche (Münchner) Beichte“: „Herre Christ, gotes sun, ist dehein [irgendeine] sunte, die ich uermiten han, daz ist mere von dinen genaden denne von deheinen minen willen.“ Sprachdenkmäler, 347, 57ff. 98 Z. B. „Wessobrunner Beichte II“ (vgl. Sprachdenkmäler, 356, 39ff), „Benediktbeurer Beichte III“ (vgl. Sprachdenkmäler, 358, 56ff). 99 Diese Erklärung der Sündenkataloge trifft auch für die althochdeutschen Beichtformeln in ihrer Verwendung als Vervollkommnung und Ergänzung der speziellen Beichte zu. Vgl. Hautkappe, Beichten, 114 ff. 100 Vgl. Meyer, Hans Bernhard: Luther und die Messe : Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Meßwesen des späten Mittelalters. Paderborn 1965, 122, Anm. 6. (KKTS; 11) 101 Diese Intention kann nicht generell bei den Beichttexten unterstellt werden, obwohl sie bekannt war. Demut als Beweggrund für das Bekennen von nicht begangenen Einzelsünden wurde von verschiedenen Theologen abgelehnt, z. B. von Simon von Tournai. Vgl. Weisweiler, Heinrich: Die Bußlehre Simons von Tournai. ZKTh 56 (1932), 208f. 102 So z. B. Raumer, Rudolf von: Die Einwirkung des Christenthums auf die Althochdeutsche Sprache. Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen Kirche. Berlin 1851, 261f. [Neudruck: Walluf 1972] 103 Vgl. Cruel, Predigt, 220ff.

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naus“104 gehörigen Stücke war dabei nicht festgelegt,105 so dass sich ganz unterschiedliche Anordnungen finden.106 Am Ausgang des Mittelalters, als in Deutschland sehr oft in der Pfarrmesse nicht mehr gepredigt wurde (s. u. 48), bildete der Pronaus den liturgischen Kern des Predigtgottesdienstes.107

104 Die Etymologie des Ausdrucks „Pronaus“ für den landessprachlichen Teil der Messe wird in der Literatur unterschiedlich erklärt. 1706 leitete Martène den Begriff von der Predigt ab: „Hanc functionem, uti observat Cardinalis Bona, Galli Pronum sive praeconium vocant […]“ TRACTATUS | | DE ANTIQUA | | ECCLESIAE | | DISCIPLINA | | IN DIVINIS CELEBRANDIS OFFICIIS/hg. von Edmund Martène. Lugduni [Lyon] 1706, 61f. („Diese Verrichtung, wie Kardinal Bona beobachtet, nennen die Gallier Pronus oder praeconius […]“ e. Ü.) Thalhofer stellt 1885 eine völlig andere Erklärung vor. Danach leitet sich das Wort von der griechischen Bezeichnung des Raumes ab, in dem sich die gottesdienstliche Gemeinde versammelte, nämlich πρόναος. „[…] in pronao denuntiare hieß dem zum Gottesdienst versammelten Volke etwas verkünden […]; sofort bezeichnete man auch den Gegenstand solch öffentlicher Verkündigung – nämlich die Predigt und die mit ihr verbundenen Gebete und Promulgationen metonymisch als Pronaus.“ Thalhofer, 26. Die Frage nach der Herkunft des Ausdrucks scheint entschieden zu sein, seit Gastoué im Jahr 1927 die Erklärung von Thalhofer zurückwies und „prône“ bzw. „Pronaus“ wie Martène auf „praeconius“ (=Verkündigung) zurückführte. Vgl. Gastoué, Amédée: Les prières du Prône à Paris au XIVe siècle. QLP 12 (1927), 240. Dem schloss sich auch Jungmann an, vgl. MiS, 1, 623, Anm. 40. Vgl. Müller-Geib, Werner: Das Allgemeine Gebet der sonn- und feiertäglichen Pfarrmesse im deutschen Sprachgebiet: Von der Karolingischen Reform bis zu den Reformversuchen der Aufklärungszeit. Altenberge 1992, 47f. (MThA; 14). 105 Vgl. Cruel, Predigt, 221. 106 Bei Honorius folgen dem Vaterunser das Glaubensbekenntnis, die Offene Schuld und das allgemeine Kirchengebet (Cruel folgert aus den Anfangsworten der Fürbitten, dass diese ursprünglich am Beginn standen, vgl. Cruel, Predigt, 221). Sehr oft folgt die Offene Schuld auf das mit einer Abrenuntiationsformel verbundene Credo, manchmal steht die Offene Schuld aber auch vor dem Glaubensbekenntnis (s. u. Anm. 122). Die Stellung von Vaterunser und allgemeinem Gebet ist dagegen sehr variabel. So ist es kaum möglich, mit Cruel zu sagen, dass die Liturgie des Pronaus „für gewöhnlich“ eine bestimmte Form gehabt habe (vgl. Cruel, 222–225). „Nahm sich schon die lateinische Messe des Mittelalters in einzelnen Punkten eine heute unvorstellbare Freiheit heraus, wie viel mehr mußte erst der durch seine Sprache der strengen römischen Norm entzogene Predigtteil aller Gesetzlichkeit enthoben sein! Wir treffen je nach Kirchenprovinz und kasuellen Erfordernissen die verschiedensten Spielarten der Predigtliturgie an. Eine Vollständigkeit der von uns genannten Stücke wurde nirgends verlangt. Man ließ aus oder fügte ein, kürzte oder verlängerte nach Bedarf.“ Weismann, Eberhard: Der Predigtgottesdienst und die verwandten Formen. Leiturgia 3 (1956), 22f. 107 Er wurde mit einer lateinischen Segensformel eingeleitet. Vor der Predigt standen die Textverlesung lateinisch und deutsch, eine Salutatio, Bitte um den Segen für die Predigt und Angabe der Predigtgliederung. Zuweilen wurden noch deutsche Gemeindelieder, die sogenannten „Leisen“ (von „Kyrieleis“) gesungen. Vgl. Waldenmaier, Hermann: Die Entstehung der evangelischen Gottesdienstordnungen Süddeutschlands im Zeitalter der Reformation. Leipzig 1916, 4f. (SVRG; 125.126)

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Eine Wandlung vollzog sich auch in der Beurteilung der Sakramentalität von Generalabsolutionen im Zusammenhang mit allgemeinen Beichten. In der Tradition der Frühscholastik gewährte Gott allein die Vergebung der Sünden, die priesterliche Absolution wurde nur als Deklarationsakt der bereits erfolgten Sündenvergebung verstanden.108 Diese Auffassung wurde aber bereits von Bonaventura teilweise überwunden, indem er der deprekativen Absolution eine Wirkung ex opere operato auf die Sündenvergebung zuschrieb. Nach seiner Auffassung disponierte die deprekative Absolution die attritio (Furchtreue) zur contritio (Herzensreue). Die indikative Absolution bewirkte dagegen den Straferlass und die Versöhnung mit der Kirche. Am deutlichsten trug die theologische Arbeit Thomas von Aquins dazu bei, dass sich die indikative Absolutionsformel im Zusammenhang mit dem Bußsakrament durchsetzte.109 Ohrenbeichte und (indikative) Privatabsolution allein wurden als Bußsakrament für alle Sünden definiert, die allgemeine Beichte mit Generalabsolution wurde den Sakramentalien110 zugeordnet und nur als Möglichkeit für die Vergebung lässlicher Sünden betrachtet. Thomas definiert contritio, confessio und satisfactio – die Akte des Pönitenten – als materia des Sakraments, die priesterlichen Absolutionsworte als forma. Die Schlüsselgewalt des Priesters kommt dabei nur in der indikativen Absolution zum Ausdruck, nicht aber in der optativen oder deprekativen. Das bislang sakramental verstandene Indulgentiam wird künftig ebenso wie das Misereatur nur als Gebet um den Nachlass lässlicher Sünden betrachtet.111 Thomas räumt aber ein, dass zur Vergebung 108 Vgl. Messner, Feiern, 176ff. 109 Auf dem Konzil von Florenz 1439 wurde das Ego te absolvo auch kirchenrechtlich konstitutiv für das Bußsakrament. Vgl. Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum/hg. von Heinrich Denzinger u. Adolf Schönmetzer. Freiburg 341967, 1323. 110 Im Unterschied zu den Sakramenten, die ex opere operato wirken, entfalten die Sakramentalien ihre Wirkung ex opere operantis, nämlich aus dem Tun des (klerikalen) Spenders und des Empfängers. Durch den Glauben von Spender und Empfänger eignen sie Gottes Heil in einer zeichenhaften Handlung zu. Vgl. Koch, Günter: Art. „Sakramentalien“ In: Lexikon der katholischen Dogmatik/hg. von Wolfgang Beinert. Leipzig 1988, 449–451. 111 „Unde patet quod haec est convenientissima forma hujus sacramenti, ‚Ego te absolvo‘ […] Hujusmodi autem absolutiones in publico factae non sunt sacramentales: sed sunt orationes quaedam ordinatae ad remissionem venialium peccatorum. Unde in sacramentali absolutione non sufficeret dicere, ‚Misereatur tui omnipotens Deus‘, vel, ‚Absolutionem et remissionem tribuat tibi Deus‘; quia per haec verba sacerdos absolutionem non significat fieri, sed petit ut fiat.“ [„Daraus ergibt sich, daß dies die angemessenste Form dieses Sakramentes ist: ‚Ich spreche dich los.‘ […] Jene Lossprechungen dagegen, die öffentlich vorgenommen werden, sind nicht sakramentaler Art, sondern gewisse Gebete, welche die Nachlassung läßlicher Sünden zum Ziele haben. Bei der sakramentalen Lossprechung würde es also nicht genügen zu sagen: ‚Es erbarme sich deiner der allmächtige Gott‘ oder ‚Lossprechung und Verzeihung schenke dir Gott‘; denn mit diesen

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lässlicher Sünden das Bußsakrament nicht unbedingt nötig sei. Lässliche Sünden werden nach seiner Auffassung durch die in den Sakramenten geschenkte Gnade ebenso nachgelassen wie durch Tätigkeiten, die aus der Gnade hervorgehen und Abscheu des Menschen vor der lässlichen Sünde zeigen oder auch durch eine Regung der Ehrfurcht gegenüber Gott. Damit haben der Empfang der Sakramente sowie das Schlagen an die Brust oder das Beten des Vaterunsers eine ähnliche vergebende Wirkung wie die allgemeine Beichte.112 Der Pronaus mit der Offenen Schuld war offenbar so tief im liturgischen Gebrauch der Gemeinden verwurzelt, dass trotz der Neudefinierung des Bußsakraments die Tradition weiter gepflegt wurde und auch in den folgenden Jh. Texte für das allgemeine Sündenbekenntnis entstanden.113 Besonders in Süddeutschland muss sich dieser Brauch erhalten haben, doch auch im nördlichen Deutschland und in angrenzenden Gebieten kannte man die Offene Schuld.114 Seit dem 13. Jh. wurde für das Worten bezeichnet der Priester nicht, daß die Lossprechung wirklich geschieht, sondern bittet nur darum, daß sie geschehen möge.“ (Übersetzung der Deutschen Thomas-Ausgabe)] Thomas von Aquin: Summa Theologica. 36 Bd. Salzburg u. a. 1962, Bd. 31, 14f. (STh III q. 84, a. 3.) 112 „Et hoc modo per Eucharistiam et extremam unctionem, et universaliter per omnia sacramenta novae legis, in quibus confertur gratia, peccata venialia remittuntur. Secundo, inquantum sunt cum aliquo motu detestationis peccatorum. Et hoc modo confessio generalis, tunsio pectoris, et oratio Dominica operantur ad remissionem venialium peccatorum; nam in oratione Dominica petimus: ‚Dimitte nobis debita nostra.‘“ [„Und auf diese Weise werden durch Eucharistie und Letzte Ölung wie überhaupt durch alle Sakramente des Neuen Gesetzes, in denen die Gnade geschenkt wird, die läßlichen Sünden nachgelassen. Zweitens, insofern sie mit irgendeiner Regung des Abscheus gegenüber den Sünden verbunden sind. Und auf diese Weise tragen das allgemeine Sündenbekenntnis, das Schlagen an die Brust und das Gebet des Herrn zur Nachlassung der läßlichen Sünden bei; denn im Gebet des Herrn bitten wir ja: ‚Vergib uns unsere Schuld !‘“ (Übersetzung der Deutschen Thomas-Ausgabe)] Thomas von Aquin, Summa, 104. (STh III q. 87, a. 3.) 113 Das Vorhandensein liturgischer Texte sagt noch nicht viel über ihren Gebrauch aus. Die Schaffung neuer Texte auf der Grundlage älterer Vorlagen, wie dies bei der Offenen Schuld der Fall ist, kann aber doch als ein deutlicher Hinweis auf die praktische Bedeutung dieses liturgischen Stückes verstanden werden. 114 Thalhofer ging noch davon aus, dass die Offene Schuld des Pronaus in Norddeutschland unbekannt war. Vgl. Thalhofer, Pronaus, 35. Graff führt einen Beleg für die Kenntnis der Offenen Schuld in Pommern an. Danach findet sich in einem Band aus dem 15. Jh. in niederdeutscher Sprache eine Abrenuntiationsformel, „ein kurzes Glaubensbekenntnis und eine ausführliche offene Schuld“. Rietschel/Graff, Lehrbuch, 318. Zahlreiche Nachweise für die Verbreitung der Offenen Schuld im nördlichen Deutschland – auch aus nachtridentinischer Zeit – erbringt Heinz, Sondertradition, 202ff. Erst in der Mitte des 19. Jh. wurde im Zusammenhang mit dem Ultramontanismus die Offene Schuld als Sonderbrauch aus vielen liturgischen Büchern gestrichen. Dabei bildete Süddeutschland, wo die Offene Schuld weithin durchgängig im Gebrauch blieb, eine Ausnahme. Für an Deutschland angrenzende Gebiete ist die Offene Schuld

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Predigthören bisweilen ein Ablass gewährt, so dass sich auch die Verkündung von Ablässen mit der Offenen Schuld verband.115 Für die Zeit bis zur Reformation sollen nur einige Beispiele angeführt werden, die die Tradierung der Offenen Schuld markieren (s. Anh. Nr. 1, 3–6, 8, 10–12). Aus dem 13. Jh.116 liegt die sogenannte „Wiener Beichte“117 vor, eine unvollständig erhaltene Offene Schuld, die sich an eine Abrenuntiationsformel und eine darauf folgende freiere Form des Apostolikums anschließt. Interessant daran ist, dass die lateinische Anweisung für den Geistlichen den Gebrauch der Offenen Schuld in den Zusammenhang mit der Kommunion an Festtagen stellt.118 Die gottesdienstliche Beichte diente hier also der Vorbereitung auf den Kommuniongang. Weil sich ähnliche Hinweise auch an anderer Stelle finden, kann davon ausgegangen werden, dass die Offene Schuld ursprünglich auf den Sakramentsempfang vorbereitete. Erst später kamen andere Funktionen hinzu.119 Mehrere Texte, die mit großer Sicherheit zur Predigtliturgie gehörten, sind aus dem 14. Jh. überliefert. Eine sehr kurze Offene Schuld ist die aus einer Predigtsammlung des Benediktinerstifts St. Paul in Kärnten (s. Anh. Nr. 4).120 Zusammen mit anderen Teilen des Pronaus steht die Offene Schuld am Beginn der Predigtsammlung, woraus man ihren gottesdienstlichen Gebrauch schließen kann. Leider fehlen verbindende Texte, die nur in Polen und Böhmen bezeugt, wobei hier ein deutscher Einfluss angenommen werden kann. Frankreich kannte diesen liturgischen Brauch nur punktuell im 13. Jh. , Italien im 16. Jh. in der Mailänder Kirchenprovinz. Vgl. Heinz, Sondertradition, 205ff. 115 Vgl. MiS, 1, 633, Anm. 22; Heinz, Sondertradition, 201, Anm. 31. Als Beispiel dafür kann der Ablass im Anschluss an die „Baumgartenberger Beichte“ gelten (s. Anh. Nr. 5, Anm. 10). 116 Bei „Zeitzer Glauben und Beichte“ aus dem 13. Jh. – abgedruckt bei Müllenhoff, Karl/Scherer, Wilhelm: Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII-XII Jahrhundert. 2 Bd. Berlin 31892, 2, 437, 1–18 – kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob die Beichte ursprünglich im Gottesdienst Verwendung fand. Nach einer sehr kurzen Abrenuntiation und einer trinitarischen Bekenntnisformel folgt eine aus dem Deutschen sehr fehlerhaft und unvollständig ins Lateinische übersetzte Offene Schuld. Die Sprachformen entsprechen eigentlich denen des 11. Jh. Wahrscheinlich waren die Texte in der vorliegenden Form kein Bestandteil des Pronaus. 117 Wiener Hs. 2718 (rec. 2056), zitiert nach Müllenhoff/Scherer, Denkmäler, 2, 456f. 118 „Hanc katholicam fidem saepius in festivitatibus dicere debes, et si sit festivitas, quod ad corpus domini aliquid accedere velit, confessionem subiunge ita dicens: […]“. („Diesen katholischen Glauben musst du noch öfter bei Festen aussprechen, und wenn ein Festtag wäre, weshalb jemand zur Kommunion kommen wollte, so füge eine Beichte an, indem du auf diese Weise sprichst: […]“ e. Ü.) Müllenhoff/Scherer, 2, 456. 119 Vgl. Meyer, Messe, 124. 120 Ihr gehen Vaterunser, Abrenuntiationsformel und Glaubensbekenntnis voraus, nach der Offenen Schuld folgt das Ave Maria. Vgl. Altdeutsche Predigten aus dem Benedictinerstifte St. Paul in Kärnten/hg. von Adalbert Jeitteles. Innsbruck 1878, 2. (Altdeutsche Handschriften aus Österreich; 1)

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Aufschluss über eine spezielle Zielrichtung dieser Beichte geben könnten. Einen umfangreicheren Text bietet die sogenannte „Baumgartenberger Beichte“ (s. Anh. Nr. 5). Die Aufforderung zum Nachsprechen der Offenen Schuld gibt keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit anderen Teilen des Gottesdienstes. Von der allgemeinen Beichte wird hier Vergebung aller Sünde erhofft,121 besonders im Hinblick auf die Todesstunde. Eine Predigtsammlung aus dem Anfang des 14. Jh. enthält je eine Offene Schuld in einem als „Beichtliturgie“ ausgewiesenen Text122 sowie in einem als „Glaube und Beichte“ (s. Anh. Nr. 6) bezeichneten Stück.123 Die Zugehörigkeit zur Predigtsammlung legt wieder den gottesdienstlichen Gebrauch im Pronaus nahe. Aber auch hier geben die Texte keinen Aufschluss über ein besonderes Verständnis der gottesdienstlichen Beichte. In einem ungewöhnlichen Kontext steht eine Offene Schuld aus dem 15. Jh.124 Heinrich Wittenwiler nahm in sein als „Lehrbuch der Lebensführung“125 verstandenes Lehrgedicht „Ring“ diese allgemeine Beichte als Prosastück auf (s. Anh. Nr. 8). Aus dem Rahmen fällt auch der literarische 121 „Alle“ Sünde ist hier sicher im Sinn der Vollständigkeit gemeint: zusätzlich zu den im Zusammenhang mit der Ohrenbeichte vergebenen Todsünden sollen auch noch die lässlichen Sünden vergeben werden. 122 Vgl. Altdeutsche Predigten/hg. von Anton E[manuel] Schönbach. Bd. 1: Texte. Graz 1886, 40f. (Nr. 8). Der Offenen Schuld schließt sich eine Abrenuntiationsformel an, dann folgen ein abgewandeltes und ausgeschmücktes Apostolikum, das Vaterunser sowie eine Ermahnung, diese Stücke zu lernen: „Dise bicht und diesen gelouben und daz gebet sol ein ygelich cristenmensche zu rechte kunnen […]“ Altdeutsche Predigten, 1, 44. 123 Vgl. Altdeutsche Predigten, 1, 46ff. (Nr. 10). Vor der Offenen Schuld stehen eine Abrenuntiationsformel sowie ein erweitertes Apostolikum. Auf die Offene Schuld folgt der Ausruf: „herre, genade! herre Crist, genade! herre got, genade!“ (Altdeutsche Predigten, 1, 47, 35f.), der dem Kyrie entspricht (Vgl. Matz, Werner: Die altdeutschen Glaubensbekenntnisse seit Honorius Augustodunensis: Mit einem Abdruck des Heidelberger Bekenntnisses. Gießen 1932, 65. Halle/S., Univ. , phil. Diss. 1932). Daran schließen sich das Vaterunser sowie eine Erklärung zweier Vaterunserbitten an (Vgl. Altdeutsche Predigten, 1, 402). 124 Die teilweise als Offene Schuld des 15. Jh. zitierte „Heidelberger Beichte“ (so z. B. Zimmermann, Beichte, XI), abgedruckt bei Matz, Glaubensbekenntnisse, 61ff, entstammt einem Krankenordo und nicht der gottesdienstlichen Liturgie. Darauf weisen der Inhalt sowie die singularische Form hin, die Absolutionsformel lautet: „Parcat tibi deus propter suam piissimam misericordiam.“ („Gott vergebe dir auf Grund seiner übergroßen Barmherzigkeit.“ e. Ü.) Dennoch umfasst diese Liturgie die gleichen Stücke wie der Pronaus : Vaterunser, Ave Maria, Apostolikum, Offene Schuld, Absolution. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Krankenkommunion und Pronaus s. u. 48. Eine Offene Schuld aus dem Jahr 1421 könnte in einem Text aus einer Handschrift des Stiftes St. Florian vorliegen. Vgl. Czerny, Albert: Mitteilungen aus S. Florian II. ZfdA 22 (1878), 335–336. Da in der Veröffentlichung Hinweise auf den Kontext fehlen, kann dies aber nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. 125 Wittenwiler, Heinrich: Ring: Nach der Meininger Handschrift/hg. von Edmund Wiessner. Leipzig 1931, 5. (Realistik des Spätmittelalters; 3)

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Zweck der Offenen Schuld. Nachdem der Verfasser die Gestalt „Triefnas“ darüber hat aufklären lassen, dass sie einmal jährlich die Ohrenbeichte bei ihrem Pfarrer abzulegen habe, präsentiert ihr der belehrende „Lastersak“ als Hilfestellung für diese Beichte eine Offene Schuld.126 Damit erhält die allgemeine Beichte in diesem Zusammenhang eindeutig katechetischen Charakter. Zudem zeigt das Beispiel, dass wahrscheinlich auch im 15. Jh. die Texte für die „Vervollkommnung und Ergänzung der speziellen Beichte“ austauschbar waren mit allgemeinen Beichtformeln bzw. dass diese darüber hinaus als Beichtspiegel dienen konnten (s. o. 38f). Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die individuellen Sünden gesondert bekannt werden müssen.127 Aus dem Anfang des 16. Jh. sind fünf unterschiedlich lange Texte der Offenen Schuld überliefert, wie sie der Basler Pfarrer Johann Ulrich Surgant in seinem für Prediger bestimmten Handbuch128 reichlich 10 Jahre vor der Reformation veröffentlicht hat (s. Anh. Nr. 11 u. Nr. 12). Die Länge der Beichtformeln wird ähnlich wie bei Honorius von den jeweiligen äußeren Umständen abhängig gewesen sein. Die längeren Texte der Offenen Schuld verwendete man zudem bevorzugt zu bestimmten Zeiten des Kirchenjahres. Für die letzte und längste Offene Schuld gibt Surgant an, dass er sie in der Fastenzeit und zu Weihnachten mit den Abendmahlsgästen zu sprechen pflegte.129 Auf die confessio generalis wurden Misereatur und (nichtsakramentales) Indulgentiam gesprochen. Neu ist dabei, dass sich der Liturg selbst zuweilen der Fürbitte der Gemeinde empfiehlt.130 126 „Hörr, ich pin noch ungewicht [ungeweiht] Und han gelernt die offen picht! Pei der selben lernt man wol, Wie einer haimleich peichten schol. Die sprich nür nach, sam [so wie] ich dir sag, Und bhalt sei [sie] auf den lesten tag !“ Wittenwiler, Ring, 149, Verse 4076–4081. 127 „Wiss, daz ist die peicht gemain! Und wilt du peichten joch [daneben] allain Deinem priester all dein sünd, So tuo, sam [so wie] ich dir han gechünt [erklärt], Und sag im sünderleich [einzeln, gesondert] da pei Dein missetat und, wie im sei […]“ Wittenwiler, Ring, 150, Verse 4084–4089. 128 Surgant, Johann Ulrich: Manuale Curatorum | | predicandi prebens modum: tam latino quam | | vulgari sermone practice illuminatum: cum | | certis alijs ad curam animarum pertinenti| |bus: omnibus curatis tam conduci| |bilis quam salubris. Basel 1502. 129 „Alia confessio generalis et longa quam in quadragesimali tempore et in natiuitate domini cum homines communicare volunt dicere soleo […]“ Surgant, Manuale, fol. 85v. („Eine andere allgemeine und lange Beichte, die ich in der Fastenzeit und zu Weihnachten zu sagen pflege, wenn Menschen kommunizieren wollen […]“ e. Ü.). 130 In der 1. und 2. confessio generalis. S. Anh. Nr. 11 und Nr. 12. In der letzten Offenen Schuld schließt sich der Liturg mit in den Wunsch nach Vergebung ein: „das verlych uch vnd mir got vatter got sun got heiliger geist Amen.“ Surgant, Manuale, fol. 86r.

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In der Einleitung zur 1. confessio131 erläutert Surgant sein theologisches Verständnis der Offenen Schuld. Für ihn dient dieser Buß- und Reinigungsakt dazu, dass Gebete „und andere gute Werke“ von Gott noch bereitwilliger akzeptiert und die bereits im Wort Gottes erfahrene Gnade und Vergebung nochmals bekräftigt werden (s. Anh. Nr. 11).132 Der Pronaus folgte bei Surgant auf die Predigt.133 Betrachtet man die Vielzahl der Texte für die Offene Schuld seit dem 11. Jh., so findet man ganz unterschiedliche theologische Deutungen dieser gottesdienstlichen Beichte. Obwohl ein liturgischer Zusammenhang mit der Predigt besteht, wird nur selten eine theologische Beziehung zwischen der Verkündigung des Wortes Gottes und der gottesdienstlichen Beichte erkennbar.134 Eine Vorbereitung auf nachfolgende Gebete wird z. B. bei Surgant erwähnt, ist dann aber kaum nachzuvollziehen.135 Wo sich an den Pronaus die Messfeier anschloss, diente die Offene Schuld außerdem der Vorbereitung auf den Kommunionempfang.136 „Andererseits kann die confessio und absolutio generalis kaum allein vom Sakrament her verstanden werden. Dazu war sie viel zu häufig und trat im späteren Mittelalter auch viel zu oft ohne Verbindung mit dem Sakrament auf. Es muss ein geistliches Bedürfnis der Gemeinden gewesen sein, zusammen mit dem Glaubensbekenntnis auch ein Bekenntnis der Schuld abzulegen und den göttlichen Zuspruch zu empfangen. Vielleicht ist es ein Stück Erlösungssehnsucht des Mittelalters, die darin mitschwingt, ein Verlangen nach Gewißheit der Vergebung.“137 Die Offene Schuld zusammen mit deprekativen Absolutionsformeln wird als (später nichtsakramentale) Beichte für lässliche Sünden verstanden, die ganz allgemein 131 S. Anh. Nr. 11. Ähnlich in der 3. confessio, vgl. Surgant, Manuale, fol. 84v. 132 „Und vmb das vwer gebet vnd ander gute werck got dem herren dester angenemer syen / vnd ir ouch teilhafftig syent des abloß vnd der gnad so ir habent von dem wort gottes. ouch von disem gotzhuß / so sprechent uwer offen schuld mit ruwigen hertzen vnd mit bezeichnung des heiligen crutz.“ Surgant, Manuale, fol. 84r. 133 Nach der Predigt folgten Abkündigungen, Allgemeines Kirchengebet, Vaterunser, Ave Maria, Glaubensbekenntnis, Dekalog, Offene Schuld mit Absolution. Vgl. Surgant, Manuale, fol. 79r-86r. Vgl. Weismann, Predigtgottesdienst, 24. 134 Das ist allenfalls bei Surgant der Fall, s. o. Anm. 132. 135 Die wichtigsten Gemeindegebete gehen bei Surgant der Offenen Schuld voraus. S. o. Anm. 133. 136 Darauf weisen Honorius (s. o. 35), ebenso die Wiener Beichte (s. o. 44) sowie die 5. confessio von Surgant hin (s. o. 46). Auch der Einleitung zu Sangaller Glauben und Beichte II lässt sich eine Verbindung zum Messopfer entnehmen, indem auf die Unmöglichkeit hingewiesen wird, mit den seit der Taufe beschmutzten Gewändern am hochzeitlichen Mahl teilzunehmen, vgl. Sprachdenkmäler, 341ff. Bisweilen wird die gottesdienstliche Beichte auch als Vorbereitung auf die geistliche Kommunion oder die Teilnahme an der eucharistischen Feier überhaupt betrachtet. Vgl. Heinz, Sondertradition, 199. 137 Weismann, Predigtgottesdienst, 21.

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wichtig ist. Die Erteilung von Bußauflagen nach der allgemeinen Absolution unterstreicht diese Bedeutung.138 Gemäß den Forderungen der karolingischen Reformen hatte sich in den germanischen Ländern eine katechetisch ausgeprägte Predigttätigkeit entwickelt, während in anderen Teilen des Römischen Reiches die Predigt an Bedeutung verlor. Die enge Verbindung der Predigt mit dem Pronaus und die Verwendung der Volkssprache sorgten dafür, dass dieser Teil der Messe im Kontrast zu der übrigen lateinischen Liturgie stand und schließlich aus der Messliturgie auswanderte.139 Die Länge der Predigt mit ihren Annexen140 war sicher ebenso ein Grund dafür wie die ausgeprägte Predigttätigkeit der Bettelorden außerhalb des Pfarrgottesdienstes und die Stiftung von Predigtpfründen seit dem Ende des 14. Jh.141 Manchmal schloss sich der Predigtgottesdienst an die Pfarrmesse an.142 Die Offene Schuld ging aber der Messe als solcher nicht völlig verloren. Parallel zur abnehmenden Häufigkeit des Kommunionempfangs der Gläubigen143 wurde die Messfeier seit dem 12./13. Jh. reicher ausgestaltet. Man übernahm dabei liturgische Stücke aus der Feier der Krankenkommunion. Diese hatte sich aus der ursprünglich schlichten Gläubigenkommunion der Messe zu einer Liturgie entwickelt, in der auch Stücke des Pronaus enthalten waren. Neben Offener Schuld und Absolution begegnen Credo und Vaterunser.144 Auf diese Weise wurde der Zusammenhang zwischen allgemeinem Schuldbekenntnis und der Messe im deutschen Sprachraum anscheinend nie ganz aufgehoben. 1.2.2. Geschichte des Confiteor Seit dem ersten Drittel des 11. Jh. lässt sich im Eröffnungsteil der Messe ein gegenseitiges Schuldbekenntnis zwischen dem Zelebranten und den ihn Umstehenden – das sogenannte Confiteor – nachweisen.145 Die Ursprünge des Confiteor, dessen besonderes Charakteristikum das gegenseitige Bekennen der Schuld war, kann man indes bis zum Ausgang des 138 Vgl. MiS, 1, 632, Anm. 18; Meyer, Messe, 123, Anm. 11. 139 Vgl. Meyer, Hans Bernhard: Eucharistie. GDK 4 (1989), 234f. 140 Die Zeitdauer für eine Predigt betrug im Mittelalter durchschnittlich eine dreiviertel Stunde. Dazu kamen noch die teilweise recht umfangreichen Stücke des Pronaus. Vgl. Meyer, Messe, 93ff. 141 Vgl. Weismann, Predigtgottesdienst, 24ff. 142 Vgl. Konzili, Jürgen: Studien über Johann Ulrich Surgant. ZSKG 70 (1976), 142f. 143 Im Lauf des Mittelalters wurde der Kommunionempfang auf Ostern reduziert, nur sehr fromme Gemeindeglieder kommunizierten häufiger – gewöhnlich zu großen Festen. Vgl. Meyer, Eucharistie, 236. 144 Vgl. Meyer, Eucharistie, 236. 145 Vgl. MiS, 1, 387.

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frühen Mittelalters zurückverfolgen. Sie liegen offenbar im klösterlichen Gebrauch der Laienbeichte, in der kleinere Verstöße einander regelmäßig bekannt wurden und die mit einer Fürbitte schloss.146 Spätestens im 9. Jh. war dieses Sündenbekenntnis, gefolgt von einem Misereatur als fürbittende Antwort, weithin Bestandteil des täglichen Stundengebets in Prim und Komplet.147 Die Texte für das Confiteor hatten – ähnlich wie bei der Offenen Schuld – ihren Ursprung in der Einzelbeichte. Darauf weisen das Formschema sowie die Sündenkataloge hin.148 Diese eigentümliche Beichtform des Stundengebets wurde später im 11. Jh. zusammen mit dem Indulgentiam in den Eröffnungsteil der Messe übernommen und fand rasche Verbreitung.149 Es gibt Beispiele dafür, dass zuweilen das Confiteor der Prim mit dem Vorbereitungsakt der Messe zusammenfiel, wenn die Messe gleich auf diese Hore des Stundengebets folgte.150 Das Motiv der Buße und Demütigung vor Gott zu Beginn der Messe lässt sich übrigens schon sehr viel früher in verschiedenen Messordines finden. Im römischen Stationsgottesdienst des 7. Jh. hatte der Papst nach dem Einzug im stillen Gebet vor dem Altar verharrt.151 Auf fränkischem Gebiet war es dann Brauch geworden, dass sich der Zelebrant vor dem Altar niederwarf. Zudem hatte man hier die stille Anbetung bald durch gesprochene Gebete ersetzt.152 Der Intention des Ritus entsprechend hatte der Zelebrant vor allem Apologien, „persönliche Schuld- und Unwürdigkeitsbekenntnisse“,153 oder Fürbitten für die Sünden des Volkes vorgebracht. Je nachdem, wie weit der Weg von der Sakristei zum Altar war, hatten die Kleriker oder zumindest der Zelebrant beim Einzug in das Gotteshaus unterschiedlich lange Gebete gesprochen, die Bußfertigkeit und Demütigung vor dem Heiligen ausdrückten.154 Die Apologien hatten ursprünglich privaten Charakter gehabt und waren bereits bei Vorbereitungshandlungen wie dem Anlegen der liturgischen Gewänder gebetet worden.155 Im Lauf der Zeit wurde dieser Einzugsritus immer weiter ausgestaltet. Noch vor dem Ende des 10. Jh. betete der einziehende Klerus auf dem Weg zum Altar den 42. Psalm. An den Stufen zum erhöhten Altar-

146 Vgl. Jungmann, Bußriten, 282. 147 Vgl. Jungmann, Bußriten, 206ff; MiS 1, 388; Messner, Feiern, 80. 148 Vgl. MiS, 1, 389, Anm. 16. 149 Vgl. MiS, 1, 387; 372, Anm. 9; vgl. Klaus, Rüstgebete, 530. 150 Vgl. MiS, 1, 388, Anm. 9. 151 Vgl. MiS, 1, 88f. 152 Vgl. MiS, 1, 386. 153 MiS, 1, 103. 154 Vgl. MiS, 1, 382. 155 Klaus bezeichnet die Apologien als „Urformen aller späteren Sündenbekenntnisse“, vgl. Klaus, Rüstgebete, 525f.

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raum angekommen,156 sprach man zwei Orationen, eine davon war das bis heute in manchen Confiteor-Formeln verwendete „aufer a nobis“.157 Bereits um die Mitte des 11. Jh. wurde dann an Stelle der Apologien zwischen Psalm und Oration das Confiteor aufgenommen, an das sich eine Vergebungsbitte anschloss und das seit dem 12. Jh. seinen festen Platz in den Stufengebeten der Messordines erhielt.158 Während die Apologien Gebete des Einzelnen gewesen waren, trat nun an ihre Stelle mit dem Confiteor ein dialogisches Sündenbekenntnis, zunächst zwischen Priester und Diakon, später aber auch zwischen Priester und mehreren Beteiligten. In manchen Konventmessen, z. B. denen der Kartäuser seit 1370, war die gesamte Kommunität das Gegenüber des Priesters beim Confiteor.159 Das Volk wurde manchmal mit in das Confiteor einbezogen, indem sich der Priester beim Indulgentiam ad populum wandte.160 Spätmittelalterliche Messbücher aus Süddeutschland enthalten eine zweite, der sakramentalen ähnliche, Absolutionsformel, die der Priester nach dem Altarkuss zum Volk gewandt sprach.161 Es ist möglich, dass das Volk auch auf andere Weise dieses Sündenbekenntnis mit vollzog. Selbst wenn man das Confiteor in lateinischer Sprache betete, so war doch auch für einfache Gläubige der Vollzug gewisser Gesten und 156 Daraus erklärt sich die Bezeichnung „Stufengebet“. Seit der Romanik erhielt die Sakristei ihren Platz meist in der Nähe des Chorraumes und nicht, wie früher, an der Westseite der Kirche (vgl. MiS, 1, 89, 356ff, 381f). Damit verkürzte sich der Weg für den Einzug, und die Vorbereitungshandlung verlagerte sich an die Stufen des Altars (vgl. Klaus, Rüstgebete, 529). Das Missale Pius’ V. (1570) schrieb schließlich diesen Ort für die Rüsthandlung vor (vgl. Klaus, Rüstgebete, 530). Manchmal war auch aus anderem Grund kein weiter Weg zurückzulegen. An Kloster- oder Kanonikerkirchen hatte sich der Klerus zu Beginn der Messe bereits im Chorraum versammelt, denn die Mitglieder des Konvents waren zuvor zu einer Hore des Stundengebets (meist der Terz) zusammengekommen (s. o. Anm. 150). Vgl. MiS, 1, 137f, 268f, 323f, 351. 157 Vgl. MiS, 1, 378. Als Vergebungsbitte erscheint die Formel „Nimm von uns, Herr, […]“ beispielsweise auch in verschiedenen Rüstgebeten des Vorentwurfs der Erneuerten Agende, vgl. ErA(V), 33, 466f bzw. in Vorbereitungsgebeten des Gottesdienstbuches, vgl. EGb, 494ff. 158 Jungmann geht davon aus, dass sich das Stufengebet mit Confiteor auf dem Weg der cluniazensischen Reform in Italien und Deutschland verbreitete. Vgl. MiS, 1, 379. 159 Vgl. MiS, 1, 388, Anm. 11; 398, Anm. 65. Normalerweise sprachen Priester und Diakon das Confiteor, während der Chor nach dem Introitus das Kyrie sang. Vgl. MiS, 1, 400. 160 Seit dem Hochmittelalter war der Chorraum in Stifts- und Klosterkirchen in der Regel durch einen hohen Lettner vom Kirchenschiff getrennt. Dies betraf aber nicht alle Kirchen. Oft genug wurden auch Messen, z.T. gleichzeitig oder ineinander verschachtelt, an Nebenaltären im Kirchenschiff zelebriert. 161 Z. B. ein Messordo von Gregorienmünster und ein Augsburger Ritus des 15. Jh. (s. Anh. Nr. 9), vgl. MiS, 1, 398, Anm. 66. Ähnlich in einem Baseler Missale um 1480, vgl. Brunner, Peter: Die Wormser deutsche Messe. In: Kosmos und Ekklesia: Festschrift für Wilhelm Stählin zu seinem siebzigsten Geburtstag 24. September 1953/hg. von Heinz-Dietrich Wendland. Kassel 1953, 136.

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Gebärden möglich, wie z. B. die tiefe Verbeugung, das Knien oder das bereits am Ende des 12. Jh. bezeugte Schlagen an die Brust.162 Verschiedene Belege deuten sogar darauf hin, dass die relativ kurzen Formeln des Confiteor und des Misereatur vom Volk ebenso auswendig gelernt wurden wie das Paternoster.163 Zugleich mit dem Confiteor und dem Misereatur hatte man auch das Indulgentiam mit in die Messe übernommen.164 Es durfte nur vom Priester gesprochen werden und galt – wie bereits ausgeführt – trotz seiner optativen Formulierung bis zum 13. Jh. als priesterlich-sakramentale Lossprechung (s. o. Anm. 111). Theologisch schwierig war bei der sakramental verstandenen Absolution im Indulgentiam des Priesters, dass er sich diese nicht selbst zusprechen konnte und somit die Generalabsolution nur den anderen galt.165 Dabei war doch vor allem für den Priester als Zelebranten die Entsündigung zu Beginn der Messfeier von Bedeutung. In diesem Zusammenhang muss aber beachtet werden, dass die Priester üblicherweise vor der Messe selbst eine sakramentale Beichte ablegten.166 Bemerkenswert ist, dass die gegenseitige Bitte um Fürbitte im Confiteor das wichtigste Anliegen des altkirchlichen Bußinstituts wieder aufnahm. Mit der Verbreitung des Confiteor im Stufengebet der Messe ist auch ein Anwachsen des Confiteor-Textes sowie seiner Rahmung durch Versikel167 festzustellen.168 Die Gottesmutter wurde ebenso wie viele Heilige als Fürsprecherin angerufen, später begrenzte man die Heiligen und einigte sich auf eine verbindliche Formel.169 Zunehmend wurde die Aufzählung zahlreicher Sünden aus Formeln übernommen, die man in der Ohrenbeichte verwendete. Verschiedene Theologen wandten sich gegen diesen Brauch,170 denn das Confiteor verstand man wohl ähnlich wie die Offene Schuld als Bekenntnis, in dem Sünden nur generaliter benannt werden

162 Vgl. MiS, 1, 392f. Vgl. die Bedeutung, die Thomas dem Schlagen an die Brust gibt, s. o. 43. 163 Vgl. MiS, 1, 393f, Anm. 41; Jungmann, Bußriten, 283, Anm. 174. 164 Vgl. MiS, 1, 388f. 165 Es ist wieder festzuhalten, dass das allgemeine Sündenbekenntnis im Confiteor spätestens seit dem Gebrauch der indikativen Absolution an der Wende vom 11. zum 12. Jh. nicht mehr für schwere Sünden ausreichte, die in der Ohrenbeichte ausgesprochen werden mussten. Vgl. Jungmann, Bußriten, 278. 166 Vgl. MiS, 1, 396. 167 Vgl. MiS, 1, 398ff. 168 Vgl. MiS, 1, 391f. 169 Z. B. auf der 3. (eigentlich 4.) Provinzialsynode zu Ravenna 1314 wurde für die Provinz Ravenna festgehalten, dass im Confiteor außer der Gottesmutter nur St. Michael, Johannes Baptista, Petrus und Paulus angerufen werden sollten. Vgl. Mansi, Joannes Dominicus: SACRORUM | | CONCILIORUM | | NOVA, ET AMPLISSIMA COLLECTIO, | | […] | | Bd. 25, Venedig 1782, 547. 170 Z. B. Innocenz III. und Wilhelm Durandus, Vgl. MiS, 1, 392.

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durften. Ebenso kam es vor, dass man analog zur Offenen Schuld (s. o. Anm. 138) mit der Generalabsolution bestimmte Bußauflagen verband.171 Trotz des Wandels in der sakramentalen Bedeutung des Indulgentiam erhielt sich das Confiteor im Stufengebet der Messe ebenso wie die Offene Schuld im Pronaus. Es bewahrte die Erinnerung an die gegenseitige Verpflichtung der Gemeindeglieder, gerade hinsichtlich der Buße in Fürbitte füreinander einzustehen. Während die Offene Schuld durchweg eine Beichthandlung der Gemeinde war, blieb das Confiteor in der Regel auf die Zelebranten der Messe beschränkt. 1.3. Zusammenfassung Besonders in den ersten christlichen Jh. wandelten sich die Formen der Buße mehrfach grundlegend, indem sie immer wieder neuen Erfordernissen angepasst wurden. Gab es im 2. Jh. nur vereinzelt institutionalisierte Formen von Sündenbekenntnis und Versöhnung, so waren darin noch deutlich die jüdischen Wurzeln erkennbar. Erst seit dem Ende des 2. Jh. entwickelte sich ein christliches Bußinstitut, das für schwere Sünden ein öffentliches Sündenbekenntnis und nach einer Zeit der Buße die Rekonziliation mit der Kirche vorsah. Seit dem 4. Jh. wurde vor allem die österliche Fastenzeit für die kanonische Buße genutzt. Die Gemeinde gedachte der Büßer in ihrer Fürbitte, bischöfliche Segnungen und Gebete begleiteten sie. In der Regel wurden die Büßer in einem Rekonziliationsakt am Gründonnerstag wieder in die Kirchengemeinschaft aufgenommen. Dieser Vorgang war aber für den Einzelnen nicht wiederholbar. Deshalb schoben viele Christen die Buße auf die Zeit kurz vor ihrem Lebensende auf und führten damit das System der kanonischen Buße ad absurdum. Als keltische Mönche – denen eine nichtwiederholbare Buße unbekannt war – seit Ende des 6. Jh. die unter ihnen praktizierte wiederholbare Laienbeichte auf das Festland mitbrachten, wurde diese dort von den Gläubigen bereitwillig angenommen. In der Einzelbeichte forderte man auf das Sündenbekenntnis hin eine Bußleistung. Eine liturgisch geordnete Versöhnungshandlung gab es zunächst noch nicht. Später erfolgte eine Rekonziliation bei schweren Sünden, wenn die Bußleistungen erfüllt waren. Seit Ende des 9. Jh. wurde auch die Versöhnungshandlung am Gründonnerstag dafür genutzt. Bischöfe sprachen eine Generalabsolution, in die man bald die gesamte Gemeinde mit einbezog. Das zeitliche Auseinanderfallen von Sündenbekenntnis und Rekonziliation war wenig praktikabel, so dass schließlich in der Einzelbeichte die Absolution vor Erfüllung der Bußleistungen erteilt wurde.

171 Vgl. MiS, 1, 397, Anm. 63; Messner, Feiern, 75.

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Damit war ein bedeutsamer Wandel eingetreten. Die Buße des Einzelnen war wiederholbar geworden, aber sie war keine Angelegenheit der gesamten Gemeinde mehr. Eine Individualisierung der Buße setzte ein. Durch kasuistische Bußauflagen wurde ein besonderer Akzent auf Bestrafung und exakte Erfüllung äußerlicher Bußleistungen gesetzt. Innerliche Umkehr konnte dahinter zurücktreten. Schließlich wurde besonderer Wert auf ein vollständiges Sündenbekenntnis gelegt, so dass die confessio ein Übergewicht gegenüber der absolutio erhielt. Trotz Herausbildung der Einzelbeichte als Normalform der kirchlichen Buße im Westen behielt man die bischöflichen Generalabsolutionen bei. Diese wurden zukünftig nicht mehr nur am Gründonnerstag, sondern auch zu anderen Anlässen erteilt. Seit dem 11. Jh. durften auch niedere Kleriker diese Generalabsolutionen sprechen. Dies führte zur Aufnahme von allgemeinen Sündenbekenntnissen mit allgemeinen Absolutionen in den landessprachlichen Teil der Pfarrmesse, den sog. Pronaus, der mit der Predigt eine Einheit bildete. Die Texte der Sündenbekenntnisse waren meist Formeln, die man auch in der Einzelbeichte gebrauchte, die allgemeine Absolution verstand man bis zur Herausbildung des Sakramentsbegriffs im 13. Jh. als sakramental. Später hatte sie zumindest für lässliche Sünden ihre Bedeutung. Einen anderen Traditionsstrang kennzeichnet das Confiteor, ein ursprünglich privates Vorbereitungsgebet der Geistlichen. Es war im 11. Jh. aus dem Stundengebet in den Eröffnungsteil der Messe aufgenommen worden und hatte dialogischen Charakter. In der gegenseitigen Fürbitte der Geistlichen bzw. Altardiener füreinander brachte es ein wichtiges Anliegen des altkirchlichen Bußinstituts wieder zur Geltung. Es scheint so, als sei in vorreformatorischer Zeit teilweise die gesamte Gemeinde zumindest mit in die Absolution einbezogen gewesen. Im Blick auf die gottesdienstliche Beichte fanden lutherische Geistliche und Gemeinden reiches liturgisches Gut in Form des Confiteor bzw. der Offenen Schuld vor, das sie entsprechend der neuen Lehre aufnehmen und umgestalten konnten. Obwohl hin und wieder spezielle Anliegen dieser Beichtformen genannt werden, war die gottesdienstliche Beichte bis zur Reformation ganz allgemein Ausdruck der Erlösungssehnsucht mittelalterlicher Menschen.

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2. Entwicklung seit der Reformation 2.1. Kontinuität und neue Formen im 16. Jh. 2.1.1. Luther und die gottesdienstliche Beichte Für die Behandlung der Beichte im lutherischen Gottesdienst ist es unabdingbar, die Werke des Reformators darauf hin zu befragen. Leider finden sich im umfangreichen Werk Luthers nur wenige Aussagen zu theologischer Begründung und liturgischer Praxis der gottesdienstlichen Beichte.172 Ebenso nachteilig ist es, dass Luther keine „Lehre von der Beichte“ entwickelt hat und viele seiner einzelnen Äußerungen sich zu widersprechen scheinen. In der Tat gibt es aber eine Kontinuität Luthers bezüglich der Fragen von Buße und Beichte in der Durchhaltung seines Prinzips der Rechtfertigung aus Glauben.173 Es erscheint deshalb sinnvoll, zunächst auf die Neugestaltung von Buße und Beichte einzugehen, bevor die Vielgestaltigkeit der Beichte bei Luther und seine Haltung in der Frage der gottesdienstlichen Beichte untersucht werden. 2.1.1.1. Die Neugestaltung von Buße und Beichte Es war kein Zufall, dass die lutherische Reformation ihren Ausgang beim Streit um das Bußsakrament nahm. Die IV. Lateransynode von 1215 hatte die einmalige jährliche Ohrenbeichte für alle Gläubigen ab einem bestimmten Alter für verbindlich erklärt und ihren Gebrauch geregelt.174 Seit dem Konzil von Florenz 1439 waren die Gläubigen gezwungen, alle ihre Sünden aufzuzählen, deshalb sicherte man sich gegen das Vergessen irgendwelcher Einzelsünden (s. o. 39). Und obwohl das Beichten von lässlichen Sünden nicht vorgeschrieben war, konnte der einfache Gläubige kaum zwischen lässlichen und Hauptsünden unterscheiden,175 so dass die Leute von großer Unsicherheit und Angst beherrscht waren. Die Dreiteilung des Bußsakraments in contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis hatte zur Folge, dass nach der Vergebung der Sünden in der Absolution und der Umwandlung ewiger in zeitliche Strafen die zeitlichen

172 Die gottesdienstliche Beichte war nie Gegenstand lutherisch-römischer Auseinandersetzungen, weil sie im Gegensatz zum Bußsakrament wenig Anlass für Missbräuche bot, vgl. Linke, J[osef] Heinrich: Luthers Lehre von der Beichte. Erlangen, Univ., theol. Diss. 1942, 305. [masch.] 173 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 59. 174 Vgl. Enchiridion symbolorum, 812. 175 Luther wies darauf hin, dass niemand in der Lage sei, diese Unterscheidung vorzunehmen. „Nu hebt sich aber eyn new frag, Was tödlich odder teglich sund seyn. Es ist noch nie kein doctor ßo geleret geweßen, noch wirt ymmer, der eyn gewiß regel gebe, teglich fur den tödlichen zu erkennen […]“ WA 2,721,24ff.

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Strafen gebüßt werden mussten.176 Da aber auch Gedankensünden angerechnet wurden, konnten die Bußstrafen in kurzer Zeit derartig anwachsen, dass eine satisfactio beinahe unmöglich wurde. Einen Ausweg boten da Redemptionen und Ablässe, die Strafen ablösten bzw. völlig erließen. Deshalb wurden die Ablässe zunächst sehr dankbar von den Gläubigen aufgenommen. Da Ablässe in der Regel aber wichtige Einnahmequellen für die Kirche darstellten177 und sich im späten Mittelalter häuften, gerieten sie zu einer besonderen Form der Ausbeutung und Bedrückung des Volkes.178 Im Bußsakrament hatte sich der Schwerpunkt von der contritio über die confessio hin zur satisfactio verlagert. Viele Gläubige erlagen dem Irrtum, dass der Ablass nicht nur ihre Strafen tilge, sondern auch die Sünden vergebe.179 Sie waren mit der Erfüllung der äußeren Forderungen des Bußsakraments beschäftigt und vergaßen darüber die ursprüngliche Intention der Buße. Das Bußsakrament rückte durch diese Erscheinungen in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens und zeigte am offenkundigsten die Abwege und Deformierungen der Kirche.180 Aus diesem Grund und weil ihm die Erkenntnis von der Rechtfertigung aus Glauben zu neuen Einsichten über Buße und Beichte verholfen hatte, setzte Luther mit seiner Kritik am Bußsakrament an. Bereits mit der ersten und zweiten seiner berühmten 95 Thesen von 1517 bringt Luther die spätmittelalterliche römische Lehre vom Bußsakrament ins Wanken. Er betont, dass das gesamte Leben des Christen eine ständige Buße sein soll181 und dass die tägliche Buße von dem Bußsakrament zu unterscheiden sei.182 Die Buße wird dabei für Luther identisch

176 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 40f. 177 So waren die Einnahmen aus der Ablasspredigt in Deutschland, gegen die Luther seine 95 Thesen richtete, zur Hälfte dazu bestimmt, den Neubau des Petersdomes in Rom zu finanzieren, zur anderen Hälfte die von Albrecht von Brandenburg geforderten Zahlungen an die Kurie zu gewährleisten. Vgl. Benrath, Gustav Adolf: Art. „Ablaß“, TRE 1 (1977), 353. Diese Tatsachen waren Luther aber damals unbekannt. Vgl. Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang. Göttingen 1995, 115f. 178 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 42ff. 179 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 48ff. 180 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 57. 181 „Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ‚Penitentiam agite &c.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.“ WA 1, 233, 10f. („Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte mit dem Satz ‚Tut Buße usw.‘ aussagen, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein müsse.“ e. Ü.) 182 „Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, quae sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi.“ WA 1, 233, 12f. („Dieses [Christi, T. B.] Wort kann nicht auf die sakramentale Buße bezogen werden, d. h. auf die Buße von Sündenbekenntnis und Bußleistung, welche durch das Amt der Priester vollzogen wird.“ e. Ü.).

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mit der Beichte vor Gott (s. u. 58).183 „Buße“ und „Beichte vor Gott“ haben ihre gemeinsame Grundlage in der Schrift, vor allem in den Bußpsalmen (z. B. Ps 32,3–6; 130,4; 51,1 u. 6)184 aber auch in neutestamentlichen Stellen wie Röm 3,23 und Joh 3,5.185 Im Klagen der Sünde vor Gott sind bei beiden Anlass, Inhalt und Ziel die gleichen.186 Buße und Beichte vor Gott erstrecken sich auf das ganze Leben des Christen.187 Dennoch hat die kirchlich geordnete Buße für Luther ihren hohen Wert. Mehrmals betont er, wie wichtig ihm die Einzelbeichte ist und dass er an ihr festhalten will.188 An anderer Stelle bezeichnet er den Gebrauch der Einzelbeichte sogar als Kennzeichen eines wahren Christen.189 Diese Abgrenzung der täglichen Buße von der kirchlichen Beichte kann Luther mit der Rechtfertigung aus Glauben begründen. Das Sündenbekenntnis in der Beichte vor Gott ist ausreichend, wenn der Glaube so stark ist, dass das Wort von der Vergebung persönlich angenommen wird. In den kirchlich geordneten Formen der Beichte muss Hilfe nur dann gesucht werden, wenn keine Gewissheit über die Sündenvergebung erlangt werden kann.190 Luther bricht die römische Dreiteilung des Bußsakraments auf und stellt ihr eine Zweiteilung gegenüber.191 Zunächst versucht er, die aus Augustins Sakramentenlehre stammende Zweiteilung in res und signum auf das Bußsakrament anzuwenden, wobei res bei ihm die tägliche innere Buße bezeichnet, signum das Bußsakrament.192 Später verwendet Luther die Zweiteilung in confessio und absolutio,193 wobei das Gewicht auf der ab-

183 Luther schreibt im Sermo de indulgentiis pridie Dedicationis 1516: „Nam poenitentia interior est vera contritio, vera confessio, vera satisfactio in spiritu.“ WA 1, 99, 1f. („Denn die innere Buße ist wahre Reue, wahres Bekenntnis, wahre Buße im Geist.“ e. Ü.) Vgl. Linke, Luthers Lehre, 149ff. 184 Vgl. WA 15, 482f.; WA 10/3, 61. 185 Vgl. WA 19, 513, 21ff. 186 Vgl. WA 10/3, 60, 35ff. 187 Vgl. WA 10/3, 61, 17; WA 19, 514, 24ff. 188 Beispielsweise in der 8. Invokavit-Predigt des Jahres 1522: „[…] aber dannocht wil ich mir die heymliche beicht niemants lassen nemen und wolt sie nit umb der gantzen welt schatz geben. Dann ich weyß was trost und stercke sie mir gegeben hat: es weiß niemants was sie vermag denn wer mit dem teüffel oft und vil gefochten hat. Ja ich were langst vom teüffel erwürgt, wenn mich nit die beichte erhalten hett.“ WA 10/3, 61, 13ff. 189 Im großen Katechismus: „Darümb wenn ich zur beichte vermane, so thue ich nichts anders denn das ich vermane ein Christen zu sein […]“ WA 30/1, 238, 1ff / BSLK 732, 40ff. 190 Vgl. WA 10/3, 63, 18ff; vgl. Linke, Luthers Lehre, 56. 191 Für die Dreiteilung kann er keine Schriftgrundlage finden. Vgl. WA 1, 243, 4ff.; WA 6, 625, 3ff. 192 Vgl. WA 1, 98, 24ff. Luther ringt längere Zeit um ein neues Schema. Erst allmählich scheidet er contritio und satisfactio aus seinem Beichtschema aus. Vgl. Linke, Luthers Lehre, 158ff. 193 Vgl. WA 15, 488, 11ff; WA 30/1, 383, 11ff / BSLK 517, 11ff.

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solutio liegt.194 Die confessio ist das Werk des Menschen und daher gegenüber der absolutio gering zu achten. Dadurch aber, dass sie Menschenwerk ist, gewinnt der Gläubige die Freiheit, sich dieses Werk nach seinem Wunsch einzurichten. Für Luther verbindet sich damit die Abschaffung des Beichtzwanges. In seiner Schrift „Von der Beicht, ob die der Bapst macht habe zu gepieten“ stellt Luther 1521 klar, dass der Beichtende über den Zeitpunkt für seine Beichte ebenso frei entscheiden soll wie über deren Inhalt oder die Wahl des Beichtvaters.195 Eine unentschiedene Haltung nimmt Luther bis zuletzt in der Frage des Sakramentscharakters von Buße und Beichte ein.196 Die Sakramentalität bezieht er dabei stets auf die Absolution, bei der Verheißung und Glaube an die Vergebung die Merkmale sind, die sie als Sakrament qualifizieren. Äußerungen Luthers über den Sakramentscharakter der Absolution197 stehen aber auch solche gegenüber, die Beichte und Absolution nicht zu den Sakramenten zählen.198 Dieser Widerspruch lässt sich vielleicht auflösen, wenn man in Betracht zieht, dass Luther zwei unterschiedliche Definitionen für Sakramente anwendet, eine weitere und eine engere. Am deutlichsten wird dies in seiner Schrift „De captivitate babylonica ecclesiae praeludium“ von 1520.199 Am Anfang des Kapitels „Vom Sakrament der Buße“ verwendet Luther die weitere Sakramentsdefinition, indem hier Verheißung und Glaube die Kriterien sind.200 Diese Kriterien lassen sich auf die Absolution anwenden, weshalb sie hier als Sakrament bezeichnet werden kann. Später fasst Luther in dieser Schrift den Sakramentsbegriff enger und definiert Sakramente als Handlungen, die mit einem sichtbaren, von Gott eingesetzten Zeichen verbunden sind.201 Danach können nur noch Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten, der Buße fehlt dieses Zeichen. Die Absolution will Luther dann in der Taufe verankert wissen. Buße ist für ihn eine erneute Vergewisserung der Taufe.202

194 Vgl. WA 15, 488, 12f; WA 17/1, 177, 3f; WA 30/1, 236, 12ff / BSLK 729, 41ff. 195 Vgl. WA 8, 152ff. 196 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 116. 197 Vgl. WA 1, 322, 21ff; WA 2, 715, 10ff; WA 2, 717, 1f; WA 6, 543, 4ff; WA 7, 294, 11ff; WA 8, 155, 3ff; WA 54, 427, 26ff. 198 Vgl. WA 26, 508, 26ff; WA 30/1, 131, 19ff / BSLK 557, 34ff; WA 30/1, 212, 4ff / BSLK 691, 5f. 199 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 119ff. 200 Vgl. WA 6, 543, 14ff. 201 Vgl. WA 6, 572, 10ff. 202 „Denn was heißet Buße anders, denn den alten Menschen mit Ernst angreifen und in ein neues Leben treten? Darümb wenn Du in der Buße lebst, so gehest Du in der Taufe, welche solch neues Leben nicht allein deutet, sondern auch wirkt, anhebt und treibt; denn darin wird geben Gnade, Geist und Kraft, den alten Menschen zu unterdrücken, daß der neue erfurkomme und stark werde.“ WA 30/1, 221, 14ff / BSLK 706, 3ff.

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Auch wenn Luther die Wirkung von Wortverkündigung, Abendmahl und Absolution gleichsetzt (s. u. 70f),203 stellt er Predigt und Einzelbeichte nicht auf eine Stufe.204 Somit kommt die Beichte in ihrer erweiterten Bedeutung und darin besonders die Absolution in große Nähe zu den Sakramenten. Buße und Sündenvergebung sind für Luther ein Hauptstück der christlichen Lehre.205 2.1.1.2. Arten der Beichte bei Luther In einer beinahe verwirrenden Vielfalt verwendet Luther in seinem Werk den Begriff „Beichte“.206 Dabei dominieren aber in der erweiterten Bedeutung von „Beichte“ vor allem drei Arten: 1. die Beichte vor Gott, 2. die Beichte als Abbitte und 3. die Einzelbeichte.207 Daneben erwähnt Luther noch die allgemeine Beichte, die Beichte im Glaubensverhör sowie die Beichte im Zusammenhang mit der Kirchenzucht.208 Wenn man versucht, alle diese Arten der Beichte in ein System zu bringen (s. u. Abb. 1),209 dann muss die „Beichte vor Gott“, die mit der Buße im 203 Vgl. WA 32, 424, 26ff. 204 „Denn in der beycht hastu auch diss vorteyl wie ym sacrament, das das wort alleyne auff deyn person gestellet wird. Denn yn der predig fleugt es ynn die gemeyne dahyn, und wie wol es dich auch trifft, so bistu seyn doch nicht so gewiss.“ WA 15, 486, 30ff. „Weil aber solche Predigt von nöten ist, in der Kirchen zu erhalten, so sol man auch die Absolution behalten, Denn es ist hierunter kein ander unterscheid, on das solch wort (so sonst in der Predigt des Euangelij allenthalben öffentlich und in gemein jedermann verkündigt) dasselb wird in der Absolution einem oder mehren, die es begeren, in sonderheit gesagt […]“. WA 21, 262, 32ff. 205 Vgl. WA 21, 250, 32ff. 206 Zur engeren und weiteren Fassung des Begriffs s. o. 17ff. 207 Vgl. WA 10/3, 60, 35ff (nur 1. und 3.); WA 15, 482, 21ff; WA 19, 513, 20ff; WA 27, 96, 3ff; vgl. auch Vercruysse, Jos E.: Schlüsselgewalt und Beichte bei Luther. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546: Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. 1 Bd. und Registerband/hg. von Helmar Junghans. Berlin 21985, 159ff. 208 Vgl. WA 10/3, 58, 25ff. 209 Dieses Unterfangen mag fragwürdig erscheinen, weil Luther selbst keine Systematik schaffen wollte und konnte. Die Systematisierung der Beichtarten kann aber ihre Beziehungen untereinander und ihre unterschiedliche Funktion besser verdeutlichen. Sie baut auf dem Schema von Linke auf (vgl. Linke, Luthers Lehre, 114), das in mancher Hinsicht verändert wird. Wie bei Linke steht die Beichte vor Gott in Übereinstimmung mit der Buße „vor, über und in“ allen anderen Beichtformen. Die drei bei Luther am häufigsten genannten Beichtarten sind herausgehoben, die anderen Arten werden als Spezialfall betrachtet bzw. die allgemeine Beichte nimmt eine Mittelstellung ein. Linke stellt dagegen der Beichte vor Gott die anderen fünf Beichtarten gleichrangig als „Beichte vor Menschen“ gegenüber. Dabei ordnet er sie drei Kategorien zu: Privatbeichte und Allgemeine Beichte der seelsorgerlichen Kategorie, Glaubensverhör der Pädagogisch-katechetischen Kategorie, Beichte als Abbitte und Kirchenzuchtbeichte der Disziplinarischen Kategorie. Klein kann bei Luther nur 4 Beichtarten ausfindig machen: Die Beichte vor Gott – confessio fidei; die öffentliche Beichte – Kirchenzuchtbeichte; die Beichte vor dem Nächsten – confessio caritatis; die Beichte vor dem Bruder oder Priester. Vgl. Klein, Lauren-

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Beichte vor Gott allein

Beichte vor Gott (Buße) Reue

Glaube

allgemeine Beichte confessio

Beichte auch vor Menschen

Spezialfall

Einzelbeichte confessio

absolutio

Beichte im Glaubensverhör confessio

absolutio

absolutio

Beichte als Abbitte confessio

absolutio

Kirchenzucht confessio

absolutio

Abbildung 1: Arten der Beichte bei Luther.

Wesentlichen identisch ist (s. o. 56), allen anderen Beichtarten über- und vorgeordnet werden. Hier steht der Sünder allein vor Gott und erfährt volle Vergebung und inneren Frieden, ohne dass er ein Sündenbekenntnis vor Menschen ablegt.210 In diesem letzten Punkt unterscheidet sich die Beichte vor Gott von fast allen anderen Beichtarten,211 denn im Unterschied zu den anderen Arten bleibt der Sünder in dieser Beichte auf die allgemeine Zusage der Sündenvergebung im Wort Gottes verwiesen.212 Die Beichte vor Gott ist göttlicher Einsetzung.213 Jedesmal, wenn wir das Vaterunser beten, legen wir sie ab.214 Diese Beichte ist völlig zureichend unter den bereits genannten Bedingungen, es sei denn, die Sünde hat den Nächsten beleidigt oder Missfallen in der Öffentlichkeit erregt. Dann tius: Evangelisch-Lutherische Beichte: Lehre und Praxis. Paderborn 1961. (KKTS; 5), 12ff. 210 Vgl. WA 10/3, 60, 35ff. 211 Die allgemeine Beichte nimmt hier eine Sonderstellung ein (s. u. 67f). 212 Vgl. dazu das Beichtgebet Luthers von 1525, WA 48, 257. 213 Vgl. WA 10/3, 61, 18ff; WA 19, 516, 14f. Die Stiftung von Gott sieht Luther nur noch in der Beichte als Abbitte und in der Kirchenzucht gegeben, s. u. Anm. 216 und 221. 214 Vgl. WA 27, 96, 4f; WA 30/1, 234, 33ff / BSLK 727, 25ff.

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müssen die Beichte als Abbitte oder die Kirchenzuchtbeichte vollzogen werden.215 Die göttliche Einsetzung der Beichte als Abbitte vor dem Nächsten bezieht Luther auf die Schriftstelle Jak 5,16.216 Wenn man Schuld gegenüber dem Nächsten auf sich geladen hat, muss man sich demütigen und ihn um Vergebung bitten. Das lehrt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,23f). Ebenso fordert es die 5. Bitte des Vaterunsers.217 Luther macht einen Unterschied zwischen zwei Arten von Beleidigungen des Nächsten. Jeder wird ganz unbewusst der „allgemeinen Beleidigung“ schuldig, indem er es unterlässt, dem Nächsten zu helfen.218 Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit und Ichbezogenheit sind die Ursachen dafür. Manchmal machen wir uns aber auch der „besonderen Beleidigung“ schuldig, wenn wir wissentlich gegenüber einem bestimmten Menschen versagen. In diesem Fall ist auch eine konkrete Abbitte gefordert.219 Wenn die Beichte als Abbitte vor dem Nächsten abgelegt worden ist, ist die Sünde vergeben und es muss keine Lossprechung in der Einzelbeichte gesucht werden.220 Die Beichte im Zusammenhang mit der Kirchenzucht kann als Spezialfall der Abbitte vor dem Nächsten betrachtet werden, denn was sich in der Beichte als Abbitte zwischen zwei Menschen vollzieht, geschieht in der Kirchenzucht zwischen dem Sünder und der ganzen Gemeinde.221 Der Einzelne ist dann nicht nur an einem Menschen schuldig geworden, sondern seine Sünde betrifft die gesamte Gemeinschaft.222 Für die Kirchenzucht fordert Luther die Anwendung des Stufenverfahrens nach Mt 18,223 wobei der Sünder nach Möglichkeit freiwillig Buße tun soll.224 Ist er dazu nicht bereit, hat er sich selbst schon aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Als letzte Möglichkeit bleibt für die Gemeinde dann der Bann, der allerdings auf die Buße des Sünders hinzielt.225 Trotz der Befürwortung

215 Vgl. WA 54, 400, 3ff. 216 Vgl. WA 8, 155, 33ff. Vgl. Linke, Luthers Lehre, S. 353ff. 217 Vgl. WA 8, 156, 6ff. 218 Vgl. WA 19, 516, 20ff; WA 30/1, 235, 9ff / BSLK 728, 7ff. 219 Vgl. WA 19, 518, 26ff; WA 30/1, 235, 12ff / BSLK 728, 14ff. 220 Vgl. WA 19, 520, 12ff. 221 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 357ff. Die göttliche Stiftung der Kirchenzucht findet Luther vor allem in Mt 18,15ff bezeugt, aber auch Mt 16 und Joh 20. Vgl. WA 8, 173, 12ff; WA 30/2, 501, 11. 222 Vgl. WA 47, 280, 28ff. 223 Vgl. WA 8, 173, 34ff; WA 10/3, 58, 17ff. 224 Vgl. WA 8, 174, 4f. 225 Vgl. WA 8, 174, 5ff; WA 10/3, 60, 7ff. Luther plädierte dafür, dass der große Bann (Verbot von christlichem Begräbnis, Kauf, Verkauf, Handel und Wandel) von der weltlichen Obrigkeit verhängt werden sollte, vgl. WA 47, 282, 23ff. Nur der kleine Bann (Ausschluss vom Empfang der Sakramente) sollte als Vorstufe zum großen Bann von der Kirche gebraucht werden, vgl. WA 47, 284, 16ff; WA 50, 247, 5ff / BSLK, 456, 22ff.

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einer Aufrichtung der Kirchenzucht ist Luther aber eher skeptisch, was deren Wirkung und praktische Durchsetzung betrifft.226 Luther erkennt immer wieder den hohen Wert der Einzelbeichte an, aber er widerlegt die Behauptung von ihrer göttlichen Einsetzung, besonders in der Dreiteilung von contritio, confessio und satisfactio.227 Weil sie eine kirchlich geordnete Handlung ist, steht es den Menschen frei, nach ihren Bedürfnissen Gebrauch von ihr zu machen (s. o. 56f).228 Außer der Suche nach Trost und Rat229 kennt Luther einen doppelten Anlass zur Einzelbeichte. Der Glaube an die Liebe Gottes macht uns unsere Sündhaftigkeit bewusst und drängt zur Beichte – der Glaube an die Absolution lockt uns zur Einzelbeichte.230 Deshalb geht ein Beichtgebot am Wesen der Beichte vorbei. Für Luther gibt es eine innere Notwendigkeit für den Gebrauch der Einzelbeichte, ja er kann sagen, dass der kein wahrer Christ sei, der diese Nötigung nicht verspürt.231 Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen wendet Luther auch auf die Absolution an,232 denn 226 Bereits in der 8. Invokavit-Predigt von 1522 deutet Luther an, dass er allein sich nicht in der Lage sieht, die Kirchenzucht einzuführen, indem er schreibt: „Diß wer christlich, das getrew ich aber alleyne nit außzurichten.“ WA 10/3, 60, 10f. Später registrierte er offenbar, dass sich die Gesellschaft zu stark verändert hatte, als dass das altkirchliche Institut der öffentlichen Buße noch hätte greifen können. Von ihm sind verschiedene pessimistische Äußerungen dazu überliefert. „Es heisset itzt alles redlich und ehrlich gehandelt, narung gesucht, es mus alles Heiligkeit sein, und sind ins Teuffels namen alle from worden. Darumb hat dieser unser Ban des lebens halben nicht mehr stadt. Wir konnen diesen Ban nicht auffrichten.“ WA 47, 289, 40ff (Predigten zu Mt 18–24, 1537–1540). „Wen nur leuth weren, die sich liessen bannen!“ WA.TR 3, 609, 16 (Nr. 3778), 25. Februar 1538. Der Quellenwert dieser Zitate (Predigtmitschriften, Tischreden) ist nicht unumstritten, vgl. Delius, Hans-Ulrich: Quellen und Hilfsmittel zum Lutherstudium. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546: Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. 1 Bd. und Registerband/hg. von Helmar Junghans. Berlin 21985, 700f. Zumindest lassen die Äußerungen Rückschlüsse auf die Einstellung von Zeitgenossen Luthers in der Frage des Bannes zu. 227 „De privata [confessione, T. B.] nescio ubi Scriptura loquitur. Idcirco Dominis Iuristis eam commendo, ut ipsi probent, ubi de iure divino probentur satisfactio et Confessio, ut nunc sunt in usu.“ WA 1, 98, 30ff. („Von der Einzelbeichte weiß ich nicht, wo in der Schrift davon gesprochen wird. Deshalb vertraue ich diese den Herren Juristen an, dass sie selbst prüfen mögen, wo nach göttlichem Recht Genugtuung und Beichte, wie sie jetzt in Brauch sind, gutgeheißen werden.“ e. Ü.). Vgl. WA 1, 531, 34ff; WA 1, 243f; WA 1, 324, 25; WA 7, 351, 14ff. 228 In der Einzelbeichte kann z. B. Gewissheit der Vergebung gesucht werden, wenn eine Beichte als konkrete Abbitte vor dem Nächsten nicht mehr möglich ist bzw. wenn der Nächste keine Bereitschaft zur Vergebung zeigt. Vgl. Buchrucker, Armin-Ernst: Der seelsorgerliche Aspekt von Buße und Beichte bei Luther. LKW 21 (1974), 18. 229 Vgl. WA 10/3, 61 15f. 230 Vgl. WA 12, 499, 32ff und 501, 18f. 231 Vgl. WA 30/1, 237, 18ff / BSLK 732, 1ff. 232 „[…] ob es schon eyn weyb oder kind were, dann wilch Christen mensch zu dyr sagen kan ‚dyr vorgibt gott deyne sund, yn dem namen etc.‘ und du das wort kanst

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die Schlüsselgewalt ist der Kirche und damit allen Christen gegeben. Um der Ordnung willen bleibt aber im Normalfall das Beichtehören dem Amtsträger vorbehalten.233 Nur in Notfällen soll auch der Laienchrist die Absolution sprechen.234 Die Beichte im Glaubensverhör ist wieder als Spezialfall anzusehen, diesmal als Spezialfall der Einzelbeichte, obwohl auch Elemente der allgemeinen Beichte einfließen. Luther sah sich zur Einführung des Glaubensverhörs genötigt, nachdem Karlstadt am Weihnachtstag 1521 die Beichte vor dem Abendmahlsgang abgeschafft hatte235 und viele Leute am Abendmahl teilnahmen, die nicht um seine Bedeutung wussten.236 Im Glaubensverhör ging es aber nicht nur um eine Prüfung des Glaubens, sondern auch um eine Prüfung des Lebens.237 „Aber weil wir gedencken, Christen zu erzihen und hinder uns zu lassen, und im Sacrament Christus und blut reichen, Wollen und können wir solch Sacrament niemand nicht geben, Er werd denn zuvor verhöret, was er vom Catechismo gelernt, und ob er wolle von sunden lassen, die er da wider gethan hat, […]“238

Trotzdem war die Einzelbeichte im Glaubensverhör frei gestellt,239 zuweilen reichte wohl auch das Sprechen einer allgemeinen Beichte aus.240 Für Luther waren deshalb Glaubensverhör und Einzelbeichte nicht identisch. fahen mit eynem festen glauben, alß sprechs Got zu dyr, ßo bistu gewiß yn dem selben glauben absolvirt […]“ WA 2, 716, 28ff; vgl. WA 7, 380, 2ff; WA 10/1, II, 239, 11ff. 233 Vgl. WA 10/1, II, 239, 21ff; WA 10/3, 215, 16ff. 234 Vgl. WA 2, 722, 37; WA 7, 380, 3f; WA 49, 146, 35ff; vgl. auch Vercruysse, Schlüsselgewalt, 163. 235 Vgl. Linke, Luthers Lehre, 86ff. 236 Vor Ostern 1523 kündigte Luther die Einführung des Verhörs bis zum nächsten Osterfest an (vgl. WA 12, 477, 20ff; WA 12, 495, 1ff). Ende des Jahres erläutert er seine Absicht in der „Formula missae et communionis“ (vgl. WA 12, 215, 18ff). Der Zeitpunkt der Einführung lässt sich nicht exakt feststellen, er hat zwischen Ostern 1523 und Ostern 1524 gelegen. Vgl. Linke, Luthers Lehre, 95. 237 „Deinde ubi Episcopus viderit eos intelligere haec omnia, etiam hoc observabit, an vita et moribus eam fidem et intelligentiam probent. […] si viderit aliquem scortatorem, adulterum, aebrium, lusorem, usurarium, maledicum, aut alio crimine manifesto infamem, prorsus ab hac caena excludat, nisi manifesto argumento vitam sese mutasse testatus fuerit.“ WA 12, 216, 8ff. („Ferner, wo ein Bischof sah, dass sie dies alles verstanden, achtet er auch darauf, ob sie mit Leben und Sitten ihren Glauben und Verstand erweisen […] Wenn er irgendeinen Hurer, Ehebrecher, Trunkenbold, Spieler, Wucherer, Lästerer oder einen für eine andere offenbare Schuld Berüchtigten sah, soll er ihn ganz und gar von diesem Abendmahl ausschließen, solange er nicht mit offensichtlicher Begründung bewiesen hat, dass er sein Leben gewandelt hat.“ e. Ü.) 238 WA 30/3, 567, 9ff. 239 Vgl. WA 26, 220, 15ff; vgl. WA 26, 216, Zusatz zu 22. 240 „Weissestu aber gar keine [Sünden, T. B.] (doch nicht wol solt müglich sein), So sage auch keine jnn sonderheit, Sondern nim die vergebung auff die Gemeine Beicht, so du fur Gott thust gegen dem Beichtiger.“ WA 30/1, 386, 13ff / BSLK 519, 5ff.

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Das kommt in seiner Palmsonntagspredigt 1524 zum Ausdruck, in der er zuerst die drei Beichtarten behandelt, dann auf das Abendmahl eingeht, um sich schließlich dem Glaubensverhör zuzuwenden.241 Die Gläubigen wurden im Glaubensverhör wohl dazu ermahnt, eine Einzelbeichte abzulegen, aber sie konnten dies ebenso außerhalb des Glaubensverhörs tun.242 Wie wir wissen, war für Luther das Bekenntnis des Glaubens nach der Etymologie des Wortes auch Beichte (s. o. 17, Anm. 28). Wenn er in dem „Sermon von dem Sakrament“ 1526 sagt, dass der Nutzen der „heimlichen Beicht“ u. a. darin liegt, dass das Abendmahlsverständnis geprüft werden könne,243 versteht er „Beichte“ möglicherweise in diesem doppelten Sinn. Insgesamt sollte das Glaubensverhör der Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang dienen. Dabei war den Kommunikanten klar zu machen, dass nicht das eigene Werk, sondern das Vertrauen in die Verheißung der Sündenvergebung entscheidend war.244 Der Katechismus musste aufgesagt und sein Verständnis nachgewiesen werden.245 Erst wenn es sich als nötig erwies, wurde der Kommunikant zur Beichte ermuntert. Die Integration der Einzelbeichte ins Glaubensverhör ist also wohl bei Luther zu suchen, ihr Verbindlichmachen für den Einzelnen fällt in eine spätere Zeit.246 Während die Einzelbeichte im Glaubensverhör von Luther nur als eine Möglichkeit gedacht war, wurde sie im Lauf der Zeit zur Regel.247 Die allgemeine Beichte, wie sie bis heute in manchen lutherischen Gottesdiensten verwendet wird, steht bei Luther gewissermaßen zwischen den drei Arten der Beichte und entfaltet Teilaspekte dieser verschiedenen Beichtmöglichkeiten. Bevor sich Luther aber im Nürnberger Absolutionsstreit näher dazu äußern musste (s. u. 68ff), gibt er in seinen Schriften nur vereinzelt Auskunft über sein theologisches Verständnis von allgemeiner Beichte und Absolution im Gottesdienst. Im „Sermon von den guten Werken“ (1520) schreibt er im Zusammenhang mit der Deutung des allgemeinen Kirchengebets:248 241 Vgl. WA 15, 481ff. 242 Während im „Unterricht der visitatoren an die pfarrherrn im kurfürstenthum zu Sachsen“ 1528 für das Glaubensverhör gefordert wird, dass „[…] die leute auch vermanet werden zu beichten, […]“, betont die Fassung von 1538, dass die Herzensbeichte ausreiche. EKO 1, 162f. 243 „Drumb habe ich gesagt, man sol das Sacrament niemand geben, er wisse denn bescheid zugeben, was er hole und warumb er hin gehe. Solchs kan nu am fuglichsten ynn der beicht geschehen.“ WA 19, 521, 10ff.; vgl. WA 19, 520, 16ff. 244 Vgl. WA 7, 374, 21ff; WA 30/1, 230, 10ff / BSLK 720, 7ff. 245 Vgl. WA.TR 4, 694, 14ff. 246 „Die Beichte gehört in den Bereich der freien christlichen Spontaneität. Das Verhör gerät mehr und mehr in den Bereich der verbindlichen Kirchenordnung.“ Vercruysse, Schlüsselgewalt, 165. 247 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 14. 248 Es muss Bezzel widersprochen werden, wenn er meint, Luther spreche hier „von der ‚Offenen Schuld‘ […] als dem ‚gemeinen Gebet‘“. Bezzel, Eingeständnis, 14,

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„Disses gemeinen gebettis ist noch von alter gewonheit blieben ein anzeygung, wen man am end der prediget die beicht ertzehlet unnd fur alle Christenheit auff der Cantzel bittet.249 Aber es solt nit damit auszgericht sein, wie nu der brauch und weisze ist, sondern solt es lassen ein vormanung sein, durch die gantzen messe fur solche nodturfft zubitten, zu wilchem der prediger uns reytzet, Und auff das wir wirdiglich bitten, uns unser sund zuvor ermanet unnd dadurch demutiget, wilchs auffs kurtzist sol geschehen, das darnach das volck im hauffen semptlich gote sein sund selb klage und fur yederman bitte mit ernst und glauben.“250

Luther kennt also die Praxis des Pronaus, der sich an die Predigt anschließt und zumindest aus Offener Schuld und allgemeinem Gebet besteht.251 Unklar bleibt zunächst, welchen Brauch er ändern möchte, damit aus dem Gebet eine „Vermahnung“ dazu wird, die ganze Messe hindurch für alle Menschen in Not252 zu bitten. Ein möglicher Hinweis darauf folgt später in dem Sermon: „Fragistu aber, was du solt fur bringen und klagen in dem gebet, bistu leicht geleret ausz den zehen gebottenn und vatter unser.“253 Das Vaterunser ist für Luther also nicht nur ein Gebet, das hervorragend für die Herzensbeichte geeignet ist, sondern das auch als Richtschnur für das Allgemeine Gebet dienen soll – und zwar die ganze Messe hindurch.254 Luther scheint trotzdem an einer kurzen Bußaufforderung255

Anm. 23. Luther macht sehr wohl einen Unterschied zwischen der „gemeinen Beicht“ (d. h. der Offenen Schuld) und dem „gemeinen Gebet“, wie seine Ausführungen in den Schmalkaldischen Artikeln zeigen (s. u. 65). 249 Es scheint so, als beziehe sich Luther hier auf die unmittelbare Verbindung von Offener Schuld und allgemeinem Gebet, wie sie auch in späterer Zeit anzutreffen sind (s. u. Anm. 368). 250 WA 6, 238, 26ff. 251 Oftmals handelte es sich dabei nicht um Gebete an sich, sondern um „Vermahnungen“, Aufforderungen zum Beten für konkret genannte Anliegen. In Luthers Hauspostille, die von Veit Dietrich herausgegeben wurde, findet sich auch eine Vermahnung zum allgemeinen Gebet (WA 52, 732, 30ff). Unabhängig davon, ob sich der Wortlaut auf Luther zurückführen lässt, kann doch mit großer Sicherheit angenommen werden, dass Luther derartige Vermahnungen verwendet hat. Bezeichnend dabei ist, dass die Vermahnung mit den Worten schließt: „Solches alles zu erwerben, betet mit andacht ein Vater unser.“ (WA 52, 733, 35f). 252 Zu einer genaueren Erklärung von „solche nodturfft“ vgl. WA 6, 238, 10ff. 253 WA 6, 240, 26f. 254 Was Meyer in Bezug auf die Vaterunserparaphrase feststellt, gilt m. E. auch für das Vaterunser selbst. Vgl. Meyer, Messe, 112. Das theologische Anliegen Luthers, die gottesdienstlichen Gebete auf die Schrift zurückzuführen, ist überzeugend. Dennoch muss hier gefragt werden, ob es praktisch sinnvoll ist, einem Gebet wie dem Vaterunser so vielfältige Funktionen zuzuweisen. 255 „[…] uns unser sund zuvor ermanet unnd dadurch demutiget, wilchs auffs kurtzist sol geschehen […]“, WA 6, 238, 31f.

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mit anschließendem allgemeinen Sündenbekenntnis256 festhalten zu wollen. Dies erscheint ihm geradezu als Voraussetzung für ein Sprechen des allgemeinen Gebets.257 Die bekannten Texte der Offenen Schuld müssen Luther aber nicht nur wegen der Nennung von Heiligen als Beichtempfänger, sondern vor allem wegen der Betonung der Notwendigkeit eigener verdienstlicher Werke ungeeignet erschienen sein.258 In den „Schmalkaldischen Artikeln“ von 1537 schreibt er: „[Sie] […] Weiseten so die leüte yinn der büsse auf züversicht eigener werck. Daher kam das wort aüff der Cantzel, wenn man die gemeine beicht dem volck fürsprach: Friste mir, Herr Gott, mein leben, bis ich meine sünde büsse und mein leben bessere. Hie war kein Christus, und nichts vom gleüben gedacht. Sondern man hoffete mit eigenen wercken die sunde fur Gott zu uberwinden und zu tilgen.“259

Es lässt sich nur vermuten, weshalb Luther keine Offene Schuld von allen unevangelischen Zusätzen reinigte und in seine Gottesdienstordnungen übernahm.260 Möglicherweise entschied er sich hier ebenso radikal für die Streichung von Altem wie an anderer Stelle.261 Für die Texte der Offenen Schuld schien das besonders angebracht, denn sie gehörten zum bisherigen katechetischen Lernstoff und ihre Formulierungen hinsichtlich der Bedeutung eigener menschlicher Verdienste berührten ein Proprium evangelischer Lehre. Ein anderer Grund für diese Entscheidung mag gewesen sein, dass das Vaterunser in sich so viele wichtige Anliegen des Reformators vereinte, dass es – gebetet oder ausgelegt – mehrere Funktionen im Gottesdienst gleichzeitig erfüllen konnte.262 Die entscheidende Ursache für diesen Gebrauch des Vaterunsers war aber wohl Luthers Einsicht, dass sich alle Gebete an der Schrift messen lassen müssen, ja dass sie „ihr Zentrum im Vaterunser“ haben.263 256 „[…] das darnach das volck im hauffen semptlich gote sein sund selb klage […]“, WA 6, 238, 33. 257 „Und auff das wir wirdiglich bitten […]“, WA 6, 238, 31. Vgl. dazu die Aufforderung Surgants in seiner 1. confessio (s. Anh. Nr. 11): „Und vmb das vwer gebet […] got dem herren dester angenemer syen […]“. 258 Zu Luthers Haltung gegenüber der satisfactio vgl. auch: Sattler, Dorothea: Gelebte Buße : Das menschliche Bußwerk (satisfactio) im ökumenischen Gespräch. Mainz 1992, 137ff. Mainz, Univ., theol. Diss. 1991/92. 259 WA 50, 229, 2ff / BSLK 439, 2ff. Zu dieser Formel vgl. Beichte aus St. Paul III, Baumgartenberger Beichte und Beichte aus der Leipziger Predigthandschrift (Anh. Nr. 4–6). 260 Andere versuchten, überkommene Texte evangelisch umzuformulieren oder neue Texte zu schaffen. Vgl. die allgemeinen Beichten im Anh. Nr. 13 und 14. 261 Z. B. beim Messkanon. 262 Auf die Bedeutung der 5. Bitte des Vaterunsers für die Abbitte vor dem Nächsten und gleichzeitig für die Beichte vor Gott war bereits hingewiesen worden (s. o. 59f). 263 Vajta, Theologie, 304. Vgl. Vajta, Theologie, 302ff; Schulz, Gottesdienst, 300, Anm. 124. Bereits in vorreformatorischer Zeit galt das Vaterunser als herausragendes

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In seinem ersten ausführlichen Vorschlag für eine evangelisch erneuerte Gottesdienstordnung, der „Formula missae et communionis“ 1523, erteilt Luther den Rat, nach Einsetzungsworten und Elevation gemeinsam das Vaterunser zu beten264 und danach den Friedensgruß als eine Absolution zu sprechen.265 Das Vaterunser bereitete folglich die Kommunikanten auf den Abendmahlsempfang vor, zumindest seine 5. Bitte implizierte ein Sündenbekenntnis.266 Den anschließenden Friedensgruß verstand Luther als Absolution.267 In der Deutschen Messe von 1526 geht Luther wieder auf die Offene Schuld ein und setzt an ihre Stelle eine Umschreibung des Vaterunsers mit anschließender Abendmahlsvermahnung (s. Anh. Nr. 18).268 Der Komplex von Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung beinhaltete seinem Wesen nach die Beichte im engeren Sinn sowie die Absolution. Somit konnte der Friedensgruß der „Formula missae“ als absolutio entfallen.269 Luther schrieb in diesem Zusammenhang: „Ob man aber solche paraphrasin und vermanung wolle auff der Cantzel flux auff die predigt thun odder fur dem altar, las ich frey eym iglichen seyne wilkore. Es sihet, als habens die alten bis her auff der Cantzel gethan, daher noch blieben ist, das man auff der Cantzel gemeyn gebet thut odder das va-

Gebet. Vgl. Goertz, Hansjosef: Deutsche Begriffe der Liturgie im Zeitalter der Reformation : Untersuchungen zum religiösen Wortschatz zwischen 1450 und 1530. Berlin 1977, 162. (PStQ; 88) 264 Der Embolismus „Erlöse uns, Herr, von allem Bösen […]“ sollte dabei ausgelassen werden, vgl. WA 12, 213, 5. 265 „Sed statim post orationem dominicam dicatur: ‚Pax Domini etce.‘ quae est publica quaedam absolutio a peccatis communicantium, vox plane Euangelica, annuncians remissionem peccatorum […]“. WA 12, 213, 7ff. („Aber sogleich nach dem Gebet des Herrn soll gesagt werden: ‚Der Friede des Herrn usw.‘, was eine öffentliche Lossprechung der Kommunikanten von den Sünden ist, eine deutliche evangelische Stimme, die Vergebung der Sünden verkündigt […]“ e. Ü.). 266 Vgl. Meyer, Messe, 126f. 267 S. o. Anm. 265. Ähnlich äußert sich Luther 1524 in einer Predigt, vgl. WA 15, 485, 32ff. Derartige Deutungen des Friedensgrußes gab es bereits vor Luther. Vgl. Meyer, Messe, 127. 268 Vgl. WA 19, 95, 22ff. Zur Deutung der Abendmahlsvermahnung vgl. Meyer, Messe, 190ff. 269 Vgl. Schulz, Gottesdienst, 300f. Meyer vertritt dagegen die Meinung, dass Vaterunser bzw. Vaterunserparaphrase an die Stelle der Offenen Schuld getreten seien und keiner Absolutionsformel bedürften, da die Absolution in der Predigt zugesprochen und im Sakrament empfangen werde. Dagegen ist einzuwenden, dass gerade Luthers Abendmahlsvermahnung verkündigenden Charakter hat und auf ihre Weise zur Gewissheit der Sündenvergebung führen soll. Dass sie zusätzlich Elemente der Präfation enthält, verdeutlicht wieder, wie problematisch die Überfrachtung der von Luther neu gestalteten Stücke mit liturgischen Funktionen war. Dies kann mit als Grund dafür angenommen werden, dass sich diese Formen nicht durchsetzten. Vgl. Meyer, Messe, 127ff, 202ff.

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ter unser fur spricht. Aber die vermanung zu eyner offentlichen beicht worden ist.“270

Daraus geht hervor, dass Luther die historische Entwicklung der Offenen Schuld unbekannt war.271 Andernfalls hätte er sich möglicherweise doch für deren Beibehaltung und Erneuerung entschieden.272 Offenbar ging Luther davon aus, dass die Offene Schuld als Sakramentsvorbereitung aus einer Kommunionansprache entstanden war.273 Diesen ursprünglichen Zustand versuchte er nun wieder herzustellen. Die Mittelstellung der allgemeinen Beichte bei Luther ergibt sich auch daraus, dass sie sowohl Beichte vor Gott als auch Beichte vor Menschen ist (s. o. Abb. 1). Im Sprechen des Vaterunsers bitten wir Gott um Vergebung und gewähren diese unseren Mitchristen.274 Was wir in der Beichte vor Gott oder in der Beichte als Abbitte allein tun, kann im gemeinsamen Beten des Vaterunsers eine gemeinschaftliche Dimension erhalten: „Zum ersten habe ich gesagt, das uber diese beicht, davon wir hie reden, noch zweyerley beichte ist, die da mehr heissen mögen ein gemein bekentnis aller Christen, Nemlich da man Gott selbs allein oder dem nehisten allein beichtet und umb vergebung bittet, Welche auch ym Vater unser gefasset sind, da wir sprechen ‚Vergib uns unser schuld, als wir vergeben unsern schuldigern‘ etc. Ja das gantze Vater unser ist nicht anders denn ein solche beichte. Denn was ist unser gebete, denn das wir bekennen, was wir nicht haben noch thuen so wir schuldig sind, und begeren gnade und ein frölich gewissen? Solche beicht sol und mus on unterlas geschehen, so lang wir leben. Denn daryn stehet eigentlich ein Christlich wesen, das wir uns fur sunder erkennen und gnade bitten. Desselben gleichen die ander beicht, so ein yglicher gegen seinem nehisten thuet, ist auch yns Vater unser gebunden, das wir unternander unser schuld beichten und vergeben, ehe wir fur Got komen und umb vergebunge bitten. Nu sind wir yn gemein alle unternander schuldig, drümb sollen und mügen wir wol offentlich fur yderman beichten und keiner den andern schewen.“275 270 WA 19, 96, 29ff. 271 Vgl. Rietschel, Offene Schuld, 398. Der Einwand von Wilhelm Walther (vgl. WA 19, 58, Anm. 2), Luther habe mit der „vermanung“ die in den Apostolischen Konstitutionen erwähnte Vermahnung im altkirchlichen Gottesdienst gemeint, wird durch Luthers Bezugnahme auf die Kanzel widerlegt. Er meint hier ganz eindeutig die Teile des mittelalterlichen Pronaus. 272 Luther wollte ganz bewusst an die Tradition anknüpfen und akzeptierte auch, dass sich die Liturgie fortentwickelt. Er wollte keinen neuen Gottesdienst schaffen, sondern diesen nur von allen unevangelischen Zusätzen befreien. Vgl. WA 12, 206, 15ff. Es lässt sich heute schwer sagen, ob Luther die Offene Schuld bei Kenntnis ihrer Geschichte als so unevangelisch eingestuft hätte, dass sie hätte beseitigt werden müssen. 273 Vgl. Meyer, Messe, 125. 274 „Also haben wir ym Vater unser zwo absolution, das uns vergeben ist, was wir verschuldet haben beide widder Gott und den nehisten, wo wir dem nehisten vergeben und uns mit yhm versünen.“ WA 30/1, 235, 14ff / BSLK 728, 17ff. 275 WA 30/1, 234, 31ff.

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Besondere Bedeutung erhält der Aspekt der Beichte als Abbitte, wenn es um die allgemeine Schuld aller Menschen geht. „Das beledigen aber ist mancherley, Gemeine und Sonderlich. Inn der gemein (habe ich sorge) sind wir allezumal, da wirfft uns das Vater unser ein. Das ist die, das wir dem nehisten nicht helffen, als wir schuldig sind zuhelffen mit worten, predigen, raten, trosten, mit gelt, gut, ehre, leib und leben. Die ist so hoch gespant, das keiner so heilig ist, er bleibt yn der schuld. Darumb mussen wir alle unternander sagen: ‚Ich bin dir schuldig, du bist mir schuldig‘. Sonderlich aber wem Gott viel gegeben hat, der ist auch viel schuldig. […] Wenn wir nu das register ansehen, wie viel wir schuldig sind, mussen wir zappeln und zagen und finden keinen rad, denn das wir sagen: ‚man ist mir widder schuldig, habe mit andern auch zurechnen, das wil ich yhn allzumal schencken. Darumb bitt ich, HERR, du wollest mir auch vergeben‘. Damit mache ich einen strich dar durch und lessche es aus. Hetten wir den rad nicht, so stunden wir ubel. Darumb bleibt es bey dem Vater unser […]“276

Der gottesdienstliche Gebrauch des Vaterunsers ist für Luther nicht schlechthin die Erfüllung eines Gebotes Christi, sondern Sündenbekenntnis in zweierlei Hinsicht und Vorbereitung gleichermaßen auf das Allgemeine Gebet wie auf den Sakramentsempfang. Zugleich dient es als Allgemeines Gebet. Damit wird dem Gebet des Herrn eine komplexe Funktion zugewiesen, die über die Funktionen der Offenen Schuld weit hinausgeht. Kritisch bleibt zu fragen, ob diese möglicherweise systematisch-theologisch begründbare Funktionalisierung des Vaterunsers auch praktisch-theologischen Einsichten standhält. 2.1.1.3. Luther und der Nürnberger Absolutionsstreit Erst durch die Absolutionsstreitigkeiten in Nürnberg, als deren Urheber Andreas Osiander bezeichnet werden muss,277 wurden Luther und andere Wittenberger Theologen zu ausführlichen Stellungnahmen hinsichtlich der allgemeinen Absolution im Gottesdienst genötigt. Mit der Einführung reformatorischen Gedankenguts in Nürnberg war die Praxis der Ohrenbeichte in die Kritik geraten. Osiander zog in zwei Predigten kurz vor Ostern 1524 gegen die Ohrenbeichte zu Felde, weil auch er die besondere Bedeutung wahrer innerer Buße anerkannte.278 Ihm war nicht an der ersatzlosen Streichung der Ohrenbeichte, sondern

276 WA 19, 516, 21ff. 277 Zum Wirken Osianders vgl. Möller, Wilhelm: Andreas Osiander : Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld 1870. (LASLK; 5); Klaus, Bernhard: Veit Dietrich : Leben und Werk. Nürnberg 1958. (EKGB; 32); Seebass, Gottfried: Das reformatorische Werk des Andreas Osiander. Nürnberg 1967. (EKGB; 44) Erlangen, Univ., theol. Diss. 1965; Stollberg, Dietrich: Osiander und der Nürnberger Absolutionsstreit: Ein Beitrag zur Geschichte der Praktischen Theologie. LuthBl 17 (1965), 153–168. 278 Vgl. Möller, Osiander, 14; Stollberg, Osiander, 154.

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an der Schaffung einer evangelischen Einzelbeichte gelegen.279 Um Missbräuchen beim Sakramentsempfang vorzubeugen, hatte er in die Gottesdienstordnung der Pröpste vom Juni 1524 eine Vermahnung eingefügt, die vor dem Abendmahl der Gemeinde gesprochen wurde.280 Offensichtlich hatte aber mit der Aufhebung des römischen Beichtzwanges der Gebrauch der Beichte stark abgenommen. Deshalb führte Wenzel Linck im Winter 1525/26 in der Sorge, dass jemand nicht absolviert am Herrenmahl teilnehmen könne, eine von ihm verfasste Bußaufforderung281 mit allgemeiner Absolution ein (s. Anh. Nr. 16), die er der Abendmahlsvermahnung anschloss. Diese Absolution wurde bald auch in anderen Nürnberger Kirchen gebraucht, Osiander musste zu ihrer Einführung aber erst vom Nürnberger Rat gezwungen werden.282 Sein Widerstand gegen die Verbreitung der allgemeinen Absolution war in der Befürchtung begründet, dass dadurch die Einzelbeichte ganz aus der kirchlichen Praxis verdrängt werden könnte.283 Möglicherweise ist es auch seiner Initiative zu verdanken, dass in die Nürnberger Kirchenordnung von 1528 die Verpflichtung zur Anmeldung der Kommunikanten und der Gebrauch des Bannes aufgenommen wurden.284 Nachdem der Nürnberger Rat schließlich die Anwendung des Bannes ausgeschlossen hatte, bestand aber seit 1531 durch die vorgeschriebene Anmeldung zum Abendmahl die Möglichkeit, unwürdigen Gemeindegliedern den Sakramentsempfang zu verweigern. „Damit war die Privatabsolution allein gültig geworden.“285 Für Osiander und Brenz, die mit der Schlussredaktion der neuen KO betraut worden waren, war es deshalb eine folgerichtige Entscheidung, die allgemeine Absolution auszulassen. Als aber Anfang 1533 die neue Ordnung eingeführt wurde, erregte das Fehlen der Linck’schen Absolution die Gemüter. Durch zahlreiche Beschwerden wurde der Nürnberger Rat dazu veranlasst, die Meinung der Geistlichen in dieser Frage einzuholen. Alle – bis auf Osiander – stimmten der Wiedereinführung der allgemeinen Absolution bei gleichzeitiger Anmeldepflicht zum Abendmahl

279 Vgl. Stollberg, Osiander, 154. 280 Vgl. EKO 11, 47, Anm. 20. Abgedruckt in EKO 11, 48f. Sie wurde in ähnlicher Form in die KO von Brandenburg-Nürnberg von 1533 (vgl. EKO 11, 195f.) und in das Agendbüchlein Veit Dietrichs 1545 übernommen (vgl. EKO 11, 498). 281 Bei diesem Text handelt es sich nicht – wie manchmal in der Literatur angegeben (z. B. Klaus, Rüstgebete, 553) – um eine Offene Schuld, die als Sündenbekenntnis von der Gemeinde oder stellvertretend von dem Liturgen gesprochen wird. Es sollte deshalb richtig von einer Bußaufforderung gesprochen werden (s. u. 293, Anm. 41). Bei den Nürnberger Streitigkeiten ging es auch nicht um das allgemeine Sündenbekenntnis, sondern um die allgemeine Absolution. 282 Vgl. Seebass, Osiander, 255. 283 Vgl. Stollberg, Osiander, 154f. 284 Vgl. Seebass, Osiander, 255; EKO 11, 137. 285 Seebass, Osiander, 225.

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zu. Dieser mehrheitlichen Meinung schloss sich der Rat an.286 Osiander begründete seine ablehnende Haltung damit, dass mit der allgemeinen Absolution die Anmeldung zum Abendmahl hinfällig werden würde.287 Augenscheinlich sah er wieder die Gefahr der Verdrängung der Einzelbeichte und das Einreißen alter Missstände. Ganz unbegründet war diese Befürchtung nicht. Aus Nürnberg wurde berichtet, „daß die Leute von der Straße, sogar die Schusterbuben, herzugelaufen seien, um sich am Weine gütlich zu tun.“288 Osiander beharrte vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen in seiner Ablehnung der allgemeinen Absolution. Noch bevor sich der Nürnberger Rat mit der Bitte um Gutachten an Johann Brenz und die Wittenberger Theologen wandte, informierte Osiander dieselben über die Vorgänge aus seiner Sicht. An Brenz schrieb er, „Diese allgemeine öffentliche Absolution habe ihm niemals entsprochen, denn er habe nie in der Schrift gelesen, daß eine bunt gemischte Schar, unter der sich Ungläubige, Schwärmer, Unbußfertige, Ehebrecher usw. befänden, zu absolvieren sei; auch wisse er nichts von einem solchen Brauch in der frühen Christenheit. Allgemeine Absolution erteilen heiße, die Perlen vor die Säue werfen. Wenn diese Absolution eine Absolution darstelle, so könne keine Kirchenzucht im Sinne einer Exkommunikation in der Kirche mehr geübt werden. Der Teufel werde nicht nachlassen, bis er auch das Amt der Schlüssel verdorben habe, und für dieses Vorhaben sei Nürnberg der beste Boden.“289 Brenz stellte sich in seinem Gutachten auf Osianders Seite, indem er gegen die allgemeine Absolution Stellung bezog, nahm aber eine gemäßigte Haltung ein.290 Luther und Melanchthon schlugen vor, beide – Privatabsolution und allgemeine Absolution – zu praktizieren. „[…] vnd [wir] wissen die offentlich gemein absolutio nit zu straffen oder zu verwerffen, aus diser vrsach: Denn auch die predig des heiligen Euangelij selb ist im grund vnd eigentlich ein absolutio, darinn vergebung der sunden verkundiget wirt vielen personen in gemein vnd offentlich oder einer personen allein offentlich oder heimlich. Derhalben mag die absolutio offentlich in gemein vnd auch besondern heimlich gebraucht werden, wie die predig in gemein oder heimlich geschehen mocht vnd man sunst mocht viel in gemein oder jemand besonders allein trösten. […] man mus die gewissen vnterrichten, das der trost des Euangelij eim jeden in sonderheit gelte, vnd muß derhalben das Euangelium durch wort vnd Sacrament in sonderheit jedem appli286 Es ist zu vermuten, dass es im Rat selbst starken Widerstand gegen die verpflichtende Einzelbeichte vor dem Abendmahlsempfang gab. Das Bürgertum, das sich im Humanismus emanzipierte, sah hierin eine starke Einschränkung der persönlichen Freiheit (vgl. Stollberg, Osiander, 154). 287 Vgl. Seebass, Osiander, 256. 288 Stollberg, Osiander, 156. 289 Stollberg, Osiander, 157. 290 Vgl. Seebass, Osiander, 256; Stollberg, Osiander, 158.

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cirn, wie yhr als die verstendigen wißt, das in sonderheit ein jedes gewisen darob streittet, ob yhm auch dies grosse gnad, die Christus anbeut, gehor. Da ist leichtlich zu verstehen, das man die priuata absolutio daneben nit soll fallen lassen, vnd diese applicatio erheldt auch deutlicher den verstand des Euangelij vnd der gewalt der schlussel.“291

Daraufhin beschloss der Nürnberger Rat, mit Wirkung vom 30. April 1533 die Bußaufforderung mit nachfolgender allgemeiner Absolution wieder einzuführen.292 Damit war der Nürnberger Absolutionsstreit aber nicht beendet. Es lag sicher in der Persönlichkeitsstruktur Osianders einerseits293 und politischen Absichten des Nürnberger Rates andererseits294 begründet, dass der Streit immer wieder aufflammte. Osiander sorgte mit mehreren Predigten im Jahr 1533, die die Differenzen in der Absolutionsfrage zum Inhalt hatten, für die weitere Eskalation des Konfliktes.295 In einer Predigt am 22. August 1533 sagte er, „niemand, der getauft sei, könne durch die allgemeine Absolution seiner Sünden ledig werden. Wer diese Form der Absolution vertrete, sei vom Teufel verführt.“296 Da Aufforderungen des Rates an Osiander, zu diesem Thema zu schweigen, nichts nützten, wurde im Herbst ein weiteres Gutachten aus Wittenberg eingeholt. Dieses ist vom 8.10.1533 datiert und unterstreicht die schon geäußerte Meinung der Wittenberger Theologen, an beiden Absolutionsformen festzuhalten. Diesmal wird die allgemeine Absolution auch mit praktischen Erfordernissen begründet: „Wie sollten sich auch diejenigen trösten, so mit dem Tod ubereilet würden, auf dem Lande oder sonst, da sie in der Eile nicht möchten Priester haben? Wie sich auch solchs viel zutragen mag an Örtern, da das Evangelium verfolget wird, daß einem rechten Christen auch wohl kein Pfarrherr die Absolution will mitteilen.“297 Man weist Osiander darauf hin, dass ein Unterschied zwischen der Predigt und der Kirchenzucht zu machen sei. Die wahre Absolution ist dabei nur an den Glauben des Sünders gebunden. „Daß auch gedachte Absolution conditionalis ist, ist sie, wie sonst eine gemeine Predig; und ein jede Absolutio, 291 WA.B 6, 454, 5ff (Nr. 2010). 292 Vgl. Seebass, Osiander, 256. 293 Viele Überlieferungen deuten darauf hin, dass Osiander einen schwierigen Charakter hatte. Er wird nicht nur als arrogant und starrsinnig geschildert (vgl. Stollberg, Osiander, 158), sondern man beschuldigte ihn auch – wohl nicht zu Unrecht – der Eitelkeit und Geldgier (vgl. Seebass, Osiander, 209ff). 294 Die Einführung der Reformation in Nürnberg hatte die bischöfliche Jurisdiktionsgewalt endgültig auf den Rat übergehen lassen, die dieser nun gegenüber allen eventuellen Machtansprüchen – besonders der evangelischen Prediger Nürnbergs – verteidigte (vgl. Seebass, Osiander, 274). 295 Vgl. Seebass, Osiander, 256f. 296 Seebass, Osiander, 258. 297 WA.B 6, 528, 43ff (Nr. 2052).

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beide gemein und privat, hat die Conditio des Glaubens; denn ohn Glauben entbindet sie nicht, und ist darumb nicht ein Feilschlüssel.“298 Die Nürnberger werden gebeten, Osiander nicht zum Gebrauch der allgemeinen Absolution zu nötigen. Luther schreibt außerdem an Osiander und Linck mit der Bitte, Frieden zu halten.299 Dieser Bitte kam Osiander wahrscheinlich für mehrere Jahre nach, bis er am 24.8.1536 wieder mit einer Predigt die allgemeine Absolution kritisierte.300 Melanchthon, der auf einer Durchreise Osiander besuchte, wurde bei dieser Gelegenheit vom Rat gebeten, eine Stellungnahme abzugeben. Dieses „Bedenken“ liegt in seiner Schrift „De absolutione ad Noribergenses“ vor.301 Er verteidigte darin die Forderung Osianders, dass die Absolution nicht bedingungslos zu geschehen habe, und verlangte die verstärkte Aufrichtung der Einzelabsolution.302 Schließlich führte der sittliche und geistliche Verfall in Nürnberg dazu, dass der Rat selbst nach einer Lösung suchte und mit Erlass vom 9.5.1539 Besserung verlangte.303 An der Beichtpraxis wurde in Nürnberg jedoch nichts geändert. Im Februar 1540 schickte Melanchthon eine ausführliche selbstverfasste Formel (s. Anh. Nr. 27) zusammen mit einer kürzeren Luthers (s. Anh. Nr. 28) an Wenzel Linck. Diese Texte scheinen sich aber nicht durchgesetzt zu haben, denn auch nach 200 Jahren noch wurde in Nürnberg die allgemeine Absolution von Linck verwendet.304 Der Absolutionsstreit zeigt, dass die Reformatoren sich bei ihren Entscheidungen oft von seelsorgerlichen Intentionen leiten ließen, die je nach der Situation zu unterschiedlichen Ergebnissen führen konnten.305 Systematisch-theologische Überlegungen folgten meist an zweiter Stelle. Luther verteidigte eine Vielfalt von Beicht- und Absolutionsmöglichkeiten. Damit wiederholte er eine Position, die er bereits 11 Jahre früher, in seiner 8. Invokavit-Predigt, vertreten hatte.306 Obwohl er aus seelsorger298 WA.B 6, 529, 79ff. 299 Vgl. WA.B 6, 530ff (Nr. 2053, 2054). 300 Vgl. Seebass, Osiander, 259. 301 Vgl. CR 3, 173, Nr. 1477. 302 Vgl. WA.B 7, 588ff (Nr. 3104). 303 Vgl. Stollberg, Osiander, 164. 304 Vgl. Klaus, Veit Dietrich, 121. 305 „Reformatorische Theologie war seelsorgerliche Theologie.“ Stollberg, Osiander, 166. In diesem Fall steht die Wertschätzung der Einzelbeichte durch den Seelsorger Luther seiner Sorge um die Gegner der Einzelbeichte in Nürnberg entgegen. 306 „Denn unßer got, den wir haben, ist nit so karg, der uns nür einen trost oder stercke unsers gewissens het gelassen oder ein absolution, sonder wir haben vil absolution jm Euangelio und seind reichlich und mit vielen absolution uberschüt. Als die jm euangelio ‚So jr werdent vergeben ewern schüldigern, so wirt eüch mein vater auch vergeben‘. Die ander tröstung haben wir jm vatter unser ‚vergib uns unser schült‘ etc. Die dritt ist die tauff, wan ich also gedenck: sich [=siehe], mein herre, ich bin jo getaufft in deinem namen, damit ich deiner gnade unnd barmhertzigkeit gewyß sey, so für was die mag

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lichen Gründen einerseits Einzelbeichte und -absolution den Vorzug gab, andererseits das Anliegen der Nürnberger zu verstehen suchte, hielt er auch in dieser Frage das Prinzip der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben durch. Die im Glauben ergriffene Lossprechung von Sünden in der Predigt, in den Sakramenten oder in einer allgemeinen Absolution ist effektiv die gleiche wie in der Einzelabsolution. Der jeweils unterschiedliche Charakter von Einzelbeichte und Einzelabsolution auf der einen und allgemeiner Beichte mit allgemeiner Absolution auf der anderen Seite musste aber zwangsläufig zur Konkurrenz zwischen beiden Beichtarten führen. Die fehlende Eindeutigkeit Luthers in der Frage, ob und in welcher Form die Absolution ein Sakrament sei, hatte eine Lösung dieses Problems ebenso verhindert wie Luthers theologische Überzeugung, dass alle Formen der Absolution gleichermaßen wirksam sind.307 Osiander dagegen vertrat ein „ontisch-sakramentales Verständnis“308 der indikativen Absolution, die nur in der Einzelbeichte für ihn denkbar war. Eine allgemeine Absolution verhinderte nach seiner Auffassung den Gebrauch des Bindeschlüssels, denn eine konditionale Formulierung der absolutio stand für ihn außer Betracht, hätte dies doch ein persönliches Zusprechen der Vergebung in Frage gestellt.309 Diese verengte sakramentale Auffassung von Beichte und Absolution widersprach den evangelischen Einsichten und setzte sich im Luthertum nicht durch. Die am Kreuz durch Christus vollzogene Lossprechung wird nach lutherischem Verständnis in der Absolution nur verkündigt. Das geschieht in der Predigt des Evangeliums ebenso wie im Sprechen der Absolutionsformel.310 In der Einzelabsolution erfolgt die Verkündigung der Sündenvergebung an den Einzelnen, wodurch er in besonderer Weise Trost und Stärkung erfahren kann (s. o. Anm. 204). „Es muß aber festgestellt werden, daß Osiander die praktische Aufhebung der Privatabsolution durch den Gebrauch der allgemeinen Absolutionsformel richtig vorausgesehen hat.“311

sein. Darnach haben wir die heymlich beichte, do gee ich hin und empfah ein gewyß absolution, als sprech got selber, das ich gewyß sey, mein sünd seyen mir vergeben. Zu letzt neme ich zu mir das hoch wirdige sacrament, so ich esse sein cörper und trincke sein blut zu eynem zeychen, das ich meiner sünde loß sey, und gott hat mich von allen meinen gebrechen gefreyet: damit er mich gewyß mächte, gibt er mir seinen cörper zu essen, sein blut zutrincken, das ich jo nit verzweyfflen mag noch kan, jch habe einen gnedigen got.“ WA 10/3, 63, 5ff. 307 Vgl. Vercruysse, Schlüsselgewalt, 169. 308 Vgl. Stollberg, Osiander, 166. 309 Vgl. Stollberg, Osiander, 166f. 310 Vgl. Apol. 12, 62 / BSLK 264, 4ff. 311 Seebass, Osiander, 262.

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2.1.2. Die Beichte in den Kirchenordnungen des 16. Jh. Wenn man die Entwicklung der gottesdienstlichen Beichte im 16. Jh. nachvollziehen will, kommt man nicht umhin, die von Richter312 und Sehling313 gesammelten Kirchenordnungen (KOO) des 16. Jh. zur Kenntnis zu nehmen. In diesen Dokumenten sind vielfach Gottesdienstordnungen enthalten, über deren Einhaltung sich meist nicht mit letzter Sicherheit urteilen lässt. Oft verstand man sie als unverbindliche Empfehlungen.314 Seltener findet man Berichte über die geübte Praxis, die zumindest für einen gewissen Zeitraum ein genaueres Bild der damaligen Verhältnisse vermitteln.315 Klagen über Missstände und Anordnungen zu deren Beseitigung in den KOO müssen ebenfalls vorsichtig bewertet werden. Es scheint so, als seien in den voneinander abhängigen Ordnungen entsprechende Textpassagen einfach mit übernommen worden.316 Dennoch lassen die zahlreichen Informationen den Schluss zu, dass im Blick auf den Gottesdienst im Allgemeinen und auf die gottesdienstliche Beichte im Besonderen einerseits liturgische Traditionen fortgeführt

312 Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts: Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangelischen Kirche in Deutschland/hg. von Aemilius Ludwig Richter. 2 Bd. Band 1: Vom Anfange der Reformation bis zur Begründung der Consistorialverfassung im J. 1542. Band 2: Vom Jahre 1542 bis zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Weimar 1846. 313 Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts/hg. von Emil Sehling u. a. Leipzig u. a. 1902ff. [Nachdruck: Aalen 1970] 314 So heißt es in der KO für das Albertinische Sachsen von 1539 (Ausgabe von 1540): „Am end sol jederman wissen, das diese kirchenordnung also gestellet ist, nicht der meinung, als müste es aus not alles eben also gehalten werden, […] sondern allein darumb, das die einfeltigen pfarrher, so sich selbs nicht wissen drein zu schicken, ein form und weise hetten, wie sie sich in irem ampt und handlung der heiligen sakrament halten mügen, damit niemand gewehret noch benomen, wer es für sich selbs besser weis zu machen.“ EKO 1, 275. Handschriftliche Änderungen in den amtlichen Formularen weisen darauf hin, dass offenbar relativ frei mit den festgelegten Ordnungen umgegangen wurde. Vgl. Niebergall, Alfred: Art. „Agende“, TRE 1 (1977), 779. Manchmal werden außerdem Teile der Liturgie nicht erwähnt, weil sie möglicherweise ganz selbstverständlich vorausgesetzt sind (z. B. fehlt der Schlusssegen in der KO Joachims II. für die Mark Brandenburg von 1540, vgl. EKO 3, 70.). 315 Z. B. „Ordnung und Brauch deß Her- | | ren nachtmals, in der Christen- | | lichen Gemain zuo Memmin- | | gen, Auf Ostern im neun- | | und zwainzigisten jar | | gehalten.“ Vgl. EKO 12, 239ff; „Wahrhaftiger Bericht“ aus der Reichsstadt Regensburg von 1542, vgl. EKO 13, 389ff; die Gottesdienstordnung von Pfr. Pancratius Treutel für Belrieth und Einhausen in der Grafschaft Henneberg von 1566, vgl. EKO 2, 329ff; „Agenda, auf dem Land […] wie es zu Rüte und Eschach gehalten wird“ (Reutin und Äschach 1573), vgl. EKO 12, 218ff. u. ö. 316 Z. B. das Verbot allgemeiner Beichte und Absolution in der KO für das Herzogtum Pfalz-Neuburg von 1543 (vgl. EKO 13, 57), die der KO Joachims II. für die Mark Brandenburg von 1540 folgt (vgl. EKO 3, 60).

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und andererseits viele neue Ordnungen geschrieben und angewendet wurden.317 Luther hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass seine Vorschläge für die Gottesdienstreform nur vorläufigen Charakter haben und nicht als verbindliche Ordnungen verstanden werden sollten.318 Während er 1520 noch an einer Form der Offenen Schuld festzuhalten schien (s. o. 64f), ersetzte er sie 1523 durch Vaterunser und Friedensgruß (s. o. 66) und 1526 durch Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung (s. o. 66). Diese Neugestaltung der gottesdienstlichen Beichte wurde aber nicht zum Gemeingut lutherischer Agenden. Während einige Agenden Luthers Paraphrase des Vaterunsers mit der Vermahnung übernahmen (s. u. 94f), beschränkten sich manche entweder nur auf die Verwendung der Vaterunserparaphrase bzw. auf die Vermahnung allein, manche übernahmen andere Paraphrasen bzw. andere Abendmahlsvermahnungen (z. B. die aus Veit Dietrichs „Agendbüchlein“319), wieder andere enthielten nur das Herrengebet und eine Abendmahlsvermahnung bzw. nur ein Vaterunser (s. u. 95ff). Dagegen konnte es gut möglich sein, dass in einem Gottesdienst andernorts das Vaterunser an drei Stellen seinen Platz hatte.320 Vielfach hielt man trotz der evangelischen Reformen an römischen liturgischen Traditionen fest – in erster Linie wahrscheinlich aus seelsorgerlichen Gründen – und trat damit in die „liturgische Erbfolge“ ein.321

317 „Während in der katholischen Kirche die Entwicklung auf die Herausgabe des Einheitsmissale von 1570 hinauslief, kam es auf evangelischer Seite zu einer kaum übersehbaren Zersplitterung auf liturgischem Gebiet, weil nicht nur jedes Territorium und jede Reichsstadt, sondern auch die Herrschaften und Städte innerhalb dieser größeren Gebiete die neu erreichte oder angestrebte Souveränität durch die Herausgabe einer neuen Agende beweisen zu wollen schienen.“ Niebergall, A., Agende, TRE 1, 778. 318 Z. B. 1523 in „Von ordenung gottis diensts ynn der gemeine“, vgl. WA 12, 37, 26; 1523 in „Formula Missae et Communionis“, vgl. WA 12, 206, 12ff, 214, 14ff, 219, 36ff; 1526 in „Deudsche Messe vnd ordnung Gottisdiensts“, vgl. WA 19, 72, 3ff; 113, 4ff. 319 S. u. Anm. 442. 320 Die KO von 1578 für die Grafschaft Hohenlohe sieht für den Sonntagsgottesdienst an 3 Stellen das Vaterunser vor: Nach dem Kollektengebet wird mit den 6 Stücken des Katechismus auch das Vaterunser verlesen, zwischen Glaubenslied und Verlesen des Evangeliums folgt es ein zweites Mal, nach dem Allgemeinen Gebet bzw. bei der Feier des Herrenmahls zwischen Absolution und Einsetzungsworten ein drittes Mal, vgl. EKO 15, 262ff (s. auch u. Anm. 440). In der römischen Messe konnte das Vaterunser an ganz verschiedenen Stellen stehen. Vgl. Jahnke, Eleonore: Die mehrstimmige Vertonung des lateinischen Vaterunser in der Zeit von 1500–1700: Überlegungen zum liturgischen Ort des Gebetes und der Vertonung. In: Vaterunser-Bibliographie/hg. von Monica Dorneich, Freiburg/Br. 1982, 11f. 321 Die überlieferten kultischen Formen wurden zwar weithin kritisiert und abgelehnt, in der Praxis übernahm man aber dann erstaunlich viel von dem vorgefundenen liturgischen Gut. Eine ähnliche Situation hatte im 2. und 3. Jh. bestanden, als synagogale Elemente in den christlichen Gottesdienst aufgenommen wurden. Vgl. Rendtorff,

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Die KO von Pfalz-Neuburg 1543 hebt hervor, dass der Tradition der jeweiligen Gemeinde der Vorrang zu geben sei: „Erstlich soll der priester, so die meß halten will, sampt seinen ministranten, […] nach gewonheit einer jeden kirchen [Hervorhebung T. B.] zu dem altar gehn und anfenglich darvor kniend das Confiteor oder ein feinen bußpsalm sprechen.“322 So lässt sich erklären, dass das Confiteor sowohl als Vorbereitungshandlung der Geistlichen als auch als Beichthandlung für die gesamte Gemeinde gebraucht wurde (s. u. 77ff), eine Entwicklung, die sich bereits vor der Reformation angebahnt hatte (s. o. 50). Die Offene Schuld, meist im Zusammenhang mit anderen Teilen des Pronaus, blieb auf diese Weise dem evangelischen Gottesdienst ebenfalls erhalten (s. u. 81ff). Am schöpferischsten ging man wohl in Straßburg mit den überlieferten Gottesdienstordnungen um. Eine evangelische Messe auf der Grundlage der „Formula missae“ wurde unter schweizerischem Einfluss stark verändert, so dass nur noch wenig an den Messtyp erinnerte.323 Am Ausgang des 16. Jh. gab es somit eine Vielfalt von Gottesdienstordnungen in den lutherischen Kirchen, die sogar in benachbarten Gemeinden voneinander abweichen konnten.324 Die gottesdienstliche Beichte wurde in den verschiedenen Gemeinden auf ganz unterschiedliche Weise geübt. Inzwischen war das Ablegen der Einzelbeichte vor dem Abendmahlsempfang wieder verpflichtend geworden. Es ist also auch zu klären, welche Funktionen die Beichte der Gemeinde im Gottesdienst im Unterschied zur Einzelbeichte hatte.

Franz: Geschichte des Gottesdienstes unter dem Gesichtspunkt der liturgischen Erbfolge: Eine Grundlegung der Liturgik, Gießen 1914. (SPTh[G]; 7/1) 322 EKO 13, 70 (Hervorhebung von mir). 323 Vgl. Waldenmaier, Entstehung, 64ff, 70f. 324 In der Regel existierten für Städte und Dörfer unterschiedliche Gottesdienstordnungen. So heißt es z. B. in der KO für Hessen von 1566: „Zuletzt ist unmöglich, daß in stedten und dörfern ein gleichheit durchaus in den kirchen könte gehalten werden, wie die erfahrung bezeuget.“ EKO 8, 233. Aber auch in Städten wichen die Ordnungen in den einzelnen Kirchen voneinander ab. Diese Entwicklung setzte sich fort, so dass Anfang des 18. Jh. ein Pfarrer berichten konnte: „Als ich nur ins Predigt-Amt beruffen war, klagte mir in einer vornehmen Stadt ein Bürge-Meister, der ein verständiger und gottfürchtiger Mann war, daß in ieglicher Kirche bey ihrer Stadt, deren doch fünffe wären, andere Ceremonien eingeführet wären, daher es öffters geschehe, wenn ein Prediger aus seiner bisherigen Kirche in eine andere beruffen würde, er zum ersten und andernmal etwas versehe, welches, ob es gleich nicht viel zu bedeuten habe, doch dem gemeinen Volck, Anlaß gebe, darüber zu raisonniren. Wären aber die Ceremonien allenthalben gleich und einerley, so dürfften die Prediger nicht neue Manieren und Weisen lernen, und sich nicht so leicht confundiren.“ Gerber, Christian: Historie | | Der | | Kirchen= | | CEREMONIEN | | in Sachsen ; | | Nach ihrer Beschaffenheit in möglichster Kürtze mit Anführung vieler Moralien/ | | und specialen Nachrichten | | […] | | Dresden; Leipzig 1732, 16.

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2.1.2.1. Das Confiteor Auch nach der Reformation wurde das Confiteor von Geistlichen, die der neuen Lehre anhingen, als privates Vorbereitungsgebet zu Beginn des Gottesdienstes vor dem Altar gesprochen. Mehrere KOO halten diesen Brauch fest, in der Regel für die Sonntagsmesse.325 Es darf aber angenommen werden, dass das Sündenbekenntnis der am Gottesdienst beteiligten Geistlichen weitaus häufiger gesprochen wurde, als dies amtlich vermerkt ist, handelte es sich doch um einen privaten Akt, der weitgehend ins Ermessen des Einzelnen gestellt war. Dass diese Vorbereitungshandlung kein Gemeinde-Confiteor war, geht meist aus der Bemerkung hervor, dass sie während des Introitus-Gesangs vollzogen werden sollte.326 Eine Ausnahme stellt dabei vielleicht die KO Joachims II. von Brandenburg 1540 dar, nach der das Confiteor als offenbar privates Vorbereitungsgebet von Priester und Ministranten seinen Ort vor dem Singen des Introitus hatte.327 Ähnliches sehen die Ordnungen für Pfalz-Neuburg 1543 (s. u. Anm. 537) und Köln 1543 (s. u. Anm. 538) vor. Es ist heute schwer zu sagen, inwieweit jene Beichthandlung stellvertretend für die Gemeinde erfolgte und ob die versammelten Gläubigen diese Handlung innerlich mit vollziehen konnten. Einen stärker öffentlichen Charakter scheint das Confiteor beispielsweise in der Hadelner KO von 1526,328 der Mecklenburger KO von 1545329 bzw. von 1552330 (s. Anh. Nr. 30) gehabt zu haben. Dennoch handelt es sich hier um Grenzfälle, bei denen die private Vorberei325 Beispiele dafür sind: KO 1533 Brandenburg/Nürnberg, vgl. EKO 11, 188; KO 1542 Reichsstadt Regensburg, vgl. EKO 13, 391; KO 1544 Stadt Hildesheim, vgl. EKO 7/2,1, 852; 1545 Agendenbüchlein Veit Dietrichs, vgl. EKO 11, 495; 1546 Vorläufige KO Kurpfalz, vgl. EKO 14, 96; KO 1548 Fürstentum Anhalt, vgl. EKO 2, 554; KO 1550 Martinskirche Amberg, vgl. EKO 13, 285; KO 1552 Stadt Buxtehude, vgl. EKO 7/1, 74; KO 1553 Reichsstadt Regensburg, vgl. EKO 13, 419f (hier entfällt das Confiteor des Priesters 1567); KO 1553 Grafschaft Hohenlohe, vgl. EKO 15, 68 u. a. 326 Z. B. KO für das Fürstentum Anhalt 1548: „[…] soll aber der priester erstlich fur dem altar knieend die confession und daruf der minister die absolution sprechen, under des singe man den introitum kirie leison, […]“ EKO 2, 554. 327 „Erstlich sol der priester, so die mess helt, samt seinen ministranten […] zu dem altar gehen, anfenglich das confiteor sprechen; darnach soll der gewönlich introitus […] gesungen werden.“ EKO 3, 67ff. Ähnlich in der KO von 1543 für Pfalz-Neuburg, vgl. EKO 13, 70. 328 Nach dem gemeinsamen Singen des „Veni sancte spiritus“ singt der Priester zu Beginn der Messe die „confession“, darauf antwortet der Küster, indem er die Absolution liest. Dieser Brauch wurde vor 1544 abgeschafft. Vgl. EKO 5, 467f. Zu beachten ist dabei, dass die Küster als geistliche Personen galten, die auch geistliche Aufgaben zu verrichten hatten. Auf Dörfern übten oft Schulmeister diese Tätigkeit aus. 329 Auf das Sündenbekenntnis des Priesters folgt ein Gnadenspruch des Diakons. Abschließend spricht der Priester eine Vergebungszusage als Absolution. Danach wird der Introitus gesungen. Vgl. EKO 5, 150f. 330 Der Text ist dem von 1545 sehr ähnlich, er ist allerdings nicht mehr niederdeutsch geschrieben. Vgl. EKO 5, 197ff.

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tung der Geistlichen im Vordergrund stand. Die Gemeinde konnte sich innerlich an diesem Geschehen beteiligen, denn es wurde nicht akustisch von Chor- oder Gemeindegesang überdeckt. Ein doppeltes Confiteor enthält die Sonntagsmesse aus der KO Kaspar Löners in Nördlingen 1544. Am Anfang steht das private Confiteor des Priesters. Währenddessen bzw. danach singt der Chor „Nun bitten wir den Heiligen Geist […]“. Anschließend spricht der Priester der Gemeinde ein Confiteor bzw. eine Offene Schuld vor und erteilt die Absolution.331 In der KO für die Reussische Herrschaft von 1552 war es offenbar frei gestellt, ob das Sündenbekenntnis am Anfang eher privaten oder gemeinschaftlichen Charakter haben sollte.332 Eine Art Gemeinde-Confiteor dagegen hatte Thomas Müntzer bereits 1524 für seine „Deutsch evangelisch messe“ in Allstedt vorgesehen (s. Anh. Nr. 15). Dabei wurde das Confiteor nur vom Priester gesprochen. Darauf folgte die Fürbitte der Gemeinde und nach einem Wechselgesang die allgemeine Absolution in deprekativer Form.333 Nur noch selten hatte das Gemeinde-Confiteor dialogische Struktur. Zunehmend, nicht nur wenn die Gemeinde in das Sprechen des Sündenbekenntnisses einbezogen wurde, verwendete man Texte der Offenen Schuld.334 Die Fürbitte der Gemeinde für den Priester blieb anfangs noch erhalten, geriet dann aber in Vergessenheit.335 So wurde nach der KO für die St. Wenzelskirche 331 „Wen das aus ist, sol der celebrant sich zu dem volk wenden oder, so man je wollt im chor bleiben, herausgen fur den alter, alldau das Confiteor oder offne beicht dem volk fursprechen und darauf die absolution.“ EKO 12, 311f. 332 Für die Gottesdienstordnung bei der Feier des Abendmahls war vorgeschlagen: „Das confiteor oder publica confessio vor dem altar soll frei gelassen sein, doch möchte man unser kirchen mit demselben nachvolgen, oder der priester einen psalm, als miserere mei deus, de profundis clamavi, oder dergleichen etwas vor dem altar kniend beten.“ EKO 2, 153. 333 Vgl. EKO 1, 499, 504. 334 Vgl. den bemerkenswerten Aufsatz von Schulz „Die Offene Schuld als Rüstgebet der Gemeinde“. Schulz versucht darin nachzuweisen, dass sich das Gemeinde-Confiteor in den meisten KOO des 16. Jh. auf eine Straßburger Ordnung von 1524 zurückführen lässt. Als weniger einflussreiche Tradition gilt ihm die Nürnberger (s. Anh. Nr. 14 und Nr. 17), die sich im Confiteor von Mecklenburg 1552 (s. Anh. Nr. 30) u. a. fortsetzt. Vgl. Schulz, Frieder: Die Offene Schuld als Rüstgebet der Gemeinde. JLH 4 (1958/59), 86ff. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch andernorts in reformatorischer Zeit und danach unabhängige Beispiele für ein Gemeinde-Confiteor zu finden sind, z. B. das von Müntzer 1524 (s. Anh. Nr. 15) – vgl. Smend, Julius: Die evangelischen deutschen Messen bis zu Luthers Deutscher Messe. Göttingen 1896, 114 – oder das aus Naumburg 1537/38 (s. Anh. Nr. 26). Die Unterschiede sind m. E. Indizien dafür, dass das evangelische Gemeinde-Confiteor Vorläufer im Confiteor der römischen Messe hatte (s. o. 53). Die Entwicklung des Gemeinde-Confiteor kann deshalb sicher nicht so linear angenommen werden, wie Schulz das tut (vgl. auch 2.1.2.5. , 108ff). 335 In der Messe des Priors Volprecht, Nürnberg 1524 (s. Anh. Nr. 14), wird bereits betont, dass der Priester „die offene beicht anstatt des Confiteor“ vorsprechen

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in Naumburg 1537/38 im Anschluss an eine Bußaufforderung eine kurze Offene Schuld gesprochen (s. Anh. Nr. 26), deren erweiterter Text bis heute als Offene Schuld Bestandteil der sächsischen Gottesdienstordnung ist (s. u. 88ff). Darauf folgten Absolution und Pax Christi, bevor der Chor das Kyrie sang.336 Die Verwendung von Texten der Offenen Schuld an Stelle des Confiteor führte wahrscheinlich dazu, dass auch andere Pronaus-Stücke in den Eingangsteil des Gottesdienstes gezogen wurden.337 Die Ordnung des Predigtgottesdienstes für Augsburg 1529/30 sieht ein Confiteor in Form der Offenen Schuld mit nachfolgender Vergebungsbitte und annuntiativer Absolution vor (s. Anh. Nr. 20). Daran schließen sich das allgemeine Gebet, Vaterunser und Predigt an.338 Ähnlich hielt man es in Nördlingen 1555/1579 im Zusammenhang mit der Feier des Abendmahls.339 In der KO für die Kurpfalz von 1563 folgen auf das Confiteor in Form der Offenen Schuld eine Vergebungsbitte, ein Gebet um das rechte Verstehen des Wortes Gottes, das Vaterunser und die Predigt.340 Zuweilen führte die Austauschbarkeit der Texte für Confiteor und Offene Schuld sogar dazu, dass zu Beginn des Gottesdienstes und nach der Predigt die gleiche Offene Schuld mit nachfolgender Absolution gesprochen wurde, z. B. in der KO für Hessen von 1566.341 Ähnlich wie die mittelalterlichen Quellen geben die KOO nur selten Auskunft über die Zielrichtung des Confiteor. Während für das private Confiteor noch angenommen werden kann, dass dieses Sündenbekenntnis der Reinigung und Heiligung der Geistlichen – besonders vor der Feier des Herrenmahls in der Messe – diente, sind für das gemeinschaftsoll. Diese Offene Schuld betont in besonderer Weise das gegenseitige Bekennen der Sünde, obwohl es nicht mehr dialogisch gestaltet ist. Nach einer Vergebungsbitte folgt das Misereatur in indikativer Form. Vgl. EKO 11, 39f. In der Messe von Andreas Döber, Nürnberg 1525, folgt auf die Vermahnung zum Sündenbekenntnis eine allgemeine Beichte mit Absolution. Danach bittet der Priester das Volk um Fürbitte, bevor man gemeinsam „Komm, Heiliger Geist […]“ singt. Vgl. EKO 11, 51. 336 Vgl. EKO 2, 77f. 337 Vgl. Meyer, Messe, 123. 338 Vgl. EKO 12, 36f. 339 In der KO von 1555 liest nach dem Eingangslied ein Diakon zum Volk gewandt die Vermahnung zum allgemeinen Gebet, die Offene Schuld und die Absolution vor. Darauf folgt das Kyrie. Vgl. EKO 12, 318. Den gleichen Ablauf sieht die KO von 1579 vor, vgl. EKO 12, 365ff. 340 Vgl. EKO 14, 388f. 341 Die Offene Schuld war sehr lang. Deshalb behielt man sich vor, sie im Eingangsteil durch den 51. Psalm zu ersetzen. vgl. EKO 8, 237f, 254. „Weil dies ander stück etwas lang, nemlich von der bekentnis und vergebung der sünden sampt der absolution, darzu uf der canzel nach der predigt, wie auch sonst in allen andern kirchen gewönlich wiederumb gebraucht wird, singen etliche kirchen dafür das Miserere, den 51. Psalm, oder einen andern.“ EKO 8, 239.

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liche Sündenbekenntnis zum Beginn des Gottesdienstes auch andere Intentionen denkbar. Zunächst erscheint die Ausrichtung auf den gesamten Gottesdienst als logisch. Indirekt wird diese Begründung in der KO für die St. Wenzelskirche Naumburg 1537/38 angeführt. Bevor das Confiteor in Form der Offenen Schuld verlesen wird (s. Anh. Nr. 26), erfolgt die Gebetsvermahnung: „Lieben freunde, dieweil wir itzunt alle in dem dienst gottes des almechtigen zu hören sein heiliges gotliches wort vorsamlet sein, so wollen wir erstlichen den herrn umb seine gnade anrufen und bitten, das er uns unsere herzen zu dem warhaftigem vorstand seines gotlichen worts eröffnen wolle, auf das wir dasselbe mit lust und freude unseres herzen hören vornehmen und auch behalten mugen. Und das er uns auch gnade vorleihen wolle, das wir ihme umb alle seine gnaden und gaben leibliche und geistliche danken und seinen heiligen namen hie in dieser christlichen gemeine und in seinem reich mit allen auserwelten [= Auserwählten] ewiglich loben und preisen mugen“.342 Dann schließt sich die Vermahnung zum Allgemeinen Gebet an. Darauf heißt es: „Dieweil wir aber alle sunder sein, so last uns erstlichen unsere sunde bekennen und dieselben gott dem almechtigen abbitten und sprecht.“343 Das Sündenbekenntnis scheint demnach in der Hauptsache als notwendiger Akt vor dem Beten um rechte Erkenntnis des Wortes bzw. um rechten Lobpreis und vor dem Beten für andere verstanden zu werden. Sicher war der Bußakt zu Beginn der Messe auch nochmals als Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang gedacht.344 Eine Ausrichtung des GemeindeConfiteor auf die nachfolgende Predigt wird in der KO für die Kurpfalz 1563 erkennbar, wenn es dort heißt: „[…] soll diß nachvolgend gebet dem volck fürgesprochen werden, in welchem die christlich gemein des menschlichen elendts außtrücklich erinnert und die heilsame gnade Gottes begert wirdt, auf daß die hertzen zur demut bereit werden und das wort der gnaden desto begierlicher annemen.“345 Bereits bekannt ist die Begründung, dass das Sündenbekenntnis die Voraussetzung für eine ehrliche und wirksame Fürbitte ist (s. o. 47). In der Nördlinger KO 1579 findet sich diese Erkenntnis wieder: „Es sollen aber die kürchendiener das volk mit allem vleiß underrichten, das das gemein gebet nicht fruchtbar sei noch göttliche hilf erlange, es geschehe dann von den bueßfertigen, die aus erkantnus der schwere irer sünden von denselbigen

342 EKO 2, 77. Dieser Abschnitt steht bereits unter der Überschrift „Darauf list der priester das confiteor zum volk wie volget.“ 343 EKO 2, 78. 344 Diese Vermutung drängt sich auf, wenn z. B. in den Nördlinger KOO von 1555 und 1579 das Confiteor in Form der Offenen Schuld nur für die Sonntagsmesse vorgesehen wird und in den Mittags- und Vespergottesdiensten ohne Abendmahlsfeier entfällt. Vgl. EKO 12, 318ff. 345 EKO 14, 388.

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abstehen, bössern ir leben und ruefen Gottes namen an aus rechtem vertrauen […]“346 Im lutherischen Gottesdienst des 16. Jh. hat das Confiteor vor allem seine Stellung im Eingangsteil des Gottesdienstes behalten. Das dialogische Sündenbekenntnis ist aber den gemeinsam gesprochenen Texten der Offenen Schuld gewichen. Als gemeinschaftliches Bekenntnis der Sünde mit zumeist deprekativer Absolution bereitet es auf die Feier des Gottesdienstes insgesamt und besonders auf das Hören der Predigt, das Bitten für die Not der Welt und den Empfang des Abendmahls vor. 2.1.2.2. Die Offene Schuld Neben dem traditionell angestammten Platz der Offenen Schuld im Gottesdienst im Zusammenhang mit anderen Pronaus-Stücken nach – seltener vor – der Predigt lassen sich in den KOO verschiedene Neugestaltungen und Neuanordnungen dieser gottesdienstlichen Beichte ausfindig machen. Die Offene Schuld zu Beginn des Gottesdienstes, faktisch als Ersatz für das Confiteor, war bereits erwähnt worden (s. o. 78f). In vielen Ordnungen rückt die Offene Schuld in den Abendmahlsteil, bzw. die Abendmahlsvermahnung wird Teil des Pronaus. Am häufigsten dürfte die Offene Schuld mit nachfolgender Absolution ihre Stellung nach der Predigt behauptet haben. Beispiele dafür geben die Braunschweiger KO von 1528 (s. Anh. Nr. 19),347 die Visitationsartikel für Meißen und das Vogtland von 1533,348 die KO für Augsburg von 1537 (s. Anh. Nr. 25),349 die KO für Calenberg-Göttingen von 1542 (s. Anh. Nr. 29),350 die Gottesdienstordnung der Spitalkirche zu Amberg von 1544,351 die KO für Celle von 1545,352 die KO für die Kurpfalz von 346 EKO 12, 367. 347 Auf die Predigt folgen im Gottesdienst Abkündigungen, Apostolikum, Offene Schuld, Gnadenwort, Vermahnung zum Allgemeinen Gebet und Vaterunser. Vgl. EKO 6/1, 440f, 443. 348 Dem Glaubenslied folgen Predigt, Offene Schuld mit Absolution, Allgemeines Gebet und Vaterunser. Vgl. EKO 1, 192. 349 Nach der Predigt folgen im Predigtgottesdienst Bußvermahnung, Offene Schuld, Absolution und Allgemeines Gebet, vgl. EKO 12, 57. 350 Die Predigt wird in der Messe gefolgt von Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Vaterunser, Apostolikum, Dekalog, Offener Schuld und Absolution. Vgl. EKO 6/2, 793ff. 351 Nachdem der Chor das Nizänum gesungen hat, singt die Gemeinde ein Glaubenslied. Darauf singt der Prediger „Komm, Heiliger Geist […]“ und das Vaterunser, bevor er predigt. Darauf folgen eine Offene Schuld mit allgemeiner Absolution, ein Psalm oder die Litanei. Vgl. EKO 13, 283. 352 „Am ende der predigten sol der prediger dem volke auch die gemeine beichte fursprechen, wie vor alters und darauf die gemeine absolution, und das nur am sontage ader auch an hohen festen, sunst nicht.“ EKO 1, 297. Bemerkenswert sind die Beschränkung auf Gottesdienste an Sonn- und Festtagen sowie der Hinweis auf die vorreformatorische Tradition.

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1556,353 die KO für Rothenburg von 1559,354 die KO für die Kurpfalz von 1563,355 die KO für Hessen von 1566,356 die KO für Wolfenbüttel von 1569,357 die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1571,358 die Kirchenagende für Aschersleben von 1575,359 die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1578,360 die „Form der allgemeinen Beichte und Absolution“ für Dresden von 1581 (s. Anh. Nr. 32),361 die KO der Kurpfalz von 1601362 u. a. Mehrere Ordnungen erwähnen im Zusammenhang mit der Offenen Schuld nach der Predigt nicht ausdrücklich eine Absolution, so z. B. die KO für das Herzogtum Preußen von 1525,363 die KO für Lübeck und 353 Im Predigtgottesdienst ohne Abendmahl folgen auf die Predigt eine Vorrede des Allgemeinen Gebets, die Offene Schuld, die allgemeine Absolution und das Allgemeine Gebet. Vgl. EKO 14, 145f, 151ff. 354 Wenn ein Prediger dies für wichtig und wünschenswert hielt, konnte er an seine Predigt eine „Vermahnung zur öffentlichen Beichte“, dann die Offene Schuld mit Absolution anfügen. Es wird darauf hingewiesen, dass – obwohl die Predigt eine wahrhafte Absolution ist – die allgemeine Absolution für die Einfältigen deutlicher sei. Vgl. EKO 11, 584f. 355 Der Predigt des Morgengottesdienstes folgen Offene Schuld, allgemeine Absolution und Allgemeines Gebet bzw. Vaterunserparaphrase und Vaterunser. Vgl. EKO 14, 389ff. Vor der Predigt waren vom Prediger bereits ein Sündenbekenntnis mit Vergebungsbitte sowie ein Gebet um rechtes Verständnis des Wortes gesprochen worden. Vgl. EKO 14, 388f. Die Ordnung für den Mittagsgottesdienst am Sonntag sieht nach der Predigt ein Allgemeines Gebet als Variante vor, das nochmals die Sündhaftigkeit betont und die Bitten um Vergebung und Sinnesänderung einschließt. Vgl. EKO 14, 391f. 356 Auf die Predigt folgen Offene Schuld, allgemeine Absolution und Allgemeines Gebet. Vgl. EKO 8, 254. 357 In der Sonntagsmesse folgen nach dem Credo eine Vermahnung zum Gebet um den Heiligen Geist und ein rechtes Verständnis des Wortes, das Vaterunser und die Predigt. Daran schließen sich eine Offene Schuld mit Absolution, die Vermahnung zum Allgemeinen Gebet und das Vaterunser an. Vgl. EKO 6/1, 143ff. 358 Im Sonntagsgottesdienst ohne Abendmahl folgen auf die Predigt Offene Schuld, Absolution, Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Gebet und Vaterunser. In der Sonntagsmesse stehen Offene Schuld und Absolution nach der Abendmahlsvermahnung und gehören damit schon zum Abendmahl (s. u. 84f). Vgl. EKO 15, 167f. 359 Auf die Predigt in der Messe folgt „eine kurze offene Beicht“. Vgl. EKO 2, 478. Die KO 1589 erwähnt zusätzlich „Generalabsolution“ und Allgemeines Gebet. Vgl. EKO 2, 476. 360 Im Sonntagsgottesdienst ohne Abendmahl folgen auf die Predigt Offene Schuld, Absolution, Abkündigungen, Allgemeines Gebet und Vaterunser. Vgl. EKO 15, 263f. 361 Sie wurden vom Prediger nach der Predigt auf der Kanzel verlesen. Vgl. EKO 1, 557. 362 Sowohl im Predigtgottesdienst als auch im Sonntagsgottesdienst mit Abendmahl gehören Offene Schuld und Absolution zum Pronaus. Im Predigtgottesdienst wird vor der Predigt (auch 1563, vgl. EKO 14, 388f) ein Gebet als Sündenbekenntnis mit Vergebungsbitte gesprochen. Daran schließen sich Vaterunser, Predigt, Offene Schuld mit Absolution und Allgemeines Gebet mit Vaterunser an. Vgl. EKO 14, 558, 567. Im Gottesdienst mit Abendmahl folgen Offene Schuld und Absolution der Predigt. Vgl. EKO 14, 574f. 363 An die Predigt schließen sich eine Offene Schuld, Vaterunser, Credo und Dekalog an. Vgl. EKO 4, 32, 37.

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Bergedorf von 1531,364 die KO für die Liegnitz’schen und Brieg’schen Fürstentümer von 1535,365 die KO in der Martinskirche zu Amberg von 1550366 und das Gebet von Johann Pfeffinger in Leipzig von 1567 (s. Anh. Nr. 31).367 Da in diesen Fällen nur zweimal Texte der Offenen Schuld ohne Absolution überliefert sind (Preußen 1525, Joh. Pfeffinger 1567), kann zumindest für die betreffenden Ordnungen vermutet werden, dass die allgemeine Absolution im Bewusstsein der Verfasser ganz selbstverständlich zur Offenen Schuld gehörte und nicht besonders erwähnt werden musste. Es ist aber ebenso denkbar, dass in der Abendmahlsfeier der Messe – ganz im Sinn Luthers (s. o. Anm. 306) – das Sakrament als feste Zusage der Sündenvergebung auf das vorhergehende Sündenbekenntnis empfangen wurde. Eine andere Erklärung für die fehlende Absolution könnte sein, dass das Sündenbekenntnis so selbstverständlich vor dem Sprechen des Allgemeinen Gebets erfolgte, dass Offene Schuld und Allgemeines Gebet schließlich miteinander verschmolzen.368 Die Pronaus-Stücke folgten nie durchgängig auf die Predigt, standen aber stets in engem Zusammenhang mit der volkssprachlichen Verkündigung (s. o. 40f). Es ist deshalb keine Neuerung, möglicherweise sogar eine lokale Tradition, wenn in zwei Augsburger Ordnungen von 1537 und 1545 die Offene Schuld mit allgemeiner Absolution sowie andere Teile des Pronaus der Predigt vorangehen.369 364 In Sonntags- und Festgottesdiensten folgen auf die Predigt Abkündigungen, Offene Schuld und Vermahnung: „Darna schölen notlike saken afgekündiget werden, bicht und vormaninge tom bede gelesen etc.“ EKO 5, 350. 365 An die Predigt schließen sich ein gesungenes Vaterunser, eine Lesung von 1 Kor 11 oder Joh 6, ein gesungenes Credo und die Offene Schuld an. Das Allgemeine Gebet folgt erst auf die sich anschließende Abendmahlsvermahnung. Vgl. EKO 3, 439. 366 Vor der Predigt in der Sonntagsmesse steht ein Glaubenslied, danach die Offene Schuld und das Allgemeine Gebet. Vgl. EKO 13, 285f. 367 An ein allgemeines Sündenbekenntnis ohne Absolution schließt sich ein Allgemeines Gebet ohne Bezug zur Offenen Schuld an. Vgl. „Gemein gebet. Nach der predigt mit mund und herzen zu sprechen. Verneuert durch d. Johann Pfeffinger. Leipzig, 1567“, EKO 1, 595. 368 Ein Beispiel wäre das Gebet Pfeffingers. Andere Beispiele dafür sind: Gothaisches | | Kirchen=Buch, | | auf gnädigste Verordnung | | Des Durchlauchtigsten Fürsten | | und Herrn, | | Herrn Friederichs, | | Hertzogs zu Sachsen, | | […]| | Vor die Kirchen und Pfarrer | | im Fürstenthum Gotha, | | in Zwey Theil abgefasset, | | […] Gotha 1724, 1, 214ff; Evangelisch-lutherische Agende/hg. von Christian Friedrich von Boeckh. 2 Teile. Teil 1: Die öffentlichen Gottesdienste. Teil 2: Die kirchlichen Handlungen. Nürnberg 1870, 1, 152ff; Agende für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern: Mit vorangestellter Ordnung und Form des Hauptgottesdienstes an Sonn- und Festtagen: Revidirte und ergänzte Auflage des Agendenkerns von 1856. 2 Teile. Teil 1: Die öffentlichen Gottesdienste. Teil 2: Die heiligen Handlungen. Ansbach 1879, 1, 150f. 369 In der Ordnung von 1537 besteht der Pronaus aus den 10 Geboten, der Offenen Schuld, der allgemeinen Absolution in Form einer Gnadenzusage, dem Credo, dem Allgemeinen Gebet und dem Vaterunser. Vgl. EKO 12, 67–71. Leicht verändert enthält

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Als reformatorische Neuschöpfung dürfte die Offene Schuld im Abendmahlsteil des Gottesdienstes gelten. Eine frühe Form findet sich in der Abendmahlsordnung für Memmingen von 1529, bei der verschiedene Pronaus-Stücke mit der Feier des Abendmahls verbunden sind. Ambrosius Blarer hatte nach Schweizerischem Vorbild die Abendmahlsfeier in den Prädikantengottesdienst eingefügt und die Struktur der Messe ganz beseitigt.370 Nach der Predigt wird ein Psalm gesungen, der Friedensgruß und ein Gebet gesprochen. Danach liest der Diakon I Kor 11,20–34 und Joh 6,47–63. Zwischen den Lesungen sprechen Priester und Diakon im Wechsel das Gloria Patri mit anschließendem Te Deum. Es folgen ein Gemeindelied, eine Abendmahlsvermahnung, die Vermahnung zum Allgemeinen Gebet und das Vaterunser. Danach sprechen Priester und Diakon im Wechsel das Apostolikum. Auf ein Gebet folgt ein Bann über die Sünder und Unbußfertigen, an den sich eine Aufforderung zur Buße und zum Sprechen der Offenen Schuld anschließt. Gemeinsam wird die Offene Schuld gesprochen und vom Priester die Absolution erteilt (s. Anh. Nr. 21). Darauf folgen Einsetzungsworte und Austeilung, Vermahnung zur Dankbarkeit und zum Dienen, im Wechsel gesprochener Lobpreis, Vermahnung zu christlichem Wandel, Dekalog und Entlassung.371 Ähnliche Ordnungen mit einer Offenen Schuld im Abendmahlsteil entstanden unter Schweizerischem Einfluss auch andernorts in Süddeutschland, so z. B. 1536 in der KO für Württemberg (s. Anh. Nr. 24),372 1537 in Augsburg (s. Anh. Nr. 25),373 1545 in Augsburg,374 1555 in Lindau375 oder 1573 in Reutin und Äschach.376

die Ordnung von 1545 eine Bußaufforderung im Blick auf die Predigt, Offene Schuld, allgemeine Absolution in Form von Trostsprüchen, Allgemeines Gebet und Vaterunser. Vgl. EKO 12, 89ff. 370 Vgl. EKO 12, 227f. 371 Vgl. EKO 12, 239–246. Interessant ist, dass die 10 Gebote hier nicht der Sündenerkenntnis vor dem Sprechen der Offenen Schuld dienen, sondern an die Heiligung durch den Sakramentsempfang erinnern sollen. 372 Vgl. EKO(R), 1, 268. 373 Viermal im Jahr wurde in Augsburg Abendmahl gefeiert. Dann hatte der Gottesdienst folgende Ordnung: auf die Predigt folgen Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld mit allgemeiner Absolution, Abendmahlskollekte mit Elementen des Allgemeinen Gebets und Vaterunser, bevor die Einsetzungsworte gesprochen werden. Vgl. EKO 12, 79ff. 374 Ähnlich wie 1537, vgl. EKO 12, 86ff. 375 Auf die Sonntagspredigt folgen eine Abendmahlsvermahnung mit Bußaufforderung, Offene Schuld, Absolution, Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung, Einsetzungsworte, Austeilung, Danksagung, Allgemeines Gebet, Vaterunser, Entlassung. Vgl. EKO 12, 207ff. 376 Nach der Predigt stehen Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld, Absolution, Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung, Einsetzungsworte, Austeilung, Danksagung, Segen, Entlassung. Vgl. EKO 12, 219f.

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Die Struktur der Messe scheint stärker in anderen Ordnungen durch, bei denen die Offene Schuld jedoch in den Abendmahlsteil gestellt ist. Beispiele dafür sind die Ordnung für Regensburg von 1542,377 die unter Justus Jonas entstandene KO für Regensburg von 1553,378 die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1553,379 die KO für Regensburg von 1567,380 die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1571,381 die Agende für Hessen von 1574382 oder die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1578.383 Für die theologische Begründung der Offenen Schuld finden sich in den KOO des 16. Jh. auch wieder nur vereinzelt Hinweise, die kaum über das hinausgehen, was bereits früher festgestellt worden war (s. o. 47f). Als Bestandteil des Pronaus ist die Offene Schuld selbstverständlich oft auf die Predigt bzw. auf das Allgemeine Gebet bezogen. Im Zusammenhang mit dem Abendmahl erhält die Offene Schuld mit Absolution die Funktion einer Vorbereitungshandlung, die oft noch einmal wiederholt, was in der Beichtvesper am Samstag bereits vollzogen wurde. Eine Verbindung zur Wortverkündigung stellt z. B. die Augsburger Ordnung von 1545 mit der Offenen Schuld vor der Predigt her. Nach der Lesung und vor dem Sprechen des Sündenbekenntnisses sagt der Diakon: „Christus, unser lieber Herr, eröffne uns unsere herzen, sein hailig wort zu fassen und mit besserung zu seinem lob zu behalten! Amen.“384 In der Offenen Schuld selbst wird gebetet: „[…] und sende mir zuo deinen 377 Nach einer dem Gottesdienst vorangegangenen Predigt wird die Litanei gesungen, währenddessen ziehen Priester, Diakon und Subdiakon ein. Die ersteren beten das Confiteor. Darauf folgen Kollekte, Introitus, Kyrie und Gloria in excelsis. Der Priester singt wieder eine Kollekte. Daran schließen sich Epistellesung, Graduale und Evangelienlesung an. Nach der Gabenbereitung wird das Nizänum gesungen. Es folgen Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld, Absolution, Einsetzungsworte usw. Vgl. EKO 13, 391ff. 378 Ähnlich wie 1542, vgl. EKO 13, 461ff. 379 Der Eingangsteil entspricht der Messstruktur. An die Predigt schließen sich das Allgemeine Gebet, eine Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld, Gnadenverkündigung und annuntiative Absolution an. Vgl. EKO 15, 68ff. 380 Das indirekte Sündenbekenntnis besteht nur noch aus der Bitte: „Got sei uns armen sündern gnedig.“ EKO 13, 405. 381 Nach der Predigt folgen Abendmahlsvermahnung (sie wird hier als „praefation“ bezeichnet), Offene Schuld, Absolution, Vaterunser, Einsetzungsworte, Austeilung, Danksagung und Segen. Vgl. EKO 15, 167f. 382 An die Predigt schließen sich auf der Kanzel an: eine Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld und Absolution, Deutung der Einsetzungsworte auf die Absolution hin, Vermahnung zum Allgemeinen Gebet. Während die Gemeinde ein Lied singt, verlässt der Priester die Kanzel. Es folgen Sursum corda und Vere dignum, Vaterunser, Einsetzungsworte, Austeilung, Danksagung, Segen, Entlassung. Vgl. EKO 8, 437ff. 383 Nach Predigt und Gemeindegesang folgen Abendmahlsvermahnung mit Auslegung der Einsetzungsworte, Offene Schuld, Absolution, Vaterunser, Einsetzungsworte, Austeilung, Danksagung, Segen. Vgl. EKO 15, 286ff. 384 EKO 12, 89.

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Hailigen Gaist in verkündigung deines worts, damit ich komme zu erkanntnus meiner sünd und meines sündlichen lebens […]“385 Hier soll die gottesdienstliche Beichthandlung die Predigthörer bereit machen für das Aufnehmen von Gottes Wort, welches wieder zur Erkenntnis der Sünde führt. Eine ähnliche Wirkung der Predigt betont die Wolfenbütteler KO von 1569 und lässt ihr deshalb Offene Schuld und Absolution folgen: „Zum ende der predigt sollen die kirchdiener allewegen das volk kurzlich erinnern, das sie die gehörte predigt Gottes worts nicht in wind schlagen, sondern dieselbige alßbald ein jeder ihme selbst zur busse, wahrhaftigem glauben und bekerung zueigne, darauf er den die nachvolgende gemeine beicht dem volk fürsprechen und gleicher gestalt die bußfertigen absolviren, den unbußfertigen aber Gottes ernstlichen zorn verkündigen soll.“386 Etwas anders setzt die Rothenburger KO von 1559 den Akzent – sie weist darauf hin, dass auch die Predigt des Evangeliums eine wahrhafte Absolution ist (so hatte bereits Luther argumentiert, s. o. 70). Für die Einfältigen sei aber die allgemeine Absolution deutlicher. Darum schließt auch hier an die Predigt eine Offene Schuld mit allgemeiner Absolution an.387 Die schon bekannte Vorbereitung der Gemeinde auf das Allgemeine Gebet durch Offene Schuld und Absolution findet sich z. B. auch wieder in den KOO für die Kurpfalz von 1556 und 1563. Jeweils vor der Vermahnung zum Allgemeinen Gebet heißt es: „Dieweil wir nun guter, tröstlicher hoffnung, wir seyen durch Christum mit Gott versönet, so lasst uns aus warem vertrauen zu göttlicher barmhertzigkeit durch unsern herrn Jesum Christum bitten für die gemein christlich kirche und derselben diener.“388 bzw. „Nachdem wir nun nicht zweifelen, wir und unser gebet seien durch das leiden Jesu Christi geheiliget und Gott angenem, so laßt uns i[h]n von hertzen anrüfen und also sprechen […]“389 Die Geistlichen werden dazu aufgefordert, der Gemeinde den Zusammenhang zwischen Buße und Fürbitte deutlich zu machen: „Es sollen aber die kirchendiener das volck mit allem fleiß underrichten, das das gemein gebet nicht fruchtbar sey noch göttlich hilf erlange, es geschehe dann von den 385 EKO 12, 90. 386 EKO 6/1, 144. Eine ähnliche Begründung gibt die KO für die Grafschaft Oldenburg: „Daher ein alter, guter, nützer brauch kommen ist, das die predigten beschlossen werden mit einer gemeinen beicht und gemeinen absolution, dardurch angezeigt wird, das die zuhörer die lehr, so in der predigt aus Gottes wort fürgetragen wird, nicht sollen in gemein hinhengen lassen, sondern de applicatione gedenken zur buss, zum glauben, zur besserung.“ EKO 7/2,1, 1051. Diesen Brauch kannten aber offenbar nicht alle Gemeinden, denn es heißt: „Form offentlicher beicht und absolution nach gehaltener predigt, wo dieselbig breuchlich ist.“ EKO 7/2,1, 1145. 387 Vgl. EKO 11, 584f. 388 EKO 14, 151f. 389 EKO 14, 389.

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bußfertigen, die aus erkhantnus der schwere irer sünden von denselben absteen, bessern ir leben und rüfen Gottes namen an aus rechtem vertrauen von wegen und in namen unsers lieben herrn Jesu Christi, darmit wir nicht hören müssen, wie der herr bey dem Esaia prediget (Esa. i. [15]): Wann ir schon euer hend außbraitet, verberge ich doch mein augen vor euch und, ob ir schon vil betet, höre ich euch doch nicht, dann euer hend seind vol bluts etc. Darumb sollen die kirchendiener das gemein gebet also üben und treiben, das sie darbey das volck zur buß ermanen und inen wol einbilden das keiner künde ein rechter beter sein, er sey dann zuvor ein christlicher büsser.“390 Die enge Verknüpfung des Abendmahlsempfangs mit der Verpflichtung, die Sünden zu bekennen und ihre Vergebung zu begehren, kommt bereits in der obligatorischen Einzelbeichte für die Kommunikanten zum Ausdruck (s. o. 76). Zusätzlich wird aber in den Beichtvespern am Samstag eine Offene Schuld mit Absolution gesprochen, die sich im Sonntagsgottesdienst zum Teil wörtlich wiederholt (s. u. 105ff). Offene Schuld und Absolution werden damit als Handlungen verstanden, die den Kommunikanten vor dem Empfang des Abendmahls nochmals zur nötigen Würdigkeit und Heiligung verhelfen. In einem Abendmahlsgottesdienst aus Lindau 1555, der einem Beichtgottesdienst unmittelbar folgt, heißt es in der Abendmahlsvermahnung : „Dieweil wir aber zum hochwürdigen sacrament nit unwürdig gehn sollen und wir doch allein durch bekantnus unserer sünden und glauben an Jesum Christum für Got für würdig geacht werden, so wöllen wir erstlich unsere sünd dem allmechtigen Gott offenlich bekennen und darnach unsern glauben durch die absolution sterken, spreche derhalben ein jedes in seinem herzen also […]“391 Welches Gewicht mancherorts die Offene Schuld mit Absolution im Zusammenhang mit der Abendmahlsfeier hatte, zeigt die Agende für Reutin und Äschach von 1573. Eine Offene Schuld mit Absolution wird nur im Abendmahlsteil des Sonntagsgottesdienstes gesprochen.392 Wird dagegen ein Predigtgottesdienst gehalten, so steht der Pronaus am Anfang, enthält aber keine Offene Schuld.393 Dass die Offene Schuld auch weiterhin ganz allgemein als notwendiges Sündenbekenntnis für die alltägliche Übertretung der Gebote Gottes galt, drückt die Aufforderung zum Sprechen der Offenen Schuld in der KO von Calenberg-Göttingen von 1542 aus: „Nachdem aber kein mensch so frum oder heilig ist, der nicht teglich etwas aus schwacheit thu, das solchen geboten zuwidder sey, so wollen wir uns alle zugleich für Gott de390 EKO 14, 151. 391 EKO 12, 208f. 392 Nach der Predigt folgen Abendmahlsvermahnung, Offene Schuld und Absolution. Vgl. EKO 12, 219f. 393 Vgl. EKO 12, 219f.

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mütigen, unser sünde bekennen, Gott durch Christum umb gnad bitten und also sagen […]“394 Eine katechetische Begründung der Offenen Schuld mit Absolution, ja des ganzen Pronaus, bietet die Argumentation aus der Northeimer KO von 1539, „[…] das solche dinge von idermenniglich wol gefasset, behalten und in einen brauch und gewonheit bey iderman gebracht werden.“395 Sie steht damit in der mittelalterlichen Tradition des Pronaus (s. o. 40ff) und ist für die besondere Situation der Reformationszeit gut nachvollziehbar. Obwohl Luther selbst die Offene Schuld für wenig brauchbar befand (s. o. 65), hatte dieses alte liturgische Stück zusammen mit anderen Teilen des Pronaus auch im 16. Jh. seine Wirkungsgeschichte. In vielen Gottesdienstordnungen behielt die Offene Schuld im Kontext des Pronaus ihre Stellung nach der Predigt. Geläufige Texte der Offenen Schuld wurden für ein Gemeinde-Confiteor am Anfang des Gottesdienstes verwendet und zogen u.U. andere Teile des Pronaus nach. Im Zusammenhang mit dem Abendmahl wurden Offene Schuld und allgemeine Absolution zu einem wichtigen zusätzlichen Akt der Vorbereitung. Abgesehen von katechetischen Intentionen diente die Offene Schuld mit Absolution dem täglich nötigen Sündenbekenntnis sowie der Vorbereitung auf das Hören des Wortes Gottes, auf das Beten für andere und auf den Empfang des Abendmahles. Seit mehr als 100 Jahren396 ist die Offene Schuld nach der Predigt im Unterschied zu anderen Landeskirchen fester Bestandteil der sächsischen Gottesdienstordnung. Zwei Fakten sind dabei besonders bemerkenswert. Zum einen blieb der Text der Offenen Schuld seit 1581 bis auf geringfügige Änderungen erhalten, zum anderen behielt diese Offene Schuld über 400 Jahre hindurch ihren traditionellen Platz im Pronaus. Dass sich diese Form der gottesdienstlichen Beichte so nachhaltig in der Liturgie Sachsens verankern konnte, ist den Bemühungen des sächsischen Kurfürsten August (1553–1586) zu verdanken. Es steht außer Frage, dass an verschiedenen Orten in Sachsen die Offene Schuld bekannt war,397 aber sie ging weder in die Agende Herzog Heinrichs von 1539398 noch in die KO von 1580 ein.399 Das veranlasste den Kurfürsten, der diesen Brauch 394 EKO 6/2, 794f. Hierbei steht die Offene Schuld noch im Pronaus. An die Predigt schließen sich Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Vaterunser, Apostolikum, Dekalog, Offene Schuld und Absolution an. Vgl. EKO 6/2, 791ff. 395 EKO 6/2, 926. Auf die Predigt folgen das Gebet nach der Predigt, das Allgemeine Gebet, der Dekalog, das Credo, Offene Schuld und Absolution, sämtlich vom Prediger gesprochen. Vgl. EKO 6/2, 925f. 396 Vgl. Rietschel, Offene Schuld, 400. 397 Z. B. in Leipzig im Zusammenhang mit dem Gebet nach Pfeffinger 1567 (s. Anh. Nr. 31). 398 Vgl. EKO 1, 271f. 399 Vgl. EKO 1, 368f.

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noch aus seiner Kindheit kannte, nach Fertigstellung der neuen KO eine entsprechende Anfrage bzw. Anregung an seine Hofprediger zu richten. Er schrieb an D. Martin Mirus, Georgius Lysthenius und Balthasar Kademann u. a.: „Weil dan dem treuen barmhertzigenn Gott, nichts angenemers, dann Erkentnus vnd Bekentnus seines worts, vnd volbringung seines willens ahn uns gefeltt, So habe Ich aus Christlichem eyfer, forthin In meiner schloßkirchen tägliche Predigten vnd Vesper zuhaltten vnd Singen vorordenet, darmit dem allmechtigen Ewigen Gott zu loben vnd zu danckenn. Ich mus aber als eine Frage diss erinnern In meiner Jugent, Vnd noch bei meines herren Vaters leben, habe Ich von seiner gnaden Hofprediger herr Schuman genant, gehöret, Das er nach der Predigt, die offentliche Absolution der Christlichen Gemeine Vngeferlich mit diessenn wortten mitteilet. Liebes volck, Es wolle Im ein ider seine eigene Sünde, von herzen lassen leidt sein, Vnd forthin sein leben bessern, Vnnd wer solches thun wil, Der spreche Mir nach, Herr, Erbarme dich vnser, Christe Erbarme dich vnser, Herr Erbarme dich vnser, Darnach sagt der Priester[:] Allen die rew vnd leydt uber Ihre sünde habenn, vnd Ihr lebenn zubessern gedenckenn, Denen Verkundige Ich als ein Diener Jhesu Christi hirmit aus kraft meines ampts, vergebung aller Ihrer Sünde, Im Namen Gottes des Vaters, Sohns und heiligen Geists amen, Der Friede des Herren sey mit Euch amen. Nun Frage Ich, Ob solches zuthun in Gottlicher schrifft verbottenn? Ist es Verbotten, So bleibt es billich darbei. Ist es aber nicht, So lisse Ich Mir nicht misfallen, Das solches In Gottes Namen wiederumb dergestalt angeordenet, das sich wieder [=weder] Papisten, noch Calvinisten darmit behelffenn kondten. Vnd Vor meine einfaltt, ließ Ich mich deuchtten, Es sey gleichwol ein solch dingk, das manich angefochtten oder betrübtes hertz und gewissen, Zur kirchen treiben würde, So sunsten wol daraussen blieben, Denn ohne Beichtte Vergebung der Sünden zuerlangen, würde vielen Leuthenn annehmlich sein. Es möchte nun einer Fragen, was mich zu diesen gedancken vorursachete? Dem wil Ich also antwortten, Ich bin ein Mensch, Vnd erkenne Das Ich ein Mensch bin, Bin Ich nun ein Mensch, So mus Ich auch bekennen, Das Ich ein Sünder bin, Bin Ich nun ein Sünder, So weiß Ich das Gott der Sünden feindt ist, Straffet nun Gott die Sünde In Mir, So trifft ehr mich mit, für eins Zum andern Singen wir In vnserm Christlichen glauben, Alhir unser Sünde vorgeben werden, Darumb woltte Ich gerne alle stunden, meiner Sünden durch die Absolution ledigk vnd loß sein, Weil aber denn Priestern alle stunden Beichte zuhören beschwerlich fallen wolte, Auch manchem sunsten, der wegk zu kurtz werden mochtte, So lisse Ich mir In Gottes Namen, solche tegliche Absolution, sehr sehr, wohlgefallen, Doch nicht der meynungk, das diese Absolution, soltte die andere Ordenungk, der Ohrenbeichte Vnd Absolution furgetzogen werden, Sondern es were allein dahin gemeint, Die

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angefochttene und betrübtten hertzen dadurch Jder Zeit zutrösten und zu fernerm Erkentnus zubringenn.“400

Der Kurfürst wollte die von Luther verteidigte Vielfalt der Beichtformen erhalten wissen. In der Offenen Schuld mit allgemeiner Absolution sah er eine gute Möglichkeit, täglich die Absolution zu erlangen, auch wenn keine Gelegenheit zur Einzelbeichte gegeben war. Dabei sollte sich aber die neu einzuführende Offene Schuld deutlich von dem römischen und dem reformierten Brauch abheben. In ihrem Schreiben vom 24. März 1581 erklärten die drei Hofprediger dem Kurfürsten, dass ein öffentliches Sündenbekenntnis und eine darauf folgende allgemeine Absolution in der Heiligen Schrift nicht verboten, sondern „Christlich vnd tröstlich“ seien. Sie wiesen darauf hin, dass auch Luther sie nicht abgeschafft habe und dass sie an vielen Orten im Kurfürstentum in Brauch seien. Als Beispiel dafür nannten sie das Gemeinde-Confiteor in Form der Offenen Schuld aus der Naumburger KO von 1537/38401 und schlugen vor, diesen Text an Stelle des früher üblichen dreimaligen Kyrie-Rufes als Offene Schuld nach der Predigt zu verwenden. Beichte und Absolution sollten nach „gethanner vnd beschlossener Predigte auf der Cantzel“ gesprochen werden. Sie rieten, das Allgemeine Gebet auf folgende Weise anzuschließen: „Weil Vnns der gnedige barmhertzige Gott, Vnsere sünde Vnd Missethat Vergeben, So wollen wir Ime auch nun ferner desto getröster Vnd In hertzlicher zuuorsicht, die Nott der gantzen Christenheit Vortragen, Vnd mit einander also beten.“ Am gleichen Tag antwortete der Kurfürst und zeigte sich erfreut über die Zustimmung der Hofprediger: „[…] das solliches teglich in allen bredychtten gescheen müge, achtte ich vor sehr gutt, vnser lyber hergott, vorleyhe dorzu seyne genade, das es im zu ehr vnd lob vnd fyllen betrübetten hertzen zu throst gereychen müge ammen.“ 402 Weil auch der Dresdener 400 Theologische Händell | | wie es der Churfürst zu Saxen vnd Burggrafe | | zu Magdeburgk Hertzog Augustus hin= | | füro Inn der Schloß Kirchen zu Dresden | | mit Täglichen Predigten vnd Vesper sing | | Desgleichen auch mit der öffentlichenn | | Absolution nach gehalttener predigt wil | | gehaltten habenn. Actum Dresdenn | | den 24 Marcij Anno 1581. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 8687. [handschr.] Vgl. auch: Müller, Georg: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der sächsischen Landeskirche: 6. Vortrag: Gottesdienst. BSKG 10 (1895), 67f. 401 Als Verfasser der Naumburgischen KO werden von den Hofpredigern Nikolaus von Amsdorf, Superintendent zu Naumburg, Dr. Nikolaus Medler, Pfarrer zu Naumburg, Wolfgang Stein, Superintendent zu Weißenfels und Magister Johannes Voigt, Pfarrer zu Zeitz, angegeben. Vgl. Dibelius, Franz: Miscellen: Beichte und Absolution nach der Predigt. BSKG 1 (1882), 256–259. Vgl. EKO 2, 78. Die ältere KO für die St. Wenzelskirche in Naumburg von 1527 sah nach der Predigt das Sprechen des Vaterunsers mit Auslegung, Vermahnung zum Allgemeinen Gebet und eine nicht näher bezeichnete Offene Schuld mit Absolution vor. Vgl. EKO 2, 60. 402 Theologische Händell. Vgl. auch: Müller, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 69.

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Superintendent Daniel Greyser eine an der Kreuzkirche verwendete Offene Schuld eingereicht hatte (s. Anh. Nr. 33), bat der Kurfürst die Hofprediger, sich auf eine Formel zu einigen und ihm eine Abschrift zu schicken. Diese sich stark an den Naumburger Text anlehnende Offene Schuld (s. Anh. Nr. 32) wurde Ostern 1581 in der Hofkirche zu Dresden eingeführt. Im Jahr 1601 machte Kurfürst Christian II. durch einen Erlass die Offene Schuld nach der Predigt zu einem Bestandteil der Liturgie im gesamten Kurfürstentum.403 Bereits reichlich 100 Jahre später ist selbst den Geistlichen nicht mehr bekannt, woher der Text der Offenen Schuld stammt und seit wann er gebraucht wird. Gerber schreibt: „Wer der Verfasser dieser Beichte eigentlich gewesen sey, ingleichen, wenn sie aufkommen, ist mir unwissend. Es hat sie aber ohne Zweiffel einer von denen Churfürstl. Herren Hof- oder Ober-Hof-Predigern abgefasset, denn diesen wird es allezeit aufgetragen, wenn eine öffentliche Gebets-Formul zu verfertigen ist.“404 Der Text dieser Offenen Schuld bzw. der Absolution ist nur geringfügig gegenüber dem von 1581 verändert und wird als sächsisches Sondergut betrachtet.405 Das Sprechen der Offenen Schuld und die Entgegennahme der Absolution werden noch mit der Vorbereitung auf das nachfolgende Beten begründet: „Daß wir aber vor denen öffentlichen Gebeten erstlich ein Bekänntniß der Sünden ablegen ist wohl gar löblich gethan. Denn weil GOtt die Sünder nicht hört, sondern einen Greuel hat an den Opffern der Gottlosen, das Gebet aber der Frommen ihm angenehm ist, Sprüchw. Sal. 15,8. So wird solchergestalt dadurch jeder der beten soll und will erinnert, seine Sünde und Boßheit vorher wohl zu erkennen und bußfertig zu bereuen, damit er nicht, als ein unbußfertiger Sünder, sondern vielmehr als ein frommes Kind sein Gebet für GOtt bringe.“406 Ist der Text der sächsischen Offenen Schuld Anfang des 18. Jh. außerhalb Sachsens noch kaum bekannt, so setzt im 19. Jh. eine weite Verbreitung dieses Sün-

403 Seelentrost | | Die offene Beicht | | und Absolution/ | | wie die in der | | Churfürstlichen Sächsischen Schloß= | | kirchen zu Dreßden/ | | allezeit nach der Pre= | | digt fürgesprochen wird/ | | Sampt | | Dem gemeinen Gebet | | […] | | Auff gnedigsten Befehl vnd an= | | ordnung Herrn CHRISTIANI II. | | Hertzogen vnd Churfürsten zu Sachssen/ etc. | | in Druck verfertiget. | | 1601. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 7435. Vgl. Müller, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 66f; EKO 1, 557. Während der Text von Greyser noch stark an römische Vorbilder erinnert, ist die kurze Offene Schuld der Naumburger Ordnung offenbar eine evangelische Neubildung. 404 Gerber, Historie, 519. 405 Gerber leitet den Abdruck des Textes folgendermaßen ein: „Dieweil wir nun oben der so genannten Kirchen-Beichte und der darauf gewöhnlichen Absolutions-Formul Erwehnung gethan, so wollen wir solche um der Ausländer willen anhero setzen.“ Gerber, Historie, 518. 406 Gerber, Historie, 519.

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denbekenntnisses ein. Im Jahr 1822407 und auch 1829408 druckt die Preußische Agende den erweiterten Wortlaut der Offenen Schuld von 1581 bzw. 1812409 im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf das Abendmahl (Beichtvesper) ab. Bald darauf erscheint der Text leicht verändert in Bayern.410 Die bayrische Agende von 1852 schlägt die Offene Schuld im fast gleichen Wortlaut als 1. Variante einer Gemeinsamen Beichte vor,411 während im „Agenden-Kern“ von 1856 der Text der sächsischen Offenen Schuld stark verändert als einzige Formel für die Gemeinsame Beichte angeboten wird.412 Der gleiche Text ist auch wieder für die Beichtvesper in der Agende von 1879 vorgesehen.413 Baden übernimmt ebenfalls mit seinem „Entwurf einer Agende“ von 1831 den preußischen Text für die Vorbereitung auf das Abendmahl.414 Auch spätere badische Agenden enthalten mit leichten Veränderungen diesen Text.415 Ganz offensichtlich 407 Vgl. Kirchen=Agende für die Hof=und Domkirche | | in Berlin. Berlin 1822, 29f. 408 Vgl. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preussischen Landen: Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg. 2 Teile. Berlin 1829, 1, 34f. 409 Vgl. Kirchenbuch für den evangelischen Gottesdienst der Königlich Sächsischen Lande: Auf allerhöchsten Befehl herausgegeben. 2 Teile. Dresden 1812, Teil 2, 147. Darauf macht bereits Schulz aufmerksam. Vgl. Schulz, Sündenbekenntnis, 117. Es handelt sich dabei aber nicht einfach um eine Erweiterung des Textes von 1581, sondern um eine Kompilation der Texte von 1581 und 1812, die um wenige Zusätze erweitert werden. 410 Die Agende von 1844 (2. Auflage der Agende von 1836) verwendet die Offene Schuld als Sündenbekenntnis bei der Krankenkommunion. Grundlage ist offenbar die preußische Agende, wobei ein Zusatz zum sächsischen Text gestrichen und der Schluss völlig umgestaltet wird. Vgl. Agende für evangelische Kirchen. München 21844, 121. 411 Vgl. Agende für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern. 2 Teile. Teil 1: Gebete. Teil 2: Kirchliche Handlungen. München 1852, 2, 260f. 412 Gott wird nicht mehr direkt in der 2. Pers. Sing., sondern nur als Beichtempfänger in der 3. Pers. Sing. angesprochen. Der Schluss ist auf den Satz verkürzt: „Ich will mich durch Seine Gnade gerne bessern.“ Agenden=Kern für die evangelisch= lutherische Kirche in Bayern: Mit vorangestellter Ordnung und Form des Hauptgottesdienstes an Sonn- und Festtagen. 2 Teile. Teil 1: Die öffentlichen Gottesdienste. Teil 2: Die heiligen Handlungen. Nürnberg 1856, 1, 254. 413 Als alternatives Sündenbekenntnis wird ein Text nach Württemberg 1536 (s. Anh. Nr. 24) vorgeschlagen. Vgl. Agende Bayern 1879, 2, 65f. 414 Vgl. Entwurf einer Agende für die evangelisch-protestantische Kirche des Grossherzogthums Baden: Von einer dazu niedergesetzten Commission bearbeitet. Karlsruhe 1831, 122. 415 1877 bemüht man sich um eine sprachliche Modernisierung. Die Offene Schuld wird bei der Vorbereitung auf das Abendmahl verwendet. Vgl. Kirchenbuch für die evangelisch-protestantische Kirche im Grossherzogthum Baden. Karlsruhe 1877, 385. Der Text der Agende von 1996 orientiert sich stärker an der Fassung von 1831, nimmt aber auch Wendungen aus späteren badischen Agenden auf. Er findet im Zusammenhang mit dem „Beichtgottesdienst“ Verwendung (s. u. 129), vgl. Agende für die evangelische Landeskirche in Baden: Bd. 1: Ordnung der Gottesdienste. Karlsruhe 1996, 51.

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haben die preußischen Agenden den Wortlaut der sächsischen Offenen Schuld über Sachsens Grenzen hinaus bekannt gemacht und selbst auf die sächsische Fassung zurückgewirkt.416 Zahlreiche Privatagenden übernehmen in der Folgezeit die sächsische Offene Schuld, in der Regel für die Beichtvesper.417 Als 1951 die „Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden“ im Entwurf erscheint, ist der sächsische Text nicht enthalten.418 Als Sondergut wird er aber in die sächsische Ausgabe der Agende von 1957 aufgenommen.419 1963 wird schließlich aus der theologisch problematischen Formulierung „[…] ich […] bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, […] womit ich dich jemals erzürnet […] habe“ das Wort „jemals“ getilgt.420 Diese letzte Fassung ist auch als Offene Schuld in die ErA(V) eingegangen.421 Dagegen enthält die Agende der EKU von 1959 entsprechend der Tradition preußischer Agenden den Text im Zusammenhang mit der Vorbereitung zum Abendmahl.422 2.1.2.3. Luthers Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung Nur wenige Gottesdienstordnungen folgen dem Vorschlag Luthers von 1526, im Abendmahlsteil der Messe eine Vaterunserparaphrase zu sprechen, die das Bekenntnis der Sünde stark akzentuiert, und anschließend eine Abendmahlsvermahnung, die den Glauben an die Sündenvergebung 416 Der sächsische Text von 1880 an entspricht weithin der preußischen Fassung, nur der Zusatz „[…] die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken“ wird nicht übernommen. Vgl. Agende für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen. 2 Teile. Teil 1: Ordnung des Gottesdienstes nebst Formularen und muskalischem Anhang. Teil 2: Besondere gottesdienstliche Handlungen. Leipzig 1880, 1, 109, 248. 417 Vgl. z. B. Stier, Rudolf: Privat-Agende, das ist: allerlei Formular und Vorrath für das geistliche Amt. Berlin 21852, 42f (der sächsische Text wird sehr stark erweitert und paraphrasiert); Agende/hg. von Boeckh, 1870, 2, 69; Evangelische Handagende/hg. von Georg Christian Dieffenbach. 2. Teil: Besondere liturgische Handlungen. Gotha 31887, 145 (im Zusammenhang mit der Krankenkommunion); Koehler, P.: Entwurf einer Agende: Evangelisches Rituale. Halle/S. 1889, 165; Koehler, P.: Entwurf einer Agende: Evangelisches Missale. Halle/S. 1891, 25f (für eine Beichtfeier mit Einzelabsolution zwischen Introitus und Gloria in excelsis, das Sündenbekenntnis steht in der 1. Pers. Pl.). 418 Eine Offene Schuld kann an Stelle eines Gebets nach der Predigt folgen. Der dafür abgedruckte Text ist aber nur eine Bußaufforderung des Liturgen, auf die die Gemeinde antwortet: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünden und führe uns zum ewigen Leben.“ AELKG(E), 1, 78. 419 Obwohl die Offene Schuld dem Allgemeinen Gebet vorangeht, ist sie nicht mehr durch eine Überleitung auf dieses bezogen. Vgl. AELKG, 1, 24012. 420 Die neue Fassung mit geringfügigen sprachlichen Modernisierungen, wird seit dem 1. April 1964 verwendet. Vgl. Kirchengesetz zur Änderung des Kirchengesetzes vom 22. April 1959 […]: Beichte und Absolution : Vom 28. November 1963. ABl(Sa) 1963, 21./22. Stück, A 69; AELKG, 1, zu 24011 und 12. 421 Vgl. ErA(V), 505f. 422 Vgl. AEKU, 1959, 143, 148.

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in der Feier des Sakraments hervorhebt (s. Anh. Nr. 18). So verstanden konnte Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung eine Offene Schuld mit allgemeiner Absolution ersetzen (s. o. 66). Manche Gottesdienstordnungen stellen aber auch Offene Schuld und Absolution neben Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung.423 Wesentlich mehr Ordnungen modifizieren Luthers Vorschlag und verwenden entweder nur seine Paraphrase des Vaterunsers (bzw. andere Vaterunserparaphrasen) oder seine Abendmahlsvermahnung (bzw. andere Abendmahlsvermahnungen) in Verbindung mit dem einfachen Vaterunser. In dieser Verknappung lassen sie Luthers Anliegen – Sündenbekenntnis und Vertrauen auf die Vergebung der Sünde – oft nicht mehr deutlich werden. Andere Gottesdienstordnungen beschränken sich auf die Verwendung des Vaterunsers allein. Sünde und Sündenvergebung kommen dort weder in einer Offenen Schuld mit Absolution noch in einer Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung zur Sprache. Im Anschluss an Luthers Gottesdienstordnung von 1526 finden sich die Vaterunserparaphrase mit der Abendmahlsvermahnung des Reformators z. B. in der KO von 1539 für das Albertinische Sachsen,424 in der KO für das Herzogtum Preußen von 1544,425 von 1568 und später,426 in der KO für die Grafschaft Oldenburg von 1573,427 in der KO für das Albertinische Sachsen von 1580,428 in der Kirchenagende für die Grafschaft Mansfeld von 1580,429 in der KO für Grubenhagen von 1581430 u. ö. Lu423 Bereits die Visitationsverordnung für Plauen von 1533 legt Wert darauf, dass neben Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung auch die Offene Schuld mit Absolution bekannt ist und verwendet wird: „Das die offen beicht, absolution und das vater unser mit anhengender auslegung des herrn doctoris Martini Luthers und seiner erinnerung von der entpfahung des hochwirdigen sacraments soll gelesen werden, […]“ EKO 2, 112. Auch die KO für Reutin und Äschach enthält alle vier Stücke (s. o. Anm. 376). 424 Nach der Predigt wird die Vaterunserparaphrase mit der Vermahnung vom Altar aus verlesen. Als Alternative für Festtage ist es aber auch möglich, statt Paraphrase und Vermahnung eine lateinische Präfation, Sanctus und Vaterunser zu verwenden. Vgl. EKO 1, 271. 425 Die Vaterunserparaphrase kann an Stelle der Präfation stehen. Luthers Abendmahlsvermahnung ist stark erweitert und abgeändert. Vgl. EKO 4, 65. 426 Vgl. EKO 4, 81f. Text wie 1544. 427 Nach der Vermahnung zum Allgemeinen Gebet im Anschluss an die Predigt können entweder Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung bzw. andere Abendmahlsvermahnungen oder eine lateinische Präfation mit Sanctus oder (bei Zeitknappheit) nur das gesungene Vaterunser stehen. Vgl. EKO 7/2,1, 1090f. 428 Auf die Predigt folgen vom Altar aus Luthers Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung, danach die Einsetzungsworte. Vgl. EKO 1, 368f. 429 Vgl. EKO 2, 227. Der Gebrauch wird frei gestellt. Wenn in Städten der Gottesdienst durch Gesang und Orgelspiel zu lang werden sollte, kann die Paraphrase mit Vermahnung weggelassen werden. 430 Nach dem Sprechen von Luthers Vaterunserparaphrase mit Vermahnung wird nochmals das Vaterunser gesungen, darauf folgen die Einsetzungsworte. Vgl. EKO 6/2, 1075.

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thers Anregung wird von diesen Ordnungen aufgegriffen, oft ist sie aber nur eine von mehreren alternativen Gestaltungsmöglichkeiten für die Abendmahlsliturgie. An Festtagen werden Präfation und Sanctus bevorzugt, bei Zeitnot entfallen mitunter Paraphrase und Vermahnung ganz.431 Somit lässt sich bezweifeln, dass Luthers Zeitgenossen seine Intentionen richtig verstanden haben, die ihn zum Gebrauch von Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung an Stelle der Offenen Schuld bewogen. Das belegt u. a. die KO für Northeim von 1539. Nach dem Sprechen von Offener Schuld und Absolution im Rahmen des Pronaus nach der Predigt werden vom Altar aus Luthers Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung verlesen.432 Für Ordnungen, die nur Luthers Vaterunserparaphrase verwenden, kann man geltend machen, dass nach dem nochmaligen Bewusstmachen und Bekennen der Sünde in der Paraphrase die Sündenvergebung dann im Sakrament selbst zugesprochen wird. Beispiele dafür sind die „Ordnung der Ceremonien zu Plauen“ von 1529433 und die KO für die Schönburg’sche Herrschaft von 1542.434 Ordnungen, die nur Luthers (oder eine andere) Abendmahlsvermahnung in Verbindung mit dem Vaterunser enthalten, setzen voraus, dass ohnehin ein Sündenbekenntnis des Einzelnen mit Absolution außerhalb des Gottesdienstes erfolgt bzw. dass das Vaterunser ganz im Sinn Luthers als gegenseitige Bitte um Vergebung gebetet wird. Dieses Verständnis legt z. B. die KO für Lüneburg von 1564 nahe (s. u. Anm. 465).435 Als Beispiele dafür können mit der Abendmahlsvermahnung Luthers gelten: die KO für das Herzogtum Pommern von 1542,436 die KO für das Fürstentum Anhalt von 1548437 und von 1568,438 die KO für Hoya von 1581,439 die KO für die Grafschaft Henneberg von 431 Vgl. Anm. 427 und 429. 432 Vgl. EKO 6/2, 925f. 433 Vgl. EKO 2, 111. Auf die Vaterunserparaphrase folgen Präfation und Einsetzungsworte. 434 Vgl. EKO 2, 170f. Entweder wurde Luthers Vaterunserparaphrase verlesen oder das Vaterunser gesungen. 435 Seltsamerweise übernimmt die KO für Wolfenbüttel von 1569 die Abendmahlsvermahnungen mit den Einleitungen des Vaterunsers, obwohl bereits nach der Predigt eine Offene Schuld mit allgemeiner Absolution gesprochen worden ist. Vgl. EKO 6/1, 144ff. 436 Auf die Predigt folgt im Pronaus auch das Vaterunser, danach Luthers Vermahnung, anschließend singt der Priester das Vaterunser. Vgl. EKO 4, 356f. 437 Nach dem Psalm im Anschluss an die Predigt folgen Abendmahlsvermahnung Luthers und das vom Priester gesungene Vaterunser. An hohen Festen sollen an Stelle der Vermahnung Präfation und Sanctus gesungen werden. Vgl. EKO 2, 554. 438 Ähnlich wie 1548, vgl. EKO 2, 569. 439 Auf den das Vaterunser enthaltenden Pronaus im Anschluss an die Predigt folgen die Abendmahlsvermahnung Luthers und das Vaterunser. Vgl. EKO 6/2, 1149.

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1582440 sowie die KO für die Herrschaft Rothenberg von 1618.441 Die Abendmahlsvermahnung Veit Dietrichs442 verwenden in Verbindung mit dem Vaterunser z. B. mehrere KOO von 1566: die KO für Goldlauter,443 die KO für Obermassfeld,444 die KO für Sulzfeld und Klein-Bardorf445 und die KO für Wasungen.446 Auf Dietrichs Abendmahlsvermahnung folgen stets das vom Priester gesungene Vaterunser und die Einsetzungsworte. Eine Vielzahl von Ordnungen verwendet andere oder nicht näher bezeichnete Abendmahlsvermahnungen zumindest im Zusammenhang mit dem Vaterunser : die KO für Brandenburg und Nürnberg von 1533,447 die KO für Harzgerode von 1534,448 die KO für die Grafschaft Ostfriesland von 1535,449 die Württembergische KO von 1536,450 die 440 Nachdem bereits vor der Verlesung des Evangeliums zum stillen Beten des Vaterunsers aufgefordert worden ist, folgt im Pronaus nach der Predigt nochmals ein Vaterunser und danach die erweiterte Abendmahlsvermahnung Luthers (ähnlich wie Preußen 1544) mit dem Vaterunser. Vgl. EKO 2, 307f. 441 An Stelle von Luthers Abendmahlsvermahnung kann auch die von Veit Dietrich verwendet werden. Darauf folgen Einsetzungsworte und Vaterunser. Vgl. EKO 13, 549f. 442 In seinem „Agend / Büchlein für die Pfarrherrn auff / dem Land“ von 1545 (vgl. EKO 11, 487–553) beginnt das Abendmahl in der Messe nach der Predigt mit Verlesung einer Abendmahlsvermahnung (vgl. EKO 11, 195f). Der Wortlaut stammt nicht von Dietrich selbst, sondern ist im Wesentlichen der „Gottesdienstordnung der Pfarrkirchen“ Nürnberg 1524 entnommen (vgl. EKO 11, 48f) und geht auf Andreas Osiander zurück (s. o. 2.1.1.3.). Unter Berufung auf I Kor 11,28 wird die Gemeinde zur Selbstprüfung und zum Bekennen der Sünde aufgefordert. Die Einsetzungsworte werden erklärt und Sündenvergebung denen zugesagt, die ihre Sünde bereuen und an die Vergebung im Abendmahl glauben. 1569 wurden nach der Vermahnung die Bußaufforderung und allgemeine Absolution von Wenzel Linck (s. Anh. Nr. 16) eingefügt. Darauf folgten Einsetzungsbericht, Sanctus, Vaterunser und Friedensgruß. Vgl. EKO 11, 498, Anm. k. 443 Vgl. EKO 2, 333. 444 Vgl. EKO 2, 343. 445 Vgl. EKO 2, 352. 446 Vgl. EKO 2, 356. 447 Auf die Predigt folgen die Abendmahlsvermahnung Veit Dietrichs, Einsetzungsworte, Sanctus, Vaterunser […] Vgl. EKO 11, 195ff. Ähnlich die „Christliche Instructio des Thomas Stieber“ von 1574 für die Herrschaft Wolfstein. Hier ist nur noch zwischen Predigt und Abendmahlsvermahnung das Allgemeine Gebet eingeschoben. Vgl. EKO 13, 576f. 448 Vor der Predigt singt oder betet die Gemeinde das Vaterunser. Nach dem Predigtlied verliest der Priester die Abendmahlsvermahnung und singt das Vaterunser. An hohen Festen soll an Stelle der Vermahnung die Präfation mit dem Sanctus gesungen werden. Vgl. EKO 2, 586f. 449 Nach der Abendmahlsvermahnung mit dem Wortlaut von Brandenburg-Nürnberg 1533 singt der Priester das Vaterunser. Vgl. EKO 7/1, 377f. 450 Vgl. EKO(R), 1, 268. Nach Predigt und Credo- bzw. Psalmengesang spricht der Pfarrer die Abendmahlsvermahnung und anschließend die Offene Schuld mit allgemeiner Absolution (s. Anh. Nr. 24). Darauf singt die Gemeinde das Vaterunser, „dieweil es ein sonderlich hertzlich gebet vnd auch darzu ein offenlich beicht ist.“ EKO(R), 1, 268.

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Visitationsordnungen 1539 für Gnandstein,451 Oschatz452 und Pirna,453 die KO für das Herzogtum Pommern von 1542,454 die KO für das Stift Osnabrück455 bzw. die Stadt Osnabrück von 1543,456 die KO für Wolfenbüttel von 1543,457 die KO für die Stadt Hildesheim von 1544,458 die KO für die Stadt Buxtehude von 1552,459 die KO für die Kurpfalz von 1556,460 die KO für Steuerwald und Peine von 1561,461 die KO für die Herrschaft Jever von 1562,462 die Gottesdienstordnung für die Grafschaft Ortenburg von 1563,463 die KO für die Kurpfalz von 1563,464 die KO für Lüneburg von 1564,465 die KO für das Stift Ver-

451 Vgl. EKO 1, 564. 452 Vgl. EKO 1, 624. 453 Vgl. EKO 1, 636. In allen drei Fällen lesen Pfarrer oder Diakon das Vaterunser deutsch und darauf eine Abendmahlsvermahnung. 454 Der Predigt sind beigefügt: Allgemeines Gebet, Vaterunser, Singen der 10 Gebote, Präfation, Sanctus, Abendmahlsvermahnung, Vaterunser, Einsetzungsworte. Vgl. EKO 4, 356f. 455 Nach der Predigt wird das Credo gesungen. Es folgen Präfation, Sanctus, Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen. Anschließend singt der Priester Vaterunser und Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/1, 224f. 456 Auf verschiedene Pronaus-Stücke nach der Predigt folgen Präfation, Sanctus, Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen, Vaterunser und Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/1, 258. 457 Hier wird es frei gestellt, ob vor der Abendmahlsvermahnung Bugenhagens die Vaterunserparaphrase Luthers gesprochen wird. Vgl. EKO 6/1, 56. 458 An die Predigt schließen sich Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen, vom Priester gesungenes Vaterunser und Einsetzungsworte an. Vgl. EKO 7/2,1, 854f. 459 Nach der Predigt folgen Glaubenslied, Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen, eine lateinische Präfation, Sanctus, das vom Priester gesungene Vaterunser und die Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/1, 74ff. 460 An die Predigt schließen sich an: Glaubenslied, Abendmahlsvermahnung, Gebet, von der Gemeinde (!) gesungenes Vaterunser und Einsetzungsworte. Vgl. EKO 14, 147ff. 461 Der Predigt folgen ein Lied, die Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen, das vom Priester gesungene Vaterunser und die Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/2,1, 782f. 462 Nach der Predigt versammeln sich die Kommunikanten, und es wird die Abendmahlsvermahnung Veit Dietrichs verlesen. Wenn Zeit vorhanden ist, folgen Präfation und Sanctus. Andernfalls singt der Priester das Vaterunser. Darauf folgen die Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/2,1, 1240f. 463 An die Predigt schließen sich Allgemeines Gebet, Gesang, Abendmahlsvermahnung, Einsetzungsworte, Vaterunser und Austeilung an. Vgl. EKO 13, 31f. 464 Nach der Predigt folgen auf das Allgemeine Gebet bzw. auf die Vaterunserparaphrase nach Schweizer Vorbild eine sehr lange Abendmahlsvermahnung (mit Einsetzungsworten), ein Gebet um Gnade und Sündenvergebung, Vaterunser, Credo und Austeilung. Vgl. EKO 14, 389ff. 465 An die Predigt schließen sich an: Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Vaterunser, Abendmahlsvermahnung, vom Priester gesungenes Vaterunser und Einsetzungsworte. Vgl. EKO 6/1, 544ff.

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den von 1606,466 die Agende für die Stadt Osnabrück von 1618 (1588) u. a.467 Verschiedene Gottesdienstordnungen verzichten ganz auf eine Abendmahlsvermahnung, eine Vaterunserparaphrase oder die Offene Schuld. In ihnen findet sich allein das Vaterunser (manchmal verbunden mit einer Präfation wie in der „Formula missae et communionis“ Luthers von 1523).468 Der Wegfall eines ausdrücklichen Sündenbekenntnisses mit Absolution im Abendmahlsgottesdienst konnte damit begründet werden, dass einerseits dieser Akt in die Beichtvesper am Samstag vorverlagert wurde, dass andererseits eine entsprechend formulierte Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung zusammen mit dem Sakrament diesen Teil der traditionellen Liturgie ersetzten. Aber auch ein in diesem Sinn eingeleitetes Vaterunser, wie in der KO Lüneburg 1564, war bereits Ersatz für die Offene Schuld : „Das nu wir, die versamlet sein, das abendmal des Herrn zu halten und sein leib und blut zu geniessen, mögen solchs wirdiglichen thun und unsern glauben dadurch sterken und förder [=künftig] nach dem willen Gottes leben, unsern feinden vergeben, unsern nehesten lieben und allen menschen guts thun, wollen wir Gott den Vater durch Jhesum Christum anruffen und beten das heilige Vater unser.“ 469 Wie schwer man sich mancherorts für eine einzige Möglichkeit entscheiden konnte bzw. wie sehr die Gestaltung der Liturgie von äußeren Faktoren abhängig war, zeigen z. B. die KO für die Herrschaft Jever von 1562470 und die KO für die Grafschaft Oldenburg von 1573.471 Luthers Vorschläge aus der Deutschen Messe von 1526 hatten aber sicher zur Folge, dass zahlreiche Gottesdienstordnungen die alte Tradition einer Offenen Schuld mit Absolution nicht weiterführten. Abendmahlsvermahnungen wurden zu einem festen Bestandteil vieler Abendmahlsliturgien472 und 466 Der Predigt folgen nach: Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Psalmlied, Präfation, Sanctus, Abendmahlsvermahnung, vom Priester gesungenes Vaterunser, Einsetzungsworte. Vgl. EKO 7/1, 157ff. 467 An die Predigt schließen sich Credolied oder Psalmlied, Präfation, Sanctus, eine verkürzte Abendmahlsvermahnung nach Bugenhagen, vom Priester gesungenes Vaterunser und Einsetzungsworte an. Vgl. EKO 7/1, 268ff. 468 Z. B. Suhl 1562, vgl. EKO 2, 350f; Schwarzburg’sche Herrschaft 1574, vgl. EKO 2, 132f; u. ö. 469 EKO 6/1, 548. 470 Wenn die Zeit knapp war, wurden nach Veit Dietrichs Abendmahlsvermahnung Präfation und Sanctus ausgelassen und nur das Vaterunser gesungen. Vgl. EKO 7/2,1, 1240f. 471 Entweder wurde Luthers Vaterunserparaphrase mit Vermahnung verlesen oder Präfation und Sanctus, bei fehlender Zeit nur das Vaterunser, gesungen. Vgl. EKO 7/2,1, 1090f. 472 Die Abendmahlsvermahnung war keine Erfindung Luthers, sondern ein schon früher bekannter Liturgiebestandteil, z. B. die Abendmahlsvermahnung von Osiander 1524 (s. o. Anm. 280). Die Anregungen, die Luthers Deutsche Messe gab, sorgten aber für eine feste Verankerung der Vermahnung in der protestantischen Abendmahlsfeier. Vgl.

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entwickelten sich zu homiletischen Stücken mit teilweise unbarmherziger Länge.473 Ihre thematische Ausrichtung auf Sündenerkenntnis, Reue und Vergewisserung der Sündenvergebung im Abendmahl verstärkten die traditionelle Festlegung der Feier des Herrenmahls ausschließlich auf den Aspekt der Sündenvergebung,474 die erst in unseren Tagen allmählich wieder aufgebrochen wird.475 Meyer, Messe, 190ff. Bereits in der Didache (10,6) wurden die Teilnehmer der Eucharistie mit dem Ruf „Wenn jemand heilig ist, komme er. Wenn er es nicht ist, tue er Buße !“ (Apostolische Väter, 15.) zum würdigen Empfang des Herrenmahles aufgefordert. Nur schwer lassen sich aber gesicherte Nachweise dafür erbringen, dass in vorreformatorischer Zeit volkssprachliche Abendmahlsvermahnungen in Brauch waren. Manche Ritualien enthalten allerdings Hinweise darauf, dass zumindest kurze Ermahnungen denkbar waren. In einem Mainzer Ordo für die Krankenkommunion von 1513 heißt es z. B.: „Deinde hortetur infirmum confiteri etc faciat eum dicere, praesente populo, generalem confessionem in lingua materna: Ich sündiger mensch usw.“ Reifenberg, Hermann: Der Werdegang der volkssprachlichen Eucharistie-„Vermahnung“ in der Mainzer Diözesanliturgie. ALW Bd. 9/1 (1965), 88. („Danach soll er den Kranken ermahnen zu beichten usw. Man lasse ihn eine allgemeine Beichte vor den anwesenden Leuten in der Muttersprache sagen: Ich sündiger Mensch usw. “ e. Ü.) Im 16. Jh. lassen sich dann in vielen röm.-kath. Ritualien ausführliche „Vermahnungen“ im Zusammenhang mit der Kommunion nachweisen. Einerseits wurden hier wahrscheinlich Elemente einer volkstümlichen Liturgie aufgenommen, andererseits wirkten möglicherweise reformatorische Liturgien auf römische Agendenreformen ein. Vgl. Reifenberg, Werdegang, 88ff, vgl. Fischer, Balthasar: Die Predigt vor der Kommunionspendung: Eine Skizze ihrer Geschichte im Abendland. In: Verkündigung und Glaube. Festgabe für Franz X. Arnold/hg. von Theodor Filthaut u. Josef Andreas Jungmann. Freiburg 1958, 229ff. Schulz tritt der Auffassung entgegen, durch die evangelischen Umgestaltungen der Abendmahlsliturgie seien wesentliche Inhalte verloren gegangen. Im Gegenteil findet er reformatorische Abendmahlsvermahnungen inhaltsreicher als den lateinischen Kanon der damaligen Zeit. Vgl. Schulz, Frieder: Eucharistiegebet und Abendmahlsvermahnung: Eine Relecture reformatorischer Abendmahlsordnungen im ökumenischen Zeitalter. In: Sursum corda: Variationen zu einem liturgischen Motiv. Festschrift für Philipp Harnoncourt zum 60. Geburtstag/hg. von Erich Renhart. Graz 1991, 147–158. 473 Z. B. die Abendmahlsvermahnung in der KO von 1563 für die Kurpfalz, vgl. EKO 14, 383–386. 474 Die letzte Abendmahlsvermahnung in der KO für Lüneburg von 1564 erinnert z. B. zunächst an das sündliche Wesen des Menschen und an die Erlösertat Christi. Es wird hervorgehoben, dass das Abendmahl zur Vergewisserung der Sündenvergebung eingesetzt ist und aus diesem Grund gefeiert werden soll. Jeder hat sich zu prüfen, ob er sein Leben bessern will und ob er an die Sündenvergebung glaubt. Wer seine Sünde nicht bereut, soll auch nicht zum Abendmahl gehen. Vgl. EKO 6/1, 547f. Die anderen beiden zur Auswahl stehenden Vermahnungen haben eine ähnliche Zielrichtung. Vgl. EKO 6/1, 546f. Diese Engführung des Abendmahlsverständnisses leuchtet vor dem Hintergrund der kontroverstheologischen Situation des 16. Jh. ein. Vgl. Kühn, Ulrich: Das Abendmahl – Eucharistie der Gemeinde Jesu: Zum ekklesiologischen Ansatz des Abendmahlsverständnisses: Gottfried Voigt zum 65. Geburtstag am 13. Juli 1979. KuD 25 (1979), 290f. 475 Vgl. z. B. Roth, Gustav: Abendmahlsgebet und eucharistischer Lebensstil. In: Gemeinde hält Gottesdienst : Anmerkungen zur Erneuerten Agende/hg. von Werner

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2.1.2.4. Ansätze zur Herausbildung der Gemeinsamen Beichte Die Gemeinsame Beichte – eine allgemeine Beichte mit allgemeiner Absolution – wie wir sie auch in heute geltenden Agenden der Feier des Abendmahls vorgeschaltet finden,476 hat sich aus der Einzelbeichte heraus entwickelt. Von Anfang an standen Einzelbeichte und allgemeine Beichte in einer engen Beziehung zueinander – aus Formeln für die Ohrenbeichte entstanden die Texte der Offenen Schuld (s. o. 39), Texte der Offenen Schuld wurden auch später in der Einzelbeichte verwendet (s. u. Anm. 516). Der völlig unterschiedliche Charakter dieser beiden Beichtformen – die eine als individuelles Sündenbekenntnis unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit persönlich zugesprochener Sündenvergebung, die andere als öffentliche Handlung der versammelten Gemeinde – konnte nicht verhindern, dass sie in den Kirchen der Reformation in Konkurrenz zueinander traten. Denn in beiden Formen wurde die Sündenvergebung vollgültig zugesagt. Bereits Luther war im Nürnberger Absolutionsstreit mit diesem Problem konfrontiert worden und hatte sich für den Gebrauch einer Vielzahl verschiedener Arten von Beichte und Absolution ausgesprochen. Er war dem Prinzip der Rechtfertigung aus Glauben gefolgt und hatte allgemeine Beichte und Absolution gegenüber der Einzelbeichte mit Einzelabsolution nicht abgewertet. In der Praxis musste aber die stärkere Hinwendung zu der einen Beichtform zwangsläufig zum Niedergang der anderen führen. Widerstände gegen die Einzelbeichte und eine größere Sympathie für die allgemeine Beichte waren vor allem nach der Reformation gut zu verstehen, nachdem die Missbräuche der Ohrenbeichte immer wieder kritisiert worden waren. Zudem hatte mit der Reformation eine Subjektivierung und Individualisierung des Glaubens eingesetzt, in der eine ganz unmittelbare Beziehung zu Gott gesucht wurde. Damit die von Luther hoch geschätzte Einzelbeichte weiterhin in Brauch blieb, musste sie schon bald geschützt werden und eine größere Verbindlichkeit erhalten (s. o. 62f). Noch im 16. Jh. waren die Teilnahme am Abendmahl und damit verbunden die Wahrnehmung der Einzelbeichte für die lutherischen Christen zur Verpflichtung gemacht worden.477 Es wurde vorausgesetzt, dass man im Jahr mindestens ein- oder zweimal zur Einzelbeichte und zum Abendmahl ging.478 Wer sich dieser

Reich u. Joachim Stalmann. Hannover 1991. (Leiturgia. Neue Folge; 1), 77–84; Konfirmation: Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden und für die Evangelische Kirche der Union/hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 3. Berlin u. a. 2001, IX-XI. 476 Vgl. AELKG, 246; AEKU, 131; ErA(V), 32, 38, 504ff. 477 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 96. 478 In Grubenhagen 1541 waren Abendmahl und damit auch die Beichte einmal im Vierteljahr Pflicht, vgl. EKO 6/2, 1035.

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Pflicht entzog, hatte als „Sakramentsverächter“ mit harten Strafen zu rechnen.479 Alle diese Zwangsmaßnahmen mussten auf Dauer Widerstände gegen die Einzelbeichte hervorrufen. Sie verdunkelten zudem die Andersartigkeit evangelischer Einzelbeichte gegenüber der römischen Ohrenbeichte. Anfangs war es so, dass man sich vor der Abendmahlsfeier „anzeigte“ und im Zusammenhang mit dieser Anmeldung zur Kommunion die Absolution erhielt. Anmeldung, Glaubensverhör und Einzelbeichte fielen zusammen.480 Als Zeitpunkt für die Anmeldung zum Abendmahl und für die Beichte war in den meisten Orten die Zeit nach der Vesper am Samstagnachmittag festgelegt worden.481 Mehr und mehr wurde auch die Vesper selbst zur Vorbereitung auf die Beichte genutzt. Man sang Bußlieder, betete Bußpsalmen und hörte Bußvermahnungen. So erhielt die Vesper am Samstag ihre besondere Prägung von der Beichte her. Nur in Ausnahmefällen beichtete man bereits früher482 oder erst am Sonntagmorgen unmittelbar vor dem Gottesdienst.483 Die sich an die „Beichtvesper“ unmittelbar anschließende Beichte der einzelnen Konfitenten beinhaltete zunächst das Glaubensverhör, in dem vor allem der Katechismus geprüft wurde. Dieses Katechismusverhör war aber bereits von Luther nur für die Unverständigen gefordert worden. Wer keinen Anlass zu der Vermutung gab, in Glaubensfragen nicht Bescheid zu wissen, musste auch nicht über den Glauben befragt wer-

479 Aus dem Jahr 1623 wird berichtet, dass jemand, der für längere Zeit dem Abendmahl und der Beichte ferngeblieben war, dies entweder bis zu einem festgesetzten Termin nachzuholen oder das Land zu verlassen hatte. Vgl. Franke, Richard: Geschichte der evangelischen Privatbeichte in Sachsen. BSKG 19 (1905), 47f. 480 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 107f. Nach dem 30-jährigen Krieg, als teilweise der Parochialzwang für die Beichte aufgeweicht wurde (vgl. Bezzel, Eingeständnis, 99ff), entwickelte sich aus der Anmeldung zum Abendmahl die Anmeldung zur Beichte. Glaubensverhör und Einzelbeichte waren wieder getrennt. Allerdings wurde die Anmeldung nicht zwangsläufig für ein Glaubensverhör benutzt. Oftmals war der Pfarrer nicht zu Hause, wenn sich Konfitenten zur Beichte anmeldeten. Sie wurden dann nur in ein Konfitentenregister eingetragen. Die eigentliche Beichte am Samstagnachmittag beschränkte sich oft auf das Sprechen einer Beichtformel. 481 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 113 ff. 482 In Dresden musste in späterer Zeit am Samstag bereits um 5 bzw. 6 Uhr morgens mit der Beichte begonnen werden, weil die Zahl der Konfitenten so groß war. Vgl. Gerber, Historie, 503f. In Leipzig war Anfang des 18. Jh. die Unsitte eingerissen, dass allgemein am Sonntagmorgen Beichte gehört wurde, die sich z.T. bis in den Gottesdienst hinzog, so dass die Einzelbeichte manchmal beendet wurde, wenn die Abendmahlsfeier bereits begonnen hatte. Deshalb wurde 1713 für die drei Stadtkirchen angeordnet, dass am Samstag von 8.00 bis 11.00 Uhr Beichte gehört wurde. Vgl. Franke, Geschichte, 76f. 483 Diese Möglichkeit war Alten und Schwangeren vorbehalten bzw. denen, die einen zu weiten Weg zur Kirche hatten. Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 115.

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den.484 Das Glaubensverhör sollte nach Luthers Willen nicht nur den Glauben, sondern auch das Leben prüfen. Die Konfitenten hatten nur wenige, sie belastende Dinge zu erzählen und wenn ihnen nichts einfiel, eine Offene Schuld zu sprechen (s. o. Anm. 240). Obwohl es also möglich war, ein freies Beichtgespräch zu führen und darauf die Absolution zu erhalten, werden sich die meisten Konfitenten bald der bekannten Formeln bedient haben.485 Die Geistlichen konnten wohl Fragen stellen, aber ein Rückfall in die Drangsal der Ohrenbeichte musste vermieden werden. Wir können uns heute kein exaktes Bild von den Vorgängen im lutherischen Beichtstuhl486 machen. Aber vieles spricht dafür, dass aus der wohlgemeinten seelsorgerlichen Einrichtung schon bald ein relativ starres Ritual wurde, das vor dem Empfang des Abendmahls vollzogen werden musste.487 Dieses Ritual war von verschiedenen Seiten starken Belastungen ausgesetzt. Wer seiner Kommunionpflicht nachkommen wollte, musste auch zur Beichte gehen. Das schränkte den freiwilligen Gebrauch der Einzelbeichte von vornherein ein.488 Als andere Belastung musste 484 Gerade bei großen Konfitentenzahlen mag dieses Verhör in den meisten Fällen unterblieben sein. Die später übliche Anmeldung zur Beichte bot dann Gelegenheit, dieses Gespräch vorzuziehen (s. o. Anm. 480). In vielen Gemeinden gab es außerdem mindestens einmal im Jahr, besonders in der Fastenzeit, öffentliche Katechismusexamen für die ganze Gemeinde. Die Gemeindeglieder wurden mit Katechismuspredigten darauf vorbereitet (vgl. Bezzel, Eingeständnis, 137). 485 Luther hatte 1529 in „Eine kurtze weise zu beichten für die einfeltigen […]“ (WA 30/1, 343ff) und 1531 im Kleinen Katechismus unter der Überschrift „Wie man die Einfältigen soll lehren beichten“ (WA 30/1, 343ff / BSLK S. 517ff) selbst Formeln empfohlen. Viele KO bieten Formeln für die Einzelbeichte an (vgl. Bezzel, Eingeständnis, 142ff). Die Oettinger KO von 1706 klagt über die Gemeindeglieder, „wie sie von den Märkten oder sonst daher gelaufen kommen, der Kyrchen zueilen, der Meynung, daß sie schon das ihrige gethan, wenn sie nur ihre auswendig gelernte Beicht herbeten können […]“. Kyrchen=Ordnung, wie es bishero mit der Lehre und Ceremonien in denen Evangelischen Oettingischen Kyrchen gehalten worden ist, und ins künftige noch gehalten werden soll […] 2 Teile. Teil 1: Die Liturgie betreffend. Teil 2: Die Herrschaftlichen Edikte, Inhäsive und Konsistorialverordnungen. Oettingen 21773/1774, 1, 45. 486 In den KO erscheint die Bezeichnung „Beichtstuhl“ fast durchgängig für den Ort der Einzelbeichte, auch wenn es sich nicht um einen geschlossenen Beichtstuhl nach heutigem Verständnis handelte. So wird z. B. in der Magdeburger KO von 1739 unter der Rubrik „Zum Beichtstuhl sich nicht zu drängen […]“ nur gefordert, dass „die Prediger, so Beichte hören, an abgesonderten Orten sitzen […]“ REVIDIRTE | | und nach denen neuern Königlichen Edicten, | | Mandaten und Rescripten eingerichtete und | | vermehrte | | Kirchen=Ordnung | | im Hertzogthum Magdeburg/ | | wie auch in der | | Grafschafft Manßfeld | | Magdeburgischer Hoheit, | | […] | | Magdeburg 1739, 28. 487 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 168ff. 488 Manche Dokumente zeigen, dass die Einzelbeichte bald nur noch im Zusammenhang mit der Abendmahlsfeier gesehen wurde. Wer gebeichtet hatte, musste auch zum Abendmahl gehen. In einem Reskript des Oberkonsistoriums an die Superintendentur Pirna von 1632 wurde die Beichte ohne nachfolgenden Abendmahlsempfang als „liederliche[s] und mutwillige[s] Versäumnis“ und als „grosses Ärgernis“ für die Ge-

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das kontrollierende Moment im Zusammenhang mit der Einzelbeichte empfunden werden. Nach abgelegter Beichte wurde an vielen Orten der Name des Konfitenten in ein Konfitentenregister eingetragen.489 Eine weitere Beschwernis zeigte sich in der praktischen Gestaltung der Einzelbeichte. Während in der römischen Ohrenbeichte die Konfitenten unter dem Druck standen, ihre Einzelsünden vollständig aufzählen zu müssen, und dazu entsprechend befragt wurden, war in der evangelischen Einzelbeichte mitunter keine Gelegenheit, in Ruhe über persönliche Schuld und Ängste zu sprechen. Das belastete sowohl die Konfitenten als auch die Geistlichen. Der zeitweise starke Andrang vorm Beichtstuhl hatte auf die Konfitenten die gleiche Wirkung wie das sichtliche Bemühen mancher Geistlicher, die Beichte nach kurzer Zeit mit der Absolution zu beenden. So wurde oft nur eine allgemeine Beichtformel gesprochen, die den gleichen Wortlaut haben konnte wie die jeweils bekannte Offene Schuld.490 Eine zusätzliche Last stellte der „Beichtpfennig“ dar, durch dessen Einnahme ein beträchtlicher Teil des Pfarrereinkommens gesichert wurde.491 Obwohl die Zahlung des Beichtgeldes in den meisten Fällen verordnet war, ließ sie sich doch kaum von den Geistlichen erzwingen. Besonders arme Leute mussten von ihren Zahlungsverpflichtungen entbunden werden, wenn man sie nicht vom Sakramentsempfang ausschließen wollte. Diese Schwierigkeiten führten aber mitunter zu einer unterschiedlichen Behandlung armer und vermögender Konfitenten oder gar zum Missbrauch des Bindeschlüssels.492 So verwundert es nicht, dass schon in der Mitte des 16. Jh. die KOO von Fällen berichten, in denen die Einzelbeichte offenbar abgeschafft meinde bezeichnet, das möglicherweise den kleinen Bann nach sich zog. Es galt auch nicht als Entschuldigung, wenn jemand „wegen grossem Erschrecknis vor gehaltener Kommunion weggeblieben“ war. Franke, Geschichte, 48. 489 Später erfolgte die Eintragung bei der Anmeldung zur Beichte (s. o. Anm. 480). Diese Register dienten nicht nur statistischen Zwecken. Sie gaben den Geistlichen die Möglichkeit, Personen ausfindig zu machen, die ihre Kommunion- und Beichtpflicht versäumten. Dieser Grund wird beispielsweise in der KO für Salzwedel von 1579 genannt, vgl. EKO 3, 276. Es konnte auch der Bedarf an Hostien und Wein besser eingeschätzt werden. Zudem waren die Einnahmen für die Geistlichen in Form des „Beichtpfennigs“ voraussehbar. In manchen Fällen wurden Konfitentenregister dahin gehend missbraucht, dass Beurteilungen der Katechismus-Kenntnisse oder gar Bemerkungen über den Lebenswandel eingetragen wurden. Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 111ff. 490 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 142ff; 143, Anm. 464. 491 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 152ff. 492 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 154, Anm. 555. In der KO für Aschersleben von 1589 heißt es: „Des sonnabends soll er [der Pfarrer, T. B.] neben den diaconis beicht sitzen, auch uf die diaconos acht haben, das sie die beichtkinder und sonderlich die kinder und unverständigen nicht übel anfaren noch abschrecken, sondern fleissig und freundlich unterrichten, trösten und den löseschlüssel willig mittheilen und nicht mehr den pfenning, dann der leute seligkeit suchen.“ EKO 2, 476.

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wurde, und deren Wiedereinführung fordern.493 Besondere Schwierigkeiten gab es von Anfang an in Gebieten mit starkem reformierten Einfluss.494 So klagt Truber in seiner KO für Kempten 1553: „Und, wiewol es guet und nutzlich were, daß man nach dem brauch der alten und jetzigen vilen kuerchen einen jeden insonderheit befrag, underrichtet und absolvirt; aber dises volk alhie, wie ich bericht und selbs zum tail merke, kan so bald ohne zertrennung nicht dahin gebracht werden […]“495 Entsprechend den Gegebenheiten wurden nur junge Leute und öffentliche Sünder einzeln verhört. An die anderen wurde eine Bußaufforderung gerichtet, die „offen beucht“ vorgesprochen und darauf die allgemeine Absolution erteilt.496 Trotz reformierter Einflüsse konnte in Nördlingen die Einzelbeichte als Normalform der Vorbereitung auf das Abendmahl durchgesetzt werden. In der KO von 1579 heißt es: „Darumb sollen die pfarrer iren pfarrverwanten nicht allein die gemein, offenlich predig tun, sonder inen auch iren dienst in sonderheit anpieten und fürnemlich, wann sie das nachtmal Christi halten wöllen, sollen sie die kürch vermanen, das ein jedlicher, der das nachtmal Christi zu empfahen gedenkt, sich zuvor am abent anzeige und sein reu und laid über die sünd bekenne, auch sein beger der absolution der verzeihung der sünden und sein furnemen von den sünden abzustehen und fürohin in christlichen gehorsam zu leben bezeuge, darmit niemand das nachtmal Christi i[h]m selbs zur verdammnus und der kürchen zur ergernus empfahe.“497 Allerdings kannten die Nördlinger in Ausnahmesituationen bereits die gemeinsame Beichte vor allem für diejenigen, deren Lebenswandel und Glaubensüberzeugungen den Geistlichen „bestens bekannt“ waren.498 493 „Absolutio privata ist bisher an vielen enden gar abgethan wider die ordnung der visitation, die sol bei allen pfarhern widerumb aufgerichtet und umb vieler wichtiger ursachen willen von den superattendenten treulich darüber gehalten werden. Und das man damit deste statlicher müge umbgehen, sol man die confitenten vermanen, das sie allzeit den abend zuvor sich finden, rationem fidei geben, und alsdann absolution empfahen.“ KO für die Reussische Herrschaft von 1552, EKO 2, 155. 494 Während Zwingli die Einzelbeichte als menschliche Einrichtung verwarf, empfahl Calvin sie denen, die ein besonderes Bedürfnis nach ihr hatten. Sie hatte keinesfalls einen so hohen Stellenwert wie bei Luther. In der Nachfolge Calvins enthielten die meisten reformierten Ordnungen zu Beginn der Gottesdienste, in deren Anschluss Abendmahl gefeiert wurde, eine Offene Schuld. Vgl. Rietschel/Graff, Lehrbuch, 819ff. 495 „Primus Trubers Kirchenordnung 1553. Kempten“, EKO 12, 176f. 496 Vgl. EKO 12, 176f. 497 EKO 12, 363. Nach der KO für die Kurpfalz 1556, vgl. EKO 14, 144. 498 „Da aber zu hohen festen oder andern zeiten die anzal der confitenten so groß, daß sigillatim nit alle insonderheit füeglich künden examinirt, underricht und absolviert werden, stehet zue der herren kürchendiener christlichem bedenken, etlich in zimlicher anzahl für sich zu fordern, bevorab diejenige, welche inen berichts der lehr, auch tun, leben und wandels halber zum bösten bekannt, und denselben sambtlich die vermanung zue offenlicher beicht sampt der confession fürlesen und daruf die absolution in

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In Württemberg und Schwäbisch-Hall hatte Brenz lutherischen und reformierten Brauch miteinander zu versöhnen gesucht. Zwischen 1553 bzw. 1555 und 1559 wurde in der Beichtvesper nach den Einzelverhören mit Privatabsolution nochmals eine allgemeine Beichte mit allgemeiner Absolution gesprochen. Im Sonntagsgottesdienst stand die gleiche allgemeine Beichte mit allgemeiner Absolution vor dem Abendmahl.499 Erst mit der Württemberger KO von 1559 fiel die Allgemeine Beichte in der Beichtvesper weg.500 Die KO für die Kurpfalz von 1556, die sich weithin an der Württemberger KO von 1553 orientiert,501 kommt zu einer ähnlichen Regelung. In der Samstagsvesper sollen private Glaubensverhöre mit Einzelbeichte erfolgen, aber nur in Ausnahmefällen eine Privatabsolution gesprochen werden.502 Denn im Anschluss an die Einzelverhöre wurde zur öffentlichen Beichte vermahnt, danach gemeinsam eine Offene Schuld gesprochen und darauf vom Geistlichen die allgemeine Absolution erteilt. Seit 1577 sprach man am Sonntag, wenn Abendmahl gefeiert wurde, nochmals die gleiche Offene Schuld und erhielt die gleiche allgemeine Absolution.503 Ein Beweggrund für das wiederholte gemeinsame Sündenbekenntnis mit Absolution kurz vor dem Abendmahlsempfang könnte gewesen sein, dass zur Beruhigung der Gewissen alle seit der Beichtvesper begangenen Sünden ausdrücklich vergeben werden sollten.504 Die kurpfälzischen Abendmahlsgäste hatten also in Vorbereitung gemain inen verkünden und sprechen, sonsten aber und, sovil sich immer wider leiden kan und mag, die privatam confessionem, institutionem und absolutionem erhalten.“ EKO 12, 363f. 499 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 90. Das gleiche gilt auch für die Ordnung von Heilbronn 1543, vgl. Waldenmaier, Entstehung, 77. 500 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 90; Waldenmaier, Entstehung, 78. 501 Vgl. EKO 14, 23. 502 „Wa auch einer were, der ein solliche sonderliche beschwerd des gewissens hette, das i[h]m sonderlicher trost des evangelions nötig sein würde, so soll er i[h]n insonderheit absolviern, aber die andern laß er der gmeinen hernachvolgenden absolution erwarten. So nun sollichs mit jetlichem insonderheit verrichtet, soll der kirchendiener die gmein form der offenlichen beicht und absolution ungeverlich volgender gestalt der versamleten kirchen fürsprechen.“ EKO 14, 145. 503 Eine Neuerung der KO von 1577 ist außerdem, dass in allen Gottesdiensten Offene Schuld und allgemeine Absolution gesprochen werden. Dann steht die Offene Schuld vor dem Allgemeinen Gebet und bereitet darauf vor. Vgl. EKO 14, 144, Anm. q. 504 Eine Beichtordnung für Stuttgart vom 25.10.1644 geht auf die Befürchtung von Gemeindegliedern ein, dass durch das Sündigen nach empfangener Absolution die Würdigkeit hinsichtlich des Abendmahlsempfangs in Frage gestellt sei. Viele scheinen deshalb zum spätestmöglichen Zeitpunkt gebeichtet zu haben, obwohl auch vorher Gelegenheit zur Beichte gegeben war. Das führte zu einem Massenandrang bei der Beichtvesper. Die o.g. Ordnung begegnet dieser – kaum noch lutherisch zu nennenden – Auffassung mit entsprechender Belehrung, weist aber auch auf die nochmalige, gemeinsame Beichtmöglichkeit hin. Vgl. Kolb, Chr[istoph]: Die Geschichte des Gottesdienstes in

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auf das Abendmahl möglicherweise einmal privat und zweimal mit den Worten der Offenen Schuld gebeichtet und zweimal eine allgemeine Absolution empfangen. Hinzu kamen diverse Beicht- und Abendmahlsvermahnungen. Die KOO des 16. Jh. geben aber auch für andere Gebiete von der Tendenz Zeugnis, vor allem aus praktischen Erwägungen an Stelle der Einzelbeichte mit Einzelabsolution entweder auf die Einzelbeichte eine allgemeine Absolution folgen zu lassen oder auf eine allgemeine Beichte hin jedem Konfitenten die Absolution einzeln zuzusprechen oder es ganz mit einer allgemeinen Beichte und allgemeinen Absolution bewenden zu lassen.505 Gegen die allgemeine Absolution richten sich u. a. die „Constitution und artikel des geistlichen Consistorii zu Wittemberg. 1542“,506 die KO für das Herzogtum Preußen von 1544,507 die KO für Wolfenbüttel von 1569508 und die KO für das Stift Verden von 1606.509 Die allgemeine Beichte an Stelle der Einzelbeichte verbietet z. B. die KO für Freudenthal und Goldstein in Schlesien von 1591.510 Dass allgemeine Beichte und der evangelischen Kirche Württembergs. Stuttgart 1913, 319f. Es ist anzunehmen, dass diese Besorgnisse auch in früheren Zeiten in der Volksfrömmigkeit eine Rolle spielten. 505 Ein Beispiel dafür ist das Agendbüchlein Veit Dietrichs, in dem es hinsichtlich der Einzelbeichte heißt: „Wenn nun die communicanten also befraget und unterricht sein, alsdann sol man sie, nach gelegenheit ein jeden in sonderheit oder alle zumal, so sich angezeigt, nachdem es sich der zeit halb leidet, absolviern ungeferlich auf dise weise […]“ EKO 11, 531. 506 „[…] und ob an einigen ort geschehen were, das das volk ungebeicht das heilige sacrament empfangen, oder ob das irgends ein pfarherr die jenigen, so morgends zu communiciren gedacht hetten, in einen haufen treten lassen und inen ein gemein absolution gesprochen, das sol keines weges sein.“ EKO 1, 202. 507 Ähnlich wie Wittenberg 1542, zusätzlich: „[…] sondern wie jetz gemeldet, sol ein sonderliche absolution eim jeden gesprochen werden.“ EKO 4, 68. 508 „Es sollen aber die pastores […] einen jeden nach gethaner beicht aus dem bevehl und der zusage Christi insonderheit absolviren und nicht zween, drey oder mehr zugleich, wie man etliche mal erfahren; denn solchs nicht gedüldet werden soll.“ EKO 6/1, 166f. 509 Ähnlich wie die KO für Lüneburg von 1564, vgl. EKO 6/1, 560, oder die KO für Wolfenbüttel von 1569, vgl. EKO 7/1, 177. Es ist irritierend, dass trotz Abwehr der allgemeinen Absolution an Stelle der Privatabsolution sowohl in der KO für Lüneburg 1564 als auch in der KO für Wolfenbüttel 1569 im Zusammenhang mit der Beichtvesper neben einer singularischen Absolutionsformel eine „Alia absolutionis formula“ im Plural abgedruckt ist. Vgl. EKO 6/1, 560, 167. Die KO für das Stift Verden von 1606 enthält nur eine Absolutionsformel mit Adressaten in der 2. Person Plural. Vgl. EKO 7/1, 177f. Wenn man davon ausgeht, dass in der Tat jeder einzeln absolviert wurde, dann könnten die pluralischen Absolutionsformeln vielleicht bei höhergestellten Standespersonen verwendet worden sein. 510 „[…] darum dan auch die offentlich hauffen beichte, da man so heufig herzu lauft, billich abgeschafft wird, damit die leut privatim recht mögen unterrichtet werden.“ EKO 3, 478.

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Absolution an die Stelle von Einzelbeichte mit Einzelabsolution treten, bekämpfen beispielsweise der Bericht des Superintendenten Schlaginhaufen über die Gottesdienstordnung in Köthen von 1534,511 die KO für die Mark Brandenburg von 1540,512 die KO für das Herzogtum PfalzNeuburg von 1543513 und die KO für die Grafschaft Hohenlohe von 1578.514 Zusammenfassend darf wohl davon ausgegangen werden, dass es im 16. Jh. weithin gelang, den Bestrebungen zum teilweisen oder völligen Ersatz der Einzelbeichte und -absolution durch allgemeine Beichte und allgemeine Absolution zu wehren. Oftmals war dies schon durch personelle Verstärkung des geistlichen Standes in den großen Städten möglich.515 Auf Dauer konnte aber der Gebrauch der Beichte als obligatorische Abendmahlsvorbereitung in der üblichen Form nicht aufrecht erhalten werden. Bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges war in den meisten KOO die Einzelbeichte in der Samstagsvesper zur Verpflichtung gemacht worden. Vor oder nach der Einzelbeichte mit Einzelabsolution hatte oft eine allgemeine Beichte mit allgemeiner Absolution ihren Platz. Die gleiche Formel gebrauchten viele Gemeindeglieder in der Einzelbeichte.516 Am 511 „[…] es soll auch kein pfarherr mehr dann ein person auf einmol beichte horen und absolviren, wie herum in diesem land gescheen.“ EKO 2, 583. 512 Die Pfarrer sollen nicht gestatten, dass mehrere eine allgemeine Beichte sprechen „[…] wie sie gesundigt haben mit bösen gedanken, worten und werken etc.“, sondern alle sollen einzeln beichten und absolviert werden. EKO 3, 50. „Desgleichen der misbrauch, so an etlichen orten furgenomen, das auf einen haufen etliche personen zugleich ein gemeine beicht thun und offentliche absolution empfahen, und es denn dabei wenden lassen, sol nicht gestattet, sondern ein jeder in sonderheit notturftiglich gehört und absolvirt werden.“ EKO 3, 60. 513 „Es sollen in [=sich] auch die pfarrherren zu solcher verhör weil genug nemen und nicht gestatten, das ir vil miteinander ein gemeine beicht tuen, sonder ein jeder sol für sich selbst sein beicht tun und absolution begern.“ EKO 13, 57. 514 „Nach der vesper sollen die pfarrer und kirchendiener diejenigen personen, so des nechstvolgenden sontags das heilig abendmal Christi empfahen wöllen, verhören und nicht mehr, wie etwan bißher an vilen orten beschehen, irer vil zusammenfassen, sondern ein jede person allein und in sonderheit, sovil immer möglich, nach gelegenheit der communicanten, für sich nemen und, da sie ires verstands halben in christlicher lehr noch unbericht und zweifelhaftig, sie fleissig in den sechs stücken des catechismi und den artikeln christlicher lehr examinirn und unterrichten […] Nach solchem unterricht spreche er im die absolution auf nachvolgende weise […]“ EKO 15, 284f. 515 Die KO für Leipzig von 1539 legt fest, dass die Beichtväter aus den Klöstern vor der Stadt beim Beichtehören in der Stadt helfen sollen, wenn sie selbst nicht viele Kommunikanten haben. Vgl. EKO 1, 593. In der KO für Teschen von 1584 wird der Prediger verpflichtet – wie es schon einmal üblich war – einen Diakon anzustellen, damit die zahlreichen Kommunikanten an hohen Festen einzeln angehört und absolviert und „die generalis absolutio gänzlich abgeschafft“ werden können. EKO 3, 460. 516 Vgl. Gerber, Historie, 515. Spätere Kirchenbücher geben Beichtformeln vor, z. B. das „Gothaische Kirchen=Buch“ von 1724 eine „Kurtze Beicht-Formul vor die einfältigen“. Vgl. Gothaisches Kirchenbuch, 1724, 1, 262.

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Sonntag sprach man in vielen Fällen nochmals eine Offene Schuld mit allgemeiner Absolution in Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang. Dabei verwendete man manchmal den gleichen Text wie zur Vorbereitung auf das Allgemeine Gebet.517 Die Beichtformeln waren also untereinander austauschbar geworden. In der Samstagsvesper wurde eine Beichtvermahnung verlesen. Die Abendmahlsvermahnung am Sonntag forderte auf ihre Weise zu Sündenerkenntnis und Reue auf. „Diese Inflation des Predigtwortes und der Beicht- und Absolutionshandlungen musste die Einzelbeichte relativieren und die Frage nach dem Neuen und Zusätzlichen aufwerfen.“518 Die Verwendung von gleichen Formeln ließ außerdem das jeweils besondere Anliegen von Einzelbeichte, Beichte in Vorbereitung auf das Abendmahl, Beichte als Antwort auf die Predigt und Beichte in Vorbereitung auf das Gebet nicht mehr deutlich werden. Es war nur eine Frage der Zeit, dass das Ritual der Einzelbeichte sowohl von Amtsträgern als auch von Gemeindegliedern mit größerem Nachdruck in Frage gestellt werden würde. 2.1.2.5. Die Abhängigkeit der Gottesdienstordnungen voneinander im Zusammenhang mit der gottesdienstlichen Beichte Die liturgiegeschichtliche Forschung ist sich schon lange darin einig, dass vielfältige Abhängigkeiten der KOO und damit auch der gottesdienstlichen Agenden untereinander nachzuweisen sind.519 Allerdings handelt es sich hierbei um ein sehr kompliziertes Beziehungsgeflecht.520 Deshalb legt sich die Frage nahe, inwieweit bestimmte Formen bzw. Texte der gottesdienstlichen Beichte in den Agendenwerken des 16. Jh. voneinander abhängig sind. Starke Abhängigkeiten sind zunächst dort zu vermuten, wo 517 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 89f. 518 Bezzel, Eingeständnis, 90. 519 Vgl. Mejer, Otto: Art. „Kirchenordnungen“, RE2 7 (1880), 782–784; Niebergall, A., Agende. TRE 2 (1978), 11ff. 520 „[…] die Einflußnahme der Agenden aufeinander und ihre Abhängigkeit voneinander ist so groß, daß eine klare Übersicht nicht leicht zu finden ist. Die Gründe für diese eigentümliche Verbindung von Abhängigkeit und Selbständigkeit liegen auch in den politisch-kirchenpolitischen Konstellationen, in denen die einzelnen Territorien zueinander standen, und in der dogmatischen Einstellung der an der Abfassung der jeweiligen Agenden beteiligten Theologen […] Mit einer hinreichenden Deutlichkeit lassen sich Unterschiede zwischen dem norddeutschen und dem süddeutschen Gebiet im weitesten Sinne des Wortes feststellen.“ Niebergall, A., Agende. TRE 2 (1978), 14f. Allein für Süddeutschland ermittelt Waldenmaier drei Haupttypen des evangelischen Gottesdienstes: „Die lutherische Nürnberger Messe, die vermittelnde Straßburger Ordnung und die einfache schweizerische Form des Württembergischen Gottesdienstes stellen zusammen die drei verschiedenen Typen dar, die in Süddeutschland abhängig von Wittenberg und der Schweiz, aber unter besonderen Verhältnissen und mit selbständiger Eigenart sich bildeten. Um sie gruppierten sich die evangelischen Liturgieen Süddeutschlands.“ Waldenmaier, Entstehung, 78f.

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die gleiche Persönlichkeit in verschiedenen Gegenden an Agenden mitgewirkt hat. Deshalb soll dieser Einfluss zuerst untersucht werden. Seit dem zweiten Drittel des 16. Jh. dienten bestimmte Agenden zunehmend als Vorbild für die Neu- bzw. Umgestaltung gottesdienstlicher Ordnungen. Auch darauf wird ein Blick zu werfen sein. Vergleicht man die Agenden, an deren Entstehung z. B. Johannes Bugenhagen entscheidenden Anteil hatte, fallen bald eine einheitliche Struktur (bei Bugenhagen die Struktur der Messe) sowie gewisse Eigentümlichkeiten auf, die konkrete liturgische Gestaltung ist aber sehr unterschiedlich. Letzteres bezieht sich vor allem auf Gebrauch und Form einer gottesdienstlichen Beichte, die in den Bugenhagenschen Ordnungen stark variiert und in beinahe allen Formen vorkommt. Bei den Ordnungen Bugenhagens lässt sich beobachten, dass vor allem der Eingangsteil der Messe und der Abendmahlsteil in ähnlicher Weise gestaltet sind. Dagegen variieren die Stücke, die die Predigt rahmen, erheblich. In der KO für Braunschweig von 1528 findet sich nach der Predigt ein ausführlicher Pronaus (s. o. Anm. 347), der in ähnlicher Form örtliche Tradition gewesen sein könnte.521 Die Offene Schuld steht mit ihrem Textbestand in mittelalterlicher Tradition, ist aber an der evangelischen Lehre ausgerichtet. Das knappe Gnadenwort könnte eine evangelische Neubildung Bugenhagens sein (s. Anh. Nr. 19). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Credo nach den Abkündigungen und vor der Offenen Schuld gesprochen wurde, also nicht vor der Predigt seinen liturgischen Ort hatte.522 Auch in den KOO von Hamburg 1529 und Lübeck 1531 enthält der Gottesdienst im Rahmen des Pronaus eine Offene Schuld. Die unterschiedliche Aufeinanderfolge der Bestandteile des Pronaus legt trotz der nur knappen Angaben die Vermutung nahe, dass Bugenhagen auch hier wieder dem örtlichen Brauch folgte. In Hamburg werden vom Prediger nach der Predigt Abkündigungen, Credo und Offene Schuld sowie eine Vermahnung zum Allgemeinen Gebet verlesen.523 Danach singen Gemeinde oder Chor das lateinische Nizänum sowie das Lied „Wir glauben all an einen Gott […]“.524 Die KO von Lübeck 1531 gibt 521 Vgl. EKO 6/1, 440ff. 522 Dies könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass Bugenhagen den Pronaus im Ganzen, also auch in der Abfolge der liturgischen Stücke, aus dem örtlichen Traditionsgut übernommen hat. 523 Die Offene Schuld mit Gnadenspruch entspricht weitgehend dem Text von Braunschweig 1528. Vgl. EKO 5, 530. 524 Der Gebrauch von Apostolikum und Nizänum in einem Gottesdienst könnte sich auch auf eine lokale Tradition zurückführen lassen. Aus Straßburg ist sogar eine Messordnung von 1524 überliefert, in der unmittelbar auf das Nizänum das Apostolikum folgt, vgl. Hubert, Friedrich: Die Straßburger liturgischen Ordnungen im Zeitalter der Reformation nebst einer Bibliographie der Straßburger Gesangbücher. Göttingen

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nur sehr knappe Anweisungen. Darin wird beispielsweise kein Credo erwähnt.525 Nimmt man nun auf Grund der untersuchten Gottesdienstordnungen an, Bugenhagen habe eine besondere Vorliebe für den Pronaus gehabt und ihn deshalb grundsätzlich in seine Ordnungen aufgenommen, so wird man durch die KO für Wittenberg 1533 eines anderen belehrt. Nach dem Singen des Evangeliums wird von Priester und Chor das Credo lateinisch, danach von der Gemeinde das deutsche „Wir glauben all an einen Gott […]“ gesungen. Darauf folgt die Predigt. Einen Pronaus in der bekannten Form gibt es in Wittenberg nicht.526 Es ist kaum anzunehmen, dass Bugenhagen hierbei Rücksicht auf Luthers Bedenken gegenüber der Offenen Schuld genommen hat (s. o. 65). Denn es fehlen ebenso ein Allgemeines Gebet als auch Luthers Vaterunser-Paraphrase mit Abendmahlsvermahnung. Die KO für Pommern von 1535 sieht dagegen für die Messe wieder Teile des Pronaus vor. Auf die Predigt folgen eine Vermahnung zum Allgemeinen Gebet und das Singen der 10 Gebote.527 Dass Bugenhagen eine positive Haltung gegenüber dem Pronaus, speziell dem Allgemeinen Gebet, hatte, geht aus seiner lateinisch verfassten „Ordinatio“ für Pommern von 1535 hervor. Er kann darin das Allgemeine Gebet sogar als „Kanon“ bezeichnen.528 In der KO für das Herzogtum Pommern von 1542 ist der Pronaus noch etwas reichhaltiger: nach der Predigt stehen Vermahnung zum Allgemeinen Gebet, Vaterunser, Credo und die 10 Gebote. Eine Offene Schuld kommt aber auch hier nicht ausdrücklich vor.529 Offenbar war diese gottesdienstliche Beichte in der liturgischen Tradition Pommerns nicht so stark verwurzelt wie anderswo. 1900, 62ff. Zumindest gehört das Apostolikum zum Pronaus. Die Aufeinanderfolge von lateinisch gesungenem Nizänum und deutschem Glaubenslied ist eine Eigentümlichkeit der Ordnungen Bugenhagens. Vgl. Niebergall, A., Agende. TRE 2 (1978), 15. 525 Nach der Predigt des Evangeliums folgen Abkündigungen, Beichte und Vermahnung. Vgl. EKO 5, 350. 526 Vgl. EKO 1, 704. 527 Vgl. EKO 4, 341. 528 „Post verbum dei admoneantur, ut orent pro omnibus omnium hominum conditionibus, pro ecclesia, pro pace, salute etc. Hic est noster canon.“ EKO 4, 352. („Nach dem Wort Gottes sollen sie [die Gemeindeglieder, T.B] aufgefordert werden, für alle Verhältnisse aller Menschen zu beten, für die Kirche, für den Frieden, das Heil usw. Dies ist unser Kanon.“ e. Ü.) In der Abendmahlsliturgie betrachtet er Präfation, Sanctus und Abendmahlsvermahnung als fakultative Stücke in festlichen Gottesdiensten, die auch entfallen konnten. Vgl. EKO 4, 341. 529 Es wird aber in der KO von 1535 darauf hingewiesen, dass nach dem deutschen Lied nach der Predigt die vorgeschlagenen liturgischen Stücke ab und zu ausgelassen werden sollten, „ock des exhortatio eder confessio, dat dit nicht to lank unde vordreetlick [=verdrießlich] werde […]“ EKO 4, 341. Man setzt also stillschweigend voraus, dass in manchen Kirchen Vermahnung und Offene Schuld gebräuchlich sind.

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Als Bugenhagen 1543 an der KO für Wolfenbüttel arbeitete, nahm er erkennbar auch wieder lokale Traditionen auf. Zu Beginn findet sich während des Psalmengesangs eine Art privates Confiteor zwischen Priester und Diakon. Auf einen Pronaus deutet nichts hin. Nach dem Evangelium werden nur das für Bugenhagen typische lateinische und deutsche Credo gesungen. Nach der Predigt erwägt er, zuweilen auch Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung zu verlesen.530 Die Beispiele von Bugenhagens Ordnungen zeigen, dass die größten Unterschiede im Predigtteil bestehen. Diese Abweichungen sind kaum anders zu erklären, als dass hier vorgefundenes liturgisches Gut, z. B. ein fest gefügter Pronaus oder ein Confiteor zu Beginn der Messe, in die erneuerten Gottesdienstordnungen aufgenommen und allenfalls nach evangelischem Verständnis umgestaltet wurden. Der Verfasser dieser Agenden nahm also in der Regel große Rücksicht auf lokale gottesdienstliche Traditionen und veränderte nichts gewaltsam, was im Einklang mit der neuen Lehre stand.531 Bugenhagen selbst weist in der Wolfenbüttler KO von 1543 auf diesen Grundsatz hin. Danach betrachtet er in Übereinstimmung mit Luther selbst seine Ordnung nicht als verbindlich in allen Punkten. Jede Gemeinde sollte auf dieser Grundlage ihre eigene Ordnung erarbeiten, die allerdings nicht den reformatorischen Prinzipien widersprechen durfte.532 Eine der frühen Gottesdienstordnungen mit Vorbildwirkung für andere Agenden war die der Brandenburg-Nürnbergischen KO von 1533.533 Sie hatte u. a. Einfluss auf die Agenden von Brandenburg 1540, Calenberg-Göttingen 1542, Pfalz-Neuburg 1543, Köln 1543 und Hohenlohe 1553.534 Als gottesdienstliche Beichte erscheint sowohl in der lateinischen als auch in der deutschen Messe der Brandenburg-Nürnbergischen KO 1533 jeweils nur ein privates Confiteor des Priesters, das dieser während des Introitus-Gesangs bzw. des deutschen Gemeindeliedes betete (s. o. Anm. 325).535 Sieht man sich daraufhin die von Brandenburg-Nürnberg

530 Vgl. EKO 6/1, 56. 531 „Trotz der engen Zusammenarbeit mit Luther teilte Bugenhagen weder dessen Zurückhaltung gegenüber den Zeremonien und Ordnungen, noch richtete er sich genau nach einem der beiden Entwürfe von der Hand Luthers. Wenn seine Vorschläge in vieler Hinsicht voneinander abwichen, so deswegen, weil er sich dabei auf die örtlichen Verhältnisse einstellte.“ Niebergall, A., Agende. TRE 2 (1978), 15. Sicher gab es auch andere Theologen, die stärker als Bugenhagen mit den bestehenden Ordnungen brachen. Leider lässt sich kaum an Hand von Textvergleichen nachweisen, inwieweit vorreformatorische Ordnungen modifiziert weiterverwendet bzw. verworfen wurden. 532 Vgl. EKO 6/1, 37. 533 Vgl. EKO 11, 140ff. 534 Vgl. Mejer, Kirchenordnungen, 784; Waldenmaier, Entstehung, 79ff. 535 Vgl. EKO 11, 188ff.

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abhängigen Ordnungen an, so findet sich ein privates Confiteor nur in Brandenburg 1540,536 Pfalz-Neuburg 1543537 und Köln 1543538 wieder. Es hat in diesen Ordnungen aber stets vor dem Gesang von Introitus, Kyrie und Gloria seinen Platz. In der Gottesdienstordnung von CalenbergGöttingen von 1542 wird ein privates Confiteor nicht erwähnt, dafür steht nach der Predigt ein traditioneller Pronaus mit Offener Schuld und Absolution.539 Die KO für Hohenlohe von 1553 eröffnet die Messe mit einem privaten Confiteor des Priesters, das dieser während des lateinisch gesungenen Introitus betet.540 Die Predigt wird aber wieder von einem Pronaus gerahmt, der auch eine Offene Schuld mit Absolution enthält.541 An diesen Beispielen zeigt sich, dass es kaum sinnvoll ist, die Abhängigkeit der Agenden voneinander hinsichtlich der gottesdienstlichen Beichte zu untersuchen oder gar eine Systematisierung in diesem Sinn vorzunehmen. Confiteor und Offene Schuld wurden oft möglicherweise sogar von Kirche zu Kirche in verschiedenen Fassungen tradiert542 und dann entweder von reformatorischen Agendenwerken übernommen oder verworfen.543 Hin und wieder hat der Bearbeiter einer Agende einen ihm vertrauten, evangelisch umgestalteten Text anderwärts eingebracht.544 Außerdem diente die Übernahme von Strukturen oder Texten aus anderen Liturgien oder ganzer Agenden immer wieder der Vereinheitlichung der 536 Dort wurde es aber trotz seines privaten Charakters vor dem Introitus gebetet (s. o. Anm. 327). 537 Die Geistlichen knien am Altar zum Confiteor oder einem Bußpsalm nieder. Danach singt der Chor Introitus, Kyrie und Gloria. Vgl. EKO(R), 2, 27ff. An dieser Agende arbeiteten Andreas Osiander, Michael Diller und Wolfgang Musculus mit. 538 Ein Confiteor, beginnend mit Ps 32,5.6, wird auch hier von den Geistlichen gebetet, bevor der Chor Introitus, Kyrie und Gloria singt. Vgl. EKO(R), 2, 42ff. Verfasser dieser Agende, die kaum in Gebrauch kam, waren Martin Bucer, Philipp Melanchthon und Caspar Hedio. 539 Vgl. EKO 6/2, 793ff (s. o. Anm. 350). 540 Vgl. EKO 15, 68. 541 Vor der Predigt steht das Nizänum lateinisch oder deutsch, danach Allgemeines Gebet, Abendmahlsvermahnung (nach Brandenburg-Nürnberg 1533), Offene Schuld und Absolution. Vgl. EKO 15, 69ff. 542 In Straßburg versuchte man beispielsweise vergeblich, die in den einzelnen Kirchen gebräuchlichen unterschiedlichen Confiteor-Texte durch einen gemeinsamen Text zu ersetzen. Vgl. Hubert, Ordnungen, LXXIf. 543 Dogmatische Entscheidungen mögen dabei eine wichtige, wenn auch nicht ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Dass z. B. in den Straßburger Ordnungen das Gemeinde-Confiteor eine große Bedeutung erhielt, Kyrie und Gloria dagegen wegfielen, hängt mit der ethischen Ausrichtung dieser Ordnungen zusammen. Vgl. Smend, Messen, 156. 544 Z. B. Bugenhagen in der Hamburger Ordnung 1529 (s. o. Anm. 523). Jakob Andreä brachte wahrscheinlich als Visitator den Text der Württembergischen Offenen Schuld (s. Anh. Nr. 24) mit nach Wolfenbüttel, wo er in die Agende von 1569 einging. Vgl. EKO 6/1, 144.

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Gottesdienstordnung innerhalb eines politischen Territoriums.545 Keineswegs kann dies aber als Normalfall für die Arbeit an Agenden in den ersten Jahrzehnten der Reformation gelten.546 2.2. Die Verbreitung der Gemeinsamen Beichte im 17. und 18. Jh. Einen markanten Einschnitt in der Entwicklung der gottesdienstlichen Beichte bewirkte – ähnlich wie auf anderen Gebieten – der Dreißigjährige Krieg. Die sittliche Verwahrlosung auf der einen Seite und die seelischen Nöte der Bevölkerung auf der anderen Seite547 stärkten das Institut der Einzelbeichte. In manchen Gegenden wurde sie erst im Verlauf des Krieges eingeführt.548 Der Dreißigjährige Krieg hatte aber auch einen zersetzenden Einfluss auf die Einzelbeichte. An manchen Orten war sie kaum noch praktiziert worden, weil die Gemeinden jahrzehntelang keinen Pfarrer gehabt hatten oder weil die Gottesdienste in aller Eile im Verborgenen gefeiert werden mussten.549 Infolge des Krieges hatte sich die Kluft zwischen Volk und adligen Herrschern vergrößert, was auch sichtbaren Ausdruck im kirchlichen Leben fand. Der Adel war nicht nur durch seine Privatlogen in den Kirchen vom Volk getrennt. In zunehmendem Maß bestanden Adlige auch auf privaten Amtshandlungen, z. B. auf einer Einzelbeichte außerhalb des Beichtstuhls, zuweilen sogar auf einer Befreiung vom Beichtzwang.550 Insgesamt setzte sich die Entwicklung von Formen der Gemeinsamen Beichte zur Vorbereitung auf das Abendmahl fort, die im 16. Jh. bereits begonnen hatte, von kirchenamtlicher Seite aber immer wieder bekämpft worden war. Immer öfter waren nun Konsistorien bereit, Ausnahmeregelungen zuzulassen. Die Einzelbeichte wurde in der Regel nicht abgeschafft, sondern es entstanden Mischformen aus privater und allgemeiner

545 Infolge von mehrfachen konfessionellen Veränderungen im Herrscherhaus wurde die Gottesdienstordnung z. B. in Pfalz-Neuburg sowie in der Kurpfalz zwischen 1543 und 1563 dreimal grundlegend geändert. Vgl. Waldenmaier, Entstehung, 106ff. 546 S. o. Anm. 334. 547 Viele Menschen hatten nicht nur ihre Angehörigen, sondern auch ihre Existenzgrundlage verloren. Zweifel am Glauben kamen auf, um dessentwillen der verheerende Krieg geführt worden war. Vgl. Waldenmaier, Entstehung, 83ff. 548 Z. B. in Kempten 1618, in Hessen-Darmstadt 1628, vgl. Waldenmaier, Entstehung, 91. 549 Vgl. Clemen, Otto: Volksfrömmigkeit im Dreißigjährigen Kriege. Dresden/ Leipzig 1939, 5ff. (SRVK; 10) 550 Gerber berichtet, dass ein Pfarrer eine Reichsgräfin, „die auch nicht zum Abendmahl gehen wolte, wenn sie nicht mit dem Beichten verschont würde, […] sie denn ungebeichtet admittirte.“ Der Pfarrer sprach in ihrem Beisein nur ein Gebet um Sündenvergebung. Gerber, Historie, 542.

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Beichte bzw. Absolution.551 Auch wo später die Gemeinsame Beichte der Einzelbeichte gleichgestellt wurde, achtete man streng darauf, dass die Einzelbeichte erhalten blieb (s. u. 117f, 122, 134f). Die Mecklenburger KO von 1602 gestattet z. B. bei starkem Andrang von Kindern und Jugendlichen zur Beichte, zwei oder drei gleichzeitig zu verhören, sie aber einzeln zu absolvieren. Als Begründung wird angeführt, dass sie voneinander den Katechismus lernen könnten.552 Für Altena (im Märkischen Kreis) genehmigt man 1626, dass mehrere Gemeindeglieder, vorzugsweise aus einer Familie, gleichzeitig verhört werden können.553 Der Gothaer Synodalschluss von 1645 bewilligt ebenfalls ein gemeinsames Verhör bei individueller Absolution unter Handauflegung.554 Doch auch der entgegengesetzte Fall war möglich: im Fürstentum Wohlau (in Schlesien) werden 1656 selbst bei großen Konfitentenzahlen alle einzeln verhört, dann aber mehrere gemeinsam absolviert.555 Beim Zusammenfassen mehrerer Personen achtete man darauf, dass die Gruppenbildung nicht dem Zufall überlassen blieb. Ein Gesichtspunkt dabei war, dass die Konfitenten möglichst gleiche Voraussetzungen mitbrachten, besonders wenn im Verhör das Katechismus-Examen dominierte.556 Sehr oft wurden Ehepaare, aber auch ganze Familien mit Gesinde gemeinsam verhört.557 In Württemberg hatte es eine besondere Entwicklung gegeben. Während die KO von 1536 noch keine verbindliche Einzelbeichte im Zusammenhang mit der Abendmahlsvorbereitung in der Samstagsvesper kannte,558 wurde diese mit der KO von 1553 für alle Kommunikanten zur Verpflichtung gemacht. Im Anschluss an die Einzelbeichte absolvierte man aber die Gemeindeglieder nach dem Sprechen der Offenen Schuld gemeinsam, wer ein besonderes Bedürfnis danach hatte, erhielt vorher die Privatabsolution.559 Für den Sonntagsgottesdienst sehen die KOO von 1536 und 1555 das Sprechen einer Offenen 551 Vgl. Bezzel, Eingeständnis, 91ff. 552 Die Katechismusprüfung war weithin zum Hauptinhalt der Einzelbeichte geworden. Vgl. Graff, Paul: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. 2 Bd. Bd. 1: Bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 21937. Bd. 2: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 1939, 1, 380. 553 Vgl. Graff, Auflösung, 1, 380. 554 Diese Ausnahme wurde für Orte zugelassen, in denen am Sonntagmorgen viele Konfitenten aus Diasporagemeinden der Umgebung zur Beichte kamen. Vgl. Graff, Auflösung, 1, 380f. Ähnlich in der Diözese Kulmbach 1657, vgl. Bezzel, Eingeständnis, 95. 555 Vgl. Graff, Auflösung, 1, 381. 556 So 1664 für Oels (in Schlesien), vgl. Graff, Auflösung, 1, 381. 557 Vgl. Kolb, Geschichte, 312. 558 Nur diejenigen sollen verhört werden, „die etwan sonderlichs rhats, vnnd trostes bedörffen […]“ EKO(R), 1, 268. 559 S. o. Anm. 502; Vgl. EKO(R), 2, 136.

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Schuld mit allgemeiner Absolution vor. In der KO von 1553 fehlt die gottesdienstliche Beichte. „Es findet also ein eigentümliches Schwanken statt hinsichtlich des Orts der öffentlichen Beicht, ein Anzeichen davon, daß in dem Nebeneinander von öffentlicher und privater Beicht selbst eine Unstimmigkeit liegt. Man hat wohl empfunden, daß eins das andre im Grund überflüssig macht, man wollte aber die seit 1536 eingebürgerte öffentliche Beicht nicht mehr abtun.“560 In der Zeremonienordnung von 1668 geht man bei der Beichtvesper von einer gemeinsamen Beichte aus. Die Geistlichen werden nur ermahnt, dass sie „nicht mehr als 2–3 Haushaltungen, Männer, Weiber und Gesinde miteinander, vor sich lassen sollen.“561 Zu einer Gleichstellung von Einzelbeichte und Gemeinsamer Beichte in Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang kam es an der Wende vom 17. zum 18. Jh. in verschiedenen Teilen Deutschlands unter dem starken Einfluss des Pietismus. Dieser Wandel beschränkte sich zunächst auf die Beichte außerhalb des Gottesdienstes. Es lässt sich nicht sagen, dass sich die Kritik des Pietismus generell gegen das Institut der Einzelbeichte richtete. Dazu gab es zu viele Strömungen innerhalb des Pietismus und auch zu unterschiedliche äußere Voraussetzungen hinsichtlich der Beichte.562 In großer Einmütigkeit kritisierten aber verschiedene Vertreter des Pietismus vor allem die Oberflächlichkeit, mit der die Einzelbeichte weithin durchgeführt wurde. Die Erstarrung dieses Rituals widersprach seiner ursprünglichen seelsorgerlichen Intention. 1697 beklagte z. B. August Hermann Francke, dass die von Luther nur als Notlösung verstandene Beichtformel von den Gemeindegliedern gedankenlos ein Leben lang unverändert aufgesagt werde und dass sie sich darin zu Sünden bekennen, derer sie sich gar nicht schuldig fühlten.563 Sehr unterschiedlich waren die Schlussfolgerungen, die aus der Erkenntnis dieser Missstände gezogen wurden. Während Francke die Einzelbeichte zu reformieren suchte und sie als wesentliches Element des Gemeindeaufbaus verstand,564 nahm 560 Kolb, Geschichte, 316. 561 Kolb, Geschichte, 318. 562 In manchen Gegenden galten Einzelbeichte und Gemeinsame Beichte bereits als Alternativen (s. o. 114). 563 Vgl. Obst, Helmut: Der Berliner Beichtstuhlstreit: Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der Lutherischen Orthodoxie. Witten 1972, 128f. (AGP; 11) Oftmals wurde der Text der Beichtformel verstümmelt oder er enthielt Unstimmigkeiten. Waisen sagten z. B. , dass sie gegen ihre Eltern gesündigt hätten usw. Vgl. Spörl, Volckmar Daniel: Vollständige Pastoral=Theologie aus den fürnehmsten Kirchen= und Landes=Ordnungen […] nebst einem Anhang von rechter Feyer der Sonn= und Fest=Tage aus eben diesen Statutis abgefaßt und herausgegeben. Nürnberg 1764, 253ff. 564 Er gab sich nicht mit dem Aufsagen einer Beichtformel zufrieden, sondern führte im Beichtstuhl seelsorgerliche Gespräche und erfragte zusätzlich den Kenntnisstand hinsichtlich der lutherischen Lehre. Wenn er der Meinung war, dass jemand bei schweren Sünden keine Reue zeige, verweigerte er die Absolution. Er baute auf die segensreiche

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Philipp Jakob Spener eine abwartende und vermittelnde Haltung ein565 und Johann Caspar Schade drängte auf eine Abschaffung der Einzelbeichte überhaupt (s. u. 2.2.2.). Die Forderungen nach einer Abschaffung der Einzelbeichte bzw. nach Schaffung einer Alternative zu ihr kamen dennoch aus verschiedenen Richtungen. In Aurich forderten pietistische Bürger eine Änderung der bestehenden Praxis, in Berlin war ein Geistlicher treibende Kraft für die Veränderungen. 2.2.1. Der Beichtstreit in Aurich (1677–1706)566 Bereits im Jahr 1677 war der Rat der Stadt Aurich in Ostfriesland mit seinem Bürgermeister Solling an der Spitze mit der Bitte um Einführung der Gemeinsamen Beichte an die Fürstin Christine Charlotte herangetreten. Das Gesuch wurde damit begründet, dass die Gemeinsame Beichte mit Ausnahme von Aurich in ganz Ostfriesland in Gebrauch sei und segensreicher als die Einzelbeichte wirke. Die Fürstin, die für ihren damals noch unmündigen Sohn Christian Eberhard die Regierungsgeschäfte führte, leitete diese Bitte an das Konsistorium weiter, weil sie offenbar nicht sicher war, ob sie in dieser Angelegenheit zuständig sei. Das Konsistorium wies darauf hin, dass die äußere Gestaltung der Beichte zu den Adiaphora gehöre und durchaus vom Landesherrn geändert werden könne. Es riet aber dazu, verschiedene Punkte zu bedenken. Bei Einführung einer Gemeinsamen Beichte solle der Nutzen der Einzelbeichte – insbesondere durch die Möglichkeit, seelsorgerliche Gespräche zu führen – nicht aufgehoben, die Einzelbeichte also nicht gänzlich abgeschafft werden. Ähnlich wie für die Einzelbeichte solle auch für die Gemeinsame Beichte eine Zeit festgesetzt und eine vorherige Anmeldung vorgeschrieben werden. Damit die Geistlichen durch Einführung der Gemeinsamen Beichte keine finanziellen Nachteile zu tragen hätten, müsse auch für die Gemeinsame Beichte an der Zahlung des Beichtpfennigs festgehalten werden. Das Konsistorium fürchtete kein öffentliches Ärgernis durch die Veränderung, „weil der Bürgermeister, der Rat und viele Einwohner in Aurich die Wirkung der Einzelbeichte, obwohl sein Vorgänger wegen Unzuchts im Beichtstuhl aus dem Amt entfernt worden war. Viele seiner Gemeindeglieder in Glaucha entzogen sich dem ernsthaften Gebrauch der Einzelbeichte und beichteten auf die allgemein übliche Weise in Halle. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 123ff. 565 Als Propst in Berlin war ihm daran gelegen, die bestehenden Ordnungen einzuhalten. Er erkannte wohl die Schäden der Einzelbeichte und ihren Missbrauch, aber er hielt wenig von scharfen öffentlichen Auseinandersetzungen und radikalen Änderungen. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 47ff. 566 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Boer, Aug[ust] de: Der Pietismus in Ostfriesland am Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der Regierungszeit der drei letzten ostfriesischen Fürsten Christian Eberhard, Georg Albrecht und Karl Edzard. Aurich 1938, 34ff.

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Gemeindebeichte wünschten.“567 Deshalb verwundert es, dass in dieser Angelegenheit nichts weiter unternommen wurde. Erst im Jahr 1690 ließ das Konsistorium ein Gutachten der theologischen und juristischen Fakultät der Universität Tübingen anfertigen. Das Gutachten äußerte eher Zweifel am Nutzen der Gemeinsamen Beichte. Es war in dieser Frage nichts entschieden, als 1692 Christian Funke, ein Anhänger der lutherischen Orthodoxie und Gegner des radikalen Pietismus das Pfarramt in Aurich antrat. Unterdessen hatte Christian Eberhard (1690–1708) die Regierung übernommen,568 ein Fürst, der stark vom Pietismus Speners geprägt war und Pietisten in hohe Ämter berief.569 Im Sommer 1698 flammte der Beichtstreit auf, weil Christian Funke in Predigten gegen eine Einführung der Gemeinsamen Beichte polemisiert hatte. Dem war eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem in fürstlichen Diensten stehenden Juristen Brenneysen und Funke vorausgegangen.570 Es scheint so, als habe Funke u. a. das Problem der Beichte dazu benutzt, den Einfluss gewisser pietistischer Kreise am Hof zurückzudrängen. Auch frühere Differenzen zwischen Funke und dem Rat der Stadt mögen eine Rolle gespielt haben.571 Obwohl der Fürst dem Prediger alle Äußerungen gegen die Einführung der Gemeinsamen Beichte und ihre Befürworter verbot, konnte er sich doch nicht zu einer raschen Entscheidung durchringen. Ein nochmaliges Gesuch Auricher Bürger veranlasste ihn, ein Gutachten bei der theologischen und juristischen Fakultät Helmstedt in Auftrag zu geben. Er erkundigte sich außerdem nach der Meinung des Kurfürsten von Brandenburg und holte ein weiteres Gutachten von der theologischen Fakultät in Jena ein. Aus Helmstedt und Brandenburg kamen zustimmende Voten, die aber Wert darauf legten, dass die Einzelbeichte nicht abgeschafft werde. Die Jenaer Fakultät sprach sich gegen die Gemeinsame Beichte aus, weil diese Änderung nicht im Einklang mit der Confessio Augustana stünde und Unordnung in den Gemeinden entstehen könne. Für den auf Ausgleich bedachten Christian Eberhard war es in der Tat nicht leicht, eine weise Entscheidung zu treffen. Als am 15. Februar 1706 von Bürgermeister Solling dem Fürsten persönlich wieder eine Bittschrift zur Einführung der Gemeinsamen Beichte überreicht wurde, entschloss sich der Landesherr endlich zur Änderung der bestehenden Beichtpraxis. In dem Schreiben war versichert worden, 567 Boer, Pietismus, 35. 568 Vgl. Boer, Pietismus, 10f. 569 Z. B. den Juristen Enno Rudolph Brenneysen, der 1697 in die Dienste des Fürsten trat und 1720 Kanzler wurde. Vgl. Boer, Pietismus, 12ff. 570 Brenneysen zählte offenbar nicht zu den gemäßigten Pietisten und hatte separatistische Tendenzen. Deswegen griff ihn Funke scharf an. Vgl. Boer, Pietismus, 13ff. 571 Man warf Funke in der Auseinandersetzung vor, früher selbst die Einführung der Gemeinsamen Beichte gefordert zu haben und sie bei Vertretungsdiensten in Emden ohne Bedenken zu gebrauchen. Vgl. Boer, Pietismus, 37.

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dass der Beichtpfennig beibehalten und die Einzelbeichte nicht angetastet werden solle. Es wurde darauf verwiesen, dass außer den 24 Unterzeichnern noch viele Bürger unterschrieben haben würden, wenn sie nicht hätten befürchten müssen, von den Geistlichen deswegen angegriffen zu werden.572 Bereits am 26. Februar 1706 wurde das Konzept der Verordnung über die Einführung der Gemeinsamen Beichte veröffentlicht. Wer am Sonntag kommunizieren wollte, musste sich von Montag bis Mittwoch der vorangehenden Woche angemeldet haben. Am Samstag um 9.00 Uhr sollte dann der Beichtgottesdienst mit einem Bußgesang beginnen, an den sich eine Beichtvermahnung mit drei Beichtfragen anschloss. Darauf sollte eine allgemeine Beichte verlesen und die Absolution gesprochen werden. Ab 10.00 Uhr war Gelegenheit zur Einzelbeichte gegeben. Obwohl Funke und Generalsuperintendent Heinsohn nochmals gegen die Neuordnung der Beichte protestierten, blieb der Fürst bei seiner Entscheidung und erließ am 25. März 1706 die Verordnung. In einem Schreiben an Funke begründete er dies vor allem mit einer Angleichung des Brauches an die Beichtpraxis der Nachbargemeinden. So zäh der Kampf von beiden Seiten geführt worden war, so gering waren zunächst die praktischen Auswirkungen. Die Mehrheit der Bürger nahm nämlich weiterhin die Einzelbeichte wahr – von der Gemeinsamen Beichte wurde kaum Gebrauch gemacht.573 Trotzdem setzte sich die Gemeinsame Beichte später gegenüber der Einzelbeichte durch. 2.2.2. Der Berliner Beichtstuhlstreit (1693–1698) 574 Während der Beichtstreit in Aurich nur eine untergeordnete Bedeutung hatte,575 wirkte sich der Ausgang der Streitigkeiten um die Einzelbeichte in Berlin auf eine namhafte Stadt aus. Zudem wurde das Resultat des Berliner Streits ein Beispiel für die Umgestaltung des Beichtinstituts in anderen Ländern.576 Im Mittelpunkt des Berliner Beichtstuhlstreits stand Johann Caspar Schade, der seit 1691 als 3. Diakon die 4. Pfarrstelle der Berliner Nikolaikirche innehatte. Nach einer schweren Kindheit – Schade hatte beide Eltern frühzeitig verloren – hatte er in Leipzig Philosophie 572 Seit 1698 hatte die kämpferische Orthodoxie in Aurich im Generalsuperintendenten Heinsohn eine zusätzliche Stütze. Vgl. Boer, Pietismus, 24ff. 573 Vermutlich gehörten die Initiatoren der Neuordnung innerhalb der Bürgerschaft zum Kreis separatistischer Pietisten, die Beichte und Abendmahl in der Gemeinde überhaupt ablehnten. Vgl. Boer, Pietismus, 44f. 574 Zum folgenden Abschnitt vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 11ff. 575 Ähnliche Auseinandersetzungen lassen sich auch für andere Orte nachweisen, z. B. für Quedlinburg. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 11, Anm. 2. 576 Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 5. Gerber schreibt 1732 im Vergleich der sächsischen mit der Berliner Praxis: „Was nun an einem Orte recht ist, das muß am andern auch sich thun lassen.“ Gerber, Historie, 544.

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und Theologie studiert. Dort war er August Hermann Francke begegnet und ein glühender Anhänger des Pietismus geworden. Nachdem im Jahr 1690 die Auseinandersetzungen zwischen der Mehrheit orthodoxer Pfarrer und Professoren und der wachsenden Zahl pietistischer Magister, Studenten und Einwohner Leipzigs soweit eskaliert waren, dass die Regierung die Abhaltung aller pietistischen Konventikel untersagte, hatte Schade Leipzig verlassen müssen.577 Ein Ruf nach Berlin enthob ihn zunächst aller äußeren und inneren Not. Doch auch an dieser neuen Wirkungsstätte blieben Anfechtungen nicht aus. „Die ungewöhnlich klare und anschauliche Sprache seiner Predigten, sein schonungsloser Kampf gegen jede Art von Mißständen, seine Treue und sein Eifer bei allen Amtsgeschäften sowie sein nicht unproblematischer Charakter verschafften ihm neben begeisterten Anhängern auch bald entschiedene Gegner.“578 Hinzu kam, dass Schade zunehmend persönliche Schwierigkeiten mit der Durchführung der Einzelbeichte hatte. Seiner Auffassung von Buße und Beichte entsprach es, dass er im Beichtstuhl mit den Konfitenten seelsorgerliche Gespräche führen und die Absolution nicht bedingungslos erteilen wollte. Das war aber praktisch nicht möglich.579 Der sensible und zur Depression neigende Schade litt physisch und psychisch immer stärker unter dem Konflikt, der sich aus dem äußeren Zwang zu einer oberflächlichen Beichtpraxis und deren innerer Ablehnung ergab. Im Herbst 1693 trug er Propst Spener seine Nöte vor und bat um Abhilfe. Eine vorläufige Lösung wurde darin gefunden, dass Schade – durch eine freiwillige Regelung mit seinen Amtsbrüdern – von den Beichtverpflichtungen entbunden wurde und als Ausgleich dafür die Frühpredigten in der Klosterkirche übernahm. Auf den Beichtpfennig hatte Schade schon früher verzichtet. Doch nach einem reichlichen Jahr kehrten die beiden anderen Pfarrer zur früheren Praxis zurück, und alles war wieder beim Alten. Nachdem ein erneutes Schreiben an Spener zu keiner Lösung des Problems geführt hatte, wandte sich Schade am 1. Sonntag nach Trinitatis 1695 in einer Predigt an die Öffentlichkeit. In noch gemäßigter Form machte er auf den Missbrauch und die kaum spürbaren Auswirkungen der Einzelbeichte sowie auf seine persönlichen Gewissensnöte aufmerk577 Die Leipziger Theologische Fakultät ließ ihn nicht zum Lizentiatenexamen zu und verweigerte ihm auch, ebenso wie das Oberkonsistorium, ein „Rechtgläubigkeitsexamen“. Schade durfte deshalb weder predigen noch Privatunterricht erteilen. Damit war ihm die Existenzgrundlage entzogen. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 11ff. 578 Obst, Beichtstuhlstreit, 17. 579 Die Nikolaigemeinde zählte ca. 6000 Gemeindeglieder, der rasante Anstieg der Einwohnerzahl in dieser Zeit hatte auch ein Wachstum der Gemeinden zur Folge. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 15. So hörte Schade samstags bis zu 7 Stunden die Beichte. Am Sonntagmorgen musste er nochmals im Beichtstuhl Dienst tun, um anschließend die Frühpredigt zu halten. Kirchenrechtlich gab es für ihn keine Möglichkeit, jemandem die Absolution zu verweigern. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 20.

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sam. Die wachsende Polarisierung zwischen Anhängern und Gegnern der Einzelbeichte versuchte Spener durch eine am 7. August 1695 in der Nikolaikirche gehaltene Predigt über rechten Gebrauch und Missbrauch der Beichte aufzuhalten. Diese Vermittlungsbemühungen schlugen aber fehl. In einem Sendschreiben bat Schade am 3. Advent 1695 nochmals die Amtsbrüder darum, seine Beichtverpflichtungen mit zu übernehmen. Er wolle dafür auch auf einen Teil seiner Einkünfte verzichten. Andernfalls müsse er von seinem Amt zurücktreten. Doch er erhielt darauf keine Antwort. „Schade kämpfte in der ersten Phase der Auseinandersetzungen nicht um die allgemeine Reform des Beichtwesens, ihm ging es zunächst darum, wie er sein durch die Beichte angefochtenes gutes Gewissen bewahren könne. Erst die Weigerung seiner Amtsbrüder, ihm dabei entgegenzukommen, drängte ihn auf immer radikalere Positionen und trug die Problematik in die Gemeinde. […] Schade wurde in eine Rolle gedrängt, die er ursprünglich gar nicht spielen wollte.“580 In seiner Verzweiflung wandte sich Schade zu Beginn des Jahres 1696 mit dreißig Gewissensfragen an mehrere ihm nahestehende Theologen und bat um ihren Rat. Die Fragen setzten sich mit der leichtfertigen und missbräuchlichen Anwendung der Einzelbeichte auseinander und ließen eine Verneinung kaum zu. Doch nur wenige der Angeschriebenen antworteten – zudem antworteten sie ausweichend. In dem Gefühl, mit seinem Gewissenskonflikt auch von guten Freunden allein gelassen zu werden, veröffentlichte Schade im Sommer 1696 den Traktat „I.N.J. Vom Conscientia erronea, oder also genannten Irrigen Gewissen eines Predigers Wegen Absolution und Ausztheilung des H. Abendmahls/ Einige Fragen vorgestellet“.581 Dieser enthielt zu Anfang die dreißig Gewissensfragen, dann einen Hauptteil mit der Kritik Schades an den bestehenden Verhältnissen und schließlich dreißig Paragraphen „Von Verbesserung des Beicht=Wesens wolgemeinte Anleitung“.582 Spener war bestürzt, als er diese Flugschrift in die Hände bekam, aber er konnte die Zuspitzung der Streitigkeiten nicht mehr aufhalten. Anfang 1697 legte Schade nicht nur in einer Predigt seine im „Conscientia erronea“ vorgestellten Gedanken nochmals öffentlich dar, er zog auch die praktischen Schlussfolgerungen und absolvierte nach Beichtvermahnung und Gemeinsamer Beichte in der Sakristei zusammen mehrere seiner Gemeindeglieder. Zum Schluss bot er ihnen an, „wer noch absonderlich etwas zugedencken, Rath undt Trost fünden, möchten nun absonderlich noch hinnein kommen, die übrigen aber nach geschehenem Gebet hingehen.“583 Dieser eigenmächtige Eingriff Schades in die bestehende 580 581 582 583

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Obst, Beichtstuhlstreit, 27f. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 31. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 31ff. Bericht Schades vom 3. Februar 1697. Zitiert nach: Obst, Beichtstuhlstreit, 46.

orthodoxe Beichtpraxis veranlasste Stadtverordnete und Vertreter der Handwerksinnungen, beim Magistrat deswegen Klage einzureichen. Die Auseinandersetzungen gingen hin und her, eine Verständigung zwischen Schade und seinen Gegnern schien kaum möglich zu sein – „hier der skrupulöse pietistische Theologe, der alte Ordnungen ändert und die Respektierung seiner Gewissensentscheidung fordert; dort die Vertreter der überlieferten Ordnungen, an denen sie nicht rütteln lassen und deren Einhaltung sie unbedingt fordern. Die reine Lehre und alle gebräuchlichen Kirchenzeremonien sind für sie ein Teil des gesellschaftlichen Systems, das erprobt und richtig ist.“584 Schades Gegner bauschten einen Vorfall mit zwei Mädchen zum Sittlichkeitsskandal auf.585 Spener setzte sich sowohl beim Magistrat als auch beim Kurfürsten für Schade ein und war bemüht, für diesen eine Kompromisslösung zu finden. Am Hof war man aber über die Bestrafung der Mädchen derart indigniert, dass die Regierung im März 1697 beschloss, Schade zu entlassen.586 Als diese Absichten bekannt wurden, sandten zahlreiche Anhänger Schades Bittschriften an den Kurfürsten, unter ihnen auch mehrere Mitglieder des Magistrats. Offenbar wurde erst dadurch dem kurfürstlichen Hof die Tragweite der Auseinandersetzungen bewusst und die Einsetzung einer Untersuchungskommission angeordnet. Am 17. Mai 1697 tagte diese Kommission und zeigte sich gegenüber Schade sehr geneigt. Eine Verschärfung der Situation trat dadurch ein, dass eine Bürgerabordnung um Vorlass bat und sich dagegen verwahrte, dass die Vertreter der Stadtverordneten und Zünfte im Namen der Bürgerschaft sprachen. Die Bürgerabordnung stellte sich hinter Schade und seine Ausübung des Pfarramts. Ihre Rede gipfelte jedoch in der Forderung nach Beichtfreiheit, wodurch es zu tumultartigen Auseinandersetzungen kam. Unter dem Eindruck der Ereignisse konnte die Kommission keine einheitliche Meinung finden und beschloss deshalb, geheime Voten der einzelnen Mitglieder an den Kurfürsten zu senden. Angesichts der sehr unterschiedlichen Urteile der Kommissionsmitglieder und des sich abzeichnenden Sturzes von Oberpräsident Eberhard von Danckelmann kam es zu keiner raschen Entscheidung des Kurfürsten. Als auch bis Ostern 1698 an der bestehenden Beichtpraxis nichts geändert worden war, empfingen die Anhänger Schades das zu diesem Fest 584 Obst, Beichtstuhlstreit, 54. 585 Nach genauerer Untersuchung musste Schade aber von den Vorwürfen freigesprochen werden. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 47ff. Er hatte zwei 13- bis 14-jährige Mädchen, die er mehrfach der Lüge überführen musste, körperlich gezüchtigt. Eines der Mädchen, das er wegen seiner Lügenhaftigkeit vom Katechismusunterricht ausschließen wollte, hatte ihn sogar um diese Bestrafung gebeten. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 47ff. 586 Ihm sollte Gelegenheit gegeben werden, unter Hinweis auf die Beichtstreitigkeiten selbst um seine Entlassung nachzusuchen. Dafür war ein Gnadengehalt in Aussicht gestellt. Bedingung war das Verlassen Berlins. Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 64f.

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obligatorische Abendmahl, ohne zuvor gebeichtet zu haben. Für eine Stadtgemeinde war dies ein unerhörter Vorfall, obwohl es in Ausnahmesituationen durchaus möglich war, nach einer Gemeinsamen Beichte das Abendmahl zu feiern.587 Die Auseinandersetzung gewann wieder an Schärfe, selbst Spener empfahl nun, Schade zu versetzen. Am 13. Juni 1698 unterzeichnete der Kurfürst schließlich eine Verordnung, die die Beichtfreiheit gewährte. Nach einer allgemeinen Beichte sollte die Generalabsolution erteilt werden. Daneben sollte weiterhin der Gebrauch von Einzelbeichte und Einzelabsolution gewährleistet sein. An Stelle des Beichtgeldes sah er vor, den Predigern jährlich einen Zuschuss von 200 Reichstalern zu zahlen. Sechs Tage zuvor hatte der Kurfürst bereits die Versetzung Schades nach Derenburg im Harz verfügt.588 Es gehört zur Tragik in Schades Leben, dass er die Aufhebung des Beichtzwanges nicht mehr persönlich erlebte. Nach einer kurzen Krankheit starb er am 25. Juli 1698 im Alter von nur 32 Jahren. Auf Grund seiner Erkrankung hatte er nichts mehr von den Beschlüssen des Kurfürsten hinsichtlich der Beichte und seiner Versetzung erfahren. Obwohl es im Zusammenhang mit Schades Beerdigung zu Tumulten kam und sein Grab von Gegnern geschändet wurde, hielt der Kurfürst an seiner Entscheidung fest, die Form der Beichte freizugeben. Nachdem sich die Lage in Berlin wieder beruhigt hatte, veröffentlichte der Kurfürst am 16. November 1698 ein „Decisum Wegen der Freyheit Des Beicht=Stuhls“, das diese Neuordnung der Beichte vorerst für Berlin und Cölln in Geltung setzte.589 Vereinzelt leisteten orthodoxe Prediger Widerstand gegen die kurfürstliche Verordnung und versuchten, die Leute wieder in den Beichtstuhl zu zwingen. Doch unter dem Druck der Regierung beugten sie sich schließlich dem Decisum über die Gewährung der Beichtfreiheit. Dieser Ausgang des Berliner Beichtstuhlstreites war „kein persönlicher Sieg Johann Caspar Schades, sondern ein durch die Religionspolitik des brandenburgischen Kurhauses erleichterter Sieg von Pietismus und Aufklärung über die lutherische Orthodoxie.“590 Schade hatte die Entwicklung ganz wesentlich vorangetrieben. Doch die Lösung des Konflikts war „durch die Wirksamkeit einer Reihe sehr unterschiedlicher theologischer und gesellschaftlicher Kräfte“591 beeinflusst worden. Die Gleichstellung 587 So wird von einem Untertanen des Großen Kurfürsten aus der Türkenschlacht vor Pest 1686 berichtet, dass „Betstunden und Sonntages-Andachten […] mit größter Andacht gehalten, das Abendmahl ausgespendet und insgesambt Beicht gehöret und absolvieret wurde […]“. Dietz, Johann: Meister Johann Dietz des Großen Kurfürsten Feldscher und Königlicher Hofbarbier: Nach der Handschrift der Preußischen Staatsbibliothek zum ersten Male in Druck gegeben von Ernst Consentius. Halle/S. 1935, 53. 588 Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 104f. 589 Vgl. Obst, Beichtstuhlstreit, 114ff. 590 Obst, Beichtstuhlstreit, 145. 591 Obst, Beichtstuhlstreit, 145.

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von Einzelbeichte und Gemeinsamer Beichte kam dem brandenburgischpreußischen Hof mit seinen Plänen einer Vereinigung der beiden großen protestantischen Kirchen sehr gelegen. „Die schnelle Anerkennung des kurfürstlichen Decisum vom 16. November 1698 und die sehr bald wieder eintretende Ruhe sind Zeichen dafür, daß die Zeit für die Aufhebung des Beichtzwanges – zumindest im Bereich der Großstadt – reif war.“592 2.3. Wandel der gottesdienstlichen Beichte seit dem 18. Jh. Durch die sehr unterschiedlichen liturgischen Traditionen in den verschiedenen evangelischen Landeskirchen waren auch die Veränderungen hinsichtlich der Beichte im Gottesdienst sehr verschieden. Ein geschlossenes Bild lässt sich deshalb kaum zeichnen. Stattdessen soll versucht werden, einige wenige Entwicklungslinien zu verfolgen und allgemeine Tendenzen aufzuzeigen. Obwohl die Agenden des 16. Jh. in der Regel auch nach dem 30-jährigen Krieg fast unverändert in Geltung blieben, gab es doch kontinuierlich geringfügige Korrekturen und Anpassungen an die jeweilige Situation. Erst im 19. Jh. kam es zu Agendenreformen größeren Ausmaßes, bedingt durch Kirchenunionen in verschiedenen Ländern und durch die Bemühungen von Aufklärungstheologen, die liturgischen Vollzüge wieder plausibel zu machen. Diese durchaus anzuerkennenden Versuche führten häufig zur Beseitigung liturgischer Traditionen, die im Zuge restaurativer Agendenreformen später wiedergewonnen wurden. Ein relativ übereinstimmender Wandel lässt sich für die Gemeinsame Beichte nachweisen. Nachdem in verschiedenen Gebieten seit der Wende vom 17. zum 18. Jh. Einzelbeichte und Gemeinsame Beichte gleichwertig nebeneinander standen, machten immer weniger Kommunikanten von der Einzelbeichte Gebrauch. Sie meldeten sich nur zum Abendmahl an und besuchten die Beichtvesper am Samstag, um dort die Gemeinsame Beichte zu sprechen und absolviert zu werden. Anfangs mussten die Prediger immer noch auf das Angebot der Einzelbeichte hinweisen. Doch bald fiel dieser Zusatz in den Agenden weg und die Beichtvesper beschränkte sich auf Beichtvermahnung, Gemeinsame Beichte und Absolution. Infolge des Wegfalls der Einzelbeichte sank an vielen Orten auch die Zahl der Kommunikanten. In vielen älteren Ordnungen war bereits festgelegt worden, dass Beichte und Abendmahl zumindest viermal im Jahr stattfinden müssten.593 Auf diese Zeiten beschränkte sich nun mancherorts der Abendmahlsempfang. Wenn darüber hinaus Gemeindeglieder das Abendmahl begehrten, feierte man es vor oder nach dem Predigtgot592 Obst, Beichtstuhlstreit, 148. 593 S. o. 84, Anm. 373; 100, Anm. 478.

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tesdienst.594 Es bot sich schließlich an, in diese Feiern die wesentlichen Elemente der Beichtvespern aufzunehmen und Beichtvermahnung, Gemeinsame Beichte, Absolution und Feier des Herrenmahls unmittelbar miteinander zu verknüpfen. Eine andere Entwicklung betrifft die Verbindung des Confiteor mit dem Kyrie und der nachfolgenden Absolution mit dem Gloria. Darin ist der Versuch zu erkennen, den Kyrie-Ruf in der Eingangsliturgie plausibel zu machen und ihn als Bitte um Vergebung nach dem Sündenbekenntnis zu verstehen. Obwohl von verschiedenen Theologen auch historisch gegen diese Engführung des Kyrie argumentiert wurde, setzte sich diese Verknüpfung in vielen Agenden seit der Mitte des 19. Jh. durch und erhielt sich bis in unsere Zeit. An Hand von Agenden und Kirchenbüchern aus Baden und Sachsen sollen diese Entwicklungen der gottesdienstlichen Beichte exemplarisch nachgezeichnet werden. Die badische Kirchenagende von 1720595 steht noch ganz in der Tradition ihrer Vorgängerinnen aus dem 17. Jh., speziell der von 1686. Zu Beginn des Gottesdienstes an Sonn- und Feiertagen steht ein Confiteor in Form der Offenen Schuld.596 Darauf folgen ein Trostspruch de tempore,597 eine allgemeine Absolution sowie ein Gebet um rechtes Hören des Wortes Gottes.598 In der Abendmahlsfeier folgt auf die Abendmahlsvermahnung eine Offene Schuld599 mit allgemeiner Absolution. Für die wöchentlichen Betstunden sind Fürbittgebete vorgesehen, die mit einem Sündenbekenntnis eingeleitet werden und einen engen Zusammenhang zwischen Sünde und Strafen Gottes herstellen.600 Am Freitag wird nach der Predigt die Offene Schuld mit Trostspruch und Absolution gesprochen, wie sie sonst den Sonntagsgottesdienst einleitet. Darauf folgt die Litanei.601 Am Samstag ist nach der Vorbereitungspredigt nur das Spre594 In Nürnberg trennte man bereits 1715 die Abendmahlsfeier vom Hauptgottesdienst ab. Vgl. Niebergall, Alfred: Art. „Abendmahlsfeier III: 16. bis 19. Jahrhundert“, TRE 1 (1977), 302f. Von Boeckhs Agende von 1870 sieht nur selbstständige Abendmahlsfeiern vor. Vgl. Agende/hg. von Boeckh, 1870, 2, 80ff. 595 Kirchen= | | AGENDA: | | Wie es | | in deß Durchlauchtigsten Fürsten | | und Herrn/ | | HERRN | | CAROLI, | | Marggrafen zu Baden und Hoch= | | berg/ […]| |Gesamten Fürstenthumen und Landen | | mit | |Verkündigung deß göttlichen Worts/ Rei= | | chung der H. Sacramenten und andern Kirch= | | Ceremonien gehalten werden solle. Karlsruhe 1720. 596 Vgl. Agende Baden, 1720, 7ff. Es handelt sich um die stark erweiterte zweite Offene Schuld aus der KO für Augsburg von 1537, vgl. EKO 12, 69. 597 Vgl. Agende Baden, 1720, 9ff. 598 Vgl. Agende Baden, 1720, 37f. 599 Aus der Württemberger KO von 1536 (s. Anh. Nr. 24), vgl. Agende Baden, 1720, 71f. 600 Vgl. Agende Baden, 1720, 139ff. 601 Vgl. Agende Baden, 1720, 157ff.

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chen einer Offenen Schuld vorgesehen, die den Text der Beichte aus der Abendmahlsfeier aufnimmt und nochmals erweitert.602 Eine Absolution wird nicht erwähnt. Dafür ist ein Gebet „um rechtschaffene Bereitung zu dem bevorstehenden Sabbath“ abgedruckt.603 Die Kirchen-Agenda von 1775604 übernimmt bis auf geringfügige Änderungen bzw. Erweiterungen die Texte von 1720.605 Nachdem 1821 die Union von lutherischer und reformierter Kirche erfolgt war, legte man 1831 den Entwurf einer Agende vor.606 Diese Agende stellt in der Tat eine Neuerung dar, indem sie kaum auf die alten Texte ihrer Vorgängerinnen zurückgreift. Der Gottesdienst wird wieder mit einem Confiteor in Form der Offenen Schuld eingeleitet, für das verschiedene Texte mit unterschiedlicher Akzentuierung zur Verfügung stehen.607 Darauf folgen Gloria patri, Kyrie und Gloria in excelsis. Die Vorbereitung auf das Abendmahl ist als selbstständige Handlung aufgenommen, aber es werden keine Regelungen für die zeitliche Einordnung dieser Feier veröffentlicht. Es ist also denkbar, dass man damit bereits unterschiedlichem Brauch entgegenkommt, indem entweder eine Beichtvesper in alter Tradition am Samstag oder eine Beichthandlung am Sonntagmorgen stattfinden kann. Insgesamt werden für das Sündenbekenntnis drei verschiedene Texte angeboten, von denen sich der erste am Text der sächsischen Offenen Schuld orientiert und der zweite ganz im Sprachstil der damaligen Zeit formuliert ist (s. Anh. Nr. 35). Zwischen Beichte und Absolution stehen in allen Fällen Beichtfragen.608 Der besondere Bußcharakter der Betstunden am Freitag bzw. Samstag wird nicht mehr hervorgehoben. In der Mitte des 19. Jh. versucht man in Baden streng historisch zu arbeiten und auf der Grundlage dieser Arbeit eine Gottesdienstordnung zu entwerfen.609 Hinsichtlich der Beichte im Gottesdienst heißt das, dass man 602 Vgl. Agende Baden, 1720, 198f. 603 Vgl. Agende Baden, 1720, 200ff. Der Freitag hat hier den Charakter eines Bußtages, der mit öffentlicher Beichte und Litanei begangen wird. Am Samstag bereitet man sich dagegen mit Offener Schuld und Gebet auf die sich anschließende Einzelbeichte vor. 604 Kirchen=Agenda | | wie es in | | des Durchlauchtigsten Fürsten | | und Herrn/ | | HERRN | | Carl Friedrichs, | | Marggrafen zu Baaden und Hoch= | | berg/ […]| | gehalten werden solle. Karlsruhe 1775. 605 Neu sind Retentionsformeln in den Absolutionen am Sonntag, vgl. Agende Baden, 1775, 34, bzw. am Freitag, vgl. Agende Baden, 1775, 217. Für den Samstag wird als Alternative zur Offenen Schuld ein Gebet um Würdigkeit und Sündenvergebung angeboten, vgl. Agende Baden, 1775, 245f. 606 Entwurf Agende Baden, 1831. 607 Vgl. Entwurf Agende Baden, 1831, 1ff. 608 Vgl. Entwurf Agende Baden, 1831, 121ff. 609 „Der Cultus ist nicht etwas Ideales, Theoretisches oder etwas Willkührliches, sondern etwas sehr Reales, Practisches und in sich Nothwendiges, nicht Etwas, das erst zu machen wäre, sondern Etwas, das gemacht und geworden ist, etwas Historisches, aus

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beim Confiteor im Stil der Offenen Schuld bleibt, aber den alten Text der Augsburger KO von 1537 nach Calvin (s. Anh. Nr. 25) bzw. eine modernere Fassung dieser Offenen Schuld zum Gebrauch vorschlägt.610 Sie werden zusammen mit den Gnadenversicherungen als unabdingbare Elemente der gottesdienstlichen Liturgie betrachtet.611 Indem das Kyrie aber nicht als Huldigungsruf an den Herrn verstanden wird, verbindet man es mit der Offenen Schuld, das Gloria in excelsis mit der Gnadenversicherung.612 Die Beichtvesper am Samstag wird als notwendige Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang restituiert.613 Im Unterschied zu früherer Praxis sollen nicht mehrere Texte der Offenen Schuld zur Auswahl stehen, die dann nur vom Geistlichen vorgelesen werden, sondern ein verbindlicher Text (nach der Württemberger KO von 1536; s. Anh. Nr. 24), den alle Gemeindeglieder laut mitsprechen können, während sie dabei knien. Darauf soll eine Absolution mit angefügtem Trostspruch folgen. Vor dem Segen wird auf die Möglichkeit der Einzelbeichte hingewiesen.614 Die 1857 eingeführte Agende615 nimmt nicht alle Vorschläge von 1855 auf. Für das Confiteor im Stil der Offenen Schuld bietet man zwei Forgeschichtlicher Entwicklung Hervorgegangenes.“ Begründung einer GottesdienstOrdnung für die evangelisch-protestantische Kirche im Grossherzogthum Baden: Vorlage des evangelischen Oberkirchenraths an die Generalsynode von 1855. Karlsruhe 1855, 5. 610 Vgl. Begründung, 1855, 194, 203. 611 „Die absolute Nothwendigkeit beider Stücke hat die ganze Kirche von Anfang an, auch die evangelische und namentlich die reformirte, stets anerkannt, mag auch Stellung und Ausdruck nicht immer gleich sein. Ihre Verdrängung schreibt sich vorzüglich aus der pelagianisch-rationalistischen Aufklärungsperiode, und es ist eine heilige Pflicht, was diese niedergerissen, wieder aufzurichten […]“ Begründung, 1855, 209. 612 „Denn hat einmal die Gemeinde auf das Bekenntniß ihres Sündenelendes die Versicherung der göttlichen Barmherzigkeit (Absolution) erhalten, so geht es gegen alle logische Ordnung, daß sie nach letzterer unmittelbar ruft: Herr, erbarme dich! und auf diesen Ruf hin nochmals die göttliche Gnade in Christo preist.“ Begründung, 1855, 209. 613 „Um diese conditio sine qua non [die Anerkennung der Erlösungsbedürftigkeit, T. B.] des gesegneten Abendmahlsgenusses in den Communikanten zu erzielen und sie dazu zu bringen, daß sie sich ‚zuvor prüfen‘, ist es ein Bedürfniß, einen besondern Gottesdienst anzuordnen, welcher nur für diesen so wichtigen Zweck bestimmt ist, und insofern zur Ergänzung der Sakramentsfeier dient. In die Sakramentsfeier selbst gehört dieser Act der Vorbereitung nicht, denn sie hat nicht den Zweck, zur Buße zu führen, sondern soll Denen, die Buße gethan, Frieden und Freude, Kraft und Stärke geben.“ Begründung, 1855, 250. „Die Beichte ist hier eine ganz andere, wie an gewöhnlichen Sonntagen; dort hat das Sündenbekenntniß einen ganz allgemeinen Charakter; es ist die Bedingung des Nahens zu Gott überhaupt und leitet den Gottesdienst ein; hier steht es in einer speciellen Beziehung zum Tod des Herrn und zum Sakrament des Altars, und bildet den Kern und Mittelpunkt eines dafür besonders angeordneten Gottesdienstes.“ Begründung, 1855, 274. 614 Vgl. Begründung, 1855, 274ff. 615 Vgl. Kirchenbuch für die evangelisch-protestantische Kirche im Grossherzogthum Baden. Karlsruhe 21859.

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men an. Bei der ersten Form folgen auf das Sündenbekenntnis unmittelbar die Gnadenversicherung mit dem Aufruf „Lobsinget dem Herrn und preiset Seine Gnade !“ und ein Gloria-Vers.616 Bei der zweiten Form antwortet die Gemeinde auf das Sündenbekenntnis mit dem Kyrie und auf den nachfolgenden Trostspruch mit dem Gloria in excelsis.617 Statt sich auf ein oder zwei Texte für das Sündenbekenntnis zu einigen, entscheidet man sich für eine Vielzahl von größtenteils zeitgemäß formulierten Sündenbekenntnissen de tempore.618 Dagegen folgt man weitgehend den Vorschlägen für die Beichtvesper. Auf die im Knien gesprochene Offene Schuld aus der Württemberger KO von 1536 folgen drei Beichtfragen und eine Absolution.619 Vor dem Segen sagt der Geistliche: „Sollten sich unter euch Solche befinden, die ein besonderes Anliegen haben und des geistlichen Rathes und Trostes bedürfen, so sind wir bereit, jedem Einzelnen solchen vermöge unseres Amtes und nach unseren Kräften zu gewähren.“620 Deutliche Änderungen bringt das Kirchenbuch von 1877,621 indem auf das Confiteor im Stil der Offenen Schuld stets der Trostspruch und die Doxologie folgen. Das Kyrie entfällt vollständig.622 Die Anzahl der Sündenbekenntnisse und Trostprüche de tempore ist noch erweitert. Für die Beichthandlung ist nun keine Zeit mehr vorgegeben, außerdem wird nicht mehr auf die Einzelbeichte hingewiesen.623 Erstmalig verbindet man in einer gesonderten Handlung die Beichte mit dem Abendmahl.624 Nach dem Eingangslied und einem biblischen Votum wird ein „Eingangsgebet“ gesprochen, das aber mehr eine Beichtansprache ist. Es folgen Schriftlesung, Sündenbekenntnis,625 Beichtfragen, Absolution und darauf unmittelbar die Einsetzungsworte. Mit der umfassenden Agendenrevision, die 1909 beginnt und 1930 mit der Einführung des neuen Kirchenbuches626 ihren Abschluss findet, kommt man offenbar weithin dem entgegen, was in vielen Gemeinden zum Brauch geworden ist bzw. gewünscht wird und arbeitet weniger 616 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1859, 4f. 617 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1859, 5f. 618 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1859, 4ff. Dabei werden aber auch alte Texte wieder mit aufgenommen, z. B. Augsburg 1537, vgl. Kirchenbuch Baden, 1859, 95. 619 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1859, 222ff. 620 Kirchenbuch Baden, 1859, 228. 621 Kirchenbuch Baden, 1877. 622 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1877, 3ff. 623 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1877, 359ff. 624 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1877, 383ff. 625 Eine veränderte Fassung der Sächsischen Offenen Schuld, vgl. Kirchenbuch Baden, 1877, 385. 626 Kirchenbuch für die Vereinigte evangelisch-protestantische Landeskirche Badens. 2 Teile. Teil 1: Predigtgottesdienst, Christenlehre und Kindergottesdienst, Liturgische Feiern. Teil 2: Die kirchlichen Handlungen. Karlsruhe 1930.

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theologisch bzw. liturgiehistorisch. Das Confiteor im Stil der Offenen Schuld wird durch ein Eingangsgebet ersetzt. „Es bringt den Dank für die in Christus uns geschenkte Gottesgemeinschaft zum Ausdruck und will so in den Herzen den Grund legen zur ganzen Feier des Gottesdienstes. An Stelle des Eingangsgebetes kann auch ein gemeinsames Sündenbekenntnis treten mit darauf folgender Gnadenversicherung. Diese fällt bei dem allgemeinen Eingangsgebet weg […]“627 Das Sündenbekenntnis zu Beginn des Gottesdienstes ist also zum Sonderfall geworden, sogar in der Adventszeit.628 Seine Verwendung im Gottesdienst ist in das Belieben des Liturgen gestellt. Für die Beichte als Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang sieht das Kirchenbuch von 1930 zwei Möglichkeiten vor. Zum einen werden Beichte und Abendmahl als getrennte Gottesdienste gefeiert.629 Als angemessene Zeit für die Beichthandlung gibt man wieder den Samstag an. Auch kann „Vor dem Segen […] zur ‚Privatbeichte‘ mit folgenden Worten aufgefordert werden: Sollte jemand ein besonderes Anliegen haben und des seelsorgerlichen Rates und Trostes bedürfen, so bin ich gerne bereit, ihm nach Kräften zu dienen.“630 Die andere Möglichkeit ist wieder die Verbindung von Beichte und Abendmahlsfeier. Diese eigenständigen Feiern werden besonders empfohlen, weil beim Anschluss des Abendmahls an den Predigtgottesdienst die Feier insgesamt zu lang würde und deshalb gekürzt werden muss.631 Manche badischen Besonderheiten haben sich bis in die heute geltende Agende erhalten. In der neuesten Agende von 1996632 sind drei Liturgien für die allgemeine Form des Gottesdienstes vorgesehen, deren erste im Wesentlichen auf die Ordnung von 1858 zurückgeht.633 Das Confiteor im Stil der Offenen Schuld wird in den Liturgien 1 und 3 wieder mit dem Kyrie-Gesang der Gemeinde bekräftigt, worauf die Gnadenzusage folgt, die die Gemeinde mit dem Gloria-Gesang beantwortet.634 In der Liturgie 2 627 Vgl. Kirchenbuch Baden, 1930, 1, XVIII. 628 „Es scheint angemessen, den 1. Advent nicht mit einem Bußgebet zu eröffnen, sondern den freudigen Charakter der Adventszeit und den Beginn des Kirchenjahres zu betonen […]“ Kirchenbuch für die evangelisch-protestantische Kirche im Grossherzogtum Baden. (Entwurf). Karlsruhe 1912, 3. 629 „Diese Übung besteht im allgemeinen in rein ländlichen Gemeinden und sollte da auch festgehalten werden.“ Kirchenbuch Baden, 1930, 1, XXI. 630 Kirchenbuch Baden, 1930, 2, 53. 631 „[…] wichtige Stücke […] wie Präfation, Sanktus, Benediktus, Agnus Dei […] gehen der Gemeinde verloren […] Bei Verbindung des Abendmahls mit vorausgehendem Predigtgottesdienst kann entsprechend gekürzt werden, besonders bei der Beichte, da die Predigt schon Gelegenheit gibt, auf das Abendmahl vorzubereiten. Eine wesentliche Kürzung der eigentlichen Abendmahlsliturgie ist nicht erwünscht.“ Kirchenbuch Baden, 1930, 1, XXI. 632 Agende Baden, 1996. 633 Vgl. Agende Baden, 1996, 12ff. 634 Vgl. Agende Baden, 1996, 17ff, 69ff.

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entfällt das Confiteor. Dafür wird nach der Predigt eine Offene Schuld mit Gnadenzusage bzw. Beichtfrage und Absolution gesprochen.635 In den ersten beiden Liturgieformen, die eine Abendmahlsfeier beinhalten, versteht man die gottesdienstliche Beichte als Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang.636 Auch für einen selbstständigen Abendmahlsgottesdienst mit Beichte wird eine agendarische Ordnung vorgegeben.637 Dieser Gottesdienst kann selbstständig oder im Anschluss an einen Gottesdienst ohne Abendmahl (Liturgie 3) gefeiert werden. Interessant ist weiterhin, dass sich analog zur traditionellen Beichtvesper ein Formular für einen „Gottesdienst mit Lossprechung [und Segnung] zum persönlichen Neuanfang (Beichtgottesdienst)“ findet.638 Dieser Gottesdienst dient aber im Gegensatz zu seinem historischen Vorbild nicht der Vorbereitung auf das Abendmahl. Außerdem wird nicht auf die Möglichkeit der Einzelbeichte hingewiesen. Für Sachsen lässt sich sehr gut dokumentieren, dass bis ins 19. Jh. hinein die alten Agenden und KOO des 16. Jh. mit nur geringfügigen Änderungen ihre Geltung behielten. Seit 1668 wurde von Friedrich Lanckisch in Leipzig, später von seinen Erben, das „Vollständige Kirchenbuch“ in mehreren Auflagen herausgegeben. Seit 1707 erschien eine verbesserte Fassung mit ausführlicher Vorrede, die in den Inhalt einführte.639 Die Ordnung des Gottesdienstes und der Beichte ging aber trotzdem auf die Herzog-Heinrich-Agende von 1536 zurück. Ein Hinweis auf die Einführung von Offener Schuld und allgemeiner Absolution nach der Predigt erfolgt zwar in der Vorrede, der Text gelangt aber nicht zum Abdruck. Die Ausführungen über die Einzelbeichte folgen der KO von 1539.640 Grundlegende Veränderungen bringt erst das „Kirchenbuch für den evangelischen Gottesdienst“ von 1812, dessen 2. Teil die Herzog-Heinrich-Agende vom 1.1.1813 an ersetzte.641 Der Text der schon lange gebräuchlichen Offenen Schuld mit Absolution wird im Zusammenhang 635 Vgl. Agende Baden, 1996, 50ff. 636 Vgl. Agende Baden, 1996, 17, 49. 637 Vgl. Agende Baden, 1996, 144ff. 638 Vgl. Agende Baden, 1996, 122ff. 639 Vollständiges | | Kirchen=Buch, | | Darinnen | | Die Evangelia und Episteln | | auf alle Fest= Sonn= und Apostel=Tage | | […] Die Kirchen= | | Agenda, Ehe=Ordnung, und allgemeinen | | Gebete, | | Die in den Chur=Sächß. Ländern gebraucht werden, | | enthalten | | […] Leipzig 1707. Für alle Festtage waren Evangelien, Episteln und Kollekten abgedruckt, dazu viele Kollekten für spezielle Fälle. Neben Bugenhagens Schriften „Die Historien von dem schmertzlichen Leiden […]“ und „Zerstörung der Stadt Jerusalem“, die an bestimmten Sonntagen des Kirchenjahres verlesen wurden, finden sich noch die drei altchristlichen Symbole, die Augsburgische Konfession sowie leicht verändert die KO Herzog Heinrichs von 1536. 640 Vgl. Kirchenbuch Sachsen, 1707, 45ff. Vgl. EKO 1, 168f. 641 Vgl. Kirchenbuch Sachsen, 1812, 2, III.

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mit den „Allgemeinen Kirchengebeten an Sonntagen“ abgedruckt.642 Es fehlen aber ein- bzw. überleitende Sätze, die eine theologische Deutung dieser gottesdienstlichen Beichte zulassen. Bezeichnenderweise findet die Einzelbeichte keinerlei Erwähnung. Luthers Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung wird in der Abendmahlsfeier durch eine „Anrede an die Communicanten vor der Communion“ im Stil der damaligen Zeit ersetzt. Dort heißt es u. a.: „Gerührt durch die Menge und Größe seiner Wohlthaten, erfreut durch den Genuß derselben, gedrungen von seiner Liebe, bringet ihr itzt öffentlich und feyerlich ihm, unserm Heiland und Herrn, und seinem himmlischen Vater, der uns von Ewigkeit in ihm, seinem Sohne, geliebet hat, das Opfer eures Glaubens, eurer Liebe, eurer Dankbarkeit dar, und wünschet mit heißem Verlangen, durch die Feyer dieses heiligen Mahles aus dem Ueberfluße seiner Gnade neue Versicherung seiner Liebe, neuen Trost der Gnade bey Gott und der Vergebung eurer Sünden, neue Stärke im Glauben, neue Kraft zur Heiligung, neuen Muth im Leiden, neue Hoffnung des ewigen Lebens zu empfahen.“643 Während die Krankenkommunion in der Agende von 1748 noch Beichte und Absolution voraussetzte,644 findet die Einzelbeichte 1812 im Zusammenhang mit der „Communion der Kranken“ keine Erwähnung mehr. In der Ansprache heißt es nur: „Sind es Sünden, die sie kränken; und nicht ohne Reue und Beschämung werden sie zurückblicken in ihr bisheriges Leben; ihr Gewißen wird sie mancher Fehler und Vergehungen in Gedanken, Worten und Werken zeihen; und wer kann merken, wie oft er fehlet! sind es also ihre Sünden, die sie beunruhigen; hier, im Abendmahle des Herrn, sehen sie einen Gott und Vater, der allen Bußfertigen ihre Sünden um Jesu willen vergeben will, und der auch ihre Reue, ihren Glauben und ihr Verlangen nach Gnade und Vergebung nicht verschmähen wird. Sie sehen hier den Versöhner der Sünden der ganzen Welt und auch der ihrigen; und so gewiß sie sich im Glauben an ihn halten, so gewiß können sie der Vergebung ihrer Sünden versichert seyn.“645 War die Einzelbeichte in Sachsen außer Brauch gekommen? Dieser Schluss lässt sich mit Sicherheit – nur auf der Grundlage der Agende – nicht ziehen. Trotzdem spiegelt die Agende von 1812 Theologie und Geistesströmungen der damaligen Zeit wider. Vor allem die Aufklärung musste das Institut der Einzelbeichte bekämpfen, denn im Ablegen des Sündenbekenntnisses vor einem Menschen sah man „eine 642 Vgl. Kirchenbuch Sachsen, 1812, 2, 147f. 643 Kirchenbuch Sachsen, 1812, 2, 250f. 644 Vgl. „Wie man die Krancken communiciren soll“, Vollständiges | | Kirchen=Buch, | | Darinnen | | Die Evangelia und Episteln | | auf alle Fest= Sonn= und Apostel=Tage | | durchs gantze Jahr, | | […] die Kirchen=Agenda, | | Ehe=Ordnung und allgemeinen Gebete, die in den Chur= Sächs. Ländern gebraucht werden, enthalten. Leipzig 1743 (1748), 59ff. 645 Kirchenbuch Sachsen, 1812, 2, 265.

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Herabwürdigung der Menschenwürde“.646 In einem 1807 in Freiberg erschienenen Katechismus wurde die Einzelbeichte als „überflüssig und lästig“ bezeichnet.647 Dennoch hatte die Aufklärungstheologie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nicht alle Pfarrer und Gemeinden in gleichem Maß erreichen können. Neben ihr existierten auch noch der Pietismus und die Orthodoxie. Die Praxis der Beichte war also in den verschiedenen Gemeinden gewiss sehr unterschiedlich. Neu war nun, dass die Bedenken gegenüber der Einzelbeichte auch Eingang in verbindliche Kirchenagenden fanden. Wo orthodoxe Geistliche an der Einzelbeichte festhielten, blieb sie noch in Brauch. Aber dort, wo Neologie, Rationalismus und Supranaturalismus am Werke waren, konnte sich die Beichtpraxis in der traditionellen Form nicht mehr lange halten. Man wird den Theologen der damaligen Zeit aber nicht gerecht, wenn man ihre liturgischen Reformen einseitig als Verfall charakterisiert und ihnen einen leichtfertigen Bruch mit der Tradition unterstellt. Den meisten von ihnen muss man zugestehen, dass sie ehrlich bemüht waren, unchristliche Bräuche abzuschaffen, einem Opus-operatum-Denken entgegenzutreten, die Sprache im Gottesdienst verständlich und die Liturgie insgesamt plausibel und volksnah zu gestalten. Ihre Ablehnung äußerlicher Rituale und der unverhältnismäßig große Anteil an Belehrung im Gottesdienst berücksichtigten aber unzureichend die Besonderheiten religiöser Kommunikation und führten den Gottesdienst in eine Sackgasse. Hinsichtlich der gottesdienstlichen Beichte gab es ganz unterschiedliche Positionen. Leute wie Johann August Hermes lehnten jede Art von Beichte und Absolution ab.648 Gemäßigte Supranaturalisten wie Johann Georg Rosenmüller 646 Franke, Geschichte, 103. 647 Vgl. Franke, Geschichte, 103. Bereits 1773 heißt es im „BrandenburgBayreuthischen Kirchenbuch“: „Die in der alten Ausgabe hernach folgende unterschiedliche Beicht- Absolutions- und Gebets-Formeln, […] sind, weil sie für ganz unnöthig zu achten, wiederum weggeblieben.“ Brandenburg=Bayreuthisches | | Kirchen=Buch, | | worinnen | | der kurze Innhalt | | der Sonn= und Festtags=Episteln | | und | | Evangelien | | samt andern zum öffentlichen Gottesdienst | | dienlichen Gebeten und Handlungen | | begriffen sind, | | […] Bayreuth 1773, 3v. 648 „Die Vorbereitung zur Kommunion soll also bleiben; die bisherige Beichte aber aufhören, oder vielmehr in eine zweckmässige Vorbereitung umgeschaffen werden. Diess ist das Wesentliche meines Vorschlags. Folglich weiter kein Beichtstuhl, kein allgemeines oder besonderes Bekenntniß der Sünden, keine Absolution, weder im allgemeinen durch Ablesung der allgemeinen Kirchenbeichte, noch im Besondern mit Auflegung der Hand. Alle diese Gebräuche sind blosse Menschensatzungen, Reliquien des Pabstthums, Steine des Anstosses für aufgeklärte Christen und sehr gefährliche Retiraden für sichere, faule und nichtdenkende Konfitenten. Unterricht und Ermahnung, aus der Lehre Iesu hergenommen, und auf den verschiedenen Zustand der jedesmaligen Kommunikanten angewandt, ist das Einzige, was zur zweckmässigen Vorbereitung nöthig ist.“ Hermes, Johann August: Vorschläge zur bessern Einrichtung der Feierlichkeiten bey der öffentlichen Kommunion. In: Hermes/Fischer/ Salzmann:

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sorgten nur für die Einführung der Gemeinsamen Beichte als Alternative zur Einzelbeichte (s. u. 133).649 Die Ablehnung der Einzelbeichte seitens der Aufklärungstheologie traf sich mit wachsendem Widerwillen der Gemeindeglieder gegenüber dieser Institution. Für viele waren praktische Gründe dafür ausschlaggebend, nur noch die Gemeinsame Beichte wahrzunehmen, sobald diese als Alternative freigegeben wurde. Besonders in großen Städten war die Beichtfeier sehr zeitaufwändig geworden, weil viele Konfitenten das Ritual im Beichtstuhl durchlaufen mussten, während die anderen auf den gemeinsamen Abschluss warteten.650 Ähnlicher Argumente bediente sich das Militär. So geschah es, dass zuerst die Militärgemeinden Ausnahmegenehmigungen erhielten, an Stelle der Einzelbeichte die Gemeinsame Beichte zu setzen.651 Diese neue Beichtpraxis der Militärgemeinden hatte auch ihre Auswirkungen auf die Beichte in den Gemeinden, wie das Beispiel Leipzigs zeigt. Dort begann 1787 Superintendent Rosenmüller, veranlasst durch ein Gesuch des Reizenstein‘schen Infanterieregiments, die allgemeine Beichte als Alternative zur Einzelbeichte einzuführen.652 Generalleutnant von Reizenstein hatte sich darauf berufen, dass dem Regiment in Dresden, Eilenburg und anderen Orten Beyträge zur Verbesserung des öffentlichen Gottesdienstes der Christen. Erster Band, Erstes Stück. Leipzig 1785, 74f. 649 Von Rosenmüller stammt z. B. das „Beicht- und Communionbuch“, Nürnberg 1781, in dem er „Andachten zur Vorbereitung auf die Beicht und Communion“, „Unterhaltungen mit Gott am Tage da man beichtet“, „Unterhaltungen der Andacht zwischen der Beicht und Absolution“ u. a. veröffentlicht. Vgl. Rosenmüller, Joh[ann] Georg: Auserlesenes und vollständiges Beicht= und Communionbuch glaubiger Christen aus den Schriften meist noch lebender berühmter Männer, […] Nürnberg 1781, VIIIff. Bezeichnenderweise wird keine Beichtformel für den privaten oder öffentlichen Gebrauch abgedruckt. In Leipzig beseitigte Rosenmüller viele alte Bräuche wie z. B. das „Wandlungsglöckchen“, den obligatorischen Exorzismus bei der Taufe, das Tragen von Messgewändern, das Singen von Epistel und Evangelium u. a. Außerdem schuf er einen neuen, zeitgemäßen Text für das Credo. Vgl. Fichtner, Horst: Die Anfänge des Rationalismus im Kirchen- und Schulwesen Leipzigs, 83ff. Leipzig, Univ. , phil. Diss. 1922. [masch.] 650 In einer Petition der Chemnitzer Vorstädte wird 1800 darauf verwiesen, dass durch die ausgedehnten Beichtfeiern am Samstag wichtige Geschäftsabschlüsse versäumt und die Arbeitsgrundlage für die kommende Woche in Frage gestellt würden. Eine Beichtfeier mit Gemeinsamer Beichte dauerte dagegen nur etwa eine Stunde. Vgl. Franke, Geschichte, 104f. 651 Am 3.4.1780 die Garnisonen von Weißenfels und Eilenburg, am 4.9.1780 Oschatz, am 19.12.1780 Grimma, am 28.12.1780 Torgau – am 6.6.1782 „wurde das Oberkonsistorium ermächtigt, dem jeweiligen Ansuchen der Militärgemeinden nach Einführung der allgemeinen Beichte vor der Kommunion stattzugeben. In den nächsten 12 Jahren wissen wir darauf von einer grossen Anzahl derartiger genehmigter Gesuche, 1782 Herzberg, 1783 Eckartsberga, Hayn, 1784 Sangerhausen, Zwickau, Schneeberg, 1787 Leipzig, Langensalza, 1788 Weissensee, Kemberg, Jüterbogk, 1789 Freiburg, 1792 Sangerhausen, 1794 Barby.“ Franke, Geschichte, 111. 652 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Fichtner, Anfänge, 106ff.

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ähnliche Gesuche bewilligt worden waren. Nach Einwilligung des Konsistoriums zu Leipzig fand am 23. April 1787 in der Thomaskirche diese ungewöhnliche Feier statt.653 Viele Einwohner Leipzigs wohnten ihr bei, und schon bald darauf wandte sich eine Gruppe von Studenten mit der Bitte an Rosenmüller, ihnen auf die gleiche Weise nach allgemeiner Beichte und Absolution das Abendmahl zu reichen. Wieder wurde das Konsistorium um Erlaubnis gebeten, und am 1. März 1788 erfolgte diese Abendmahlsfeier mit Gemeinsamer Beichte. Ähnliches wiederholte sich in den darauf folgenden Jahren, indem Gruppen von Bürgern oder Familien solche Feiern begehrten. Das bewog Rosenmüller dazu, eine generelle Lösung dieses Problems anzustreben. Im November 1797 einigte sich eine Ephoralkonferenz darauf, dass nach einer Beichtansprache eine Gemeinsame Beichte gesprochen, die Absolution erteilt und daraufhin das Abendmahl gefeiert werden könne. Die Einzelbeichte sollte aber nicht abgeschafft werden. Außerdem bestand man auf einer Anmeldung zur Kommunion, auf Einhaltung des Parochialprinzips und auf der Zahlung des Beichtgeldes.654 Der Dresdener Oberkirchenrat bestätigte diese neue Regelung. Manche Gemeinden führten die Gemeinsame Beichte als Alternative zur Einzelbeichte eigenmächtig und ohne behördliche Genehmigung ein, z. B. Kleinschönau bei Zittau 1793 und Leipzig-Eutritzsch 1795.655 Andere Gemeinden stellten Gesuche an das Oberkonsistorium.656 Obwohl die Einzelbeichte in der Agende von 1812 nicht mehr erwähnt wurde, dauerte es noch lange Zeit, bis die Landesbehörden die Gemeinsame Beichte offiziell freigaben. Zum Schutz der Einzelbeichte, die sich in Sachsen noch weit in das 19. Jh. hinein erhielt,657 wurde die Gemeinsame Beichte immer noch als Ausnahmegenehmigung zugestanden.658 653 „Vormittags, an einem Wochentage, marschierte das Regiment in Parade unter dem Geläute der Glocken, jedoch ohne militärische Musik in die Thomaskirche und nahm in dem Altarchor und den Frauenstühlen Platz. Nachdem das Lied: ‚Allein zu Dir, Herr Jesu Christ!‘ unter der Begleitung der Orgel gesungen worden war, hielt Rosenmüller von dem Altar aus eine allgemeinverständliche Vorbereitungsrede, nach deren Ende der Generalleutnant von Reizenstein und der Oberstleutnant von Zastrow sich den Stufen des Altars näherten, niederknieten und so auch die andern veranlassten, dasselbe zu tun. Das von Rosenmüller vorgesprochene Sündenbekenntnis wurde mit einem einmütigen ‚Ja‘ beantwortet, worauf nach ausgesprochener Absolution während des Liedes: ‚O Lamm Gottes, unschuldig !‘ sogleich die Communion selbst erfolgte.“ Fichtner, Anfänge, 107. 654 Honoratioren konnten das Beichtgeld in das Haus des Geistlichen schicken lassen, die übrigen Kommunikanten legten es nach der Kommunion in eine Opferschale hinter dem Altar ein. Vgl. Fichtner, Anfänge, 109. 655 Vgl. Franke, Geschichte, 110, 112, 138. 656 Vgl. Franke, Geschichte, 112f. 657 Z. B. in Lausa bei Radeberg bis 1850, vgl. Franke, Geschichte, 117f. 658 Vgl. Franke, Geschichte, 114ff.

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Das Kirchenbuch von 1812 ersetzte man 1880 durch eine neue zweiteilige Agende.659 Der liturgische Ablauf des Gottesdienstes bleibt weithin unverändert. Ein Confiteor im Stil der Offenen Schuld kennt man in Sachsen nicht. Die Offene Schuld mit Absolution folgt unmittelbar auf die Predigt,660 obwohl von vielen Kirchenvorständen und Einzelpersonen gefordert worden war, einen Liedvers einzuschieben.661 Allerdings wird die „allgemeine Beichte mit der Absolution“ wieder eingeleitet und durch überleitende Sätze entsprechend gedeutet. Die Offene Schuld dient wie in alten Zeiten der Vorbereitung auf das nachfolgende Allgemeine Gebet.662 Laut Agende schließt die Feier des Abendmahls unmittelbar an den Wortgottesdienst an663 und enthält keine Beichthandlung. Nach alter Tradition soll eine Beichte, die der Abendmahlsfeier vorausgeht, auf das Herrenmahl vorbereiten.664 Kernstück ist das Sprechen der bekannten Offenen Schuld, an die sich Beichtfragen und die Absolution anschließen. Immerhin wird 1880 noch betont: „Wünscht jedoch ein Gemeindeglied sein Beichtbekenntniß privatim abzulegen, so hat der deshalb angesprochene Geistliche dem Verlangen nachzukommen und nach Entgegennahme solcher Privatbeichte und nach der besonderen Ansprache, die der Beichtende bedarf, demselben die Absolution zu ertheilen.“665 In Gemeinden, in denen der Brauch der Beichtvesper noch lebendig war, wird er wohl beibehalten worden sein. Eine an den Gottesdienst angeschlossene Feier des Abendmahls dürfte aber bald die Beichthandlung in sich aufgenommen haben, zudem die Abendmahlsfeier an Wochentagen diese Verbindung vorsieht.666 Im Abendmahl selbst kann an Stelle der Präfation auch eine „Ansprache an die Communicanten“ stehen.667 Die Krankenkommunion schließt wieder eine Beichte mit Absolution ein.668 Die zweite, veränderte Auflage dieser Agende von 1906 bringt auch geringfügige Änderungen hinsichtlich der gottesdienstlichen Beichte. An 659 Agende Sachsen, 1880. Inzwischen hatte Sachsen auch eine Synodalverfassung erhalten. 660 Vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 3. 661 Vgl. Rietschel, Offene Schuld, 402. 662 Vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 109f. 663 Vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 4. 664 „Die Beichte, welche der mit dem sonn- und festtägigen Hauptgottesdienste verbundenen Abendmahlsfeier vorauszugehen hat, ist entweder an dem betreffenden Sonnoder Festtage selbst vor Beginn des Hauptgottesdienstes, oder, sofern die Verhältnisse der Gemeinde dies empfehlen, an dem vorhergehenden Tage zu geeigneter Stunde abzuhalten.“ Agende Sachsen, 1880, 1, 243. 665 Agende Sachsen, 1880, 1, 243. 666 Auf ein Eingangslied folgen Beichtermahnung, Offene Schuld, Beichtfragen, Absolution und ein Lied. Daran schließt sich die Abendmahlsfeier an. Vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 259. 667 Vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 4, 257. 668 Vgl. Agende Sachsen, 1880, 2, 56ff.

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das als „Bittruf“ charakterisierte Kyrie schließen sich nun ein „Gnadenspruch“ und an Festtagen das Gloria in excelsis an, womit Anklänge an ein Confiteor geschaffen werden.669 Neu ist weiterhin, dass nach der Predigt „ein dem Charakter der Predigt entsprechender Liedvers gesungen werden“ kann.670 Erst danach folgt – deutlich getrennt von der Predigt – die Offene Schuld mit Absolution als Vorbereitung auf das Allgemeine Gebet.671 Für die Abendmahlsfeier wird eine Ansprache nur dann vorgesehen, wenn die Liturgie nicht gesungen, sondern gesprochen wird.672 Eine Beichtfeier soll wieder der Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang dienen.673 In der Agende von 1906 fehlen allerdings genaue Regelungen hinsichtlich des Zeitpunktes für diese Handlung. Wenn im Anschluss an den Gottesdienst Abendmahl gefeiert wurde, wird man die Beichte in der Regel mit eingeschlossen haben. Lapidar heißt es nun noch: „Privatbeichte ist jedem Gemeindegliede auf seinen Wunsch zu gewähren.“674 Die Tradition wird formal aufrechterhalten. Aber die Einzelbeichte ist in den Gemeinden nicht mehr lebendig. Die Agendenreform in der Mitte des 20. Jh. berücksichtigt die besondere sächsische Tradition, so dass die Offene Schuld nach der Predigt in der Sächsischen Landeskirche erhalten bleibt.675 An sie schließt sich wieder das Allgemeine Gebet an, aber die Offene Schuld wird nicht wie in den alten Agenden ausdrücklich als Vorbereitung auf das Beten verstanden (s. o. 91). Es ist erstaunlich, wie in den zwei sehr unterschiedlichen Traditionen ähnliche liturgische Entwicklungstendenzen festzustellen sind. Als auffälligste gemeinsame Veränderung der gottesdienstlichen Liturgie lässt sich für das Ende des 18. und den Anfang des 19. Jh. ein deutlicher Bruch mit liturgischen Traditionen festhalten und auch für andere Gebiete verallgemeinern. Viele alte Texte, gerade auch die für das gottesdienstliche Sündenbekenntnis, entsprechen nicht mehr dem Sprachempfinden dieser Zeit und werden durch modernere Texte ersetzt. Besondere Schwierigkeiten hat man mit der zeitgemäßen Gestaltung des Eingangsteils des 669 Vgl. Agende für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen. 2 Bd. Teil 1: Ordnung des Gottesdienstes nebst musikalischem Teile. Teil 2: Besondere gottesdienstliche Handlungen. Leipzig 21906, 1, 3f. Historisch falsch und liturgisch kaum sinnvoll ist das Singen des Gloria patri an Stelle des Gloria in excelsis an einfachen Sonntagen (vgl. Agende Sachsen, 1906, 1, 4), was sich bereits in der 1. Auflage von 1880 findet (vgl. Agende Sachsen, 1880, 1, 2). 670 Vgl. Agende Sachsen, 1906, 1, 6. 671 Vgl. Agende Sachsen, 1906, 1, 119f. 672 Vgl. Agende Sachsen, 1906, 1, 265. 673 Vgl. Agende Sachsen, 1906, 1, 251ff. 674 Agende Sachsen, 1906, 1, 256. 675 Vgl. AELKG, 1, 24011f, 24011 und 12.

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Gottesdienstes. Liturgische Stücke wie das Kyrie werden als verzichtbar angesehen und entweder ganz gestrichen oder auf eine neue Weise mitvollziehbar gemacht. Das führt zu der Verknüpfung von Confiteor und Kyrie bzw. Absolution und Gloria (s. u. 136ff). Die gottesdienstliche Beichte wird kaum noch von der Gemeinde mitgesprochen. Das verhindern z.T. häufig wechselnde Formeln, die manchmal als Propriumsstücke De-tempore-Charakter erhalten.676 Auch die Einzelbeichte gerät in eine schwere Krise und kann sich allenfalls bis zur Jahrhundertmitte erhalten. Stattdessen werden nun Gemeinsame Beichtfeiern abgehalten, die zunächst noch am Samstag stattfinden und in denen auf die Möglichkeit der Einzelbeichte hingewiesen wird. Zunehmend verbindet man aber die Gemeinsame Beichte mit dem Abendmahl, auch der Verweis auf die Einzelbeichte ist nur noch selten anzutreffen. Die in der ersten Hälfte des 19. Jh. verstärkt einsetzende liturgiehistorische Arbeit fördert viele wichtige Erkenntnisse zu Tage, doch die bis zum 2. Weltkrieg erscheinenden Agenden berücksichtigen eher das Brauchtum in den Gemeinden als theologische und historische Argumente. Erst mit der Agendenreform nach dem Zweiten Weltkrieg führt man die gottesdienstlichen Ordnungen konsequent auf mittelalterliche bzw. reformatorische Vorbilder zurück. In einer bisher nie da gewesenen Weise werden unterschiedliche Traditionen unter eine einheitliche Norm gestellt und historisch nicht begründbare Modernisierungen wie die Verbindung von Confiteor und Kyrie in der lutherischen Agende beseitigt.677 Als generelle Form der gottesdienstlichen Beichte gilt seit 1957 ein Gemeinde-Confiteor, das sich deutlich an den Text aus der Döber‘schen Messe anlehnt (s. u. Anh. Nr. 17).678 Sachsen bleibt bei der Offenen Schuld nach der Predigt. Nicht erst in der Mitte des 19. Jh. war die ursprüngliche Intention des Kyrie-Rufes zu Beginn des Gottesdienstes in Vergessenheit geraten. Verschiedene ältere Texte lassen vermuten, dass man bereits früher das Kyrie ganz ausdrücklich als Bitte um Sündenvergebung verstand.679 Das „Kyrie eleison“ als Huldigungsruf an den weltlichen Herrscher, von den ersten Christen für ihren auferstandenen Herrn übernommen, entstammte einer fernen Zeit und Kultur und war in dieser Bedeutung nicht mehr 676 Diese Entwicklung schlägt sich z. B. in der badischen Agende von 1857 bzw. ihrer Nachfolgerin nieder, s. o. Anm. 618. Aber auch viele Privatagenden nehmen das Confiteor bzw. ein „Bußgebet“ mit in das Proprium hinein, z. B. Koehler, Missale, 25ff; Smend, Julius: Kirchenbuch für evangelische Gemeinden. Bd. 1: Gottesdienste. Gütersloh 31924, 32–42; Arper, Karl/Zillessen, Alfred: Evangelisches Kirchenbuch. Bd. 1: Der Gottesdienst. Göttingen 51929, 1ff. 677 Vgl. AELKG, 1, 198ff. 678 Vgl. AELKG, 1, 197f. 679 Z. B. in der Leipziger Predigthandschrift (s. Anh. Nr. 6, s. o. Anm. 123). Auch in der Erinnerung von Kurfürst August wurde der Kyrie-Ruf als Bitte um Sündenvergebung gesprochen (s. o. 89).

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plausibel. Die einfachste Lösung bestand darin, das Kyrie wegzulassen (s. o. Anm. 622, s. u. Anm. 688).680 Bei den Versuchen, nach den Reformen der Aufklärungstheologie eine Liturgie zu schaffen, die deutlicher den historischen Vorbildern folgt, blieb die über einen einfachen Bittruf hinausgehende Bedeutung des Kyrie oft unberücksichtigt.681 So schrieb Theodor Kliefoth, der bekannte Mecklenburger Liturgiker, 1847: „Mit dem Wegfall des Introitus (oder an seiner Statt eines die Bedeutung des Tages explicirenden deutschen Liedes) und des Kyrie ist aber die ganze Gedankenreihe der ersten Abtheilung – daß nämlich der Introitus kurz das Heilsfactum des Tages angiebt, und an diesem zuerst im Kyrie das Schuldgefühl, und dann im Gloria die Hoffnung auf die Größe der göttlichen Barmherzigkeit hervortreten – gänzlich zerrissen. […] Das Sündenbekenntniß findet nach dem Wegfall des Kyrie im ganzen Gottesdienst keine Stelle mehr. Die beiden Grundgedanken und Grundgefühle des Christenthums, an welche alle specielle Erbauung immer wieder anknüpfen muß, Buße und Versöhnung, finden jetzt keinen speciellen Ausdruck mehr, am wenigsten an derjenigen Stelle, wohin sie gehören, an der Eingangsstelle.“682 Im Anschluss an Kliefoth konstatierte 1849 Fridrich Layriz: „Die Beichte ligt wesentlich im Kyrie, die Absolution im Gloria.“683 Entsprechend lässt er in der von ihm vorgeschlagenen Gottesdienstordnung den Liturgen vor dem Kyrie eine Vergebungsbitte und vor dem Gloria ein Gnadenwort sprechen.684 Die viel reichere inhaltliche Füllung des Kyrie wurde damals in Bayern richtig erkannt. 1851 schrieb Friderich Hommel, ein Freund Wilhelm 680 Kapp schlägt 1831 vor, den Gottesdienst mit einem Lied zu beginnen, danach ein vom Geistlichen verlesenes Gebet nebst biblischem Abschnitt sowie das Hauptlied folgen zu lassen, „dessen Inhalt mit dem Inhalt der Predigt zusammenstimmt“. Damit sollte das Gemüt auf die Predigt zu- und vorbereitet werden. „Mehr braucht es für gewöhnlich nicht, kein Credo, (welches kein Erweckungs= Mittel, sondern ein Kennzeichen ist, daß der Gottesdienst für Christ=Gläubige sei, welchen Zweck andere Theile schon bezeugen,) keine Collecte am Anfang, kein Kyrie, Glorie und dergleichen. Die an die Stelle dieser Formeln getretenen Lieder sind ein kräftigeres Erweckungs=Mittel, wodurch jeder Einzelne einen activen Antheil an der Erbauung gewinnt.“ Kapp, Georg Friedrich Wilhelm: Grundsätze zur Bearbeitung evangelischer Agenden mit geschichtlicher Berücksichtigung der früheren Agenden: Ein kritischer Beitrag zur evangelischen Liturgik. Erlangen 1831, 184. 681 In seiner gründlichen Forschungsarbeit an alten Agenden ist Schulz darauf gestoßen, dass bereits 1826 die Privatagende von Russwurm eine Verknüpfung von Sündenbekenntnis und Kyrie sowie Absolution und Gloria enthielt. Vgl. Schulz, Frieder: Die Struktur der Liturgie. JLH 26 (1982), 89. 682 Kliefoth, Theodor: Die ursprüngliche Gottesdienstordnung in den deutschen Kirchen lutherischen Bekenntnisses, ihre Destruction und Reformation. Rostock/ Schwerin 1847, 220f. 683 Layriz, Fridrich: Die Liturgie eines vollständigen Hauptgottesdienstes nach lutherischem Typus nebst Ratschlägen zu deren Wiederherstellung. Nördlingen 1849, 8. 684 Layriz, Liturgie, 1f.

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Löhes, im Vorwort zu seiner Agende: „Das Kyrie soll nämlich, nachdem gar viele kirchenordnungen die Beichte im anfang weggelaßen, die stelle derselben vertreten, weil sie ja darin liege. Ich kann dies darin nicht finden: das Kyrie an sich ist ein ganz allgemeiner ruf nach erbarmung, den hier die erinnerung und das gefühl der gesamten erdennoth der gläubigen gemeine auspresst, nachdem sie ihre sünden bekannt, vergebung empfangen und durch den Introitus der besondere segen für diesen sonntag, dieses fest in die seelen geklungen hat; worauf dann die fröhliche engelsbotschaft folgt von dem gegen die sünde mit allen ihren folgen herniedergebrachten frieden. Ueberdies wäre das bedürfnis welches die christliche gemeine, wenn sie dem Unnahbaren naht, bewegt, sich zu entsündigen, doch wol mit dem Kyrie allzueinfach abgethan, wenn man auch gegen die stellung der Beichte oder, was dieselbe vertreten soll, hinter den Introitus nichts einwenden wollte.“685 In ähnlicher Weise äußerte sich auch Löhe selbst: „So wenig der Bettler am Wege mit seinem ‚Seid so barmherzig‘ seine Sünde bekennen will, so wenig die Kirche mit dem Kyrie. Nicht die Sünde, die Not wird bekannt. Selbst wo in den späteren Tropen des Kyrie der Sünde Erwähnung geschieht, ist die Sünde doch nur als Not gefaßt.“686 Diese kritischen Stimmen wurden aber nicht gehört. In der „Begründung einer Gottesdienst-Ordnung“ für das Großherzogtum Baden sah man bereits 1855 eine Verknüpfung des Confiteor im Stil der Offenen Schuld mit dem Kyrie und der Gnadenversicherung mit dem Gloria in excelsis vor.687 In dieser Ausschließlichkeit übernahm allerdings das Kirchenbuch von 1857 die fragwürdige Verbindung der liturgischen Stücke nicht. Man stellte zwei Möglichkeiten für die Einbindung des Sündenbekenntnisses in den Eingangsteil des Gottesdienstes zur Auswahl, von denen die zweite dem Vorschlag von 1855 folgte (s. o. 126f). In Bayern verzichteten Anfang des 19. Jh. Neuentwürfe von Agenden wie auch anderswo auf das Kyrie. Sie sahen nur ganz nüchterne Eingangsteile vor.688 Auch der „Entwurf einer Agende aus dem Jahr 1830 bis zu seiner Endredaktion im Jahr 1836“ entsprach in seinem Eingangsteil nicht dem Aufbau der Messe : der Gottesdienst begann mit Gemeindegesang, darauf folgten eine Gebetsaufforderung des Liturgen und das „Gebet vor 685 Liturgie lutherischer Gemeindegottesdienste/hg. von Friderich Hommel. Nördlingen 1851, VII. 686 Löhe, Wilhelm: Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses. In: Wilhelm Löhe: Gesammelte Werke/hg. von Klaus Ganzert. Bd. 7/1. Neuendettelsau 1953, 52. 687 S. o. Anm. 612. 688 So heißt es im „Aufriß einer Agende aus dem Jahr 1823“: „Der Gottesdienst beginnt mit einigen Versen aus einem Morgenliede; dann Gebet vor dem Altar vom Geistlichen und Vorlesung aus dem Alten Testamente.“ Die Reform des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jahrhundert: Quellenedition. Bd. 1/hg. von Hanns Kerner und Manfred Seitz mit Reinhold Friedrich und Thomas Rübig. Stuttgart 1995, 36.

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der Predigt“, das die Bitte um Entfernung „sündlicher Gedanken“ enthalten konnte. An einen Gemeindegesang schloss sich dann unmittelbar die Predigt an.689 So war es durchaus eine beachtliche Reform, wenn man im „Agenden-Kern“ von 1856 die traditionellen Teile der Eingangsliturgie wieder einführte. Allerdings sah die „Erste oder ordentliche Form des Hauptgottesdienstes an Sonn- und Festtagen“ folgende Reihenfolge vor: „1. Introitus mit dem Gloria patri (Ehre sei dem Vater), 2. Das Confiteor oder Sündenbekenntniß mit dem Kyrie oder HErr, erbarme Dich, 3. Die allgemeine Absolution mit dem Gloria in excelsis oder Ehre sei Gott in der Höhe.“690 Damit hatte man auch in Bayern das Sündenbekenntnis mit dem Kyrie und die Absolution mit dem Gloria in excelsis verknüpft. Die „Zweite oder außerordentliche Form des Hauptgottesdienstes“ stellte dagegen ein Gemeinde-Confiteor im Stil der Offenen Schuld mit allgemeiner Absolution vor den Introitus, an den sich Gloria patri, Kyrie und Gloria in excelsis anschlossen.691 Den gleichen Aufriss hatten auch die Agende von Boeckh 1870692 und die Agende von 1879.693 Diese Verschachtelung der Teile der Eingangsliturgie blieb bis in unser Jh. hinein bestehen. Dabei war man sich immerhin der liturgischen Probleme bewusst, die die „ordentliche Form“ des Hauptgottesdienstes mit sich brachte.694 Im Jahr 1856 wurde auch die Agende Friedrich Wilhelms III. von 1829 in der Monbijou-Konferenz revidiert. Die preußische Agende von 1829 hatte ein Sündenbekenntnis mit Gnadenspruch im Eingangsteil des Gottesdienstes zwischen dem Eingangslied und einem als Introitus verstandenen „Spruch nach dem Sündenbekenntnis“ enthalten. Daran hatten sich Gloria patri, Kyrie und Gloria in excelsis angeschlossen. Kurzformen der Eingangsliturgie hatten Gnadenspruch, Spruch nach dem Sündenbekenntnis und Gloria patri ausgelassen, so dass das Kyrie gleich auf das Sündenbekenntnis folgte. Die spätere Verquickung des Sündenbekenntnisses mit Kyrie und Gloria ist Friedrich Wilhelm III. also nicht anzulasten.695 689 Vgl. Reform des Gottesdienstes, 1, 406ff. 690 Agenden-Kern Bayern, 1856, 3ff. 691 Vgl. Agenden-Kern Bayern, 1856, 27ff. 692 Agende/hg. von Boeckh, 1870, 1, 5ff. 693 Vgl. Agende Bayern, 1879, 1, 3ff, 32ff. 694 Im „Cantionale“ von 1941 heißt es: „Löhe weist besonders klar darauf hin, dass das Kyrie nicht nur ein Bußruf, sondern der Ruf der unerlösten Kreatur nach der Gnade des Schöpfers, ein Schrei aus jeglicher Not des Menschen ist. Das Kyrie ist demnach ein Gesang aller Mühseligen und Beladenen.“ Cantionale für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: 5. Auflage des Musikalischen Anhangs zur Agende. 2 Bd./ hg. vom Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München. Ansbach 1941, 1, XII. Trotzdem bleibt es bei der Reihenfolge Introitus, Gloria Patri, Sündenbekenntnis (Confiteor), Kyrie, Allgemeine Absolution, Gloria in excelsis. Vgl. Cantionale, 1, 2ff. 695 Zuweilen scheint es in der Literatur so, als habe die Verknüpfung von Confiteor, Kyrie und Gloria seit dem Beginn der preußischen Agendenreform bestanden und als

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Diese kam erst 1856 zustande, weil die abgekürzte Liturgie offenbar häufig praktiziert worden war und die Gottesdienstteilnehmer den „KyrieRuf“ nach dem Sündenbekenntnis als Aneignung dieses Bekenntnisses verstanden hatten.696 Wie frühere Äußerungen zu diesem Problem zeigen, erschien die Abfolge von Sündenbekenntnis, Kyrie, Gnadenspruch und Gloria einfach logischer und konnte sich auch in Preußen gegen alle historischen Einwände durchsetzen.697 Mit der preußischen Agende von 1895698 wurden diese Änderungen offiziell angeordnet und fanden in anderen Ländern weitere Nachahmung.699 Dennoch ist der preußische Einfluss nicht zu hoch anzusetzen, denn die Diskussion begann wesentlich früher. Privatagenden und amtliche Agenden enthielten lange Zeit vor dem Erscheinen der preußischen Agende von 1895 diese Verknüpfung von Sündenbekenntnis und Kyrie bzw. Absolution und Gloria.700 2.4. Gegenwärtige Praxis Schaut man sich die neueren Agenden an, so wird deutlich, dass als gottesdienstliche Beichte das Confiteor dominiert. Sowohl in der lutherischen Agende701 als auch in der Agende für die unierten Kirchen702 ist das Confiteor als Normalform vorgesehen. Die größere Vielfalt im EGb ändert daran kaum etwas (s. u. 239ff). Dennoch ist die gegenwärtige Praxis der gottesdienstlichen Beichte kaum angemessen zu beschreiben, weil keine empirischen Untersuchungen darüber vorliegen. Viele verschiedene Einzelerfahrungen in Gottesdiensten unterschiedlicher Landeskirchen verdichten sich aber zu dem Eindruck, dass die gottesdienstliche Beichte kein selbstverständlicher sei diese Verschachtelung eine preußische Erfindung. Vgl. Horn, Werner: Kyrie. In: Der Gottesdienst : Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken/hg. von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Manfred Seitz. Stuttgart 1992, 78f. 696 Vgl. Klaus, Rüstgebete, 560ff. 697 S. o. Anm. 612. Sogar noch im „Lehrbuch der Liturgik“ von Rietschel/Graff von 1951 wird das Kyrie als „Sündenbekenntnis“ aufgefasst und die Verknüpfung von Confiteor und Kyrie als Verbesserung bezeichnet. Vgl. Rietschel/Graff, Lehrbuch, 389. 698 Vgl. Agende für die Evangelische Landeskirche. 2 Teile. Teil 1: Die Gemeindegottesdienste. Berlin 1895. Teil 2: Kirchliche Handlungen. Berlin 1895, 1, 4f. 699 Z. B. Reuss j. L., Schwarzburg-Rudolstadt, Braunschweig, Hessen-Kassel, Russland. Vgl. Klaus, Rüstgebete, 563. 700 Es scheint deshalb nicht angemessen, wenn Klaus von einem „preußischen Erbe“ spricht, vgl. Klaus, Rüstgebete, 563. Die Reform der Eröffnung des Gottesdienstes in der beschriebenen Weise war ein Bedürfnis der damaligen Zeit und lässt sich nicht auf ein Gebiet beschränken. Schulz nennt zahlreiche amtliche bzw. Privatagenden aus der 2. Hälfte des 19. Jh., die diese Besonderheit enthalten. Vgl. Schulz, Struktur, 89f. 701 Vgl. AELKG, 1, 197f. 702 Vgl. AEKU, 1, 121f.

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Bestandteil der sonntäglichen Liturgie mehr ist. Am unangefochtensten scheint noch das Confiteor der unierten Liturgie zu sein. Die Offene Schuld nach der Predigt ist nun selbst in weiten Teilen Sachsens zur Seltenheit geworden. Sie wird regelmäßig allenfalls noch in erzgebirgischen oder vogtländischen Landgemeinden gesprochen. Es ist fraglich, ob dies nur den altertümlichen Formulierungen zuzuschreiben ist, denn auch neu formulierte Sündenbekenntnisse haben sich nicht allgemein durchgesetzt. Das Junktim zwischen Gemeinsamer Beichte und Abendmahl ist ebenfalls nicht mehr überall Praxis. Damit droht nach dem Niedergang der Einzelbeichte nun auch noch die Beichte als gottesdienstliche Handlung verloren zu gehen, wenn sie nicht für Liturgen und Liturginnen sowie für Gemeindeglieder wieder zu einem Bedürfnis und zu einem zeitgemäßen, einleuchtenden Bestandteil des Gottesdienstes wird. 2.5. Zusammenfassung Da Luthers Kritik an der römischen Kirche vor allem bei der Gestaltung des Bußinstituts ansetzte, musste er für die Neuordnung dieses Bereichs auch praktische Vorschläge unterbreiten. Ausgehend von der theologischen Erkenntnis, dass Buße und Beichte sich nicht auf einen liturgisch geordneten Akt festlegen lassen, sondern das ganze Leben bestimmen müssen, plädierte Luther für eine Vielfalt von Beichtarten. Hinsichtlich der gottesdienstlichen Beichte blieb er aber in seinen Ausführungen sehr undeutlich. Er kannte wohl die Offene Schuld nach der Predigt, maß ihr aber – auch in Unkenntnis ihrer historischen Entwicklung – in seinen Vorschlägen für die Gestaltung von Gottesdiensten immer weniger Bedeutung bei. Im Vaterunser, das gemeinsam gesprochen wurde, sah er 1523 Elemente des allgemeinen Sündenbekenntnisses aufgehoben – der Friedensgruß galt ihm als Absolution. Drei Jahre später setzte er an die Stelle der Offenen Schuld eine Vaterunserparaphrase mit Abendmahlsvermahnung, die nach seiner Auffassung allgemeine Beichte und Absolution in nuce enthielten. Im Nürnberger Absolutionsstreit stellte Luther 1533 klar, dass auch gegen eine ausdrückliche allgemeine Absolution nichts einzuwenden sei. Obwohl die Absolution in der Einzelbeichte deutlicher sei, erfolge die allgemeine Absolution auch durch das Evangelium in Wort und Sakrament. Damit hatte Luther vieles offen gelassen, so dass bei der Gestaltung von reformatorischen Gottesdienstordnungen ganz verschiedene Möglichkeiten der gottesdienstlichen Beichte wahrgenommen wurden. Zahlreiche Gottesdienstordnungen übernahmen die Tradition der Offenen Schuld und gestalteten nur deren Text nach evangelischen Prinzipien. Das Confiteor wurde mancherorts nun ganz bewusst als Gemeinde-Confiteor ausgeformt, wobei allerdings oft der dialogische Charakter verloren 141

ging. Viele Texte der Offenen Schuld fanden im Confiteor Verwendung, so dass dabei richtiger vom Confiteor im Stil der Offenen Schuld gesprochen werden muss. Nur vereinzelt wurden Luthers Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung als Ersatz für die gottesdienstliche Beichte verstanden, z. T. aber auch mit der Offenen Schuld kombiniert. Manchmal verwendete man nur die Vaterunserparaphrase oder das Vaterunser allein, häufiger dagegen in Verbindung mit Luthers (oder einer anderen) Abendmahlsvermahnung. Deutlicher sind aus dieser Zeit die Intentionen für den Gebrauch gottesdienstlicher Beichten überliefert. Neben der allgemeinen Einsicht, dass das gemeinsame Bekennen der Sünde vor Gott notwendig sei, spielten die Vorbereitung auf den Gottesdienst insgesamt und auf den Abendmahlsempfang im Besonderen sowie bei der Offenen Schuld die Antwort auf die Predigt, die Vorbereitung auf das Allgemeine Gebet und katechetische Überlegungen eine Rolle. Als verbindliche Voraussetzung für den Abendmahlsempfang galt schon bald nach der Einführung des Glaubensverhörs durch Luther die Wahrnehmung der Einzelbeichte in Verbindung mit einer Prüfung des Glaubens. Als institutionalisierte Form dafür bildete sich die Beichtvesper am Samstagabend heraus, die vielerorts das Problem großer Konfitentenzahlen zu bewältigen hatte. Deshalb verkümmerte das individuelle Sündenbekenntnis bald zu einer mechanisch aufgesagten Beichtformel. Immer wieder versuchten Geistliche – besonders vor Festtagen – mehrere Konfitenten beim Aufsagen der Beichtformel, beim Erteilen der Absolution oder generell zusammenzufassen. Während es im 16. Jh. weithin gelang, derartige Bestrebungen zu unterbinden, kam es im 17. Jh. bereits häufiger zu tolerierten Formen gemeinsamer Beichte bzw. Absolution in der Vorbereitung auf das Abendmahl. Die heftige Kritik des Pietismus am erstarrten Beichtritual an der Wende vom 17. zum 18. Jh. führte in zunehmendem Maß zur gleichberechtigten Gewährung von Gemeinsamer Beichte und Einzelbeichte. In der Folgezeit nahm die Zahl der Einzelbeichtenden ab, die Gemeinsame Beichte am Freitag oder Samstag wurde zur allgemein üblichen Abendmahlsvorbereitung. Infolge der Reformversuche von Aufklärungstheologen, die die Liturgie plausibel und menschengerecht gestalten wollten, lässt sich in vielen Gottesdienstordnungen der ersten Hälfte des 19. Jh. eine deutliche Distanz zu Sündenbekenntnissen jeder Art feststellen. Mit der Eingangsliturgie entfiel auch das Gemeinde-Confiteor. Als seit der Mitte des 19. Jh. Gottesdienstordnungen wieder stärker an ihren historischen Vorbildern ausgerichtet wurden, gewann man auch die gottesdienstliche Beichte wieder. Allerdings verstand man nun das Kyrie weithin als Sündenbekenntnis, das parallel zum Confiteor keinen Sinn ergab. Deshalb wurden in vielen Liturgien Confiteor und Kyrie sowie Absolution und Gloria miteinander verknüpft. Weil man das Abendmahl immer seltener feierte – 142

und dann meist im Anschluss an den selbstständigen Wortgottesdienst – wurde spätestens Anfang des 20. Jh. die Gemeinsame Beichte mit der Abendmahlsfeier verbunden. Die Agendenreform in den 50er Jahren des 20. Jh. normierte in einer vorher nicht da gewesenen Weise den lutherischen Gottesdienst in Deutschland und reduzierte die Vielfalt auf einen gemeinsamen Kern. Zur Normalform des Sündenbekenntnisses im Gottesdienst wurde das Confiteor im Stil der Offenen Schuld. Die Sächsische Landeskirche durfte stattdessen die Offene Schuld nach der Predigt gebrauchen. Die dafür verwendeten Texte stammten größtenteils aus dem 16. Jh. Beide Sündenbekenntnisse wurden aber nicht als Beichte verstanden, sondern nur die Gemeinsame Beichte, in der man noch Elemente der Einzelbeichte entdeckte. Die vielfältigen liturgischen Funktionen, die gottesdienstliche Beichten in der Liturgiegeschichte erfüllten, wurden kaum noch wahrgenommen. So verwundert es nicht, dass von allen gottesdienstlichen Beichtarten in der gegenwärtigen Praxis allenfalls das Confiteor im Stil der Offenen Schuld erhalten geblieben ist. Die enge Verbindung der Gemeinsamen Beichte mit dem Abendmahl hat die Herrenmahlsfeier allein auf den Aspekt der Sündenvergebung festgelegt. Mit dem Wiederentdecken anderer Dimensionen des Abendmahls entfällt nun oft auch die Beichte. Das Sprechen der Offenen Schuld als Vorbereitung auf das Allgemeine Gebet ist heute kaum noch bekannt. Es entsteht der Eindruck, dass im Blick auf die gottesdienstliche Beichte theologische Reflexion kaum stattfindet, und dass bestenfalls die Pflege liturgischer Traditionen den weiteren Gebrauch garantiert.

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Kapitel III

Systematisch-theologische Untersuchungen zur gottesdienstlichen Beichte Nachdem im 2. Kapitel eine Bestandsaufnahme gottesdienstlicher Beichte in ihrem Zusammenhang von Sündenbekenntnis und Absolution versucht und die historische Entwicklung ihrer Formen nachgezeichnet wurde, soll nun systematisch-theologisch gefragt werden, wie die Beichte im Gottesdienst verantwortet werden kann. Dabei geht es vor allem um zwei wesentliche Fragestellungen. Einmal ist die Frage zu beantworten, in welcher Weise Sündenbekenntnis und Absolution in das Gesamtgefüge des Gottesdienstes eingebunden werden können und ob sie überhaupt notwendiger Bestandteil des Gottesdienstes sein müssen. Aber es geht auch um die Frage, wie heute Sünde bekannt und vergeben werden kann – wie Menschen zu Beginn des 21. Jh. Sünde benennen und Vergebung annehmen. „Sünde“ wird dabei als wichtiger biblischer und theologischer Begriff gefasst, auf den trotz aller berechtigten Einwände und weitgreifender Kritik nicht verzichtet werden kann.1 Das schließt die Dimension von Sünden- und 1 Gail Ramshaw-Schmidt erhebt z. B. den Einwand, dass „Sünde“ nur „ein Bild menschlicher Begrenztheit neben möglichen anderen Bildern“ wie Sterblichkeit, Ungerechtigkeit, Krankheit und Sinnlosigkeit sei. Stark verkürzend stellt sie fest: „Im Westen ist Sünde das entscheidende Bild für unsere Geschöpflichkeit, das immer wiederkehrende Denkmodell für menschliche Begrenztheit, gewesen.“ Ramshaw-Schmidt, Gail: Sünde: Nur ein Bild menschlicher Begrenztheit neben möglichen anderen Bildern. Conc(D) 23 (1987), 94. Haas merkt dazu an: „Ähnliche Originalität in dem Verständnis von Lehrentwicklungen belegt auch ein Satz wie a.a.O. 95: ‚Die Tradition westlicher Theologie ist in hohem Maße durch das geformt, was wir ›männliche mid-life-crisisTheologen‹ nennen könnten: Paulus, Augustinus, Luther.‘“. Haas, Hanns-Stephan: „Bekannte Sünde“: Eine systematische Untersuchung zum theologischen Reden von der Sünde in der Gegenwart. Neukirchen 1992, 14, Anm. 43. – Bonn, Univ., theol. Diss. 1989/90. (NBST; 10) Es darf außerdem nicht vergessen werden, dass Schuld bzw. Sünde keine genuin christlichen Begriffe sind. In etwas anderer Ausprägung finden sich diese Kategorien auch in anderen Religionen. „Schuld ist – zumindest für die drei monotheistischen und die afrikanischen Religionen – Abfall von Gott, Leugnen der Abhängigkeit von ihm und Kehre gegen seinen Willen […] Ist das Verhältnis zu Gott oder zur Sphäre des Göttlichen gestört, nimmt auch die Beziehung zum Mitmenschen und zur Gesellschaft als ganzer Schaden, so die gemeinsame Überzeugung aller Religionen.“ Schuld und Umkehr in den Weltreligionen/hg. von Michael Sievernich und Klaus Philipp Seif. Mainz 1983, 15.

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Vergebungserfahrung mit ein und hat unmittelbare Auswirkungen auf die Formulierung von Texten für die gottesdienstliche Beichte bzw. auf ihre liturgische Gestaltung. Bis auf wenige Ausnahmen2 haben sich systematische Theologen bisher kaum mit dem Problem der Beichte im Gottesdienst beschäftigt. Methodisch scheint es deshalb ratsam, sich mit unterschiedlichen systematisch-theologischen Gesamtentwürfen des 20. Jh. auseinanderzusetzen und sie auf einen liturgischen Ertrag hinsichtlich der Gestaltung der gottesdienstlichen Beichte zu befragen. Zusätzlich sollen hamartiologische Einzelarbeiten zu Rate gezogen werden, wenn es um gegenwärtige Rede von Sünde geht.

1. Sünde und Sündenvergebung in dogmatischen Entwürfen des 20. Jh. Blickt man auf die zahlreichen systematisch-theologischen Entwürfe des 20. Jh., so ist es nicht einfach, eine methodisch sinnvolle Auswahl zu treffen. Die Entscheidung für die Dogmatiken von Althaus, Tillich und Barth lässt sich mit Hilfe ganz unterschiedlicher Kriterien begründen. Abgesehen davon, dass diese drei Theologen etwa zu gleicher Zeit lebten und wirkten, legten sie jeweils dogmatische Gesamtentwürfe in der zweiten Hälfte des 20. Jh. vor. Nach der Herrschaft des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg hatte die Frage nach Sünde und Sündenvergebung auf schreckliche Weise neue Aktualität gewonnen. Dennoch sind die Unterschiede zwischen den drei Entwürfen unübersehbar, nicht nur, weil die Hamartiologie jeweils an einem anderen Ort der systematischen Theologie verankert wird.3 Zweifellos versucht jeder dieser Entwürfe auf seine Weise, für Menschen des 20. Jh. plausibel von Sünde zu reden. Während Althaus dabei vor allem an der verständlichen Interpretation traditioneller Aussagen gelegen ist, versucht Tillich, mit der philosophischen Anthropologie ins Gespräch zu kommen. Barth argumentiert dagegen streng offenbarungstheologisch und entwickelt wie Tillich ein ganz neues System. Mit ihrem jeweiligen Anliegen sind besonders die beiden letzten maßgebend für spätere dogmatische Entwürfe geworden. 2 Z. B. Nüchtern, Michael: Sündenerfahrung und Sündenvergebung: Dogmatische Fragen zu Bußgebet und Sündenlehre. KuD 25 (1979), 133–153. 3 Dziewas entwickelt eine Typologie evangelischer Sündenlehren und ordnet darin die Hamartiologie von Althaus dem schöpfungstheologischen, die von Tillich dem anthropologischen und die von Barth dem soteriologischen Typ zu. Vgl. Dziewas, Ralf: Die Sünde der Menschen und die Sündhaftigkeit sozialer Systeme: Überlegungen zu den Bedingungen und Möglichkeiten theologischer Rede von Sünde aus sozialtheologischer Perspektive. Münster 1995, 43ff – Münster, Univ., theol. Diss. 1993/94. (Entwürfe; 2)

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Es lässt sich einwenden, dass die drei Dogmatiken selbst schon so weit Klassiker sind, dass sie für zeitgemäße Überlegungen zur gottesdienstlichen Beichte nicht mehr viel austragen. Deshalb soll vor allem hinsichtlich heutiger Rede von Sünde die jüngere hamartiologische Diskussion mit wahrgenommen werden (s. u. 226ff). 1.1. Paul Althaus d. J. (1888–1966) In seiner Dogmatik „Die christliche Wahrheit“4 verankert Althaus schon formal die Sündenlehre in der Schöpfungslehre, indem er im 2. Teil, „Welt und Mensch als Kreatur Gottes“, das Geschöpfsein und die Gottebenbildlichkeit des Menschen bedenkt und daran den 3. Teil, „Sünde und Gericht Gottes“, unmittelbar anschließt. Darauf folgt seine Christologie im 4. Teil, „Jesus Christus als Versöhner und Anbruch der neuen Schöpfung“.5 Seine Aussagen fasst er oft in paradoxe oder zumindest spannungsreiche Formulierungen, die er selbst als „dialektisch“ bezeichnet.6 1.1.1. Der Mensch als Bild Gottes und Sünder Nach Althaus wird in der Geschichte Gottes mit den Menschen die Heilsgeschichte gewissermaßen von der Schöpfungsgeschichte umfasst.7 Am Anfang steht der gute Schöpferwille Gottes, der dem Menschen seine Bestimmung gibt – die Gemeinschaft mit Gott.8 Diese Gemeinschaft

4 Die erste Auflage erschien 1947. 5 Vgl. Althaus, Paul: Die christliche Wahrheit: Lehrbuch der Dogmatik. Gütersloh 51959, 258f. 6 „Die Begrenzung des Glaubenserkennens drückt sich darin aus, daß seine Sprache dialektisch sein muß. Neben den Satz muß ein zweiter, ein Wider-Satz treten. Wir können die Wahrheit, die sich in der Offenbarung erschließt, nicht in der Synthesis eines Gedankens, eines Wortes fassen, sondern immer nur in der ‚Gebrochenheit‘ des Gedankens, in zwei Worten oder Sätzen, die sich gegeneinander spannen und einander doch fordern.“ Althaus, Wahrheit, 242. 7 „Die Gabe Gottes in Christus geht nicht in dem Heile auf, mit dem Gott aus dem Falle erlöst; sie ist auch zweiter Akt des Schaffens Gottes.“ Althaus, Wahrheit, 258. „Das Verhältnis Gottes zur Menschheit hört nie auf, selbst da, wo es durch die Sünde bestimmt wird, auch das schöpfungsmäßige zu sein. Die Schöpfung aber wird nicht nur verkehrt durch die Sünde und bedarf der Wiederherstellung durch Versöhnung und Erlösung, sondern sie weist […] von Anfang an über sich selbst hinaus auf die neue Schöpfung, die Jesus Christus in sich selbst gebracht hat und vollenden wird.“ Althaus, Wahrheit, 257. 8 „In der Begegnung mit Gott erkennen wir: die ‚Form‘ des Menschseins, Gewissen und Freiheit, meint die Gemeinschaft mit Gott als das wahre Sein des Menschen, in dem er zu sich selbst kommt.“ Althaus, Wahrheit, 327.

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mit Gott soll aber in Freiheit gesucht und gefunden werden.9 Doch der Mensch entspricht nicht dem Schöpferwillen Gottes. Statt Gemeinschaft mit ihm zu haben, entfernt er sich von Gott. Darin ist sich die gesamte Menschheit einig.10 Sie bedarf insgesamt der Versöhnung und Erlösung durch die neue Schöpfung in Jesus Christus. Um den Widerspruch zwischen seinsmäßiger Bestimmung des Menschen und seinem sündlichen Sein herauszustellen, greift Althaus auf die traditionelle Aussage der Gottebenbildlichkeit des Menschen zurück.11 Auf der Grundlage des biblischen Zeugnisses entfaltet er den Begriff des Ebenbildes Gottes im doppelten Sinn.12 Im ersten Sinn (nach Gen 1,26f; 5,3; 9,6) wird die in der Schöpfung begründete Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott auch nicht durch die Sünde verloren. Sie bleibt bestimmendes Merkmal seines Wesens.13 Im zweiten Sinn, der sich von paulinischen Schriftstellen herleitet, (z. B. II Kor 4,4; Röm 8,29; Kol 3,10 u. ö.), wird dem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes erst im Glauben an Christus zuteil, weil er darin seine Bestimmung erfüllt.14 Althaus kann deshalb zu der paradoxen Aussage kommen, dass der Mensch in 9 „Alles läßt sich zusammenfassen in die beiden Sätze: ich bin Mensch für Gott (bestimmt und verfaßt zur Gemeinschaft mit ihm); ich bin Mensch vor Gott (Gott hat mich vor sich gestellt zu freier Hingabe).“ Althaus, Wahrheit, 329. 10 „In allen Völkern wird die Verfallenheit der Welt und des Menschen gefühlt und ausgesprochen; überall leidet man unter der Unvollkommenheit und dem Tode und sehnt sich nach wahrhaftigem, vollem Leben. […] Der Glaube erkennt in alledem die Zeichen einer Bestimmung aller Menschen, einer gemeinmenschlichen Daseinsnot, eines Existenzwiderspruches, einer Ferne von Gott.“ Althaus, Wahrheit, 333, vgl. auch 367ff. 11 „Aber da er in der dogmatischen Überlieferung eine große Bedeutung gewonnen hat, werden wir guttun, unsere Lehre vom Menschen noch einmal zu umreißen und zusammenzufassen in einer Auslegung des Begriffes der Gottebenbildlichkeit.“ Althaus, Wahrheit, 336. 12 Dabei geht er über Luther hinaus, der in seiner Ablehnung der römischen Unterscheidung von imago und similitudo von einer Zerstörung der schöpfungsmäßigen Natur des Menschen durch den Fall ausgeht. Luther gesteht allenfalls Reste des Bildes Gottes im Geneigtsein zum Guten zu. Vgl. WA 56, 237, 6. 13 „Also zuerst: dem Menschen eignet die Ebenbildlichkeit mit Gott, sofern er durch den Schöpfer zur Gemeinschaft mit ihm in freier Hingabe bestimmt und verfaßt ist. Denn diese in seiner Verfassung ausgedrückte Bestimmung bedeutet eine Gleichartigkeit, Ähnlichkeit, Verwandtschaft des Menschen mit seinem Schöpfer.“ Althaus, Wahrheit, 342. 14 Vgl. Althaus, Wahrheit, 337. „Zweitens: in einem neuen, im vollen Sinne eignet dem Menschen kreatürliche Ebenbildlichkeit mit Gott, sofern seine Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott erfüllt wird. Das geschieht durch Jesus Christus im Heiligen Geiste. Dann ist der Mensch hineingenommen in das Leben der Liebe Gottes. Sie gewinnt in ihm, wenn er sich von ihr ergreifen und zum eigenen Lieben bewegen läßt, ein kreatürliches Abbild – durch Christus, in dem Gottes Liebe ihr erstes Bild hat, das sich in den von Christus Ergriffenen weiter abprägt […] Wir bekommen Anteil an der Ebenbildlichkeit Christi.“ Althaus, Wahrheit, 342.

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seiner Bestimmung „Bild Gottes“ ist und bleibt, dass er aber keineswegs Ebenbild Gottes ist, wenn er als Sünder ohne Christus lebt.15 Diese Aussagen über die Gottebenbildlichkeit des Menschen und ihren Verlust lassen nun eine weitere Entfaltung des Sündenbegriffs zu. Weil der Mensch zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt ist, diese Bestimmung aber verneint, ist Sünde „der Widerspruch gegen die stets gegenwärtige […] Bestimmung für Gott“.16 Die Sünde ist aber auch Schuld, indem der Mensch als Person subjektiv Gottes Willen widerspricht.17 1.1.2. Sünde als Unglaube und Lieblosigkeit Wenn Althaus das Wesen der Sünde näher bestimmt, so tut er das in doppelter Hinsicht. Dabei geht er von Gottes Willen aus. Einmal begreift er die Formen sündlichen Wesens als Widerspruch gegen Gottes Willen und als zurechenbare Schuld. Zum anderen sieht er die Hauptgestalten der Sünde in Unglaube und Lieblosigkeit, die sich auch gegen Gottes Willen stellen. Der Widerspruch gegen Gottes Willen richtet sich gegen die schöpfungsmäßige Ordnung und das Gebot Gottes. Sünde steht im Widerspruch zu dem, was Gott will. Sünde ist aber auch persönliches Widersprechen des Menschen gegen Gottes Schöpferwillen. Dem Anspruch Gottes gegenüber bleibt der Mensch schuldig. Er kann sich darin nicht entlasten, sondern muss sich als Person und Urheber bei seiner Sünde behaften lassen.18 Die Sünde findet nun Gestalt in zwei Dimensionen – einer auf Gott und einer auf die Mitmenschen bezogenen. Der Mensch verschließt sich 15 „Wären wir nicht Sünder, so wären wir Ebenbild. Von Gott her sind wir es. Aber wir fallen aus diesem Urstande unserer Existenz in jedem Augenblicke sündigend heraus. In diesem Sinne haben wir als Sünder das Ebenbild verloren. Aber indem wir das als unsere Schuld bekennen, sagen wir aus, daß die Ebenbildlichkeit im ersten Sinne, der Bestimmung und Verfassung für Gott, auch in der Sünde erhalten bleibt. Wir hören auch als Sünder nicht auf, Menschen für Gott und Menschen vor Gott zu sein.“ Althaus, Wahrheit, 343. „Erst damit [mit dem Anteil an der Ebenbildlichkeit Christi, T. B.] ist der Mensch zu der Wahrheit seines Wesens gelangt, zu der Gott ihn geschaffen hat. Er ist ganz Mensch geworden, nämlich nicht nur Mensch für Gott und vor Gott, sondern Mensch Gottes. Voll wirklich wird das erst in der Ewigkeit. Aber es hebt im Glauben an Christus heute schon an.“ Althaus, Wahrheit, 342. 16 Althaus, Wahrheit, 343. 17 Vgl. Althaus, Wahrheit, 343, 357f. 18 „[‚Schuld‘ sagt zweierlei aus: T. B.] erstens die Beziehung unseres Handelns auf den an uns ergehenden Anspruch: wir bleiben uns ihm schuldig und sind damit an ihm schuldig; zweitens die persönliche Urheberschaft unser selbst in der Sünde, demgemäß die Verantwortlichkeit, Haftbarkeit und Strafwürdigkeit als Personen, die Zurechnung der Sünde an uns als Personen. Man kann die beiden Momente auch in dem einen Worte ‚Widerspruch‘ zusammenfassen mit seinem Doppelsinn: die Sünde ist tatsächlicher objektiver Widerspruch zu Gottes Willen und: sie ist subjektives, aktives, willlentliches und daher verantwortliches Widersprechen des Menschen als Person.“ Althaus, Wahrheit, 358.

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der Liebe Gottes und ist nicht bereit, aus ihr heraus zu leben. Er verweigert den Glauben daran, dass Gott sein Heil will. Deshalb ist für Althaus eine Hauptgestalt der Sünde der Unglaube.19 Selbstherrlichkeit und Weltseligkeit führen zu einer gottlosen Sicherheit des Menschen, die in Verzweiflung und Angst umschlagen kann, wenn die Selbsttäuschung erkannt wird. Aber das Angebot der Liebe Gottes führt noch in eine andere Dimension. Gott will, dass das von ihm empfangene Leben nicht auf sich selbst bezogen gelebt und egoistisch verschlossen wird, sondern zum Dienst an den anderen da ist. Deshalb hat die Sünde im Verhältnis zu den Menschen (und zur Natur)20 „die Gestalt der Lieblosigkeit“.21 Wenn die Menschen ausnahmslos dem Willen Gottes zuwiderhandeln, sich nicht in seine Liebe hineinnehmen lassen und ihre Gottebenbildlichkeit verlieren, erhebt sich die Frage, warum Menschen nicht in der Lage sind, ihrer Bestimmung gemäß zu leben. Althaus beantwortet diese Frage im Rückgriff auf die traditionelle Erbsündenlehre. Allerdings verwendet er hier ganz andere als die sich vom Begriff her nahelegenden Interpretationen und spricht von „Personsünde“22 bzw. von „Menschheitssünde“23. Die Begriffe von Urstand und Fall begründet er existenziell und nicht historisch.24 Immer wieder aktuell ereignet sich der Sündenfall, aber er liegt auch allem Sündigen voraus.25 Doch das ist nicht nur dahin gehend 19 „[…] der Unglaube im Verhältnis zu Gott ; der Zweifel an Gottes Heilswillen, daran, daß in Gottes Händen unser Heil liege. Der Unglaube erscheint dann als Selbstherrlichkeit und als Weltseligkeit: ich finde den Halt, das Heil, die Sinngebung und Rechtfertigung meines Lebens aus mir selbst oder aus der Welt, ohne Gottes zu bedürfen, frei von ihm.“ Althaus, Wahrheit, 356. 20 Dziewas stellt den Unterschied zwischen Althaus und anderen Systematikern wie Joest in dem Fehlen einer dritten Dimension der Sünde in Beziehung zur Natur bei Althaus heraus. Obwohl Althaus expressis verbis nur vom Menschen spricht, deutet das Reden vom Ausbeuten der Welt, von Selbstsucht und Gier auf einen weiteren Horizont hin. Vgl. Dziewas, Sünde, 54, Anm. 64. 21 „Statt in der Liebe Gottes für die anderen, für die Aufgabe, die Gott in der Welt stellt, ohne Vorbehalt da zu sein, sucht der Mensch in allen seinen Beziehungen zu den anderen zuletzt sich selbst, beutet die Welt aus für sich selbst. Sünde ist Selbstsucht, Gier.“ Althaus, Wahrheit, 356. 22 Vgl. Althaus, Wahrheit, 359ff. 23 Vgl. Althaus, Wahrheit, 367ff (s. u. 150f). 24 „Die biblische Erzählung vom Garten Eden und vom Sündenfall ist selber nichts anderes als ein Ausdruck des existentiellen Wissens um die Sünde als Fall und Verkehrung des ursprünglichen Wesens und Standes. Sie beruht weder auf Erinnerung an ein vorgeschichtliches Ereignis noch auf übernatürlich-inspirierter Kenntnis eines solchen, sondern auf dem Bedenken des eigenen Sünderseins unter dem Worte Gottes.“ Althaus, Wahrheit, 383. 25 „Die Sünde in der Welt ist immer auch meine Sünde. Frage ich nach ihrem Ursprung, so frage ich zugleich nach dem Ursprung meiner Sünde; und hier kann die Antwort immer nur lauten: sie entspringt jetzt in mir, der Fall geschieht heute. Aber zugleich ist er auch schon geschehen; ich bin nicht der erste, der sündigt; die Mensch-

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zu verstehen, dass jeder Mensch neben dem Tun des Rechten auch sündigt. Vielmehr ist sogar das Tun des Guten beeinträchtigt von Sünde.26 Die Grundhaltung des Menschen, nicht aus und in Gottes Liebe zu leben, bemächtigt sich auch des Unbewussten, das doch ganz persönlich geprägt ist und in die Verantwortlichkeit vor Gott hineingehört. Althaus fasst das in die paradoxe Formulierung: „Auch das Unwillkürliche, ja das Unbewußte bin ich selber, so gut wie das bewußte Wollen. Auch das Unwillkürliche ist willentlich.“27Der Begriff der Personsünde drückt also aus, dass der Mensch „nicht nur in einzelnen Akten, sondern in seiner ständigen Grundhaltung gegen Gott sündig“ ist.28 In dieser Grundhaltung bleibt der Mensch gefangen, sie kommt immer wieder durch sündige Akte sichtbar zum Vorschein. Akte und Grundhaltung lassen sich also nicht voneinander trennen, sie gehören zusammen.29 Diese Personsünde kann Althaus auch am besten mit dem Begriff der Erbsünde in Verbindung bringen.30 Ebenso wie Urstand und Fall wird die Erbsünde nicht historisierend interpretiert. Die Sünde Adams ist nicht von Geschlecht zu Geschlecht vererbt worden, sondern durch Abstammung und Vererbung haben die Menschen das gleiche Wesen und sind eins in ihrer Sünheitssünde ist schon da. So ist der Fall vergangen und gegenwärtig zugleich.“ Althaus, Wahrheit, 383. 26 „Wir müssen bekennen, daß die Akte des Gehorsams, des Vertrauens zu Gott, der Liebe zueinander immer wieder zustande kommen nur in Überwindung einer inneren Gegenbewegung. Auch wenn diese den Akt nicht bestimmt, so bleibt sie doch trotz und unter ihm erhalten: unter unserem Gottesdienste unser anspruchsvolles Wesen, unsere Ungeduld, Mißtrauen und Angst, Hoffart und Gier; unter dem Dienste am Nächsten der heimliche Verdrängungswille, Neid und Haß, Eitelkeit und Geltungsdrang. Gott zwingt uns wohl, uns selbst zum Trotz, Gutes zu tun, durch die Ordnungen, in die er uns beruft […]“ Althaus, Wahrheit, 360. 27 Althaus, Wahrheit, 360. 28 Althaus, Wahrheit, 362. 29 Althaus widerspricht damit einer Auffassung, wie sie z. B. auch in FC Epit. 1,11 (BSLK, 774f) zum Ausdruck kommt, dass die Erbsünde den Tatsünden vorgeordnet ist und letztere kausal aus der ersteren hergeleitet werden. „Wir können nicht einen habitus unserer Natur von unserem tathaften Sein unterscheiden. Damit wird verleugnet, daß wir Personen sind, das heißt: daß wir unsere Wirklichkeit haben allein in der Tathaftigkeit in Gedanken, Worten und Werken. Wie es kein persönliches Sein außer dieser Tathaftigkeit gibt, so auch keine Sünde : die Sünde ist nur in Gedanken, Worten und Werken wirklich, also als peccatum actuale. Sünde abgesehen von und neben den peccata actualia behaupten heißt, den Begriff der Sünde in falscher Weise naturalisieren, ihm den personhaften Charakter nehmen.“ Althaus, Wahrheit, 362. 30 „[…] wir haben keinen Anlaß, ihn [den Begriff der Erbsünde, T. B.] preiszugeben. Denn er faßt die beiden Züge, die unserer Sünde wider Gott in unlösbarem Miteinander eigen sind zusammen: wir sind Sünder mit dem in uns allen einen und selben Wesen der Gattung Mensch, das wir erben; wir sind mit eigenem Willen Sünder. Überkommener Gemeinwille und Einzelwille liegen ganz ineinander. Ich bin Mensch wie alle, aber ich bin eben darin ganz ich selber. Ich erleide mein Sündigsein so, daß ich es ständig mit eigenem Willen vollziehe.“ Althaus, Wahrheit, 368f.

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digkeit.31 Für Althaus ist die Abstammung nicht von Bedeutung für die Identifizierung eines Urhebers der Sünde, sondern sie ist wichtig für die Einheit des Menschentums in seiner Sünde – für die Menschheitssünde. Die gemeinschaftliche Dimension der Menschheitssünde kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Tatsünden der Menschheit in ihrem Zusammenwirken eine Geschichte der Sünde hervorbringen.32 Sünde manifestiert sich darin als ein „Miteinander von überindividueller geschichtlicher Macht und persönlicher Sünde.“33 Die Geschichte der Sünde macht deutlich, dass alle aneinander schuldig werden, ohne die Zusammenhänge zu durchschauen, und dass die Sünde immer weiterwirkt.34 Althaus verweist darauf, dass sich die Sündigkeit auch in der Struktur der Welt verwirklicht, die als Versuchung neue Sünden entstehen lässt.35 Diese Aussage will er aber nicht dahin gehend missverstanden wissen, dass Strukturen zwangsläufig Sünde produzieren. Er hält konsequent an der Personhaftigkeit von Sünde fest und widerspricht einer Herleitung der Sünde von menschlicher Natur und Weltgestalt.36 Dabei ist für ihn 31 „Nun empfangen wir in der Tat unser Menschenwesen und mit ihm unsere Sündigkeit von den Vätern und Müttern und durch sie von den ersten Menschen. Insofern gilt nicht nur der Satz: wir sündigen, wie Adam sündigte, sondern auch der andere: wir sündigen, weil er sündigte. Aber dieses ‚weil‘ ist nun richtig zu verstehen. Es bedeutet unseren Zusammenhang mit dem ersten Menschen, aber nicht seine Urheberschaft. Kraft des Zusammenhanges ist seine Sünde unser aller Sünde. Aber er ist nicht in höherem Maße der Urheber, als wir selber es auch sind. Daher ist die Theologie an Adam als dem historischen oder prähistorischen ersten Menschen nicht interessiert, sondern allein an ‚Adam‘ als Ausdruck für die ursprüngliche Einheit aller Menschen: wir sind in unserer Sünde alle ein Mensch.“ Althaus, Wahrheit, 386. 32 Seit Albrecht Ritschl spricht die systematische Theologie vom „Reich der Sünde“, vgl. Althaus, Wahrheit, 370ff. Althaus will die Lehre vom „Reich der Sünde“ nicht als Ersatz für die Erbsündenlehre verstanden wissen, sondern als notwendige Ergänzung. Die Erbsünde als Personsünde ist das Ursprünglichere, in der Menschheitssünde, im „Reich der Sünde“ findet sie eine Gestalt. Vgl. Althaus, Wahrheit, 371ff. 33 Althaus, Wahrheit, 371. 34 „Mein Handeln und Unterlassen, meine Haltung wirkt auf die anderen[,] in die Nähe und in die Ferne, in der Gegenwart und in die Zukunft; mein Böses verführt andere, nimmt ihnen Hemmungen, reizt zu böser Gegenwirkung. Jeder von uns baut mit an Systemen und Organisationen des Bösen und hilft sie erhalten, und wäre es nur durch sein Dulden und Schweigen dazu – sie reißen andere in Sünde hinein. […] Das Böse der Menschheit ist eine Gesamttat, an der jeder durch seine Haltung, sein Tun und Unterlassen eine unabsehbar weit reichende Mitschuld hat.“ Althaus, Wahrheit, 375. 35 „Hängt die Sünde nicht eben an dieser ‚Gestalt‘ der Welt? Durch sie kann ich nicht anders als das Gebot der Liebe zum Nächsten ständig verletzen und werde damit zum Empörer gegen Gott. Meine Sünde – so wird man sagen müssen – ist zugleich die Sündigkeit der Geschichte, der Weltstruktur überhaupt. […] Das Gesetz der Sünde in mir ist zugleich das Gesetz dieser Welt im Ganzen, ohne das wir die Bewegung der Geschichte nicht denken können.“ Althaus, Wahrheit, 377. 36 „Wir dürfen unsere Verantwortlichkeit nicht ablehnen und statt unser die Weltverfassung und unser natürliches Sein, wie Gott es schuf, für das verantwortlich ma-

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die Sündlosigkeit Jesu Christi ein wichtiges Argument. Er, der als wahrer Mensch in den Strukturen dieser Welt lebte, widerstand der Versuchung und blieb ohne Sünde.37 Für Althaus ist es eine einleuchtende Folge menschlicher Selbstbehauptung, dass sich in den weltlichen Strukturen keine reine Liebe leben lässt.38 Trotzdem führt die Liebe dazu, dass der Mensch an den bestehenden Verhältnissen leidet und versucht, im Geist der Liebe zu handeln.39 Althaus begründet die Notwendigkeit, wenn vom „Reich der Sünde“ gesprochen wird, auch einen Herrn dieses Reiches, einen „übermenschlichen Willen“, namhaft zu machen.40 So wie der menschliche Wille im Gehorsam gegenüber Gottes Willen zur Liebe fähig ist, so lässt er sich von einem übermenschlichen Willen zum Bösen verführen.41 In diesem Sinn spricht Althaus vom personifizierten „Bösen“ und von „Dämonen“, die in der Geschichte wirksam sind.42 Diese „Personifikation“ hat für ihn chen, was wir selber mit Willen sind. […] Eher haben wir die Gestalt dieser Welt einschließlich unserer eigenen Daseinsstruktur in unser persönliches Schuldbewußtsein mit aufzunehmen, als daß wir umgekehrt das Schuldbewußtsein um der Weltverfassung willen preisgäben. Wir haben unsere Sünde nicht spekulativ zu begreifen, sondern um ihretwillen Buße zu tun.“ Althaus, Wahrheit, 378. 37 Vgl. Althaus, Wahrheit, 378f. 38 „Das Gesetz unseres Daseins, die ‚Gestalt dieser Welt‘ bringt es mit sich, daß wir uns zunächst in unserer Lebendigkeit behaupten müssen und daß diese notwendige Selbstbehauptung weithin ein Sich-gegen-andere-Behaupten ist; daß wir, die Einzelnen und die Völker, nicht leben können, ohne andere auch irgendwie zu verdrängen. […] Wir müssen unser Leben behaupten, ehe wir es hinzugeben vermögen, und müssen dabei unter Umständen mit anderen um unser Leben kämpfen. Das gehört zu dem Gesetze dieser Weltzeit und wird in Gottes ewigem Reiche abgetan sein.“ Althaus, Wahrheit, 379. 39 „Aber dieses Daseinsgesetz bedeutet nun doch nicht, daß wir selbstsüchtigen Herzens leben müßten. Diese Folgerung wird wieder durch den Blick auf Jesu Menschsein verboten. Der Geist der Liebe, der Freiheit von uns selbst soll und kann auch die unentrinnbare Selbstbehauptung durchdringen. Die Liebe trägt Leid darum, daß sie unter Umständen im irdischen Daseinskampfe gegen andere handelnd stehen muß und nicht in jedem Augenblicke nur als Liebe handeln kann.“ Althaus, Wahrheit, 379. 40 „Soll das Reich der Sünde nur in der Herrschaft eines Prinzips, des ‚bösen Prinzips‘ (Kant) bestehen? Wenn die beiden Reiche miteinander kämpfen, steht dann wirklich ein Wille gegen ein Prinzip und nicht vielmehr Wille gegen Wille? Wer letzteres nicht wahrhaben will, täte besser, nicht von dem Reiche der Sünde zu reden […]“ Althaus, Wahrheit, 391. 41 „Unser Handeln hat im Guten wie im Bösen den Charakter des Gehorsams gegen eine den Willen in Anspruch nehmende Macht. Sie kann uns begegnen in einem menschlichen Willen, der uns zum Guten vollmächtig aufruft oder zum Bösen verführen will. Aber wie der menschliche Wille, der uns zum Guten fordert, sich als Träger eines übermenschlichen, ihn selber bindenden Willens erweist, so auch der verführende Menschenwille. Der übermenschliche Wille tritt an uns auch ohne menschliche Vermittlung heran und nimmt unseren Willen in Anspruch.“ Althaus, Wahrheit, 388. 42 Vgl. Althaus, Wahrheit, 388ff.

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nichts mit Mythologie zu tun.43 Er betrachtet die Dämonen als Gestalten des einen Bösen,44 will aber z. B. Krankheiten nicht als dämonische Besessenheit verstanden wissen.45 Im Reich der Sünde sind Dämonen am Werk, z. B. der Dämon der Macht.46 Der Böse ist nun aber kein Gegengott, sondern Geschöpf Gottes auf einer „überweltlichen Seinsstufe“.47 Auch er fiel aus dem von Gott gesetzten Urstand heraus. Weil er außerhalb unserer gegenständlichen Welt existiert, ist er überall gegenwärtig und damit Gott ähnlich.48 Dennoch bleibt er als Geschöpf grundlegend von Gott unterschieden. Letztlich bleibt auch er von Gottes „Wollen und Handeln getragen und durchdrungen.“49 Das führt zu der schwierigen Frage, inwieweit Gott den Bösen in seinen Dienst nimmt, ihn als Werkzeug gebraucht. Althaus lehnt es als unbiblisch 43 „Neben und über dem menschlichen Willen (individuellen und überindividuellen wie etwa einem Volkswillen) sind in der Geschichte noch andere lebendige Mächte am Werk: übermenschliche Richtungen, Tendenzen, ‚Ideen‘. Sie sind nicht von einem Menschen erdacht und von sich aus gewollt. Sie treten an ihn heran, gewinnen ihn, saugen ihn an sich. […] Wird man solchen Wirklichkeiten der Geschichte gerecht, wenn man sich begnügt, abstrakt von ‚Ideen‘ und ‚Tendenzen‘ zu sprechen? Zwingt nicht die Planmäßigkeit, die in ihnen liegt, die über alles menschliche Planen übergreift und oft erst von hintennach zu erkennen ist, zwingt nicht die rätselhafte Macht, die sie über ihre menschlichen Werkzeuge gewinnen, dazu, von persönlichen Geistesmächten zu reden? […] Die geschichtlichen Geistesmächte dieser Art sind gewiß nicht alle böse. Aber es gibt unter ihnen böse, Dämonen.“ Althaus, Wahrheit, 389. 44 „Die widergöttlichen Bewegungen in der Geschichte, ihre Gebiete und Gestalten sind einerseits verschieden und mannigfaltig. Daher sprechen wir von Dämonen in der Mehrzahl. Andererseits sind sie in ihrer Widergöttlichkeit ein und derselbe, in aller Verschiedenheit wiederkehrende Wille. Daher müssen wir singularisch von dem Bösen, dem Satan sprechen.“ Althaus, Wahrheit, 390. 45 „Wir haben mit unserer Begründung den biblischen Gedanken des Satans und der dämonischen Geister aufgenommen. Im einzelnen freilich trägt der biblische Dämonenglaube Züge primitiver Mythologie, die für uns abgetan sind. Das primitive Denken erklärt sich die Krankheit oder den Wahnsinn animistisch als Besessenheit von einem Dämon. Wir verstehen die Krankheiten, auch die psychischen Erkrankungen nicht dämonologisch.“ Althaus, Wahrheit, 390. 46 „[…] in der politischen oder wirtschaftlichen Macht als solcher wohnt eine Gier nach mehr, nach Steigerung, die von dem persönlichen Machtstreben einzelner Menschen (das sich mit ihr verbinden kann), durchaus zu unterscheiden ist, aber Menschen für sich anstellt. Macht setzt sich als Selbstzweck, der alle Mittel heiligt, alle sittlichen Bindungen zerbricht und damit zur Gewalt der Zerstörung wird. Das Dämonische ist immer an seinem zerstörerischen Charakter zu erkennen, an der Tendenz zur Vernichtung des menschlichen Lebens.“ Althaus, Wahrheit, 389. 47 Vgl. Althaus, Wahrheit, 392. 48 „Wir können ihn nicht wie einen Menschen oder eine andere innerweltliche Macht wahrnehmen. Er begegnet uns allein in unserer und der anderen Menschen Versuchung und Sünde, als der Wille des Bösen, der um uns wirbt und uns hinnimmt. Als solcher ist er jedem jederzeit und überall nahe und innerlich gegenwärtig. In dieser seiner Allgegenwart ist er Gott ähnlich.“ Althaus, Wahrheit, 392. 49 Vgl. Althaus, Wahrheit, 392.

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ab, das Gute nur auf Gott, das Böse, „Krankheit, Not und Tod“ nur auf den Satan zurückzuführen.50 Alle negativen Erscheinungen können sowohl dem Handeln Gottes als auch dem Handeln des Bösen entspringen. Der grundlegende Unterschied besteht in dem Ziel des jeweiligen Handelns – während der Böse die Zerstörung der göttlichen Schöpfung beabsichtigt, will Gott durch die Gefährdungen der Menschen hindurch ihre Bewährung erwirken.51 Krankheit, Not, Tod, Versuchung und Verstockung bleiben trotzdem Gottes Wesen fremd, bleiben fremdes Werk, das nur im Dienst des heilschaffenden eigentlichen Gotteswerkes steht. Althaus muss hier wieder dialektisch formulieren: „Gott kommt durch ein fremdes Werk zu seinem eigenen. Das fremde Werk ist wirklich ein ihm zuletzt fremdes – darum harren wir erst noch seines Reiches; und es ist doch auch als fremdes sein Werk – darum ist er schon heute in allem der Herr.“52 In diesem Zusammenhang sind auch die Aussagen über die Konsequenzen der Sünde, über Gottes Gericht und Strafe zu betrachten. Althaus unterscheidet hierbei zwischen dem „realen“ und dem „personalen“ Gericht Gottes, wobei das erstere im „immanenten Gericht“ und in „freien Gerichtsakten“ Gottes Gestalt findet. Das immanente Gericht ist eine Folge der Sünde, die nach den Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen der Schöpfung objektiv eintritt. „Dieses immanente Gericht besteht also nicht in Zufügungen von außen her, sondern im Wirkenlassen einer Gesetzlichkeit des Lebens.“53 Gottes immanentes Richten muss nicht zwangsläufig eintreten. Wo es aber sichtbar wird, offenbart es eine Dynamik der Sünde und eine fortschreitende „Zerstörung des Lebens“.54 Dafür lassen sich Beispiele im privaten menschlichen Leben wie in der Gesellschaft nennen.55 Die freien Gerichtsakte Gottes, die „in schweren, 50 Vgl. Althaus, Wahrheit, 393f. 51 „Der Wille Gottes bei unserer Versuchung ist ein anderer als der des Satans. So hat jede Versuchungslage ein doppeltes Gesicht. Wir haben es in ihr mit Gott und mit dem Satan zu tun. Darum ruft das Neue Testament einerseits zur Freude über die Anfechtung ( Jak. 1, 2f.), denn Gott zielt mit ihr auf Bewährung des Glaubens. Andererseits kennt das Neue Testament die Furcht vor der Stunde der Versuchung, weil in ihr der satanische Wille mächtig ist […]“ Althaus, Wahrheit, 394. 52 Althaus, Wahrheit, 395. 53 Althaus, Wahrheit, 398. 54 Althaus, Wahrheit, 401. 55 „Durch die Eigensucht machen wir uns das Leben miteinander zur Qual. Denn wir sind durch die Ordnungen, in denen das geschichtliche Leben verfaßt ist, zum Miteinanderleben gewiesen. Es soll erfüllt werden durch das Füreinander. Geschieht das nicht mehr, so ist das unentrinnbare Miteinander Qual, Fluch, Hölle. […] Entartet, weil die Gottesfurcht stirbt, das geschlechtliche Leben, wird die Ehe nicht mehr heilig gehalten, so frißt das an der Substanz der Völker. Zerbricht mit der Furcht Gottes das Rechtsbewußtsein und die Gewissenhaftigkeit, so erlahmen die entscheidenden Bindekräfte eines Staates. Das gemeinsame Leben erkrankt, verwahrlost, zersetzt sich.“ Althaus, Wahrheit, 401.

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das Leben verwundenden oder zerstörenden Schicksalen“56 hervortreten, sind keine Antwort auf individuelle sündliche Handlungen. Als Strafe Gottes stehen sie aber im Zusammenhang mit der allgemeinen Sünde. Einen Schuld-Strafe-Zusammenhang bei den freien Gerichtsakten lehnt Althaus ab.57 Gerade die freien Gerichtsakte können in der Realität des Leidens nur subjektiv als Strafe erkannt werden.58 Erst dann wird im Schicksal das reale Gericht Gottes auch als personales Gericht erlebt. Der Mensch erkennt in seinem Leiden einen Sinn. Er weiß sich auf die Probe gestellt, er kann sich im Glauben bewähren und gerade darin Gottes Gnade erfahren.59 Durch den Widerstand Gottes, der seine Schöpferliebe nicht aufhebt, kann der Mensch zur Buße und Umkehr geführt werden.60 Wie kommt es aber zur Erkenntnis der Sünde ? Althaus geht davon aus, dass bereits das Gesetz Erkenntnis der Sünde bringt. In seiner Ur-Offenbarung hat Gott den Menschen seinen Willen kundgetan, aber sie werden an dieser ursprünglichen Selbstbezeugung Gottes schuldig. Sie können Sünde und Schuld auch vor und außer dem Evangelium erkennen.61

56 Althaus, Wahrheit, 405. 57 „Man kann die Sünde nicht am Schicksal ablesen und bemessen. Die Verteilung des Leidens, der schweren Schicksale innerhalb der Menschheit entzieht sich aller ethischen Rationalisierung als Erweis der richterlichen Gerechtigkeit Gottes. Ihr Sinn ist undurchschaubar, Geheimnis Gottes.“ Althaus, Wahrheit, 405. 58 „Aber dieses objektive Straf-Verhängnis will zugleich subjektiv im Gewissen, von der Person erfahren werden und ist erst so ganzes Gericht Gottes. Wir sprechen hier von der Personalität des Gerichtes Gottes.“ Althaus, Wahrheit, 398. „Gegeben ist das Leiden, nicht das Gericht. Ob das außerordentliche Leiden besonderes Gericht ist oder nicht, das will durch ein Urteil des Gewissens erkannt sein. Und zwar des Gewissens des Betroffenen.“ Althaus, Wahrheit, 407. 59 „Hier sagen wir: ein besonderes Leidensschicksal muß nicht besonderer Zorn, sondern kann besondere Gnade sein, nichts als das. Gott mutet denen das Schwerste zu, die er – nach einem Worte Luthers – zu Helden machen will (WA 14, 448).“ Althaus, Wahrheit, 405. 60 „Gott läßt den Menschen auch in seiner Auflehnung nicht los. Er hält ihn fest und ‚sucht‘ ihn ‚heim‘ – und eben sein wirkendes Nein zu der Sünde ist der Erweis dessen. Dieses Nein, d. h. das Gericht Gottes zeigt freilich auch, daß Gottes Gebot und des Menschen Schuld nicht leere Worte und bloße Ideen sind, sondern harte Wirklichkeit zwischen Gott und Mensch.“ Althaus, Wahrheit, 396. 61 „Das Evangelium ist die Botschaft von der Vergebung der Sünden. Es redet die Menschen an auf ihre Schuld an Gott und auf ihre Verfallenheit an sein Gericht. Von Schuld kann aber im Ernste nur da gesprochen werden, wo die Wirklichkeit Gottes, sein Angebot und sein Gebot dem Menschen zuvor kund geworden ist, so kund, daß der Mensch darum wissen müßte; daß es Schuld ist, wenn er tatsächlich nicht mehr darum weiß. Sünde ist der Wider-Wille gegen Gott. Wider-Wille setzt voraus, daß Gottes Wille offenbar wurde. So schließt die Anrede des Menschen als sündig und schuldig die Anrede auf Gottes ursprüngliche Selbstbezeugung unmittelbar ein.“ Althaus, Wahrheit, 42.

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Eine Vollendung der Sündenerkenntnis bringt allerdings erst die Heilsoffenbarung Gottes in Jesus Christus.62 1.1.3. Vergebung als Tat der Liebe Gottes Für die Vergebung von Sünde und Schuld ist bei Althaus selbstverständlich die Rechtfertigung des Sünders der Ausgangspunkt. Auf paradoxe Weise wird der Sünder von Gott gerechtfertigt, ihm wird Gerechtigkeit und neue Geltung zugesprochen, obwohl und weil er diese Gerechtigkeit nicht mitbringt. In Gottes rechtfertigendem Handeln verbinden sich somit richterliches Urteil und väterliche Vergebung.63 Diese Paradoxie der Rechtfertigung kann durch das Verhältnis von Gesetz und Evangelium näher bestimmt werden, einem Verhältnis von Einheit und Gegensatz.64 Die Einheit von Gesetz und Evangelium kommt darin zum Ausdruck, dass das Evangelium die Gültigkeit des Gesetzes bestätigt und sogar noch verschärft. Im Gesetz fordert Gott den Gehorsam des Menschen, das Evangelium verschärft diese Forderung. Der Mensch aber ist ungehorsam oder er versucht, sich selbst zu rechtfertigen, er wird schuldig und verfällt damit dem Gericht Gottes. Das Evangelium kann aber den Menschen zunächst gar nicht anders denken als den Schuldigen und der Strafe Gottes Verfallenen. Damit setzt es die Gültigkeit des Gesetzes voraus und bestätigt sie.65 Dabei bleibt es aber 62 „Darin ist gewiß richtig, daß die Sünde in ihrer vollen Tiefe erst angesichts der Offenbarung der vergebenden Liebe Gottes in Jesus Christus erkannt wird. Hier erst vollendet sich die Erkenntnis der Sünde. Das Evangelium enthüllt vor allem auch – und damit führt es über alle Erkenntnis der Sünde vor und außer Christus hinaus – die Sünde der ‚Gerechten‘, die mit ihrer eigenen Gerechtigkeit vor Gott kommen zu können wähnen. So bekommt das Wissen um die Sünde durch Christi Kreuz eine Radikalität und Tiefe, die gegenüber aller sonstigen Erkenntnis der Sünde ein Neues bedeutet.“ Althaus, Paul: Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde: Zur Auseinandersetzung mit der exklusiv-christologischen Dogmatik. In: Solange es „heute“ heißt. Festgabe für Rudolf Hermann zum 70. Geburtstag/hg. von Paul Althaus/Ernst Barnikol/Horst Beintker u. a. Berlin 1957, 8. Althaus weist die exklusiv-christologische Argumentation Barths zurück, der Sündenerkenntnis nur in der Begegnung mit dem Evangelium denken kann. Vgl. Althaus, Gesetz, 7f; KD 4/1, 401ff. 63 „Der Gott, der uns seine Vergebung bereitet, ist und bleibt der Richter, auf dessen Urteil wir zu warten haben. Der Glaube sagt, daß Gott in seinem Vergeben sich uns als der Vater erweist. Der Begriff Rechtfertigung erinnert: über dem Vater darf der Richter nicht vergessen werden […].“Althaus, Wahrheit, 597. 64 „[…] im Begriffe der Rechtfertigung treten Gesetz und Evangelium in ihrer Einheit und in ihrem Widerstreite so wie in keinem anderen Ausdrucke für die Sache eng und hart zusammen. Das aber ist im höchsten Maße der Sache gemäß.“ Althaus, Wahrheit, 597. 65 „Die Rechtfertigung ist Vergebung. Sie kennt den Menschen nicht anders denn als den Schuldigen. Sie ist keine Entschuldigung, sondern sie anerkennt die Schuld und die Strafverfallenheit des Menschen. Damit gibt sie dem Gesetze recht. Denn das Gesetz ist

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nicht. Denn das Evangelium durchbricht das Gesetz, ohne es aufzuheben. Der sündige Mensch wird gerechtfertigt, indem Gott ihm Ehre und Würde als freies Geschenk seiner Liebe zuwendet. Gott verzichtet nicht auf die Gerechtigkeit des Menschen, er spricht sie ihm zu.66 So wird das Gericht Gottes zwar Gericht über den Sünder, aber gleichzeitig bringt es ihm Rechtfertigung.67 Das paradoxe Urteil Gottes kann nur im Glauben angenommen werden. Das schließt jede Art der Selbstrechtfertigung oder auch der Verzweiflung aus. Der Heilsglaube vertraut gegen allen Anschein auf die Zusage des Evangeliums. Andererseits entwickelt sich der Glaube aber auch am Gesetz, das die Sünde aufdeckt, Reue bewirkt und zur Buße drängt.68 Das Gewissen des Glaubenden lässt sich vom Gesetz erschüttern und vom Evangelium trösten. Althaus warnt allerdings davor, Gesetz und Evangelium zu verwechseln, indem man z. B. den Glauben als Bedingung für die Rechtfertigung in die Nähe menschlicher Werke rückt. „Die Rechtfertigung des Sünders geschieht auf die Weise, daß von dem Menschen überhaupt nicht gefordert wird. Würde gefordert, so das Ganze, also nicht nur die innerste Gesinnung und Haltung, sondern auch die Tat des Gehorsams.“69 es, das uns schuldig spricht. Ja, noch mehr: das Gesetz kommt erst im Evangelium voll zu Ehren und Geltung. Denn indem das Evangelium die Vergebung anbietet, besagt es: der Mensch hat keine andere Lebensmöglichkeit als sich vergeben zu lassen. Damit wird das Gesetz erst in seinem ganzen Ernste enthüllt, in der vollen Radikalität seines Forderns, kraft deren es zur Erkenntnis der Sünde und zu nichts anderem führt.“ Althaus, Wahrheit, 598. 66 „Rechtfertigung des Sünders – nicht durch übernatürliches Umschaffen zu einem neuen Sein, sondern durch das Geschenk einer neuen Geltung, Ehre, Würde unbeschadet dessen, daß der Mensch kein anderer ist als der Sünder, kein neuer, sondern der selbe und alte. Dieser Mensch, kein anderer, wird als ‚gerecht‘ von Gott in die Gemeinschaft seiner Liebe aufgenommen.“ Althaus, Wahrheit, 599. 67 „Das Evangelium ist also mit dem gleichen Ernste wider die Sünde gerichtet wie das Gesetz. Der Unterschied ist dieser: unter dem Gesetze ist Gottes Nein zur Sünde zugleich das Nein wider den Sünder; unter dem Evangelium wird das Nein zur Sünde als Erweis des Ja Gottes zum Sünder erfahren. Das ist Friede mit Gott mitten im Gerichte. Die Rechtfertigung des Sünders ist also wohl das Ende des Verstoßungsgerichtes, aber zugleich die Vollendung des heilsamen Richtens Gottes, mit dem er uns in unserem Sosein in den Tod gibt.“ Althaus, Wahrheit, 600. 68 „Sofern das Evangelium an dem Gesetze seine bleibende Voraussetzung hat, kommt auch der Glaube von dem Gesetze her. Das bedeutet: er ist untrennbar von der Buße, d. h. von der Erkenntnis und dem Bekenntnis unserer Sünde, von dem Leid um sie, von der Furcht vor Gottes Zorn, von der willigen Beugung unter sein Gericht, von dem Verlangen nach Reinheit des Herzens. Der Glaube wohnt allein in einem erschütterten Gewissen, das sich aus der Sünde heraussehnt. Würde dem Glauben dieser Zug fehlen, dann wäre er nicht mehr im wahren Sinne Glaube an das Evangelium. Denn er würde das Gesetz verleugnen. Das Evangelium aber ist nicht zu denken ohne die Voraussetzung des Gesetzes.“ Althaus, Wahrheit, 601. 69 Althaus, Wahrheit, 604.

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Verankert Althaus die Hamartiologie bereits in der Schöpfungstheologie, so schlägt er auch in der Soteriologie wieder die Brücke zum Schöpfungswerk Gottes. „Wir haben die Rechtfertigung allein durch den Glauben nicht nur von dem Tatbestande der Sünde her, hamartiozentrisch, zu verstehen, sondern zugleich theozentrisch, als Ausdruck von Gottes Gottsein. Sie ist nicht erst Gottes zweiter, durch den Fall bedingter, sondern sein ursprünglicher, erster Wille. Das Evangelium, die einzige Heilsmöglichkeit für die Sünder, setzt zugleich das ursprüngliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder in Kraft, von dem abgefallen zu sein die Grundsünde des Menschen ist.“70 Daraus folgt, dass die Rechtfertigung des Geschöpfes noch vor der Rechtfertigung des Sünders steht.71 Die Frage nach dem Ereignis der Rechtfertigung beantwortet Althaus unter Berücksichtigung der objektiven und der subjektiven Seite des Rechtfertigungsgeschehens. Objektiv sind wir Menschen „mit Jesu Kreuz und Auferstehung“ gerechtfertigt.72 Aber subjektiv ereignet sich die Rechtfertigung im Geschenk des Glaubens, „der Christus im Evangelium ergreift und darin die Rechtfertigung hat.“73 Rechtfertigung lässt sich deshalb nicht auf einen bestimmten Moment im Leben des Christen festlegen, sondern der rechtfertigende Akt Gottes in Jesus Christus geschieht immer wieder in der Aneignung des Evangeliums durch Wort und Sakrament.74 Mit der traditionellen lutherischen Theologie versteht Althaus die Rechtfertigung im forensischen Sinn – sie versetzt den Sünder in eine neue Geltung. Die Versetzung in ein neues Sein wird begrifflich davon

70 Althaus, Wahrheit, 605f. 71 „Nicht erst der Sünder, sondern schon der Mensch als solcher und ursprünglich lebt allein von der Gnade.“ Althaus, Wahrheit, 606. Ähnlich argumentiert Althaus bereits unter Berufung auf Luther in: Althaus, Paul: Gottes Gottheit als Sinn der Rechtfertigungslehre Luthers. LuJ 13 (1931), 1–28. In: Althaus, Paul: Theologische Aufsätze. Bd. 2. Gütersloh 1935, 1–30. 72 Althaus, Wahrheit, 606. 73 Althaus, Wahrheit, 607. 74 „[…] das Handeln Gottes in Jesu Tod und Erweckung ist nicht Vergangenheit, sondern vergegenwärtigt sich uns an jedem Orte des Geschichtsraumes durch Gottes Handeln mit uns im Evangelium, in Verkündigung, Absolution, Sakrament. Der eine an Christus gebundene Akt Gottes ist – die Scheidung von Vergangenheit und Gegenwart überwindend – mir in Zuspruch und Zueignung durch das verkündigte und gehandelte Evangelium gegenwärtig. So kann auf die Frage nach dem Wann geantwortet werden: ich bin in meiner Taufe gerechtfertigt; aber auch: jetzt, im Vernehmen des mich meinenden Wortes; heute, im Empfang des Abendmahls. Nicht daß es sich dabei um immer wieder neue Akte Gottes handelte, auch nicht um eine Wiederholung des ersten Aktes; sondern es ist immer der eine und selbe Akt Gottes, der mir geschichtlich jeweils in meiner Gegenwart begegnet – nie in einem einzelnen historischen Momente, auch nicht in der Taufe, ausschließend zu lokalisieren. Sein Ort ist Christus; er geschieht, wo Christus da ist; er besteht darin, daß Christus für uns da ist.“ Althaus, Wahrheit, 606f.

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unterschieden.75 Dadurch wird ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass Gottes rechtfertigendes Urteil an erster Stelle steht und die Erneuerung des Seins daraus folgt, also keine Bedingung für die Rechtfertigung ist. Dennoch sind beide, Vergebung und Erneuerung, im Wollen und Handeln Gottes zusammengeschlossen.76 Weil Gott dem Menschen vergibt, kann der Sünder neues Leben gewinnen. Die Rechtfertigung zielt also auf die Erneuerung hin. Diese Erneuerung drückt sich in den Lebensäußerungen, im Werk, im Tun des Menschen aus. Das Werk ist nicht nur Frucht, sondern auch Vollzug des Glaubens.77 Und in diesem Sinn kann die Rechtfertigung auch vom neuen Sein her gesehen werden, sie lässt sich nicht denken ohne das Ziel der Erneuerung. Dabei ist aber festzuhalten: „Die Rechtfertigung ist ein Totalurteil; das neue Sein des Sünders aber ist ein bruchstückhaftes.“78 Althaus weist deshalb die pietistische Auffassung von einem notwendigen einmaligen Akt der Bekehrung in jedem Christenleben zurück. Bekehrung hat für ihn prozessualen Charakter und muss auch dort immer wieder geschehen, wo Menschen ein „Bekehrungserlebnis“ hatten.79 „Wir sind als Glaubende ein neuer Mensch geworden. Aber der Wiedergeborene oder Bekehrte ist nicht nur, nicht total neuer Mensch, sondern zugleich noch der alte. Der Christ ist alter und neuer Mensch in einem.“80 Deshalb hat der Mensch immer wieder die Vergebung Gottes nötig. Deshalb kann er sich täglich im Glauben neues Sein schenken lassen und altes Wesen ablegen. Das neue Leben gelingt aber nur fragmentarisch, der Mensch bleibt auf die Hoffnung einer voll75 Die frühlutherische Auffassung hatte den Begriff der Rechtfertigung noch in der Doppelheit von forensischem und effektivem Sinn verstanden. Vgl. Althaus, Wahrheit, 635. 76 „Andererseits muß die Dogmatik, wenn sie aus guten Gründen nicht einen, sondern zwei Begriffe für das Handeln Gottes an dem Sünder verwendet, darauf sehen, daß die begriffliche Unterscheidung nicht zur Trennung oder Lösung wird. Die Vergebung und die Erneuerung des persönlichen Seins stehen in einem unlöslichen Zusammenhange miteinander, in der Einheit eines und desselben Willens und Aktes Gottes.“ Althaus, Wahrheit, 635. 77 „[…] die rechte Heilsgewißheit wird nicht mehr nur am Werke erkannt, sondern in ihm als dem Vollzuge des Glaubens erlebt. Der Glaube, in dem wir uns an Gottes Liebe hingeben, existiert nicht anders als in der immer neuen konkreten Verwirklichung seiner selbst inmitten der Welt, also in der Tat, in bestimmten Akten: in der Tapferkeit, Geduld, Freiheit gegenüber der Welt, Freudigkeit in der Bedrängnis, Liebe zu den anderen. Das Tun kommt nicht zu dem Glauben als ein Zweites hinzu, sondern ist die Gestalt, in der allein der Glaube lebendig ist.“ Althaus, Wahrheit, 648f. 78 Althaus, Wahrheit, 635. 79 Vgl. Althaus, Wahrheit, 641. „Die Bekehrung ist für das Christenleben unerläßlich nicht als sein zeitlicher Beginn, sondern als sein wesentlicher Grundakt. Als solcher besteht sie nicht in der einmaligen Abkehr von dem, was wir einmal waren, sondern in der grundsätzlichen und stets gegenwärtigen Abkehr von dem, was wir von Natur jederzeit sind.“ Althaus, Wahrheit, 640. 80 Althaus, Wahrheit, 641.

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kommenen, eschatologischen Erneuerung angewiesen.81 Ein Gedanke verdient hierbei, noch festgehalten zu werden. Urteil und Vergebung Gottes beziehen sich für Althaus nicht nur auf die jeweils gegenwärtige Situation des Menschen. Sie nehmen immer das gesamte Sein des Menschen, auch das vergangene, in den Blick.82 Gottes Vergebung erstreckt sich damit auch auf die Vergangenheit des Menschen.83 Besonders wichtig sind nun im Rahmen dieser Arbeit Althaus’ Ausführungen, die er direkt oder indirekt zur Sündenvergebung im Gottesdienst macht. Grundlegend ist für ihn, dass Vergebung der Sünde im Evangelium zugesprochen und zugeeignet wird. Das Evangelium erreicht Menschen gerade im Gottesdienst in unterschiedlicher Gestalt – im Wort und im Sakrament. Vergebung empfängt der glaubende Mensch deshalb sowohl im Sakrament der Taufe oder des Abendmahls als auch „im Vernehmen des mich meinenden Wortes“ der Predigt oder der Absolution.84 Die Sakramente sind gehandeltes, das andere verkündigtes Evangelium. Bei beiden sind Gabe und Wirkung gleich – „nämlich die Vergebung der Sünden mit allem, was sie bedeutet.“85 81 „Das neue Leben ist Bruchstück. Die Rechtfertigung, die neue Ehre bei Gott hat Ganzheit, die Erneuerung auf Erden nicht. Auch aus diesem Grunde ist es geraten, den Begriff der Rechtfertigung nicht in dem Doppelsinne der neuen Geltung und des neuen Seins anzuwenden, sondern nur in ersterem Sinne. […] Endlich wird hier vollends klar, wie wenig unser neues Sein den Grund der Rechtfertigung abgeben kann. Es ist bis zum Schlusse gebrochenes, von dem alten Wesen beflecktes Sein. Als solches bedarf es fortdauernd, bis zum letzten Tage, der Vergebung Gottes, am Ende so gut wie am Anfange. Aber eben diese dem Glaubenden immer wieder völlig gewährte Vergebung macht der kommenden völligen Erneuerung gewiß. Die hier gegebene Verheißung erfüllt sich ganz erst durch den Tod, durch den Eingang in das ewige Leben bei Gott. Der Rechtfertigungsglaube wird notwendig zum Hoffen.“ Althaus, Wahrheit, 642. 82 Althaus wehrt damit u. a. das analytische Verständnis des Rechtfertigungsurteils z. B. bei Karl Holl ab. Danach würde Gott eine Gerechtigkeit feststellen, die wir tatsächlich haben. Vgl. Althaus, Wahrheit, 636. 83 „[…] die Rechtfertigung hat es nicht nur mit dem jeweiligen Sein des Menschen, sondern auch mit seinem Getanhaben und Gewesensein zu tun. Gott verurteilt den Menschen nicht nur wegen dessen, was er jetzt ist, sondern auch wegen dessen, was er war und was er getan hat. Entsprechend ist Gottes Freispruch auch dann, wenn er einem inzwischen gerechtgewordenen, entsündigten Menschen gilt, zugleich immer noch Vergebung seiner Vergangenheit.“ Althaus, Wahrheit, 636. Diese Argumentation lässt die heute weithin unverständliche Formulierung der Offenen Schuld aus Dresden 1581 „[…] bekenne dir alle meine Sünde Vnd Missethat, Damit Ich dich jemalß [eigene Hervorhebung] erzörnet […]“ in einem anderen Licht erscheinen (s. Anh. Nr. 32). 84 Vgl. Althaus, Wahrheit, 536ff; 606f. 85 Althaus, Wahrheit, 543. Althaus wendet sich gegen alle Versuche, Wort und Sakrament in ihrem Gehalt und ihren Wirkungen zu unterscheiden. Vgl. Althaus, Wahrheit, 543ff. Heilsnotwendig ist für ihn das Evangelium. Er kann sogar sagen: „Aber das heißt nicht, daß jemand durch das Entbehren der Sakramente des Heiles verlustig ginge. Das Evangelium, durch das er selig wird, ist ihm auch auf andere Weise als durch die Sakramente nahe und kann von ihm auch ohne die Sakramente im Glauben ergriffen

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Das Abendmahl hat nach Althaus als Sakrament einen zweifachen Sinn. Als besondere Gestalt des Evangeliums eignet es Vergebung der Sünde zu und begründet Gemeinschaft mit Gott.86 Als Sakrament der Liebe beruft es die Christen in die communio der Heiligen, es konstituiert die Gemeinde, die Kirche.87 Weil Jesus sich im Abendmahl in Liebe an seine Jünger hingibt, kann er auch Hingabe und priesterliche Stellvertretung der Seinen untereinander und füreinander erwecken und erwarten.88 Althaus bedauert, dass der Sinn individuell erlangter Sündenvergebung den übergeordneten Sinn der Begründung von Gemeinschaft im Abendmahl überdeckt und fordert entsprechende liturgische Änderungen. „Die neue theologische Erkenntnis seines ‚sozialen‘ Sinnes als Pfand der Gemeinschaft muß auch liturgisch fruchtbar gemacht werden. Das Sakrament muß wieder auch in der Gestalt der Feier als das erscheinen, was es seinem Wesen nach ist: Mahl der Kirche, Grund und Mitte ihres Lebens als Gemeinde. Die Abendmahlsfeier muß mehr sein als ‚zusammengelegte Privatkommunionen der einzelnen‘.“89 Die einzigen Bedingungen für die rechte Feier des Abendmahls bestehen in der Wiederholung der Mahlzeit und im wiederholten Sprechen der verba testamenti. Die Gabe der Gegenwart Christi im Mahl ist unabhängig vom Glauben der Empfangenden. Unvollkommener Glaube und mangelnde Würdigkeit dürfen nicht zu Hindernissen für den Empfang von Gottes Gabe werden. Im Gegenwerden. So ist das Sakrament als eine besondere Gestalt des Evangeliums nicht in der gleichen Weise unentbehrlich für uns wie das Evangelium selbst.“ Althaus, Wahrheit, 545. 86 „Jesus Christus, der Lebendige, ist nach seinem Stifterwillen in der Handlung des Abendmahls gegenwärtig und eignet den Teilnehmern seine in den Tod gegebene geschichtliche Lebendigkeit, sein ‚Fleisch und Blut‘ in diesem Sinne zu, also sich selbst als den Christus für uns. Er gibt ihnen Anteil an dem Ertrage seines Todesopfers, an der durch ihn, den für uns Gestorbenen und Lebendigen, begründeten Gemeinschaft mit Gott in Vergebung der Sünde. Fragt man, was das über die Verkündigung hinaus sei, so müssen wir auf die allgemeine Sakramentslehre verweisen: das Sakrament des Abendmahls ist verbum actuale. Es gibt nicht eine besondere Gabe über das verkündigte Evangelium hinaus, sondern die eine und selbe Gabe, die Gegenwart Christi, die Gemeinschaft mit Gott in besonderer Weise.“ Althaus, Wahrheit, 588f. 87 „So ist das Evangelium für uns zum Heile absolut unentbehrlich, die Sakramente aber als besondere Gestalt des Evangeliums nur relativ unentbehrlich. Absolut unentbehrlich sind sie aber für die Kirche als Gemeinde in dieser Welt, daher auch für den einzelnen Christen, sofern er Glied der Gemeinde sein soll.“ Althaus, Wahrheit, 546. 88 „Das Abendmahl verbürgt nicht nur das Opfer Christi, das er vor uns allen für uns bringt, sondern auch das Opfer, in dem er sich durch die Seinen immer neu an die Not seiner Brüder hingeben will. So ist das Abendmahl das Sakrament der Gemeinde, als deren innere Gestalt wir das Priestertum, die Stellvertretung füreinander kennenlernten. Es verpfändet mir nicht nur die Gemeinschaft, die Christus mit mir hält, sondern verbürgt auch die Gemeinschaft der anderen mit mir und bindet mich zu der Gemeinschaft mit ihnen.“ Althaus, Wahrheit, 591. 89 Althaus, Wahrheit, 591f.

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teil: im Abendmahl sollen der Glaube gestärkt und Würdigkeit zugeeignet werden.90 Davon muss der leichtfertige und ungläubige Empfang des Sakraments unterschieden werden, der statt der Liebe Christi Zorn und Tod zu erwarten hat.91 Ausführlich geht Althaus auch auf die Absolution ein.92 Er hebt hervor, dass die Absolution nur einen Spezialfall der Verkündigung darstellt und dass das Wort der Vergebung ebenso „im Hören der Predigt, durch den Empfang des Sakramentes, im Lesen der Bibel, im Singen aus dem Gesangbuche“ ergriffen werden kann.93 Nur Einzelbeichte und Einzelabsolution sind für Althaus Beichte im Vollsinn des Wortes.94 Er beklagt den Niedergang dieser Beichtform,95 betont aber gleichzeitig, dass sie nicht zur Verpflichtung gemacht werden kann.96 Auch die Bindung der Absolution an das ordinierte Amt beurteilt er kritisch. Unter Berufung auf Luther sieht er die Vollmacht der Schlüssel in die Hand der gesamten Christenheit gelegt. Die Vollmacht des Amtes tritt für ihn hinter die geistliche Vollmacht einzelner Christen zurück.97 Diese Vollmacht ist an 90 „Der Glaube muß die Wirklichkeit der Gabe von sich selbst unabhängig wissen. Sie ist für den Glauben da, aber sie kommt nicht erst durch den Glauben zustande. Der Satz vom Genuß der Ungläubigen bedeutet, daß wir als Gäste des Abendmahls befreit sind von aller Reflexion auf die eigene Gläubigkeit als Bedingung des Empfangs der Gabe Gottes. Wir dürfen auch als die ‚Ungläubigen‘, die wir immer wieder sind, glauben, daß uns hier das Heil bereitet ist und mitgeteilt wird.“ Althaus, Wahrheit, 590. 91 Vgl. Althaus, Wahrheit, 590. 92 Vgl. „§ 54. Das Amt der Schlüssel“, Althaus, Wahrheit, 530ff. 93 Althaus, Wahrheit, 531. 94 „[…] es ist natürlich nur von der Privatbeichte mit konkretem Bekenntnis die Rede, sie allein ist wirkliche Beichte“. Althaus, Wahrheit, 531. 95 „Es bedeutet eine schlimme Verarmung, daß die evangelischen Kirchen von heute das Amt der Schlüssel fast nur noch in der Gestalt der liturgischen Absolution nach der allgemeinen Beichte kennen. Es gehört mitten in die konkrete Seelsorge als ihre eigentliche Tiefe, als ihre höchste Vollmacht.“ Althaus, Wahrheit, 535. 96 „Die private Beichte und Absolution ist Hilfe und Geschenk, nicht Gesetz und Zwang. Der Ernst des Beichtens ist nicht unbedingt gebunden an das Beichten vor dem Menschen, wie die Gruppenbewegung sagt. Das gilt oft für Sünden aneinander; sie sollen wir einander bekennen; aber es gilt nicht allgemein. Auch die Beichte, die in dem einsamen Gebet ohne Zeugen vor Gott gebracht wird, kann den vollen Ernst haben; manches vermag man nur Gott zu beichten.“ Althaus, Wahrheit, 531. 97 „Luther hat das Neue Testament mit Recht […] so verstanden, daß auch die Schlüsselgewalt jedem Christen verliehen ist, also die Absolution mit Bezug auf alle Sünden des anderen. Wenn die Lehre vom kirchlichen Amte dazu nicht Ja sagt, dann wird sie unevangelisch, gesetzlich. Denn dann sieht sie auf die Person und auf die Ordnung der Kirche statt allein auf das Wort selbst, das den, der zu mir spricht, autorisiert, mag er Träger des kirchlichen Amtes sein oder nicht. Wer die Beichte und Absolution begehrt, fragt nicht nach dem verordneten Diener als solchem, sondern nach dem ernsten und erfahrenen Christenmenschen, der die Vollmacht hat, Beichte zu hören und das Evangelium so zu sagen, daß das Gewissen es als Gottes Wort zu hören vermag.“ Althaus, Wahrheit, 536.

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den Heiligen Geist gebunden. Im Zuspruch oder in der Zurechtweisung kann somit Gottes Vergebung oder Urteil gehört werden. In lutherischer Tradition ist die Absolution nicht nur deklarativ, sondern dort, wo wirklich Vergebung begehrt wird, exhibitiv zu verstehen. Die Absolution wird also zunächst angesagt und verkündigt, das „erschrockene Gewissen“ darf aber die Vergebung wirklich als von Gott mitgeteilt ergreifen.98 1.1.4. Kritische Würdigung In erstaunlicher Weise gelingt es Althaus immer wieder, das lutherisch-reformatorische Erbe aufzunehmen und in kritischer Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition dogmatische Aussagen neu zu interpretieren. Dabei spart er weder den Satan noch die Dämonen aus (s. o. 152f). Für die kritische Aneignung der dogmatischen Tradition haben die Erkenntnisse historisch-kritischer Exegese eine große Bedeutung. Die Rückbindung an die Schrift ist für Althaus immer entscheidend. So kommt es, dass er in manchen Punkten über die altlutherische Lehre hinausgeht, andererseits aber auch verschüttete Einsichten Luthers wieder freilegt.99 Sprachlich und begrifflich setzt Althaus dagegen kaum neue Akzente. Er verwendet fast durchweg die traditionelle religiöse Begrifflichkeit100 und erleichtert damit vielen Zeitgenossen nicht unbedingt den Zugang zur Rede von Sünde und Vergebung. Während Althaus’ dialektisches Reden von Sünde und Vergebung homiletisch noch recht gut fruchtbar gemacht werden kann, sind neue Impulse für die Gestaltung liturgischer Texte nur in begrenztem Maß vorstellbar. Die schöpfungstheologische Verankerung der Sündenlehre und der Aufweis von Beziehungen der Lehre von der Erlösung zur Schöpfungstheologie verfolgt konsequent einen Ansatz von Althaus, der sich bereits in seiner Lehre von der Ur-Offenbarung ausdrückt.101 Sündenerkenntnis gibt es nicht erst seit und mit Jesus Christus, allerdings kommt sie in der Christusoffenbarung zur Vollendung (s. o. 155f). Dass die spezielle Sicht98 Althaus rät trotzdem zur vorsichtigen Verwendung indikativer Absolutionsformeln, da sie u. U. eine bedingungslose Vergebung suggerieren können. „Sie [die Absolution, T. B.] kann in keinem Falle, welche Formel man auch verwende, den Sinn des bedingungslosen richterlichen Entscheides durch den Beichtiger haben. Er muß, da er nicht in das Geheimnis zwischen seinem Beichtkinde und Gott schaut, immer vorbehalten, daß da, wo er Vergebung verkündigt, Gott nicht, noch nicht vergibt (weil das Herz unbußfertig, heuchlerisch ist); oder daß da, wo er die Vergebung verweigern zu müssen meint, Gott doch vergibt.“ Althaus, Wahrheit, 534. Wie das praktisch aussehen könnte, sagt Althaus nicht. 99 Vgl. Kühn, Ulrich: Sakramente. Gütersloh 1985, 146ff. (HST; 11) 100 Eine Ausnahme ist der Begriff der „Erbsünde“, den er durch den Begriff „Personsünde“ ersetzt wissen will, s. o. 149ff. 101 Vgl. Althaus, Wahrheit, 35ff.

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weise von Ur- und Christusoffenbarung nicht unproblematisch ist, zeigt sich an den Auswirkungen auf die Rechtfertigungslehre (s. u. 165).102 In der schöpfungstheologischen Argumentation bezieht sich Althaus vor allem auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen.103 Für das Weitere ist von Bedeutung, dass die Aussage von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Bestimmung von Sünde als Widerspruch gegen Gottes Willen Althaus zu einer zweidimensionalen Gestaltwerdung von Sünde führt. Auf Gott bezogen äußert sich die Sünde im Unglauben, auf den Mitmenschen bezogen in der Lieblosigkeit (s. o. 148f). Wenn auch nachgewiesen werden konnte, dass in der Lieblosigkeit durchaus auch das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt Platz findet (s. o. Anm. 20), erfassen diese Dimensionen doch nicht alle Bereiche menschlichen Lebens, in denen Sünde Gestalt annimmt. So bleibt beispielsweise das Verhältnis des Menschen zu sich selbst ebenso ausgespart wie das Verhältnis des Menschen zu der von ihm geschaffenen Welt der Technologie und der Kultur.104 Aber auch in diesen Bereichen kann sich Sünde verwirklichen – heute möglicherweise ausgeprägter als in früheren Zeiten. Die zwei Dimensionen der Gestalt von Sünde geben nur eine sehr allgemeine und statische Beschreibung dessen, was Sünde ist.105 Sollen Sünden konkreter benannt werden, so besteht die Gefahr, moralisch von Sünde zu reden und die spezielle Situation des Menschen nicht hinreichend zu berücksichtigen. Dieser Gefahr erliegt Althaus auch stellenweise, wobei sein Wertekonservatismus noch einen besonderen Akzent setzt.106 Die Beschreibung von Sünde gegenüber dem Nächsten als Lieblosigkeit ist noch am einleuchtendsten im überschaubaren zwischenmenschlichen Bereich. Sie versagt dort, wo sich Sünde in komplexen sozialen Zusammenhängen auswirkt und menschliche Handlungen nicht intendierte Folgen haben.107 Althaus’ Forderung in diesem Zusammenhang, Sünde nicht 102 Vgl. Peters, Albrecht: Der Mensch. Gütersloh 21994, 152. (HST; 8) 103 Zu Recht ist darauf verwiesen worden, dass die Schriftgrundlage für diese traditionelle Lehre recht schmal ist und die Exegeten zu einem sehr breiten Spektrum von Interpretationen kommen können. Vgl. Dziewas, Sünde, 97f (Anm. 215). 104 Vgl. Dziewas, Sünde, 98f. 105 „Die Vorstellung einer schöpfungsmäßigen Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit ist allerdings recht statisch. Sie unterstellt einen einmaligen, unveränderlichen Schöpferwillen Gottes für den Menschen, der von den konkreten Situationen, in denen ein einzelner Mensch lebt, unabhängig ist. Es kommt nicht Gottes Plan für den einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Situation in den Blick, sondern Gottes unveränderlicher Wille für die Spezies Mensch. Eine derart statische Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit kann nur insoweit die ganze Bandbreite menschlicher Lebenssituationen erfassen, als sie unspezifisch und unkonkret bleibt.“ Dziewas, Sünde, 99. 106 Z. B. hinsichtlich seines Redens über Sünde in Bezug auf geschlechtliches Leben, Ehe, Gewissenhaftigkeit und staatliche Ordnung, s. o. Anm. 55. 107 „Während die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott, den Mitmenschen und der Natur im direkten Wirkungsbereich des Menschen als Kriterium für die Unter-

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spekulativ begreifen zu wollen, sondern die Gestalt dieser Welt in das persönliche Schuldbewusstsein aufzunehmen, kann nicht restlos zufrieden stellen.108 Obwohl Althaus hinsichtlich des Daseinsgesetzes und der Strukturen dieser Welt die persönliche Schuld betont (s. o. S. 150ff), klingt dem gegenüber die Rede von den Dämonen, die im Reich der Sünde am Werk sind, sehr fatalistisch (s. o. Anm. 42 bis 46). In dem Zueinander von Schöpfungs- und Heilsoffenbarung gewinnt der Begriff der Erlösung eine große Weite (s. o., Anm. 71).109 Rechtfertigung ist nicht nur an die Christusoffenbarung geknüpft, sie ist hineingespannt in das gesamte Schöpfungsgeschehen. Althaus entgeht dabei spekulativen Aussagen, indem er das Gericht nicht einfach ausblendet, sondern ausdrücklich darauf verweist (s. o., Anm. 63).110 Heilsuniversalistisch interpretierte Schriftstellen geben Althaus die Hoffnung, dass Rechtfertigung und Heil nicht unbedingt an eine Begegnung mit dem Evangelium gebunden sind.111 Immer wieder wird der Geschenkcharakter der Vergebung betont und jeder Verdienstgedanke in diesem Zusammenhang zurückgewiesen. So sehr die Rechtfertigung auf Erneuerung hinzielt, so unvollkommen und bruchstückhaft bleibt das neue irdische Sein der Wiedergeborenen. Es bleibt in einem ständigen Prozess immer wieder neu auf Vergebung angewiesen. Diese Vergebung wird im Evangelium zugesprochen und zugeeignet. Priorität hat dabei das „verkündigte Evangelium“ in seinen scheidung von gottebenbildlichem und sündigem Handeln dienen kann, verliert dieses Kriterium im globalen Maßstab seine Unterscheidungsfähigkeit. Jeder Akt liebender Zuwendung ist auf der anderen Seite ein Akt verweigerter Nächstenliebe. Eine Spende zugunsten einer örtlichen Obdachlosenhilfe ist zugleich eine den Armen in der dritten Welt verweigerte Gabe und eine Spende für die Welthungerhilfe ist eine den Armen der nächsten Umgebung nicht zugewendete Hilfe.“ Dziewas, Sünde, 101f. 108 S. o. Anm. 35 und 36. 109 Vgl. Peters, Albrecht: Rechtfertigung. Gütersloh 1984, 197. (HST; 12) 110 Diese Auffassung wird in etwas anderer Weise auch von Gerhard Gloege in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Gnade für die Welt“ 1963 in Helsinki vertreten. „Rechtfertigung meint ursprünglich ein Weltgeschehen, in dem Gott dem einzelnen wie der Menschheit im Rahmen der gesamten Schöpfung seine Gerechtigkeit widerfahren lassen will.“ Gloege, Gerhard: Gnade für die Welt. In: Helsinki 1963: Beiträge zum theologischen Gespräch des Lutherischen Weltbundes/hg. von Erwin Wilkens. Berlin/ Hamburg 1964, 307. „Diese neue um Christi willen uns zugesprochene Gerechtigkeit Gottes widerfährt auch uns als Einheit von Gericht und Gnade. Gott waltet auch an uns als Richter und Retter.“ Gloege, Gnade, 320. 111 „Aber diese kommende Offenbarung Christi an jeden wird nicht nur Vollendung und Erfüllung des Glaubens der Gemeinde sein, nicht nur Gericht über die, welche ihm nicht glaubten (Offb. 1, 7), sondern darüber hinaus ein ganz Neues bringen: das Heil über die Grenzen der Gemeinde hinaus, die Rettung auch derer, die Christus auf Erden noch nicht begegnet sind, oder nicht an ihn geglaubt haben. So erbitten und erhoffen wir es von der allumfassenden Liebe Gottes, die uns selber das Heil im Glauben bereitet hat.“ Althaus, Wahrheit, 673.

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unterschiedlichen Gestalten – vom Choral bis hin zum persönlich zugesprochenen lösenden Wort in der Einzelbeichte. Althaus steht damit ganz in der Tradition Luthers ebenso wie in der Hervorhebung der ekklesiologischen Bedeutung der Sakramente als „gehandeltes Evangelium“. Er wird dadurch zu einem wichtigen Gewährsmann für die Befreiung des Abendmahls aus einer jahrhundertelangen Engführung.112 Im Mahl der Kirche ergeht das verbum actuale an den Menschen und ruft ihn in die Gemeinde. Im Glauben antwortet er auf die heilvolle Zuwendung Gottes und lässt sich hineinverwickeln in die liebende Hingabe an andere. 1.1.5. Impulse für die Liturgik Man kann von einem systematischen Gesamtentwurf nicht erwarten, dass er eine Theorie des Gottesdienstes entwickelt und Antwort auf konkrete liturgische Fragen gibt. Aber man kann sehr wohl davon ausgehen, dass ein dogmatisches System auch Impulse für die Gestaltung von Gottesdiensten gibt. Bei Althaus ist dies ohne größere Schwierigkeiten zu erheben, zumal er sich speziell mit Themen der Liturgik auseinandergesetzt hat. 113 Der Mensch ist als Geschöpf Bild Gottes und doch gleichzeitig Sünder. Um wahres Sein zu finden, ist er in die Gemeinschaft mit Gott gerufen (s. o. 146f). Der Vollzug dieser Gottesgemeinschaft ist für Althaus das wichtigste Wesensmerkmal des Gottesdienstes.114 Und deshalb kann und darf das Thema „Sünde“ im Gottesdienst nicht ausgespart bleiben. In der Verkündigung des Wortes Gottes – in den Forderungen des Gesetzes und im Vergebungsangebot des Evangeliums – wird der Mensch mit seiner 112 Vgl. Kühn, Sakramente, 159f. 113 Althaus äußert sich zur Theorie des Gottesdienstes ausführlich in seiner Schrift „Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes“. Darin wendet er sich gegen die einseitige Beschreibung des Gottesdienstes als „wirksames Handeln“ in der von Luther herkommenden pädagogischen Konzeption ebenso wie gegen die auf Schleiermacher zurückgehende Beschreibung als zweckfreies „darstellendes Handeln“. Althaus, Paul: Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes. Gütersloh 21932, 44ff. Eine überzeugende Lösung sieht er auch nicht in einer einfachen Addition beider gegensätzlicher Positionen, sondern in dem Verständnis des Gottesdienstes auf einer anderen Ebene als Vollzug der Gottesgemeinschaft. Zweckfreiheit und Wirkung gehen im Vollzug der Gemeinschaft mit Gott ineinander. „Gott will durch unser gottesdienstliches Tun handeln. Nicht um Erziehung Unmündiger, nicht um Darstellung der Gottesgemeinschaft geht es, sondern um ihren Vollzug, um Gottes gnädiges Tun, darum, daß Gott der Gemeinde durch sein Wort jetzt und hier die Gemeinschaft mit ihm neu auftut und die Gemeinde dazu erweckt, die Gemeinschaft im Glauben neu zu ergreifen, betend, bekennend, gelobend.“ Althaus, Wesen, 49f. 114 „Nicht von der Gestaltung des Gottesdienstes im einzelnen, sondern nur von seinem Wesen wollen wir im folgenden reden. Wir können dabei von nichts anderem ausgehen als von einer Erinnerung an die Eigenart evangelischen Christentums. Wenn unser Glaube sich in einem Satze aussprechen soll, so mag er etwa lauten: Gott hält Gemeinschaft mit der sündigen Menschheit durch Jesus Christus.“ Althaus, Wesen, 11.

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Sünde und Schuld konfrontiert. Zumindest implizit kommen also Sünde und Schuld immer im Gottesdienst zur Sprache. Es reicht aber nicht aus, in jedem Gottesdienst nur das Wort von der Vergebung anzubieten – „im Hören der Predigt, durch den Empfang des Sakramentes, im Lesen der Bibel, im Singen aus dem Gesangbuche“ (s. o. Anm. 93). Denn der Glaube – auch der Glaube an die Vergebung – „wohnt allein in einem erschütterten Gewissen, das sich aus der Sünde heraussehnt“ (s. o. Anm. 68). Deshalb muss der Mensch seine Sünde bekennen, seine Schuld eingestehen, bevor er das Wort der Vergebung ergreifen kann. Auch wenn Althaus das „Amt der Schlüssel“ nur in der Einzelbeichte richtig aufgehoben sieht (s. o. Anm. 94), scheint für ihn doch ein ausdrückliches Sündenbekenntnis zum Gottesdienst dazuzugehören.115 In diesem Zusammenhang ist ihm sicher auch wichtig, dass die Absolution nicht „den Sinn des bedingungslosen richterlichen Entscheides durch den Beichtiger“ erhält (s. o. Anm. 98). Für die allgemeine Beichte muss dann besonders gelten, dass auf das allgemeine Sündenbekenntnis hin die Absolution unter dem Vorbehalt ehrlicher Buße als Gottes Vergebung mitgeteilt wird. Hinsichtlich des liturgischen Ortes für Sündenbekenntnis und Absolution ist man weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen, obwohl sich Althaus auch dazu indirekt äußert. Für ihn hat anscheinend die überkommene Tradition eine große Bedeutung bzw. er ist realistisch genug, um von der Forderung nach radikalen Änderungen der gottesdienstlichen Liturgie abzusehen.116 Andererseits liegt für Althaus der Sinn von Liturgie117 „als Ordnung und Gestaltung“ darin, „a) daß die Verkündigung des 115 „[…] wir ‚genießen‘ doch Gottes Gegenwart nicht anders als so, daß wir auf sein jetzt ergehendes Wort merken, wirklich beten, im Ernste beichten, bekennen.“ Althaus, Paul: Der Sinn der Liturgie : Leitsätze und Erläuterungen. Erlangen 1937, 5. (Erneuerung des lutherischen Gottesdienstes; 2) 116 „Aehnliches gilt von dem Gange des Gottesdienstes. Er ist allerdings nicht durchweg sinnvoll, von einem Gedanken aus, in einsichtigem Fortschritte gestaltet. Weithin ist er irrational, Ertrag einer keineswegs ganz organischen Geschichte, in vielem zufällig, rein tatsächlich, nicht nachzurechnen, zum Teil nur geschichtlich zu erklären, nicht gedanklich zu verstehen. Er gleicht darin manchem alten Dome, der auch nicht aus einem Geist und Guß erstellt, sondern von verschiedenen Zeiten in verschiedenem Stile gebaut ist. Man kann einen solchen Dom nicht aus einem Baugedanken als konstruktive Einheit verstehen, sondern man muß die Geschichte und ihre ‚Zufälligkeit‘ hinzunehmen. Das gilt auch von dem Gange des Gottesdienstes. Liturgie ist immer schon Erbe, ehe sie Aufgabe wird; die Aufgabe, liturgisch zu gestalten und zu verstehen, findet ihre Grenze an der Tatsächlichkeit des Erbes.“ Althaus, Sinn, 7f. 117 Althaus will Liturgie nicht nur als Teil des Gottesdienstes verstanden wissen und gibt folgende Definition: „Liturgie ist der gemeinsame Gottesdienst der christlichen Kirche, bestehend aus Verkündigung des Wortes Gottes, Bekenntnis, Gebet und Lob Gottes, sofern er bewußt und relativ fest geordnet und mit dienender Hilfe der Kunst gestaltet ist. […] Liturgie ist nicht ein Teil des christlichen Gottesdienstes, sondern dieser ganze Gottesdienst selbst unter einem bestimmten Gesichtspunkte. Liturgie ist eine besondere Bestimmtheit des Gottesdienstes.“ Althaus, Sinn, 3.

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Wortes auf alle Weise und aufs wirksamste, so viel an uns ist, geschehe; b) daß die durch Gottes Wort erweckte Antwort in der Leiblichkeit ihres Ausdruckes ganz zu sich selber komme.“118 Bei all diesen Bemühungen ist aber zu beachten, dass das Wort Gottes im Gottesdienst zuerst ergeht und die menschliche Antwort erweckt. Im Ablauf des Gottesdienstes entdeckt Althaus auch diese Reihenfolge. „Die Verlesung und Verkündigung des Wortes Gottes geht dem Gebetsakte der Gemeinde voraus: so ist alles Reden des Menschen mit Gott, alles Gebet in Gottes väterlicher Anrede an uns erst begründet.“119 Muss auch dem Sündenbekenntnis und der Vergebungsbitte die Anrede des Menschen im Wort Gottes immer vorangehen und spricht das gegen ein Sündenbekenntnis ganz zu Beginn des Gottesdienstes, noch bevor der Mensch aktuell Gottes Wort vernommen hat? Ganz eindeutig lässt sich mit Althaus sagen, dass zuerst Gott handelt und der Mensch darauf antwortet. Doch das gilt sicher nicht in jedem Gottesdienst neu. Wer Gottes Anrede einmal vernommen hat, wird immer wieder antworten. Außerdem liegen Wort und Antwort ineinander – gerade im Eröffnungsteil des Gottesdienstes. Viele Gebete (z. B. Psalm, Kyrie und Gloria in excelsis) sind gleichzeitig Wort Gottes und gebetete Antwort der Gemeinde. Aus einem anderen Grund ist bei Althaus Skepsis gegenüber einem Sündenbekenntnis im Eingangsteil des Gottesdienstes zu vermuten. Versteht man die Beichte zu Beginn des Gottesdienstes als Voraussetzung oder gar als Bedingung für den Vollzug der Gemeinschaft mit Gott, soll damit eine besondere Heiligung erreicht werden, hat man die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders falsch verstanden.120 „Der Glaube besagt ja gerade: abgesehen von allem eigenen Sein und Nichtsein, Tun oder Nichttun des Menschen sich wagen und sich gründen allein auf das Wunder der Liebe Gottes, die mich annimmt so sündig, wie ich bin; vorbehaltlos empfangen, wo Gott vorbehalt- und bedingungslos mir meine Ehre und das Leben vor ihm gibt. Das Gesetz setzt eine Bedingung für die Gemeinschaft mit Gott; das Evangelium läßt die Bedingung, die das Gesetz nennt, fahren.“121 Weder der Glaube oder die innere Bußhaltung noch das Sündenbekenntnis zu Beginn des Gottesdienstes haben ihre Berechtigung als eine Art Vorleistung für die Vergebung oder als Voraussetzung für die Gemeinschaft mit Gott (s. o. Anm. 69). 118 Althaus, Sinn, 7. 119 Althaus, Sinn, 8. 120 Bei der Erklärung des Zusammenhangs von Rechtfertigung und Erneuerung sagt Althaus: „Nicht wir haben Bedingungen zu erfüllen, sondern Gott setzt sein Rechtfertigen in einen bedingenden Zusammenhang. Nicht wir haben auf die kommende Erneuerung zu sehen, sondern Gott tut es. Wir haben allein auf sein Wort zu sehen, das uns bedingungs- und vorbehaltlos zu Söhnen seines Hauses beruft.“ Althaus, Wahrheit, 636. 121 Althaus, Wahrheit, 603.

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Sehr interessant ist, was Althaus über den Zusammenhang von Beichte und Abendmahl zu sagen hat. Das Abendmahl eignet nichts anderes als das verkündigte Evangelium zu – es gibt Anteil an der „Gemeinschaft mit Gott in Vergebung der Sünde“ (s. o. Anm. 86). Es ist die besondere Weise der Zueignung dieser Gabe, nicht die Gabe selbst, die das „gehandelte Evangelium“ vom „verkündigten Evangelium“ unterscheidet. Es ist somit theologisch falsch, Sündenbekenntnis und Absolution zur Voraussetzung für den Abendmahlsempfang zu erheben,122 ja das Abendmahl sollte ohne vorherige Beichte gefeiert werden (s. u. Anm. 123). Den vorrangigen Sinn des Abendmahls sieht Althaus darin, dass es „Sakrament der Gemeinde“ ist (s. o. Anm. 87f). Die ekklesiale und soziale Dimension des Herrenmahls soll auch liturgisch hervorgehoben werden (s. o. Anm. 89).123 Zur sprachlichen Gestaltung von Sündenbekenntnissen kann man nur indirekt Hinweise aus dem Werk von Althaus entnehmen. Seine Unbefangenheit gegenüber dem religiösen Begriff „Sünde“124 ermutigt dazu, auch in heutigen Texten nicht darauf zu verzichten, wenn außerdem gesagt wird, was unter Sünde zu verstehen ist. Dazu bietet sich die Beschreibung der Sünde nach Althaus in den beiden Gestalten von Unglaube und Lieblosigkeit an.125 Für Althaus ist es wichtig, dass auch die persönliche Schuld zur Sprache kommt – Schuld in dem Sinn, dass wir Gottes Anspruch an uns immer etwas schuldig bleiben und dass wir uns für die Sünde persönlich behaften lassen müssen (s. o. Anm. 15 und 18). Es lässt sich vermuten, dass Althaus aus seiner eigenen Gottesdienstpraxis agendarische Sündenbekenntnisse geläufig waren. Formulierungen aus solchen Texten sind sogar in seine Dogmatik eingegangen.126 Bei der Formulierung von Absolutionen ist der Hinweis von Althaus ernst zu nehmen, dass die Vergebung immer unter dem Vorbehalt des Handelns Gottes steht und zwischen Mensch und Mensch ein Geheimnis bleibt. 122 Althaus geht nicht darauf ein, wie CA 25 im Licht dieser Aussage zu sehen ist. 123 In diesem Zusammenhang tritt Althaus dafür ein, grundsätzlich „liturgiearme“ Predigtgottesdienste von liturgisch reich gestalteten Abendmahlsfeiern zu trennen. Vgl. Althaus, Wesen, 51, Anm. 1. „Zu den liturgischen Einzelfragen hier nur so viel: Das Abendmahl ist der Höhepunkt des gottesdienstlichen Lebens; das heißt aber nicht: der naturgemäße Höhepunkt jedes Predigtgottesdienstes. Mir scheint, das Abendmahl sollte für gewöhnlich in besonderen Abendmahlsgottesdiensten, die als Hauptgottesdienste zählen, gehalten werden, ohne Predigt, ohne vorherige Beichte, mit Abendmahlsrede und reicher Liturgie. Freilich wird andererseits der Ertrag einer rechten Predigt immer wieder das Verlangen nach unmittelbar anschließendem Sakramentsakt sein. Daher muß die Möglichkeit des Abendmahls in jedem Predigtgottesdienste gegeben sein.“ Althaus, Wesen, 56, Anm. 2. 124 Vgl. Althaus, Wahrheit, 355. 125 In der Tat findet sich diese Art der Kennzeichnung von Sünde in manchen Sündenbekenntnissen wieder. Vgl. Anhang Nr. 37. 126 Es ist dabei an die Sünde in der Trias von „Gedanken, Worten und Werken“ zu denken, wie sie in vielen Beichttexten vorkommt (s. o. Anm. 29).

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Einerseits soll keine „billige Gnade“ verkündigt werden, andererseits darf aber das „erschrockene Gewissen“ die Vergebung als wirkliches Geschehen ergreifen (s. o. Anm. 98). 1.2. Paul Tillich (1886–1965) Aufbau und Eigenart der dreibändigen „Systematischen Theologie“ Tillichs127 ergibt sich aus seiner Methode der Korrelation.128 Er sieht in dieser Methode das geeignetste Instrument zur Erklärung der Inhalte christlichen Glaubens.129 Dabei werden existenzielles Fragen und theologisches Antworten immer wieder wechselseitig aufeinander bezogen.130 Tillichs „Systematische Theologie“ bietet somit „eine Analyse der menschlichen Situation, aus der die existentiellen Fragen hervorgehen, und sie zeigt, daß die Symbole der christlichen Botschaft die Antworten auf diese Fragen sind.“131 Der existenzielle Charakter seiner Theologie leitet sich nicht nur von der Bedeutung der existenziellen Frage hinsichtlich des Gegenstandes der Theologie ab, sondern auch vom existenziellen Grundzug des Treibens von Theologie. Man kann Tillichs Hamartiologie eine „anthropologische Sündenlehre“ nennen, weil sie bei der Beschreibung und Analyse der Situation des Menschen ihren Ausgangspunkt nimmt, auch wenn sie explizit im Zusammenhang mit seiner Christologie und Soteriologie steht. Tillich selbst macht für die Anordnung der Gegenstände der Theologie nur praktische Gesichtspunkte geltend – die systematische Theologie hat für ihn zirkulären Charakter.132 Existenzielle Fragen und theologische Antworten stehen beide im theologischen Zirkel wie zwei Brennpunkte in einer Ellipse.133 Frage und Antwort sind voneinander unabhängig, insofern „es unmöglich ist, die Frage von der Antwort und die Antwort von der Frage abzuleiten.“134 Aber die Methode der Korrelation setzt voraus, dass es nicht nur Unab-

127 Die erste Ausgabe erschien in englischer Sprache. Tillich, Paul: Systematic Theology. Volumes 1–3. Chicago 1951; 1957; 1963. 128 Tillich, Paul: Systematische Theologie. 3 Bd. Berlin/New York 81987 (Bd. 1–2); 4 1987 (Bd. 3), 1, 80f. 129 Vgl. Tillich, Theologie, 1, 73ff. 130 Tillich, Theologie, 1, 74. 131 Tillich, Theologie, 1, 76. 132 „Die Lehre vom theologischen Zirkel hat eine methodische Konsequenz: weder die Einleitung noch ein anderer Teil des theologischen Systems ist die logische Grundlage für die anderen Teile. Jeder Teil hängt mit dem anderen zusammen. Die Einleitung setzt die Christologie und die Lehre von der Kirche voraus und umgekehrt. Die Anordnung richtet sich lediglich nach praktischen Gesichtspunkten.“ Tillich, Theologie, 1, 18. 133 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 21. 134 Tillich, Theologie, 2, 19.

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hängigkeit zwischen Frage und Antwort gibt, sondern auch eine gegenseitige Abhängigkeit. Der Theologe betritt den theologischen Zirkel mit der Bindung an etwas, das ihn „unbedingt angeht“.135 Somit stehen Fragen und Antworten „im Raum derselben religiösen Grundhaltung, aber sie sind nicht identisch.“136 Innerhalb dieses Zirkels wird das Material für die Fragen der Gesamtheit menschlicher Erfahrungen entnommen,137 wogegen die Form der Fragen von der Gesamtheit des theologischen Systems und den in ihm enthaltenen Antworten geprägt wird.138 Tillich kommt so zu einer Gliederung der „Systematischen Theologie“ in fünf Teile, deren drei mittlere trinitarische Struktur haben. Vorangestellt ist ein erkenntnistheoretischer, nachgeordnet ein geschichtlicher Teil.139 1.2.1. Die menschliche Existenz als Sein in Entfremdung Entsprechend dem zirkulären Charakter seiner „Systematischen Theologie“ behandelt Tillich die Themen der Anthropologie in allen fünf Teilen. Im zweiten Teil „Sein und Gott“ analysiert er das Wechselverhältnis von „Selbst“ und „Welt“ als ontologische Grundstruktur. Diese Grundstruktur des Seins findet sich in der gesamten Natur – alles ist als Selbst von anderem getrennt, und gleichzeitig ist es auf seine Umgebung bezogen und gehört zu ihr. In seiner ontologischen Grundstruktur erreicht der Mensch eine besondere Qualität.140 Mit Hilfe der „ontologischen Elemente“ 135 Tillich, Theologie, 2, 21. 136 Tillich, Theologie, 2, 21. 137 „Das Material für die existentielle Frage entstammt dem Ganzen der menschlichen Erfahrungen und ihren mannigfaltigen Ausdrucksformen. Es erstreckt sich auf Vergangenheit und Gegenwart, auf Alltagssprache und Literatur, auf Kunst und Philosophie, auf Wissenschaft und Psychologie. Es erstreckt sich auf Mythos und Liturgie, auf religiöse Traditionen und Gegenwartserfahrungen.“ Tillich, Theologie, 2, 21. 138 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 22. 139 Vgl. Sievernich, Michael: Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart. Frankfurt/M. 1982, 112f. – Münster, Univ., theol. Diss. 1981. (FTS; 29) Teil 1. Vernunft und Offenbarung 2. Sein und Gott 3. Die Existenz und der Christus 4. Das Leben und der Geist 5. Die Geschichte und das Reich Gottes

Analyse von: Fragen nach:

Antworten:

(Sein) (Existenz)

Endlichkeit Entfremdung

Ewigkeit (Gott) Vergebung (Christus)

(Leben)

Zweideutigkeit

Neues Sein (Geist)

140 „Der Mensch ist das voll entwickelte und völlig zentrierte Selbst. Er ‚besitzt‘ sich in der Form des Selbst-Bewußtseins.“ Tillich, Theologie, 1, 201. „Da der Mensch ein Ich-Selbst hat, transzendiert er jede mögliche Umgebung. Der Mensch hat Welt. Wie Umgebung ist Welt ein Korrelationsbegriff. Der Mensch hat Welt, wenn er auch zugleich in ihr ist.“ Tillich, Theologie, 1, 201.

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wird diese Grundstruktur weiter entfaltet. In drei Paaren stehen sich jeweils zwei Elemente polar gegenüber – Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal.141 Während die jeweils erstgenannten Elemente auf das „Selbst“ bezogen sind, stehen die zweitgenannten in Beziehung zu „Welt“. Die besondere Qualität des menschlichen Seins wird auch von den ontologischen Elementen gespiegelt.142 Die ontologischen Elemente Freiheit und Schicksal bringen die Beschreibung der ontologischen Grundstruktur zur Erfüllung und an ihren Wendepunkt, weil „Freiheit in Polarität mit Schicksal […] Existenz ermöglicht“.143 „Freiheit“ fasst Tillich als die Freiheit des „vollendeten Selbst“ auf. Diese „Freiheit wird als Erwägung, Entscheidung und Verantwortung erfahren.“144 Ihr polar zugeordnet ist das „Schicksal“. „Es weist nicht auf den Gegensatz von Freiheit hin, sondern vielmehr auf ihre Bedingungen und Grenzen.“145 Schicksal ist somit keine determinierende äußere Macht, sondern das von Natur und Geschichte geformte Selbst, das seinerseits in seiner Freiheit das Schicksal mit formt.146 Das Sein in seiner ontologischen Grundstruktur von „Selbst“ und „Welt“ ist allerdings begrenzt durch Nichtsein und hat damit Anteil an der Endlichkeit. Die Endlichkeit aber ruft Angst hervor, eine ontologische Qualität, die von Angstreaktionen auf bestimmte Einzelsituationen unterschieden werden muss.147 In gleicher Weise kann Endlichkeit 141 Vgl. Tillich, Theologie, 1, 206ff. 142 „Erreicht die Individualisation die vollkommene Form, die wir ‚Person‘ nennen, so erreicht die Partizipation die vollkommene Form, die wir ‚Gemeinschaft‘ nennen. Der Mensch partizipiert an allen Schichten des Lebens, aber er partizipiert völlig nur an jener Schicht des Lebens, die er selbst ist – er hat Gemeinschaft nur mit Personen.“ Tillich, Theologie, 1, 208. „Die Polarität von Dynamik und Form erscheint in der unmittelbaren Erfahrung des Menschen als die polare Struktur von Vitalität und Intentionalität. […] Die Vitalität im vollen Sinne des Wortes ist menschlich, weil der Mensch Intentionalität besitzt. Das dynamische Element im Menschen ist nach allen Richtungen hin offen, es wird durch keine a priori begrenzende Struktur festgelegt.“ Tillich, Theologie, 1, 212. „Da Freiheit und Schicksal eine ontologische Polarität konstituieren, muß alles, was am Sein partizipiert, an dieser Polarität partizipieren. Aber der Mensch, der ein vollendetes Selbst und eine Welt hat, ist das einzige Seiende, das frei im Sinne von Erwägung, Entscheidung und Verantwortung ist.“ Tillich, Theologie, 1, 217. 143 Tillich, Theologie, 1, 214. 144 Tillich, Theologie, 1, 216. 145 Tillich, Theologie, 1, 217. 146 „Unser Schicksal ist das, aus dem unsere Entscheidungen hervorgehen; es ist die unbestimmt breite Basis unseres selbstzentrierten Selbst, es ist die Konkretheit unseres Seins, die all unsere Entscheidungen zu unseren Entscheidungen macht.“ Tillich, Theologie, 1, 217. 147 „Angst ist unabhängig von irgendeinem besonderen Gegenstand, der sie erzeugen könnte, sie ist nur abhängig von der Drohung des Nichtseins – das mit Endlichkeit identisch ist.“ Tillich, Theologie, 1, 224.

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die Polarität der ontologischen Elemente zur Spannung werden lassen, die in der Angst wahrgenommen wird, „nicht zu sein, was wir essentiell sind.“148 Die Spannung baut sich in der Polarität von Individualisation und Partizipation zwischen totaler Vereinsamung und völliger Kollektivierung auf, in der Polarität von Dynamik und Form zwischen Chaos und erstarrender Form, in der Polarität von Freiheit und Schicksal zwischen Willkür und Sinnlosigkeit.149 So ist die Polarität unter den Bedingungen der Endlichkeit in Gefahr, zur Spannung zu werden. „Seiendes ist essentiell bedroht durch Zerreißung und Selbstzerstörung.“150 Dieser Bruch ist aber weder notwendig noch zufällig, er ist vermittelt durch Freiheit und abhängig vom Schicksal. An dieser Stelle ist es wichtig, die Begriffe von „Essenz“ und „Existenz“ näher zu erläutern. Tillich versteht sie in einem zweifachen Sinn – „einem empirischen und einem wertenden Sinn.“151 Im empirischen Sinn ist „Essenz“ ganz allgemein das Wesen, „Existenz“ die aktuelle Wirklichkeit des Wesens, im wertenden Sinn ist „Essenz“ das wahre, „Existenz“ das verzerrte Wesen eines Seienden. In diesem letzten Sinn unterscheidet Tillich zwischen geschaffener und wirklicher Welt und zieht für die Beschreibung des Übergangs vom essenziellen zum existenziellen Sein die Geschichte vom Sündenfall (Gen 1–3) heran.152 Für ihn ist der „Fall“ ein Symbol, das nicht „literalistisch“ als historisches Ereignis verstanden werden kann. Die biblische Geschichte vom Fall gibt nach Tillich vor allem Aufschlüsse über Voraussetzungen, Motive, Ereignis und Folgen des Übergangs von der Essenz zur Existenz.153 Als Voraussetzung für den Übergang von der Essenz zur Existenz wird die Polarität von Freiheit und Schicksal hinsichtlich des menschlichen Seins charakterisiert. Der Mensch hat als einziges Geschöpf Freiheit. Das unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen.154 Der Mensch kann in 148 Tillich, Theologie, 1, 232. 149 Vgl. Tillich, Theologie, 1, 232ff. 150 Tillich, Theologie, 1, 236. 151 Tillich, Theologie, 1, 237. 152 „Eine vollständige Erörterung der Beziehung der Essenz zur Existenz ist identisch mit dem gesamten theologischen System. Die Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz, religiös gesprochen: die Unterscheidung zwischen der geschaffenen und der wirklichen Welt, ist das Rückgrat des ganzen theologischen Denkgebäudes.“ Tillich, Theologie, 1, 238. 153 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 38. 154 „Der Mensch hat Freiheit im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen, die nur Analogien zur Freiheit haben, aber nicht Freiheit selbst. Der Mensch ist frei, insofern er Sprache hat. Durch seine Sprache besitzt er die Allgemeinbegriffe, die ihn von der Knechtschaft unter die konkrete Situation befreien, der selbst das höchste Tier unterworfen ist. […] Der Mensch ist frei, insofern er unbedingte sittliche und logische Befehle vernehmen kann – beide ein Zeichen dafür, daß er die Bedingungen, die jedes endliche Seiende determinieren, transzendieren kann. Der Mensch ist frei, insofern er die Macht

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seiner Freiheit sogar der essenziellen Natur widersprechen, kann seine Freiheit preisgeben und „unter seine Mens[]chlichkeit herabfallen“.155 Diese Freiheit des Menschen ist aber durch das Schicksal eingeschränkt und damit endliche Freiheit, das ist die andere Voraussetzung für den Fall. Das Schicksal – als persönliches Schicksal umfasst vom universalen – begrenzt immer die Freiheit.156 Der Mensch kann also nicht nur Freiheit haben und damit alle Potenzialitäten seines Wesens verwirklichen.157 Tillich versucht, die Motive für den Übergang von der Essenz zur Existenz zu ergründen und sieht sich genötigt, das essenzielle Sein des Menschen näher zu beschreiben. Die essenzielle Natur des Menschen liegt niemals in reiner Form bloß, sondern ist nur in existenzieller Verzerrung aufzuspüren. Deshalb sucht Tillich nach einer Metapher für die reine Potenzialität, die aller aktuellen Existenz vorausgeht, und findet sie in dem Begriff der „träumenden Unschuld“. Mit diesem Bild wird für ihn Potenzialität ausgedrückt, die nach Aktualisierung drängt. Gleichzeitig sind darin Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit miteinander verbunden. Diese Vorstellung von essenziellem Sein wird in Mythos und Dogma in die Geschichte der Menschheit rückprojiziert.158 Als bestes Beispiel für eine Analogie zur „träumenden Unschuld“ betrachtet Tillich den Zustand vor dem Erwachen des sexuellen Bewusstseins im Menschen und bezieht sich damit auf ein wichtiges Moment innerhalb der Genesishat, zu überlegen und zu entscheiden und dadurch den Reiz-Reaktionsmechanismus zu durchbrechen.“ Tillich, Theologie, 2, 38. 155 Tillich, Theologie, 2, 38. 156 „Im Menschen schränken sich Freiheit und Schicksal gegenseitig ein.“ Tillich, Theologie, 2, 38f. 157 Andererseits verwendet Tillich im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für den Fall den Begriff der Ebenbildlichkeit Gottes. „Die Möglichkeit des Falls beruht auf allen Eigenschaften der menschlichen Freiheit in ihrer Einheit. Symbolisch gesprochen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft. Nur das Wesen, das Ebenbild Gottes ist, hat die Macht, sich von Gott zu trennen. Die Größe und die Schwäche des Menschen haben ein und dieselbe Wurzel. Selbst Gott kann die eine nicht ohne die andere aufheben. Hätte der Mensch diese Freiheit nicht erhalten, so wäre er ein Ding unter Dingen, unfähig, der göttlichen Ehre zu dienen, weder als Geretteter noch als Verdammter.“ Tillich, Theologie, 2, 39. 158 „Der Traum hat zwar aktuelle Objekte, aber als Bilder. Im Moment des Aufwachens verschwinden die Bilder als Bilder, kehren jedoch als erlebte Realitäten wieder. Gewiß, die Wirklichkeit ist verschieden von den Bildern des Traumes, aber nicht absolut verschieden. Aus diesem Grunde ist die Metapher ‚träumen‘ geeignet, den Zustand des essentiellen Seins zu beschreiben. Das Wort Unschuld weist gleichfalls auf nicht-aktualisierte Potentialität hin. Man ist unschuldig nur im Hinblick auf etwas, das – wenn es aktualisiert wird – den Zustand der Unschuld beendet. Das Wort Unschuld kann bedeuten: Mangel an aktueller Erfahrung, Fehlen von persönlicher Verantwortlichkeit und Nichtvorhandensein moralischer Schuld. In dem hier gebrauchten metaphorischen Sinn sind alle drei Bedeutungen enthalten.“ Tillich, Theologie, 2, 40.

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Geschichte.159 Der Zustand unentschiedener Potenzialität verlangt aber nach Aktualisierung und damit nach Vervollkommnung.160 Weil sich der Mensch seiner Endlichkeit bewusst ist, weil er seine Freiheit als endliche Freiheit erkennt, wird er von Angst getrieben. Hinsichtlich des sexuellen Bewusstwerdens wird der Mensch einerseits von der Angst umgetrieben, seine Unschuld zu verlieren, andererseits von der Angst, seine Möglichkeiten nicht zu verwirklichen und wirkliches Dasein nicht zu erfahren. Diese doppelte Angst erlebt er als Versuchung.161 Wann und wie ereignet sich nun der Übergang von der Essenz zur Existenz ? Tillich gesteht der mythologischen Rede zu, dass sie in diesem Zusammenhang ein historisches Ereignis schildert.162 Trotzdem ist dieser Übergang nicht zeitlich festzulegen, „denn er geht allem, was sich in Zeit und Raum ereignet, ontologisch voraus.“163 Der Übergang von der Essenz zur Existenz vollzieht sich in jedem Sein, er ist „eine universale Qualität des endlichen Seins.“164 In ihm stehen ein moralisches und ein tragisches Element in unlöslichem Zusammenhang, was durch die traditionelle Erbsündenlehre ausgedrückt wird.165 Tillich hält den Begriff der Erbsünde für nicht sonderlich passend und verlangt nach einer Neuinterpretation der Erbsündenlehre, in der der Zusammenhang von moralischem und tragischem Element erhalten bleiben soll (s. u. 177f). Das Zusammenspiel von moralischer Freiheit und tragischem Schicksal wirft die Frage auf, inwieweit die Natur am Fall teilhat und welche 159 „Bis zu einem gewissen Zeitpunkt ist das Kind völlig unbewußt in bezug auf seine sexuellen Potentialitäten. In dem schwierigen Schritt des Übergangs von der Potentialität zur Aktualität kommt es zu einem Erwachen, in dem Erfahrung, Verantwortungsgefühl und Schuld erworben werden und der Zustand der träumenden Unschuld verloren geht. So ist es auch in der Genesisgeschichte beschrieben, wo sexuelle Bewußtheit die erste Folge der verlorenen Unschuld ist.“ Tillich, Theologie, 2, 40. 160 „Reine Potentialität (träumende Unschuld) ist nicht Vollkommenheit. Nur die bewußte Einheit von Existenz und Essenz ist Vollkommenheit.“ Tillich, Theologie, 2, 41. 161 „Er erlebt eine doppelte Angst – die Angst, sich zu verlieren durch Selbstverwirklichung, und die Angst, sich zu verlieren durch Nichtverwirklichung. Er steht in der Alternative, entweder seine träumende Unschuld zu bewahren, ohne wirkliches Dasein zu erleben, oder seine Unschuld zu verlieren und Erkenntnis, Macht und Schuld dafür einzutauschen.“ Tillich, Theologie, 2, 42. 162 „Wenn der Übergang von der Essenz zur Existenz mythologisch ausgedrückt wird – wie es die religiöse Sprache tun muß –, dann wird er als ein Ereignis in der Vergangenheit beschrieben, obwohl er sich in allen drei Modi der Zeit vollzieht.“ Tillich, Theologie, 2, 43. 163 Tillich, Theologie, 2, 43. 164 Tillich, Theologie, 2, 43. 165 „Der individuelle Akt existentieller Entfremdung ist kein isolierter Akt eines isolierten Individuums. Es ist ein Akt der Freiheit, der in die Breite eines universalen Schicksals eingebettet ist. In jedem individuellen Akt verwirklicht sich der entfremdete Charakter des Seins. Jede moralische Entscheidung ist ein Akt individueller Freiheit und universalen Schicksals zugleich.“ Tillich, Theologie, 2, 45.

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Beziehung der Mensch zum Universum hat. Tillich akzeptiert, dass die mythische Erzählung vom Fall die Verantwortung dafür beim Menschen sucht, was dann auch Folgen für die Natur hat. Gleichzeitig weist er aber eine literalistische Bibelauslegung zurück, nach der der Fall des Menschen die natürlichen Strukturen verändert hat. Vielmehr betont er, dass die Schöpfung nur als Potenzialität gut ist und bei ihrem Übergang in verwirklichte Existenz auch der Entfremdung verfällt.166 Insofern fallen Schöpfung und Fall material zusammen.167 Der Übergang von der Essenz zur Existenz steht in der Spannung von Freiheit und Schicksal, aber er erfolgt nicht aus struktureller Notwendigkeit. Die Sünde folgt also nicht notwendig aus der Schöpfung.168 1.2.2. Sündliche Entfremdung als Unglaube, Hybris und Konkupiszenz Im Zusammenhang mit seiner Hamartiologie gewinnt der philosophische Begriff der Entfremdung für Tillich eine große Bedeutung.169 Er erscheint ihm vor allem deshalb geeignet, weil er den Übergang von der Essenz zur Existenz markiert, die Entfernung des verwirklichten Seins vom wahren Sein und dennoch die Zusammengehörigkeit beider.170 Ein weiterer Gesichtspunkt für die Verwendung des Begriffs „Entfremdung“ mag gewesen sein, dass er in das moderne Denken als „autonome Entwicklung 166 „‚Adam vor dem Fall‘ und ‚die Natur vor dem Fluch‘ sind Potentialitäten. Sie sind keine aktuellen Zustände. Aktuell findet sich der Mensch stets im Zustand der Existenz ebenso wie das ganze Universum, und es hat nie eine Zeit gegeben, in der dies anders war. Die Vorstellung, daß der Mensch und die Natur zunächst gut waren und in einem bestimmten Zeitpunkt böse wurden, ist absurd und kann weder aus der Erfahrung noch aus der Offenbarung begründet werden.“ Tillich, Theologie, 2, 48. 167 „Wenn Gott hier und jetzt schafft, dann partizipiert alles, was er geschaffen hat, an dem Übergang von der Essenz zur Existenz. Er schafft das neugeborene Kind, aber, wenn es geschaffen ist, verfällt es dem Zustand existentieller Entfremdung. Das ist der Punkt, wo Schöpfung und Fall koinzidieren. Es ist jedoch keine formale, sondern eine materiale Koinzidenz, denn das reifer werdende Kind bejaht die Entfremdung in Akten der Freiheit, die Verantwortung und Schuld einschließen.“ Tillich, Theologie, 2, 52. 168 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 52. 169 Dieser vor allem von Hegel, Schelling und Marx in unterschiedlicher Weise gebrauchte Begriff wird von Tillich verwendet, um die menschliche Situation zu beschreiben. Vgl. Sievernich, Schuld, 118f. „Der Zustand der Existenz ist der Zustand der Entfremdung. Der Mensch ist entfremdet vom Grund des Seins, von den anderen Wesen und von sich selbst. Der Übergang von der Essenz zur Existenz endet in persönlicher Schuld und universaler Tragik.“ Tillich, Theologie, 2, 52. 170 „Der Mensch als ein Existierender ist nicht, was er essentiell ist und darum sein sollte. Er ist von seinem wahren Sein entfremdet. Die Tiefe des Begriffs ‚Entfremdung‘ liegt darin, daß man essentiell zu dem gehört, wovon man entfremdet ist. Der Mensch ist seinem wahren Sein nicht fremd. Es ist sein Sein, von dem er nicht loskommen kann, auch wenn er es möchte – wie er sich auch von Gott nicht losmachen kann, da er zu Gott gehört.“ Tillich, Theologie, 2, 53.

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fundamentaler christlicher Grundgedanken“171 eingegangen ist. Auch wenn diese Auffassungen von Entfremdung und Versöhnung als „selbstentfremdete Theologie“ zu verstehen sind, sollten sie ein Gespräch mit Philosophie und Humanwissenschaften erleichtern. „Entfremdung“ ist ein philosophischer Begriff. Dennoch spiegeln nach Tillichs Meinung viele Darstellungen der menschlichen Situation im biblischen Zeugnis den Sachverhalt der Entfremdung wider.172 In christlicher Tradition wird nach Tillich außerdem ganz anders von Sünde gesprochen als in der Bibel. Während z. B. Paulus von „Sünde“ im Singular spricht, hat in der Tradition der beiden großen Kirchen die Sünde im Plural große Bedeutung – „die Sünden“ als moralische Verfehlungen. Um wieder den ursprünglichen Sündenbegriff in den Blick zu nehmen, will Tillich „Sünde in der Perspektive der Entfremdung betrachten.“173 Allerdings lässt sich der Sündenbegriff durch den Entfremdungsbegriff nicht einfach ersetzen. Während im Entfremdungsbegriff tragische Schuld und universales Schicksal enthalten sind, kommen im Wort „Sünde“ persönliche Freiheit und Schuld stärker zum Ausdruck.174 Tillich möchte durch die Anwendung des Entfremdungsbegriffs das Wort „Sünde“ neu interpretieren und damit bewahren.175 Im Unterschied dazu sieht er bei der Neuinterpretation des Begriffs „Erbsünde“ keine Notwendigkeit der Bewahrung. Der Begriff „Erbsünde“ ist „mit absurden Vorstellun171 Tillich, Paul: Entfremdung und Versöhnung im modernen Denken. In: Tillich, Paul: Philosophie und Schicksal : Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie: Gesammelte Werke, Bd. 4. Stuttgart 1961, S. 198f. 172 „[…] z. B. in der Erzählung von der Austreibung aus dem Paradies, von der Feindschaft zwischen Mensch und Natur, von der tödlichen Entzweiung zwischen Bruder und Bruder, von der Entfremdung einer Nation von der anderen durch die Sprachverwirrung und in den immer wiederkehrenden Klagen der Propheten über die Könige und das Volk, die sich fremden Göttern zugewandt haben. Der Begriff Entfremdung steckt auch in dem Gedanken des Paulus, daß der Mensch das Bild Gottes in das Bild der Götzen verkehrt hat, steckt in seiner klassischen Beschreibung des inneren Widerstreits des Menschen in Röm. 7, steckt in der großen Anklage Röm. 1, wo Feindschaft zwischen Mensch und Mensch und Verzerrung der natürlichen Begierden genannt werden. Diese Beschreibungen der menschlichen Situation entsprechen genau dem, was wir als Entfremdung bezeichnet haben.“ Tillich, Theologie, 2, 53f. 173 Tillich, Theologie, 2, 54. 174 „Das Wort Sünde enthält das persönlich-aktive sich Wegwenden von dem, wozu man gehört. Es bringt den persönlichen Entscheidungscharakter der Entfremdung zum Ausdruck.“ Tillich, Theologie, 2, 54. 175 „Das Wort Sünde kann und muß ‚gerettet‘ werden, nicht nur, weil es in der klassischen Literatur und in der Liturgie beständig vorkommt, sondern vielmehr, weil es in aller Schärfe auf das Element der persönlichen Verantwortung im Phänomen der Entfremdung hinweist. Entfremdung ist nicht ein Zustand von Dingen, sondern eine Sache persönlicher Freiheit und universalen Schicksals. Aus diesem Grunde muß das Wort Sünde beibehalten werden, nachdem es religiös neu interpretiert worden ist. Ein Werkzeug für diese Neuinterpretation ist der Begriff ‚Entfremdung‘.“ Tillich, Theologie, 2, 54.

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gen wörtlicher Auslegung so belastet, daß er nicht mehr gebraucht werden sollte.“176 Was er aussagen soll, nämlich universale Schicksalhaftigkeit, wird durch den Begriff „Entfremdung“ ausgedrückt. Tillich macht darauf aufmerksam, dass Handlungen primär als sündig zu bezeichnen sind, weil „sie Ausdruck der Entfremdung des Menschen von Gott, vom Nächsten und von sich selbst“ sind und nicht, weil sie gegen ein Moralgesetz verstoßen.177 Auf der Grundlage des Erbsündenartikels in CA 2 findet Tillich den Zustand menschlicher Entfremdung mit den Begriffen Unglaube und Konkupiszenz beschrieben. Er ergänzt sie um den aus der Tradition stammenden Begriff der Hybris. Alle drei Begriffe versucht er neu zu interpretieren. Der Unglaube ist Abkehr des Menschen von Gott als ganzheitlicher Akt. Dadurch zerreißt der Mensch seine essenzielle Einheit mit Gott und wendet sich der Welt bzw. sich selbst zu.178 Die Zerreißung der essenziellen Einheit mit Gott hat verschiedene Dimensionen. In der Entfremdung als Unglaube wird die Einheit mit Gott in der Erkenntnis, im Willen und im Leben aufgelöst. Begriffe wie Gottesleugnung, Ungehorsam oder Selbstliebe treffen nicht den Kern der Sache, denn allein die Frage nach Gott, ein Gehorsam verlangendes Gesetz oder das Vorhandensein eines sich liebenden Selbst setzen eine Zerreißung der Einheit mit Gott voraus.179 Die Entfremdung als Hybris ist die andere Seite des Unglaubens. Sie betont die Selbstüberhebung, in der sich der Mensch zum Zentrum seiner selbst und seiner Welt macht. Er erkennt seine Endlichkeit nicht an und 176 Tillich, Theologie, 2, 54. 177 Tillich, Theologie, 2, 54f. 178 „Unglaube bedeutet für den protestantischen Christen den Akt, in dem der Mensch sich in seiner Ganzheit von Gott abwendet. In seiner existentiellen Selbstverwirklichung wendet er sich seiner Welt und sich selbst zu und verliert seine essentielle Einheit mit dem Grunde von Selbst und Welt. Wie oben gezeigt, geschieht das als persönliche Schuld und tragisches Schicksal.“ Tillich, Theologie, 2, 55. 179 „Im Akt des Unglaubens wird die Erkenntnis-Einheit mit Gott zerrissen. Man sollte das nicht ‚Gottesleugnung‘ nennen, denn nicht nur die aktive Leugnung, sondern schon die Frage nach Gott setzt voraus, daß die Erkenntnis-Einheit mit ihm verloren ist. Wer nach Gott fragt, ist schon entfremdet von Gott – wenn auch nicht von ihm abgeschnitten. Unglaube ist ferner die Trennung des menschlichen Willens von Gottes Willen. Man sollte das nicht Ungehorsam nennen, denn Befehle, Gehorsam und Ungehorsam setzen schon die Trennung des Willens von Gottes Willen voraus. Wer ein Gesetz braucht, das ihm sagt, wie er handeln oder nicht handeln soll, ist schon entfremdet von der Quelle des Gesetzes, die Gehorsam verlangt. Unglaube ist ferner die Abkehr von der Teilnahme an der Seligkeit des göttlichen Lebens und die Hinwendung zu der Lust eines von Gott getrennten Lebens. Man sollte das nicht mit Selbstliebe bezeichnen, denn um ein Selbst zu haben, das sich selbst lieben kann, muß das Selbst schon das göttliche Zentrum verlassen haben, zu dem es gehört und in dem Selbstliebe und Liebe zu Gott eins sind.“ Tillich, Theologie, 2, 55f.

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erhebt relative Wahrheiten zur letzten Wahrheit, spricht endlichen Schöpfungen Unendlichkeit zu. Dass der Mensch sich seiner selbst bewusst ist und seine Welt transzendieren kann, stellt ihn in die Versuchung, sich von seinem essenziellen Zentrum zu trennen und sich selbst als Zentrum zu definieren.180 Der traditionellen Beschreibung von Hybris als „geistlicher Sünde“ stimmt Tillich insofern zu, als sich viele Sünden aus ihr ableiten lassen. Er wendet sich aber gegen ein Verständnis von Hybris, das diese Sünde nur auf den geistigen Bereich des Menschen beschränken will und eine Trennung von Geistigem und Leiblichem voraussetzt.181 Weil alle Menschen die Tendenz zur Leugnung ihrer Endlichkeit in sich tragen, hat die Selbstüberhebung universale Bedeutung. Die Charakterisierung der Entfremdung als Konkupiszenz erklärt nun, „warum der Mensch versucht ist, in sich selbst das Zentrum zu suchen.“182 Es wird ihm dadurch möglich, sich das Ganze der Wirklichkeit einzuverleiben.183 Für Tillich bezieht sich die Konkupiszenz „auf physischen Hunger ebenso wie auf sexuelle Befriedigung, Erkenntnis, Macht, Wissen, materiellen Reichtum und geistige Werte.“184 Tillich kritisiert, dass auch Augustin und Luther dazu tendierten, Konkupiszenz nur in der eingeschränkten Bedeutung von sexueller Begierde zu verstehen. Durch die Hervorhebung einer umfassenderen Bedeutung will er helfen, die zweideutige Haltung des Christentums gegenüber dem Sexuellen zu 180 „Er [der Mensch, T. B.] allein hat nicht nur Bewußtsein – einen hohen, aber nicht vollkommenen Grad von Zentriertheit –, sondern Selbstbewußtsein, d. h. vollkommene Zentriertheit. Diese strukturelle Zentriertheit verleiht dem Menschen seine Größe und Würde und macht ihn zum ‚Ebenbild Gottes‘. […] Aber diese Größe des Menschen ist gleichzeitig seine Versuchung. Der Mensch ist versucht, sich selbst existentiell zum Zentrum seiner selbst und seiner Welt zu machen. Wenn er sich und seine Welt betrachtet, erfährt er seine Freiheit und mit ihr seine potentielle Unendlichkeit.“ Tillich, Theologie, 2, 57f. 181 „Denn hybris ist nicht eine Form der Sünde neben anderen. Sie ist das Ganze der Sünde, die andere Seite des Unglaubens oder der Abwendung vom göttlichen Zentrum, zu dem der Mensch gehört. Diese Abwendung ist gleichzeitig Zuwendung zu sich selbst als dem Zentrum des eigenen Selbst. Es ist kein Akt nur eines Teils des Menschen, beispielsweise seines Geistes. Das gesamte Leben des Menschen, einschließlich seines sinnlichen, ist geistig. Und es ist in dieser Totalität seines persönlichen Seins, in der er sich zum Zentrum seiner Welt macht.“ Tillich, Theologie, 2, 59. 182 Tillich, Theologie, 2, 60. 183 „Die Antwort darauf lautet: weil es ihm die Möglichkeit gibt, die ganze Welt in sich hineinzuziehen. Es hebt ihn über sein Teil-sein hinaus und macht ihn auf der Basis seines Teil-seins universal. Das ist die Versuchung des Menschen in seiner Stellung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Jeder einzelne hat, weil er geschieden ist vom Ganzen, den Wunsch, mit dem Ganzen wiedervereinigt zu werden. Seine ‚Armut‘ läßt ihn nach Überfluß suchen. (Das ist die Wurzel der Liebe in all ihren Formen.) Die Möglichkeit, unbegrenzten Überfluß zu erlangen, wird zur Versuchung für den Menschen, der ein Selbst ist und eine Welt hat.“ Tillich, Theologie, 2, 60. 184 Tillich, Theologie, 2, 60.

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überwinden. Wichtige Vorarbeiten dazu haben Freud und Nietzsche geleistet.185 Die universale und tragische Dimension der Sünde wird von Tillich also zunächst durch die Entfremdung als Unglaube charakterisiert, in der sich der Mensch von Gott abkehrt. In der Entfremdung als Hybris macht sich der Mensch in Selbstüberhebung zum Zentrum seiner selbst und seiner Welt. Sein Ziel ist dabei, in der Entfremdung als Konkupiszenz sich das Ganze der Wirklichkeit einzuverleiben. Den Begriff der „Erbsünde“ als Synonym für das universale Schicksal verwirft Tillich, wie gesagt, weil „Entfremdung“ ein treffenderer Ausdruck dafür ist (s. o. 177f). Aber auch die Rückführung der Erbsünde auf den Fall Adams lehnt Tillich ab.186 Die Entfremdung ist für ihn ein allgemeines Faktum, in der Sünde wird sie zu einem individuellen Akt. Entfremdung und Sünde liegen also ineinander.187 Darum kann auch der Plural „Sünden“ auf „die Sünde“ bzw. das universale Schicksal der Entfremdung hinweisen.188 Tillich hebt in diesem Zusammenhang die besondere „tröstende Kraft“ des protestantischen Verständnisses von Sünde 185 Mit seiner Lehre von der „libido“ hat Freud ebenso eine Begriffsanalyse der Konkupiszenz geliefert wie Nietzsche mit seiner Lehre vom „Willen zur Macht“. Beide Analysen haben mitgeholfen, die christliche Sicht der menschlichen Situation als Entfremdung in Konkupiszenz wiederzuentdecken. Der Mangel ihrer Beschreibung besteht darin, dass sie nur eine existenzielle Situation anerkennen und nicht zwischen essentiellem und existenziellem Sein unterscheiden. Freud kennt deshalb nur die unendliche libido als Kriterium der Entfremdung und nicht die mit der Liebe geeinte, endliche libido. Nietzsche kennt nur das uneingeschränkte Streben nach Macht und nicht den „Willen zur Macht“ als essentielle Selbstbejahung. Vgl. Tillich, Theologie, 2, 62ff. 186 „Entfremdung hat den Charakter universalen menschlichen Schicksals. Es ist jedoch nicht einzusehen und in seiner wörtlichen Fassung absurd, den allgemeinen Zustand des Menschen von einem völlig freien Handeln Adams abzuleiten. Diese Theorie gibt einem menschlichen Wesen eine Ausnahmestellung, indem es ihm den universalen menschlichen Charakter nimmt und ihm Freiheit ohne Schicksal zuschreibt […]“ Tillich, Theologie, 2, 64f. 187 „Sünde ist ein universales Faktum, noch bevor sie zu einem individuellen Akt wird, oder genauer gesagt: Sünde als individueller Akt aktualisiert das universale Faktum der Entfremdung. Als individueller Akt ist Sünde eine Sache der Freiheit, Verantwortlichkeit und persönlichen Schuld. Aber diese Freiheit ist in das universale Schicksal der Entfremdung auf solche Weise eingebettet, daß jeder freie Akt das Schicksal der Entfremdung enthält, und umgekehrt, daß das Schicksal der Entfremdung durch jeden freien Akt verwirklicht wird. Daher ist es unmöglich, Sünde als Faktum von Sünde als Akt zu trennen.“ Tillich, Theologie, 2, 65. 188 „Das Symbol der ‚Vergebung der Sünden‘ hat sich als gefährlich erwiesen, weil es das Bewußtsein auf einzelne Sünden und ihren moralischen Charakter gelenkt hat, statt auf die Entfremdung von Gott und damit auf den religiösen Charakter der Sünde hinzuweisen. Dennoch kann der Plural ‚Sünden‘ für den Singular ‚die Sünde als solche‘ stehen, und die einzelne Sünde kann ein Ausdruck für die Gesamtsituation des Menschen vor Gott werden. Sie kann erlebt werden als Manifestation der ‚Sünde als solcher‘, nämlich der Entfremdung von unserem wahren Sein.“ Tillich, Theologie, 3, 259.

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und Gnade im Unterschied zur römisch-katholischen Auffassung hervor. So wie der Blick des protestantischen Menschen auf totale Sünde und Schuld gerichtet wird, so kann er die Gewissheit totaler Vergebung erlangen.189 Gleichzeitig sieht Tillich in dieser absoluten Charakterisierung von Sünde und Gnade auch Gefahren, denn sie kann Moralismus nicht verhindern. Für ihn ist wichtig, dass im Sündenbegriff die moralische und die theologische Ebene miteinander verbunden bleiben.190 Das Bisherige ist vor allem über die sündliche Entfremdung des Individuums ausgesagt. Trotzdem geht Tillich auch auf das Phänomen kollektiver Entfremdung ein. Dabei betont er, dass es keine Kollektivschuld geben kann, weil Schicksal untrennbar mit Freiheit verknüpft ist. Jeder Mensch trägt mit seinen Handlungen zum Gesamtschicksal bei, sogar als Opfer. Insofern wird er immer schuldig. Er trägt aber keine Schuld an den konkreten Verbrechen anderer.191 Die Folge der existenziellen Entfremdung ist Selbstzerstörung, denn die „Elemente des essentiellen Seins, die sich gegeneinander bewegen, haben die Tendenz, sich gegenseitig und das Ganze, zu dem sie gehören, zu vernichten.“192 Tillich spricht sogar von einer „Struktur der Destruktion“, die in der Struktur der Entfremdung begründet ist.193 In ihr zerbrechen die ontologischen Polaritäten (s. o. 172ff) und die Destruktion drängt zum Chaos. In diesem Zusammenhang äußert sich Tillich über das Übel. Er möchte diesen Begriff in einem engeren Sinn gebrauchen, der das Übel 189 „Der Protestantismus sieht das Problem in einem anderen Licht. Für ihn gibt es nur die Sünde, nämlich die Abkehr von Gott, und die Gnade, nämlich die Wiedervereinigung mit Gott. […] Sünde ist Entfremdung, Gnade ist Wiedervereinigung. Genauer: Weil Gottes versöhnende Gnade unbedingt ist, hat es der Mensch nicht nötig, auf seine eigene Situation und auf die Grade seiner Schuld zu schauen.“ Tillich, Theologie, 2, 66. 190 „Der Protestantismus muß aber beachten, daß der absolute Charakter von Sünde und Gnade ihm die psychologischen Einsichten und die erzieherische Anpassungsfähigkeit der katholischen Position versperrte. Er ist oft in einen rigorosen Moralismus ausgeartet, der genau das Gegenteil der ursprünglichen protestantischen Absicht darstellt. Der Zusammenbruch dieses Moralismus unter dem Einfluß der Tiefenpsychologie sollte dazu führen, die katholischen Einsichten in die unendliche Komplexität des menschlichen geistigen Lebens wiederzugewinnen und die relativen Elemente – so gut wie die absoluten – in Sünde und Gnade nicht zu vernachlässigen. Die neu entstehende psychologisch-beratende Tätigkeit des protestantischen Geistlichen ist in dieser Richtung ein wichtiger Schritt.“ Tillich, Theologie, 2, 66f. 191 „Die Einwohner einer Stadt sind nicht schuldig an den Verbrechen, die in ihrer Stadt begangen werden, sie sind jedoch in dem Sinn schuldig, daß sie teilhaben an dem Schicksal der Menschheit als Ganzer und an dem Schicksal ihrer Stadt im besonderen; denn ihre Handlungen, in denen Freiheit und Schicksal geeint sind, haben zu dem Gesamtschicksal beigetragen. Sie sind schuldig nicht an den Verbrechen, die innerhalb ihrer Gemeinschaft begangen wurden; sie sind schuldig, weil sie zu dem Schicksal beigetragen haben, in dem sich diese Verbrechen ereignen konnten.“ Tillich, Theologie, 2, 68. 192 Tillich, Theologie, 2, 69. 193 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 69.

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„als Folge des Zustandes der Entfremdung“ versteht und das Übel von der Sünde unterscheidet.194 Das Übel ist als Folge der Sünde in der Welt, denn mit der Freiheit ist auch die Sünde gegeben. Gott kann also für das Übel nicht verantwortlich gemacht werden. Das Übel äußert sich zuerst in dem Zerbrechen der ontologischen Grundpolarität von Selbst und Welt. Zerstörerische Kräfte lösen das zentrierte Selbst auf, der Mensch verliert sein Selbst und damit auch seine Welt.195 Die Entfremdung hält eine Struktur der Destruktion bereit und wird zur Ursache des Übels. Einen Zusammenhang zwischen Begrenzungserfahrungen des Menschen und der Sünde sieht Tillich darin, dass die naturgegebene Endlichkeit unter den Bedingungen der Entfremdung zum existenziellen Übel wird.196 Naturgemäß muss der Mensch sterben, und er kennt die essenzielle Angst vor dem Nichtsein. Im Zustand der Entfremdung ist der Mensch aber dem Sterbenmüssen preisgegeben, die Angst schlägt um in Schrecken vor dem Tod.197 In ähnlicher Weise erlebt der Mensch in Entfremdung Zeit und Raum. Die Begrenztheit der Zeit und die räumliche Kontingenz treiben ihn zur Verzweiflung.198 Auch das Leiden als ein Ele194 Tillich, Theologie, 2, 70. Im biblischen Kontext wird der Begriff oft in einem weiteren Sinn gebraucht, indem das Übel als Grund, aber auch als Element der Selbstzerstörung betrachtet wird. 195 „Selbst-Verlust als Verlust des bestimmenden Zentrums im Menschen geschieht in moralischen und psychopathologischen Konflikten, sowohl unabhängig voneinander als auch in gegenseitiger Beeinflussung. Das furchtbare Erlebnis des ‚in Stücke Brechens‘ ergreift vom ganzen Menschen Besitz. In dem Maße, in dem sich das ereignet, fällt auch die Welt in Stücke. Sie hört auf, Welt zu sein im Sinne eines sinnvollen Ganzen. Die Dinge sprechen nicht mehr zum Menschen, sie verlieren ihre Fähigkeit, zu einer sinnvollen Begegnung mit ihm zu kommen, weil der Mensch selbst diese Fähigkeit verloren hat. In extremen Fällen wird die völlige Unwirklichkeit der Welt erlebt, nichts bleibt außer dem Erlebnis des eigenen leeren Selbst.“ Tillich, Theologie, 2, 71. 196 „Die Kategorien der Endlichkeit – Zeit, Raum, Kausalität und Substanz – sind gültig in der gesamten Schöpfung. Aber ihre Funktion ändert sich unter den Bedingungen der Existenz. In den Kategorien wird die Einheit von Sein und Nichtsein in allem Endlichen offenbar. Deshalb produzieren sie Angst. Diese Angst kann in den Mut hineingenommen werden, der ‚ja‘ zum endlichen Sein sagt in der Gewißheit, daß die Macht des Seins-Selbst dem Nichtsein überlegen ist. Aber im Zustand der Entfremdung geht die Teilnahme an der Macht des Seins-Selbst verloren.“ Tillich, Theologie, 2, 78. 197 „Die Sünde schafft nicht den Tod, sondern gibt ihm Macht, die nur durch das Teilhaben am Ewigen besiegt werden kann. […] Unter den Bedingungen der Entfremdung ist Todesangst noch mehr als Angst vor Vernichtung. Die Entfremdung macht den Tod zu einem Übel, zu einer Struktur der Destruktion.“ Tillich, Theologie, 2, 77. 198 „Es ist nicht die Erfahrung der Zeit als solche, die Verzweiflung produziert, es ist vielmehr die Niederlage, die der Mensch in seinem Widerstand gegen die Zeit erlebt. Dieser Widerstand stammt aus seinem essentiellen Zugehörigsein zum Ewigen, seinem davon Ausgeschlossensein im Zustand der Entfremdung und seinem Wunsch, die vergänglichen Zeitmomente seiner Zeit in dauernde Gegenwart zu verwandeln. Die existentielle Unwilligkeit des Menschen, seine Zeitlichkeit zu bejahen, macht die Zeit für ihn zu einer dämonischen Struktur der Destruktion. […] Und wenn der Mensch ver-

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ment der Endlichkeit wird unter den Bedingungen der Existenz zu einem Übel. In ihm wird nicht mehr – auch da, wo es möglich ist – ein Sinn entdeckt. Es wird nicht mehr als Gegebenheit der Endlichkeit akzeptiert, sondern als Übel aufgefasst.199 Gericht und Strafe spielen bei Tillich eine untergeordnete Rolle. Das Gericht versteht er nicht in der traditionellen Weise, den Begriff „Strafe“ verwendet er nicht. In der Existenz wird das Gericht als Selbstzerstörung erlebt.200 Begriffe wie „Zorn Gottes“ und „Verdammnis“ sind für Tillich Symbole, die das „Bewußtwerden der selbstzerstörerischen Natur des Bösen“ ausdrücken, wenn sich der Mensch vom Grund seines Seins trennt.201 Es sind also eher die zwangsläufigen Folgen der Entfremdung, in denen das Gericht erfahren wird.202 Tillich hält dennoch daran fest, dass Gott nicht nur der liebende Vater, sondern auch der Herr ist, der richtet.203 Der frühe Tillich verwendet noch den Begriff des Dämonischen für die Erklärung der traditionellen Lehre von der Erbsünde, die er auch „Gesamtsünde“ nennt. Das Dämonische weist auf die gesellschaftliche Dimension der Sünde hin.204 Im Jahr 1926 bezeichnet Tillich u. a. Marktsucht, sich einen Raum zu schaffen, der alle möglichen Räume in sich aufnimmt, sei es in Wirklichkeit, sei es in der Phantasie, dann ersetzt er die Dimension des ‚ewigen Hier‘ durch die Dimension des ‚universalen Hier‘. Er versucht, dem räumlichen Nebeneinander, das zu seiner Endlichkeit gehört, zu entgehen, und da es ihm nicht gelingt, wird er in Verzweiflung über seine letzte Wurzellosigkeit gestoßen.“ Tillich, Theologie, 2, 79. 199 „Leiden ist sinnvoll, insoweit es zu Maßnahmen treibt, die dem Schutz und der Heilung dessen dienen, der davon betroffen ist. Ferner kann Leiden die Grenzen und Möglichkeiten eines lebenden Wesens zeigen. Ob das Leiden diese Funktion erfüllt oder nicht, hängt teils von dem objektiven Charakter des Leidens, teils von der Weise ab, wie es vom leidenden Subjekt getragen wird. Es gibt Formen von Leiden, die dem Menschen die Möglichkeit nehmen, überhaupt als Subjekt zu handeln, z. B. im Falle zerstörerischer Psychosen, entmenschlichender äußerer Bedingungen oder radikaler Herabminderung körperlichen Widerstands.“ Tillich, Theologie, 2, 81. 200 „Wo Essenz und Existenz geeint sind, gibt es weder Gesetz noch richtendes Urteil. Aber Existenz ist nicht mit Essenz geeint, deshalb steht das Gesetz gegen alles Seiende, und das Gericht vollzieht sich in Selbstzerstörung.“ Tillich, Theologie, 2, 237. 201 Vgl. Tillich, Theologie, 1, 326. 202 „Entfremdung in ihren selbstzerstörerischen Konsequenzen treibt zur Verzweiflung. In ihr treffen alle Elemente des Übels, die wir aufgewiesen haben, zusammen: Angst, Schuld, Sinnverlust. […] Die Qual der Verzweiflung ist das Gefühl, daß man für den Verlust des Sinnes der eigenen Existenz selbst verantwortlich ist und doch unfähig, ihn wiederzugewinnen.“ Tillich, Theologie, 2, 84. 203 „Der Mensch kann an eine Vergebung nur glauben, wenn zugleich der Gerechtigkeit genüge getan und ein Ja zur Schuld gesprochen wird. Gott muß Herr und Richter bleiben trotz der einenden Kraft seiner Liebe.“ Tillich, Theologie, 1, 330. 204 „Auch der naturhafte und gesellschaftliche Zusammenhang der Sünde ist nicht zu verstehen ohne den Begriff des Dämonischen. Die Tatsache der Gesamtsünde weist über die Freiheit des einzelnen hinaus in die vorbewußten Schichten der Natur und in die überpersönlichen Zusammenhänge der Gemeinschaft. Das, was in der Lehre von

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wirtschaft und Nationalismus als gegenwärtige Dämonien.205 In seiner „Systematischen Theologie“ verzichtet er darauf, das Dämonische in unmittelbaren Zusammenhang mit der Erbsünde zu bringen. Er spricht aber von „dämonischen Strukturen“, wo tragisches Schicksal die Menschen zu destruktivem Handeln treibt, z. B. bei der Entwicklung von Atomwaffen.206 Sonst ist das Dämonische ein spezieller Ausdruck der menschlichen Hybris, die Endliches zu Unendlichem macht und Anspruch auf Göttlichkeit erhebt. Dadurch, dass ein endliches Element verabsolutiert wird, kommt es zum Zustand der Gespaltenheit, in dem andere Elemente mit Widerstand reagieren oder selbst Anspruch auf Unendlichkeit erheben. Daraus folgt Besessenheit.207 Erst das Sein Jesu als der Christus hat die Macht des Dämonischen gebrochen. In diesem Neuen Sein wird die Entfremdung überwunden. Erkenntnis der Sünde in Entfremdung wird dem Menschen möglich, wenn er vom göttlichen Geist ergriffen wird. „Wenn aber die Frage: Was kann ich tun, um das Neue Sein zu erfahren? mit existentiellem Ernst gestellt wird, dann liegt die Antwort schon in der Frage, denn der existentielle Ernst zeigt an, daß der Fragende bereits vom göttlichen Geist ergriffen ist. Wer letztlich beunruhigt ist über sein existentielles Entfremdetder Erbsünde gemeint war, kann ohne den Begriff des Dämonischen nicht wirklich verstanden werden. […] Die Schau des Dämonischen überwindet den moralistischen Begriff der Sünde. Es ist kein Zufall, daß die Aufklärung mit dem Kampf gegen die Mythologie des Dämonischen, der durchaus begründet war, nicht nur den Begriff des Dämonischen, sondern auch den religiösen Begriff der Sünde verlor.“ Tillich, Paul: Das Dämonische: Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. In: Tillich, Paul: Der Widerstreit von Raum und Zeit: Schriften zur Geschichtsphilosophie: Gesammelte Werke, Bd. 6. Stuttgart 1963, 53f. 205 „Es kann kein Zweifel sein, daß die kapitalistische Wirtschaftsform in höchstem Maße den tragenden, schöpferischen und umschaffenden Charakter hat, der zum Dämonischen gehört. Ebenso aber, daß diese ihre tragende Kraft verbunden ist mit einer zerstörenden von grauenhafter Gewalt. Die Schilderungen dieser Zerstörung bei den Massen und bei den Einzelnen, geistig, seelisch und körperlich, sind so zahlreich und von so unwiderleglicher Eindruckskraft, daß es unnötig ist, sie hier zu wiederholen. Es ist auch nicht möglich, mit religiös-moralischen Kategorien wie Mammonismus das Dämonische der Wirtschaft auf das Niveau der allgemeinen Sündhaftigkeit herabzudrücken […].“ Tillich, Theologie, 2, 69f. 206 „Man kann hier von dämonischen Strukturen sprechen, da sie dem Wesen des Dämonischen gemäß nicht von unserer Zustimmung oder Ablehnung abhängig sind.“ Tillich, Theologie, 3, 298. 207 „Eine Folge dieser Spaltung ist der Zustand der Besessenheit, d. h. der Zustand, in dem man in der Gewalt der Mächte ist, die die Spaltung schaffen – der Gewalt des Dämonischen. Besessenheit ist dämonische Besessenheit. Die Freiheit, die mit der Zentriertheit des Selbst gegeben ist, ist durch die dämonische Spaltung verlorengegangen. Solche dämonischen Strukturen in Person und Gemeinschaft können nicht durch Akte der Freiheit oder des guten Willens überwunden werden. Sie werden im Gegenteil durch solche Akte verstärkt – es sei denn, daß die verändernde Macht sozusagen eine göttliche Struktur, d. h. eine Struktur der Gnade ist.“ Tillich, Theologie, 3, 126.

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sein und dann die Frage nach der Wiedervereinigung mit dem Grund und Ziel seines Seins stellt, der ist bereits vom göttlichen Geist ergriffen.“208 1.2.3. Vergebung als Teilgabe am Neuen Sein in Jesus als dem Christus Die tiefe Beunruhigung über die existenzielle Entfremdung wird zum Ausgangspunkt für ihre Überwindung.209 Doch der Mensch kann seine Entfremdung nicht aus eigener Anstrengung überwinden. Er kann sich nicht selbst erlösen, weder auf legalistischem, noch auf asketischem, mystischem, sakramentalem, doktrinellem oder emotionalem Weg.210 Er kann die Überwindung existenzieller Entfremdung nur von Gott empfangen.211 Tillich charakterisiert die Erlösung in dreifacher Weise auf der Grundlage der traditionellen Begriffe von Wiedergeburt, Rechtfertigung und Heiligung. Zunächst erörtert er im 2. Teil seiner „Systematischen Theologie“ die objektive Seite im Blick auf das Neue Sein als Macht der Erlösung212 und dann, im 3. Teil, nochmals den subjektiven Aspekt, unter dem der Einzelne in der Kirche und in der Gegenwart des göttlichen Geistes das Neue Sein erfährt.213 Die „Wiedergeburt“ versteht Tillich als Teilnahme am Neuen Sein, die vom Menschen als Neuschöpfung erfahren wird. Seine Auffassung der Wiedergeburt ist dabei nicht mit der pietistischen zu verwechseln. Das Neue Sein ergreift als objektive Wirklichkeit den Menschen und gibt ihm Anteil am neuen Stand der Dinge. Grundlage dafür ist „der Glaube, der Jesus als den Träger des neuen Seins annimmt.“214 Diesen Glauben bringt der Mensch nicht aus sich selbst hervor, sondern er ist Werk des göttlichen Geistes, der den Menschen ergriffen hat. Der wiedergeborene Mensch wird nun der Gegenwart des göttlichen Geistes gewahr und erfährt darin sein Neues Sein. Er erfährt es fragmentarisch und in den 208 Tillich, Theologie, 3, 256f. 209 „Die in der menschlichen Entfremdung enthaltene Frage ist schon ausgerichtet auf die Antwort: Vergebung.“ Tillich, Theologie, 2, 22. 210 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 89ff. 211 „Die ‚Knechtschaft des Willens‘ ist ein universales Faktum. Sie ist die Unfähigkeit des Menschen, durch den Bann seiner Entfremdung durchzubrechen. Trotz der Macht seiner endlichen Freiheit ist er nicht imstande, die Vereinigung mit Gott zu erreichen. […] Er muß empfangen, um handeln zu können. Neues Sein ist die Voraussetzung für Neues Handeln.“ Tillich, Theologie, 2, 88f. 212 Vgl. Tillich, Theologie, 2, 189–194. 213 Vgl. Tillich, Theologie, 3, 254–266. 214 Tillich, Theologie, 2, 190. „Wiedergeburt ist ein Zustand der Dinge ganz allgemein. Sie ist der neue Stand der Dinge, der neue Äon, den der Christus bringt. Der einzelne ‚tritt ein‘ und nimmt dadurch an ihm teil und ist durch diese Teilnahme wiedergeboren. Die objektive Wirklichkeit des Neuen Seins geht der subjektiven Teilnahme an ihm voraus.“ Tillich, Theologie, 2, 190.

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Zweideutigkeiten des Lebens.215 In diesem Sinn muss Tillich die Wiedergeburt der Rechtfertigung vorordnen. Denn die Voraussetzung für die Rechtfertigung ist der Glaube. „Rechtfertigung“ ist für Tillich die Annahme des Neuen Seins, die der Mensch als Paradox erfährt. Zunächst ist Rechtfertigung ein objektives Geschehen, in dem Gott den Menschen annimmt, obwohl er unannehmbar ist.216 Andererseits muss der Mensch diese unbedingte Annahme selbst annehmen können. Dies wird ihm möglich durch den in der Wiedergeburt geschenkten Glauben.217 Mit diesem Paradox ist die subjektive Seite der Rechtfertigung charakterisiert. Tillich macht auf verschiedene semantische Probleme im Zusammenhang mit der Rechtfertigung aufmerksam. Für ihn ist wichtig, dass präzise von der „Rechtfertigung durch Gnade im Glauben“ gesprochen wird, um jeden Gedanken an eine menschliche Veranlassung der Rechtfertigung auszuschließen.218 Weiterhin plädiert Tillich dafür, wenn möglich, statt von „Rechtfertigung“ von „Annahme“ zu sprechen. Das theologische Verständnis legt dies ebenso nahe, wie der höhere

215 „Der Ausdruck Wiedergeburt (wie der Paulinische Ausdruck ‚Neue Kreatur‘) ist die biblische Grundlage für den abstrakten Begriff des Neuen Seins, aber beide meinen dieselbe Realität, nämlich das Ereignis, in dem der göttliche Geist ein personhaftes Leben ergreift und Glauben in ihm schafft. […] Das Teilhaben am Neuen Sein bringt nicht automatisch die volle Verwirklichung des Neuen Seins in einem Menschen mit sich.“ Tillich, Theologie, 3, 255. 216 „Rechtfertigung im objektiven Sinn ist der aus der Ewigkeit kommende Akt Gottes, in dem er diejenigen, die in Wirklichkeit von ihm entfremdet sind, annimmt. Es ist der Akt der Sündenvergebung, durch die er sie in die Einheit mit ihm zurücknimmt. […] Rechtfertigung ist ein Akt Gottes, der in keiner Weise vom Menschen abhängt, ein Akt, in dem Gott den annimmt, der unannehmbar ist. In der paradoxen Formel: simul peccator simul iustus, die das Kernstück der Reformation darstellt, ist der ‚Trotzdem‘-Charakter entscheidend für alle Seiten der christlichen Botschaft, der Rettung aus Schuld und Verzweiflung. Rechtfertigung im Sinne von Vergebung der Sünden ist in Wahrheit der einzige Weg, auf dem die Angst der Schuld überwunden werden kann. Sie macht es dem Menschen möglich, von sich und seinem Zustand der Entfremdung und Selbstzerstörung wegzublicken und auf Gott und sein rechtfertigendes Handeln zu schauen. Wer auf sich selbst blickt und den Versuch macht, seine Beziehung zu Gott an seiner eigenen größeren oder geringeren Vollkommenheit zu messen, verstärkt die Entfremdung und mit ihr die Angst vor der Schuld.“ Tillich, Theologie, 2, 191f. 217 „Es gibt zwar im Menschen nichts, das Gott veranlassen könnte, ihn anzunehmen, aber gerade das ist es, was der Mensch annehmen muß. Er muß bejahen, daß er von Gott bejaht ist; er muß die Bejahung bejahen. […] Daraus folgt die Wiederherstellung der Einheit von Gott und Mensch, wie fragmentarisch sie auch verwirklicht sein möge. Bejahen, daß man bejaht ist – das ist das Paradox der Erlösung, ohne das es keine Erlösung, sondern nur Verzweiflung geben würde.“ Tillich, Theologie, 2, 192. 218 „Aber nicht der Glaube, sondern die Gnade ist die Ursache der Rechtfertigung, und das bedeutet: Gott allein ist die Ursache. Glaube ist der annehmende Akt, und dieser Akt ist selbst eine Gabe der Gnade.“ Tillich, Theologie, 3, 258.

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Grad von allgemeiner Verständlichkeit.219 In dem Ausdruck „Vergebung der Sünden“ sieht Tillich ein Symbol. Die Vergebung der Sünden muss symbolisch verstanden werden, damit Missverständnisse ausgeschlossen sind. Es geht dabei um die Überwindung der Entfremdung als Ausdruck für Sünde schlechthin. Die Vergebung einzelner Sünden ist nur ein Hinweis auf dieses grundlegende Ereignis.220 Nachdrücklich stellt Tillich die Frage nach der Relevanz der Rechtfertigungsbotschaft in unserer Zeit221 und kommt zu dem Schluss: „Die Frage von Paulus: Wie werde ich vom Gesetz befreit? oder die Frage von Luther : Wie finde ich einen gnädigen Gott? werden in unserer Zeit durch die Frage ersetzt: Wie kann ich einen Sinn in dieser sinnlosen Welt finden? Die Frage des Johannes nach der 219 „Da ‚Rechtfertigung‘ ein biblischer Ausdruck ist, kann er auch heute in den christlichen Kirchen nicht vermieden werden. Aber in der Praxis des Unterrichts und der Predigt sollte er durch das Wort ‚Annahme‘ ersetzt werden. Annahme bedeutet: Wir sind von Gott angenommen, obwohl wir nach den Kriterien des Gesetzes unannehmbar sind […] Diese Terminologie wäre selbst für solche Menschen annehmbar, für die die alttestamentlichen und neutestamentlichen Worte jeden Sinn verloren haben, obwohl die Sache selbst, auf die diese Worte hinweisen, auch für sie von größter existentieller Bedeutung ist.“ Tillich, Theologie, 3, 258f. 220 „Eine dritte semantische Frage taucht bei dem Ausdruck ‚Vergebung der Sünden‘ auf, der den paradoxen Charakter der Erfahrung des Neuen Seins kennzeichnet. Es ist ein religiös-symbolischer Ausdruck, dessen Symbol-Material aus dem täglichen Leben genommen ist. Man denkt dabei an den Schuldner und an den, dem er verschuldet ist […] Wie bei jedem Symbol, so ist auch hier die Analogie begrenzt. Die eine Begrenzung liegt darin, daß die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht den Charakter einer endlichen Beziehung zwischen endlichen und einander entfremdeten Wesen hat. […] und die göttliche Vergebung verlangt nicht wie die menschliche, daß dem, der vergibt, selbst vergeben werde. Die zweite Begrenzung der Analogie liegt in der Pluralform ‚Sünden‘. Die Menschen vergeben sich einzelne Sünden, z. B. Beleidigungen oder Übertretungen bestimmter Gebote oder Gesetze. Aber in der Beziehung zu Gott gibt es keine einzelnen Sünden, sondern die eine Sünde – die Trennung von Gott und den Widerstand gegen die Wiedervereinigung mit ihm. In der Vergebung einer einzelnen Sünde wird die Sünde als solche vergeben.“ Tillich, Theologie, 3, 259. 221 „Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, der heutige Mensch erfahre seine Situation als Zerrissenheit und Zwiespalt, Selbstzerstörung, Sinnlosigkeit und Verzweiflung in allen Lebensbereichen. Diese Erfahrung kommt in der bildenden Kunst und in der Literatur zum Ausdruck; in der Existenzphilosophie wird sie begrifflich erfaßt; in politischen Spaltungen aller Art wird sie aktuell, und in der Psychologie des Unbewußten wird sie analysiert. Sie hat der Theologie ein neues Verständnis der dämonischtragischen Strukturen des individuellen und sozialen Lebens vermittelt. Die Frage, die aus dieser Erfahrung sich erhebt, ist nicht wie in der Reformation die Frage nach dem gnädigen Gott und der Vergebung der Sünden, noch ist es wie in der alten griechischen Kirche die Frage nach der Endlichkeit, nach Tod und Irrtum. Es ist auch nicht die Frage nach dem persönlichen religiösen Leben oder nach der Verchristlichung von Kultur und Gesellschaft. Es ist die Frage nach einer Wirklichkeit, in der die Selbstentfremdung unserer Existenz überwunden wird, nach einer Wirklichkeit der Versöhnung und Wiedervereinigung, nach schöpferischer Kraft, Sinnhaftigkeit und Hoffnung. Eine solche Wirklichkeit wollen wir das ‚Neue Sein‘ nennen.“ Tillich, Theologie, 1, 61.

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Wahrheit und seine Antwort, daß der Christus die Wahrheit ist, sowie die Aussage Augustins, daß die Wahrheit gerade im ernsthaften Zweifel erscheint, sind unserer eigenen Situation näher als die Fragen und Antworten von Paulus und Luther. Unsere eigene Antwort muß eine Antwort auf die Frage sein, die in unserer Situation enthalten ist, obwohl die Antwort selbst aus der Botschaft vom Neuen Sein stammt.“222 Tillich erkennt die Paradoxie des Neuen Seins in der Situation des Menschen, der nach der Überwindung von Zweifel und Sinnlosigkeit fragt, aber nichts dafür tun kann. Er ist der Überzeugung, dass in wahrhaftem Zweifel und ernsthafter Verzweiflung Gott „im Erlebnis des Letzten und Unbedingten“ gegenwärtig ist, und spricht von der „Rechtfertigung des Zweiflers“.223 „Heiligung“ ist nach Tillich schließlich die Umwandlung des Menschen durch das Neue Sein, das als Prozess erfahren wird. Die Heiligung unterscheidet sich von Wiedergeburt und Rechtfertigung dadurch, dass beide ein Ausdruck für die Wiedervereinigung sind, während Heiligung der Prozess ist, der durch die Wiedervereinigung in Gang gesetzt wird.224 Im Prozess der Heiligung werden die Zweideutigkeiten des Lebens überwunden. Dies geschieht allmählich und nicht ungebrochen, aber dennoch als ein Wachsen und Reifen.225 Einerseits wird sich der Mensch seiner Situation und der Zweideutigkeiten des Lebens immer deutlicher bewusst. Andererseits wird er in dem Maß von Geboten und Verboten freier, in dem ihm die Wiedervereinigung mit seinem wahren Sein durch den göttlichen Geist gelingt. Dieses Freiwerden geschieht aber nicht ohne wachsendes Verbundensein mit anderen, das Einsamkeit und Verschlossenheit in menschlichen Beziehungen durchbricht. Alle diese Prinzipien der Heiligung gehen einher mit einer ständigen Selbst-Transzendierung, mit 222 Tillich, Theologie, 3, 262. Vgl. 11, Anm. 2. 223 Vgl. Tillich, Theologie, 3, 262. „[…] in dieser Weise kann man zu den Menschen unserer Zeit sprechen und ihnen in Analogie zu der klassischen Form des Rechtfertigungsgedankens sagen, daß sie im Zweifel von der Wahrheit, und im Erlebnis der Sinnlosigkeit vom letzten Sinn ergriffen sind. Im Ernst der existentiellen Verzweiflung ist Gott ihnen gegenwärtig. Der Mut, dieses anzunehmen, ist ihr Glaube.“ Tillich, Theologie, 3, 262f. 224 „Heiligung ist der Prozeß, in dem die Macht des Neuen Seins den einzelnen und die Gemeinschaft umformt – innerhalb und außerhalb der Kirche. Sowohl der individuelle Christ als auch die Kirche, sowohl das religiöse als auch das profane Leben sind Gegenstände der heiligenden Funktion des göttlichen Geistes, der das neue Sein in der Geschichte verwirklicht.“ Tillich, Theologie, 2, 193. 225 „Man kann mit der Aufstellung folgender Prinzipien antworten: erstens wachsendes Bewußt-werden, zweitens wachsendes Frei-werden, drittens wachsendes Verbunden-sein, viertens wachsende Selbst-Transzendierung. Wie sich diese Prinzipien in einem neuen Typus des Lebens in der Gegenwart des göttlichen Geistes vereinigen, kann nicht beschrieben werden, ehe es Wirklichkeit geworden ist. Aber Elemente eines solchen Lebens kann man bei Einzelnen und bei Gruppen finden, die das vorwegnehmen, was möglicherweise in der Zukunft liegt.“ Tillich, Theologie, 3, 266.

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Partizipation am Heiligen. Diese Partizipation am Heiligen ist nicht auf bestimmte Orte oder Zeiten beschränkt. Sie kann immer und überall stattfinden.226 Die Selbst-Transzendierung kann mit zunehmender Reife sogar in Widerspruch mit herkömmlichen Formen religiösen Lebens geraten.227 Wenn Tillichs Haltung gegenüber der Sündenvergebung im Gottesdienst untersucht werden soll, müssen sein Gottesdienstverständnis und seine Auffassung von der Vergebung der Sünde betrachtet werden. In der „Systematischen Theologie“ finden sich dazu nur wenige Hinweise, die seinen Standpunkt umreißen. An vielen Stellen in den „Gesammelten Werken“ führt er deutlicher und konkreter aus, was er meint (s. u. 196ff). Für Tillich steht fest, dass der Christ als Teil der Geistgemeinschaft nicht dauerhaft auf die Teilnahme am Gottesdienst verzichten kann. Die wesentlichsten Elemente des Gottesdienstes sind dabei Anbetung als Lobpreis und Dank, Gebet als Bitte und als eine besondere Qualität des Gebetes die Kontemplation. In der Anbetung kommen sowohl der unendliche Abstand des Menschen vor Gott zum Ausdruck als auch seine Teilhabe am Heiligen. Dieses Paradox kann nicht aufgehoben werden, indem sich der Mensch ganz bewusst demütigt. Er ist als Endlicher entfremdet und gehört dennoch zum Unendlichen.228 Während Danksagung 226 „Die Selbst-Transzendierung, die zum Prinzip der Heiligung gehört, ist in jedem Augenblick verwirklicht, in dem die Gegenwart des göttlichen Geistes erfahren wird. Das kann im Gebet geschehen, in der Meditation, in der Einsamkeit oder im Austausch mit Geist-gewirkten Erfahrungen anderer, im Gedankenaustausch innerhalb des profanen Lebens, in der Begegnung mit kulturellen Schöpfungen, inmitten von Arbeit oder Ruhe, in persönlicher Seelsorge oder in kirchlichen Feiern. Die Gegenwart des göttlichen Geistes ist wie das Atmen einer anderen Luft, sie ist eine Erhebung über das Durchschnittsleben – das wichtigste Erlebnis im Prozeß der Heiligung.“ Tillich, Theologie, 3, 271f. 227 „Die Begriffe Partizipation am Heiligen und religiöses Leben müssen so verstanden werden, daß das Heilige sich selbst und das Profane umfaßt und daß der Begriff Religion im weiteren wie im engeren Sinne des Wortes gebraucht wird. Werden beide Worte ausschließlich im engeren Sinne, z. B. im Sinne von Andachtsleben oder Gebetsleben gebraucht, dann erschöpfen sie nicht den Sinn der Selbst-Transzendierung. Im reifen, Geist-bestimmten Leben mag es geschehen, daß Teilnahme am Gottesdienst der Gemeinde eingeschränkt oder sogar abgelehnt wird, daß Gebet der Meditation untergeordnet wird, ja sogar, daß Religion im engeren Sinne im Namen der Religion im weiteren Sinne in Frage gestellt wird – all das widerspricht nicht dem Prinzip der Selbst-Transzendierung.“ Tillich, Theologie, 3, 271. Tillich hält aber hinsichtlich der Unterscheidung von persönlichem und organisiertem religiösem Leben fest: „Man kann im allgemeinen sagen, daß das Fernbleiben vom religiösen Leben der Gemeinschaft gefährlich ist, weil es ein Vakuum schaffen kann, in dem das religiöse Leben überhaupt untergeht.“ Tillich, Theologie, 3, 271. 228 „Gottesdienst als die Antwort der Kirche auf das, was sie von Gott empfangen hat, umfaßt Anbetung, Gebet und Kontemplation. Die Anbetung der Kirche, die in Lobpreis und Dank besteht, ist die ekstatische Anerkennung der Heiligkeit Gottes und des unendlichen Abstandes von ihm, der zugleich als Geist unserem Geist gegenwärtig ist. Diese Anerkennung ist keine theoretische Behauptung, sondern ein paradoxes Teilhaben des Endlichen und Entfremdeten am Unendlichen, zu dem es gehört. Wenn

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ein Ausdruck von Anbetung und Lobpreis ist, wird das Gebet durch die Bitte charakterisiert. Im Bittgebet wird etwas Neues geschaffen – in der Beziehung zu Gott ebenso wie in der Beziehung zu denen, für die man bittet. Die Erhörung des Gebetes ist dabei nicht mit der Erfüllung der Bitten identisch.229 Tillich spricht von einem geistgewirkten Gebet, das nicht mit einer profanen Unterhaltung des Menschen mit Gott vergleichbar ist – der Geist Gottes schafft im Menschen das Gebet, das sich an Gott richtet. Diese Weise des Betens führt zur Kontemplation als „eine Qualität des Gebetes, in der sich der Betende bewußt ist, daß das Gebet an den gerichtet ist, der das rechte Gebet in ihm schafft.“230 Der Gottesdienst ist aber nur ein Ort der Gegenwart des göttlichen Geistes (s. o. Anm. 226). Alles, was Gottesdienst und Liturgie bzw. Teile davon absolut setzt, muss als dämonisch betrachtet werden. Insofern ist der Gottesdienst – wie alle Formen religiösen Lebens – ständig der Gefahr der Dämonisierung ausgesetzt.231 Diese Dämonisierung wird zusammen mit der Religion durch die Gegenwart des göttlichen Geistes überwunden.232 eine Kirche die Majestät Gottes preist, drücken sich darin zwei Elemente aus: der völlige Gegensatz zwischen der kreatürlichen Kleinheit des Menschen und der unendlichen Größe des Schöpfers einerseits und die Erhebung in die Sphäre der göttlichen Herrlichkeit andrerseits, so daß die Lobpreisung seiner Ehre zugleich eine, wenn auch fragmentarische, Teilnahme an ihr ist. Diese Einheit ist paradox, und sie kann nicht zerrissen werden, ohne auf der einen Seite ein dämonisches Bild von Gott zu schaffen und auf der anderen Seite ein Bild vom Menschen, das ohne echte Würde ist. Gegen eine solche Entstellung des Sinnes der Anbetung wirkt die Gegenwart des göttlichen Geistes, die den, der anbetet, an dem, der angebetet wird, teilhaben läßt. Anbetung in diesem Sinne ist keine Demütigung des Menschen, sie würde jedoch ihren Sinn verlieren, wenn sie etwas anderes bezweckte, als Gott zu preisen.“ Tillich, Theologie, 3, 222. 229 „Das Neue, das im Bitt-Gebet geschaffen wird, ist der Geist-gewirkte Akt, in dem der Inhalt unserer Wünsche und Hoffnungen in die Gegenwart des göttlichen Geistes erhoben wird. Ein Gebet, in dem das geschieht, ist ‚erhört‘, selbst wenn ihm Ereignisse folgen, die dem konkreten Inhalt des Gebets widersprechen. Das gleiche gilt von Fürbitten, die nicht nur eine neue Beziehung zu denen schaffen, für die das Gebet gesprochen wird, sondern die auch eine Änderung in der Beziehung zu Gott bewirken, sowohl von seiten des Betenden wie dessen, für den gebetet wird.“ Tillich, Theologie, 3, 222. 230 Tillich, Theologie, 3, 224. 231 „Die Religion ist im Hinblick auf die Antwort, die sie enthält, unzweideutig, im Hinblick auf die Aufnahme dieser Antwort höchst zweideutig, denn sie vollzieht sich in den wechselnden Formen der menschlichen moralischen und kulturellen Existenz. Diese Formen partizipieren am Heiligen, auf das sie hinweisen, aber sie sind nicht das Heilige selbst. Insofern sie den Anspruch erheben, das Heilige zu sein, sind sie dämonisch.“ Tillich, Theologie, 3, 126. „Trotz des Sieges [Christi, T. B.] über das Dämonische kann die Gegenwart dämonischer Elemente in der primitiven und von der Priesterschaft gebilligten Ritualisierung des Heiligen ebensowenig geleugnet werden wie die Dämonisierung, die immer eintritt, wenn die christlichen Kirchen ihr Fundament mit dem Gebäude verwechseln, das sie auf ihm errichtet haben, und die Unbedingtheit des ersten dem letzteren zuschreiben.“ Tillich, Theologie, 3, 432. 232 Vgl. Tillich, Theologie, 3, 280.

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Es sind also bei Tillich Vorbehalte gegenüber festen liturgischen Formen zu vermuten, die auch noch den Anspruch haben, Anteil an der Wirklichkeit des Neuen Seins zu geben. Für ihn ist „Vergebung“ weniger ein Geschehen, das sich auf einen liturgischen Akt konzentriert, als vielmehr eine objektive Gegebenheit, die im Gottesdienst erfahren werden kann, aber nicht nur dort.233 Trotzdem erkennt er die Schwierigkeiten des Menschen damit an, seine Annahme anzunehmen, wenn er fragt: „Wie ist es dem Menschen möglich zu bejahen, daß er angenommen ist? Wie kann er sein Schuldgefühl und seinen heimlichen Wunsch nach Strafe mit dem Gebet um Vergebung vereinigen, und was gibt ihm die Gewißheit, daß ihm vergeben ist?“234 Tillich hebt mehrfach den Wert der Einzelbeichte hervor, die nicht durch die Psychoanalyse ersetzt werden kann.235 Er erkennt allerdings an, dass die Psychotherapie der Theologie den Begriff der Gnade erst wieder aufgeschlossen hat.236 233 „Die Kirchen folgten nur selten der Haltung Jesu gegenüber den ‚Zöllnern und Huren‘. Oft scheint es, als ob sie sich schämten, nach dem Beispiel Jesu die Gleichheit aller Menschen unter der Sünde anzuerkennen und damit auch die Gleichheit aller Menschen unter der Vergebung, obgleich sie beides im Prinzip bekennen.“ Tillich, Theologie, 3, 239. 234 Tillich, Theologie, 3, 259f. 235 „Eine eigentümliche und für die religiöse Lage wichtige Bedeutung hat das Heilverhältnis in der Gegenwart bekommen. Voraussetzung dafür ist die Tatsache, daß mit Aufhebung der priesterlichen Beichte und mit dem Verlust ihrer inneren Möglichkeit der Arzt weithin als Ersatz eintrat; aber als ein Ersatz, der gerade nicht ersetzen konnte, was er sollte, die Heilung des Menschen von seinem Zentrum, also seinen religiösen Beziehungen aus. […] In der Beichte geschieht das alles vor Gott. Der Geist ist zuerst gerichtet auf das Ewige und erst in zweiter Linie auf sich selbst.“ Tillich, Paul: Die religiöse Lage der Gegenwart in Politik und Ethos. In: Die religiöse Deutung der Gegenwart: Schriften zur Zeitkritik: Gesammelte Werke, Bd. 10, Stuttgart 1968, 56f. 236 „Die einseitige Zuwendung zum Moralismus war eine der folgenreichsten Formen der Selbstentfremdung der Theologie von ihrer eigentlichen Ganzheit. Es darf in der Tat nicht übersehen werden, daß die heutige Theologie von der analytischen Psychotherapie erst wieder lernen mußte, was Gnade und was Vergebung als die Annahme derer, die im Grunde unannehmbar sind, eigentlich bedeuten. […] Das Wort Gnade, das völlig sinnlos geworden war, hat einen neuen Sinn erhalten durch die Art, wie der Psychotherapeut mit seinem Patienten umgeht. Er sagt nicht: ‚Sie können angenommen werden‘, sondern er nimmt ihn einfach an. Und das ist die Art, wie – in der Sprache des religiösen Symbols – Gott mit uns verfährt. In derselben Weise sollte sich auch jeder Geistliche und jeder Christ seines Nächsten annehmen. Vor der Wiederentdeckung der Beichte und der persönlichen Beratung, deren Sinn der Protestantismus lange Zeit hindurch völlig verkannte, wurde von jedermann verlangt, bestimmte Dinge zu tun. Und wenn er das nicht tat, wurde er getadelt. Jetzt kann der Mensch zu einem anderen Menschen gehen, sich mit ihm aussprechen und auf diese Weise objektivieren, was ihn bedrängt. Das ist ein Akt innerer Befreiung. Ist der Berater ein Mensch, der mit der menschlichen Situation vertraut ist, kann er zu einem Mittler der Gnade für den werden, der sich an ihn wendet; er kann das Bewußtsein stärken, daß die Kluft zwischen Essenz und Existenz überbrückbar ist.“ Tillich, Paul: Die theologische Bedeutung von Psychoanalyse und

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Tillich beklagt die Verdunkelung der Botschaft von der Gnade und die Moralisierung gerade im Zusammenhang mit dem Gottesdienst. Sündenbekenntnis und Vergebungsbitte verfehlen ihr Anliegen, wenn sie nicht die Sünde als solche im Blick haben, sondern zur Gewissensberuhigung nach der Übertretung von Moralgeboten dienen.237 Der frühe Tillich entdeckt eine Gefährdung der Sakramente und der religiösen Symbole im Protestantismus, nimmt aber gleichzeitig eine Neubewertung von Sakramenten und Symbolen wahr.238 Wort und Sakrament bzw. sakramentale Begegnungen werden zu Mittlern des göttlichen Geistes.239 Tillich kennt dabei weder eine Begrenzung der Zahl der Sakramente noch ihre genaue Festlegung.240 Er behandelt in seiner „Systematischen Theologie“ die einzelnen „großen“ Sakramente nicht näher. Indem der menschliche Geist vom göttlichen Geist in den Sakramenten ergriffen wird, ist aber davon

Existentialismus. In: Offenbarung und Glaube : Schriften zur Theologie II: Gesammelte Werke, Bd. 8, Stuttgart 1970, 314f. 237 „Das Evangelium, d. h. die frohe Botschaft von der Versöhnung und Wiedervereinigung mit Gott als dem Grund und Ziel unseres Seins ist in eine Vielzahl von z. T. dogmatischen und z. T. moralischen Gesetzen verkehrt worden. Das ‚Joch‘ der moralischen Gebote, das Jesus den Menschen erleichtern wollte, ist zu einer schwereren Last geworden, und die Botschaft der Gnade ist weitgehend verloren gegangen – trotz der zahlreichen liturgischen Gebete um Vergebung der Sünden. […] Die Gebete um Vergebung haben für viele Menschen keine andere Funktion als die, ihr unruhiges Gewissen zu erleichtern, das die Folge ihres Verstoßes gegen traditionelle und oft lächerliche Vorschriften, meist in Form von Verboten, ist. Sie sind für diese Menschen nicht Ausdruck des großen Paradoxes, daß es eine Wiedervereinigung mit dem Grund unseres Seins gibt, unabhängig von unserem ‚richtigen‘ Handeln, unserem ‚Gutsein‘ oder unserem ‚guten Willen‘.“ Tillich, Paul: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns. In: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns: Schriften zur Ethik und zum Menschenbild: Gesammelte Werke, Bd. 3, Stuttgart 1965, 13f. 238 „Die Betonung der Predigt im Protestantismus, verbunden mit der humanistischen Vorliebe für verstandesmäßige Belehrung, entleerte und verkleinerte den Raum der symbolischen Ausdrucksformen. Liturgische und sakramentale Symbole büßten ihre Bedeutung ein. Heute ist die Lage anders. Das sakramentale Denken hat an Einfluß zugenommen, die großen liturgischen Traditionen werden wieder entdeckt und dem Leben der Kirche zugeführt, künstlerische und religiöse Symbole werden in ihrer Zusammengehörigkeit gesehen.“ Tillich, Paul: Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie. In: Offenbarung und Glaube : Schriften zur Theologie II: Gesammelte Werke, Bd. 8, Stuttgart 1970, 330. 239 „‚Wort‘ und ‚Sakrament‘ bezeichnen die beiden Weisen, wie sich der göttliche Geist den Menschen mitteilt. Worte, durch die der göttliche Geist spricht, sind ‚Wort Gottes‘ oder abgekürzt ‚das Wort‘. Gegenstände, die Träger des göttlichen Geistes sind, werden im sakramentalen Akt zu sakramentalen Elementen.“ Tillich, Theologie, 3, 144. 240 „Im weitesten Sinne des Wortes ist ‚sakramental‘ alles, durch das der göttliche Geist erfahren wird; in einem engeren Sinne sind solche Gegenstände und Handlungen sakramental, in denen eine religiöse Gemeinschaft ihre Begegnungen mit dem göttlichen Geist ausdrückt, und im engsten Sinne bezieht sich ‚sakramental‘ auf die großen Sakramente, in denen sich eine religiöse Gemeinschaft verwirklicht.“ Tillich, Theologie, 3, 145.

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auszugehen, dass für Tillich auch im Abendmahl Neues Sein erfahren und das Paradox der Rechtfertigung angenommen wird. Außerdem erfahren Menschen darin Verbundenheit in der Geistgemeinschaft. Allerdings bleibt das alles nicht auf die Sakramente beschränkt. Beim frühen Tillich stößt man im Zusammenhang mit den Sakramenten auf einen Gedanken zum Absolutionswort. Indem das Wort als Naturgegenstand verstanden wird, dem eine Mächtigkeit eigen ist, kann es zum sakramentalen Wort werden.241 „Sakramentale Worte, die ausdrücklich diesen Charakter zeigen, finden sich im Protestantismus im Zusammenhang mit dem Vollzug der Sakramente auch im Sagen der Absolutionsworte.“242 In der „Systematischen Theologie“ verwendet Tillich den Begriff der Beichte nur im Hinblick auf die Einzelbeichte. Wenn er von so etwas wie „Beichte im Gottesdienst“ spricht, nennt er es stets nur „Gebet um Sündenvergebung“. Die Absolution ist für ihn ein schwieriges Thema, weil er in ihr die Gefahr der Ritualisierung und damit der Dämonisierung sieht.243 Entsprechend hat er auch keine Veranlassung, speziell über die Bindung der Absolution an das Amt nachzudenken. Obwohl er das ordinierte Amt nicht in Frage stellt, versucht er doch, eine einseitige Funktionsbestimmung zu vermeiden.244 Insge241 „Auch das Wort ist zunächst Naturgegenstand. Auch das Wort kann als Naturgegenstand eingehen in einen ritualen Akt, in dem es zum Träger transzendenter Mächtigkeit wird: es kann sakramental werden.“ Tillich, Paul: Natur und Sakrament. In: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung: Schriften zur Theologie I: Gesammelte Werke, Bd. 7, Stuttgart 1962, 109. 242 Tillich, Natur, 109. 243 „Das Gefährliche dieser Situation liegt darin, daß die ‚gesonderten Orte‘, die eigentümlichen Materialien, die rituellen Handlungen, die mit einem Sakrament verbunden sind, für sich selber Heiligkeit beanspruchen. Aber ihre Heiligkeit ist nur repräsentativ für das, was wesensmäßig möglich ist in jedem und an jedem Ort.“ Tillich, Natur, 121f. 244 „Da jede Kirche auf dem Neuen Sein beruht, wie es im Christus manifest ist und sich in der Geistgemeinschaft verwirklicht, so ist die Funktion der Begründung zunächst die Funktion der Aufnahme. Das gilt für die Kirche als ganze ebenso wie für jedes einzelne Glied. […] Die Funktion der Aufnahme führt unmittelbar zur Funktion des Vermittelns. Was die Kirche aufnimmt, vermittelt sie gleichzeitig durch Wort und Sakrament. Derjenige, der aufnimmt, vermittelt auch, und andererseits hat er nur insoweit aufgenommen, als der Prozeß der Vermittlung ständig weitergeht. In der Praxis sind Aufnehmen und Vermitteln dasselbe: die Kirche ist Priester und Prophet sich selbst gegenüber. Derjenige, der predigt, predigt zu sich selbst als Hörer, und derjenige, der zuhört, ist ein potentieller Prediger. Die Identität von Aufnehmen und Vermitteln schließt die Etablierung einer hierarchischen Gruppe aus, die allein vermittelt, während alle anderen nur aufnehmen. Der Akt der Vermittlung vollzieht sich teilweise im Gottesdienst, teilweise in Begegnungen zwischen dem Priester, der vermittelt, und den Laien, die aufnehmen. Aber diese Trennung ist nicht vollständig: derjenige, der vermittelt, muß sich selbst antworten, und derjenige, der antwortet, vermittelt seinem Mittler.“ Tillich, Theologie, 3, 220f.

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samt ist festzustellen, dass Tillich „Vergebung der Sünden“ kaum mit der traditionellen Absolution nach einem Sündenbekenntnis in Verbindung bringt. 1.2.4. Kritische Würdigung Wie kaum ein Theologe vor ihm hat Tillich sich darum bemüht, die Situation und die Grundfragen der Menschen im 20. Jh. zu analysieren. Bereits 1951 stellt er fest, dass „nicht wie in der Reformation die Frage nach dem gnädigen Gott und der Vergebung der Sünden, sondern „nach einer Wirklichkeit der Versöhnung und Wiedervereinigung, nach schöpferischer Kraft, Sinnhaftigkeit und Hoffnung“ (s. o. Anm. 221) die wichtigste Frage des modernen Menschen ist.245 Damit macht er den Weg frei für eine Neuinterpretation der Rechtfertigungslehre, ohne die tiefen Einsichten Luthers aufzugeben.246 Indem Tillich bei der Situation der Zerrissenheit und des Zwiespaltes einsetzt, in seiner Sündenlehre den philosophischen Begriff der Entfremdung einführt und Ergebnisse sowohl der philosophischen Anthropologie als auch der Humanwissenschaften aufnimmt, schafft er Voraussetzungen für das Gespräch zwischen der Theologie und anderen Wissenschaften. Er erleichtert damit Menschen, die mit moderner Philosophie oder den Humanwissenschaften vertraut sind, den Zugang zu theologischem Denken bzw. zum Nachdenken über das Phänomen der „Sünde“. In ihrer Entfremdungssituation erfahren Menschen die Kluft zwischen dem, was sie tatsächlich sind, und dem, was sie eigentlich sind und sein sollen, ganz existenziell. Die Sünde bringt die Menschen in diese Entfremdung von Gott und von sich selbst, denn sie verhindert, dass der Mensch mit seiner Existenz der Essenz, dem wahren Sein, entspricht. Wichtig ist dabei der Aspekt der persönlichen Schuld und Freiheit. Viel schärfer als bei Althaus kommt bei Tillich die Auswirkung der Sünde auf alle Lebensbereiche zum Ausdruck. Es wird nicht nur das Verhältnis zu sich selbst, sondern auch das Verhältnis des Menschen zu gesellschaftlichen Prozessen in ihrer Vielschichtigkeit durch das Interpretament der Entfremdung deutbar. Ein weitaus größerer Erfahrungsbezug als bei Althaus ist unübersehbar.247 Doch dieser Ansatzpunkt hat auch

245 Vgl. auch 11, Anm. 2. 246 So gibt es z. B. auch für ihn das „Grunderlebnis von Schuld und Vergebung“. Tillich, Theologie, 3, 279. 247 „Der Mensch erfährt sich selbst als abhängig von wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen oder religiösen Zusammenhängen. Er erfährt manche dieser Zusammenhänge selbst als bedrückend, sieht ihre negativen Auswirkungen für andere wie für sich selbst, er weiß aber auch, daß er sich aus diesen sozialen Bezügen nicht befreien kann.“ Dziewas, Sünde, 102.

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Schwächen und Defizite.248 Der Entfremdungsbegriff ist vieldeutig und unkonkret.249 Allerdings gelingt es Tillich damit weithin, das Wort Sünde „religiös neu zu interpretieren“ (s. o. Anm. 175) und auf ein moralisches Reden von Sünde zu verzichten (s. o. Anm. 188). Auch die Beschreibung der Sünde als Unglaube, Hybris und Konkupiszenz ist nicht völlig zufriedenstellend. Es wird dabei übersehen, dass gerade das Gegenteil der Hybris – Selbstaufopferung und Selbstaufgabe – Ausdruck von Entfremdung sein und sündliche Strukturen begünstigen kann.250 Weiterhin ist nicht im Blick, dass Sünde nicht immer als leidvolle Entfremdungserfahrung wahrgenommen werden muss, denn „[…] es gibt auch Sünde, in der sich der Mensch wohl fühlt, und von der Sünde bestimmte Situationen, in denen er sich nicht als entfremdet und gefangen erfährt, sondern sich gerade frei, unabhängig und gesichert fühlt. Mit dem Anschluß an die Entfremdungserfahrung erfaßt die anthropologische Sündenlehre nur die Auswirkungen der Sünde, die den Menschen selbst negativ betreffen.“251 Dabei kommen die Auswirkungen von Sünde in unserem gesellschaftlichen Kontext auf Menschen und Umwelt anderer Teile der Erde kaum in den Blick. Durch Wiedergeburt und Rechtfertigung gewinnt der Mensch Anteil am Neuen Sein und wird in den Prozess der Heiligung hineingenommen, in dem er die Zweideutigkeiten des Lebens überwindet. In einer ständigen Selbst-Transzendierung partizipiert der Mensch am Heiligen, was immer und überall geschehen kann (s. o. Anm. 226). Daran wird schon deutlich, dass „Vergebung der Sünden“ nach traditionellem Verständnis für Tillich kaum noch relevant ist. Konsequent fasst er die „Vergebung 248 Schneider-Flume weist auf die Grenzen der Methode der Korrelation hin. Sie stellt in Tillichs Sündenlehre methodische Inkonsequenz fest. „Mit der Aufnahme des theologischen Sündenbegriffes durchbricht Tillich die Methode der Korrelation, insofern Unglaube sich nicht als die eine Frage der Endlichkeit erweisen läßt, auf die die Offenbarung antwortet.“ Schneider-Flume, Gunda: „Entsprechungsdenken“ und Sündenerkenntnis: Die Auswirkung der Methode der Korrelation auf das Sündenverständnis in der Systematischen Theologie Paul Tillichs. ZThK 76 (1979), 508. 249 „Liegt die Stärke des Begriffs der Entfremdung in seiner alles umfassenden Reichweite, so liegt seine Schwäche in der fehlenden Konkretheit. Er erfaßt zwar die Situation eines einzelnen Menschen, der in der Entfremdung lebt, die sozialen Strukturen der Entfremdungssituation kommen dabei jedoch nicht in den Blick, gerade weil die Analyse der Entfremdung beim einzelnen Menschen ansetzt.“ Dziewas, Sünde, 103. Vgl. auch Sievernich, Schuld, 138ff. Problematischer ist, dass der Begriff der Entfremdung auch vorbelastet ist. Von Marx wird er z. B. inhaltlich ganz anders gefüllt. „Tillich übernimmt den Entfremdungsbegriff ohne Rücksicht auf die religionskritischen Implikationen. Unter dieser Rücksicht ist seine Verwendung des Entfremdungsbegriffs ‚naiv‘ und nicht metakritisch.“ Sievernich, Schuld, 140. 250 Vgl. Dziewas, Sünde, 103f. Darauf verweisen auch feministische Theologinnen, vgl. Scherzberg, Lucia: Sünde und Gnade in der feministischen Theologie. Mainz 2 1992. – Münster (Westfalen), Univ., theol. Diss., 1990, 94ff. 251 Dziewas, Sünde, 104f.

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der Sünden“ auch als Symbol auf. Das hat Auswirkungen auf die Liturgik, wobei Tillichs Schlussfolgerungen eher grundsätzlicher als spezieller Art sind. 1.2.5. Impulse für die Liturgik Was in der „Systematischen Theologie“ zum Verständnis des Gottesdienstes teilweise nur angedeutet wird, das führt Tillich an anderer Stelle genauer aus. Trotzdem ergeben sich daraus weder eine Theorie des Gottesdienstes noch konkrete Vorstellungen hinsichtlich der liturgischen Gestaltung. Die von Tillich ausgehenden Impulse verdienen aber dennoch festgehalten zu werden. „Die Lehre von der göttlichen Annahme des entfremdeten Menschen, nach der Tradition die Lehre von der ‚Rechtfertigung aus Gnaden durch Glauben‘ genannt, ist die zentrale Lehre des Protestantismus.“252 Diese Aussage Tillichs lässt sich durchaus auch auf den Gottesdienst beziehen, zumindest aber auf die Predigt.253 Wie schon mehrfach festgestellt wurde, beurteilt Tillich den traditionellen Gottesdienst äußerst kritisch. Er fasst seinen Gottesdienstbegriff sehr weit und äußert 1930 anlässlich einer Ausstellungseröffnung: „Weil aber das, was allem Sein Ernst und Tiefe gibt, nicht eines neben anderem ist, sondern für alles gilt, so sind auch die kultischen Formen nicht Formen neben anderen, wie mythisches Denken nicht Denken neben anderem Denken ist. Sondern alles Handeln steht unter dem Anspruch, kultisch zu sein, wie alles Denken unter dem Anspruch steht, mythisch zu sein. Oder in religiöser Sprache: Das ganze Dasein soll Gottesdienst und jeder Gedanke ein Gedanke vor Gott sein.“254 In diesem Zusammenhang erhebt Tillich die Forderung, dass kultische Gestaltung durch Alltag, durch Gegenwart und durch Wirklichkeit bestimmt sein muss. Wenn es überhaupt eines Feiertages und dessen kultischer Gestaltung bedarf, so muss der Alltag repräsentiert und nicht verdrängt werden.255 Tillich 252 Tillich, Einfluß, 328. 253 „Die psychoanalytische Verfahrensweise, den seelisch Gestörten ohne Verurteilung und Anweisung anzunehmen, wurde das Vorbild für die Seelsorge. Von ihr wurde der Einfluß an den katechetischen Unterricht und von diesem an die theologische Forschung weitergegeben. So kann die heutige Theologie wieder sagen, daß Gottes Annahme dessen, der sich selbst nicht annehmen kann, der Mittelpunkt der christlichen Verkündigung ist und zugleich das theologische Fundament sowohl für die Predigt wie für die Seelsorge.“ Tillich, Einfluß, 329. 254 Tillich, Paul: Kult und Form. In: Die religiöse Substanz der Kultur: Schriften zur Theologie der Kultur: Gesammelte Werke, Bd. 9, Stuttgart 1967, 324. 255 „Darum ist jede Kultform abzulehnen, die neben unserem Alltag, unserer Arbeit, unserer Ruhe, unserem Wohnen und unserem Wandern, unserer Wirtschaft und unserer Politik, unserem Erkennen und unserem Schauen steht. Kein heiliger Bezirk ! Sondern

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lehnt es ab, kultisches Gestalten an Stilen der Vergangenheit zu orientieren. Im Kultus muss die Gegenwart präsent sein.256 Die Wirklichkeit als Kriterium der kultischen Gestaltung zielt auf Sachlichkeit ab.257 Dabei ist für Tillich „Wahrheit“ die übergreifende Forderung. Die Verletzung des Prinzips der Wahrhaftigkeit in der kultischen Gestaltung sieht er auch als Ursache für das Fernbleiben vieler Außenstehender vom Kultus.258 Deshalb gibt es in dieser Frage keine Beliebigkeit. „Die Gegenwart des göttlichen Geistes kann in der Architektur des Kirchenraumes, in der liturgischen Musik und Sprache, in bildlichen und plastischen Darstellungen und im feierlichen Charakter der Gesten aller am Gottesdienst Beteiligten zum Ausdruck kommen“,259 wenn das Prinzip der Wahrhaftigkeit durchgehalten wird. In einem Vortrag stellt Tillich Ende der 20er Jahre fest: „Im Protestantismus gibt die Gestalt der Gnade dem Kultus neuen Sinn und neue Lebendigkeit. Kultus wird der Begriff für die anschauliche Gestalt der Gnade. Der protestantische Kultus, der traditionsgemäß die Predigt zum Mittelpunkt hatte, wird dadurch erweitert. Er wird von der Verwechslung des ‚Wortes Gottes‘ mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort der christlichen Predigt befreit. Das ‚Wort Gottes‘ ist Selbstmitteilung Gottes, die in vielen Formen geschehen kann und nicht an das menschliche Wort gebunden ist. Sie kann geschehen durch Handlungen, Gesten, Gestaltungen, natürlich nicht ex opere operato (bloß dadurch, daß solche Handlung vollzogen wird), wohl aber ohne begleitendes Wort. Sakramente, sichtbare Symbolik, leibliche, musikalische, künstlerische Ausdrucksformen sind ‚Wort Gottes‘, auch wenn nichts gesprochen wird […]“260 Tillich sieht die Notwendigkeit, den Kultus neu zu gestalten, weil die meisten Menschen keinen Zugang mehr zu ihm finden. Diese Aufgabe ist nicht dadurch zu bewältigen, dass alte liturgische Schätze wiederentdeckt werden, sondern indem mit der Liturgie das Prinzip der Wahr-

Erschütterung und Wandlung jedes Bezirkes, das ist die erste Forderung jeder Gestaltung.“ Tillich, Kult, 325. 256 „Nicht jeder Alltag ist es, der kultisch geschaut und kultisch gestaltet werden soll, sondern unser Alltag.“ Tillich, Kult, 325. 257 „Wer kultisch gestaltet, […] sollte wissen, daß eine Kirche ein Raum ist, in dem eine Gemeinschaft von Menschen sich unter das Wort und die Handlung stellt, die den Sinn ihres heutigen, also technisierten, ökonomisierten Daseins ausspricht und daß kein Stil der Vergangenheit und kein Anklang an diese Stile dem in Wahrheit gerecht werden kann; daß der einfache, durch ehrliche Sachlichkeit mächtige Raum vielleicht im Hinterhaus einer Großstadtstraße gerade unser Kirchenraum sein könnte.“ Tillich, Kult, 326f. 258 Vgl. Tillich, Kult, 327. 259 Tillich, Theologie, 3, 230. 260 Tillich, Paul: Protestantische Gestaltung. In: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung: Schriften zur Theologie 1: Gesammelte Werke, Bd. 7. Stuttgart 1962, 66f.

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haftigkeit verwirklicht und die Beziehung zum Alltag hergestellt wird.261 Alle diese Äußerungen sind vor dem Hintergrund seiner Mitarbeit im „Berneuchener Kreis“ zu sehen, von dem er sich enttäuscht abwandte, weil seine Forderungen kein Gehör fanden.262 Bei allem theoretischen Vordenken und aller programmatischer Arbeit lässt Tillich überzeugende praktische Vorschläge und Konkretionen vermissen.263 Für ihn steht prinzipiell alles zur Disposition, was seinen Einsichten widerspricht. Dabei findet sich dennoch viel Traditionelles, dem Tillich durchaus Bedeutung beimisst. So traut er z. B. der Liturgie eine heilende Wirkung zu, ohne daran irgendwelche Bedingungen zu knüpfen.264 Immer wieder betont er die zentrale Bedeutung von Gnade und Rechtfertigung.265 261 „Kultus soll dem Alltäglichen letzten Sinn geben. Nicht Schaffung neuer Liturgien ist wichtig, sondern Eindringen in die Tiefe dessen, was täglich geschieht, in der Arbeit, in der Wirtschaft, in der Ehe, in der Freundschaft, in der Geselligkeit, in der Erholung, in der Sammlung, in der Stille, im unbewußten und bewußten Leben. All dies in das Licht des Ewigen zu heben, ist die große Aufgabe des Kultus, und nicht, eine Tradition traditionell umzuformen.“ Tillich, Protestantische Gestaltung, 67. 262 „Die Gruppe teilte sich. Der eine Teil vergrub sich in der Vergangenheit mit dem Ziel und in der Hoffnung, sie für die Gegenwart wiederzubeleben. Der andere, kleinere Teil, zu dem ich selbst gehörte, war eine religiös-sozialistische Bewegung. Wir warfen die Frage auf: Was sagen diese Symbole, diese liturgischen Formen dem Arbeiter z. B. im Norden Berlins? Da gab es große Kirchen mit Tausenden von Mitgliedern, aber nur 200 ältere Frauen, die sich zum Gottesdienst einfanden, keine Männer, keine Jugend. Was kann man in solcher Situation tun? Kann man der Jugend, den Arbeitern, den Intellektuellen liturgische Formen des christlichen Glaubens anbieten, die vor 1500 Jahren im Mittelmeerraum geschaffen worden sind? […] ‚Heilige Leere‘ sollte die vorherrschende Haltung für die nächste Zeit sein. Man sollte unsere Erfahrung, die die Erfahrung von dem ‚abwesenden Gott‘ genannt worden ist, ausdrücken. […] Wenn man sagt, Gott habe sich zurückgezogen, so heißt das gleichzeitig, daß er zurückkehren kann.“ Tillich, Paul: Wahrhaftigkeit und Weihe in der religiösen Kunst und Architektur. In: Impressionen und Reflexionen: Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen: Gesammelte Werke, Bd. 13. Stuttgart 1972, 452. 263 Ausnahmen bestätigen hier die Regel. So macht er z. B. Vorschläge für die architektonische Gestaltung des Kirchenraumes. Vgl. Tillich, Paul: Protestantismus und Kirchenbau. In: Die religiöse Substanz der Kultur: Schriften zur Theologie der Kultur: Gesammelte Werke, Bd. 9. Stuttgart 1967, 341ff. 264 „Andererseits gilt auch, daß geistige Heilung – und durch sie körperliche Heilung – eine potentielle, wenn auch nicht immer aktuelle Folge religiöser Heilung ist, sei es eine beabsichtigte wie in der religiösen Seelsorge, oder eine unabsichtlich durch Predigt und Liturgie bewirkte.“ Tillich, Paul: Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit – Geschichtliche Betrachtungen und theoretische Fragen. In: Die religiöse Substanz der Kultur: Schriften zur Theologie der Kultur: Gesammelte Werke, Bd. 9. Stuttgart 1967, 284. 265 „Die christliche Botschaft ist in erster Linie eine Botschaft der Gnade. […] Im christlichen Denken enthält der Begriff der Gnade eine Polarität zwischen dem Element der Vergebung und dem Element der Erfüllung. Das erste kann als Vergebung der Sünden oder – in paradoxer Ausdrucksweise – als ‚Annahme des Unannehmbaren‘ bezeich-

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Tillich Gnade und Rechtfertigung – und damit auch implizit Sünde und Sündenvergebung – zentrale Themen des lutherischen Gottesdienstes sind. Gleichzeitig werden „Gottesdienst“ und „Kultus“ in ihrem Begriff so weit gefasst, dass nicht mehr nur die sonntägliche Veranstaltung der Gemeinde, sondern das ganze Leben der Christen in den Blick kommt. Tillich misstraut festen liturgischen Formen, besonders wenn sie sehr alt sind und nicht mehr als Symbole verstanden werden. Die Erfahrung der Gnade und die Teilhabe am Neuen Sein sind für ihn nicht an bestimmte Orte, Zeiten und äußere Bedingungen geknüpft. Sie sind prinzipiell immer und überall denkbar, selbstverständlich aber auch in den traditionellen Formen von Sündenbekenntnis und Absolution sowie im Abendmahl.266 An den Forderungen Tillichs nach grundlegenden Reformen des Kultus kommt man allerdings nicht vorbei. Besonderes Gewicht erhält sein Grundsatz, den Kultus wahrhaftig und gegenwärtig zu gestalten. Dabei geht es nicht um „zeitgemäße“ liturgische Formen und Formeln. Tillich geht selbst davon aus, dass manche religiösen Begriffe gerade in der Liturgie nicht ersetzt werden können. Aber sie müssen von allen falschen Vorstellungen und missverständlichen Konnotationen befreit werden, damit ihr ursprünglicher Sinn wieder verstanden wird.267 net werden, das zweite als Gabe des Heiligen Geistes oder als die Eingießung der Liebe unter der Vorherrschaft der agape. Das erste überwindet das Leid der moralisch unerfüllten Existenz, und das zweite gewährt die Seligkeit einer zumindest fragmentarischen Erfüllung.“ Tillich, Das religiöse Fundament, 54f. 266 „Im Abendmahl wird wieder real, was im Paradies verlorengegangen war. Freilich wird es nur fragmentarisch real, weil ja jeder sterbliche Leib eine Selbständigkeit erlangt hat, die es ihm unmöglich macht, durch das Abendmahl unsterblich zu werden. Aber ein anderer unsterblicher Leib wird geboren durch das Abendmahl, das heißt, das Paradies der Vergangenheit beginnt, sich wiederherzustellen, die Teilnahme am göttlichen Sein und damit die Überwindung der natürlichen Endlichkeit und Sterblichkeit.“ Tillich, Paul: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. In: Der Widerstreit von Raum und Zeit: Schriften zur Geschichtsphilosophie: Gesammelte Werke, Bd. 6. Stuttgart 1963, 188. 267 „Es steht fest, daß die religiöse Ursprache, wie sie in der Bibel und den altkirchlichen Liturgien vorliegt, auf keine Weise ersetzt werden kann. Es gibt religiöse Urworte der Menschheit, wie Martin Buber einmal mir gegenüber bemerkte. Aber diese Urworte sind durch das gegenständliche Denken, durch die dingliche Weltauffassung, ihrer ursprünglichen Gewalt beraubt worden und in dieser Entleerung berechtigter Kritik und Auflösung verfallen. […] Nun aber sind alle Versuche, in Liturgie und Bibelübersetzung die archaische Sprache durch eine moderne zu übersetzen, kläglich gescheitert. Es war Entleerung und nicht Neuschöpfung. […] So bleibt nur der Ausweg, die religiösen Urworte zu gebrauchen und gleichzeitig durch Abwehr ihrer Entleerung und Verzerrung ihren ursprünglichen Sinn sichtbar zu machen – zwischen den Sprachen zu stehen und von der Grenze her die religiöse Ursprache neu zu erobern.“ Tillich, Paul: Auf der Grenze. In: Begegnungen: Paul Tillich über sich selbst und andere: Gesammelte Werke, Bd. 12. Stuttgart 1971, 40f.

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1.3. Karl Barth (1886–1968) In der umfangreichen „Kirchlichen Dogmatik“268 legt Barth ein systematisch-theologisches Werk vor, das von einer christologischen Interpretation der Offenbarung bestimmt ist. Das wirkt sich auf alle einzelnen Teile aus, die sehr oft dreifach entfaltet werden. Dabei fällt besonders auf, dass die Hamartiologie ihren Ort in der Versöhnungslehre hat (KD IV/1–4) und mit Christologie, Soteriologie und Pneumatologie verflochten abgehandelt wird.269 In der Versöhnungslehre erreicht die Dogmatik Barths ihre Mitte. Eigentlich ist nur von hier aus das Gesamtwerk zu verstehen.270 Weil in 268 Barth, Karl: Die Kirchliche Dogmatik. 4 Bd. München 1932/Zürich 1967. [Nachdruck: Zürich 1986–1993] 269 Besonders in der „Lehre von der Versöhnung“ (KD IV/1–3) ergibt sich eine Horizontal- und eine Vertikalstruktur. Vgl. auch Jüngel, Eberhard: Art. „Barth, Karl (1886–1968)“, TRE 5 (1980), 265. Gegenstand der Dogmatik (Christologie) Jesus Christus… (Hamartiologie) Sündenerkenntnis in… (Soteriologie) Erlösung in… (Pneumatologie) Wirken des Heiligen Geistes… -in der Gemeinde durch -im Einzelnen durch (Ethik KD IV/4) das christliche Leben als Anrufung Gottes

KD IV/1

KD IV/2

KD IV/3

… der Herr als … der Knecht als Knecht Herr … Hochmut und Fall … Trägheit und Elend

… der wahrhaftige Zeuge … Lüge und Verdammnis

… Gottes Urteil als Rechtfertigung

… Gottes Weisung als Heiligung

… Gottes Verheißung als Berufung

… Sammlung der Gemeinde … Glaube

… Erbauung der Gemeinde … Liebe

… Sendung der Gemeinde … Hoffnung

die Taufe als Begründung des christlichen Lebens in der Bitte um den Heiligen Geist

das Herrengebet als (Anweisung zum) Vollzug des christlichen Lebens

das Herrenmahl als Erneuerung des christlichen Lebens in der Danksagung

270 „Wir betreten den Bereich christlicher Erkenntnis, in welchem wir es mit der Mitte der von der christlichen Gemeinde empfangenen und ihr aufgetragenen Botschaft und darum auch mit der der kirchlichen Dogmatik zu tun bekommen. Gemeint ist: mit der Mitte ihres Gegenstandes, ihres Ursprungs und Inhalts. Sie hat auch einen Umkreis: die Lehre von der Schöpfung und die Lehre von den ‚letzten Dingen‘, von der Erlösung und Vollendung. Der im Werk der Versöhnung erfüllte Bund aber ist ihre Mitte. Man muß und kann von hier aus auch einen Umkreis sehen. Man sieht ihn aber nur von hier aus […] Von hier aus ist Alles hell, wahr, heilsam oder es ist es gar nicht, nirgends.“ KD IV/1, 1.

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Jesus Christus als dem wahren Menschen die Gnade Gottes offenbart worden ist, kann und muss der sündige Mensch immer schon im Licht dieser Gnade gesehen werden. Erst durch das geoffenbarte Wort Gottes ist Sündenerkenntnis überhaupt möglich. Konsequent entwickelt Barth also seine Sündenlehre von der Versöhnung in Jesus Christus her. Im Widerspruch des Menschen zur Gnade Gottes manifestiert sich Sünde in Hochmut, Trägheit und Lüge. Weil Barth für die Behandlung der Sünde bei Gottes Gnade ansetzt, lässt sich seine Hamartiologie als „soteriologische Sündenlehre“ bezeichnen.271 1.3.1. Der Mensch als Bundesgenosse Gottes und Sünder Es ist für Barth grundlegend, dass das Wesen des Menschen nur im Licht des Wortes Gottes erkannt werden kann.272 Denn durch Gottes Wort wird die Beziehung des Menschen zu Gott geoffenbart, nämlich als die Beziehung eines Geschöpfes zu seinem Schöpfer. Und obwohl es für Barth keine Frage ist, dass der Mensch nur „ein Geschöpf inmitten anderer, von Gott direkt geschaffener und unabhängig vom Menschen existierender Mitgeschöpfe“273 ist, sieht er doch die besondere Stellung des Menschen im Ganzen der Schöpfung, die ihn auch als Hauptgegenstand der Lehre von der Schöpfung rechtfertigt.274 Das Wort Gottes offenbart nun den Menschen vor allem als Geschöpf, das sich im Widerspruch zu seinem Schöpfer und damit gegen sich selbst 271 Vgl. Dziewas, Sünde, 76ff. 272 „Die theologische Anthropologie entfaltet die Erkenntnis des menschlichen Wesens, die dem Menschen dadurch möglich und notwendig gemacht ist, daß es im Lichte des Wortes Gottes steht. Das Wort Gottes ist also ihre Begründung. Wir beeilen uns hinzuzufügen: sie entfaltet eben darum die Wahrheit des menschlichen Wesens. Indem ihr der Mensch gerade so zum Erkenntnisgegenstand wird, sieht und erklärt sie nicht nur eine Erscheinung, sondern die Wirklichkeit, nicht ein Äußeres, sondern das Innerste, nicht einen Teil, sondern das Ganze des menschlichen Wesens.“ KD III/2, 21. 273 KD III/2, 2. 274 „Wir haben es mit dem Menschen zu tun, der im Kosmos ein Gegenüber hat, dem die echte und eigene Wirklichkeit des Kosmos um so bewußter und gewisser wird, je mehr er in der Erkenntnis des Gegenüber von Mensch zu Mensch und im Gegenüber von Gott und Mensch seiner Menschlichkeit und also seiner eigenen Wirklichkeit bewußt und gewiß wird.“ KD III/2, 2. „Denn eben der Mensch ist ja das Geschöpf, welchem sich der Schöpfer laut seines eigenen Wortes im Werk der Schöpfung, nämlich in dessen Absicht auf den Bund seiner Gnade zugewendet hat. Mehr noch: eben Mensch ist ja Gott selber in der vollkommenen und endgültigen Offenbarung dieses seines Wortes geworden. Wer und was der Mensch ist, das wird uns im Worte Gottes nicht weniger bestimmt und dringlich gesagt wie dieses, wer und was Gott ist. Das Wort Gottes schließt wesentlich auch eine bestimmte Anschauung vom Menschen in sich, eine Anthropologie, eine Ontologie dieses besonderen Geschöpfs […] Eben darum ist die Lehre vom Menschen denn auch tatsächlich von jeher das beherrschende Stück der dogmatischen Lehre vom Geschöpf gewesen.“ KD III/2, 13.

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befindet. Davon ist sein ganzes Wesen durchdrungen, es ist ganz und gar sündig.275 Und obwohl die Sünde das Geschöpfsein des Menschen verdeckt, ist und bleibt der Mensch Geschöpf Gottes. Das lässt sich aber auch nur im Licht des Wortes Gottes erkennen.276 Und es lässt sich nur vor dem Hintergrund der Gnade Gottes verstehen.277 „Der sündige Mensch für sich ist nicht der wirkliche Mensch […] Der wirkliche Mensch ist der Sünder, der Gottes Gnade teilhaftig ist.“278 Barth beantwortet deshalb die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen anders als beispielsweise Althaus. Für ihn lassen sich daraus keine Qualitäten ableiten, die der Mensch mehr oder weniger hat. Ebenbild Gottes zu sein bedeutet, geschöpfliches Gegenüber des Schöpfers zu sein.279 In seiner Exegese übersetzt Barth Gen 1,26: „Lasset uns Menschen 275 „Gerade Gottes Offenbarung zeigt uns nämlich den Menschen zunächst durchaus nicht so, wie wir ihn hier sehen möchten: nicht in der Richtigkeit seines von Gott geschaffenen Wesens, sondern in dessen Verkehrung und Verderbnis. Mit der in Gottes Wort offenbarten Wahrheit des wirklichen Menschen steht es ja nach dem Zeugnis der ganzen heiligen Schrift so, daß sie ihn offenbar macht als Verräter an sich selbst, als Sünder gegen sein geschöpfliches Wesen. Als Widersprecher gegen Gott, seinen Schöpfer, klagt sie ihn an, aber eben damit auch als Widersprecher gegen sich selbst, gegen das, als was und wozu Gott ihn geschaffen hat, als Verkehrer und Verderber seines eigenen Wesens.“ KD III/2, 29. 276 Vgl. KD III/2, 34f. 277 „Die Erkenntnis der Sünde und die Erkenntnis der Natur des Menschen werden aber jede für sich und beide in ihrem Zusammenhang möglich und vollziehbar in der übergreifenden Erkenntnis des Wortes Gottes, d. h. aber in der Erkenntnis des Menschen als des Genossen des von Gott mit ihm geschlossenen Bundes, des Menschen als des Gegenstandes der ewigen Gnade seines Schöpfers und Herrn. Es ist diese übergreifende Erkenntnis, die uns einerseits anweist, ihn als Sünder und so auch sein Wesen als sündig, und zwar als radikal und total sündig bestimmt zu verstehen. Es ist aber dieselbe übergreifende Erkenntnis, die uns nun doch auch verbietet, bei diesem Verständnis des Menschen und seines Wesens stehen zu bleiben, die uns einladet und gebietet, noch weiter und tiefer zu blicken. Ist der Mensch der Gegenstand der Gnade Gottes, dann ist sein Selbstwiderspruch[,] so radikal und total er ist, in der Tat nicht das letzte Wort, das über ihn gesprochen ist. Er hat dann bei Gott und von Gott her eine Zukunft, über die durch seinen Selbstwiderspruch, über die auch durch Gottes Gericht, das ihn als den dieses Selbstwiderspruchs schuldigen Sünder treffen muß, noch nicht entschieden, über die vielmehr durch Gottes Treue und Güte endgültig ganz anders als er es verdiente, entschieden ist.“ KD III/2, 34f. 278 KD III/2, 36. 279 „Es hat also keinen Sinn, zu fragen, in welchen besonderen Eigenschaften oder Verhaltungsweisen des Menschen sie [die Ebenbildlichkeit, T. B.] bestehen möchte. Sie besteht nicht in irgend etwas, was der Mensch ist oder tut. Sie besteht[,] indem der Mensch selber und als solcher als Gottes Geschöpf besteht. Er wäre nicht Mensch, wenn er nicht Gottes Ebenbild wäre. Er ist Gottes Ebenbild, indem er Mensch ist. Denn das war Gottes Sinn und Absicht bei seiner Erschaffung: er wollte die Existenz eines solchen Wesens, das ihm in seiner ganzen Nicht-Göttlichkeit und Andersartigkeit ein wirklicher Partner, das ihm gegenüber verhandlungs- und bündnisfähig, dem also seine eigene, die göttliche Lebensform, nicht fremd, das vielmehr in geschöpflicher Wieder-

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machen in unserem Urbild nach unserem Vorbild.“280 In Gott existiert also das Urbild, nach dessen Vorbild der Mensch geschaffen ist.281 Diesem Verständnis entsprechend kann der Mensch gar nicht aus der Ebenbildlichkeit Gottes herausfallen. Sein Sündenfall ist nur ein „Zwischenfall“, eine „Störung“ des Verhältnisses zu Gott, durch die der Segen in Fluch verkehrt wird, der aber an Gottes Heilsplan nichts ändern kann.282 Der Mensch darf also seine Hoffnung auf Gott setzen und auf Jesus Christus schauen, der im Urbild und nach dem Vorbild Gottes wahrer Mensch ist.283 Nach wie vor bleibt der Mensch Bundespartner Gottes, er bleibt auf Gott bezogen.284 Das ist bereits im Wesen der Schöpfung selbst angelegt. In der Nachbildung nach dem Urbild wird auch die innere Kommunikation

holung, als Abbild und Nachbild, seinerseits ein Träger seiner, der göttlichen Lebensform sein möchte.“ KD III/1, 206f. 280 Vgl. KD III/1, 221ff. 281 „‚In unserem Urbild‘ heißt: geschaffen als ein Wesen, das darin seinen Grund und seine Möglichkeit hat, daß in ‚uns‘, d. h. im Bereich und Wesen Gottes selbst ein göttliches und also in sich selbst begründetes Urbild existiert, dem jenes Wesen entsprechen, das jenes Wesen also in seiner ganzen Abbildlichkeit und also Andersartigkeit legitimieren, das seine Existenz rechtfertigen kann und durch das es, wenn ihm Existenz gegeben wird, in der Tat legitimiert und gerechtfertigt sein wird.“ KD III/1, 205. 282 „Was immer als Bedrohung und Gefährdung dagegen aufkommen mag, es kann und wird doch nur ein Zwischenfall auf der mit dem Segen Gottes begonnenen Linie sein. Es muß und wird Alles, was auf dieser Linie geschehen wird, wesentlich und eigentlich Heilsgeschichte und nur beiläufig − auch in seiner furchtbarsten Gestalt nur beiläufig! − auch Unheilsgeschichte, es wird, weil sein erster Grund dieser göttliche Segen ist, im letzten Grund immer Friedens- und Bundesgeschichte und nicht Feindschafts-, Kriegs- oder Zornesgeschichte sein.“ KD III/1, 212. 283 „Es wird offenbar werden, daß der Mensch Grund hat, nach dem Menschen auszublicken, der anders als er selbst, aber gerade darum als der wirkliche Mensch für ihn, an seiner Stelle und ihm zugut im Urbild und nach dem Vorbild Gottes Mann und Frau sein wird: Jesus Christus und seine Gemeinde.“ KD III/1, 213. 284 „Wir fragen jetzt danach, inwiefern seine [des Menschen, T. B.] Humanität als seine geschöpfliche Art seiner göttlichen Bestimmung, seinem Sein als Gottes Bundesgenosse entspricht und ähnlich ist. Entspricht sie ihm – das soll hier noch vorweggenommen sein – dann entspricht sie ihm in einer unverlierbaren und unzerstörbaren Weise. Die vorhandene Entsprechung und Ähnlichkeit kann dann durch des Menschen Sünde zwar verdeckt und unkenntlich gemacht werden. Es kann sein, daß wir sie in Folge der das menschliche Leben regierenden Sünde in uns selbst und an Anderen und im menschlichen Gemeinschaftsleben entweder überhaupt nicht mehr bemerken oder nur noch in mühselig zu durchschauenden und zu erklärenden Zerrbildern kennen […] Es kann aber, wenn unsere geschöpfliche Art, wenn die Humanität diese Ähnlichkeit zu unserer göttlichen Bestimmung hat, nicht so sein, daß jene Entsprechung und Ähnlichkeit ihr abhanden kommen oder auch nur zerstört werden könnte. Die Macht der Sünde ist groß, aber nicht grenzenlos. Sie kann Vieles beseitigen, Vieles verwüsten, aber nicht das menschliche Sein als solches. Sie kann Gottes Wirken und darum auch sein Werk, das von Gott Gewirkte, nicht rückgängig machen.“ KD III/2, 245f.

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Gottes nachgebildet.285 Dadurch ist der Mensch sowohl Gegenüber Gottes als auch Gegenüber seines Mitmenschen. In Jesus, dem wahren Menschen, drückt sich die Göttlichkeit darin aus, dass er „der Mensch für Gott ist“. Seine Menschlichkeit besteht darin, dass er „der Mensch für den anderen Menschen ist“.286 Und indem Jesus der Mensch für Gott ist, ist auch die Bestimmung der Menschheit entschieden.287 Der Mensch ist als Gegenüber Gottes dazu bestimmt, mit Jesus und dadurch mit Gott zusammen zu sein. Er kann folglich gar nicht „gottlos“ sein. Und alles das, was sich als Gottlosigkeit äußert, ist die „ontologische Unmöglichkeit des Menschseins“.288 285 „In Gottes eigenem Wesen und Bereich findet ein Gegenüber statt: ein reales, aber einmütiges Sichbegegnen und Sichfinden, ein freies Zusammensein und Zusammenwirken, ein offenes Gegeneinander und Füreinander. Eben dieser göttlichen Lebensform Wiederholung, ihr Abbild und Nachbild ist der Mensch. Er ist es einmal darin, daß er Gottes Gegenüber ist, daß also das in Gott selbst stattfindende Sichbegegnen und Sichfinden in Gottes Beziehung zum Menschen abgebildet und nachgebildet wird. Und er ist es sodann darin, daß er selbst das Gegenüber von seinesgleichen ist und in seinesgleichen sein eigenes Gegenüber hat, daß also das in Gott selbst stattfindende Zusammensein und Zusammenwirken in der Beziehung von Mensch zu Mensch zur Wiederholung kommt.“ KD III/1, 207. 286 „Wenn die Divinität des Menschen Jesus zusammenfassend zu beschreiben ist in dem Satz: er ist der Mensch für Gott, so kann und muß von seiner Humanität eben so einfach und bestimmt gesagt werden: er ist der Mensch für den Menschen, für den und für die anderen Menschen, für den und für die Mitmenschen.“ KD III/2, 248. 287 „Der wirkliche Mensch lebt mit Gott, als Gottes Bundesgenosse. Denn dazu hat Gott ihn geschaffen: zur Teilnahme an der Geschichte, in der Gott mit ihm, er mit Gott am Werke ist, zu seinem Partner in dieser gemeinsamen, in dieser Bundesgeschichte. Er schuf ihn zu seinem Bundesgenossen […] Daß dem so ist, daß dieser, der von Gott zum Leben mit Gott bestimmte Mensch der wirkliche Mensch ist, darüber ist entschieden durch die Existenz des Menschen Jesus. Sie ist – abgesehen von allem, was sie sonst ist – auch der Maßstab, an dem zu ermessen ist, was des Menschen Wirklichkeit ist und nicht ist. Sie offenbart ursprünglich und endgültig, wozu Gott den Menschen geschaffen hat.“ KD III/2, 242. 288 „Menschsein heißt infolgedessen grundlegend und umfassend: mit Gott zusammen sein. Was der Mensch in diesem Gegenüber ist, das ist ja offenbar die grundlegende und umfassende Bestimmung seines eigenen Seins. Was er immer sonst ist und auch ist: er ist es auf Grund dessen, daß er mit Jesus zusammen und also mit Gott zusammen ist […] Gottlosigkeit ist infolgedessen keine Möglichkeit, sondern die ontologische Unmöglichkeit des Menschseins. Der Mensch ist nicht ohne, sondern mit Gott. Wir sagen damit selbstverständlich nicht, daß es kein gottloses Menschsein gibt. Es geschieht, es gibt ja zweifellos die Sünde. Aber eben die Sünde ist keine Möglichkeit, sondern die ontologische Unmöglichkeit des Menschseins. Wir sind mit Jesus, wir sind also mit Gott zusammen. Das bedeutet, daß unser Sein die Sünde nicht ein-, sondern ausschließt. Sein in der Sünde, Sein in der Gottlosigkeit ist ein Sein wider unser Menschsein. Denn der Mensch, der mit Jesus zusammen ist – und eben dies ist des Menschen ontologische Bestimmung – ist mit Gott zusammen. Leugnet er Gott, so leugnet er sich selbst. Er ist dann, was er in dem Gegenüber, in dem er ist, nicht sein kann. Er wählt dann seine eigene Unmöglichkeit. Und es ist jeder Fehler, in welchem die Gottlosigkeit Gestalt annehmen kann, es ist also z. B. der Unglaube und die Abgötterei, es ist der Zweifel

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1.3.2. Sünde als Hochmut, Trägheit und Lüge Dass der Mensch Sünder ist, kann sich ihm nur erschließen, wenn er das gnädige Urteil Gottes für sich annimmt. Erst wenn er erkannt hat, dass Gott im Tod Jesu am Kreuz das Urteil über den Menschen vollstreckt hat, kommt er auch zur Erkenntnis seiner eigenen Sündhaftigkeit.289 Er kann sonst wohl erkennen, dass er ein Leben in Begrenztheit führt und kann darunter leiden.290 Doch dass er ein Sünder ist, erkennt er nicht, ohne auf das Wort Gottes zu hören. Deshalb kann die Lehre von der Sünde nur von der Versöhnungslehre her entwickelt werden.291 und die Gleichgültigkeit Gott gegenüber – und das Alles in seiner theoretischen ebenso wie in seiner praktischen Gestalt – sofort und als solcher auch ein Fehler, mit dem der Mensch sich selbst belastet, verfinstert und verdirbt, eine Attacke auf den Bestand seiner eigenen Geschöpflichkeit: keine oberflächliche, keine beiläufige, keine tragbare, sondern die radikale, die zentrale, die tödliche Attacke gegen deren Grundbestimmung und also gegen deren ganzen Bestand. Es ist sein Sein als Mensch, das durch jedes Geschehen der Sünde in Frage gestellt wird.“ KD III/2, 161f. 289 „Sünde ist als Widerspruch des Menschen zu Gott, zum Mitmenschen und zu sich selbst mehr als ein in ihm selbst sich abspielender und also bloß relativer und begrenzter Konflikt, dessen Aufdeckung Sache eines von ihm selbst und von sich aus vollziehbaren Selbstbewußtseins und Selbstverständnisses sein könnte. Als Täter der Sünde ist gerade er selbst radikal und total in Frage gestellt. Ihre Erkenntnis geschieht, wo sie wahre Erkenntnis ist, als Element von Gotteserkenntnis, Offenbarungserkenntnis und also Glaubenserkenntnis, auf deren Vollzug er sich selbst von sich aus nicht einmal vorbereiten kann und wird.“ KD IV/2, 424. 290 „Daß der Mensch böse ist, d. h. daß er sich im Widerspruch zu Gott und zu seinem Nächsten und darum und von daher auch zu sich selbst befindet[,] das kann er nicht aus sich selbst wissen, das kann er also aus keinem Selbstgespräch, das kann er aber auch aus keinem Gespräch mit seinem Mitmenschen erfahren: das so wenig, wie daß er von Gott gerechtfertigt und getröstet ist. Was er sich in dieser Hinsicht anders als durch Gott, also im Gespräch mit sich selbst und seinesgleichen, im Vollzug seines Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins, gesagt sein lassen könnte, das mag die innere Spannung zwischen einem relativen Ja und einem relativen Nein, zwischen Werden und Vergehen, zwischen Stärke und Schwäche, zwischen Großem und Kleinem, zwischen Vollbringen und Wollen sein; die Dialektik, in der die menschliche Existenz an der Gegensätzlichkeit, dem Dualismus von Licht und Schatten der ganzen Geschöpfwelt Anteil hat. Diese Spannung hat aber mit dem Sein des Menschen in der Sünde an sich nichts zu tun. Sie kann der Raum seines guten, ebenso wie seines bösen Tuns und Wesens sein […] Sie gehört an sich und als solche vielmehr zu des Menschen von Gott gut geschaffener Natur […] Die Unvollkommenheit und Problematik seiner Existenz ist als solche noch lange nicht seine Sünde. Sie ist doch nur seine Grenze.“ KD IV/1, 397. 291 „Die Lehre von der Sünde kann nicht unabhängig von der Lehre von der Versöhnung, nicht ihr vorgängig begründet, aufgestellt und entwickelt werden. Sie ist vielmehr selber ein integrierendes Element der Versöhnungslehre. Sie ergibt sich nachträglich, rückblickend aus der Erkenntnis der Existenz und des Werkes Jesu Christi als des Mittlers des Gnadenbundes. Indem sie in ihm widerlegt, überwunden, abgetan ist, wird die Sünde in ihrem Wesen, in ihrer Wirklichkeit, in ihren Implikationen und Konsequenzen erkennbar, kann christlich sachgemäß von ihr geredet werden: nur so und nicht anders.“ KD IV/3, 426.

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Das „erste, ewige Wort Gottes, das dem Schöpferwillen und Schöpferwerk als Anfang aller Dinge in Gott selber zugrunde liegt und vorangeht, heißt wirklich Jesus Christus, ist identisch mit ihm, der als wahrer Gott und wahrer Mensch, in der Zeit geboren, lebend, handelnd, leidend und überwindend die Versöhnung vollstreckt.“292 In Jesus Christus offenbart sich die Gnade Gottes, die bereits vor der Welt in Gott beschlossen war.293 Wer Jesus Christus erkennt, der erkennt auch die Sünde des Menschen. Denn sie ist gewissermaßen ein Gegenbild dessen, was Jesus Christus aufweist. Er ist nämlich der wahre Gott, der sich selbst erniedrigt und dadurch die Versöhnung bewirkt. Er erweist sich aber gleichzeitig als der wahre Mensch, der von Gott erhöht und versöhnt ist. In beidem wird er zum wahrhaftigen Bürgen und Zeugen für die Versöhnung des Menschen. Der Mensch aber widerspricht der Gnade Gottes, indem er voller Hochmut versucht, sich selbst zu rechtfertigen und wie Gott zu sein. Er macht sich der Trägheit schuldig, indem er der Erhöhung des Menschen Widerstand entgegensetzt. Und indem er schließlich das Zeugnis Jesu Christi ablehnt, lehnt er die Wahrheit ab und wird zum Lügner.294 Sünde wird für Barth somit in Hochmut, Trägheit und Lüge erkennbar. Gott wird um des Menschen willen zum Menschen, aber der Mensch erkennt das nicht und will sein wie Gott.295 Er begegnet Gott in Hochmut. Während Jesus Christus, der Herr, zum Knecht wird, strebt der Mensch in seinem Hochmut danach, Herr zu sein.296 Dabei entbehrt dieses Streben jeder vernünftigen Grundlage, denn Gott ist kein Despot, sondern ein gnädiger und barmherziger Herr.297 Er spricht auch nicht das Urteil über die Menschen, das sie eigentlich verdient haben. Er lässt 292 KD IV/1, 54. 293 „Dieser Bund Gottes mit dem Menschen ist aber eben Gnade, nicht in und mit der Natur des Geschöpfes vorgegeben, nicht ihr Produkt, nicht ihr Ziel, obwohl doch auch die Natur des Geschöpfes von Gott ist […] Der Mensch hat kein Anrecht und keinen Anspruch darauf, als Mensch – weil er als Mensch allerdings dazu erschaffen ist – mit Gott im Bunde zu stehen. Sondern daß er dazu erschaffen ist, das ist über die Gnade seiner erschaffenen Natur hinaus die freie, die besondere ihm zugewendete Bundesgnade Gottes.“ KD IV/1, 53f. 294 Vgl. KD IV/1, 83. 295 Vgl. KD IV/1, 464ff. 296 Barth entfaltet jeweils Hochmut und Trägheit als Gestalten der Sünde unter 4 Gesichtspunkten: (1) im Verhältnis des Menschen zu Gott – z. B. sein wollen wie Gott, (2) im Verhältnis zu seinem Mitmenschen – z. B. Herr sein wollen, (3) im Verhältnis zu seiner geschöpflichen Struktur – z. B. richten wollen und (4) im Verhältnis zu seiner Begrenztheit – z. B. sich selbst helfen wollen. Vgl. KD IV/2, 459. 297 „Es ist ja nicht wahr, daß es den Menschen auch nur von ferne bedrücken könnte, Gottes Knecht zu sein. Gott ist ja von Anfang an sein ihm real und total gnädiger Herr, der ihm das ihm Heilsame nicht nur nicht vorenthält, sondern überreich schenkt und mitteilt, der ihn, auch wenn und indem er ihm wehrt, gerade nur von seinem eigenen Verderben bewahrt.“ KD IV/1, 484.

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es an sich selbst vollstrecken. Aber der Mensch dankt diese Umkehrung der Verhältnisse nicht mit einer demütigen Haltung. Er spielt sich selbst zum Richter über Gut und Böse auf.298 Er widerspricht der Gnade Gottes in Hochmut.299 Doch die hochmütige Haltung wird oft genug verdeckt. Zum Beispiel könnte es als besonders verantwortungsvoll und edel gelten, wenn der Mensch von sich aus Gutes und Böses unterscheiden will. Aber gerade darin erliegt er einer gewaltigen Überschätzung seiner eigenen Bestimmung und einem verhängnisvollen Begehren. Denn allein Gottes Entscheiden ist maßgebend und kann vom Menschen nur akzeptiert werden.300 Schließlich meint der Mensch, sich selbst helfen zu können, während sich Christus in die tiefste Hilflosigkeit begeben hat. Oft gilt es dem Menschen als Schande, sich Gottes Hilfe anzuvertrauen. Stattdessen greift er hochmütig zur Selbsthilfe.301 Durch seinen Hochmut

298 „Er [ Jesus Christus, T. B.] sprach uns das Urteil, indem er an unsere Stelle trat, um Gott gegen sich selbst – nämlich gegen sich selbst als den Träger unserer Schuld – vorbehaltlos recht zu geben […] Das ist die Demut der in Jesus Christus für uns geschehenen Gottestat. Der Mensch aber, dem Gott in Jesus Christus so begegnet, dem Gott Bruder wird, um das für ihn zu tun, ist in genauem Gegensatz: der Mann, der sich dadurch ins Unrecht setzt, daß er statt Gott gegen sich selbst Recht zu geben, selber Richter sein will.“ KD IV/1, 494. 299 „So also sieht der Mensch – in einer ersten Sicht – aus, den Gott in Jesus Christus mit sich selbst versöhnt, zu sich selbst hin umgekehrt hat: so in seiner Unversöhntheit, so in seiner Abkehr von Gott, so in seinem Hochmut. Kann man die Sache anders bezeichnen als so? Zu diesem sich so erhebenden und gerade damit so tief gefallenen Menschen hat Gott sich in Jesus Christus herabgelassen.“ KD IV/1, 469. 300 „Wo sollte da das Böse sein – wo es gerade um dessen theoretische und praktische Unterscheidung vom Guten geht und eben damit um die Voraussetzung alles Tuns des Guten, alles Lassens vom Bösen? In der Tat: anders als durch Gottes Wort wird das Böse auch in dieser und gerade in dieser seiner Edelgestalt bestimmt nicht ans Licht zu ziehen sein […] Der Mensch kann sich gerade nur als Gottes Zeuge auf den Boden des Werkes stellen, das von Gott in dieser Sache getan wird, sich gerade nur an sein Entscheiden und Richten und also an sein in ihm sich offenbarendes Wissen halten […] Er tut dann das Gute und Rechte, er handelt dann in der Ordnung und als wahrhaft Seiender, wenn ihm das das Selbstverständliche, das allein Mögliche ist, was Gott für ihn erwählt hat – wenn er sich zu dieser göttlichen Wahl, ohne nach ihrem Grund zu fragen, ohne sie kontrollieren, verifizieren und korrigieren, ohne sie zuerst in seiner eigenen Wahl validieren zu wollen, bekennt, an ihr sein völliges Genügen findet.“ KD IV/1, 497ff. 301 „Aber wir reden hier von dem dem Wort Gottes entfremdeten Menschen: vom Menschen der Sünde, dem mit jener ersten Erkenntnis auch alle andere, die daraus folgt, abgehen muß […] Sein Hochmut hat auch den Sinn – er lebt vielmehr in dem Unsinn – daß er durchaus sein eigener Helfer sein will. Diesen hochmütigen Menschen hat Gott in Jesus Christus mit sich selber versöhnt, ihn zu sich hin umgekehrt. Seiner tödlichen Krankheit entspricht das Tun des göttlichen Arztes. Für ihn hat Jesus Christus am Kreuz geschrieen – er, der Hilflose, an Stelle der munteren Selbsthelfer, die wir alle sind: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘“ KD IV/1, 520.

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gerät der Mensch in Widerspruch zu Gott, zu seinem Nächsten und zu sich selbst.302 Die zweite Gestalt der Sünde erkennt Barth in der Trägheit. Sie ist die unterlassene Reaktion des Menschen auf die Gnade Gottes, der sich selbst erniedrigt. Jesus Christus, der Herr, wird nicht nur zum Knecht. Als der erhöhte Menschensohn ist er der an der Herrschaft Gottes teilnehmende Mensch, in dem die Erhöhung aller Menschen schon vorweggenommen ist.303 Der Mensch weigert sich aber, sich in Jesus Christus zu Gott hin erheben zu lassen.304 Diese Haltung muss zunächst als Dummheit charakterisiert werden.305 Denn sie ändert nichts an der Tatsache, dass Gottes Licht in der Welt scheint.306 Darüber hinaus ist sie der Ausdruck von Ungehorsam, Unglaube und Undankbarkeit gegenüber Gott. Jesus Christus ist wahrer Mensch geworden, um uns ganz Mitmensch und Nächster zu sein. Damit hat er die Menschen aber auch aufgerufen, sich in Mitmenschlichkeit auf den Nächsten hin auszurichten. Der Mensch verharrt jedoch bei sich selbst. Die zweite Form der Trägheit äußert sich daher in Unmenschlichkeit.307 In seiner menschlichen Na302 Vgl. KD IV/1, 397. 303 „Weil und indem Gott in diesem Menschen [ Jesus, T. B.] das menschliche Wesen als solches und also alle Menschen, jeden Menschen erwählt hat zum Bunde mit ihm, weil und indem dieser Mensch ihrer aller Vertreter, Haupt und Herr ist, darum ist sein Tod nicht nur das an ihrer Stelle über sie alle ergangene Gericht, darum ist er auch ihrer aller in ihm schon vollzogene Aufrichtung, darum sind in ihm auch sie ausgerichtet auf ein ewiges Leben im Dienste Gottes. Und darum ist die in seiner Auferstehung geschehene Offenbarung seiner Erhöhung die Offenbarung auch der ihrigen.“ KD IV/2, 427. 304 „Aber wie die versöhnende Gnade nicht nur rechtfertigende, sondern auch ganz und gar heiligende, aufweckende und aufrichtende Gnade ist, so hat die Sünde wirklich nicht nur jene heroische Gestalt des Hochmuts, sondern im Gegensatz, aber auch in tiefster Entsprechung dazu die ganz unheroische, die triviale Gestalt der Trägheit : die Gestalt des bösen Tuns nicht nur, sondern auch die des bösen Unterlassens, die des verbotenen und verwerflichen Übergriffs nicht nur, sondern auch die des verbotenen und verwerflichen Zurückbleibens und Versagens.“ KD IV/2, 453. 305 „Und eben das Verharren, wo wir uns bewegen lassen und mitgehen, nachfolgen könnten, dürften und sollten, ist unsere Unvernunft und Unwissenheit, macht uns zu den Unklugen, den Toren, den Dummen, die wir sind: die Trägheit, in der wir durchaus bei uns selbst bleiben wollen, statt die sein zu wollen, die wir in ihm und durch ihn sind.“ KD IV/2, 460f. 306 „Es gehört zu der Nichtigkeit dieses menschlichen Verharrens und also Versagens und Unterlassens, daß es letztlich und objektiv vergeblich ist, d. h. daß es an dem, was der Mensch Jesus in der Freiheit seiner Erkenntnis Gottes für uns und alle Menschen ist, nichts ändern kann. Es kann unser Versagen das in ihm gesprochene Wort Gottes nicht ungesprochen machen, sein Leben nicht töten und also seine Verkündigung nicht zum Verstummen bringen.“ KD IV/2, 461. 307 „Wir aber, für die, zu deren Orientierung und Ausrichtung er [ Jesus, T. B.] in dieser Freiheit Mensch war und ist, unterlassen es, dem Ruf in diese Freiheit Folge zu leisten, verharren mitten unter all den Anderen, denen er doch mit und wie uns selbst Mitmensch, Nächster, Bruder ist, die also offenkundig auch die unseren sind, in unserer

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tur war Jesus ganz authentisch Mensch. Sein Leben im Fleisch war vom Geist bestimmt, so dass es absolut rein und heilig war. Gottes Weisung besteht nun darin, dass sich auch der Mensch in ein solches Leben mit hineinnehmen lässt. Doch dagegen spricht wieder seine Trägheit. Er verharrt in Disziplinlosigkeit, in Milde mit sich selbst, in Unreinheit und Unordnung. Barth bezeichnet die Form der Trägheit im Verhältnis zur geschöpflichen Struktur des Menschen als Verlotterung.308 Jesus Christus ist wahrer Mensch geworden und hat sein Leben für uns hingegeben, damit auch wir bleibendes Leben empfangen. Doch die Menschen können sich nicht auf dieses Leben freuen. Sie starren nur auf die Begrenzung ihres irdischen Lebens und verharren in Sorge um die Sicherung dieses Daseins.309 Weil Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, ist er der wahre Zeuge der in ihm erschienenen Gnade Gottes. Als authentischer Zeuge ist er die Wahrheit selbst und entlarvt den in Sünde lebenden Menschen als Lügner.310 Er erfüllt damit sein prophetisches Amt. Jesus ist der einzig wahrhaftige Zeuge, weil das Verhältnis zwischen ihm und Gott ein unvergleichliches und singuläres ist. In freier Entscheidung macht Gott seine Sache zur Sache dieses Menschen. Jesus dagegen macht in freier Antwort darauf die Sache Gottes zu seiner eigenen Sache.311 Die Sünde in Einsamkeit, Abgeschlossenheit, Eigen- und Unwilligkeit und also in unserer latenten oder offenkundigen Feindseligkeit ihnen gegenüber: in unserer Unmenschlichkeit.“ KD IV/2, 487. 308 „Der Mensch verlottert, indem er von dem ihm durch Gottes Gnade zugewiesenen Ort abrutscht – und das widerfährt ihm, indem er es selbst nicht anders haben will. Er läßt sich gehen, er läßt sich treiben, d. h. aber: er läßt es zu, daß er, wo er seinerseits gehen und treiben sollte und dürfte, gegangen und getrieben wird: ein Widerfahrnis, das nur eben ein Fallen, ein Unfall sein kann, der aber nicht schicksalhaft über ihn kommt, sondern dadurch von ihm selbst herbeigeführt wird, daß er sich fallen läßt.“ KD IV/2, 511. 309 „Auch das ist eine Gestalt unserer Trägheit. Auch darin widersetzen wir uns Gott, entziehen wir uns seiner Gnade : der Teilnahme an der von Jesus ausgehenden Bewegung und Erhebung. Auch darin fallen wir zurück, bleiben wir im Rückstand. Und auch das ist verantwortliche Übertretung, ist Sünde. Wir nennen sie unter diesem vierten Aspekt: des Menschen Sorge.“ KD IV/2, 528. 310 „Er [ Jesus Christus, T. B.] ist das Gesetz Gottes, ist die Norm, mit der konfrontiert, an der gemessen, der Mensch sich als Übertreter – und nun also im Besonderen: als Unwahrhaftiger, als Fälscher, als Lügner erweist. Der Mensch von sich aus könnte und würde sich gewiß nicht für einen solchen halten. Im Zusammentreffen mit Jesus Christus – und es gibt von seiner Auferstehung her keinen Menschen, der sich nicht faktisch im Zusammentreffen mit ihm befindet – bekommt die Wirklichkeit der Lüge, in der er existiert, erkennbares Wesen und faßbare Gestalt, muß sie sich als solche darstellen.“ KD IV/3, 429. 311 „Gott muß nicht, er kann und will aber der Gott dieses Menschen sein. Und so ist er es: so krönt er ihn auch. Und der Mensch muß nicht, sondern er kann und darf der Mensch Gottes sein. Und so ist er es: so gehorcht er ihm auch. Gerade in seiner aller Be-

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Gestalt der Lüge ereignet sich nur dort, wo der Mensch mit der Wahrheit konfrontiert wird.312 Barth bezeichnet die Lüge deshalb als speziell christliche Form der Sünde.313 Indem nun die Menschen in der Begegnung mit Jesus Christus der Wahrheit ausweichen, werden sie zu Lügnern.314 Die Ausweichbewegung nimmt dabei mitunter ganz subtile Formen an. Da wird z. B. die Wahrheit vom Menschen nicht in Abrede gestellt, aber sie wird ihrer aufdeckenden Wirkung beraubt.315 Oder aber die Wahrheit wird in Lüge verkehrt, ohne dass das gleich erkennbar wäre. Denn sie tritt in „höchst weihevoller, weil höchst christlicher Gestalt in Erscheinung“.316 Dadurch hat sie mitunter mehr Erfolg als die Wahrheit in Jesus Christus. Doch auch der Christ, der seinen Freispruch nicht hören will, rechnung spottenden Freiheit für den Menschen ist Gott der wahre Gott. Und gerade in seiner rückhaltlosen Freiheit für Gott ist der Mensch der wahre Mensch. Und das Zusammentreffen, die Einheit des wahren, nämlich des für den Menschen freien Gottes, mit dem wahren, nämlich für Gott freien Menschen, konstituiert die Existenz dieses Einen, der der wahrhaftige Zeuge ist. Indem der freie Gott und der freie Mensch in ihm zusammentreffen, Einer sind, ist er die Wahrheit und spricht er die Wahrheit aus, der gegenüber sich jeder andere Mensch als Lügner erweist.“ KD IV/3, 443. 312 „Noch ist Jesus Christus ja nicht allen Menschen begegnet, noch existiert nicht jeder Mensch in direkter, in unmittelbarer Geschichte mit ihm. Hier erst entdeckt und betätigt sich aber der Mensch der Sünde in seiner Eigentlichkeit. Hier erst wird seine Lüge reif […] Hier erst bekommt er ja auch ernstlichen Grund und Anlaß, vor der Wahrheit zu erschrecken, ihr ausweichen zu wollen und, da er das nicht kann, nach jenen Künsten der Lüge zu greifen.“ KD IV/3, 519. Vgl. KD IV/3, 500. 313 Vgl. KD IV/3, 432. 314 „Des Menschen Lüge, von der jetzt zu reden ist, ist des Menschen Unwahrheit in seinem Verhältnis zu der ihm begegnenden Wahrheit Jesu Christi […] Sie setzt also des Menschen ferne oder nahe Begegnung mit Jesus Christus, mit seiner Wahrheit voraus. Sie kann nicht im leeren Raum, nicht immer und überall, sondern nur im Verhältnis zu ihm Ereignis werden, Gestalt gewinnen.“ KD IV/3, 500. 315 „Er [der Mensch, T. B.] wird sie [die Wahrheit, T. B.] aber nur eben so hören, wie er sie hören will. Er wird sie ja nicht verneinen, vielmehr emphatisch bejahen, aber in dem und nur in dem Sinn bejahen, in welchem er sie für tragbar und förderlich halten kann. Er wird sie verstehen, gutheißen, ergreifen, auf den Schild erheben – nur eben in Gestalt eines Gebildes, in dessen Umrissen und Farben sie der Gefährlichkeit, die ihr zuvor eigentümlich war und um deren willen er vor ihr zurückschreckte, entkleidet ist – mehr noch: in einem Charakter, in welchem sie in seine Verfügung gebracht erscheint, seine willige und mächtige Dienerin, Trösterin, Helferin zu werden verspricht.“ KD IV/3, 502. 316 KD IV/3, 504. „Die richtige, saftige Lüge duftet immer nach Wahrheit […] Ihr Gesicht ist eben keineswegs eine Fratze, durch die man sofort und leicht vor ihrer Gefährlichkeit, ja Schrecklichkeit, vor der hinter ihr drohenden ewigen Verdammnis gewarnt wäre […] Die richtige saftige Lüge trägt ein von Gerechtigkeit und Heiligkeit, von Weisheit, Überlegenheit und Umsicht, auch von Eifer, Strenge und Energie, übrigens auch von Geduld, Gottes- und Menschenliebe geradezu strahlendes Gesicht. Der zünftige ‚Großinquisitor‘, der ‚Anti-Christus‘, der seine böse Sache gut macht, und so der Mensch der Sünde in der Vollkraft seines Werkes [,] ist eine sympathische, eine ernstlich einleuchtende und überzeugende Figur […]“ KD IV/3, 504.

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lügt und tauscht seine bereits in Christus vollzogene Erwählung gegen seine Verwerfung ein.317 Die allgemeine und alltägliche Lüge ist nun wohl von der beschriebenen Gestalt der Sünde zu unterscheiden. Trotzdem hat die moralische Lüge ihre Wurzel in dem Widerspruch gegen den wahren Zeugen. Sein Erscheinen und seine Botschaft stellt zudem viele gesellschaftliche Phänomene in Frage.318 Barth setzt sich mit dem Begriff der „Erbsünde“ auseinander, den er missverständlich und unzutreffend findet. Denn ein Erbe, das angetreten werden muss, ist viel mehr Geschick als eigene Tat. Aber Barth versteht gerade auch das als Tat, was mit Erbsünde bezeichnet wird.319 Deshalb plädiert er dafür, auf den Begriff „Erbsünde“ zu verzichten und besser von „Ursünde“ zu sprechen.320 Adam, den Barth durchaus als historischen Menschen versteht, erhält damit keine besondere Qualität als Sünder. Was er tat, tut der Mensch auch heute noch in eigener Verantwortung und Schuld.321 Im Hinblick auf das Böse entwickelt Barth eine ganz eigene Lehre. Er lässt keinen Zweifel daran, dass das Böse im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi schon überwunden ist und Gott gegenüber keine

317 „Denn indem er das Wort der Wahrheit nicht wahrhaben will, will er seinen Freispruch nicht wahrhaben. Und was ist sein Versuch, die Wahrheit in Unwahrheit zu verwandeln, Anderes, als das wahnsinnige Experiment der Verkehrung seines Freispruchs in dessen Gegenteil, in Verurteilung, in Verdammung? Man muß sich den Vorgang unerbittlich klar machen: So lautet die Verheißung des Geistes, das dem Menschen gesagte Wort des auferstandenen, des lebendigen Jesus Christus, des Propheten der Wahrheit Gottes: Du bist doch gar nicht der Mensch der Sünde, in dessen Figur und Rolle du immer noch auftrittst. Dieser Mensch ist erledigt und überwunden, tot. Dieser Mensch kannst du nicht mehr sein, nicht weil du ihn getötet hättest, aber weil ich das in meinem Leiden und Tod getan habe.“ KD IV/3, 533. 318 „Ist es nicht so und ist es ein Zufall, daß wohl in keinem geschichtlichen Bereich in so großem Stil und Maßstab auch gemein gelogen worden ist wie in unserer, der christlichen Ära? Warum? Offenkundig darum, weil der Mensch in ihr einer unverhältnismäßig viel stärkeren Beunruhigung und Bedrängnis durch die ihm peinliche Wahrheit Gottes ausgesetzt ist als in allen anderen Bereichen.“ KD IV/3, 521. 319 „Der lateinische Begriff peccatum originale ohne jene Näherbestimmung ist unanfechtbar und sagt gerade genug: es geht um die ursprüngliche und daher umfassende, radikale und also totale Tat des Menschen, um die Gefangenschaft seiner Existenz in jenem Kreislauf von bösem Sein und bösem Tun. In dieser seiner Gefangenschaft redet ihn Gott an und macht er sich in Jesus Christus zu seinem Befreier. Sie ist aber sein peccatum: Die Tat, in der er sich selber zum Gefangenen macht, um es dann auch sein zu müssen.“ KD IV/1, 557f. 320 Vgl. KD IV/1, 558. 321 „Er [Adam, T. B.] war ganz trivial, was wir sind: ein Mensch der Sünde. Nur eben in der Stellung des Anfängers und insofern eben doch: als primus inter pares. Er hat es uns aber nicht als Erbe hinterlassen und vermacht, sein zu müssen, was er war […] Es mußte niemand wieder und noch einmal Adam sein. Wir werden und sind es alle in eigener Verantwortung und aus freien Stücken.“ KD IV/1, 568.

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Relevanz hat.322 Trotzdem muss vom Bösen als dem Nichtigen gesprochen werden, das Wirklichkeit besitzt. Diese Wirklichkeit ist aber nur als Gegensatz sowohl zum Sein als auch zum Nicht-Sein der Schöpfung zu definieren. Es hat also überhaupt keine schöpfungsmäßige Seinsqualität, schon gar nicht gottähnliches Sein, und „ist“ in einer „ihm eigenen dritten Weise“.323 Die Wirklichkeit des Nichtigen kann nur beschrieben werden „als von Gott Verneintes“, das „von Gott zum Vergehen bestimmt“ ist und nur da ist, „indem es gegen Gott und seine Schöpfung aufsteht“.324 Es ist kein von Gott gewolltes Sein und steht doch im Zusammenhang mit seinem Handeln, indem es sich ihm widersetzt.325 Insofern ist das Nichtige das Böse.326 Als seine Gestalten betrachtet Barth Sünde, Übel und Tod.327 Davon muss man aber die Begrenztheit der menschlichen Existenz unterscheiden, die zu der von Gott geschaffenen Natur gehört und 322 „Das ist ja gerade von der in Jesus Christus geschehenen Versöhnungstat her deutlich, daß wir es im Bösen nicht mit einer dem Willen und Werk Gottes auch nur entzogenen, geschweige denn ihm gegenüber souveränen und überlegenen Wirklichkeit und Macht zu tun haben. Was auch seine Art sei, Gott ist seiner Herr. So weit darf das Ernstnehmen des Bösen nicht getrieben werden, daß sich sein Blick zu dem einer originalen, in Wahrheit schöpferischen, selbständig begründeten und selbständige Tatsachen schaffenden, mit dem einen lebendigen Gott ernstlich konkurrierenden, mit ihm um die Herrschaft kämpfenden Gegengottheit auswachsen dürfte. Das Böse ist eine Gestalt des Nichtigen, das als solches Gott schlechthin unterlegen ist.“ KD IV/1, 452. 323 Vgl. KD III/3, 404. 324 Krötke, Wolf: Sünde und Nichtiges bei Karl Barth. Neukirchen 21983. (NBST; 3), 46. 325 „Eben weil und indem Gottes Handeln auf Erwählung begründet ist, ist es immer ein eifriges, ein zürnendes, ein richtendes Handeln. Gott ist immer auch heilig, d. h. aber sein Sein und Tun geschieht immer auch in einem bestimmten Gegensatz, immer auch in realer Negation, Defensive und Ag[g]ression. Das Andere, von dem sich Gott trennt, demgegenüber er sich selbst behauptet und seinen positiven Willen durchsetzt, ist das Nichtige.“ KD III/3, 405. 326 „Eben aus dieser eigentümlichen Ontik des Nichtigen folgt nun aber sein Charakter: folgt, daß es das Böse ist. Was Gott positiv will, und im opus proprium seiner Erwählung, seiner Schöpfung, seiner Erhaltung und Regierung des Geschöpfes, offenbar in der Geschichte seines Bundes mit dem Menschen, positiv tut, das ist seine Gnade […] Diese Negation seiner Gnade ist das Chaos, die Welt, die Gott nicht wählte, nicht wollte und also auch nicht schaffen konnte und tatsächlich nicht geschaffen, sondern, indem er die wirkliche Welt schuf, übergangen und hinter sich gelassen, als das ewig Vergangene, das ewig Gestrige kennzeichnet und ausgeschieden hat. Und eben das heißt im christlichen Sinn böse: gnadenfremd, gnadenwidrig, gnadenlos.“ KD III/3, 407f. 327 „Was ihm [Gott, T. B.] dabei in uns selbst und in der ganzen Geschöpfwelt entgegentritt, was diesem, dem gnädigen Gotteswillen fremd und entgegengesetzt ist, das und nur das ist das wirklich Nichtige, ist Sünde, Übel und Tod in ihrer wahren Gestalt als das Böse.“ KD III/3, 380. „Man kann Übel und Tod darin von der Sünde unterscheiden, daß jene sich zunächst und direkt gegen das Geschöpf, indirekt und eigentlich aber gegen Gott als dessen Schöpfer richten, während von der Sünde zu sagen ist, daß sie sich umgekehrt zunächst und direkt gegen Gott, eben damit dann aber indirekt auch gegen das Geschöpf selbst richtet.“ KD III/3, 353.

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ursächlich nicht mit der Sünde in Verbindung gebracht werden kann.328 In den Bereich des Nichtigen gehören auch der Teufel und die Dämonen. Für sie gilt wieder die Wirklichkeit des Nichtigen. Deshalb sind sie nicht zu beschreiben.329 Dennoch sind sie als Kräfte der Lüge am Werk.330 Obwohl Barth auch davon spricht, dass Krankheit als ein Übel Ausdruck des göttlichen Gerichtes sein kann,331 versteht er Gottes Gericht doch vor allem als Rechtfertigung des Sünders. Das Gericht gegen den Menschen geschieht darin, dass der Richter selbst zum Gerichteten wird und dadurch den Menschen richtet. Im Knecht gewordenen Herrn ist dieses Gericht ein für allemal vollzogen.332 Indem Jesus Christus sich unter das Gericht stellt, trifft es den Menschen, der der Offenbarung dieses Gerichts entgegengeht.333 In diesem Zusammenhang verwendet Barth auch den Begriff „Strafe“. Der Sohn Gottes nimmt die Strafe auf sich, die uns gilt.334 Trotzdem spürt der Mensch in seinem Leben immer wieder das Gericht Gottes, wenn ihn harte Schläge auf den rechten Weg zurückbringen sollen. Als solche sind sie aber nur die im Gericht verborgene Liebe und Gnade Gottes.335 328 Vgl. o. Anm. 290. 329 „Was ist die Herkunft und Art des Teufels und der Dämonen? Hier gibt es nur eine Antwort: Ihre Herkunft und Art ist das Nichtige […] Wie man die eigenartige Existenz des Nichtigen nicht in Abrede stellen kann, so auch nicht die ihrige. Sie sind nichtig, aber darum nicht nichts. Sie sind aber nur so, wie es ihnen zukommen kann: sie sind nur uneigentlich.“ KD III/3, 613. 330 „Als Lüge sind sie tatsächlich kräftig, und zwar – weil sie aufs Ganze gehen, weil sie nicht weniger als Gott und sein Reich und seine Engel nachahmen, weil das Nichtige sich immer als das Höchste und Tiefste, als das Erste und Letzte ausgibt und aufspielt – immer wieder viel kräftiger, als man es erwartet und als man es zugeben will […]“ KD III/3, 619. 331 „Was heißt Gesundheit […], wenn Krankheit diese Wirklichkeit ist: ein Element und Zeichen der die Schöpfung bedrohenden Chaosmacht einerseits – und andererseits ein Element und Zeichen des gerechten göttlichen Zornes und Gerichtes, kurz: ein Element und Zeichen des mit der menschlichen Sünde verwandten und auf sie antwortenden objektiven Verderbens, dem gegenüber es außer in Gottes Erbarmen in Jesus Christus keine Errettung gibt?“ KD III/4, 417. 332 „Gericht ist Gericht. Tod ist Tod. Ende ist Ende. Gericht, Tod, Ende hat Jesus Christus im Vollzug der Selbstdemütigung Gottes, im Gehorsam des Sohnes an unserer Stelle erlitten: der Richter, der selber gerichtet wurde, der aber eben damit gerichtet hat.“ KD IV/1, 326f. 333 Vgl. KD IV/1, 494f. 334 „Man kann auch sagen: er [der Gottessohn, T. B.] vollzieht dieses Gericht, indem er selbst die Strafe erleidet, die wir Alle auf uns gezogen haben.“ KD IV/1, 278. 335 „[Gottes Liebe ist, T. B.] […] ganzes Gericht, weil sie die heilige Strenge Gottes ist – wieder nicht in der Ohnmacht einer fernen untä[t]igen Mißbilligung, sondern wieder in der Macht seiner ganzen Gegenwart und Aktion im psychischen und physischen Geschehen des menschlichen Lebens: darin, daß Gott dem Menschen auf seinem bösen Weg handgreiflich widersteht, ihm als unerbittlicher Rächer seiner Irrtümer und Torheiten konkret deutlich macht: so geht es nicht! bis hieher und nicht weiter!“ KD IV/2, 876.

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Wenn das Gericht Gnade ist, dann offenbart auch das Endgericht Gottes Gnade.336 Dieses letzte Gericht, in dem auf die Werke des Menschen geblickt wird, fügt der Rechtfertigung weder etwas hinzu, noch stellt es sie in Frage.337 Die Rechtfertigung des Sünders kann und soll nicht rückgängig gemacht werden. Dennoch sollen seine Werke als Werke des zur Liebe Befreiten und Gerechtfertigten offenbar werden. Und so erfährt er auch im Endgericht die richtende Gnade Gottes.338 Obwohl Barth die Unverfügbarkeit dieser Gnade betont, macht er doch deutlich, dass die Rettung aller Menschen erhofft werden kann.339 1.3.3. Vergebung als Ereignis und Verheißung Auf die Sündenvergebung geht Barth näher im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Menschen ein. Beide lassen sich zeitlich nicht festlegen, sie sind Ereignis und Verheißung zugleich. So ist der Mensch von seiner Vergangenheit her ganz Sünder, aber von seiner Zukunft her auch schon ganz Gerechtfertigter.340 Durch den Freispruch des Menschen im gnädigen Urteil Gottes ist die Vergebung unverrückbares Ereignis geworden. Sie ist aber gleichzeitig Verheißung, die der Mensch empfangen, an die er sich halten und deren er gewiss sein muss.341 Die Rechtfertigung geschieht 336 Vgl. KD III/4, 60f. 337 Vgl. Krötke, Nichtiges, 92f. 338 „Der Christ hofft auf Jesus Christus, auf ihn allein, auf ihn aber auch zuversichtlich: wie und indem Dieser, er allein, er aber auch zuverlässig, der Ursprung, Gegenstand und Inhalt seines Glaubens und seiner Liebe ist […] Er, kein unbekannter, fabelhafter Weltrichter, sondern Er, der dem Christen Wohlbekannte, kommt auch als Richter der Lebendigen und der Toten und so auch als sein Richter […] Keine Frage, daß sich da auch unter den Christen nicht nur manche jetzt scheinbar Erste als Letzte, sondern, was ihr christliches Denken, Reden und Tun betrifft, auch viel jetzt vermeintlich Erstes als Letztes herausstellen – aber auch nicht nur mancher jetzt scheinbar Letzte als Erster, sondern auch viel jetzt vermeintlich Letztes als Erstes erweisen wird […] Keine Frage also, daß, wer ihn kennt, seinem Gericht, seinem Feuer, seinem Sichten nicht in schwankender, sondern nur in gewisser, nur in eindeutig positiver und also freudiger Erwartung entgegensehen und entgegengehen kann. Er wartet auf seine richtende und in ihrem Gericht in unerbittlicher Schärfe durchgreifende Gnade: er wartet aber auf seine Gnade.“ KD IV/3, 1058f. 339 „Es gibt kein Recht, es sich zu verbieten oder verboten sein zu lassen, sich dafür offen zu halten, daß in der Wirklichkeit Gottes und des Menschen in Jesus Christus immer noch mehr, als wir erwarten dürfen und also auch das höchst Unerwartete der Beseitigung jener letzten Drohung, daß in der Wahrheit dieser Wirklichkeit auch die überschwängliche Verheißung der endlichen Errettung aller Menschen enthalten sein möchte.“ KD IV/3, 550. Vgl. KD IV/3, 1070. 340 „Des Menschen Rechtfertigung vollendet sich in seiner Zukunft wie sie anhebt in seiner Vergangenheit. Aber wie seine Vergangenheit als Sünder auch noch seine Gegenwart ist, so ist seine Zukunft als Gerechter auch schon seine Gegenwart.“ KD IV/1, 663. 341 „Man kann das Ganze dieser Verheißung, wie es im Credo geschieht […] zusammenfassen in den Begriff der Vergebung der Sünden. Sie ist, von jeder menschlichen Ge-

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in dem Urteil, das Jesus Christus an sich vollstrecken lässt, wodurch der Bund zwischen Gott und Mensch wieder hergestellt wird. Der Mensch ist nicht nur gerecht gesprochen, sondern auch gerecht gemacht.342 Wenn er dieses Urteil annimmt, erfährt er Vergebung der Sünden.343 Neben die Rechtfertigung stellt Barth noch die Heiligung und die Berufung und ordnet diese in sein Schema der Versöhnungslehre ein (s. o. Anm. 269). Sie sind verschiedene Aspekte des einen Versöhnungsgeschehens. Die Beziehung von Rechtfertigung und Heiligung beschreibt er als ein Ineinander, bei dem doch beide voneinander geschieden werden müssen. Er ordnet aber die Rechtfertigung der Heiligung nicht vor.344 Während sich die Rechtfertigung in der Selbsterniedrigung Gottes vollzieht, geschieht Heiligung in der Aufrichtung des Menschen, in seiner Umkehrung zu Gott hin. Barth nennt als Synonyme dafür die Begriffe „Wiedergeburt“, „Erneuerung“, „Bekehrung“, „Buße“ oder „Nachfolge Jesu“.345 Jesus Christus, der wahrhaftige Zeuge, erweckt durch sein Wort Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit und ruft sie seinerseits als Zeugen in seinen Dienst.346

genwart aus gesehen, zweifellos auch ein ganz und gar Künftiges: die vollendete Rechtfertigung, nach der der gerechtfertigte Mensch ausblickt, der er entgegengeht […] Daß Gott diese Tat an ihm tun will und wird und daß er diese Gabe erkennen und ergreifen darf, das ist der Inhalt der Verheißung. Vergebung der Sünden empfangen, heißt also: die Verheißung der Vergebung der Sünden empfangen. Vergebung der Sünden haben, heißt: sich an die Verheißung halten, im Vertrauen auf sie vorwärts blicken und ihrer Weisung gehorsam vorwärts gehen. Der Vergebung der Sünden gewiß sein schließlich heißt: an ihrer Verheißung als solcher um ihrer selbst willen nicht zweifeln.“ KD IV/1, 665. 342 „‚Rechtfertigung‘ meint entscheidend eben das in Jesus Christus, in seinem Tod und in seiner Auferstehung vollzogene und offenbarte Urteil, das Nein und das Ja, in welchem Gott sich dem bundbrüchigen Menschen gegenüber ins Recht setzt, in welchem er ihn nämlich zu sich hin umkehrt und so mit sich selber versöhnt. Er tut es durch die Vertilgung des alten, durch die Erschaffung eines neuen Menschen.“ KD IV/1, 102. 343 „Das Wort ‚Vergebung‘ redet von dem Rechtsakt, in welchem Gott seine eigene Ehre dem Menschen gegenüber bewährt und behauptet hat […] Das Sein des neuen, des in Jesus Christus mit Gott versöhnten Menschen ist ein solches, in welchem der Mensch als sündiger Mensch keine Zukunft mehr hat. Und es ist in der Gestalt des christlichen Glaubens ein Sein in der Unterwerfung unter dieses Urteil: so und insofern sein Sein in der ‚Vergebung der Sünden‘.“KD IV/1, 100. 344 „Muß man aber, zunächst auf das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung gesehen, nicht sagen, daß teleologisch die Heiligung der Rechtfertigung übergeordnet ist und nicht umgekehrt? Es ist offenbar unvermeidlich, die Frage auch so zu stellen und zu beantworten […] Im simul des einen göttlichen Wollens und Tuns Rechtfertigung als Grund, Heiligung als Ziel das Erste, und wiederum: Rechtfertigung als Voraussetzung, Heiligung als Folge das Zweite – in diesem Sinn beide über- und beide untergeordnet.“ KD IV/2, 575. 345 Vgl. KD IV/2, 566. 346 Vgl. KD IV/3, 553ff.

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Sucht man bei Barth nach Aussagen über den Zuspruch der Vergebung im Wort Gottes, so lässt sich schwer etwas finden. Vergebung hat sich ereignet und ereignet sich immer wieder, ohne dass die „Zueignung“ unter seelsorgerlichem Aspekt besonders thematisiert würde.347 Anders dagegen betont er die Bedeutung des Sündenbekenntnisses. Die wiederholte Bitte um Sündenvergebung macht erst die Aufrichtigkeit eines Lebens in der Rechtfertigung deutlich.348 Es kann und sollte sich dabei um ein ganz schlichtes Bekenntnis der Sünde handeln.349 Allerdings wird dies nicht ausdrücklich auf den Gottesdienst bezogen. Mehrfach hebt Barth hervor, dass das Versöhnungsgeschehen, das sich ereignet hat, keine billige Gnade ist. Es ist Gericht und es ist Zurechtweisung.350 Der Frage, inwieweit im Abendmahl Vergebung der Sünde „ausgeteilt“ wird, geht Barth überhaupt nicht nach. Er stellt die Sakramente in seine Fragment gebliebene Ethik und behandelt dort nur die Taufe. Wassertaufe und Abendmahl können dabei nur im menschlichen Handeln zeichenhaft auf etwas verweisen, das ein für allemal geschehen ist – nämlich 347 „In diesem eigenartigen ‚Zwang‘, alles in Entsprechungen hineinfixieren zu müssen, entschwindet dem systematisierenden Theologen die Brücke aus dem Blick, welche erst jene Zuordnungen ermöglicht, die ‚viva vox Evangelii‘ […] Barth verdeckt sich die schlichte Unterscheidung, welche Luther im Ringen mit Karlstadt eingebleut hatte, zwischen dem ‚Erwerben‘ der Vergebung in Jesu Kreuzestod und ihrer ‚Austeilung‘ durch das Evangelium, in Taufe, Abendmahl und Absolution […] Dies bewirkt vor allem, daß Taufe und Abendmahl auf die Seite der Glaubensantwort auf Gottes Versöhnung in Christus abgedrängt werden und das ‚Schlüsselamt‘ in seiner solennen Funktion nicht mehr erscheint.“ Peters, Rechtfertigung, 149f. 348 „Kein Moment seines [des Menschen, T. B.] Lebens, in welchem er Vergebung und also die Freiheit von seinen Sünden nicht auch einfach zu erwarten, zu erhoffen, mit leer ausgestreckten Händen zu erbitten hätte. Aus der fünften Bitte des Unservaters kann niemand jemals entlassen sein, ihre Dringlichkeit kann in keines Christen Leben jemals abnehmen. Es dürfte vielmehr die andere Probe auf die Echtheit seiner Rechtfertigung als seines Seins im Übergang darin bestehen, ob sich ihm die Aktualität gerade dieser Bitte immer mehr aufdrängen oder ob sie für ihn ihre Aktualität allmählich verlieren sollte?“ KD IV/1, 665. 349 „Und Sündenbekenntnis […] kann nur in der Wendung zu Ihm [ Jesus Christus, T. B.] und also in der Erkenntnis der in ihm geschehenen Umkehrung des Menschen zu Gott hin so vollzogen werden, daß es das von den Ausbrüchen irgendwelcher Reue, Depression[,] Zerknirschung und Verzweiflung verschiedene Bekennen seiner wirklichen Sünde ist.“ KD IV/1, 155. 350 „Eine schmerzlose Operation, ‚billige Gnade‘ kann diese Erkenntnis und Anerkennung nicht sein. Was es Gott dem Vater und dem Sohn und was es den Menschen Jesus gekostet hat, das dem Volk, das im Finstern wandert, leuchtende Licht der Welt heraufzuführen und scheinen zu lassen, ist wirklich mehr, als es uns kosten mag, uns der Zurechtweisung durch den Heiligen Geist zu unterziehen, uns jene Scheidung zwischen unserem neuen und unserem alten Wesen, uns das Diktat, das uns in jenen Streit stürzt, gefallen zu lassen – mehr als das bißchen Erschrecken und Opfer, das uns unter solcher Zurechtweisung nicht erspart bleiben kann.“ KD IV/2, 413.

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die Rechtfertigung als Reinigung und die Heiligung als Erneuerung des sündigen Menschen.351 Die Sakramente werden so zu einer Antwort auf das Versöhnungsgeschehen. Diese Position des späten Barth hat sich erst im Verlauf der Arbeit an der „Kirchlichen Dogmatik“ entwickelt. In seinen Prolegomena beschreibt er die Sakramente noch als Teil der Verkündigung.352 Sie sind wie die Predigt Zeichen des Wortes Gottes. Denn die Predigt ist auch nur „Hinweis auf das göttliche Selbstwort“.353 Während aber die Predigt repräsentatives Wort ist, ist das Sakrament repräsentative Handlung und tritt in Ergänzung zur Wortverkündigung.354 In diesen Zeichen offenbart sich Gott. Der Heilige Geist als subjektive Wirklichkeit dieser Offenbarung kommt aber auch ohne die objektive Wirklichkeit der Sakramente aus.355 Barth verschärft im Weiteren seine Auffassung und kommt so zu einem nicht sakramentalen Verständnis vor allem der Taufe, bei der er die Geisttaufe als Werk Gottes, die Wassertaufe als Werk des Menschen versteht. Nur in der Geisttaufe kann von einer gnädigen Selbstmitteilung Gottes gesprochen werden.356 Auf das Abendmahl ange-

351 „Weder die christliche Gemeinde noch der Täufling haben des sündigen Menschen Rechtfertigung vor Gott ins Werk gesetzt oder auch nur von sich aus entdeckt. Daß es für einen Menschen Vergebung gibt: Reinigung von seinem Hochmut, seiner Trägheit, seiner Lüge, Freispruch von seiner Schuld Gott, seinem Nächsten und sich selbst gegenüber, Losspruch von der Verdammnis – dieses gnädige Nein, durch welches das ganze bisherige Sein eines Menschen als veraltet und vergangen erklärt und verworfen wird, hat kein Mensch, sondern hat Gott gesprochen […] Auch die christliche Gemeinde kann dieses göttliche Nein gerade nur in menschlichem Werk und Wort bezeugen, nachbildend bestätigen.“ KD IV/4, 175. 352 „Nehmen wir an, daß dieser Auftrag ergangen und vernommen sei; dann wird doch auch das nachträglich einsichtig zu machen sein, daß Verkündigung sinnvoller Weise gerade in Predigt und Sakrament besteht.“ KD IV/1, 59. 353 KD IV/1, 60. 354 „Verheißung in Form eines Annexes zur Predigt, Handlung im Unterschied zum bloßen Wort, Schriftmäßigkeit, repräsentativ-symbolische Beziehung zu dem ‚Ein für allemal‘ der Offenbarung – das sind die entscheidenden Bestimmungen des Begriffs des Sakramentes.“ KD IV/1, 62. 355 „So, nämlich so konkret, so leibhaft, so als schöpferisches Ereignis in der Geschichte, kommt die Offenbarung zu uns und will sie empfangen und aufgenommen sein: so wie sie sich in besonderer Betonung dieses ihres objektiven Gnadencharakters im Sakrament darstellt. Es kommt nicht auf das Wasser der Taufe und auf Brot und Wein des Abendmahls an. Joh. 6,63: ‚Der Geist ist’s, der lebendig macht, das Fleisch ist nichts nütze‘ ist auch hier zu bedenken.“ KD I/2, 252. 356 „Gewisse im Blick auf die menschliche Entscheidung überhaupt und auf die Wassertaufe im Besonderen sehr unangebrachte Ausdrücke sind im Blick auf die Geisttaufe durchaus am Platz und notwendig: sie ist effektives, kausatives, ja kreatives u. zw. göttlich wirksames, göttlich verursachendes, göttlich schöpferisches Handeln am und im Menschen. Wenn irgendwo, so könnte und dürfte hier von einem ‚sakramentalen‘ Geschehen im gängigen Sinn des Wortes die Rede sein: sie reinigt, erneuert, verändert ihn wirklich und gänzlich.“ KD IV/4, 37.

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wandt hieße das,357 das eigentliche Geschehen ist nicht an die Zeichen von Brot und Wein gebunden. Diese können nur Hinweis darauf sein. Und tatsächlich betont Barth das an anderer Stelle.358 Im Zusammenhang mit dem Abendmahl hat die Sündenvergebung für Barth keine nennenswerte Bedeutung. Er hebt immer wieder den Gemeinschaftsaspekt hervor.359 Die Gemeinschaft wird nicht durch das „Sakrament“ begründet, sondern von Jesus Christus selbst.360 Und doch geschieht im Herrenmahl Ernährung und Stärkung, ja auch Neuwerden der Gemeinde.361 Wenn man daraus so etwas wie Zueignung von Vergebung ableiten wollte, hätte man Barth jedoch falsch verstanden. Es ist nur konsequent, wenn in der „Kirchlichen Dogmatik“ auf die liturgische Absolution gar nicht eingegangen wird. Das direkt zugesprochene lösende Wort, auf das Luther weder als Seelsorger noch als Gemeindeglied verzichten wollte, wird bei Barth überflüssig. Es ist im Versöhnungsgeschehen schon gesprochen und kann vom Christen im 357 Barth legt in KD IV/4 sein Abendmahlsverständnis nicht mehr dar und schreibt: „Kluge Köpfe mögen z. B. erraten, auf welchen Linien ich hier abschließend auch an die Lehre vom Abendmahl herangetreten wäre.“ KD IV/4, X. 358 „Das Bekenntnis der Christen, ihr Leiden, ihre Buße, ihr Gebet, ihre Demut und deren Werke, aber auch die Taufe, auch das Abendmahl können und sollen dieses Ereignis bezeugen, aber auch nur bezeugen. Es selbst – das Ereignis des Todes des Menschen, ist das des Todes Jesu Christi auf Golgatha […]“ KD IV/1, 326. 359 „Er [Christus, T. B.] tröstet, ermutigt, ermahnt, protegiert sie [die Christen, T. B.] nicht nur von weitem und im Abstand. Sondern indem er sie in der Gottesmacht seines Geistes zu sich ruft, erquickt er sie damit, daß er selbst sich ihnen hingibt, sich ihnen schenkt, sich zum Ihrigen macht. Daß er das will und tut, das ist […] die eigentliche ratio der christlichen Existenz : in der Gemeinde der Christen gefeiert, angebetet, verkündigt in der gemeinsamen Begehung des von ihm zur Darstellung der von ihm begründeten vollkommenen Gemeinschaft zwischen ihm und ihnen eingesetzten Abendmahls […]“ KD IV/3, 623. 360 „Nicht dieses Ereignis, und also nicht der Pfingstgeist, nicht die Fülle seiner Gaben, nicht der durch ihn erweckte Glaube, nicht die sichtbaren, hörbaren, greifbaren Folgen der Verkündigung und des Vernommenwerdens des Evangeliums, geschweige denn die Taufe oder das Abendmahl (als sogen. ‚Sakramente‘) machen die Gemeinde zum Leib Christi, ihre Glieder zu Gliedern dieses Leibes. Sie ist, sie sind das in Jesus Christus, in seiner Erwählung von Ewigkeit her […]“ KD IV/1, 744. 361 „Aber wie es bei ihrem Reden in der Gemeinde nicht um privaten und unverbindlichen Austausch von menschlichen Überzeugungen und Meinungen, sondern um die gemeinsame Aussprache des Bekenntnisses geht, so in dem Essen und Trinken beim Abendmahl nicht um die Ernährung des Einen mit seinem Nächsten hier, des Anderen dort, sondern um das Essen von einem Brot und das Trinken aus einem Kelch, um die ihnen Allen gemeinsame Ernährung: und nun eben – weil Er, Jesus Christus, sie dazu zusammenführt, zu diesem Essen und Trinken einlädt, weil er da der Hausherr und Gastgeber, mehr noch: selber Speise und Trank ist – um ihre Ernährung durch ihn selbst. Sie geschieht damit, daß er sich ihnen, so oft sie da gemeinsam essen und trinken, aufs neue als der, der er ist, als der schlechthin Ihrige zuwendet und schenkt, und umgekehrt: sie aufs neue zu dem, was sie sind, zu den schlechthin Seinigen macht.“ KD IV/2, 769f.

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Glauben immer wieder ergriffen werden. Die Herzensbeichte wäre also die Form von Beichte, die Barths Einsichten am ehesten entspricht. 1.3.4. Kritische Würdigung Barths Ansatz ist ebenso originell wie einleuchtend. Gottes Gnadenbotschaft in seinem offenbarten Wort ist das erste Wort, von dem her nur alles verstanden und erklärt werden kann. Und so verlässt er die traditionelle Struktur der Dogmatik, um sein Anliegen konsequent durchzuführen. Erst im Erfassen des Versöhnungsgeschehens erkennt der Mensch, was Sünde ist und dass er selbst Sünder ist. Sünde ist folglich alles, was sich gegen Gottes Gnade wendet und nach Barth in Hochmut, Trägheit und Lüge sichtbar wird. Besonders die „Trägheit“ als zweite Gestalt der Sünde gestattet es, Phänomene in den Blick zu nehmen, die von anderen Entwürfen nur schwer zu erfassen sind (s. o. Anm. 250).362 In ähnlicher Weise eröffnet die Beschreibung der Sünde als „Lüge“ neue Möglichkeiten, selbst die Vermittlung der Gnadenbotschaft daraufhin zu überprüfen, ob sie wahrhaftig ist. Denn auch das Reden von Sünde und Gnade kann sündlich sein, wenn es der Wahrheit ausweicht, sie verdeckt oder ins Gegenteil verkehrt (s. o. Anm. 316).363 Die „Gnadengemäßheit“ wäre also der Prüfstein der soteriologischen Sündenlehre Barths, an dem sich theologisches Reden und menschliches Handeln messen lassen müssten.364 In der Tat ist der soteriologische Ansatz viel dynamischer und gestattet differenzierteres Reden von Sünde als die anderen beiden Entwürfe. Schließlich berücksichtigt „Gnadengemäßheit“ die jeweils besondere Situation des Menschen, in der dieselbe Tat mitunter grundverschieden beurteilt werden muss.365 362 „Neben der Ablehnung der Gnade im Hochmut ist jedoch auch die Sünde der Trägheit eine Komponente, die die Ausbildung und Stabilisierung ungerechter Sozialstrukturen erleichtert. Daß Menschen bereit und in der Lage sind, sich selbst zu erniedrigen, Benachteiligungen widerspruchslos hinzunehmen, sich resignierend mit Ungerechtigkeiten abzufinden und das eigene Elend wie auch das von Mitbetroffenen gleichgültig zu akzeptieren oder zu verdrängen, trägt oft erheblich zur Stabilisierung von sozialen Verhältnissen bei, die der Gnadenbotschaft angemessener strukturiert sein könnten als sie es sind.“ Dziewas, Sünde, 107. 363 „Durch die Bestimmung der Sünde als Lüge kann die soteriologische Sündenlehre selbstreflexiv das theologische Reden von Sünde auf seine Sündhaftigkeit hin befragen. Auch die Sündenlehre darf der Botschaft von der Gnade Gottes und seiner liebevollen Zuwendung zu den Menschen nicht widersprechen.“ Dziewas, Sünde, 108. 364 Vgl. Dziewas, Sünde, 106ff. 365 „Die Taten der Menschen werden im soteriologischen Kontext nicht unabhängig von deren individueller Sündhaftigkeit als Sündentaten klassifiziert, sondern die in einem Tun zum Ausdruck kommende Grundhaltung und Situation wird mitberücksichtigt. Dabei ist die soteriologische Sündenlehre ebenso wie die schöpfungstheologische in der Lage, Sündentaten eindeutig als solche zu benennen, doch geschieht dies nicht allgemein, universell und für alle Menschen in gleicher Weise.“ Dziewas, Sünde, 107.

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Dagegen erweist sich dieser Ansatz als schwierig, wenn das Gespräch über die Grenzen von Kirche und Gemeinde hinaus geführt werden soll. Denn die Grundvoraussetzung dafür wäre, dass erkannt wird, was Sünde überhaupt bedeutet. Das ist aber nur möglich, wenn Gottes gnädiges Handeln verstanden und angenommen wird. Dazu muss man Barths christologische Argumentation nachvollziehen.366 Auf einen weiteren Mangel wurde bereits hingewiesen – den fehlenden Gnadenzuspruch, der bei anderen Ansätzen aus der Rechtfertigung folgt, bei Barth aber völlig verdrängt wird (s. o. Anm. 347). Barth betont damit auf seine Weise das alleinige Handeln Gottes, das nicht durch irgendwelche menschlichen Handlungen verdunkelt werden soll. Er berücksichtigt dabei aber nicht, dass der konkrete Mensch oft auf seelsorgerliche Hilfe zur Annahme der Versöhnung angewiesen ist. Allgemeine Glaubenserkenntnisse und dogmatische Aussagen machen vielen Menschen die auch ihnen geschehene Vergebung nicht so gewiss wie das persönlich zugesagte Wort der Lossprechung. Eine andere Schwierigkeit besteht darin, dass vom Menschen eigentlich sehr viel verlangt wird, wenn man vom Versöhnungsgeschehen in Christus her auf seine Sünde blickt. Ihm ist Vergebung zuteil geworden. Deshalb lebt er nun als Versöhnter und Gerechtfertigter. In einem extremen Verständnis könnte daraus abgeleitet werden, dass der Mensch etwas schaffen muss, was er gar nicht schaffen kann.367 1.3.5. Impulse für die Liturgik Aus dem oben Gesagten folgt, dass für die Beichte als Einheit von Sündenbekenntnis und Absolution im Gottesdienst von Barth keine näheren Ausführungen zu erwarten sind. Die immer wiederkehrende Bitte um Sündenvergebung ist ausreichend, denn sie ist sich der Vergebung gewiss und antwortet damit auf das Ereignis der Rechtfertigung.

366 „Da die soteriologische Sündenlehre bei ihrem Reden von Sünde nicht an eine allgemeine Erfahrung anknüpft, sondern an dogmatische Aussagen der Christologie, wird sie nur da ihre Aussagen zur Sünde vermitteln können, wo es ihr gelingt, ihre eigene Ausgangsbasis hinreichend transparent zu machen. Gelingt ihr dies nicht, kann das soteriologische Reden von Sünde als autoritäres religiöses Reden erscheinen, das sich anmaßt, von oben herab die Menschen zu verurteilen.“ Dziewas, Sünde, 109. 367 „Die Vergebung der Sünde in Christus verblaßt, da sie eben nur Ausgangspunkt ist, zur bloßen Handlungsmotivation. D. h. das Evangelium wird nicht mehr als Qualifikation der Hörer formuliert, sondern es liefert Material für Imperative […] Da der Akzent zu einseitig auf der Tätigkeit des Menschen liegt, kann diesem sogar die Aufgabe zufallen, die Verheißungen des Evangeliums zu verwirklichen. Das rechte Tatzeugnis für das Evangelium ist dann die Verwirklichung dessen, was das Evangelium verheißt. Aus der Verkündigung der Sündenvergebung wird der Aufruf zum Kampf gegen die Sünde.“ Nüchtern, Sündenerfahrung, 145f.

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Vor allem an zwei Stellen äußert sich Barth ausführlich zum Gottesdienst.368 Für ihn ist der Gottesdienst primär der Ort, an dem die christliche Gemeinde erbaut wird. Hier werden von Jesus Christus alle Christen zusammengefügt und damit zur Kirche erbaut, hier erbauen sie sich auch gegenseitig, und das wirkt im Alltag weiter.369 So ist der Gottesdienst zuerst göttliches Handeln, aus dem das Handeln des Menschen erwächst.370 Barth entdeckt enge Beziehungen des Kirchenrechts zum Gottesdienst. Es ist liturgisches Recht, weil es seinen ursprünglichen Sitz, seine Erkenntnisquelle und seinen Gegenstand im Gottesdienst hat.371 Dieser bildet als besonderes Ereignis die Mitte des Gemeindelebens. Er unterbricht den Alltag und verhilft der Gemeinde zur vorläufigen Darstellung der geheiligten Menschheit.372 Barth hebt die Notwendigkeit hervor, den Gottesdienst im Gehorsam gegenüber Gott immer wieder so zu ordnen, dass er rechter Gottesdienst ist.373 Indem die einzelnen Gemeindeglieder zur communio zusammengefügt werden, ist der Gottesdienst in vierfacher Weise Gemeinschaftsge368 Das geschieht in seiner Dogmatik im Zusammenhang mit der Erbauung der Gemeinde durch den Heiligen Geist, vgl. KD IV/2, 722ff. sowie in Vorlesungen, in denen er das Schottische Bekenntnis von 1560 neu deutet, vgl. Barth, Karl: Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre: 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560 gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938. Zollikon 1938, 183ff. 369 „Christlicher Gottesdienst ist in allen seinen Elementen, nicht nur in der Mahlfeier, aber indem er in ihr seine Spitze erreicht, Kommunion: Handlung Gottes, Jesu, der Gemeinde selbst für die Gemeinde und also eben: Erbauung der Gemeinde. Von dieser Mitte her kann, soll und darf sie sich dann auch im Umkreis, im Alltagsleben der Christen und nun also doch auch zwischen diesen und jenen Einzelnen vollziehen, wird ihr Reden, Tun und Verhalten im Alltag dazu bestimmt, ein erweiterter und transformierter Gottesdienst zu werden.“ KD IV/2, 722f. 370 „Daß dieser Dienst Gottesdienst ist, das schafft nicht der Mensch, das schafft Gott ganz allein. Er, Gott, will es, daß Gottesdienst gefeiert werde; Gott stellt die dazu geeigneten Mittel bereit; Gott bezeugt durch sie seine Gnade ; Gott erweckt, reinigt und fördert damit den Glauben: auf der ganzen Linie Gott und nicht der Mensch – der Mensch auf der ganzen Linie nur als der Diener und Vollstrecker des Willens Gottes.“ Barth, Gotteserkenntnis, 185. 371 Vgl. KD IV/2, 787ff. 372 „Gottesdienst in diesem besonderen Sinn des Begriffs ist nicht ein dauerndes, sondern innerhalb des Gesamtereignisses ‚Gemeinde‘ ein besonderes Ereignis. Wie das Gesamtereignis ‚Gemeinde‘ sich innerhalb der Welt von der Welt abhebt, so hebt sich der Gottesdienst innerhalb des Gesamtereignisses ‚Gemeinde‘ von diesem ab. Und nur indem diese in ihrem Gottesdienst ihre distinkte Mitte hat, kann und wird sie sich auch innerhalb der Welt distinkt von dieser abheben.“ KD IV/2, 790. 373 „Daß allein der, der als ihr Herr in ihm gegenwärtig ist und handelt, auch die Autorität und Kompetenz hat, ihn zu ordnen und so vor Verderbnis zu bewahren, wird die Gemeinde wohl wissen. Ihr menschliches Ordnen wird also nur im gehorsamen Achten auf das seinige bestehen und geschehen können […] Und eben darum wird sie ihre Liturgie nicht für unberührbar, weil fehlerfrei halten […]“ KD IV/2, 804.

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schehen.374 Zuerst ist er Bekenntnisgemeinschaft. Barth fasst diesen Begriff sehr weit, denn das gemeinsame Zeugnis der Gemeinde im Hören, Sprechen und Singen gilt ihm als Bekenntnis.375 Dazu gehört für ihn auch die gemeinsame Seelsorge untereinander.376 Daraus aber auf eine Begründung von gottesdienstlicher Beichte zu schließen, dürfte Barth nicht gerecht werden. Der Gottesdienst ist weiterhin auch Taufgemeinschaft, denn in der Taufe wird die Gemeinschaft konstituiert, in der die vielen Glieder ein Leib werden.377 Diese Gemeinschaft wird im Abendmahl erhalten und gestärkt, deshalb ist der Gottesdienst auch Abendmahlsgemeinschaft.378 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Barth in seinem frühen Nachdenken über den (reformierten) Gottesdienst dessen Sakramentslosigkeit beklagt.379 Taufe und Abendmahl gehören zur Mitte des Gottesdienstes, weil darin sichtbar wird, „daß in Jesus Christus Alles für uns vollbracht ist […]“380 Schließlich ist der Gottesdienst Gebetsgemeinschaft, weil die dort Versammelten wissen, dass sie auf Gott ange374 „Es sind wesentlich und entscheidend vier konkrete Elemente dieses Geschehens, in welchen – nochmals: ungeachtet und zuwider aller Unvollkommenheit, ja Verkehrtheit des menschlichen Tuns der Christen als solchen – Jesus Christus und also das Gesetz der communio sanctorum, das für sie gültige Recht real gegenwärtig ist.“ KD IV/2, 792. 375 „Es mag auch die gemeinsame Rezitation einer Bekenntnisformel, es wird sicher auch gemeinsamen Gesang in sich schließen, es wird sich aber entscheidend in freiem, nur eben an und durch seinen Gegenstand gebundenem Zeugnis in der Ausrichtung und Anhörung der der Gemeinde von ihrem Herrn aufgetragenen Verkündigung, Botschaft, Lehre und Predigt des Wortes Gottes vollziehen.“ KD IV/2, 793. 376 „Sie [die im Namen Christi Versammelten, T. B.] sind sich diese Antwort aber auch gegenseitig schuldig: zur Bestätigung und Bestärkung, zur Tröstung, Zurechtweisung und Erneuerung der Erkenntnis, des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung der Einen durch die der Anderen, zur mutua consolatio fratrum.“ KD IV/2, 792f. 377 „Und so sagen wir zum Zweiten: die christliche Gemeinde ist Taufgemeinschaft. Will sagen: es ist die Taufe, von der sie, im Namen Jesu versammelt, in allen ihren Gliedern herkommt; in der von dorther ihr geschenkten und von ihr ergriffenen Freiheit feiert sie ihren Gottesdienst.“ KD IV/2, 795. Vgl. Barth, Gotteserkenntnis, 187f. 378 „Sie [die Gemeinde, T. B.] ist und bleibt dem zum Trotz [dass sie sich Gott gegenüber ins Unrecht setzt, T. B.] Abendmahlsgemeinschaft, Gemeinschaft im Mahl des Herrn: durch Ihn selbst mit Ihm, und weil mit Ihm, darum auch gliedschaftlich in sich verbunden, communio sanctorum als Gemeinschaft der gewissen Hoffnung auf das ewige Leben.“ KD IV/2, 797. Vgl. Barth, Gotteserkenntnis, 189ff. 379 „Wir haben einen Predigtgottesdienst ohne Sakrament […] Wir sahen, daß die Taufe und das Abendmahl sozusagen den natürlichen Raum des kirchlichen Gottesdienstes bilden. Dieser Raum ist aber in unserem protestantischen Gottesdienst in der Regel unsichtbar geworden. Wir wissen nicht einmal mehr, daß ein Gottesdienst ohne die Sakramente ein äußerlich unvollständiger Gottesdienst ist […] Würde die Predigt nicht ganz anders gehalten und gehört und würde nicht auch ganz anders gedankt werden in unseren Gottesdiensten, wenn das alles auch äußerlich sichtbar von der Taufe herkäme und dem Abendmahl entgegenginge?“ Barth, Gotteserkenntnis, 198f. 380 Barth, Gotteserkenntnis, 199.

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wiesen sind und alles von ihm zu erwarten haben. Hier ist der Ort für das Sündenbekenntnis, der einzige übrigens in Barths theologischen Ausführungen über den Gottesdienst.381 Das Gebet um Sündenvergebung hat nun bei Barth auch keinen fest zugewiesenen Platz im Ganzen des Gottesdienstes. Ohne ein nachfolgendes Absolutionswort ist es gut denkbar zu Beginn des Gottesdienstes, ohne dabei missverstanden zu werden. Hier könnte es, ähnlich dem Kyrie, das Angewiesensein des Menschen auf Gott ausdrücken. Ein Gnadenspruch würde auf die in Christus geschehene Versöhnung hinweisen. Doch auch an allen anderen Stellen des Gottesdienstes wäre es nur Beichtgebet ohne ausdrücklich zugesprochene Absolution. Wenn man Barths Abendmahlsverständnis ernst nimmt, dann dürfte ein Gebet um Sündenvergebung in diesem Zusammenhang nicht erscheinen. Denn das Anliegen des Abendmahls ist für ihn nicht Vergebung der Sünde, sondern Stiftung von Gemeinschaft (s. o. Anm. 359). Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass Vergebung im Versöhnungsgeschehen Christi ein zentrales Anliegen der Theologie Barths ist. Weil Vergebung aber vor allem als Ereignis und Verheißung gefasst ist, kann sie im Gottesdienst nur dankbar in das Bewusstsein gehoben bzw. immer wieder nur erbeten werden. Dadurch entschwindet für den einzelnen Christen das aktuelle Moment von Sündenvergebung. 1.4. Zusammenfassung So unterschiedlich die drei systematisch-theologischen Entwürfe hinsichtlich der Soteriologie und dem Reden von Sünde sind, so sehr gleichen sie sich doch in der Bedeutung, die sie dem Gegenstand beimessen. Auf unterschiedliche Weise gelingt es ihnen, in der Mitte des 20. Jh. die Problematik der Sünde und ihrer Vergebung neu zur Sprache zu bringen und damit das zentrale Thema reformatorischer Theologie zu bewahren. Ob man nun mit Althaus konstatiert, dass der Mensch unabhängig von seinem Sündenbewusstsein Sünder ist, oder mit Tillich davon ausgeht, dass 381 „Sie [die Gemeindeglieder, T. B.] wissen, daß sie nur Geschöpfe und nicht der Schöpfer sind. Sie wissen auch, daß sie Gottes sündige Geschöpfe sind, ihr Tun durch ihre eigene Verkehrung ein verkehrtes Tun. Sie wissen also, daß sie den Jammer der Welt nicht wenden und ihr eigenes Elend nicht beseitigen, die menschliche Situation nicht ändern, des Menschen Versöhnung mit Gott als deren wirkliche Veränderung nicht vollziehen, Gottes Namen die ihm zukommende Glorie nicht verschaffen, sein Reich des Friedens und des Heils nicht herbeiführen, seinen Willen nicht erfüllen können. Sie wissen von daher, daß sie sich auch ihr tägliches Brot nicht nehmen, ihre alten und neuen Schulden sich nicht erlassen, der Versuchung nicht widerstehen, den Bösen und das Böse nicht überwinden können und werden. Sie wissen, daß sie darum, daß das Alles geschehe, gerade nur beten können […]“ KD IV/2, 798.

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der Mensch in seiner Entfremdung sündliches Sein erfährt, oder mit Barth auf die in Christus vergebene Sünde blickt: immer wird deutlich, dass – entgegen manchen Behauptungen – auch im 21. Jh. Sünde und Sündenvergebung ganz aktuelle Themen für Theologie und Kirche sind. Darin, wie darüber zu sprechen und wie zu handeln ist, gehen die dogmatischen Entwürfe allerdings schon weit auseinander. Offenbar entspricht aber das vielgestaltige Reden von Sünde (s. u. 226ff) der Situation in unserer pluralistischen Gesellschaft. Es bietet darüber hinaus die Möglichkeit, verschiedene Zielgruppen so anzusprechen, dass die Rede von Sünde und Vergebung verstanden wird. Hinsichtlich der gottesdienstlichen Beichte tut sich eine noch größere Kluft zwischen den verschiedenen Ansätzen auf. Während Althaus den Ort für Beichte und Absolution durchaus im Gottesdienst sieht, trägt Tillich vor allem Bedenken gegen eine Sinnverkehrung des Sündenbekenntnisses (s. o. Anm. 237) und die Ritualisierung des Absolutionswortes (s. o. Anm. 243) in der gottesdienstlichen Beichte. Barth blendet die direkte Lossprechung in der Beichte völlig aus, hält aber das Gebet um Sündenvergebung im Gottesdienst, z. B. im Vaterunser, für unverzichtbar. Auch im Zusammenhang mit dem Abendmahl wird ein grundlegender Unterschied deutlich. Althaus hebt zwar den Gemeinschaftscharakter des Abendmahls hervor, spricht aber außerdem von der Zueignung von Sündenvergebung (s. o. Anm. 86). Für Tillich besteht kein Zweifel daran, dass auch im Abendmahl Neues Sein erfahren und Rechtfertigung angenommen wird. Dagegen ist das Abendmahl bei Barth Antwort auf das Versöhnungsgeschehen und kann nicht in Zusammenhang mit Sündenvergebung im Gottesdienst gebracht werden. Große Einmütigkeit herrscht nun allerdings im vorrangigen Nachdenken über „Sünde“ im Unterschied zu der moralischen Beschäftigung mit „den Sünden“. „Sünde“ ist in allen drei Entwürfen etwas Grundlegendes und Umfassendes. Sünde ist Widerspruch gegen Gottes Willen in seiner schöpfungsmäßigen Ordnung (Althaus), Zerreißung der essenziellen Einheit mit Gott (Tillich) oder Widerstand gegen Gottes Gnade (Barth). Durchgängig wird gefordert, nicht moralisch von Sünde zu reden und das Gewicht nicht auf die Einzelsünden zu legen, obwohl sich selbstverständlich „Sünde“ in „den Sünden“ konkretisiert. Alle drei Systematiker haben Vorbehalte gegenüber dem Begriff der „Erbsünde“, weil er das Missverständnis nahe legt, dass die Sünde über den Menschen kommt und nichts mit seiner Freiheit und Verantwortung zu tun hat. Sie sprechen lieber von „Person- bzw. Menschheitssünde“ (Althaus), von „Entfremdung“ (Tillich) und von „Ursünde“ (Barth). Sie alle betonen, dass der Mensch immer auch in Freiheit und Verantwortung der Sünde zustimmt und somit schuldig wird. Tillich sieht diesen Zusammenhang von persönlicher Freiheit und Schuld in dem problematischen Wort „Sünde“ trotzdem noch am besten aufgehoben (s. o. Anm. 174). 224

Damit sind nun noch keine liturgiepraktischen Schlussfolgerungen gezogen. Aber es sind schon z. T. unterschiedliche Linien vorgezeichnet, auf denen die Gestaltung der Beichte im Gottesdienst erfolgen könnte. Trotzdem gibt es grundlegende gemeinsame Einsichten: Das Sündenbekenntnis und die Verkündigung der Gnade Gottes sind zentrale Anliegen evangelischer Theologie. In jedem Sündenbekenntnis muss deutlich werden, was das Elementare von „Sünde“ ist. Erst dann kann auch über Einzelsünden gesprochen werden. „Sünde“ ist nicht nur ein von außen her über den Menschen hereinbrechendes Geschehen, sondern immer auch Schuld, die er selbst zu verantworten hat. Im Konkreten trennen sich aber die Wege, wenn man auf der einen Seite Barth, auf der anderen Seite Althaus und Tillich folgt. Barth blickt vom Versöhnungsgeschehen in Christus auf das Ereignis der Rechtfertigung zurück und schaut gleichzeitig auf deren Verheißung. Schließt man sich ihm konsequent an, dann kann nur lobend und dankend auf die Gnade Gottes geantwortet werden. Das schlichte Gebet um Sündenvergebung und die Erinnerung an Gottes Gnadenhandeln sind somit im Gottesdienst völlig ausreichend. Im Abendmahl stärkt Jesus Christus die Gemeinschaft zwischen sich und der Gemeinde sowie die Gemeinschaft unter den Gemeindegliedern. Mit Zueignung von Sündenvergebung hat das nichts zu tun. An dieser Stelle zeigt sich ein gravierender Unterschied zwischen reformierter und lutherischer Theologie. Folgt man dagegen Althaus und Tillich, so wird diese Sichtweise dem Anliegen nicht gerecht. Der Mensch lebt sein neues Leben in Christus nur bruchstückhaft, er erfährt als Wiedergeborener das Neue Sein nur fragmentarisch. Deshalb muss er auch immer wieder die Vergebung Gottes, die „Annahme des Unannehmbaren“ verkündigt und wirksam zugesprochen bekommen. Für Althaus geschieht das u. a. in den traditionellen Formen von Absolution (s. o. Anm. 84) und Abendmahl (s. o. Anm. 86). Tillich ist in dieser Sache viel vorsichtiger, weil er in der Ritualisierung zugeeigneter Vergebung große Gefahren sieht. Dennoch hält er es auch für möglich, dass in den gottesdienstlichen Handlungen von Absolution und Abendmahl (s. o. Anm. 242) Anteil an der Wirklichkeit des Neuen Seins erfahren wird. Allerdings kann es darauf nicht beschränkt werden. Tillich sieht ganz deutlich, wie notwendig die seelsorgerliche Zuwendung gegenüber dem Einzelnen ist, der sich schuldig fühlt und Vergebung sucht (s. o. Anm. 234). Er ist besonders sensibel für die Begrifflichkeit, in der über Sünde und Vergebung gesprochen wird, und fordert, traditionelle Begriffe neu zu interpretieren und dadurch aus Missverständnissen herauszulösen (s. o. Anm. 175).

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2. Die Problematik plausiblen Redens von Sünde Wie soll man in unserer Zeit von Sünde reden, wenn nicht einmal alle Christen anerkennen, dass Sünde eine Realität in ihrem Leben ist und wenn die Erlösung vom sündigen Wesen nicht mehr zu ihrem Glauben gehört? Denn gerade dieses Stimmungsbild erheben immer wieder religions- oder kirchensoziologische Untersuchungen. In einer Umfrage von 1992 in Deutschland geben immerhin 31% aus der Gruppe der „Gottgläubigen“ an, dass wir Menschen Erlösung vom sündigen Wesen brauchen.382 In der gleichen Gruppe werden aber Erlösung von Unfriede und Hunger in der Welt mit 48%, Erlösung vom Machtstreben und von menschlicher Unzulänglichkeit (je 39%) sowie Erlösung von unheilbaren Krankheiten (34%) als wichtiger bewertet. Von allen Befragten akzeptieren nur 16% die Glaubensaussage von der Sündenvergebung.383 „[…] da scheint eine ganze Dimension der Erlösungslehre wegzubrechen“, ist das Fazit der Auswertenden.384 Die Analyse einer europäischen Umfrage von 1990 ergibt europaweit etwa 50% Zustimmung zu der Glaubensaussage von der Sünde.385 Regionale und gesellschaftliche Faktoren spielen dabei offensichtlich eine bedeutende Rolle. Trotzdem überrascht es immer wieder, dass ein kleiner Teil aus den Gruppen der Unentschiedenen oder der Atheisten den christlichen Aussagen von Sünde und Sündenvergebung zustimmen kann (s. o. 12, Anm. 4).386 Es muss deshalb sehr differenziert und vorsichtig von „abnehmendem Sündenbewusstsein“ gesprochen werden. An dieser Stelle ist noch einmal an die Auffassung zu erinnern, dass der Mensch der Gegenwart sich nicht so sehr als Sünder empfinde und einen gnädigen Gott suche, sondern dass er vor allem sein Leben als sinnvoll erfahren will (s. o. 11, Anm. 2, Anm. 221). Oberflächlich betrachtet haben das Streben nach Sinnerfahrung und das mangelnde Interesse an 382 Dieser Anteil wird als hoch bewertet, denn im Durchschnitt aller Befragten beträgt die Zustimmung nur 14%. Vgl. Jörns, Klaus-Peter: Die neuen Gesichter Gottes: Was die Menschen heute wirklich glauben. München 1997, 177f. Nur 4,7% der Befragten, allesamt „gottgläubig“, sprechen sich dafür aus, dass Gott zur Erlösung vom sündigen Wesen nötig ist. Vgl. Jörns, Gesichter, 180. 383 Dagegen können 21% dem Satz zustimmen, dass Gott heilig ist. Vgl. Jörns, Gesichter, 211. 384 Jörns, Gesichter, 207. „Nach der Ansicht der meisten Befragten müssen Gott und Menschen nicht (mehr) miteinander versöhnt werden. Sie gehen vielmehr davon aus, daß Gott auf ihrer Seite ist und ihnen dazu hilft, den sie bedrängenden Lebensproblemen, vor allem den Erfahrungen von Sinnlosigkeit und Gewalt, standhalten zu können.“ Jörns, Gesichter, 222. 385 Für Nordamerika wird eine Zustimmung von über 80% festgestellt. Vgl. Zulehner, Paul Michael/Denz, Hermann: Wie Europa lebt und glaubt: Europäische Wertestudie. Düsseldorf 1993, 31. 386 Vgl. Jörns, Gesichter, 177.

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Sündenvergebung wenig miteinander zu tun. Und doch besteht zwischen ihnen ein Zusammenhang. Zulehner, der Schuld und Sünde im Zusammenhang mit der Identitätsbildung untersucht, stellt fest, dass bestimmte Menschen in ihrem Leben kaum Sinnerfüllung finden.387 Er denkt dabei an Menschen aus gestörten Familien oder an solche, die in Lebenskrisen nicht auf Institutionen zurückgreifen können oder wollen, die ihnen bei der Krisenbewältigung helfen.388 Aber auch eine allgemeine Sinnentleerung des Lebens ist bei vielen Menschen feststellbar. Empirische Untersuchungen ergeben, dass vor allem Menschen ohne religiöse Bindung und mit einem stark ausgeprägten Individualismus die Erfahrung von Sinnlosigkeit in ihrem Leben machen.389 „Je weiter die Lebenswelt eines Menschen ist (und Mitmenschen ebenso wie Gott umfaßt), desto größer ist die Aussicht auf Sinnerfahrung; je enger sie ist, desto wahrscheinlicher wird Sinnlosigkeitserfahrung.“390 Menschen wollen also einerseits ihr Leben als sinnvoll erfahren. Andererseits lehnen sie das Lebenswissen der christlichen Gemeinde ab, das sich auf Jesus Christus und das Wort Gottes gründet.391 Diese schuldhafte Ablehnung ist aus theologischer Sicht

387 „Sosehr nun in vielen Lebensgeschichten auf dem Weg der permanenten und damit stets vorläufigen Identitätsbildung ein einigermaßen sinnvolles und geglücktes Leben gelingt: Es ist nicht zu übersehen, dass eine wachsende Zahl von Menschen bei ihrer Suche nach tragendem und sinnvollem Lebenswissen scheitert.“ Zulehner, Paul Michael: Umkehr: Prinzip und Verwirklichung: Am Beispiel Beichte. Frankfurt/M. 1979, 59f. 388 „Wie sehr es in der heutigen Gesellschaft einerseits zu gestörter Identitätsgrundlegung in der Herkunftsfamilie und andererseits zu Identitätsverlust in Krisen kommt, belegen vielfältige Fluchtwege, die eine wachsende Zahl von Menschen aus der Realität des Lebens einschlagen. Dazu gehört die Flucht in die bunte und erlebnisdichte Alternativwelt von Alkohol und Droge, die von Protest gegen sinnarmen Lebensstil der Menschen mitbestimmte Eigentums- und Gewaltkriminalität, die Flucht in realitätsferne und zukunftslose politisch-religiöse Ideologien, das Anwachsen der schützenden und doch wieder zerstörenden (Sinn-) Neurosen und nicht zuletzt auch der Selbstmord.“ Zulehner, Umkehr, 61. 389 „Es ist interessant zu sehen, daß Sinnlosigkeitserfahrung (‚ich weiß eigentlich nicht, wozu der Mensch lebt‘) mit bestimmten Einstellungen bevorzugt gemeinsam auftritt: so mit Religionslosigkeit (kein Glaube an Gott, mit dem Tod ist alles aus), mit Individualismus, dem Streben nach Belohnung, aber auch mit niedrigem Einkommen und niedriger Schulbildung. Am stärksten sinnbedrohlich erweisen sich aber ‚Areligiosität‘ und ‚Individualismus‘.“Zulehner, Umkehr, 62f. 390 Zulehner, Umkehr, 64. 391 „Von zentraler Bedeutung sind die liturgischen Feiern, die unter anderem ein Vorgang der symbolischen Darstellung, Erinnerung, Einübung und Aktivierung kirchlich vermittelten Lebenswissens sind […] Die Kirche in all ihren institutionellen Wirklichkeiten, vor allem im konkreten Leben ihrer Mitglieder und Gemeinden, wird so zur ‚Plausibilitätsstruktur‘ kirchlichen Lebenswissens, zu einer sozialen Wirklichkeit also, in der ein bestimmtes Lebenswissen gelebt wird, was einerseits für die Mitglieder die Glaubwürdigkeit festigt, andererseits aber auch die Grundlage dafür darstellt, daß

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Sünde. Nach Zulehner begünstigt sie Sinnlosigkeitserfahrung. – Sünde und mangelnde Sinnerfahrung korrespondieren also auf jeden Fall miteinander. Bei repräsentativen Befragungen kommt es zweifellos darauf an, wie Fragen gestellt und wie sie verstanden werden. Unfriede, Hunger, Machtstreben sowie menschliche Unzulänglichkeit haben nach theologischem Verständnis durchaus etwas mit dem sündigen Wesen des Menschen zu tun. Doch die Befreiung davon wird von den Befragten kaum mit Gott in Verbindung gebracht (s. o. 226f). Andererseits stellen Trendforscher in den letzten Jahren fest, dass die Schuldfrage im Leben der Menschen wieder an Bedeutung gewinnt. „Schuld gehört abgeschafft! – so lautete das Credo seit den rebellischen sechziger Jahren. Heute wird nicht nur in Amerika längst wieder heftig über Kategorien wie Schuld und Scham debattiert. Die menschliche Psyche, wie individualisiert auch immer, hat offenbar enorme Schwierigkeiten, ohne ‚Schuldkategorie‘ auszukommen.“392 Nicht nur die Diskussion über die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und die Bedeutung einer nachhaltigen Lebensweise, über die neuen Möglichkeiten der Gentechnologie, sondern auch die wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme in der Zweidrittelwelt machen ein Reden von Schuld für viele Zeitgenossen wieder plausibel. Es wird einsichtig, dass menschliches Handeln – oft mit guten Intentionen – letztlich Ergebnisse hervorbringt, die so nicht beabsichtigt waren. Obwohl das Leben bereichert werden sollte, werden Leben oder Lebensräume zerstört. Die Verbesserung der Lebensqualität in einem Teil der Welt geht einher mit sinkender Lebensqualität in anderen Gebieten unserer Erde. Menschen tragen die Schuld daran, sie werden sich des begangenen Unrechts, ihrer Schuld, bewusst. Dabei entsteht zwangsläufig die Frage, ob menschliche Schuld immer mit Sünde gleichzusetzen ist und ob umgekehrt Sünde in jedem Fall Schuld bedeutet (s. u. 2.1.). Eine Schwierigkeit, heute von Sünde zu reden, liegt in der säkularen Umprägung und damit Verharmlosung des theologischen Sündenbegriffs. Wenn in der Gesellschaft überhaupt noch von „Sünde“ oder „Sünden“ die Rede ist, sagt man damit kaum etwas über die Beziehung eines Menschen zu Gott aus. Man spricht vielmehr mit einer leichten Ironie über Missachtung sexueller Normen, über Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, über die Nichteinhaltung von Diäten usw. Denn derartige „Verfehlungen“ gelten in unserer Gesellschaft meist als Kavaliersdelikte. dieses Lebenswissen in der Gesellschaft als glaubwürdig, weil gelebt, präsent erhalten und ausgebreitet wird.“ Zulehner, Umkehr, 67. 392 Dieser Bewusstseinswandel wird an der Ökologiedebatte demonstriert. Horx, Matthias: Trendbuch 2: Megatrends für die späten neunziger Jahre. München 31998, 116f.

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Diesem einseitigen, moralischen Verständnis von Sünde hat auch die jahrhundertelange intensive Beschäftigung von Kirche und Amtsträgern mit den Einzelsünden der Gläubigen Vorschub geleistet (s. u. 2.3.).393 Kirche und Theologie müssen akzeptieren, dass durch die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jh. das Reden von Sünde seine Plausibilität weithin verloren hat. Gunda Schneider-Flume spricht pointiert von der „weltlichen Nichtnotwendigkeit der Rede von Sünde“.394 Während in der hierarchisch differenzierten Gesellschaft Kirche und Staat gemeinsam für die Erhaltung der gesellschaftlichen Einheit mittels einer gesamtgesellschaflichen Moral sorgten, haben sich in der modernen Gesellschaft unserer Zeit mehrere eigenständige Funktionssysteme herausdifferenziert, denen ein so übergreifendes Element wie „Moral“ fehlt. Im Mittelalter und auch noch später hatte das Reden von Sünde Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. In unserer funktional differenzierten Gesellschaft dagegen gelten in jedem Teilsystem andere Orientierungsmaßstäbe für das Handeln. Mag es in der Religion noch um gut und böse, um Sünde und Vergebung gehen, so geht es in der Wirtschaft um Erwerb oder Verlust, im Rechtssystem um Recht oder Unrecht, in der Wissenschaft um Wahrheit oder Irrtum usw. Das Reden von Sünde hat nur noch in einem kleinen funktionalen Teilsystem der Gesellschaft Bedeutung.395 393 Dziewas gibt einen guten Überblick über die gesellschaftliche Situation theologischer Rede von der Sünde. Vgl. Dziewas, Sünde, 16ff. „Bei allen diesen alltagssprachlichen Verwendungen des Begriffs Sünde wird deutlich, daß er sich auf den Bereich von Verstößen gegen bestehende Normen oder eigene gute Vorsätze beschränkt. Die entscheidende Assoziation, die der Begriff Sünde im allgemeinen auslöst, ist also eine moralische: Eine Sünde ist etwas, das man nicht tun sollte, und ein Sünder ist jemand, der etwas getan hat, das er nicht hätte tun sollen. Jede theologische Rede von Sünde, ganz gleich, ob sie selbst ein moralisches oder ein nichtmoralisches Sündenverständnis vertritt, trifft in allen nichttheologischen Kommunikationssituationen auf dieses moralische Vorverständnis des Sündenbegriffs.“ Dziewas, Sünde, 18. 394 Schneider-Flume, Gunda: Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erich H. Eriksons. Göttingen 1985, 13ff. – Tübingen, Univ. , theol. HabSchr. 1983. „Positiv lautet die These von der weltlichen Nichtnotwendigkeit der Rede von der Sünde : Der Mensch kann sittlich verantwortlich leben, ohne von Sünde zu wissen, und der Mensch kann sittlich verantwortlich leben, Schuld erfahren, Schuld tragen, Schuld verleugnen, ohne von Sündenvergebung zu wissen.“ Schneider-Flume, Identität, 14f. 395 „Dabei kommt dem Reden von Sünde in der funktional differenzierten Gesellschaft keine zentrale Rolle zu. Es ist bloß eine unter vielen Möglichkeiten, den Menschen und die Welt zu sehen, und das Thema Sünde scheint im wesentlichen irrelevant für wirtschaftliche, rechtliche, politische, wissenschaftliche oder auf Bildung zielende Kommunikationen zu sein. Für die Zahlungsfähigkeit, die Strafbarkeit, Wählbarkeit eines Menschen oder die Verleihung eines akademischen Grades spielt es keine Rolle, ob der Betroffene ein Sünder ist oder nicht, sich als Sünder empfindet und dies bekennt, oder dies vehement abstreitet […] Die wechselseitige Unabhängigkeit der autopoietisch geschlossenen funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft bedingt, daß das religiöse Re-

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2.1. Sünde und Schuld Im theologischen Sprachgebrauch – und auch in dieser Arbeit – werden die Begriffe „Sünde“ und „Schuld“ häufig synonym verwendet. Sie sind sehr eng aufeinander bezogen und müssen doch voneinander geschieden werden. Obwohl die Kategorie „Schuld“ den meisten Zeitgenossen eher zugänglich ist als „Sünde“, wird der Schuldbegriff inhaltlich doch ganz unterschiedlich gefüllt und bedarf deshalb einer genaueren Erklärung.396 Ausgehend vom Bedeutungsgehalt des Wortes „Schuld“ wird damit zunächst eine Leistung bezeichnet, zu der man sich einem anderen gegenüber verpflichtet weiß. Davon abgeleitet ist „Schuld“ aber auch eine Bezeichnung für begangene Verfehlungen. „Schuld“ verweist schließlich auf das Eingeständnis der Verursachung von Unrecht.397 Der Begriff „Schuld“ lässt sich somit allgemein auf Verstöße gegen eine gesetzte Ordnung anwenden, er lässt über Wiedergutmachung nachdenken und macht den Verursacher haftbar. Dagegen drückt „Sünde“ immer eine Störung der Beziehung zu Gott aus, eine Verfehlung gegen seine Ordnung.398 Ein Mensch kann insofern manches als Schuld begreifen, ohne damit einsehen zu müssen, dass es gleichzeitig Sünde ist. Wie aber gezeigt worden war, betonen alle drei untersuchten dogmatischen Entwürfe den engen Zusammenhang zwischen innerweltlichen Beziehungen einerseits und der Beziehung zu Gott andererseits. Die Schuld gegenüber einem Mitmenschen ist gleichzeitig Sünde, wenn sie eine Verfehlung gegen Gottes Willen ist. Die Schuld an Umweltzerstörung und sinnlosem Leiden von den von Sünde in anderen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen nicht direkt anschlußfähig ist, da es mit dem Code Transzendenz/Immanenz arbeitet, während die anderen Funktionssysteme andere Codes benutzen.“ Dziewas, Sünde, 168. 396 Vgl. Sitzler-Osing, Dorothea: Art. „Schuld I. Religionsgeschichtlich“, TRE 30 (1999), 572–577; Beld, Antonie van den: Art. „Schuld II. Philosophisch-ethisch“, TRE 30 (1999), 577–586; Gestrich, Wiederkehr, 15f. 397 Vgl. Harsch, Helmut: Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie. Heidelberg 1965. (BPTh; 3), 17. 398 „Schuld und Sünde sind, wie wir gesehen haben, beides Verfehlungen gegen eine Ordnung, Schuld ist jedoch das Allgemeinere, Sünde das Speziellere, das nur in der Beziehung zu Gott gebraucht werden sollte.“ Harsch, Schuldproblem, 18. „So bezieht sich der Begriff Schuld mehr auf das, was als Schuld am Menschen (in seiner menschlichen geistig-leiblichen und damit auch sozialen Erfahrungsebene) nicht passiert (nämlich das Verfehlen seiner Lebensmöglichkeiten), während der Begriff von Sünde aussagen will, daß diese schuldhaft verfehlten Lebensmöglichkeiten dem Menschen von Gott her eröffnet gewesen wären.“ Zulehner, Umkehr, 73f. „Die Feststellung der theologischen Notwendigkeit der Rede von der Sünde unter Anerkennung der weltlichen Nichtnotwendigkeit der Rede von der Sünde geht davon aus, daß Sünde nicht identisch ist mit sittlicher Schuld und anthropologischer Entfremdung, obwohl sich Sünde in sittlicher Schuld und anthropologischer Entfremdung manifestieren kann.“ SchneiderFlume, Identität, 15f.

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Tieren ist Sünde. Sie richtet sich gegen Gottes Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung. „Schuld“ lässt sich also einsehen und eingestehen, aber erst in der Beziehung zu Gott wird sie als Sünde erkannt.399 Umgekehrt wird kaum verstanden, dass das, was traditionell als „Erbsünde“ bezeichnet wird, „Schuld“ sein soll. Aus diesem Grund plädieren Althaus, Tillich und Barth dafür, weniger missverständliche Begriffe wie „Menschheitssünde“, „Entfremdung“ oder „Ursünde“ für diesen Sachverhalt zu verwenden. Der Mensch ist vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, aber er ist kein fremdbestimmtes Wesen. Er ist in Schuldzusammenhänge verstrickt, aus denen er sich nicht ohne weiteres herauslösen kann. Doch in der Regel ist das auch nicht sein äußerstes Bestreben. Der Mensch erleidet sein Schuldigsein und vollzieht es doch gleichzeitig. Seine individuelle Schuld ist hineingenommen in die Gesamtschuld der Menschheit. Sünde ist also immer auch Schuld, ist Zustimmung des Menschen in freier Verantwortung.400 Gerade das, was als „soziale Sünde“ oder „strukturelle Sünde“ bezeichnet wird, könnte helfen, die Bedeutung der „Offenen Schuld“ oder der „Gemeinsamen Beichte“ im Gottesdienst für die Menschen unserer Zeit neu zu erschließen. Geht es dabei doch um Auswirkungen der Menschheits- oder Ursünde. Der einzelne Mensch ist für das Elend in der Zweidrittelwelt kaum haftbar zu machen. Aber es ist wohl unstrittig, dass wir Menschen in den reichen Ländern der Erde in Schuld verstrickt sind gegenüber den Menschen in Armutsregionen. Und wir machen uns das oft nicht einmal bewusst. An Beispielen aus diesem Bereich wird wie sonst kaum deutlich, dass Sünde und Schuld nicht so einfach durch den Menschen überwunden werden können. Wer z. B. preiswert Südfrüchte oder Kaffee kauft, unterstützt fraglos das System unmenschlicher Behandlung von Menschen. Wer fair gehandelte Produkte kauft, hilft nur einigen wenigen. Und wer meint, durch Einfuhrboykotte Gerechtigkeit erzwingen zu können, trifft damit wieder die Ärmsten. Sie verlieren ihre

399 Das Eingeständnis von Schuld ist dabei durchaus keine typische Erscheinung in unserer Gesellschaft. Deshalb ist die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche nicht zu unterschätzen, wenn sie an Schuld und Sünde erinnert und eigene Schuld bekennt. „Selbstrechtfertigung und Fremdanklage sind gängige Muster öffentlicher Kommunikation. Biologische (‚meine Gene‘), psychologische (‚meine Kindheit‘) und soziologische (‚meine Umwelt‘) Erklärungsmuster treten im Selbstverständnis an die Stelle persönlicher Besinnung. Das alles führt zu einer gesellschaftlichen Verleugnung von Schuld und rührt an die Substanz des Menschseins.“ Genest, Hartmut: Art. „Schuld III. Praktisch-theologisch“, TRE 30 (1999), 586. 400 „Auf diesem Hintergrund kann nun auch verdeutlicht werden, was Sünde und Schuld im Grunde sind. Wir sehen darin ein Vorbeileben des Menschen an jenen Lebensmöglichkeiten, die ihm von Gott her erkämpft sind und denen gegenüber er sich verantwortlich verweigert. Es ist das freie Verfehlen der von Gott her eröffneten wahren Identität.“ Zulehner, Umkehr, 72.

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Existenzgrundlage und es geht ihnen schlechter als zuvor. Ganz gleich was wir tun oder unterlassen, wir werden in jedem Fall schuldig. Diese Schuld betrifft große Menschengruppen und ist für den Einzelnen kaum greifbar. Sie scheint leicht entschuldbar zu sein, weil der einzelne Mensch die komplizierten Zusammenhänge nicht durchschauen kann. Und doch darf sie nicht einfach verschwiegen werden. Das Aussprechen dieser Schuld gehört in den seltensten Fällen in ein seelsorgerliches Beichtgespräch. Es gehört in ein gemeinschaftliches Ritual – in die gottesdienstliche Beichte. Um der Redlichkeit willen muss die gemeinsame Schuld vor allem dann benannt werden, wenn sich die christliche Gemeinde versammelt, um für Menschen in Armut und Elend zu beten. Von der Sache her rückt dann die gottesdienstliche Beichte in die Nähe des Fürbittengebets. 2.2. Die „strukturelle Sünde“ Im Zusammenhang mit globalen Auswirkungen der Sünde erhebt sich die Frage, ob es so etwas wie sündhafte Strukturen oder Organisationsformen der Gesellschaft gibt. Althaus hatte ja davon gesprochen, dass sich Sünde auch in weltlichen Strukturen verwirklicht, um daraus wieder neue Sünden entstehen zu lassen (s. o. 151). Die Antwort darauf ist nicht ganz einfach. Zunächst einmal muss mit der Bibel festgestellt werden, dass der Mensch Sünder ist. Andererseits vollzieht sich unser Leben in vorgegebenen Strukturen und steht unter enormen Sachzwängen, denen wir oft nicht ausweichen können. Möglicherweise erkennt ein Mensch, dass er in seiner Arbeit fortwährend zu sündlichem Handeln gezwungen wird, indem er indirekt Not und Elend in armen Ländern vergrößert. Er ist sich dessen bewusst und versucht gegenzusteuern. Würde er seine Arbeit aufgeben, könnte ein anderer an seiner Stelle noch viel mehr Schaden anrichten. Also bleibt er, fühlt sich machtlos und handelt weiterhin gegen sein Gewissen.401 Basierend auf der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann hat Ralf Dziewas Überlegungen dazu angestellt, wie ein sozialtheologisches Reden von Sünde heute möglich sei. Er übernimmt die These, dass unsere funktional ausdifferenzierte Gesellschaft aus verschiedenen geschlossenen Teilsystemen besteht. Jedes dieser Systeme hat eine autopoietische Organisationsform, d. h. durch Neubildung seiner Systemelemente schafft es sich immer wieder selbst neu und passt sich aus Gründen 401 In Großbritannien begegnete ich einem Banker, der die Freizeit an den Wochenenden weitgehend in den Dienst seiner Kirchgemeinde stellte. Meine Bewunderung für sein Engagement schwächte er mit der Bemerkung ab, er versuche nur ein wenig „Wiedergutmachung“ für das zu leisten, wozu er die Woche über weithin gezwungen sei.

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der Selbsterhaltung äußeren Veränderungen an. Dabei wird der Mensch nicht als Element des Systems verstanden, sondern als Teil seiner Umwelt. Systemelemente sind die Kommunikationen, die sich z. B. zwischen Menschen abspielen. Sie werden in einem sehr weiten Sinn gefasst.402 Jede abgeschlossene Kommunikation legt die Grundlage für eine weitere sich anschließende Kommunikation. Im Teilsystem der Wirtschaft wäre z. B. der Zahlungsverkehr eine wichtige Kommunikation – wer Geld erhalten hat, kann es auch wieder ausgeben.403 Dziewas kritisiert allerdings bei Luhmann, dass dieser den Menschen selbst als ein Konglomerat autopoietischer Systeme beschreibt, die nur scheinbar eine Einheit sind. Dziewas will dagegen den Menschen als eine Einheit verstehen, in der ein psychisches System und ein biologischer Organismus strukturell miteinander gekoppelt sind. Beide Systeme kommunizieren sehr eng und grenzen sich miteinander gegen ihre Umwelt ab.404 Die sozialen Systeme besitzen Strukturen, die sie im autopoietischen Prozess den Umweltveränderungen anpassen. Als besonders wichtig für den Kommunikationsprozess gelten dabei die Erwartungsstrukturen sozialer Systeme. Die aufgestellten Erwartungen dienen dem Fortbestand des Systems, sind also auf Erwartungserfüllung ausgerichtet. Wird im Kommunikationsverlauf aber eine Erwartungsenttäuschung registriert, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Entweder wird an der Erwartung festgehalten und es werden Maßnahmen gegen die Nichterfüllung ergriffen. Oder die bisherige Erwartung wird aufgegeben und eine neue formuliert. Dziewas stellt nun fest, dass es vor allem die Erwartungsstruk402 Jede Kommunikation besteht aus der Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen. Eine Information kann gegenständlicher, verbaler oder nonverbaler Art sein, z. B. auch eine Geldzahlung oder die bargeldlose Überweisung. Sie muss übermittelt werden. Erst wenn sie vom Empfänger aufgenommen wird, ist sie in irgend einem Sinn verstanden worden. Vgl. Dziewas, Sünde, 34f. 403 „Mit dem systemtheoretischen Konzept lassen sich soziale Systeme also als autopoietische Systeme beschreiben, die Kommunikationen als Elemente besitzen, diese aus Kommunikationen selbst erzeugen und die Einheit dieses Prozesses als Handlung bestimmen. Soziale Systeme sind damit organisationell autonome und geschlossene Systeme, die sich selbst kontrollieren, sich selbst erhalten und selbst gestalten. Dennoch sind soziale Systeme keine absolut geschlossenen Systeme. Sie sind nur organisationell geschlossene Einheiten, die ihre Offenheit für die Umwelt auf der Basis ihrer autopoietischen Organisationsform besitzen. Ihrer organisationellen Geschlossenheit steht ihre informationelle Offenheit gegenüber. Soziale Systeme sind offen für alles, was in ihrer Umwelt geschieht, soweit sie in der Lage sind, darüber zu kommunizieren. Sozialen Systemen ist ihre Umwelt nur als Gegenstand von Kommunikation zugänglich, aber auf dieser Basis können soziale Systeme auf Umweltveränderungen reagieren, den eigenen Reproduktionsprozeß daran ausrichten und sich damit an die bestehenden Umweltbedingungen anpassen – oder sie auch ignorieren – soweit dies durch Kommunikation möglich und mit der eigenen Autopoiesis vereinbar ist.“ Dziewas, Sünde, 137f. 404 Vgl. Dziewas, Sünde, 178ff.

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turen sind, die als sündhaft bezeichnet werden müssen.405 Im Teilsystem der Wirtschaft kommen weder dem Kommunikationsmedium Geld noch den Kommunikationen in Form von Geldzahlungen Sündhaftigkeit zu, sondern den Erwartungsstrukturen beispielsweise in Form von Gewinnmaximierung und wirtschaftlicher Expansion. Erstere sucht z. B. nach billigsten Produktionsmöglichkeiten unter Vernachlässigung ökologischer Standards, letztere nach neuen Absatzmärkten unter Vernachlässigung ethischer Bedenken. In jedem Sozialsystem lassen sich solche sündhaften Erwartungsstrukturen benennen.406 Interessant ist die Erklärung der Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen der Sünde des Menschen und der Sündhaftigkeit von sozialen Systemen. Dziewas legt seinen Betrachtungen die soteriologische Sündenlehre von Barth zu Grunde und fragt deshalb nach der Gnadengemäßheit des menschlichen Handelns bzw. der Funktion von Strukturen. Für ihn sind die Sündhaftigkeit sozialer Systeme und die Sünde der Menschen nicht einfach identisch. Trotzdem bedingen sie sich gegenseitig. Dabei gibt es keine einfache kausale Abhängigkeit, weder der Sündhaftigkeit der Strukturen von der Sünde der Menschen, noch der menschlichen Sünde von den sündhaften Strukturen. Vielmehr stehen verschiedene au405 „Nicht darin, daß es in der Wirtschaft um Geld und Zahlungen, und nur um Geld und Zahlungen geht, liegt die Sündhaftigkeit des Wirtschaftssystem[s], sondern in den Preisen, Unternehmenszielen und Zahlungserwartungen, die dazu führen, daß Schöpfung vernichtet wird oder Menschen in Armut und Elend leben und sterben. Nicht dem Kommunikationsmedium Geld, das der schnelleren Verteilung von Zahlungsfähigkeit dient, sondern den Erwartungsstrukturen, die zu Benachteiligungen im Zahlungskreislauf führen, muß die Verneinung gelten, die mit einem theologischen Reden von sozialer Sünde bezüglich wirtschaftlicher Zusammenhänge verbunden ist.“ Dziewas, Sünde, 173f. 406 „Ein Reden von der Sündhaftigkeit sozialer Zusammenhänge, das sich konkreten sozialen Erwartungsstrukturen zuwendet, sollte sich daher beim Wirtschaftssystem nach der Sündhaftigkeit von Preisen, Finanzierungsplänen, Ressourcenverbrauch, Arbeitslöhnen, Arbeitsbedingungen, Zinssätzen, Zahlungsmodalitäten, Schuldentilgungsplänen etc. fragen. Beim Rechtssystem sollte die Aufmerksamkeit eines sozialtheologischen Redens von Sünde sich hingegen besonders auf die jeweils geltenden und geplanten Gesetze, Verträge, Prozeßregeln, Entscheidungskompetenzen, Gerechtigkeitsvorstellungen sowie die normativen Alltagserwartungen und die geltenden Ordnungen aller Art konzentrieren, während beim Politiksystem Wahlverfahren, Machtverteilungen, Machtzuschreibungen, Positionen, Parteiprogramme, politische Zielsetzungen und Versprechungen auf ihre Übereinstimmung mit der Gnadenbotschaft hin überprüft werden müßten. Im Wissenschaftssystem sind Theorien, Methoden, Forschungsziele, Projektkonzeptionen, Welt- und Menschenbilder am Kriterium der Gnade Gottes zu messen, während im Bildungssystem Prüfungsanforderungen, Lehrpläne, Schulformen, didaktische Methoden, Bildungsziele und Bewertungssysteme auf diesen Prüfstand gehören. Ein sozialtheologisches Reden von Sünde wird auch und gerade vor dem Religionssystem nicht halt machen dürfen und hier nach der Gnadengemäßheit von Gottesvorstellungen, Menschenbildern, Kulthandlungen, Riten, Heilslehren und Endzeithoffnungen fragen müssen.“ Dziewas, Sünde, 175.

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topoietische Systeme miteinander in einem komplizierten Kommunikationszusammenhang, dessen Ergebnisse nie vorhersehbar sind.407 Dennoch kann festgestellt werden, dass die Strukturen sozialer Systeme von der Sünde der Menschen mit gestaltet werden, indem sie auf die menschliche Sünde reagieren.408 Der Sünder ignoriert beispielsweise in seiner Trägheit die Gnade Gottes, die allen Menschen gilt, und verharrt bei sich selbst, statt sich seinem Mitmenschen zuzuwenden. In seinem Egoismus strebt er danach, möglichst viele Dinge nur für sich zu besitzen. Das soziale System der Wirtschaft reagiert darauf und verkauft Waren zu Dumping-Preisen, die natürlich irgendwo sehr billig produziert werden müssen. Bieten sich solche preisgünstigen Produktionsmöglichkeiten an, fragt das Wirtschaftssystem nur selten danach, welche sozialen, ökologischen und kulturellen Auswirkungen die Produktion auf die Menschen im betreffenden Gebiet hat. Es entspricht der Logik dieses Systems, dass es zu Ungerechtigkeit und Ungleichgewicht führt. Erst wenn die unterprivilegierten Produzenten den Erwartungsstrukturen nicht mehr gerecht würden oder sich die Konsumenten auf einmal nicht mehr so verhielten, wie es erwartet worden war – z. B. indem sie auf übermäßigen Konsum verzichteten oder nur noch hochwertige Güter

407 „Wird die wechselseitige Abhängigkeit und Autonomie zwischen psychischen und sozialen Systemen für das theologische Reden von Sünde fruchtbar gemacht, so ist es weder möglich, das Wesen der Sünde der Menschen allein aus den sozialen Umständen herzuleiten, noch ist es möglich, die negativen Zustände in der Gesellschaft allein auf das sündige Bewußtsein der am sozialen Geschehen beteiligten Personen zurückzurechnen. Der erste Versuch kann zwar zu Recht darauf verweisen, daß sich das sündige Bewußtsein nur in Auseinandersetzung mit den vorhandenen gesellschaftlichen Erwartungen und Strukturen sozialisieren kann, übersieht aber, daß die gegebenen sozialen Systeme nur mit den Informationen arbeiten, die ihnen von seiten der Bewußtseinssysteme der Menschen zur Verfügung stehen. Der Versuch hingegen, die Sündhaftigkeit sozialer Systeme nur als Folge und Ergebnis der Sündhaftigkeit der einzelnen Menschen zu werten, unterschlägt die Einsicht, daß die psychischen Systeme nicht darüber verfügen, wie die sozialen Systeme sich entwickeln, welche Strukturen sie ausbilden und welche konkreten Kommunikations- und Handlungszusammenhänge dabei letztlich entstehen.“ Dziewas, Sünde, 193. 408 „Daß die Strukturen von Organisationen und die Struktur der Gesamtgesellschaft anders aussähen, könnte von Menschen nur ein der Gnade Gottes entsprechendes Verhalten erwartet werden, läßt sich an fast allen konkreten Organisationen und an vielen gesellschaftlichen Teilsystemen anschaulich machen. Das Vorhandensein von Armeen und Militärbündnissen, die ungerechte Verteilung von Zahlungsmöglichkeiten auf den internationalen Finanzmärkten, die Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaft, die Notwendigkeit von Rechtssystem und Ordnungsmacht, entfremdete Arbeitsverhältnisse und politische Verfolgung, sie alle sind Ergebnis eines weltweiten Kommunikationsprozesses, der seine Strukturen nicht zuletzt aus Erwartungen aufbaut, die die Menschen wegen ihrer Sünde immer wieder erfüllen und die sich im Laufe der Geschichte daher zu sehr stabilen Strukturen verfestigt haben.“ Dziewas, Sünde, 223.

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kauften – müssten sich die Erwartungsstrukturen des Wirtschaftssystems verändern.409 Umgekehrt wirken nun aber die Erwartungsstrukturen der sozialen Systeme zurück auf den Menschen. Er hat zwar die Freiheit, die an ihn gestellten Erwartungen nicht zu erfüllen, aber eingebunden in die gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozesse gestaltet sich das im Einzelfall sehr schwierig. Ein Manager wird wahrscheinlich gar nicht anders handeln können, als die effektivste Produktionsmöglichkeit auszusuchen, selbst wenn er ethische Bedenken hat. Er muss die Entscheidung gegenüber seinen Vorgesetzten verantworten und hat sich dabei an den im Unternehmen geltenden Erwartungsstrukturen zu orientieren – preisgünstigste Produktion bei maximalem Gewinn. Auch der Konsument in einem westlichen Land wird normalerweise den an ihn gestellten Erwartungen gerecht werden. Er wird sich über das preisgünstige Produkt freuen ohne dabei genau zu reflektieren, ob er es unbedingt benötigt und welche Auswirkungen sein Kaufverhalten auf die Menschen hat, die die Ware hergestellt haben. Diese Menschen schließlich werden froh sein, überhaupt ein geringes Einkommen erhalten zu haben, mit dem sie die Existenz ihrer Familie auf einem sehr niedrigen Niveau garantieren können. Die sündhaften Strukturen haben also wieder Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen. Sie verhindern, dass Menschen gemäß dem Willen Gottes handeln. Und sollten Menschen die Wirkungsmechanismen dieser Strukturen durchschauen, ist es für sie doch sehr schwer, anders zu handeln, als es beschrieben wurde.410 409 „Findet ein solches erwartungskonformes Verhalten nicht mehr oder nicht in ausreichendem Maße statt, legt dies dem sozialen System eine Änderung seiner Erwartungshaltung nahe, denn im Gegensatz zu Erwartungserfüllungen sind Erwartungsenttäuschungen mit einem wesentlich höheren Kommunikationsaufwand verbunden. Sie müssen erklärt, gerechtfertigt oder sanktioniert werden, was auf Dauer, zumindest wenn der erwünschte Erfolg erwartungsgerechten Verhaltens ausbleibt, das soziale System zu Umstrukturierungsmaßnahmen durch Erwartungsänderung bzw. –umadressierung veranlassen wird. Für die sozialen Systeme ist die Möglichkeit, Erwartungen auf das personengebundene, rollenspezifische, programmgemäße oder wertorientierte Verhalten von Menschen zu richten und sich durch diese Erwartungsbildungen selbst zu strukturieren, mit dem Risikofaktor Mensch verbunden. Sie können zwar dem Menschen durch ihre Erwartungsstrukturen ein bestimmtes Verhalten nahelegen, im Enttäuschungsfalle mit Sanktionen drohen oder erwartungsgerechtes Verhalten belohnen. Sie können jedoch über das Denken und Handeln der Menschen letztendlich nicht verfügen. Daher ist es für soziale Systeme nicht sinnvoll, irgendwelche Erwartungen an Menschen anzulegen, sondern solche, die im Normalfall auch erfüllt werden.“ Dziewas, Sünde, 217f. 410 „Die Sündhaftigkeit sozialer Systeme besteht somit darin, daß sie durch ihre Erwartungsstrukturen Menschen zur Sünde drängen oder verführen, indem sie ihnen ein Verhalten, ein Denken und Handeln nahelegen, mit dem die Gnade Gottes abgelehnt, ignoriert oder zur Lüge umgedeutet wird […] Da die Sünde den Menschen in der fremden, sich autonom vom Menschen entwickelnden Gestalt sozialer Strukturen entgegentritt, empfinden diese sich als schicksalhaft gebundene, negativen Zwängen und Verfüh-

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Die Gewöhnung an bekannte Erwartungsstrukturen lässt nun auch Christen, die von der Gnade Gottes her leben wollen, ihren eigenen Beitrag zum Entstehen und Fortbestand sündhafter Strukturen nicht mehr erkennen.411 In den jeweiligen sozialen Systemen wird nicht von Sünde gesprochen. Und in kirchlichen Zusammenhängen, in denen es um Sünde und Sündenvergebung geht, wird fast ausschließlich auf leicht einsehbare Sündentaten im menschlichen Umfeld fokussiert. Wenn aber das Vertrauen auf die Gnade Gottes tatsächlich mit der Möglichkeit der Umkehr rechnet, muss das sozialtheologische Reden von Sünde eine größere Rolle sowohl in der Gesellschaft als auch in der christlichen Gemeinde spielen. Dann sollte es zugleich in der Feier des Gottesdienstes seinen angemessenen Ort haben. Die Notwendigkeit der Buße und die Möglichkeit von Veränderungen sieht auch Dziewas. Er schreibt der sozialtheologischen Rede von der Sündhaftigkeit sozialer Systeme eine kritische Funktion innerhalb der Gesellschaft zu und stellt in Rechnung, dass dies die bestehenden Verhältnisse ändern kann.412 Der Mensch ist nicht schicksalhaft nur der Sünde rungen ausgesetzte und letztlich als unverantwortliche und schuldlose Opfer sozialer Systeme, anstatt den eigenen Anteil am Zustandekommen der Sündhaftigkeit dieser Systeme wahrzunehmen. Die Sündhaftigkeit sozialer Systeme trägt somit neben der Förderung der Sünde auch zur Verfestigung der Verblendung der Menschen angesichts ihrer eigenen Sünde bei.“ Dziewas, Sünde, 133f. 411 „Die Sündhaftigkeit sozialer Systeme drängt und verführt die Menschen aber nicht nur zu immer erneutem Sündigen, sondern sie verstellt dem Menschen als Sünder auch noch den Blick auf die eigene Sünde. Indem sie ein sündhaftes Verhalten durch ihre Erwartungsstrukturen dem Menschen als normales, erwartbares Verhalten nahelegen, tragen soziale Systeme dazu bei, daß Menschen ihr Verhalten oftmals selbst dann nicht als sündhaftes Verhalten erkennen, wenn sie versuchen, ihr Leben als Antwort auf die Gnade Gottes zu gestalten. Im Rahmen sozialer Erwartungszusammenhänge kann sündhaftes Verhalten zur Alltäglichkeit, zur Normalität, zur Routine werden, das als Sünde nicht mehr in den Blick kommt, oder das, wo seine negativen Folgen sichtbar werden, allein als Ergebnis sozialer Strukturen erscheint und nicht als Folge menschlicher Sünde.“ Dziewas, Sünde, 234. 412 „Die Liste der möglichen sündhaften sozialen Erwartungsstrukturen ist ebenso lang wie die Möglichkeiten unterschiedlicher Kommunikationsprozesse in der modernen Gesellschaft. Ein kon[k]retes Reden von der Sündhaftigkeit sozialer Zusammenhänge wird daher eine Analyse der jeweiligen sozialen Situation voraussetzen müssen. Es sollte schließlich konkrete Erwartungsstrukturen benennen und deren Sündhaftigkeit aufgrund theologischer Reflexion überzeugend begründen können, um in den betroffenen Systemen zu einer Veränderung der als sündhaft identifizierten Erwartungsstrukturen beitragen zu können. Das sozialtheologische Reden von der Sündhaftigkeit sozialer Systeme erfüllt somit gegenüber den anderen Teilsystemen der Gesellschaft eine kritische Funktion, da es die bestehenden Kommunikationsstrukturen aus der Sicht der Transzendenz als nicht akzeptabel kritisiert. Es kann, wenn sein Reden konkret genug ist, den Systemen aber auch als Anlaß und Unterstützung dabei dienen, nach anderen Programmen zu suchen, indem es deutlich macht, daß aus der Sicht der Transzendenz eine Überwindung der bestehenden Situation unausweichlich und möglich ist.“ Dziewas, Sünde, 175f.

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und sündhaften Strukturen ausgeliefert. Er ist gleichzeitig zur Umkehr aufgerufen. Er kann aus der Gnade Gottes, aus der Vergebung der Sünde leben und in Freiheit Gesellschaft und soziale Systeme mit gestalten.413 2.3. Die „Sünde“ und die „Sünden“ Während im Alten Testament häufig ganz konkrete Verfehlungen des Volkes oder einzelner Menschen im Blick sind, wird im Neuen Testament stärker auf das grundlegende Wesen der Sünde verwiesen, nämlich die Abkehr von Gott und damit die Störung der Gottesbeziehung.414 Von Anfang an besteht die Schwierigkeit darin, im Sündenbekenntnis die elementare Sünde deutlich erkennbar zu machen und zu benennen. Sie bleibt oft Gegenstand der Reflexion, denn am ehesten lässt sich die Abkehr des Menschen von Gott in den einzelnen Sünden wahrnehmen.415 Es muss deshalb nicht verwundern, dass in Sündenbekenntnissen das Augenmerk immer wieder auf „die Sünden“ gerichtet wird. Daraus ergibt sich zweifellos die Gefahr, moralisierend von Sünde zu reden und den Eindruck zu erwecken, als ließe sich die Sünde von Seiten des Menschen durch Vermeidung der Einzelsünden überwinden.416 413 „Die Erfahrung, daß man einerseits abhängig von sozialen Vorgaben ist und in vielfältige, unkontrollierbare und unberechenbare soziale Zusammenhänge verstrickt ist, steht neben dem Wissen darum, daß das eigene Denken und Verhalten zu Veränderungen in den sozialen Systemen führen kann, in denen man lebt. Dieser Gleichzeitigkeit von wechselseitiger Abhängigkeit und Autonomie von Mensch und sozialen Systemen muß auch ein sozialtheologisches Reden von Sünde Rechnung tragen.“ Dziewas, Sünde, 194. 414 Vgl. Vriezen, Theodorus Christiaan: Art. „Sünde und Schuld II. Im AT“, RGG3 6 (1962), 479f.; Stendahl, Krister: Art. „Sünde und Schuld IV. Im NT“, RGG3 6 (1962), 484ff.; Knierim, Rolf P.: Art. „Sünde II. Altes Testament“, TRE 32 (2001), 365ff; Karrer, Martin: Art. „Sünde IV. Neues Testament“, TRE 32 (2001), 378ff. 415 Gestrich beschreitet einen anderen Weg, indem er versucht, die atmosphärische Auswirkung der Sünde einzufangen. Er geht dabei vom biblischen Begriff der Herrlichkeit, des Glanzes aus. „In einer noch sehr allgemeinen Weise kann bereits an dieser Stelle von der Sünde gesagt werden, daß sie irgendwie den Menschen und ihren Verhältnissen ‚das Wohlgefallen‘ entzieht. Unter der Sünde, der Trennung von Gott, schwindet ihr Glanz. Alles wird nichtswürdig – selbst dort, wo es noch intelligent und geordnet zugeht. Angst und Hoffnungslosigkeit ziehen ein, weil die Zukunft sich verschließt.“ Gestrich, Wiederkehr, 17. 416 „Vor uns steht zunächst noch immer die schon von vielen im 20. Jahrhundert in Angriff genommene Aufgabe, die Sündenlehre aus einer moralisierenden Engführung zu befreien, die bei uns tief eingefahren ist. Sünde ist nicht gleichzusetzen mit moralischem Fehlverhalten, das sich durch Erziehung und geeignete Lernprozesse abändern ließe. Welcher gute Pädagoge hielte sonst mit Blick auf die Sünde das Angebot einer gnädigen Vergebung für hilfreich?“ Gestrich, Wiederkehr, 13. „Tatsächlich stand und steht die Theologie immer in Gefahr, Sünde moralisch-gesetzlich mißzuverstehen und die theologische Notwendigkeit der Rede von Sünde durch die moralische oder legalistische Notwendigkeit der Rede von Sünde zu ersetzen.“ Schneider-Flume, Identität, 18.

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Die schwierige Aufgabe bei der Rede von „Sünde“ besteht also darin, zuerst das Elementare der Sünde zur Sprache zu bringen – die Trennung von Gott und die Verfehlung eines Lebens in enger Beziehung zu Gott. Danach kann die Auswirkung der „Sünde“ in Einzelsünden konkret gemacht werden – in Beziehung zum Mitmenschen und zur Natur. Besonders bei der Formulierung von Beichtgebeten wird dies immer eine schwierige Gratwanderung bleiben. Einem zu allgemein gehaltenen Sündenbekenntnis kann der Einzelne oft ebenso schwer zustimmen wie einem Beichtgebet mit allzu konkret gemachten Sünden. Für beide Fälle sind zahlreiche Beispiele sowohl aus vor- als auch aus nachreformatorischer Zeit überliefert.417

3. Stärken und Schwächen liturgischer Texte und Ordnungen Es ist nicht allein damit getan, dass ein Gottesdienst Sündenbekenntnis und Absolution enthält. Ungeeignete Texte können ein völlig falsches Bild davon entstehen lassen, was Sünde und Vergebung wirklich bedeuten, oder sie stehen in der Gefahr, gegen jede theologische Erkenntnis dem Zeitgeist zu huldigen. Ebenso ist es nicht gleichgültig, in welchem Zusammenhang die Gemeinde im Gottesdienst zum Bekennen von Schuld und Sünde aufgefordert und wie sie dazu hingeführt wird. 3.1. Liturgische Texte Neben der begrenzten Auswahl von Sündenbekenntnissen und Absolutionen im EGb und seinem Ergänzungsband sowie in den Ausgaben des EG finden sich zahlreiche Texte in verschiedenen Veröffentlichungen. Besonders in den 1960er und 1970er Jahren wurden im Bemühen um eine Reform des Gottesdienstes eine ganze Reihe von Gebeten verfasst, von denen viele den Charakter von Sündenbekenntnissen haben sollen. Damit ist schon eine Schwäche von Texten dieser Art angedeutet. Sie fungieren oft als Eingangsgebete und sprechen in gewisser Weise Versagen und Not des Menschen an, ohne seine Schuld zu benennen oder ausdrücklich Gott um Vergebung zu bitten.418 Die Anliegen dieser Ge417 Sehr allgemein formulierte Sündenbekenntnisse finden sich z. B. im Anhang in den Nummern 1–4; 12; 14; 15; 17; 20; 21; 23; 25; 26; 29; 30–35. Trotzdem verweisen auch sie regelmäßig auf „die Sünden“ des Individuums. Dagegen werden viele Einzelsünden konkret genannt in den Nummern 5–8; 10; 11; 13; 19; 22; 24. Ein extremes Beispiel ist darunter Nr. 6, wo u. a. Blutschande, Mord, Raub und Brand aufgezählt werden. Auch in anderen Beichttexten fehlt es nicht an Übertreibungen, z. B. Nr. 19 und Nr. 38. 418 Mit diesen Texten setzt sich Nüchtern auseinander. Er stellt heraus, dass die Schilderungen von Negativerfahrungen noch kein Beichtgebet sind, weil sie nicht über die

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bete bleiben unklar. Es wird um Gottes Nähe gebeten, um neue Kraft, um Neubesinnung. Dementsprechend schließen sich keine Gnadenzusagen oder Absolutionen an. Sehr verwunderlich ist es aber, wenn solche Texte mit der Überschrift „Schuldbekenntnis“ versehen sind. Schon aus Gründen der Schlüssigkeit sollten in einem Schuld- oder Sündenbekenntnis Sünde und menschliche Schuld zur Sprache gebracht werden. Daran müsste sich in irgend einer Form die Verkündigung der Vergebung Gottes anschließen. Viel schwieriger ist es nun, angemessen und verständlich „die Sünde“ zu beschreiben und zu bekennen. Damit ihr elementares Wesen sichtbar wird, sollten nicht gleich sehr spezielle Konkretionen genannt werden. Das Sündenbekenntnis muss dazu in seinen Formulierungen eine große Weite haben. Ist das Bekenntnis zu offen formuliert, regt es aber möglicherweise die Betenden nicht dazu an, es für sich selbst konkret werden zu lassen. Als Nachteil stellt sich auch dar, wenn theologische Begriffe verwendet werden, die jeder Betende für sich auf ganz unterschiedliche, eventuell auch verkehrte Weise füllen kann.419 Gut ist es, wenn zunächst die Sünde als Tendenz beschrieben wird, die ständig von Gott wegführt, als schicksalhaftes Geschehnis, dem der Mensch doch immer wieder zustimmt. Vielleicht müssen dann gar keine spezielle „Sünden“ mehr aufgezählt werden. In einer Zeit der Stille kann jeder, der das möchte, „Sünde“ für sich selbst konkretisieren und Gott um Vergebung dafür bitten. Folgt dann doch eine Nennung von Einzelsünden, sollte das sehr maßvoll geschehen und deutlich machen, dass es sich um Beispiele handelt, die austauschbar sind. Aus der Geschichte ist uns zwar bekannt, mit welcher Krassheit Einzelsünden aufgezählt wurden. In unserer Zeit empfinden wir solche Übertreibungen aber als sehr merkwürdig. Sie wirken abstoßend auf das Gemeindeglied, dass sich nun wirklich nicht in diesen Konkretionen wiederfindet und sich deshalb einer derartigen Beichte verweigert.420 gestörte Beziehung zu Gott sprechen. Der Aufsatz von Nüchtern ist in vieler Hinsicht ein Gewinn für alle, die selbst Beichtgebete zu verfassen haben. Er macht u. a. darauf aufmerksam, wie schwierig es ist, von der Erfahrbarkeit der Sünde zu sprechen. Vgl. Nüchtern, Sündenerfahrung, 134ff. Neben den von Nüchtern genannten Negativbeispielen gehören auch folgende Texte zu dieser Kategorie: Gottesdienst ’75: Liturgische Texte und Entwürfe, Meditationen und Reden/hg. von Horst Nitschke. Gütersloh 1975, 24–26; Gottesdienst ’76: Liturgische Texte und Entwürfe, Meditationen und Reden/ hg. von Horst Nitschke. Gütersloh 1976, 19; Gottesdienst ’77: Liturgische Texte und Entwürfe, Meditationen und Reden/hg. von Horst Nitschke. Gütersloh 1977, 31f. 419 „[…] ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken […]“, ist eine Formulierung, die einerseits sehr offen ist, es andererseits aber nahelegt, zuerst an einzelne Tatsünden zu denken (schlechte Gedanken, böse Worte, schändliche Werke). EGb, 544; EG 799. 420 Ein Beispiel dafür finden wir in einem Gebet aus Gottesdienst ’75, s. Anh. Nr. 38.

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Fragwürdig ist die Fassung der meisten Beichtgebete in der 1. Person Singular. Obwohl es um das gemeinsame Beichten im Gottesdienst geht, ist damit der einzelne Sünder wieder allein vor Gott gestellt. Dabei wird eine alte Tradition unkritisch fortgeführt und die Bedeutung eines gemeinschaftlichen Aussprechens von Sünde vor Gott nicht erkannt. Aus diesem Grund sollte zumindest das gemeinsame Sprechen von Sündenbekenntnissen selbstverständlich sein und dem stellvertretenden Sprechen von Liturg oder Liturgin vorgezogen werden.421 Die meisten Ausgaben des EG enthalten wenigstens einen Text für das Confiteor,422 vier Texte für Beichtgebete in der 1. Person Singular423 und das bekannte Gebet aus Coventry, das im Plural formuliert ist.424 Den hier erarbeiteten Kriterien kommt das dritte Sündenbekenntnis im EG425 am nächsten. Es ist zwar das Bekenntnis eines Einzelnen, aber im ersten Abschnitt wird verdeutlicht, was „Sünde“ grundlegend bedeuten kann – das Vergessen Gottes, das Sich-Entfernen von seinem Anspruch. In einem zweiten Abschnitt werden Beispiele für konkretes Versagen gegeben, die wohl auf die meisten Menschen zutreffen und deshalb gut nachvollziehbar sind – Täuschung anderer, üble Nachrede und Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer Menschen. Abgeschlossen wird das Gebet mit der Bitte um Erneuerung und Mut zur Umkehr. Auf ähnliche Weise ist ein Bußgebet des EGb im Plural gestaltet.426 Der erste Teil beschreibt die Schwierigkeiten, Gott nahe zu bleiben und Jesus Christus nachzufolgen. Auf die allgemeine Vergebungsbitte folgen noch einmal konkrete Bitten um Vergebung für persönliche Schuld. Ganz massiv benennt ein anderes Gebet – ebenfalls mit Formulierungen im Plural – zunächst die Schuldverstrickung des Einzelnen in „Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Krieg“427. Dann werden aber zwischen einzelnen, kurzen Schuldbekenntnissen Zeiten der Stille gelassen, die es ermöglichen müssten, dieses Bekenntnis innerlich mit zu vollziehen. Das kann von manchen anderen Bußgebeten nicht behauptet werden.428 Weder 421 Bedauerlich ist die Inkongruenz von EGb und EG an vielen Stellen. Das Sündenbekenntnis, das sich im EG im Singular findet (Nr. 800), ist im EGb in den Plural gesetzt. Vgl. EGb, 545. 422 Vgl. EG 786.2; EG(BD) 786.2; EG(BTh), 1256. 423 Vgl. EG 799–802; EG(BD), 801–804. Im Einzelnen sind das die sächsische Offene Schuld in einer leicht abweichenden Textfassung (vgl. EG 799; EG(BD) 801; EG(BTh), 707.2), ein Beichtgebet, das gleich sehr konkret wird (vgl. EG 800; EG(BD) 802; EG(BTh), 707.3), ein Sündenbekenntnis, das ausgehend von elementarem Reden über Sünde Versagen gegenüber dem Nächsten benennt (EG 801; EG(BD) 803) und ein sehr kurzes Gebet, das Zeit für stilles Beten und Bekennen lässt (EG 802; EG(BD) 804). 424 Vgl. EG 828; EG(BD) 810.4. 425 Vgl. EG 801; EG(BD) 803. 426 Vgl. EGb, 495. 427 Vgl. EGb, 496. 428 Vgl. EGb, 494f.

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Verstand noch Herz können dem Buß- und Gnadengeschehen in dieser Kürze folgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Gebete ritualisiert werden und verflachen. Die Anfügung von „Gnadenworten“ geht von dem richtigen Empfinden aus, dass ein Bekenntnis der Sünde nicht einfach unbeantwortet im gottesdienstlichen Rahmen stehen bleiben kann.429 Sehr oft werden dafür Bibelworte ausgewählt, die die Gnade Gottes verkündigen. Aber trotz ihrer Unanfechtbarkeit liegt in ihrem regelmäßigen Gebrauch die Schwäche der Gnadenworte. Diese Bibelworte sind ja den meisten bekannt und ihre Verlesung geht nicht unbedingt mit neuer Vergewisserung einher. Andererseits wäre gerade nach dem Confiteor zu Beginn des Gottesdienstes eine ausdrückliche Lossprechung zu massiv. Unter anderem aus diesem Grund hat sich der Bußcharakter der Vorbereitungsgebete immer weiter abgeschwächt (s. u. 3.2.). Es ist festzuhalten, dass das direkt zugesprochene Absolutionswort in ganz anderer Weise die Gewissheit vermitteln kann, dass Sünde und Schuld wirklich vergeben sind und ein Neuanfang möglich ist. Wenn dieses Wort schon nicht in der Einzelbeichte gesucht wird, warum sollte es dann im Gottesdienst zurückgehalten werden? Während in der gemeinschaftlichen Beichte das Sündenbekenntnis im Plural stehen kann, liegt die Stärke der allgemeinen Absolution dennoch in der persönlichen, singularen Zueignung. Das EGb bietet für die Absolution zwei verschiedene Texte an. Sie sollen sich nur der Gemeinsamen Beichte in der Vorbereitung auf das Abendmahl anschließen.430 Aber selbst wenn es dafür historische Begründungen gibt – die Gemeinsame Beichte ist aus der Einzelbeichte hervorgegangen – muss gefragt werden, ob nicht in erster Linie seelsorgerliche Gründe den Ausschlag für oder gegen eine ausdrückliche Lossprechung geben sollten. Wenn einem Liturgen oder einer Liturgin bekannt ist, dass Gemeindeglieder nach einer Absolution verlangen, dann sollte sie auch nach der Offenen Schuld gesprochen werden können. In der Sächsischen Landeskirche folgt der Offenen Schuld generell eine ausdrückliche Lossprechung.431 Beide Absolutionsformeln des EGb verkündigen im Indikativ die Vergebung der Sünden. Sie berufen sich dabei auf die Vollmacht, die Christus seinen Jüngern gegeben hat. Nur der erste Text betont, dass die 429 Im EGb bleibt das Gnadenwort zumindest nach der Offenen Schuld ein fakultatives Stück. „Dem Schuldbekenntnis können sich eine besondere, möglichst gemeinsam gesprochene Vergebungsbitte und ein biblisches Gnadenwort anschließen.“ EGb, 543. 430 Vgl. EGb, 543f. 431 Vgl. ABl(Sa) 18 (1999), A 183. Sehr merkwürdig ist in dieser Ausführungsverordnung der Hinweis, dass Nichtordinierte die zweite Form der Absolution verwenden sollen. Sie begründet nur noch einmal biblisch das Amt der Schlüssel, spricht aber in gleicher Weise indikativisch die Vergebung zu wie die erste Form.

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Vergebung Gottes an Reue und Glauben des Sünders gebunden sind.432 Auf Retentionsformeln, wie sie noch in der Agende von 1957 zu finden sind,433 wird verzichtet. Mit ihnen sowie mit konditionalen Absolutionen kann wohl kaum dem Einwand begegnet werden, dass in der allgemeinen Absolution „billige Gnade“ ausgeteilt würde.434 Dass es sich um „teuere Gnade“ handelt, dass Nachdenken, Ernsthaftigkeit und Dankbarkeit im Spiel sind, lässt sich am ehesten an der Haltung von Liturgin oder Liturg und dem Vollzug von Beichte und Absolution ablesen. Das EGb und sein Ergänzungsband bieten keine übermäßig große Zahl von Texten für Sündenbekenntnis und Absolution. Dafür ist die Auswahl sorgfältig und sinnvoll getroffen. Ob allerdings der Vorschlag im EGb(Eb), eigene Texte zu formulieren, zweckmäßig und realistisch ist, muss die Praxis zeigen. In den Hinweisen zum Ausformungsbeispiel B 2, in dem der Schwerpunkt auf dem Gemeinsamen Schuldbekenntnis nach der Predigt liegt, heißt es: „Wegen der engen Verknüpfung von Predigt und Bekenntnis der Schuld ist es sinnvoll, dass der Prediger/die Predigerin das Schuldbekenntnis selbst formuliert. Der folgende Text bietet eine Anregung.“435 Es mag also im Normalfall auf Texte aus dem Gottesdienstbuch zurückgegriffen werden. Wenn aber im speziellen Fall Liturg oder Liturgin Texte selbst verfassen müssen, sollten sie gravierende Fehler vermeiden. Die umfangreiche Produktion gottesdienstlicher Texte aus den 1970er Jahren liefert dafür viele abschreckende Beispiele. 3.2. Liturgische Ordnungen In diesem Abschnitt soll es um die Stellung der Beichte im Verlauf des Gottesdienstes gehen. Die Tradition gibt dafür im Wesentlichen drei verschiedene Möglichkeiten vor (s. o. 19f), die vom EGb aufgegriffen werden. Weil das EGb in den nächsten Jahrzehnten die gültige Agende für lutherische und unierte Kirchen im deutschen Sprachraum sein wird, nehme ich allein darauf Bezug. Sowohl in Grundform I (Mess-Typ) als auch in Grundform II (oberdeutscher Typ) kann entsprechend dem Confiteor ein Sündenbekenntnis 432 „[…] verkündige ich allen, die ihre Sünde bereuen und auf Tod und Auferstehung Jesu Christi von Herzen vertrauen […]“ EGb, 544. 433 Vgl. AELKG, zu 24011 und 12 434 S. o. 14, Anm. 15. 435 Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands/ hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Berlin u. a. 2002, 46.

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im Eröffnungsteil des Gottesdienstes gesprochen werden. Es folgt dann entweder gleich nach Gruß bzw. Begrüßung durch Liturgin oder Liturg noch vor dem ersten Gemeindelied (Grundform I)436 oder etwas später nach biblischem Votum bzw. Psalm (Grundform II).437 Die Verbindung von Kyrie und Bußgebet hält das EGb ebenfalls für möglich (zur Geschichte s. o. 136ff). Die historischen Gründe für diesen Ort des Sündenbekenntnisses sind bekannt (s. o. 48ff). Es ist jedoch zu bezweifeln, ob das ursprüngliche Anliegen – die Reinigung und Heiligung der den Gottesdienst Feiernden – mit lutherischer Theologie in Einklang zu bringen ist. Sündersein und Heiligung liegen ineinander. Gerade der sündige Mensch ist bedingungslos vor Gott gerufen und soll sein Wort hören. Muss er aber dazu vorher seine Sünde bekennen und Vergebung zugesprochen bekommen oder sich zumindest der Gnade Gottes versichern?438 In der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens wurde aus diesem Grund beschlossen, die Beichtform des Confiteor nicht zu verwenden.439 Alle anderen Erklärungen der Funktion des Vorbereitungsgebetes sind wenig überzeugend, denn „Klage und Unvermögen“ werden auch im Kyrie-Ruf ausgesprochen.440 Hinzu kommt, dass das für manche unvermittelt – gleich zu Beginn des Gottesdienstes – abverlangte Sündenbekenntnis oftmals eine Überforderung darstellt. Sie fühlen sich „überfallen“ und benötigten eine längere Hinführung zur Beichte.441 Möglicherweise ist deshalb der Bußcharakter dieses Gebets immer mehr abgeschwächt worden – im EGb wird es „Vorbereitungsgebet“ genannt – so dass es auch einfach nur der 436 Vgl. EGb, 37, 65. 437 Vgl. EGb, 52, 138. 438 Im Evangelischen Gesangbuch für Bayern wird gesagt, dass das Confiteor keine Beichte sei. Man begründet das mit dem Fehlen konkreter Aussagen über Schuld und Sünde. „Das Vorbereitungsgebet oder Sündenbekenntnis, das am Anfang des Gottesdienstes stehen kann […] ist keine Beichte; es spricht aus, wer der Mensch vor Gott ist, bezieht sich aber nicht auf konkrete und bewußte Schuld.“ EG(BTh), 1200. Diese Definition ist wenig überzeugend und in sich nicht stimmig. Auch allgemein ausgedrückte Sünde ist Sünde, die von Gott vergeben werden muss. 439 Vgl. Ratzmann, Wolfgang: Was ändert sich an unserem Gottesdienst durch die Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches? ABl(Sa) 18 (1999), B 60, Anm. 2. 440 Vgl. EGb, 493. 441 „Da die ‚allgemeine Beichte‘ immer häufiger wegfällt, wird das Confiteor immer mehr als deren Ersatz verstanden. Der Indikativ ‚Gott erbarmt sich unser […]‘ legt das zusätzlich nahe. Er wird als Absolution verstanden. Aber diese ‚kleine Beichte‘ ist am Anfang des Gottesdienstes unmotiviert und in der Abkürzung für den Gottesdienstbesucher kaum nachvollziehbar. Das Wort eines jungen Menschen über die allgemeine Beichte gilt erst recht hier: ‚So schnell kriege ich meine Sünden nicht zusammen, wie sie mir da wieder vergeben werden.‘ Das Gewicht der Schuld vor Gott und die befreiende Macht der Absolution gehen in diesem Tempo und mit diesen sprachlichen Kürzeln verloren, Menschen werden liturgisch dagegen immunisiert.“ Kugler, Georg: Läßt sich die Beichte wiedergewinnen? ZGP 5 (1987), 24.

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Sammlung und Einstimmung auf den Gottesdienst dienen kann.442 Wie alle Beichtformen im Gottesdienst ist es nur fakultativer Bestandteil. Es kann gleichwohl nicht ausgeschlossen werden, dass eine Situation eintritt, in der die versammelte Gemeinde gar nicht Gottesdienst feiern kann, bevor sie gemeinschaftlich um Gottes Vergebung gebeten und diese auch zugesprochen bekommen hat.443 Die zweite Möglichkeit für eine gottesdienstliche Beichte sieht das EGb in der Offenen Schuld nach der Predigt vor, nun allerdings nicht in Verbindung mit dem Fürbittengebet, sondern unmittelbar nach der Predigt, noch bevor der Kanzelsegen gesprochen und die Kanzel verlassen wird.444 Diese Form stellt exakt einen Teil des mittelalterlichen Pronaus wieder her (s. o. 40ff). Dabei drängt sich aber die Frage auf, bei welchen Gelegenheiten die Beichte an dieser Stelle gesprochen werden kann. Eigentlich ist dort die Offene Schuld heute nur noch nach einer Bußpredigt denkbar.445 Denn wie würde eine Gemeinde reagieren, wenn Pfarrerin oder Pfarrer auf eine tröstliche und ermutigende Predigt hin ihre Zuhörer aufforderten: „Lasst uns miteinander bekennen, dass wir gesündigt haben mit Gedanken, Worten und Werken […]“?446 An dieser Stelle wird die gottesdienstliche Beichte wohl nur selten ihren Platz finden, denn wie oft halten wir im Kirchenjahr und in unserer Zeit Bußpredigten? Außerdem wäre es dann sinnvoll, das Credo (gesprochen oder als Glaubenslied) wieder vor die Predigt zu rücken, weil es in so großer Nähe zum Sündenbekenntnis Langatmigkeit in den Gottesdienst brächte.447 442 Das EGb bietet in der ausgeformten Liturgie als Alternative zu einem Sündenbekenntnis mit Gebetsstille ein Gebet, das ebenfalls eine Zeit der Stille vorsieht. Darin sollen die im Gottesdienst Versammelten aussprechen, was sie im Augenblick bewegt. Ziel ist es, Mut zu fassen und der Güte Gottes gewiss zu werden. Vgl. EGb, 65. In der Textsammlung zur Auswahl werden immerhin 5 Bußgebete neben ebenfalls 5 Gebeten zur „Abholung aus der Situation“ angeboten. Vgl. EGb, 494ff. Wenn das Sündenbekenntnis nicht ganz aus dem Gottesdienst verdrängt werden soll, was in der Hand der Verantwortlichen liegt, ist dieses Alternativangebot durchaus richtig: „Folgt der Predigt die Offene Schuld, sollte das Vorbereitungsgebet kein ausdrückliches Bußgebet sein.“ EGb, 37. Das Rüstgebet im Vorentwurf der Erneuerten Agende war dagegen ausschließlich auf Sündenvergebung gerichtet, vgl. ErA(V), 52. 443 Ich denke dabei an Ereignisse, die die Gemeinde unmittelbar beschäftigen und aufwühlen und die ganz deutlich die Frage nach einer gemeinschaftlichen Schuld auslösen, z. B. eine Katastrophe, der gewaltsame Tod bzw. der Suizid eines aktiven Gemeindegliedes o.ä. 444 Darin gleichen sich Grundform I und II. Vgl. EGb, 42f, 53f, 72f, 140f. 445 Das ist offenbar mit dem Ausformungsbeispiel B2 auch intendiert. Vgl. EGb, 45. 446 EGb, 72. 447 Ratzmann äußert ähnliche Bedenken in Bezug auf die Entscheidung der Sächsischen Landessynode, die Gemeinsame Beichte vor dem Fürbittengebet zu sprechen: „Ich halte es für schwierig, wenn zwei verschiedene konfessorische Stücke, nämlich das Credo und die Offene Schuld, regelmäßig zwischen Predigt und Abendmahl dicht nebeneinander gesprochen bzw. gesungen werden. Auf diese Weise werden auch

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Es ist nicht nachzuvollziehen, wieso im EGb die Normalform der Offenen Schuld ausgerechnet an diesen Platz gerückt ist und andere aus dem Pronaus stammende Traditionen nicht berücksichtigt werden.448 Als hilfreicher und notwendiger Nachtrag sind deshalb die Ausformungsmöglichkeiten des Teiles B der Liturgie anzusehen, wie sie im Ergänzungsband zum EGb mitgeteilt werden.449 In den Erläuterungen zur Variante B 2 (Schwerpunkt: Gemeinsames Schuldbekenntnis nach der Predigt) heißt es: „Die Anwendung dieses Ausformungsbeispiels ist vor allem dann angebracht, wenn Predigttext und Predigt das Ziel haben, Erkenntnis von Schuld zu wecken. Der Predigt folgt deshalb unmittelbar das Gemeinsame Schuldbekenntnis […] Neben der Bezogenheit von Predigt und Schuldbekenntnis bringt diese Ausformungsvariante auch die Zusammengehörigkeit von Bekenntnis der Schuld und Bekenntnis des Glaubens zum Ausdruck.“450 Die Varianten B 3/1 (Schwerpunkt: Gemeinsames Schuldbekenntnis mit Absolution und Friedensgruß als Abendmahlsvorbereitung) und B 3/2 (Schwerpunkt: Abendmahlsvorbereitung angesichts der Nöte der Welt) schaffen eine Verbindung zwischen Offener Schuld und Abendmahl.451 Ein ausdrückliches Schuldbekenntnis sucht man aber in den Texten von B 3/2 vergeblich. In den einführenden Worten heißt es: „Die Not von Menschen, die hungern oder gepeinigt werden, während die Gemeinde den Gottesdienst feiert, soll im Sinn von 1 Kor 12,12–27 nicht ausgeblendet werden: Eine Hinführung, die Fürbitten und Offene

Predigt und Abendmahlsfeier weiter auseinander gerissen, als es gut ist.“ Ratzmann, Gottesdienst, B 59. Dem Bedenken gegen einen zu großen Abstand zwischen Predigt und Abendmahl können trotzdem gute Argumente entgegengehalten werden. In der Dramaturgie des Gottesdienstes ist es sinnvoll, nach der Predigt als erstem Höhepunkt ein wenig Spannung abzubauen, bis mit der Abendmahlsvorbereitung wieder ein neuer Spannungsbogen aufgebaut wird. Außerdem könnte die historisch gewachsene Verbindung von Offener Schuld und Allgemeinem Gebet das Sündenbekenntnis neu plausibel machen. 448 Im Vorentwurf der Erneuerten Agende enthält die Grundform I keine Offene Schuld nach der Predigt, vgl. ErA(V), 35f. Es ist also im Prinzip zu begrüßen, dass diese Möglichkeit im EGb noch hinzugenommen wurde. Wahrscheinlich wurde das in Analogie zur Grundform II getan, vgl. ErA(V), 44. Dabei entspräche die Verbindung mit dem Fürbittengebet durchaus mittelalterlicher und zudem sächsischer Tradition. Sie wäre für den modernen Menschen gut nachvollziehbar und würde die Notwendigkeit gottesdienstlicher Beichte stärker ins Bewusstsein heben (s. u. 252ff). Bereits in der Dokumentation des Strukturpapiers wird deutlich, dass nicht nur die Offene Schuld nach der Predigt, sondern auch die Verbindung von Offener Schuld, Absolution und Fürbittengebet eine breite historische Basis haben. Vgl. Versammelte Gemeinde: Struktur und Elemente des Gottesdienstes: Zur Reform des Gottesdienstes und der Agende. Hamburg o. J. [1974], 45f. Vgl. auch 81ff. 449 Vgl. EGb(Eb), 44ff. 450 EGb(Eb), 46. 451 Vgl. EGb(Eb), 48ff.

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Schuld verbindet und in den Friedensgruß einmündet, bringt diesen Akzent der Mahlfeier zum Ausdruck.“452 In der Hinführung wird nur die Spannung zwischen der Mahlfeier wohlsituierter Menschen auf der einen Seite und dem Hunger und der Not vieler Menschen auf der anderen Seite benannt. Anschließend fordert der Text dazu auf, an diese und andere Menschen zu denken. Die Mitschuld an den ungerechten Verhältnissen in unserer Welt, die Schuldverstrickung der Feiernden, wird nur indirekt thematisiert. Eine Offene Schuld mit ausdrücklicher Lossprechung, die dazu befreit, anschließend in Vollmacht für die Armen und Hungernden der Welt zu beten, wäre an dieser Stelle die konsequentere Lösung. Insgesamt muss man sagen, dass die Verfasser des EGb die Chance nicht genutzt haben, den historischen Zusammenhang von Offener Schuld und Fürbittengebet aufzugreifen, um durch sozialtheologisches Reden von Sünde den Sündenbegriff wieder deutlicher und die Beichte im Gottesdienst neu plausibel zu machen. Immerhin kann man dankbar dafür sein, dass der Ergänzungsband in der Variante B 3/2 diesen Weg vorsichtig andeutet. Als letzte Möglichkeit für die Beichte im Gottesdienst kommt nach dem EGb die Form der Gemeinsamen Beichte im Abendmahlsteil in Betracht. Dieser Hinweis findet sich allerdings nur sehr versteckt in der Grundform I453 bzw. in der Textsammlung zur Auswahl.454 Auch hier ist der historische Hintergrund klar (s. o. 100ff, 113ff), wobei die Fragen und gegensätzlichen Meinungen an dieser Stelle wahrscheinlich am größten sind (s. o. 14f). Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wie man das Abendmahl versteht. Wenn es vor allem als Gemeinschaftsmahl aufgefasst wird, dann kann eine vorausgehende Beichthandlung Hindernisse beseitigen und Gemeinschaft ermöglichen. Wird es dagegen als Mahl „zur Vergebung der Sünden“ verstanden, dann ergibt sich das Problem einer Doppelung von Sündenvergebung, wenn dem Abendmahl eine Beichte vorausgeht.455 Die Texte im Ausformungsbeispiel B 3/1, bei 452 EGb(Eb), 50. 453 Im Abendmahlsteil erscheint überhaupt kein Hinweis auf die Möglichkeit einer Beichte. In der zweispaltigen Darstellung des Gottesdienstablaufs steht nur unter dem Gemeinsamen Schuldbekenntnis nach der Predigt : „Die Offene Schuld kann auch die Vorbereitung im Abendmahlsteil abschließen. Es folgt dann das Lobgebet (Präfation). (Ausformungsbeispiel B 3)“, EGb, 42. Entsprechend ist die Offene Schuld auch in der Tabelle S. 45 aufgeführt. Die Erneuerte Agende hatte noch ausdrücklich mit Texten darauf verwiesen, vgl. ErA(V), 38. 454 „Das Gemeinsame Schuldbekenntnis kann sowohl in Grundform I als auch in Grundform II die Funktion einer Vorbereitung zum Empfang des Abendmahls haben […] Die Texte für das Gemeinsame Schuldbekenntnis können zur Gemeinsamen Beichte als Vorbereitung auf den Abendmahlsempfang entfaltet werden, wenn ihnen eine Frage angefügt wird […]“EGb, 543. 455 In manchen Gemeinden folgt der Beichte mit ausdrücklicher Lossprechung der Liedvers EG 230 „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze […]“, der noch einmal Verge-

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dem gemeinsames Schuldbekenntnis mit Absolution und Friedensgruß auf das Abendmahl vorbereiten sollen, sind allerdings so offen formuliert, dass diese Gefahr nicht besteht.456 Nicht erst seit Karl Barth wird der direkte Zusammenhang zwischen Abendmahl und Sündenvergebung in Frage gestellt (s. o. 218). Bereits in der Reformationszeit entbrannte der Streit um das rechte Verständnis des Abendmahls. Dabei bezeugte für die Reformierten das Mahl des Herrn nur die Gnade Gottes und vermittelte sie nicht. Heilszueignung geschah für sie durch den Heiligen Geist. Das Abendmahl blieb Symbol für ein anderweitiges Ereignis, das dennoch gegenwärtig gemacht wird.457 Auch im Rationalismus widersprach man der Gnadenmitteilung im Abendmahl, man leugnete den Sühnecharakter des Todes Jesu und feierte das Abendmahl als Erneuerung des Bundes zwischen Gott und Mensch.458 In den letzten Jahren wird vor allem Kritik von feministischen Theologinnen und Theologen an der traditionellen Deutung des Todes Jesu als Sühneopfer und am Verständnis des Abendmahls als Mahl zur Sündenvergebung geäußert.459 Tatsächlich lässt sich aus dem biblischen Befund nur eine relativ schmale gemeinsame Basis herstellen.460 Entsprechend kommen die Exegeten zu recht unterschiedlichen Aussagen.461 Unbestritten dürfte dagegen sein, dass die in der Abendmahlsliturgie rezitierten Einsetzungsworte dem bungsbitte ist, bevor das Abendmahl als Mahl zur Vergebung der Sünden gefeiert wird. Hier trifft man auf eine unreflektierte Aneinanderreihung von Sündenbekenntnis und Sündenvergebung. 456 Vgl. EGb(Eb), 48f. 457 Vgl. Staedtke, Joachim: Art. „Abendmahl III/3. Reformationszeit“, TRE 1 (1977), 107. 458 Vgl. Peters, Albrecht: Art. „Abendmahl III/IV. Von 1577 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“, TRE 1 (1977), 139. 459 Vgl. dazu als Beispiel Grümbel, Ute: Abendmahl : „Für euch gegeben?“: Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern: Anfragen an Theologie und Kirche. Stuttgart 1997 – Hamburg, Univ., theol. Diss. 1996. (AzTh; 85) Dort findet sich auch eine Literaturübersicht. „Mit feministischer Theologie ist ein Menschenbild zu revidieren, das den Menschen ‚mit Vorliebe‘ unter dem Vorzeichen des Sündenfalls sieht und nicht unter dem Vorzeichen der um Gottes Willen bestehenden Gottebenbildlichkeit des Menschen und des Wohlgefallens Gottes an seiner Schöpfung. Daß dies verbunden ist mit der notwendig anstehenden Korrektur eines Sündenverständnisses, das nicht differenziert zwischen Sünde und Sünden/Schuld, zu Generalisierung und Moralisierung verführt und rein individualistisch ausgerichtet ist, liegt auf der Hand. Allerdings scheint mir das Nachdenken über Sünde und Erlösung, Schuld und Vergebung für alle Seiten und in jeder Hinsicht notwendig, gerade heute.“ Grümbel, Abendmahl, 164. 460 „Für die Einsetzungsworte sind der Sühnegedanke und das Motiv der Konstituierung des Bundes ausschlaggebend.“ Hahn, Ferdinand: Art. „Abendmahl I. Neues Testament“, RGG4 1 (1998), 14. 461 Zum Überblick über verschiedene Positionen vgl. Grümbel, Abendmahl, 40–75.

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urchristlichen Gottesdienst entstammen.462 So erfreulich es ist, dass das Abendmahl in den letzten Jahrzehnten für viele lutherische Christen an Deutungsfacetten hinzugewonnen hat (s. o. 99, Anm. 475) und nicht nur verengt auf die Vergebung der Sünden verstanden wird, so fatal wäre es, diese letzte Bedeutung einfach zu negieren. Obwohl es dazu kein statistisches Material gibt, kann von einer großen Zustimmung unter lutherischen Christen zur Deutung des Abendmahls als einem Mahl zur Sündenvergebung ausgegangen werden.463 Weder ein genereller Verzicht auf die Beichte als Abendmahlsvorbereitung noch eine als verbindlich betrachtete Verbindung von Beichte und Abendmahl wird der Intention des Herrenmahls gerecht.464

462 „Da nach dem Stand der historischen Forschung keine historische Gewißheit über das letzte Mahl Jesu insgesamt und speziell über die dabei gesprochenen Worte, zumindest aber über den sog. Wiederholungsbefehl zu erlangen ist, kann eine dogmatische Lehre vom Abendmahl nicht mehr ohne weiteres von einer Einsetzung des Abendmahls durch Jesus in der Nacht des Verrats ausgehen. Die Einsetzungsberichte sind vielmehr zunächst gottesdienstliche Stücke, in denen zum Ausdruck kommt, daß und wie die nachpfingstliche Christenheit von Anfang an das Mahl zum Gedächtnis Jesu gefeiert hat.“ Kühn, Ulrich: Art. „Abendmahl IV. Das Abendmahlsgespräch in der ökumenischen Theologie der Gegenwart“, TRE 1 (1977), 199. 463 Grümbel hat Interviews mit 28 Frauen und 24 Männern zur Abendmahlspraxis und zum Abendmahlsverständnis geführt. Bei qualitativen Befragungen wird ja kein repräsentatives Ergebnis erwartet oder angestrebt. Deshalb können die geäußerten Ansichten nur Ausschnitt aus einem großen Spektrum sein. Über ein Viertel der Frauen berichten von negativen Ersterfahrungen beim Abendmahl, die sich vor allem mit dem Komplex Sünde und Schuld verbinden. Vgl. Grümbel, Abendmahl, 310. Nur für drei Frauen hat der Aspekt der Sündenvergebung in den Einsetzungsworten eine existenzielle Bedeutung (202). Ganz anders sieht die Situation bei den befragten Männern aus. Die Zusage der Sündenvergebung in den Einsetzungsworten hat für zehn von ihnen teilweise grundsätzliche Bedeutung (230). 464 In einer Schrift von 1978 heißt es: „Beim theologischen Bedenken des Zusammenhangs von Beichte und Abendmahl läßt sich leicht feststellen, daß vom Wesen der Sache her die Beichte nicht zur Voraussetzung des Abendmahles gemacht werden kann. Zwar soll nach der Heiligen Schrift und dem Bekenntnis das Abendmahl vor Mißbrauch geschützt werden. Darum wird ein ‚würdiger‘ Empfang gefordert. Es kann aber nicht behauptet werden, daß die Beichte in diesen abendmahlswürdigen Stand versetze […]“ Abendmahl und Beichte/hg. von Alexander Völker u. a. Bielefeld 1978, 7. Ähnlich äußert sich Hanselmann. Er schlägt gelegentliche gemeinsame Beichtfeiern vor, die vom Gottesdienst getrennt sind. Vgl. Hanselmann, Johannes: Abendmahl in Gottesdienst und Gemeindeaufbau: Referat bei der Tagung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Bayreuth am 21. November 1977. München o. J. [1981], 17f. Ebenso noch einmal Ruhbach. Vgl. Ruhbach, Gerhard: Die Beichte als Vorbereitung zum Abendmahl. GAGF 23 (1995), 18. Bereits zu Beginn des 20. Jh. war gefordert worden, die Verknüpfung von Beichthandlung und Abendmahlsfeier zu lösen, ohne damit den Zusammenhang von Buße und Herrenmahl aufzuheben. Vgl. Harms, Klaus: Die gottesdienstliche Beichte als Abendmahlsvorbereitung in der Evangelischen Kirche, in Geschichte und Gestaltung. Greifswald 1930, 149ff.

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Kapitel IV

Überlegungen zu einer angemessenen Praxis Der schon früher beobachteten Tendenz, dass so etwas wie Beichte im Gottesdienst heute allenfalls auf ein Sündenbekenntnis bzw. ein Bewusstmachen von Sünde und Gnade zu Beginn des Gottesdienstes beschränkt bleibt, folgen auch das EGb und sein Ergänzungsband. Es muss also ganz grundsätzlich und neu überlegt werden, ob das Bekennen von Sünde, aber auch das Zusprechen von Vergebung, wesentlich zum lutherischen Gottesdienst dazugehören oder nicht. Die Tradition macht da klare Vorgaben. Und die drei befragten Systematiker halten das Bekennen von Sünde sowie das Ergreifen der Vergebung im Gottesdienst ebenfalls für unverzichtbar. Es könnten also nur erhebliche Widerstände der Gottesdienstgemeinde dagegen sprechen, dass der Beichte im Gottesdienst angemessene Räume bewahrt oder neu geschaffen werden. Wie kompliziert die Berücksichtigung solcher Stimmungen wäre, zeigt die Auswertung einer Befragung zum Gottesdienst im Jahr 1972. Auf die Frage, ob das Sündenbekenntnis zum Gottesdienst gehören solle, entschieden sich 26% für die Antwort, dass es unbedingt dazugehöre, 16% dafür, dass es wünschenswert sei und 58% dafür, das es ruhig wegbleiben könne. Zählt man die beiden ersten Gruppen zusammen, dann war 42% der Befragten ein Sündenbekenntnis im Gottesdienst wichtig.1 Wesentlich anders ist das Stimmungsbild, wenn nach Kirchenbesuchern und Kirchenfernen unterschieden wird. Für 50% derjenigen, die fast jeden Sonntag zur Kirche gehen, gehörte ein Sündenbekenntnis unbedingt zum Gottesdienst, aber nur für 10% derjenigen, die nie zur Kirche gehen.2 Noch einmal anders sieht die Differenzierung nach Altersgruppen aus. Von den 16- bis 20-jährigen Gemeindegliedern hielten nur 14% das Sündenbekenntnis im Gottesdienst für unverzichtbar, dagegen 39% der über 60-Jährigen.3 Obwohl keine aktuellen Zahlen vorliegen, kann auch für unsere Zeit vermutet werden, dass – mit gewissen regionalen Unterschieden – ein großer Teil der sonntäglichen Gottesdienstgemeinde auf ein Sündenbekenntnis mit zugesprochener Vergebung nicht verzichten will. Nun ist es an denen, die Liturgie zu feiern haben, die Beichte so zu ge1 Vgl. Schmidtchen, Gerhard: Gottesdienst in einer rationalen Welt: Religionssoziologische Untersuchungen im Bereich der VELKD. Stuttgart 1973, 216. 2 Vgl. Schmidtchen, Gottesdienst, 93. 3 Vgl. Schmidtchen, Gottesdienst, 94.

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stalten, dass sie ein wichtiger Vollzug im Glaubensleben bleibt oder sogar wieder neu plausibel wird. Im EGb stößt man auf eine große Zurückhaltung, was die Verbindung von ausdrücklichen Sündenbekenntnissen mit indikativen Absolutionen betrifft. Allein die Offene Schuld im Abendmahlsteil kann dahin gehend entfaltet werden.4 Es sollte dennoch nicht unterschätzt werden, dass manche Gottesdienstbesucher um der ausdrücklichen Absolution willen nicht auf die Beichte im Gottesdienst verzichten möchten. Trotzdem nehmen sie die Einzelbeichte nicht in Anspruch. Die historische Entwicklung zeigt, dass der Rückgang der Einzelbeichte nicht umgekehrt werden konnte. Für manche Theologinnen und Theologen bleiben Beichte und Absolution des Einzelnen dessen ungeachtet die angemessenste Form der Beichte. Ihre Bedenken entspringen der Sorge um die Ernsthaftigkeit des Sündenbekenntnisses und um die Vermeidung des Austeilens „billiger Gnade“.5 Trotz allem ist nicht damit zu rechnen, dass die Einzelbeichte im großen Umfang „wiedergewonnen“ wird.6 Wenn der lutherische Gottesdienst als ein Fest gefeiert würde – und in vielen Gemeinden ist das der Fall – als ein Fest der Versöhnung Gottes mit den Menschen, als ein Fest des neuen Bundes, das die Befreiung und Versöhnung der Menschen ermöglicht und zur Voraussetzung hat, dann könnte die Beichte in ihren verschiedenen Formen zu einem wichtigen Bestandteil dieses Gottesdienstes werden.7 Im Licht der Gnade Gottes würden Schuld und Versagen zur Sprache gebracht, um danach das Wort von der Versöhnung umso zuversichtlicher zu ergreifen. Die Verstrickung in kaum zu durchschauende Strukturen einer ungerechten 4 Vgl. EGb, 543f. 5 S. o. 14, Anm. 15. 6 Immer wieder gibt es Bemühungen auch von offizieller kirchlicher Seite, die Möglichkeit der Einzelbeichte für evangelische Christen überhaupt bekannt zu machen. Vgl. Evangelischer Erwachsenenkatechismus: glauben – erkennen – leben/hg. von Manfred Kießig u. a. unter Mitarbeit von Gerhart Herold. Gütersloh 62000, 589–598; Hertzsch, Klaus-Peter: Wie mein Leben wieder hell werden kann: Eine Einladung zur Beichte in der evangelisch-lutherischen Kirche. Hannover o. J. [2002]. 7 Cornehl hat eine Theorie des Gottesdienstes skizziert, an die diese Gedanken anknüpfen. Cornehl, Peter: Theorie des Gottesdienstes – ein Prospekt. ThQ 159 (1979), 178–195. Dabei formuliert er die These: „Im Gottesdienst vollzieht sich das darstellende Handeln der Kirche als öffentliche symbolische Kommunikation der christlichen Erfahrung im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung. Als Feier der Befreiung und Versöhnung zielt der Gottesdienst auf Orientierung, Ausdruck, Vergewisserung und Erneuerung des Glaubens.“ Cornehl, Theorie, 186. Cornehl stellt fest, dass der Gottesdienst als cultus publicus abgelöst worden ist von den Inszenierungen der Mediengesellschaft, die letztlich doch nicht halten können, was sie versprechen. Er schreibt: „Man kann nur hoffen, daß die großen konfessionellen Kulturen die Kraft haben, den eigenen Ausdruck ohne Angst vor nötigen Veränderungen zu bewahren und dabei auch einmal gegen den Strom zu schwimmen.“ Cornehl, Theorie, 191.

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Weltordnung müsste nicht mehr lähmend wirken, sondern die zugesagte Vergebung könnte Phantasie und neues Engagement freisetzen. „Schuld bekennen – Versöhnung feiern“ – das wäre ein dem Zentrum lutherischer Theologie entstammender Grundgedanke für den Gottesdienst. Dass dieser Grundgedanke immer noch aktuell ist, zeigt der Zustand unserer Welt.

1. Zur Stellung der Beichte im Gottesdienst So wie es für Luther eine Vielfalt von Beichtformen gab, so wäre es gut, wenn auch heute die Beichte nicht nur einen festgelegten Ort im Ablauf des Gottesdienstes hätte und in einem umfassenderen Sinn verstanden würde. Die feinen Unterscheidungen der Liturgiker zwischen dem unterschiedlichen Charakter von Confiteor, Offener Schuld und Gemeinsamer Beichte sind weder den meisten Liturginnen und Liturgen einsichtig8 noch dem Gebrauch der gottesdienstlichen Beichte zuträglich. Alle drei Arten sollten als Beichte in der erweiterten Bedeutung des Wortes verstanden werden – als Sündenbekenntnis mit anschließender Absolution.9 Allerdings lassen sich nur schwer allgemein gültige Aussagen zu einer angemessenen Praxis treffen. Traditionen und regionale Besonderheiten spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Trotzdem kann festgehalten werden, dass die Beichte je nach inhaltlichem Schwerpunkt und Charakter des Gottesdienstes einen speziellen liturgischen Ort haben sollte. Das EGb gibt hierzu verschiedene Anregungen. Im Eingangsteil des Gottesdienstes müsste ein Sündenbekenntnis mit ausdrücklicher Absolution stehen, wenn die Gottesdienstgemeinde ganz stark von einem Ereignis betroffen ist, das die Frage nach individueller und gemeinschaftlicher Schuld aufkommen lässt. Das mag selten der Fall sein, doch wenn ein solches Ereignis eintritt, hindert es die Gemeinde an der unbefangenen Feier ihres Festes der Versöhnung. Da muss zunächst 8 So empfindet es auch Schulz. Vgl. Schulz, Frieder: MINISTERIUM RECONCILIATIONIS: Evangelische Marginalien zu einer katholischen Darstellung der Feiern der Umkehr und Versöhnung. ALW 37 (1995), 84, Anm. 108. 9 Seit den Ausführungen von Mahrenholz über den unterschiedlichen Charakter der Beichtarten (s. o. 13f, Anm. 11 und 12) konnte noch keine Einigung darüber erzielt werden, worin sie sich grundsätzlich voneinander abheben sollen. Zudem sorgen die Agendenwerke selbst für Verwirrung. So wird in der Beichtagende vorgeschlagen, im Eröffnungsteil des Gottesdienstes eine Beichthandlung mit Sündenbekenntnis und ausdrücklicher Lossprechung zur Vorbereitung auf das Abendmahl einzufügen. „Die Gemeinsame Beichte wird auf die notwendigen Stücke konzentriert und tritt an die Stelle des Rüstgebetes (Confiteor) im Eröffnungsteil des Gottesdienstes. Das Kyrie kann entfallen.“ Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3: Die Amtshandlungen. Teil 3: Die Beichte. Hannover 1993, 40.

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Schuld bekannt werden. Da muss man sich zuerst der Vergebung Gottes vergewissern. Die Anlässe können dabei sehr unterschiedlich sein. Der Suizid eines Pfarrers, der mit dem Kirchenvorstand Schwierigkeiten hatte, wäre z. B. ebenso ein Anlass wie die Ermordung eines Asylbewerbers in der Stadt nach einer fremdenfeindlichen Auseinandersetzung. Die Fragen und Empfindungen, die die zahlreicher als sonst kommenden Gottesdienstbesucher dann mitbringen, verlangen nach einem Ritual, das die Nöte aufnimmt. Ganz sicher kann man in solch einem Fall nicht einfach auf bekannte Texte zurückgreifen. Schuld und Versagen müssten konkret benannt, das lösende Wort ebenso konkret zugesprochen werden. In zahlreichen Gemeinden wird auf Grund der Tradition weiterhin im Eröffnungsteil ein Vorbereitungsgebet mit mehr oder weniger abgeschwächtem Bußcharakter gebetet werden. Die Verantwortlichen sollten sich überlegen, inwieweit dieses Gebet noch von allen mitvollzogen wird und ob sich für die Beichte nicht eine geeignetere Stelle im Gottesdienstverlauf nahe legt. Eine Ausnahme stellt die Beichte unmittelbar nach der Predigt dar. Sie bietet sich nur an, wenn die Predigt auf die Beichte vorbereitet und zu ihr hinführt. Das aber ist vor allem vom Predigttext abhängig. In vielen Gottesdiensten dagegen könnte die Beichte wieder in einen Zusammenhang mit dem Fürbittengebet gebracht werden.10 Denn man macht es sich zu einfach, wenn für Menschen in Not nur gebetet wird. Jeder muss sich auch fragen lassen, was er unternommen hat, um Not zu lindern. Die Sündhaftigkeit von Erwartungsstrukturen sozialer Systeme ist aufzudecken. Jeder muss bereit sein zu erkennen, dass er auf erschreckende Weise in Schuld verstrickt ist und dennoch unter dieser Last nicht zusammenzubrechen braucht. Gerade weil das Wort der Vergebung ungeahnte Kräfte freisetzen kann, muss diese Schuld zur Sprache gebracht werden. Das Besondere daran ist, dass es sich in den meisten Fällen um gemeinschaftliche Schuld handelt, um Grundsünde, um Menschheitssünde. Und diese Sünde wird am besten in der Gemeinschaft der Sünder bekannt. Die wenigsten Texte von Offener Schuld oder Gemeinsamer Beichte haben diese Dimension. Sie sind in der Regel Bekenntnisse, die das Individuum vor Gott ausspricht – eine Zusammenlegung von Einzelbeichten. Hierfür müssten ganz neue Texte geschaffen werden, bei denen das bekennende Subjekt im Plural steht.11 Zugleich entstünde eine neue Form der gottesdienstlichen Beichte – die bewusst gestaltete Beichte der Gemeinde für gemeinschaftliche Sünde.12 Indem diese Beichte das Ver10 Dieser Zusammenhang ist auch historisch gut belegt. S. o. 81ff. 11 Als gelungenes Beispiel für einen solchen Text kann das Schuldbekenntnis von Coventry bezeichnet werden. Vgl. EG, Nr. 828. 12 Die derzeitige Gemeinsame Beichte wird sicher von den meisten Beichtenden als individuelle Handlung verstanden. Die Verwendung der 1. Person Singular und das

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hältnis zum Nächsten thematisiert, wäre sie außerdem eine Abendmahlsvorbereitung im Sinn von I Kor 11,17–34.13 An der Beichte im Zusammenhang mit dem Abendmahl sollte nicht nur aus Gründen der Tradition festgehalten werden. Zu wichtig ist der Aspekt der Vergebung für die Gemeinschaft der Feiernden.14 Hierbei erhält auch der Friedensgruß eine besondere Bedeutung. Trotzdem gibt es keine zwingende Notwendigkeit, gottesdienstliche Beichte und Abendmahl miteinander zu verknüpfen.15 Wird in einer Gemeinde das Herrenmahl vorrangig als Mahl zur Vergebung der Sünden verstanden, dann sollte man auch so mutig sein, dieses Mahl als Absolution, als Bekräftigung der Vergebung Gottes zu feiern. Auf ein vorgeschaltetes Beichtgebet müsste also nicht unbedingt eine indikative Absolution folgen.16 Der Gemeinde ist dann aber deutlich zu machen, dass sie in der Feier des Abendmahls die Zusage der Vergebung empfängt.17 Eine Überfrachtung der Mahlfeier mit Beichtliedern, Beichtgebeten und Absolutionen sollte man möglichst vermeiden.18 Abschließend ist zu sagen, dass es wahrscheinlich besser ist, auf eine Beichte im Gottesdienst zu verzichten, als gewohnheitsgemäß ein Ritual zu verrichten, das von den wenigsten Gemeindegliedern innerlich mitvollzogen wird. Dagegen ist es wünschenswert, dass der gottesdienstlichen Beichte zu neuer Plausibilität verholfen und die Vielfalt der Beichtformen zur Geltung gebracht wird. Die Art und Weise, wie man die Beichte gestaltet, sollte immer auch auf ihre tiefe Bedeutung hinweisen. Die kirchliche – und besonders die lutherische – Tradition hat einen so großen Reichtum an unterschiedlichen Formen der Beichte im GottesEinschalten von Zeiten der Stille unterstreichen das. Dabei würde die Thematisierung gemeinschaftlicher Buße für gemeinschaftliche Sünde an historische Vorbilder, wie z. B. Bußtage nach Katastrophen, anknüpfen. 13 Das „unwürdig“ aus I Kor 11,27 ist lange Zeit missverstanden worden. Es geht dabei nicht um eine allgemeine Unwürdigkeit auf Grund der Sünde, sondern um die mangelnde Liebe gegenüber dem Nächsten, um eine egoistische Haltung. Vgl. Wolff, Christian: Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7/II, Berlin 31990, 93f. 14 Zehner sieht in den Sakramenten den Ort für die Sündenvergebung im Gottesdienst. Vgl. Zehner, Joachim: Das Forum der Vergebung in der Kirche : Studien zum Verhältnis von Sündenvergebung und Recht. Gütersloh 1998, 251ff. – Berlin, Univ. , theol. HabSchr. 1997. (Öffentliche Theologie; 10) 15 Vgl. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 594. 16 Derartige Vorschläge wurden schon zu Beginn des 20. Jh. gemacht. Vgl. Harms, Beichte, 131f. 17 Luther hat in evangelischer Umformung des „Domine, non sum dignus“ ein Gebet geschaffen, das die Sündenvergebung im Abendmahl ausdrücklich annimmt. Vgl. Schulz, Frieder: Ein Abendmahlsgebet Luthers: Die Frage nach der Würdigkeit zum Sakrament. In: Dienende Kirche. Festschrift für Landesbischof D. Julius Bender zu seinem 70. Geburtstag am 30. August 1963/hg. von Otto Hof. Karlsruhe 1963, 105–119. 18 S. o. 247, Anm. 455.

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dienst hervorgebracht, dass sie nicht in einem erstarrten Ritual zu verkümmern braucht. Aktuelle Anlässe legen es immer wieder nahe, der Gottesdienstgemeinde die Notwendigkeit und den Segen der Beichte bewusst zu machen.

2. Zur Gestaltung von Beichttexten Viel schwieriger noch als zur Stellung der Beichte im Ganzen des Gottesdienstes lässt sich allgemein Gültiges zur Gestaltung ihrer Texte sagen. Besonders schwierig ist der Umgang mit vorhandenen und teilweise sehr vertrauten Beichtgebeten.19 Menschen haben immer auch ihre eigene Geschichte mit bestimmten Texten. Der gleiche Beichttext kann manche Menschen abstoßen und anderen wieder sehr lieb sein. Aus seelsorgerlichen Gründen muss hier sehr behutsam vorgegangen werden. Wenn es aber um die Neuformulierung von Beichtgebeten geht, dann können durchaus einige Grundsätze aufgestellt werden. Sie leiten sich nicht zuletzt aus den systematisch-theologischen Untersuchungen zur gottesdienstlichen Beichte ab (s. o. 144ff). Dennoch wäre es wünschenswert, dass die Systematische Theologie an dieser Stelle der Liturgik deutlicher Hilfestellung leistete. Bevor in einem Beichtgebet Schuld konkret benannt wird, müsste das Wesen der Sünde erhellt werden. Den weit verbreiteten Missverständnissen in Bezug auf „die Sünde“ darf durch einen gottesdienstlichen Text nicht noch Vorschub geleistet werden. Erst wenn klargestellt ist, dass aus der Grundsünde des Menschen die einzelnen Sünden hervorgehen, könnte beispielhaft dafür konkrete Schuld beim Namen genannt werden. Es müsste erkennbar bleiben, dass es sich dabei um willkürliche Beispiele handelt, die nicht auf jeden einzelnen Menschen zuzutreffen brauchen. So könnte zumindest versucht werden, nicht moralisch von Sünde zu reden. Nach wie vor scheint es sinnvoll zu sein, innerhalb des gemeinschaftlichen Beichtens dem Bedürfnis nach individueller Benennung von Schuld und Sünde entgegenzukommen. Zeiten der Stille ermöglichen die „Herzensbeichte“ im gottesdienstlichen Rahmen. Dafür gibt es bereits geeignete Vorlagen.20 Das Einfügen einer Zeit der Stille zum Bedenken und stillen Aussprechen konkreter Schuld ist aber auch bei einem sehr bekannten Beichtgebet gut möglich.21 Damit wird außerdem der Ge19 Als Beispiel dafür ist der sehr alte Text der Offenen Schuld in Sachsen zu nennen, der seit 1581 mit nur geringfügigen Änderungen im Gebrauch vieler Kirchgemeinden ist (s. Anh. Nr. 32). 20 Vgl. EG 802; EGb, 496f, 543, 546f u. ö. 21 So lässt sich beispielsweise bei EG 799 nach den Worten „[…] womit ich dich erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewiglich verdient habe […]“ eine Zeit der Stille in

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fahr entgegengewirkt, dass vertraute Beichttexte gedankenlos aufgesagt werden. So offen und allgemein die Beichte im Gottesdienst grundsätzlich gehalten werden sollte, so konkret und speziell muss ein Beichtgebet formuliert sein, wenn es sich auf ein aktuelles Ereignis bezieht, das die Gemüter bewegt. Eine solche Beichte kann nur aus der jeweiligen Situation heraus entstehen.

3. Zur Gestaltung von Absolutionen „Schuldlösung im strengen Sinne ist kein menschliches, sondern Gottes Werk. Sie wird durch sein Wort zugesprochen und im Glauben empfangen. Hier endet die beratende und beginnt die kerygmatische Seelsorge. Sie kann in der Gestalt des Sakraments, der Einzelbeichte, des gemeinsamen Schuldbekenntnisses oder auch als seelsorgerliches Gespräch auftreten. Entscheidend ist, daß die Vergebung nicht nur implizit, sondern als persönlich aus- und zugesprochenes Wort im Namen Gottes geschieht.“22 Diese Gedanken schließen an Luthers Einsicht an, dass das persönlich zugeeignete Absolutionswort wegen der größeren Gewissheit und des stärkeren Trostes für den Beichtenden nicht aufgegeben werden darf.23 Bedenken hinsichtlich der Gefahr des Austeilens „billiger Gnade“ dürfen deshalb aus seelsorgerlichen Gründen zurückgestellt werden. Man muss trotzdem nicht uneingeschränkt die Vergebung der Sünden zusprechen. Den Beichtenden sollte schon klar sein, dass Reue und die Bereitschaft zur Umkehr notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass Vergebung Gottes vor allem dann nicht erbeten werden kann, wenn ich nicht zuvor den Nächsten, an dem ich schuldig geworden bin, um Vergebung gebeten habe. Doch andererseits darf das lösende Wort Gottes von menschlichen Retentionsformeln nicht so überwuchert sein, dass die bedingungslose Gnade Gottes – die „Rechtfertigung, obwohl […]“ – dahinter verschwindet.24 die sächsische Offene Schuld einfügen, bevor weiter gebetet wird: „Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr […]“ Diese Möglichkeit lernte ich in der Thomaskirche zu Leipzig kennen. 22 Genest, Schuld, 590. 23 S. o. 58, Anm. 204. 24 „Wie aber kann verhindert werden, daß die Absolution zur ‚billigen Gnade‘ wird? Nicht dadurch, wie eben angedeutet wurde, daß davor Bedingungen aufgetürmt werden, wohl aber dadurch, daß man es einer Kirche und ihrem Gottesdienst abspürt, wie sehr hier davon gelebt wird, wie ernst und zugleich dankbar man damit umgeht. Die große Gefahr liegt in der Gewöhnung. Darum gilt auch hier, daß das ‚Ordentliche‘ immer wieder durch das ‚Außerordentliche‘ aufgebrochen wird. Das bedeutet, daß das ordentliche, also das regelmäßige Ritual der Absolution zugleich von konkreten und

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Gerade bei Gottesdiensten im kleineren Kreis lassen sich viele Möglichkeiten nutzen, die persönliche Bitte um Vergebung mit einem direkten Zuspruch der Absolution und einer Zeichenhandlung zu verbinden.25 In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, inwieweit besondere Beichtfeiern in einer Gemeinde angeboten werden. Nicht zuletzt entscheidet sich an der Haltung von Liturg oder Liturgin, ob die Absolution als schematisches Ritual oder als eine befreiende Erfahrung empfunden wird. Schließlich müsste man ganz neu bedenken, auf welche Weise in der „Tauferinnerung“ die Sündenvergebung zur Sprache gebracht werden könnte. Während für Luther die Vergebung der Sünde ein ganz wesentlicher Inhalt des Taufsakraments war,26 ist dieser Aspekt heute stark in den Hintergrund gerückt.27 Eine Ursache dafür mag sein, dass die Tauferinnerung häufig in Familiengottesdiensten stattfindet. Das Thema Sündenvergebung scheint aber Kindern schwer vermittelbar zu sein.28

4. Ausblick Das, was in dieser Arbeit als ein sehr spezielles innerkirchliches Problem behandelt wird – die Beichte im lutherischen Gottesdienst – steht in Wirklichkeit in einem sehr weiten Horizont. Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Versagen und Schuld weisen auch im 21. Jh. auf tiefgreifende Probleme innerhalb der modernen Gesellschaft hin. Dem steht das Phänomen gegenüber, dass Schuld in der Regel verdrängt oder abgewiesen wird, indem ganzheitlichen Erfahrungen der Befreiung aus Schuld begleitet und interpretiert wird. Konkret kann die Absolution im Gottesdienst gerade dann werden, wenn dieser in herausgehobenen Situationen stattfindet. Das gilt für Zeiten der Krise, aber auch für besondere Tage der Kirche, am Bußtag oder Karfreitag etwa.“ Kugler, Beichte, 25. 25 Das wird nur in Gottesdiensten mit geringer Teilnehmerzahl möglich sein. Anregungen dazu finden sich u. a. bei: Ruhbach, Gerhard: Wie soll ich beichten? Ein Brief. In: Die Beichte/hg. von Ernst Henze. Göttingen 1991, 99–105. (Dienst am Wort; 55) 26 S. o. 57, Anm. 202. 27 Vgl. Zehner, Forum, 299. 28 In vielen Arbeitsmaterialien findet sich kein Hinweis darauf. Vgl. Tauf- und Familiengottesdienste/hg. von Hans Freudenberg. Göttingen 2001. (Dienst am Wort; 93) Eine ältere Arbeitshilfe für Gottesdienste mit Erwachsenen stellt dagegen eine Verbindung zwischen Taufe und Sündenvergebung her. Vgl. Taufgedächtnisfeiern: Praktisch-liturgische Hilfen/hg. vom Ökumene-Fachausschuß der Ev.-Luth. Kirche in Bayern. München 1987. (Kirche ökumenisch; 12), 33ff. In der Taufagende erinnert nur ein Gebet an die Sündenvergebung durch die Taufe. Vgl. Agende für EvangelischLutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3: Die Amtshandlungen. Teil 1: Die Taufe. Hannover 1988, 155. Die Konfirmationsagende bringt wenig mehr. Vgl. Konfirmation: Agende, 61, 117, 155.

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man sie aus den besonderen Umständen heraus erklärt. Sünde wird als solche überhaupt kaum erkannt, weil Gott als Bezugspunkt fehlt oder ein falsches Sündenverständnis vorhanden ist. In dieser Situation haben Kirche und christliche Gemeinde die Aufgabe, einerseits auf verstehbare Weise zu sagen, was Sünde ist, andererseits aber auch Vergebung und Erfahrung von Lebenssinn anzubieten.29 Es gehört unabdingbar zum Menschsein dazu, dass Schuld wahrgenommen und bearbeitet und nicht auf billige Weise entschuldigt wird.30 Oft beklagt man die Orientierungslosigkeit vieler Menschen in unserer Zeit und einen fortschreitenden Werteverfall. Gerade in diesem Kontext ist es wichtig, dass über Freiheit und Schuld, über Sünde und Vergebung gesprochen wird.31 Es wäre deshalb falsch, wenn die Kirche ihren Vorlauf an Lebenswissen unter dem Einfluss des Zeitgeistes aufgäbe und die Vollzüge von Beichte und Absolution aus ihren Gottesdiensten verdrängen ließe. Vor allem die lutherische Kirche mit ihren vielfältigen Formen von Sündenbekenntnis und Absolution würde damit ein Proprium ihrer Theologie preisgeben. Die Bemühungen um die Beichte im Gottesdienst können aber nur erfolgreich sein, wenn die Beichte immer wieder theologisch reflektiert wird. Der nur traditionellen Verwendung der Beichte und dem schematischen Aufsagen von Sündenbekenntnis und Absolution muss entgegengewirkt werden. Das ist allein schon durch den Wechsel der Texte sowie durch inhaltliche Akzentuierung möglich, die die Beichte innerhalb des Gottesdienstes in unterschiedliche Zusammenhänge stellt. Auf keinen Fall kann die gottesdienstliche Beichte die Einzelbeichte ersetzen. Jede Beichtform hat ihre eigene Berechtigung. Deshalb wäre es auch fatal zu glauben, dass die Beichte im Gottesdienst zu Gunsten einer 29 „Über die Schuldlösung im Zusammenhang der Seelsorge hinaus hat die Kirche als Ort der Versöhnung im Gefälle der fünften Bitte des Vaterunsers auch eine Praxis der Versöhnung und Verzeihung zwischen den Menschen in Kirche und Gesellschaft zu ermöglichen […] Verständigung und Konsens in der durch Mißverstehen und Konflikt bestimmten Gesellschaft durch vermittelndes Tun zu fördern ist die aus der Gabe der Vergebung der Sünden folgende Aufgabe der Kirche.“ Genest, Schuld, 587. 30 „Wahrnehmung von Schuld ist nicht nur ein Zeichen von Verstrickung und Elend, sondern auch von Verantwortlichkeit und Freiheit des Menschen. Arbeit an der Schuld ist daher durchaus Arbeit für die Mündigkeit und Menschlichkeit des Menschen.“ Genest, Schuld, 587. 31 „Die neuzeitliche Autonomie, die sich programmatisch von der christlichen Theonomie absetzte, ist so in eine Heteronomie (man macht, was ‚man‘ macht) geraten, die sie noch nicht einmal als solche erkennt. In einer solchen Lage ist eine neue Wahrnehmung von Schuld (die ja die Kehrseite von Freiheit und Verantwortung ist) eine humane Aufgabe. Sie kann nur über eine Selbstbesinnung des einzelnen Menschen erfolgen. Die Kirchen als Sachwalter von Theonomie sollten hier das ihre einbringen: eine vertiefende Wahrnehmung von Schuld und das aufrichtende Wort von der Versöhnung.“ Genest, Schuld, 586.

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Wiedereinführung der Einzelbeichte abgeschafft werden müsste. Man würde wahrscheinlich das eine verlieren, ohne das andere zu gewinnen.32 Der hier aufgezeigte Weg ist realistischer und verspricht mehr. Wenn die christliche Gemeinde in ihren Gottesdiensten weiterhin glaubwürdig und nachvollziehbar Schuld bekennt und Versöhnung feiert, wird das auch Auswirkungen auf Kirche und Gesellschaft haben.

32 „Die Diskussion um die Beichte im Gottesdienst ist von Vor-Urteilen belastet. So orientiert man sich mehr unbewußt, manchmal aber auch direkt ausgesprochen, an der Privatbeichte. Sie gilt als Idealform mit der dichtesten Konzentration dessen, was man sich unter Beichte vorstellt. Sie wird als die Spitze einer Pyramide verstanden. Immer weiter von ihr entfernt folgen dann beichtartige Handlungen mit zum Schluß nur noch geringen Spurenelementen, etwa in einem hochformalisierten Confiteor nach der Predigt. Diesem Bild muß widersprochen werden. Es geht vielmehr um eine eigenständige Bewertung der einzelnen Beichtvorgänge.“ Kugler, Beichte, 26.

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Abkürzungen Die verwendeten Abkürzungen richten sich nach: Schwertner, Siegfried M.: TRE Abkürzungsverzeichnis. Berlin 21994 (TRE Sonderband). Die davon abweichenden Abkürzungen sind wie folgt aufzulösen: ABl(Sa) AEKU AELKG

AELKG(E) EG(BD) EG(BTh) EG EGb

EGb(Eb)

EKO(R)

Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens Agende für die Evangelische Kirche der Union. Bd. 1: Die Gemeindegottesdienste. Witten o. J. [1959]/ Bielefeld 3 1981 Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 1: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Heiligem Abendmahl und die sonstigen Predigt- und Abendmahlsgottesdienste. Berlin 1957 Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden: Entwurf. Bd. 1: Der Gemeindegottesdienst. 4 Teile. o. O. 1951–1953 Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Baden. Karlsruhe 1995 Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die EvangelischLutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. München/ Weimar o. J. [1994] Evangelisches Gesangbuch: Ausgabe für die EvangelischLutherische Landeskirche Sachsens. Leipzig 1994 Evangelisches Gottesdienstbuch: AGENDE für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands/hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Berlin/Bielefeld/ Hannover 1999 Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands/hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union. Berlin u. a. 2002 Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts: Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangelischen Kirche in

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ErA(V) e. Ü. GAGF HLW(S-L/B) KO KOO MiS o. A.

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Deutschland/hg. von Aemilius Ludwig Richter. 2 Bd. Band 1: Vom Anfange der Reformation bis zur Begründung der Consistorialverfassung im J. 1542. Band 2: Vom Jahre 1542 bis zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Weimar 1846 Erneuerte Agende: Vorentwurf. Hannover/Bielefeld 1990 eigene Übersetzung Veröffentlichungen der Gemeinsamen Arbeitsstelle für Gottesdienstliche Fragen der EKD, Hannover Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche/hg. von Hans-Christoph SchmidtLauber und Karl-Heinrich Bieritz. Leipzig/Göttingen 1995 Kirchenordnung Kirchenordnungen Jungmann, Josef Andreas: Missarum Sollemnia: Eine genetische Erklärung der Römischen Messe. 2 Bd. Wien 51962 ohne Angabe

Literatur Quellen Agende für die Evangelische Kirche der Union. Bd. 1: Die Gemeindegottesdienste. Witten o. J. [1959]; Bielefeld 31981. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preussischen Landen: Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg. 2 Teile. Berlin 1829. Agende für die evangelische Landeskirche in Baden. Bd. 1: Ordnung der Gottesdienste. Karlsruhe 1996. Agende für die Evangelische Landeskirche. 2 Teile. Teil 1: Die Gemeindegottesdienste. Berlin 1895. Teil 2: Kirchliche Handlungen. Berlin 1895. Agende für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern. 2 Teile. Teil 1: Gebete. Teil 2: Kirchliche Handlungen. München 1852. Agende für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern: Mit vorangestellter Ordnung und Form des Hauptgottesdienstes an Sonn- und Festtagen: Revidirte und ergänzte Auflage des Agendenkerns von 1856. 2 Teile. Teil 1: Die öffentlichen Gottesdienste. Teil 2: Die heiligen Handlungen. Ansbach 1879. Agende für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen. 2 Teile. Teil 1: Ordnung des Gottesdienstes nebst musikalischem Teile. Teil 2: Besondere gottesdienstliche Handlungen. Leipzig 21906. Agende für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen. 2 Teile. Teil 1: Ordnung des Gottesdienstes nebst Formularen und musikalischem Anhang. Teil 2: Besondere gottesdienstliche Handlungen. Leipzig 1880. Agende für evangelische Kirchen. München 21844. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 1: Der Hauptgottesdienst mit Predigt und Heiligem Abendmahl und die sonstigen Predigt- und Abendmahlsgottesdienste. Berlin 1957. Agende für Evangelisch-Lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3: Die Amtshandlungen. Teil 1: Die Taufe. Hannover 1988. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden. Bd. 3: Die Amtshandlungen. Teil 3: Die Beichte. Hannover 1993. Agende für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden: Entwurf. Bd. 1: Der Gemeindegottesdienst. 4 Teile. Teil 1: Vorwort und Ordinarium. Teil 2: Kalendarium und Proprium. O.O. 1951. Teil 3: Sonstige Gemeindegottesdienste, Richtlinien allgemeiner Art. O.O. 1953. Teil 4: Berichtigungen und Ergänzungen sowie kritische Besprechung der zu Teil 1 und 2 geäußerten Bedenken und Änderungsvorschläge. O.O. 1953. Agenden=Kern für die evangelisch=lutherische Kirche in Bayern: Mit vorangestellter Ordnung und Form des Hauptgottesdienstes an Sonn- und

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Festtagen. 2 Teile. Teil 1: Die öffentlichen Gottesdienste. Teil 2: Die heiligen Handlungen. Nürnberg 1856. Altdeutsche Predigten aus dem Benedictinerstifte St. Paul in Kärnten/hg. von Adalbert Jeitteles. Innsbruck 1878. (Altdeutsche Handschriften aus Österreich; 1) Altdeutsche Predigten/hg. von Anton E[manuel] Schönbach. Bd. 1: Texte. Graz 1886. [Nachdruck: Darmstadt 1964] Arper, Karl/Zillessen, Alfred: Evangelisches Kirchenbuch. Bd. 1: Der Gottesdienst. Göttingen 51929. Begründung einer Gottesdienst-Ordnung für die evangelisch-protestantische Kirche im Grossherzogthum Baden: Vorlage des evangelischen Oberkirchenraths an die Generalsynode von 1855. Karlsruhe 1855. Brandenburg=Bayreuthisches | | Kirchen=Buch, | | worinnen | | der kurze Innhalt | | der Sonn= und Festtags=Episteln | | und | | Evangelien | | samt andern zum öffentlichen Gottesdienst | | dienlichen Gebeten und Handlungen | | begriffen sind, | | […]| | Bayreuth 1773. Bugenhagen, Johannes: Der ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529: De Ordeninge Pomerani/hg. und übersetzt von Hanns Wenn unter Mitarbeit von Annemarie Hübner. Hamburg 1976. [Nachdruck: Hamburg 2 1991] (AKGH; 13) Cantionale für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern: 5. Auflage des Musikalischen Anhangs zur Agende. 2 Bd./hg. vom Evang.-Luth. Landeskirchenrat in München. Ansbach 1941. Corpus Reformatorum. Bd. 1–28: Philipp Melanchthon: Opera […] omnia/ hg. von Karl Gottlieb Bretschneider und Heinrich Ernst Bindseil. Halle; Braunschweig 1834–1860. D. Martin Luthers Werke: kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883ff. DE ANTIQUIS | | ECCLESIAE | | RITIBUS | | LIBRI QUATUOR: | | […]| | LIBER PRIMUS. | | Complectens Historicum de Disciplina in Sacramentorum administratione | | Tractatum. | | PARS PRIMA. | | In qua de Baptismo, Confirmatione & Eucharistia agitur./hg. von Edmund Martène. Rotomagi [Rouen] 1700. Die Apostolischen Väter: Griechisch-deutsche Parallelausgabe […]/hg. von Andreas Lindemann u. Henning Paulsen. Tübingen 1992. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche/hg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 2 Bd. Göttingen 1930. Die Bussordnungen der abendländischen Kirche/hg. von F[riedrich] W[ilhelm] H. Wasserschleben. Halle/S. 1851. [Nachdruck: Graz 1958] Die evangelischen Kirchenordnungen des sechzehnten Jahrhunderts: Urkunden und Regesten zur Geschichte des Rechts und der Verfassung der evangelischen Kirche in Deutschland/hg. von Aemilius Ludwig Richter. 2 Bd. Band 1: Vom Anfange der Reformation bis zur Begründung der Consistorialverfassung im J. 1542. Band 2: Vom Jahre 1542 bis zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Weimar 1846. Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts/hg. von Emil Sehling u. a. Leipzig u. a. 1902ff. [Nachdruck: Aalen 1970]

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Vollständiges | | Kirchen=Buch, | | Darinnen | | Die Evangelia und Episteln | | auf alle Fest= Sonn= und Apostel=Tage | | durchs gantze Jahr, | | […] die Kirchen=Agenda, | | Ehe=Ordnung und allgemeinen Gebete, die in den Chur= Sächs. Ländern gebraucht werden, enthalten. Leipzig 1743 (1748). Vollständiges | | Kirchen=Buch, | | Darinnen | | Die Evangelia und Episteln | | auf alle Fest= Sonn= und Apostel=Tage | | […] Die Kirchen= | | Agenda, Ehe=Ordnung, und allgemeinen | | Gebete, | | Die in den Chur=Sächß. Ländern gebraucht werden, | | enthalten | | […] Leipzig 1707. Werkbuch Gottesdienst/hg. von Gerhard Schnath. Wuppertal 1967. Wittenwiler, Heinrich: Ring: Nach der Meininger Handschrift/hg. von Edmund Wiessner. Leipzig 1931. (Realistik des Spätmittelalters; 3)

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Anhang Nr. 1: Sangaller Beichte I (Anfang 11. Jh.)1 „[1]2 Hich gio cote almactigen unde minro froun sancte Mariun unde sancte Petre unde allen cotes heiligon unde dir gotes poten allero minero súndeno, thio hich hio in uuerelte keteta alde gefrúmeta fone demo tage, sosich erist sundon mogta, unzan annen tisin hiutigin dag, suuio hich so getate, [2] sosez in uuerchen uuare, sosez in uuorten uuare aldez in gedanchen uuare, [3] sose hich ez kerno tate, sose hich ez ungerno tate, sose hich ez slafendo tate, sose hich ez uuachendo tate, sose hich ez uuizendo tate, sose hich ez unuuizindo tate. [4] Ze souuelero uuîs hich ez tate, uuandez mich riut, so pittich áblazis den alemactegon got, froun sancte Mariun unde sancte Petren unde alle gotes engila unde alle gotes heiligen unde dich gotes poten, an dén uuorten, daz hich ez furder firmîden mueze. ‚In den uuorten so tuen hich hiu ablaz fone gote unde fone sancte Mariun unde fone sancte Petre unde fone allen gotes heiligon, so filo hich keuualdes háben anfangen, allero hiuero sundeno.‘“ („[1] Ich bekenne dem allmächtigen Gott und meiner Herrin3 Sankt Maria und Sankt Petrus und allen Heiligen Gottes und dir, Gottes Boten, alle meine Sünden, die ich jemals auf Erden getan oder veranlasst habe seit dem Tage, da ich sündigen konnte, und bis zu diesem heutigen Tag, wenn ich auf irgendeine Weise so getan habe, [2] ob es in Werken war, ob es in Worten war oder in Gedanken war, [3] ob ich es gern tat, ob ich es 1 Zitiert nach: Sprachdenkmäler, 340,1–341,15 (e. Ü.). An den althochdeutschen Text schließt sich ein kurzes Glaubensbekenntnis an, das das Erlösungswerk Christi hervorhebt und in eine nochmalige Bitte um Sündenvergebung mündet. 2 In eckigen Klammern sind die Teile des viergliedrigen Beichtschemas markiert: [1] Beichtempfängerformel (Anrufung Gottes, aller Heiligen und des beichthörenden Priesters), [2] Katalog von Tat- und Gedankensünden, die in Substantiven aufgezählt werden, [3] Katalog von Unterlassungssünden in ganzen Sätzen gegen Kirchen- und Christenpflichten, [4] Wiederholung der Anrufung der Beichtempfänger, Bitten um Sündenvergebung und Besserungsversprechen, evtl. Reuezusatz (bei jüngeren Texten); s. o. 39, Anm. 94. 3 Die Übersetzung des ahd. frouwa mit „Herrin“ mag ungewöhnlich erscheinen. Dennoch ist der Bedeutungsgehalt „Jungfrau“ (ahd. = jungfrouwa, mhd. = juncvrouwe) nicht intendiert, sondern „Herrin, vornehme Frau, hohe Frau“. Vgl. Köbler, Gerhard: Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes. Paderborn u. a. 1993, S. 334, 644. Dies wird deutlich in dem Text aus der Leipziger Predigthandschrift (s. Anh. Nr. 6), in dem beide Bedeutungen vorkommen ([1] und [4]).

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ungern tat, ob ich es schlafend tat, ob ich es wachend tat, ob ich es wissend tat, ob ich es unwissend tat. [4] Auf welche Weise ich es auch immer getan habe, reut es mich doch, so bitte ich den allmächtigen Gott um Vergebung, die Herrin Sankt Maria und Sankt Petrus und alle Engel Gottes und alle Heiligen Gottes und dich, Gottes Boten, unter der Bedingung, dass ich es fortan vermeiden möge. ‚Unter der Bedingung gewähre ich euch Ablass aller eurer Sünden von Gott und von Sankt Maria und von Sankt Petrus und von allen Heiligen Gottes, so sehr ich Vollmacht habe fortzunehmen.“‘) Nr. 2: Confiteor nach Bernold von Konstanz (11. Jh.)4 „Confiteor Deo omnipotenti, istis sanctis et omnibus sanctis et tibi, frater, quia peccavi in cogitatione, in locutione, in opere, in pollutione mentis et corporis. Ideo precor te, ora pro me. Misereatur tui omnipotens Deus, et dimittat tibi omnia peccata tua, liberet te ab omni malo, et confirmet te in omni opere bono, et perducat nos pariter Jesus Christus Filius Dei vivi in vitam aeternam. Amen. Indulgentiam et remissionem omnium peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens et misericors Dominus. Amen.“ („Ich bekenne dem allmächtigen Gott, diesen Heiligen und allen Heiligen und dir, Bruder, dass ich gesündigt habe in Gedanken, in Worten, in Werken [und] in der Befleckung des Geistes und des Körpers. Deshalb bitte ich dich: Bete für mich. Es erbarme sich deiner der allmächtige Gott und lasse dir alle deine Sünden nach, er befreie dich von allem Übel und bestärke dich in jedem guten Werk, und in gleicher Weise führe uns Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, zum ewigen Leben. Amen. Vergebung und Nachlass aller unserer Sünden gewähre uns der allmächtige und barmherzige Herr. Amen.“) Nr. 3: Sangaller Beichte II (12. Jh.)5 „[1] In demo gelôb so pigí ih dem allemahtigen got unt disene heiligen unt dir, priest, aller mîner sunton, der íh ie gedahte oder gefrumete fone mîner 4 Zitiert nach: PL 151, 992 C. Dieses Confiteor ist dem „Micrologus“ des Bernold von Konstanz entnommen. Der Text gilt als eine der ältesten Confiteor-Formeln. Vgl. Klaus, Rüstgebete, 531f. (Übersetzung von Klaus, Klaus, Rüstgebete, 531f.) 5 Zitiert nach: Sprachdenkmäler, 344,1–10 (e. Ü.). Der mittelhochdeutschen Offenen Schuld geht ein Glaubensbekenntnis in der Form des Apostolikums voraus, das mit einer Abrenuntiationsformel eingeleitet wird. Davor steht eine Art Vermahnung in

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tôfi unz an disen hiutegen tag [2] mit huor, mit huores gelusten: [4] daz riwet mi unt irgibi mi sculdigen demo almahtigen got unt disene heiligon unt allen gotes heiligon unt tîr priestere ze warere pikerde unt ze williger puezze. amen. Misereatur. habent îr diz getan míttér innikheit iures muotes unt uuelt ir daz irfollen mittin werken, daz ir mitimund gesprochen habent, sóst iu offene mînes trehttines genade uber allez taz, des irn hie pitint piert, nah der salikheite iurs lîbes unt iur sela. +“ („[1] In dem Glauben bekenne ich dem allmächtigen Gott und diesem Heiligen6 und dir, Priester, alle meine Sünden, an die ich jemals gedacht oder die ich getan habe seit meiner Taufe bis zu diesem heutigen Tag [2] mit Ehebruch, mit ehebrecherischen Begierden: [4] das reut mich und ich ergebe mich schuldig dem allmächtigen Gott und diesem Heiligen und allen Heiligen Gottes und dir, Priester, zu wahrer Umkehr und zu williger Buße. Amen. Misereatur. Habt ihr das getan mit der Andächtigkeit eures Sinnes und wollt ihr das mit Werken ausführen, was ihr mit dem Mund gesprochen habt, so gilt euch die volle Gnade meines Herrn über alles das, was ihr ihm bittend vorbringt, bei dem Heil eures Leibes und eurer Seele. +“) Nr. 4: Beichte aus St. Paul III (13./14. Jh.)7 „[1] Nâh disem glouben sô gib ich mich schuldich [2] mit worten, mit werchen, [4] und bit mîn vrowen sant Marîen uud [und] allez himelische her, daz si mir werven ein vrist mînes lebens, daz ich gebuoze mîn sunde, daz si iht gespart werden mîner sêle. Âmen.“ lateinischer Sprache, zwischen deren Zeilen eine mittelhochdeutsche Übersetzung eingetragen ist. 6 Mit „diesem Heiligen“ könnte sowohl der Heilige des Tages (auf ihn wurde oft im Pronaus hingewiesen) als auch der Schutzheilige der entsprechenden Kirche gemeint sein. Eine ähnliche Formulierung, allerdings im Plural, findet sich im Confiteor nach Bernold von Konstanz (s. o. Nr. 2) sowie in der Beichte der Leipziger Predigthandschrift (s. u. Nr. 6). Konkreter werden diese Heiligen in der 1. confessio von Surgant bestimmt (s. u. Nr. 11 unter [4]). Erst in den reformatorischen Texten fehlen die Heiligen als Beichtempfänger. 7 Altdeutsche Predigten/hg. von Jeitteles, 2 (e. Ü.). Die Handschrift wird auf das Ende des 13. oder den Anfang des 14. Jh. datiert. Als Herkunftsland nimmt man Österreich oder Bayern an. Vor dieser kurzen Offenen Schuld stehen ein Vaterunser, eine Abrenuntiationsformel und ein dem Apostolikum ähnliches Glaubensbekenntnis, bei dem der 3. Artikel fehlt. Es folgt ein Ave Maria. Diese Stücke leiten eine Predigtsammlung ein, so dass auf ihren gottesdienstlichen Gebrauch im Pronaus geschlossen werden kann.

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(„[1] Entsprechend diesem Glauben bekenne ich mich schuldig [2] mit Worten, mit Werken, [4] und bitte meine Herrin Sankt Maria und das ganze himmlische Heer, dass sie mir eine Zeit meines Lebens gewähren, damit ich meine Sünden büße, dass sie meiner Seele nicht erhalten werden.8 Amen.“) Nr. 5: Baumgartenberger Beichte (14. Jh.)9 „Dar nâh sprecht nâh mir di gemain pîcht, das uns got vergeb alle unser sunde und uns verleih eines gûten endes von diser welde. Confessio generalis [1] Ich sundiger Mensch gib mich schuldich dem almehtigen got, mîner freuwen sand Marein und allen gotes heiligen und eu, priester, an gotes stat, das ich gesundet hân [2] mit gedanken, mit worten, mit werken, mit neide, mit hazze, mit zorn, mit spotten, [3] mit trâcheit an gotes dienst, mit samt meinen fumf sinnen wider di zehen gebot unsers herren, wider die sieben heilchait des christentûms, wider die siben gâb des heiligen geistes, wider die sechs werk der barmherzecheit. wie ich gesundet hân, wizzend oder unwizzend, danches oder undanches, herre got, das reuwet mich. [4] Dar umbe pit ich mîn freuwen sand Marein und alle heiligen, das sie got fur mich pitten, das er mich also lange friste in diesem leben, das ich gebûzze alle mîn sunde und verdien sîn hulde. und pit euch, priester, das ier mir antlâs sprechet uber alle mein schulde. Sequitur indulgencia Wâren antlâs und daz êwige leben verlîhe uns der almehtige got. Alle die heut dâ her komen sint got und sînen heiligen ze lobe, der chirchen zuo gehôrsam, und di das gotes wort gehôrt haben mit rehtem gelouben, di enphôhen ze trôste ieren sêln sô manigen tag ier gesatzten pûze.10 Den antlâs und alle di gnâde, di heut begangen wirt uber alle di heiligen christenhait, di bestêtig uns der vater und der sun und der heilige geist. Amen.“ 8 Es war ein wichtiger Gesichtspunkt, im Leben genügend Zeit für die Abbüßung der zeitlichen Sündenstrafen zu haben. Diese Bitte taucht in manchen vorreformatorischen Beichtformeln auf. 9 Zitiert nach: Müllenhoff/Scherer, 2, 458,59–459,79 (e. Ü.). Der neuhochdeutschen Offenen Schuld mit Gebetsaufforderung und Absolution gehen voraus: eine kurze Mitteilung über den Heiligen des Tages, die Vermahnung zum Allgemeine Gebet, das Vaterunser ohne Schlussdoxologie, das Ave Maria und ein erweitertes Apostolikum ; vgl. Müllenhoff/Scherer, 2, 457,1–458,58. 10 Die Herausgeber vermuten, dass dieser Satz entweder verderbt ist oder die Bedeutung hat, dass eine in das Belieben des Geistlichen gestellte Anzahl von Tagen als Ablass für das Predigthören gewährt wird. Vgl. Müllenhoff/Scherer, 2, 459.

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(„Danach sprecht mir die allgemeine Beichte nach, damit uns Gott uns alle unsere Sünde vergebe und uns einen guten Abschied von dieser Welt verleihe. (Allgemeine Beichte) [1] Ich sündiger Mensch bekenne dem allmächtigen Gott, meiner Herrin, Sankt Maria, und allen Heiligen Gottes und euch, Priester, an Gottes Statt, dass ich gesündigt habe [2] mit Gedanken, mit Worten, mit Taten, mit Neid, mit Hass, mit Zorn, mit Spotten, [3] mit Trägheit am Dienst für Gott mit all meinen fünf Sinnen gegen die zehn Gebote unseres Herrn, gegen die sieben Sakramente des Christentums,11 gegen die sieben Gaben des Heiligen Geistes,12 gegen die sechs Werke der Barmherzigkeit.13 Wie ich auch immer gesündigt habe, wissend oder unwissend, absichtlich oder unabsichtlich, Herr Gott, das reut mich. [4] Darum bitte ich meine Herrin, Sankt Maria, und alle Heiligen, dass sie Gott für mich bitten, damit er mich so lange in diesem Leben erhalte, dass ich Buße leiste für alle meine Sünde und seine Gnade verdiene.14 Und ich bitte euch, Priester, dass ihr mir Vergebung zusagt über alle meine Schuld. (Es folgt die Vergebung ) Wahre Vergebung und das ewige Leben verleihe uns der allmächtige Gott. Alle, die heute hierher gekommen sind, Gott und seinen Heiligen zum Lob, der Kirche zum Gehorsam, und die das Wort Gottes mit rechtem 11 Bis ins 12. Jh. blieb die Zahl der Sakramente uneinheitlich. Erst um die Mitte des 12. Jh. setzte sich die Siebenzahl durch, die bis heute in der Lehre der röm.-kath. Kirche festgeschrieben ist: Taufe, Firmung, Eucharistie, Bußsakrament, Krankensalbung, Weihesakrament und Ehe. Vgl. Koch, Günter: Art. „Siebenzahl der Sakramente“, in: Lexikon der katholischen Dogmatik/hg. von Wolfgang Beinert. Leipzig 1988, 466f. Vgl. Die religiösen und kirchlichen Zustände der ehemaligen Reichsstadt Biberach unmittelbar vor Einführung der Reformation: Geschildert von einem Zeitgenossen/hg. von A. Schilling. FDA 19 (1887), 10. 12 Die sogenannten sieben Gaben des Heiligen Geistes gehen auf Jes 11,1f zurück. Zu ihnen gehören im Anschluss an die Lehre des Thomas von Aquin Verstand, Wissenschaft, Weisheit, Rat, Frömmigkeit, Furcht und Stärke. Vgl. Dander, Franz: Art. „Gaben des Hl. Geistes“, LThK2 4 (1960), 478–480. Vgl. Die religiösen und kirchlichen Zustände, 11. 13 Die sechs Werke der Barmherzigkeit leiten sich von Mt 25,35f ab: Speisen von Hungrigen, Tränken von Durstigen, Aufnehmen von Fremden, Kleiden von Bedürftigen, Besuchen von Kranken, Trösten von Gefangenen. Im 4. Jh. fügte Lactantius noch das Begraben der Toten hinzu, so dass die bis auf die Kirchenväter zurückreichende Tradition sieben Werke der leiblichen Barmherzigkeit kennt. Dazu kommen noch die sogenannten sieben Werke der geistigen Barmherzigkeit (Unwissende belehren, Zweifelnden raten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, Beleidigern verzeihen, Lästige und Schwierige ertragen, für alle beten). Vgl. Völkl, Richard: Art. „Werke der Barmherzigkeit“, LThK2 10 (1965), 1052–1054. Manchmal werden nur 6 Werke der leiblichen Barmherzigkeit genannt, weil man Speisen und Tränken als zusammengehörig betrachtete, vgl. Die religiösen und kirchlichen Zustände, 10. 14 S. o. Anm. 8.

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Glauben gehört haben, empfangen zum Trost für ihre Seelen so manchen Tag ihrer auferlegten Buße.15 Die Vergebung und all die Gnade, die heute ins Werk gesetzt wird über die ganze heilige Christenheit, die bestätige uns der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.“) Nr. 6: Beichte aus der Leipziger Predigthandschrift (14. Jh.)16 „[1] Ich gebe mich hute schuldich unserm herre got und miner vrowen sente Marien, disen genedigen heiligen und allen gotes heiligen und euch, pristere, aller der sunden der ich ie teht sint den male daz ich sundigen mochte. [3a] swie ich sie getan habe, wizzende oder unwizzinde, dankes oder undankes, slafende oder wachende, swie ich si getan habe, so ruwent si mich. ich bejech daz ich zu gotes dineste nie so dicke noch so gern enquam als ich zu rechte solde; als ich dar quam, daz ich mit deme gebete aller der den ich gebetes phlichtich was, der lebenden und der toten, nie so vlizecliche noch so innecliche gedachte also ich zu rechte solde. ich bejech ouch daz ich den heiligen gotes lichnam nie so enphinch mit so rechtem gelouben noch mit so grozer innicheit noch reinicheit mines libes und miner sele als dem almechtigen gote zeme und mir sundigen menschen gut were zu libe und zu sele. ich bejech ouch daz mich mine sunde nie so geruwen noch ich sie nie so innecliche geclagete noch geweinnete noch gebichte als ich von rechte solde. ich bejech ouch daz ich die heiligen vesteltage und die heiligen tage nie so gevaste noch gevierete als ich zu rechte solde. ich bejech ouch daz ich den zehende mines libes noch mines gutes nie gote mit geteilte noch gegab als ich zu rechte solde. ich bejech ouch daz ich sin gebot nie so ervullete noch in nie so geminnete noch geerte als 15 S. o. Anm. 10. 16 Handschrift der Universitätsbibliothek Leipzig, Nr. 760,25b-26b (e. Ü.). Anfang des 14. Jh. Zitiert nach: Altdeutsche Predigten/hg. von Schönbach, Nr. 10, 46,36–47,35. Nach einer Abrenuntiationsformel folgen ein erweitertes Apostolikum und die hier wiedergegebene Offene Schuld. Daran schließen sich ein Kyrie („herre, genade! herre Crist, genade! herre got, genade!“ – Der Kyrie-Ruf wird hier bereits entgegen seiner ursprünglichen Intention mit dem Sündenbekenntnis verbunden!) und das Vaterunser an, dem eine Art Paraphrase der 4. und 5. Bitte folgt. Der Komplex ist wieder in einer Predigtsammlung enthalten und wird wohl als Pronaus verwendet worden sein. Ungewöhnlich ist hierbei die Erklärung der 4. und 5. Vaterunserbitte. Während der Herausgeber darin ein Beispiel für die Auslegung des gesamten Vaterunsers erkennen will (vgl. Altdeutsche Predigten/hg. von Schönbach, 402), ist eher daran zu denken, dass die Erklärung dieser beiden Bitten auf das nachfolgende Abendmahl ausgerichtet war. Obwohl eine direkte allegorische Deutung der Brotbitte auf den Abendmahlsempfang fehlt, wird die Bitte um das tägliche Brot gleichgesetzt mit der Bitte um Gottes Gnade für die Seele. Daran schließt sich die Erkenntnis an, dass Gottes Gnade nicht erlangt werden könne, solange man nicht denen vergibt, die einem weh tun oder die einen hassen.

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ich zu rechte solde. ich bejech ouch daz ich minen vater und mine muter, brudere, swestere, mine mage, mine herschaft, mine maisterschaft, min ebencristen nie so geminnete noch so underdeinich was noch so getruwe als ich zu rechte solde. [2] ich bejech ouch daz ich gesundiget habe mit gedanken, mit worten, mit werken, mit uber aze, mit ubertranke, an hure, an uberhure, an sippehure, an hures gelust, mit homute, mit hubescheit, mit spotte, mit nyde, mit hazze, mit gyricheit, mit zorne, mit vorretnisse, mit valschem gezuge, mit morde, mit rube, mit brande, mit untruwe, an aftersprache, ane dube, an lugene und an trugene, an meineide, an ungehorsamicheit, an ungedult, an yteler ere, an werltlichem rume, an ungevuger vroude, an unrechteme gelouben, [3b] und daz ich mire selben baz gutes gunde danne mime ebenchristen, an tunde daz ich lazen solde, an lazende daz ich tun solde. [4] dirre sunde der ich nu gedenke oder niht gedenke, der gib ich mich hute schuldich und bitte dich, herre got, durch diner muter willen, der ewigen magt sente Marien, und aller gotes heiligen daz du mich also lange geruches zu vristene an disime libe biz ich mine sunde gewandele nach dinen genaden und nach minen notdurften und dine hulde erarnen muze. des such ich, herre, dine genade;“ („[1] Ich bekenne heute Gott, unserem Herrn, und meiner Herrin, Sankt Maria, diesen gnädigen Heiligen und allen Heiligen Gottes und euch, Priester, alle Sünden, die ich jemals begangen habe, seitdem ich sündigen konnte. [3a] Wie immer ich sie begangen habe, wissend oder unwissend, absichtlich oder unabsichtlich, schlafend oder wachend, wie immer ich sie begangen habe, so reuen sie mich. Ich bekenne, dass ich zum Gottesdienst niemals weder so oft noch so gern kam, wie ich zu Recht sollte; und wenn ich dorthin kam, dass ich mit Gebet aller derer, denen ich Gebet schuldig war, der Lebenden und der Toten, niemals weder so eifrig noch so andächtig gedachte, wie ich zu Recht sollte. Ich bekenne auch, dass ich den heiligen Leichnam Gottes niemals weder mit so rechtem Glauben noch mit so großer Andacht noch Reinheit meines Leibes und meiner Seele empfing, wie dem allmächtigen Gott zukommt und mir sündigem Menschen gut wäre für Leib und Seele. Ich bekenne auch, dass mich meine Sünde niemals weder so gereut hat, noch ich sie so inniglich geklagt noch beweint noch gebeichtet habe, wie ich zu Recht sollte. Ich bekenne auch, dass ich an den heiligen Fasttagen und den heiligen Tagen niemals weder so gefastet noch gefeiert habe, wie ich zu Recht sollte. Ich bekenne auch, dass ich den zehnten Teil meines Lebensunterhaltes oder Besitzes niemals weder Gott mitteilte noch gab, wie ich zu Recht sollte. Ich bekenne auch, dass ich sein Gebot niemals weder so erfüllte noch ihn so liebte noch ehrte, wie ich zu Recht sollte. Ich bekenne auch, dass ich meinen Vater und meine Mutter, Brüder, Schwestern, meine Dienstleute, meine Obrigkeit, meine Vorgesetzten, meinen Mitchristen niemals weder so geliebt habe noch so untergeben noch so treu war, wie ich zu Recht sollte. 285

[2] Ich bekenne auch, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, mit Worten, mit Werken, mit übermäßigem Essen, mit übermäßigem Trinken, mit Hurerei, mit Ehebruch, mit Blutschande, mit ehebrecherischer Begierde, mit Hochmut, mit höfischem Wesen, mit Spott, mit Neid, mit Hass, mit Habgier, mit Zorn, mit Verrat, mit falschem Zeugnis, mit Mord, mit Raub, mit Brand, mit Untreue, mit Nachrede, mit Diebstahl, mit Lügen und Betrug, mit Meineid, mit Ungehorsam, mit Ungeduld, mit vergeblichem Ruhm, mit weltlichem Gepränge, mit übermäßigem Frohsinn, mit unrechtem Glauben, [3b] und dass ich mir selbst mehr Gutes gönnte als meinem Mitchristen, mit Tun, das ich lassen sollte, mit Unterlassenem, das ich tun sollte. [4] Diese Sünde, an die ich mich nun erinnere oder nicht erinnere, bekenne ich heute und bitte dich, Herr Gott, um deiner Mutter willen, der ewigen Jungfrau Sankt Maria, und aller Heiligen Gottes, dass du mich so lange beliebst in diesem Leib zu erhalten, bis ich meine Sünde getilgt habe nach deiner Gnade und nach meinen Bedürfnissen und deine Huld erwerben kann. So suche ich, Herr, deine Gnade.“) Nr. 7: Confiteor aus dem Kloster Fécam, (14. Jh.)17 „Ego reus & indignus sacerdos confiteor Deo caeli, & Beatae Mariae Virgini, & omnibus sanctis ejus, & vobis fratres & sorores, quia ego miser peccator peccavi nimis contra legem Dei, cogitatione, locutione, tactu, visu, verbo, mente, & opere, & in cunctis altiis vitiis meis malis, Deus, mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa: ideo deprecor te, piissima Virgo Maria, & omnes Sancti, & sanctae Dei, & vos fratres & sorores, ut oretis pro me miserrimo peccatore apud Dominum Deum nostrum omnipotentem, ut ipse misereatur mei. Clerici respondeant: Misereatur tui, &c. Sacerdos respondeat: Amen. Postea dicat: Per gratiam Sancti Spiritus Paracliti, & per intercessionem B. & gloriosae semper Virginis Mariae, & per merita Beatorum Apostolorum tuorum Petri & Pauli, & omnium Sanctorum & Sanctarum, misereatur vestri omnipotens Deus, & dimittat vobis peccata vestra, liberet vos ab omni malo, conservet & confirmet vos in omni opere bono, & perducat vos ad vitam aeternam. Amen.

17 Zitiert nach: DE ANTIQUIS | | ECCLESIAE | | RITIBUS | | LIBRI QUATUOR: | | […] | | LIBER PRIMUS. | | Complectens Historicum de Disciplina in Sacramentorum administratione | | Tractatum. | | PARS PRIMA. | | In qua de Baptismo, Confirmatione & Eucharistia agitur./hg. von Edmund Martène. Rotomagi [Rouen] 1700, 600f (e. Ü.). Deutlich erkennbar ist der Textzuwachs gegenüber dem Confiteor aus dem 11. Jh. (s. o. Nr. 2).

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Indulgentiam, absolutionem, & remissionem omnium peccatorum vestrorum, & spatium verae poenitentiae & emendationem morum, & vitae gratiam & consolationem S. Spiritus, cor contritum & vere poenitens, munditiam mentis & corporis, perseverentiam in bonis operibus, vitam bonam, & exitum bonum tribuat nobis & vobis omnipotens Pater, pius & misericors Dominus. Amen.“ („‚Ich schuldiger und unwürdiger Priester bekenne Gott im Himmel, der seligen Jungfrau Maria, allen seinen Heiligen und euch, Brüder und Schwestern, dass ich elender Sünder allzu sehr gesündigt habe gegen das Gesetz Gottes in Gedanken, Worten, Berührung, Sehen, im Reden, im Geist und im Werk; in allen meinen bösen, tiefen Fehlern. Gott, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine sehr große Schuld: Deshalb bitte ich dich, gottesfürchtige Jungfrau Maria, alle Heiligen Gottes18 und euch, Brüder und Schwestern, dass ihr für mich elendesten Sünder vor unserem allmächtigen Gott, dem Herrn, bittet, damit er sich selbst meiner erbarme. Die Kleriker sollen antworten: ‚Es erbarme sich deiner usw.‘ Der Priester soll antworten: ‚Amen.‘ Danach soll er sagen: ‚Durch die Gnade des Heiligen Geistes, des Trösters, und durch das Eintreten der seligen und immer glorreichen Jungfrau Maria und durch die Verdienste deiner seligen Apostel Petrus und Paulus und aller Heiligen19 erbarme sich euer der allmächtige Gott und lasse euch eure Sünden nach, er befreie euch von allem Bösen, bewahre und bestärke euch in allem guten Werk und führe euch zum ewigen Leben. Amen. Vergebung, Absolution und Nachlass aller eurer Sünden, eine Frist für wahre Buße,20 Besserung des Lebenswandels, Trost und Gnade des Heiligen Geistes für das Leben, ein reuiges und wahrhaft büßendes Herz, Reinheit von Geist und Leib, Beharrlichkeit in guten Werken, ein gutes Leben und ein gutes Ende gewähre uns und euch der allmächtige Vater, der treue und barmherzige Herr. Amen.‘“ Nr. 8: Beichte aus Wittenwilers Ring (15. Jh.)21 „[1] Ich sündiger mensch, ich gib mich schuldig unserm herren got, meiner frawen sant Marien und allen gottes hailigen und auch euch, priester, 18 Im lateinischen Text wird zwischen männlichen und weiblichen Heiligen unterschieden. 19 S. o. Anm. 18. 20 S. o. Anm. 8. 21 Wittenwiler, Ring, 149f (e. Ü.). Auch wenn es sich hierbei um einen literarischen Text handelt, lässt sich aus der Prosa-Form und dem Kontext schließen, dass der Verfas-

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an gotz stat, daz ich grössleich gesündet han [2a] mit worten und mit werken, mit gedenchnüss und auch mit verlässechait [3] an den zehen gepotten unsers schepfers, daz ich die nicht behalten han; an den sechs werchen der erbärmde, daz ich die nicht begangen han; an den siben hailichait, daz ich die nicht geeret han; mit den siben totsünden; an den siben gaben des hailigen gaistes, daz ist an gottes forcht, an güetichait, an kunst, an sterk wider die sünd, an rat, an sin und auch an weisshait. [2b] Ich derken auch, daz ich gesündet han mit meinen fünf sinnen, daz ist mit gesicht, mit gehörd, mit smakung, mit costung und auch mit der rüerung, und auch mit andern dingen, daz ist mit untugend, mit spot, mit hinterred, mit hass, mit liegen, mit triegen und auch mit zergänchleichen fröden, mit üppig er, mit zweiflen an cristem gelauben, mit ungedultikait, mit ungnaden, mit ungehorsami meinen obren, mit unstätichait an guotem fürsatz, mit übergen der hailigen gpott der kirchen. [4] Wie ich mich verschult han, es sei wissend oder vergessen, daz ist mier laid und rüwet mich von gantzem meinem hertzen und pitt mein frawen sant Marien und alle gottes hailigen und euch, priester, daz ier mier gnad und antlass meiner sünd umb got derwerbent und nach disem leben die ewigen sälichait. Amen.“ („[1] Ich sündiger Mensch bekenne Gott, unserem Herrn, meiner Herrin Sankt Maria und allen Heiligen Gottes und auch euch, Priester, an Gottes Statt, dass ich aufs höchste gesündigt habe [2a] mit Worten und mit Werken, mit Gedanken und auch mit Unterlassen [3] an den zehn Geboten unseres Schöpfers, dass ich die nicht gehalten habe; an den sechs Werken der Barmherzigkeit,22 dass ich die nicht getan habe; an den sieben Sakramenten,23 dass ich die nicht geehrt habe; mit den sieben Todsünden;24 an den sieben Gaben des Heiligen Geistes, das ist an Gottesfurcht, an Frömmigkeit, an Kenntnis, an Stärke gegen die Sünde, an Überlegung, an Verstand und auch an Weisheit.25 [2b] Ich erkenne auch, dass ich gesündigt habe mit meinen fünf Sinnen, das ist mit Sehen, mit Hören, mit Riechen, mit Schmecken, und auch mit dem Tastsinn, und auch mit andern Dingen, das ist mit Untugend, mit Spott, mit Nachrede, mit Hass, mit Lügen, mit Betrug und auch mit vergänglichem Frohsinn, mit nichser einen gebräuchlichen liturgischen Text zitiert. Vgl. Wiessner, Edmund: Kommentar zu Wittenwilers Ring. Leipzig 1936, 153ff. (Realistik des Spätmittelalters; Kommentar zu Bd. 3) 22 S. o. Anm. 13. 23 S. o. Anm. 11. 24 Konkretisierung und Anzahl der Todsünden wurden sehr unterschiedlich festgelegt (s. o. 27, Anm. 13; s. o. 35). In katechetischen Texten des Mittelalters findet sich manchmal die Aufzählung von sieben Todsünden, z. B. in: Die religiösen und kirchlichen Zustände, 9f: Hochmut, Geiz, Zorn, Neid, Trägheit, Völlerei und Unkeuschheit. 25 S. o. Anm. 12.

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tigem Ruhm, mit Zweifel am christlichen Glauben, mit Ungeduld, mit Ungnade, mit Ungehorsam gegenüber meinen Vorgesetzten, mit Unstetigkeit an gutem Vorsatz, mit Übergehen der heiligen Gebote der Kirche. [4] Wie ich mich verschuldet habe, es sei wissend oder vergessen, das ist mir leid und reut mich von meinem ganzen Herzen, und ich bitte meine Herrin Sankt Maria und alle Heiligen Gottes und euch, Priester, dass ihr mir Gnade und Vergebung meiner Sünde von Gott erlangt und nach diesem Leben die ewige Seligkeit. Amen.“) Nr. 9: Confiteor mit Generalabsolution, Augsburg (2. Hälfte 15. Jh.)26 „‚Confiteor deo omnipotenti et beate Marie virgini et omnibus sanctis et vobis sacerdoti, quod ego miser et indignus peccator peccavi nimis in vita mea cogitacione, locucione, opere et obmissione, mea maxima culpa. Ideo precor gloriosam virginem Mariam, sanctum Petrum, sanctum Paulum, sanctam Barbaram, sanctam Katherinam, istos sanctos et omnes electos dei et vos sacerdotem orare pro me misero peccatore. Misereatur nostri omnipotens deus et dimittat nobis omnia peccata nostra, salvet et confirmet nos in omni opere bono et perducat nos in vitam eternam. Amen. Indulgentiam, remissionem et absolutionem omnium peccatorum nostrorum tribuat nobis omnipotens pater et misericors Dominus. [Es folgen Altarkuss, Kuss des Evangeliums mit den entsprechenden Gebeten und „Aufer a nobis“, T. B.] Dominus noster Iesus Christus per suam magnam misericordiam vos absolvat et ego auctoritate eius, qua fungor, vos absolvo ab omnibus peccatis vestris et restituo vos sacramentis ecclesie in nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen.‘ Zum Volke gewendet gibt er den Segen: ‚Im namen des vaters und des suns und des heyligen geystes. ‘“ „‚Ich bekenne dem allmächtigen Gott, der seligen Jungfrau Maria, allen Heiligen und euch, Priester, dass ich elender und unwürdiger Sünder in meinem Leben allzu sehr gesündigt habe mit Gedanken, Worten, Tun und Unterlassen: durch meine sehr große Schuld. Deshalb bitte ich die glorreiche Jungfrau Maria, den heiligen Petrus, den heiligen Paulus, die heilige Barbara, die heilige Katharina, diese Heiligen und alle Auserwählten Gottes und euch, Priester, dass ihr für mich elenden Sünder bittet.‘ 26 Zitiert nach: Franz, Adolph: Die Messe im deutschen Mittelalter. Freiburg/Br. 1902, 751f. [Nachdruck: Darmstadt 1963] (e. Ü.)

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‚Es erbarme sich unser der allmächtige Gott und lasse uns alle unsere Sünden nach, er errette und bestärke uns in jedem guten Werk und führe uns zum ewigen Leben. Amen.‘ ‚Vergebung, Nachlass und Absolution aller unserer Sünden gewähre uns der allmächtige Vater und barmherzige Herr.‘ […] ‚Unser Herr Jesus Christus spricht euch durch seine große Barmherzigkeit los, und ich, durch seine Macht, die ich verwalte, spreche euch los von allen euren Sünden und richte euch wieder auf für die Sakramente der Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.‘ […]“ Nr. 10: Offene Schuld aus Biberach (Anf. 16. Jh.)27 „[1] Ich Armmer Sündiger mensch gib mich schuldig Gott dem Allmechtigen, der Hayl. Jungfrawen Sanct Marien vnd allen Gottes Hayligen vnd Engeln, euch prüestern ahn der Statt Gottes, das ich Laider vil gesündiget hab inn allem Meinem Leben, [2] es seüe mit wortten, oder mit werckhen, Haimblich oder offentlich, wissent oder vnwissendt, es seye ahn Meiner Rew, ahn Meiner beicht, ahn meiner buos, es seüe ahn den Zehen gebotten Vnsers Herrn Jesu Christi, ahn den Zwelff Stuckhen des Hayligen Christlichen glaubens,28 ahn den Siben Todtsünden,29 an den Acht Seeligkhaitten,30 ahn den Neün frembden Sünden, ahn den fünff Sünnen, ahn den Siben Gaaben des Hayl. Gaists,31 an den Sechs Stuckhen der Hayl. barmbherzigkait,32 es seye mit Thon oder mit Lassen, mit willen, schlaffendt oder mit wachen, [3] auch mit Vnderlassen vil guetter wortt vnd werckh, die ich wohl hette Khünden verbrüngen in disser Zeitt, mit Thon, das ich Lassen solt, mit Lassen, das ich thon solt, – wie ich mich verschuldt hab in allem meinem Leben, das Rewth mich vnd ist mir Laidt von Ganzem 27 Bestandteil der anonymen Schrift „Aigentliche Beschreibung, Waß es vor dem Lutherthumb zue Biberach für Kirchen, Kapellen, Ornät vnd Kirchen Ceremonien gehabt. Beschriben ganz einfeltig durch einen Priester, so selbiger Zeit zue Biberach gewesen vndt ein caplonei gehabt.“ Zitiert nach: Die religiösen und kirchlichen Zustände, 188f. 28 Nach der ma. Tradition geht das Apostolikum auf die zwölf Apostel zurück, daher der Name „apostolisches Glaubensbekenntnis“. Jedem der zwölf Apostel wird ein Stück des Credo zugeschrieben. Vgl. Die religiösen und kirchlichen Zustände, 8. 29 S. o. Anm. 24. 30 Die acht Seligkeiten werden in der anonymen Schrift aufgezählt, sie überschneiden sich aber mit den sechs Werken der Barmherzigkeit und stehen zueinander in keiner logischen Entsprechung. Auch andere derartige Aufzählungen sind in der Schrift enthalten. Vgl. Die religiösen und kirchlichen Zustände, 10f. 31 S. o. Anm. 12. 32 S. o. Anm. 13.

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Herzen. [4] Bitt dich, Gottes Muotter Sanct Maria, Alle Gottes Hayl: Engel vnd euch prüester ahn der Statt Gottes, Ihr wellen mir ablass sprechen vber die sündt vnd vber alle mein Vergessen Sündt, wann [= weil] sie mir Laid sendt vnd rewen mich von Ganzen meinem Herzen. Ich vergib auch allen Menschen vff die gnadt vnd Barmherzigkhait Gottes, das mir Gott der Allmechtig auch verzeyhen welle alle meine Sündt vnd Missetadt.“ Nr. 11: 1. confessio von J. U. Surgant (1502)33 „Und vmb das vwer gebet vnd ander gute werck got dem herren dester angenemer syen / vnd ir ouch teilhafftig syent des abloß vnd der gnad so ir habent von dem wort gottes. ouch von disem gotzhuß / so sprechent uwer offen schuld mit ruwigen hertzen vnd mit bezeichnung des heiligen crutz. [1] Ich sindiger mensch gib mich schuldich got dem allmechtigen: Marien der barmhertzigen mutter gottes. allen gottes heiligen: vnd uch priester / das ich leider vil gesindet hab / [2] mit bosem willen / mit bosen gedencken / bosen worten vnd wercken / [3] versumniß vil guter wercken / wie es got an mir erkennt. in allen minem leben / [4] es sey heimlich oder offenlich / wissent oder vnwissent / teglich oder totlich / das ruwt mich vnd ist mir leit von gantzen hertzen. Ich verzyg allen den die mir ye leit hant gethon. Ich bit dich barmhertziger got verzyg mir all min sind / vnd frist mir min leben / untzen ich din gotlich genad uberkum. Ich bitt dich mutter gots Maria / heiliger herr sant N. patronum ecclesie nominando: vel sanctum diei occurrentem.34 vnd alle gottes heiligen / das ir got den herren truwlich fur mich bitten. dann ich beger genad vnd abloß uber all min synd. Neigent uwere hertzen zu dem allmechtigen got mit ruwen / und begerent sin gotlich genad vnd barmhertzikeit: vnd der sinden ablassung. Et dic. Misereatur vestri omnipotens deus: et dimittat vobis omnia peccata vestra: liberet vos ab omni malo: et custodiat vos cum sanctis suis in vitam eternam. Amen. Indulgentiam et remissionem tribuat vobis omnipotens pius et misericors dominus Amen.35 33 Surgant, Manuale, fol. 84r. Vgl. Hautkappe, Beichten, 127f. Vgl. Konzili, Studien, ZSKG 70 (1976), 141f. 34 „Namenspatron der Kirche oder Heiliger des Tages“ (e. Ü.). 35 „Und sprich: Es erbarme sich euer der allmächtige Gott, er vergebe euch eure Sünde, befreie euch von allem Bösen und führe euch mit seinen Heiligen zum ewigen Leben. Amen. Vergebung und Nachlass gewähre euch der allmächtige, liebevolle und barmherzige Herr.“ (e. Ü.)

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Ich hab uch abloß gebetten vmb all uwer synd vnd nach disem leben das ewig leben. das verlych uch vnd mir got vatter got sun got heiliger geist Amen. […] Bittent got fur mich / das will ich ouch thun fur uch.“36 Nr. 12: 2. confessio von J. U. Surgant (1502)37 „[1] Ich armer sindiger mensch / gib mich schuldig got dem allmechtigen: Marien der wirdigen mutter gottes: allen heiligen vnd uch priester / aller der synd so mich got schuldig weißt / vnd ich begangen hab [2] mit thun [3] oder lassen / biß vff die stund / [4] es sy totlich teglich / wissen oder vnwissen / so ruwet es mich vnd ist mir leid vnd beger gnad. Neigent uch zu got / vnd begerent was ich uch wunsch mit worten das es wor werde. Misereatur etc. Indulgentiam et remissionem etc. Ich hab uch gewunscht gnad vnd abloß uwer sinden vnd das ewig leben. das verlych uch vnd mir got vatter got sun got heiliger geist Amen. Bittent got fur mich das wil ich ouch thun fur vch in dem ampt der heiligen meß.“ Nr. 13: Doctor Casper Güttels offen Beycht (1522)38 „[1] ICh armer mensche Bekenne gott meynem schöpffer, erlöser und säligmacher, [3] das ich mein lebenlang kainen rechten starcken eynigen glauben zu Christum Jesum gehabt hab, auch kain rechte brüderliche liebe gen meinem nechsten Christen menschen getragen hab, meer auff gebet und menschen lere meinem selbs verstandt, gut, eere und vermü36 Surgant gibt in seiner „Consideratio sexta. De confessione generali et publica“ insgesamt 5 Texte für die Offene Schuld wieder, die dem Pronaus entstammen. Diesem ersten Text gehen das Vaterunser und das Credo voraus. An besonderen Festtagen oder auf Grund der Predigt konnte sich ein Ablass von 40 Tagen für Todsünden anschließen. 37 Surgant, Manuale, fol. 84v. Vgl. Hautkappe, Beichten, 128. Diese kurze Offene Schuld wird in keinen größeren Zusammenhang gestellt. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass sie auch auf Predigt, Vaterunser und Credo folgte. Die 3. Offene Schuld leitet Surgant mit den Worten ein: „Damit euer Gebet Gott, dem Herren, umso angenehmer sei, so reinigt eure Herzen“. Auf nachfolgende Gebete nimmt er aber dann keinen Bezug. Als eine Art Buße sollen nach der Offenen Schuld drei Vaterunser für Gott und für die Muttergottes mehrere Ave Maria gebetet werden. (Vgl. Surgant, Manuale, fol. 85.r) Die 4. Offene Schuld ist wieder sehr kurz. Danach folgt noch eine sehr lange 5. Offene Schuld, die vor allem in der Fastenzeit und zu Weihnachten die Gläubigen auf das Abendmahl vorbereiten sollte. (Vgl. Surgant, Manuale, fol. 85v und 86r.) 38 Luther, Martin: Ain betbuchlin […] 1522. WA 10/2, 428, 25ff.

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gen, dann auff götliche wort mich geflissen, dadurch ich göttlich gebot yppigklich unnd sträflich übertretten und verlast hab, Derhalb got noch meinen nechsten geliebt, Sonder mer got geuneret, geschent und gelöstert, meinen nächsten gemeiden, gehaßt, beschödigt und veracht hab. [4] Wie solchs mein gantz sträflich verkert unchristlich leben mein got wolt straffen am ersten tag der gerechtigkeyt, kome ich armer, grosser sünder zuuor yn der zeyt der gnaden, Lege heüt alle mein sünde auff dein alltar unnd höchsten priester, meynem sündtrager Jesum Christum selbst und auff sein heyligs fronn creütz. Bitte also sein göttliche gnade: Gnade mir mein gott. Schicke meyn leben, sterben unnd aufferstehung in gnade nach deinem göttlichen willen. Amen.“ Nr. 14: Confiteor in Form der Offenen Schuld aus der Messe des Wolfgang Volprecht, Nürnberg (1524)39 „[1] Ich armer, elender, sündiger maensch bekenn mich Gott meinem himlischen Vater und meinem Herren Jesu Christo meinem seligmacher, euch brüder und schwester und der ganzen christlichen versamlung, das ich leider oft und dick wieder [=gegen] Gott, meinen Herrn, gesündigt hab [2] mit unglauben und mißtrauen, [3] in nit geliebt uber alle ding und meinen nechsten als mich selbes. [4] Das ist mir vest und ser laid von grund meines herzens. O Herr Gott, allmechtiger Vater, ich armer sunder ermahn dich deiner gnadenreichen zusagung und versprechung, da du verheist vergebung der sund durch das blut deines Suns Jesu Christi, der fur uns gestorben ist und sein blut zu vergebung der sund fur uns vergossen hat. Derselbig mein Herr Jesus Christus hat auch durch sein heiligen mund gesprochen, wo zwen oder drei in seinem namen versamelt sein, da sei er in irer mitte [Matth. 18,20], und, was sie von dir in seinem namen bitten, das sollen sie gewert sein [Matth. 18,19] [=das soll ihnen gewährt werden]. So bitten wir verzeihung unser sund in seinen namen. Herr Gott, sprich zu uns: Nach deinem glauben geschech dir! Gee hin in frid ! Sundige nit meer ! Deine sund sein dir vergeben, verziehen und nachgelassen. Absolutio, das Misereatur : Mein lieber bruder und schwester, Gott hat sich unser erbarmet und hat uns verzihen alle unser sund und will uns geben das ewig leben. Amen.“

39 EKO 11, 39f. Volprecht war Prior des Augustiner-Klosters.

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Nr. 15: Confiteor von Thomas Müntzer, Allstedt (1524)40 „ O milder Gott vater, ich bekenne dir und deinem zarten sone Jesu Christ und dem tröster, dem heyligen geyst, vor allen gottförchtigen, das ich elender sunder meyn lebenlang widder deynen willen (der durchs gesetz erklert wirt) gehandelt habe, mit hynlessigem [=mit fahrlässiger] zuvorsicht und mit ungeübtem glauben und mit unbeflyßner liebe stadtgegeben hab den sunden, dieselbigen mit begyr, worten und wercken nit abgewant durch Gottis werck und wort, drumb bit ich euch umbstehenden außerwelten [=auserwählten] freunde Gottis, helffen zu bitten vor mich mit gantzem hertzen, gemüt und krefften, auff das die geheym göttliches bundes eröffnet werden durch meyne rede und durch ewr gehöre. Gott sey dir genedigk, leere dich von tag zu tage, alle seynes willens und wercks, uns zu gute, warnemen mit thun und lassen. Amen. O Got, wende dich zu uns wie ein getrewer unterweiser. Auff das wir, dein volck, mügen in dir frölich sein. O Herr, nicht uns, nicht uns. Sundern gib den preyß deynem namen. Last uns bitten: O Herr, nym von uns unser missethat, das wyr mit rechtschaffnem gemüth deiner heyligen, göttlichen krafft mügen gewertigk sein im gezeugnis zukünfftiger wort durch Jesum Christum, unsern herrn. Amen.“

40 Deutsch Euangelisch Messze etwann | | durch die Bepstischen pfaffen im latein zu grossem | | nachteyl des Christen glaubens vor ein opffer | | gehandelt / und itzdt vorordent in dieser / ferlichen | | zeyt zu entdecken den grewel | | aller abgötterey durch solche | | mißbreuche der Messen | | langezeit getriben. | | Thomas Muntzer | | Alstedt | | M.D.Xxiiij. Zitiert nach: Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe: Kritische Gesamtausgabe/hg. von Günther Franz und Paul Kirn. Gütersloh 1968, 165f. (QFRG; 33) Vgl. auch: EKO 1, 499. Obwohl das Confiteor dialogisch gestaltet ist, enthält es nur ein Sündenbekenntnis des Priesters. Die abschließende Vergebungsbitte bezieht aber die Gemeinde mit ein, sie könnte als deprekative Absolution verstanden werden.

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Nr. 16: Bußaufforderung und allgemeine Absolution von Wenzel Linck (1525)41 „Und dieweil wir alle gesündiget haben und der genaden Gottes bedörfen, so demütiget eure herzen vor Gott dem Herren, bekennet eure sünde und gebrechen mit herzlicher lieb und begirde seiner götlichen gnaden und hilf, mit festem glauben und vertrauen auf sein genedig zusagen und vergebt von herzen ein jeder seinem nechsten, auf das euer himlischer Vater eure sünd und missetaten auch vergeb! So ihr solches tut, entbind ich euch an stat der heiligen christlichen kirchen und aus befelch und zusagen unsers Herren Jesu Christi, da er sprach: ‚Weme ir die sünde vergebt, dem sein sie vergeben‘ ( Joh. 20,23), von allen euren sünden im namen des Vaters und des Sons und des Heiligen Geistes. Amen.“ Nr. 17: Confiteor in Form der Offenen Schuld aus der Messe von Andreas Döber, Nürnberg (1525)42 „Mein aller liebsten in Got, eroffent eur herzen und last uns Got unser sünd bekennen, und sprecht mir nach mit herzlicher begird im namen des Vaters und des Suns und des Heilgen Geists! Amen. 41 Zitiert nach: EKO 11, 498, Anm. k. Zu Unrecht wird dieser Text als „Offene Schuld“ bezeichnet. Es handelt sich bei ihm nur um eine Aufforderung zum (stillen) Sündenbekenntnis, an die sich eine Absolution anschließt (vgl. zu diesem Text o. 68ff). Sie wurde in das Agendbüchlein Veit Dietrichs 1545 aufgenommen. Ein ähnlicher Text mit den Überschriften „Offentliche beicht“ und „Absolutio“ ist aus der Reichsstadt Regensburg überliefert: „Ein Christenliche vermanung, wie die zu Regenspurg alwegen vor der communion verlesen wird“, vgl. EKO 13, 403f. Während die Abendmahlsvermahnungen weitgehend übereinstimmen, unterscheiden sich die Texte von Bußaufforderung bzw. Öffentlicher Beichte und Absolution. Matthias Simon vermutet, dass die Regensburger Fassung die ursprüngliche sei (vgl. EKO 13, 403, Anm. 1), zumal dieser Text in einer Fassung um das Jahr 1544 vorliegt. Der älteste auffindbare Druck des Nürnberger Textes stammt von 1560. Dagegen wäre zu argumentieren, dass vor allem die Regensburger Absolution stark erweitert und umgestaltet ist, was auf sekundäre Zuwächse schließen lässt. Während der Nürnberger Text unter Berufung auf Joh 20,23 lapidar eine indikative Absolution formuliert, betont die Regensburger Version, dass Gott durch das Verdienst Christi die Sünde vergeben habe, und verkündigt – wieder unter Berufung auf Joh 20,22f – die Vergebung der Sünden. Die Nürnberger Bußaufforderung wird in der Regensburger Fassung tatsächlich zu einer „Öffentlichen Beichte“, indem die Gemeinde aufgefordert wird zu sprechen: „Gott sei mir sünder gnedig !“ (EKO 13, 404). Die 5. Bitte des Vaterunsers hat in beiden Texten einen hohen Stellenwert. 42 Zitiert nach: EKO 11, 51. Döber war Kaplan am neuen Spital. Die Offene Schuld nach dem Beichtschema ist noch erkennbar. Auf die Bitte um Sündenvergebung folgt

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In dem kniet der priester nider für den altar und spricht fein lanksam wie hernach volgt. Unser hilf sei im namen des Herren, der erschaffen hat himel und erden ! Bekennet dem Herren; dann er ist gut und sein barmherzigkeit ist ewich. [1] Und ich armer, sündiger mensch bekenn Got dem allmechtigen, meinem schöpfer und erlöser, das ich nit allein gesündiget hab [2] mit gedanken, worten oder werken sonder auch in sünden empfangen und geborn, also das alle mein natur und wesen vor seiner gerechtigkeit streflich und verdamlich ist. [4] Darumb fleuhe ich zu seiner grundlosen barmherzigkeit, such und bit genad. Herr, bis genedich mir armen sünder ! Der barmherzig Got wöl sich unser erbarmen und uns unsere sünd verzeihen und den Heiligen Geist geben, das wir durch i[h]n seinen götlichen willen erfüllen und das ewig leben empfangen. Amen. Die absolution. Spricht der priester: Neigt eur herz zu Got! Der almechtich, barmherzig Got hat sich unser erbarmet und seinen einigen Sun für unser sünd in tod geben und umb seinet willen uns verzihen, auch allen den, die an seinen heiligen namen glauben, Gottes kinder zu werden gewalt geben und den Heiligen Geist verheißen. Wer glaubt und getauft würt, der sol selig sein. Das verleihe uns Got allen. Amen. Und einem jglichen geschehe nach seinem glauben! In dem, do er spricht: Bit Got für mich, desselben gleichen will ich auch tun ! stehet er auf für den altar […]“ Nr. 18: Luthers Vaterunserparaphrase und Abendmahlsvermahnung (1526)43 „Lieben freunde Christi, weyl wir hie versamlet sind ynn dem namen des herrn, seyn heyliges testament zu empfahen, So vermane ich euch auffs erste, das yhr ewr hertze zu got erhebt, mit mir zu beten das vater unser, wie uns Christus unser herr geleret und erhorung trostlich zugesagt hat. Das Gott unser vater ym hymel uns seyne elende kinder auff erden barmhertziglich ansehen wolte und gnade verleyhen, das seyn heyliger name unter uns und in aller welt geheyliget werde durch reyne, rechtschaffne lere seynes worts Und durch brunstige liebe unsers lebens, Wolte gnediglich abwenden alle falsche lere und boses leben, darynn sein werder name gelestert und geschendet wird.

das Misereatur : „Der barmherzig Got wöl sich unser erbarmen […]“ An den Brauch der gegenseitigen Fürbitte im Confiteor erinnert der Satz, den der Priester im Anschluss an die Absolution spricht. Vgl. auch Anh. Nr. 11 und Nr. 12. 43 Zitiert nach: WA 19, 95, 22ff.

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Das auch seyn reych zu kome und gemehret werde, alle sunder, verblendte und vom teuffel ynn sein reich gefangen zur erkentnis des rechten glaubens an Jhesum Christ, seinen son, bringen und die zal der Christen gross machen. Das wyr auch mit seym geyst gesterckt werden, seinen willen zu thun und zu leyden, beyde ym leben und sterben, ym guten und bosen, allzeyt unsern willen brechen, opffern und todten. Wolt uns auch unser teglich brod geben, fur geitz und sorge des bauchs behueten, sondern uns alles guts gnug zu yhm versehen lassen. Wolt auch uns unser schuld vergeben, wie wyr denn unsern schuldigern vergeben, das unser hertz ein sicher frolich gewissen fur yhm habe und fur keiner sunde uns nymmer furchten noch erschrecken. Wolt uns nicht eyn furen ynn anfechtunge, sondern helffe uns durch seynen geyst das fleysch zwingen, die welt mit yhrem wesen verachten und den teuffel mit allen seynen tücken uberwinden. Und zu letzt uns wolt erlosen von allem ubel, beyde leyblich und geystlich, zeytlich und ewiglich. Wilche das alles mit ernste begeren, sprechen von hertzen: ‚Amen‘, on allen zweyffel glaubend, es sey ja und erhoret ym hymel, wie uns Christus zusagt: ‚Was yhr bittet, gleubt, das yhrs haben werdet, so sols geschehen‘. Amen. Zum andern vermane ich euch ynn Christo, das yhr mit rechtem glauben des testaments Christi warnehmet und allermeist die wort, darynnen uns Christus sein leyb und blut zur vergebung schenckt, ym hertzen feste fasset, das yhr gedenckt und danckt der grundlosen liebe, die er uns bewysen hat, da er uns durch sein blut von gots zorn, sund, todt und helle erloset hat, und darauff eusserlich das brod und weyn, das ist seynen leyb und blut, zur sicherung und pfand zu euch nemet. Dem nach wollen wir ynn seynem namen und aus seynem befelh durch seyne eygene wort das testament also handeln und brauchen.“ Nr. 19: Offene Schuld nach Johannes Bugenhagen, Braunschweig (1528)44 „Spreket de bicht mit my unde bekennet Gade jue sunde, dat uns Got gnedich sy. [1] Got sy gnedich my arme sunder. [3a] Id feylet my an deme loven, dat ick Got mynen Heren nicht van ganzeme herten leve, my nicht ganzlick up em vorlate in anvechtingen unde aller nöt lives unde der selen. Ick scholde alleyne Got fruchten unde in allen dingen vor ogene hebben, nu fruchte ick my vor de lüde, de my umme der gerechticheit willen konen bose dohn. Ick fruchte vor myn gut, ere, fruntschop unde lyff to vorlesende. Ick sorge vor de neringe unchristlick unde söke in al44 Zitiert nach: EKO 6/1, 443.

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len dingen dat myne unde nicht, wat Gades is. Ock stelle ick nicht ganz myne salicheit in Jesum Christum, synen eyngebarn Sone, vor uns gegeven. Id feylet my ock an der leve, dat ick mynen negesten nicht leve alse my sulvest, [2] sonder handele wedder en mit bosen vordechtnissen, mit achterkosen, mit worden, mit werken [3b] unde kan nicht eyn wort van em wedder mick liden. Ick swige denne mehr unde kan em nicht van herten vorgeven unde bun doch sulcks schuldich to dohn. Besundergen hebbe ick eyne beswerde conscientie in disser anvechtinge: N. , in disser sunden: N. (Eyn jewelick klage Gade syne heymelike beswerlike sunde tor beteringe). [4] Darumme, almechtige Got, leve Vader, vorgiff my alle myne sunde unde erlüchte myn herte mit dyner warheit, dat ick dick mach holden vor mynen gnedigen Vader unde mynen negesten vor mynen broder ane alle ergernisse nach dyneme worde dorch unsen Heren Jesum Christum. (spreket:) Amen. Jesus Christus is unse salicheit ewichlick. (spreket:) Amen.“ („Sprecht die Beichte mir mir und bekennt Gott eure Sünde, dass Gott uns gnädig sei. [1] Gott, sei mir armem Sünder gnädig. [3a] Es fehlt mir an dem Glauben, dass ich Gott, meinen Herrn, nicht von ganzem Herzen liebe, mich nicht gänzlich auf ihn verlasse in Anfechtungen und aller Not Leibes und der Seelen. Ich sollte allein Gott fürchten und in allen Dingen vor Augen haben. Nun fürchte ich mich vor den Leuten, die mir um der Gerechtigkeit willen Böses tun können. Ich fürchte, mein Gut, Ehre, Freundschaft und Leben45 zu verlieren. Ich sorge mich unchristlich um die Nahrung und suche in allen Dingen das Meine und nicht das, was Gottes ist. Auch setze ich meine Seligkeit nicht ganz auf Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn, für uns gegeben. Es fehlt mir auch an der Liebe, so dass ich meinen Nächsten nicht liebe, wie mich selbst, [2] sondern wider ihn handle mit bösen Verdächtigungen, mit übler Nachrede, mit Worten, mit Werken, [3b] und kann nicht ein Wort von ihm wider mich ertragen, geschweige denn mehr, und kann ihm nicht von Herzen vergeben und bin doch schuldig, dies zu tun. Vor allem habe ich ein beschwertes Gewissen in dieser Anfechtung: N., in dieser Sünde : N. (Ein jeder klage Gott seine heimliche, ihn belastende Sünde zur Besserung). [4] Darum, allmächtiger Gott, lieber Vater, vergib mir alle meine Sünde und erleuchte mein Herz mit deiner Wahrheit, dass ich dich für meinen 45 In anderen Zusammenhängen „Leib“. Vgl. Schiller, Karl/Lübben, August: Mittelniederdeutsches Wörterbuch. 6 Bd. O.O. 1875–1881, Bd. 2, 706. [Neudruck: Wiesbaden/Münster 1969]

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gnädigen Vater halten kann und meinen Nächsten für meinen Bruder, ohne jedes Ärgernis, nach deinem Wort, durch unsern Herrn Jesum Christum. (Sprecht:) Amen. Jesus Christus ist unsere Seligkeit ewiglich (Sprecht:) Amen.“)46 Nr. 20: Confiteor in Form der Offenen Schuld, Augsburg (1529)47 „Offne beicht: O Herr, allmechtiger Gott, der du meines herzen erforscher, meiner nieren brüfer, meiner lusten und gedanken erkenner und alles meines tuon und lassens ain gerechter richter bist! Ich kan dir nichts erzelen noch klagen, das du zuovor nicht wissest, auch nichts bergen, das deinen götlichen maiestetlichen augen nit offenbar ist. Jedoch so beschwären und treiben mich die menig und der verderblich tödlich last meiner sünd und geben mir ursach mit dem offenbarn sünder für dein götlich, gnedig und barmherzig augen zuo fallen und von grund meines herzen mit i[h]m zuo bitten und zuo sprechen: O Gott, bis gnedig mir armen sünder! Diese absolution und ablaß spricht der diener über das volk: O Herre, allmechtiger und barmherziger Gott, ich bitt dich durch Christum Jesum deinen Sun, unseren Herren, der von der sünder wegen in die welt kommen, zuo suochen und zuo behalten, was verloren war, du wöllest allen denjenigen, so dises von grund aines bereuten herzens über ire sund und missetat mit fürsatz, nimmer zuo sündigen, in rechtem glauben von dir begeret und gebeten haben, ire sund verzeihen und nimmer gedenken durch das herb und bitter leiden und unschuldig bluotvergießen deines lieben Sun Christi Jesu, unsers behalters, der mit dir lebt und regiert in ainigkait des Hailigen Gaists, Gott in ewigkait. Amen. So stehet nun auf frölich ! Gott hat euch eurer sünd verzigen, darumb ir hinfüran der gerechtigkait Gottes leben solt.“

46 Eigene Übersetzung, unter Zuhilfenahme von: Bugenhagen, Johannes: Der ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529: De Ordeninge Pomerani/hg. und übersetzt von Hanns Wenn unter Mitarbeit von Annemarie Hübner. Hamburg 1976, 204f. [Nachdruck: Hamburg 21991] (AKGH; 13) 47 „Das frugebet. Augsburg (1529) 1530.“ Zitiert nach: EKO 12, 36f. In der Erkenntnis, dass Gott alle Sünden kennt, wird auf eine Nennung konkreter Sünden ganz verzichtet und das mittelalterliche Beichtschema verlassen.

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Nr. 21: Offene Schuld, Memmingen (1529)48 „Hie volgt die offen beicht. Ich armer sünder bekenne mich Got dem allmechtigen, das ich laider viel gesündiget hab und mich in sünden also vertieft und verderbt, daß ich mein sünd und sündlich leben weder erkenne noch gnuogsamlich bewaine. Darumb, o almechtiger Got, ain Vater alles trosts, ich bit dich, du wöllest mit mir tuen nit nach der vile meiner sünden, sonder nach deiner manigfaltigen barmherzigkait und send mir zuo deinen Hailigen Gaist in verkündigung deines worts, damit ich kum zuo erkantnus meiner sünd und sündlichen lebens und das ich mich mög warlich demütigen, dich in warhait suchen und in den trostlichen zuosagen unsers Herrn Jesu mein herz und conscienz widerumb zu friden stellen. O Herr Jesu Christe, mein erlöser, ich bitt dich durch dein bitter sterben und leiden, das du wöllest sein mein fürbitter und mitler bei Gott, deinem himlischen Vater, und mit deiner gerechtigkait und unschuld vertreten mein sünd und boshait ! Darzuo verleih mir nit allain zuo hören das wort, sonder auch im herzen zuo behalten und darnach zuo leben! Amen. Absolution Vorgenger: Es wird sich unser erbarmen der allmechtige Got, der uns seinen Sun zuo ainem gewissen underpfand gesendt hat in die welt, der als das unschuldig lemblein geopfert wurd, unser sünd truog und für si gnuog tet, in welchem unserm Herren Christum, wer da glaubt, wird haben verzeihung der sünd und ewig leben. So ir den glauben habt, sprich ich durch kraft solichs glaubens euch ledig und los von allen sünden im namen des Vaters und des Suns und des Hailigen Gaists. Amen.“ Nr. 22: Offene Schuld (1536)49 „[1] ICh armer sündiger mensch bekenne dem Allmechtigen Gott durch Jesum Christum meine manigfaltige sünd und vilfertige ubertrettung seiner heyligen gebot unnd seines götlichen willens, welche sich in meinem 48 „Ordnung und Brauch des Herrennachtmals, Memmingen 1529“. Zitiert nach: EKO 12, 244. In dieser Offenen Schuld ist das Sündenbekenntnis auf einen kurzen Satz reduziert. Umso ausführlicher sind die Bitten um Vergebung und Heiligung. 49 Ein nutz= | | lichs Betbüch=lein sambt andern | | heylsamen leeren ein | | Christlich leben zu | | vnterrichten seer | | dienstlich | | Welches inhalt du am end finden wirst. Nürnberg 1536. Zitiert nach: WA 10/2, 470, 8ff. Die Überschrift lautet: „Ein gemeine beicht und bitt umb vergebung der sünden und umb ein Gotselig leben.“ Obwohl seit der Reformation schon fast zwanzig Jahre ins Land gegangen sind, baut diese Offene Schuld noch auf dem viergliedrigen mittelalterlichen Beichtschema auf und verwendet

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fleisch gehaufft haben unnd on zal worden seind als der Sand am Meer. wie ein untreglicher last sind sie mir vil zu schwer worden, darinn ich, ach Gott, biß hieher nach dem willen des Fürsten diser welt gelebt hab und gethan was meinem fleysch und bösen lüsten hat wöllen gefallen, [2] in eytelkeyt meiner gedancken, in unnützigkeyt der wort, in torheyt der werck und blindheit meines hertzens, in eygner lieb mein selbst, in gedichtem schein der frümbkeyt unnd inn geferbtem [=unreinem, falschem, T. B.] todtem glauben. [3] Nach dem ich den listen und eingebungen des bösen geystes und meins fleyschs inn ernst nie widerstrebet, sunder den selbigen zu tausent malen mer weder des heyligen geysts gottes meines Herrn trewer warnung und einsprechen gehorchet unnd gefolget hab, Unnd wie ich also den aller besten Rath gottes veracht, seinem heyligen namen geuneeret unnd erzürnet habe, so ists mir leyd unnd rewet mich von hertzen. [4] Dieweyl aber nun die gerechtigkeyt Gottes durch den glauben Jesu Christi in alle und uber alle menschen, die da glauben, ist geoffenbart, also das alle menschen umb sunst gerecht gemacht werden durch die erlösung, die da ist in Christo Jesu, welchen der Allmechtig Gott allen menschen fürgesetzt hat zu einem genadenstul durch den glauben in sein heyliges blut: So kumme ich armer sünder heüt inn der zeyt der genaden und barmhertzigkeyt und bit Got meinen Herren, das er mir wöll einen rechten warhafftigen glauben geben durch Jesum Christum und wöll mir umb seinet willen alle meine sünde vergeben, mich des versichern unnd von tag zu tag ernewern inn dem sinn meines hertzens, auff das ich bestendig mög verlassen alle gotlose und weltliche begirden, messig, nüchteren, gerecht, frumm, keüsch, gehorsam, güttig, mild, züchtig und demütig sey unnd nach dem willen gottes inn seiner götlichen forcht allhie auff diesem jamertal leb, das ich der welt, allen sünden unnd mir selbs also absterb, damit ich der zukunfft meines Herren unnd Heylands Jesu Christi mit gutter gewißschafft und frölich erwarten möge. Amen.“ Nr. 23: Ein andere kurtze Beicht (1536)50 „HErr Jesu Christe, der du bist ein eyniger gesundmacher der verwundten gewissen, Wir armen dürfftigen sünder inn zuversicht deiner güte und gnaden stellen dir inn gemein für den bösen baum unsers hertzens mit allen seinen wurtzeln, ästen und früchten, auch mit all seiner krümme auch alte Wendungen. Ganz deutlich im Sinn lutherischer Theologie ist aber das vierte Glied neu gestaltet. 50 S. o. Anm. 49. Zitiert nach: WA 10/2, 471, 7ff. Obwohl dieser Text aus der gleichen Zeit wie Nr. 22 stammt, wird hier das alte Beichtschema verlassen und auch sprachlich mit vielen Metaphern ein völlig neues Beichtgebet geschaffen.

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und winckelen, welche du all wol weyssest und kennest, es sey an innerlichen begirden und gedancken oder inn eusserlichen worten unnd wercken. Und bitten unsers armen vermögens, ob wir auch etwas vermögen zu bitten, du wöllest gnediglichen unser steinen hertz beschneyden, für das alt ein newes schaffen, darzu mit eim newen geyst begaben, mit deiner hymlischen genaden safft, und den geystlichen wasserbrunnen begiessen unnd netzen, auff das die innerliche gifft unnd safft des fleysches außgetrücknet, dem alten menschen seinen gang abgeleynet unnd unser hertz nicht ewig dörner unnd disteln zu der hellen, sunder geystliche frücht in der gerechtigkeyt und heyligkeyt bringen mög zum ewigen leben. Amen.“ Nr. 24: Offene Schuld, Württemberg (1536)51 „Nach der vermanung soll er jnen vorsagen die offenliche beicht, vnnd nachuolgends die offenliche absolution vngeuarlich, auff nachuolgende weis. [1] Ich armer sünder, bekenn mich Gott meinem himelischen vatter, das ich leider schwerlich vnd manigfalt gesündet hab, [2] nit allein mit eüsserlichen groben sünden, sonder vil mer mit jnnerlicher angeborner plindtheit, vnglauben, zweifelung, kleinmütigkeit, vngedult, hochfart, bösen lüsten, heimlichen neyd vnnd hass, mißuergünstig. etc. wie das mein Herr Gott an mich erkendt, vnd ich leider so volnkommenlich nit erkennen kan, [4] also rewen sie mich vnd seind mir leid beger gnad von Gott. Absolutio. […] Oder also: In der einsatzung des predig ampts des h. Euangelions, hat Jesus Christus zu seinen Aposteln gesagt, wer eüch höret der höret mich, vnd welchen jr die sünd erlassen, den seind sie erlassen, vnnd welchen jr sie gehaltet, den sind sie behalten, Aus vermög diser wort, vnd beuelch Christi verkündige ich eüch, das alle ewere sünd, durch Jesum Christum gebüsset sein, vnd 51 Zitiert nach: EKO(R) 1, 268. Schulz stellt eine Abhängigkeit dieses Textes von einer Offenen Schuld Surgants fest (wahrscheinlich die 5. confessio, vgl. Hautkappe, Beichten, 130ff). Vgl. Schulz, Sündenbekenntnis, 116. Eine direkte Abhängigkeit ist m. E. aber nicht nachzuweisen, da die Texte äußerst unterschiedlich sind. Einzelne Wendungen und Teile aus Sündenkatalogen waren allerdings so verbreitet, dass sie in ganz verschiedenen Beichttexten wiederkehren. Der Beginn „Ich armer sünder […]“ hat z. B. auch große Ähnlichkeiten mit dem von Nr. 10, Nr. 14 und Nr. 21. Die Wendung „wie das mein Herr Gott an mich erkendt“ findet sich auch in der Nr. 11 in ähnlicher Form wieder. Der Reuezusatz „also rewen sie mich vnd seind mir leid“ entspricht etwa auch dem in Nr. 10, Nr. 11, Nr. 12 und Nr. 22.

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erlasse eüch als ein ordenlicher diener des h. Euangelions, aller ewer mißthat, in dem namen des vatters, des suns vnd des h. geists, Amen.“ Nr. 25: Offene Schuld, Augsburg (1537)52 „Almächtiger barmherziger Gott und Vater! Wir bekennen und verjehen53 dir, das wir in sünden empfangen und geboren seind und daher unser natur also verderbt ist, das wir stäts genaigt sein zum bösen, träg und ungeschickt zu allem guten. Verleihe uns deinen hailigen Gaist, das wir unsere sünd recht erkennen, ware reu und laid darüber empfahen, denen absterben und dir hinfüran in ainem neuen unschuldigen leben wolgefallen, durch unsern Herren Jesum Christum! Amen.54 […] Naigend euer herz zu dem Herren und fassend an mit vertrautem gläubigen gemüt den trostlichen spruch Pauli: Das ist je gewißlich war und ain teurs werdes wort, das Christus Jesus kömen ist in die welt, die sünder selig zu machen. Ain jeder bekenne sich mit dem heiligen apostel Paulo [1Tim 1,15] auch für derselben fürnemsten sünder ain, stande vom argen ab und bessere sein leben, so wirt er nach disem bei Christo ererben das ewig leben !“ Nr. 26: Confiteor in Form der Offenen Schuld für die Wenzelskirche, Naumburg (1537/38)55 „Dieweil wir aber alle sunder sein, so last uns erstlichen unsere sunde bekennen und dieselben gott dem almechtigen abbitten und sprecht. 52 Die zehen Gebot, | | Articul des Glaubens, Und das | | Vater unser, sampt ainer offnen Beicht | | und fürbitt für die gemeinen stend, Wie sy vor der Sontägigen Predig allhie zu Aug- | | spurg verlesen | | werden. 1537. Zitiert nach: EKO 12, 68f. Der Anfang der Offenen Schuld erscheint wieder in dem Confiteor der Kölner Messe von 1543. Vgl. EKO(R), 2, 42ff. 53 Die Aufeinanderfolge von „bekennen“ und „verjehen“ ist pleonastisch, da die Bedeutung beider Verben nur um Nuancen voneinander abweicht. „Verjehen“ hat die Bedeutungen „sagen, erzählen, aussagen, zu erkennen geben, eingestehen, bekennen, beichten.“ Vgl. Lexer, Handwörterbuch, 3, 137f. 54 Der Anfang der Offenen Schuld lehnt sich an einen Text aus Straßburg an. Treuer folgt der Straßburger Version ein Confiteor im Stil der Offenen Schuld, das seit 1686 in Baden verwendet wird (s. Anh. Nr. 34). Vgl. auch Begründung einer GottesdienstOrdnung, 1855, 114. Diese Offene Schuld stellt nur das Elementare der Sünde heraus, ohne konkrete Sünden zu nennen. Sehr einseitig wird im Gnadenspruch die Bemühung des Sünders um Besserung betont. 55 Zitiert nach: EKO 2, 78. Diese Offene Schuld enthält nur das 1. und das 4. Glied des ma. Beichtschemas. Sie wird dadurch in ihrer Formulierung sehr offen und allgemein.

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[1] Ich armer sunder bekenne dir o almechtiger gott und barmherziger vater fur dieser ganzen gemein alle meine sunde und missethat, dardurch ich dich so mannichfeltig zu zorn vorursacht [4] und bit dich durch deine grundlose barmherzigkeit, und durch das bittere leiden und sterben deines lieben sohns JESU CHRISTI du wollest gnedig sein mir armen sundern. Absolutio. Auf solch euer bekentnus aus bevel des herrn Jesu Christi anstat der heiligen christlichen kirchen vorgebe ich euch all eure sunde im namen des vaters und des sons und des heiligen geistes. Amen. Der fried des herrn Jesu Christi sei mit euch allen. Amen.“ Nr. 27: Forma absolutionis von Philipp Melanchthon (1540)56 „Und nachdem ihr wisset, daß Gott so hoch und herzlich begehret, daß wir nicht im ewigen Tod und ewiger Strafe bleiben, sondern von Sünden, Tod und Hölle errettet werden, und hat derohalben seinen einigen Sohn, unsern Herrn Jesum Christum, für uns zu einem Opfer gemacht, hat uns auch durch ihn, und um seinetwillen, nicht aus Verdienst unserer Werke, zugesagt Vergebung der Sünden und Erlösung von ewiger Strafe, und ewige Seligkeit, und hat solche seine Zusage oft mit seinem Eid bestätiget, wie im Ezechiele geschrieben stehet: Als wahr als ich lebe, so will ich nicht, daß der Sünder sterben soll, sondern will, daß er bekehret werde und lebe, und hat solch sein Evangelium und Wort der Verheißung ernstlich befohlen zu verkündigen. So vermahne ich euch alle, ihr wollet euch bessern, wie der Herr Christus euch selbst geprediget und geboten, ihr sollt euch bessern, und allen, die Gottes Zorn fürchten und herzlich begehren sich zu bessern, und ihn um Vergebung ihrer Sünde bitten, verkündige ich Vergebung ihrer Sünde, und entbinde sie aus Kraft des wahrhaftigen Befehls unsers Herrn Christi, da er gesprochen: Wem ihr die Sünde vergebet, dem sollen sie vergeben seyn, und damit ihr nicht den Sohn Gottes lästert und den Eid Gottes verachtet, sollt ihr glauben, daß euch um des Herrn Christi willen gewißlich eure Sünden vergeben werden. Der wolle euch auch seinen heil. Geist verleihen, daß in euch ein neuer Gehorsam, der Gott gefällig, und ewiges Leben angefangen werde zu Gottes Lob. Denn der Sohn Gottes Jesus Christus ist nicht darum gestorben, daß wir allein in Muthwillen, Unzucht und Trotz wider Gott leben sollen, sondern er ist ein Opfer für uns worden, daß uns der ewige Gott versühnet würde, und ist vom Tod erstanden, ist unser Mittler und Fürbitter bei dem Vater, 56 Zitiert nach: CR 3, 956f., Nr. 1930. Diese überaus lange Absolutionsformel schuf Melanchthon als Antwort auf den Nürnberger Absolutionsstreit (s. o. 68). Den Anforderungen der Praxis entsprach sie sicher nicht.

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nicht daß wir in Gottesverachtung bleiben, sondern uns bessern, und also will er in uns wirken, und uns helfen wider den Teufel. Denn er ist unser Hauptmann, der den großen Krieg führet wider den Teufel, und will des Teufels Werk zerstören, wie geschrieben stehet 1 Joh. 3. Der Sohn Gottes ist kommen, daß er des Teufels Werke zerstöre, wie solcher Streit in der ersten Verheißung angezeigt, daß der verheißene Heiland der Schlangen den Kopf zertreten würde. Diese gesprochene Absolution und Entbindung wollet fleißig betrachten, und euren Glauben damit üben und erwecken, dazu euch unser Herr Christus seinen h. Geist verleihen, und euch zu seinem Lob leiten und heiligen wolle. Amen.“ Nr. 28: Absolutionsformel von Martin Luther (1540)57 „Lieben Freundt, weyl wir alle sterblich, keine stundt des todts sicher sindt, so demutiget Euch vor Got, Bekennet in Ewrm hertzen, das wir alle Arme Sunder seiner gnaden vnd vergebung alle augenblickh bedurffen. Vnnd ob Got heut oder morgen yemandt vnter Euch von diesem Jammerthal fordern wurde, So sprech Ich als ein Pfarher (Prediger) aus seinem beuelh alle, die ytzt hie sindt vnd Gottes wort hören vnd mit rechter rewe Irer sundt an vnsern herrn Ihesum Christum gleuben, loß von allen sunden Im namen des Vaters, Sons vnnd heyligen geysts, Amen. Gehet hin im friede, Es sey leben oder sterben.“ Nr. 29: Offene Schuld, Calenberg-Göttingen (1542)58 „[1] Ich armer, elender, betrübter sünder kome zu bekenntnis Gott, meinem himlischen Vater, und bekenne mich, [3] das ich die zeit meins lebens noch nie vollenbracht habe seinen göttlichen willen, [2] weder in gedanken, noch in worten, noch in werken. [4] Das ist mir leid von herzen, und bitte derhalben dich, o Gott, himlischer Vater, du wöllest gnedig sein mir armen sünder und meiner sünde niemermehr gedenken durch das bitter leiden und sterben deins Sons, meins lieben Herrn Jhesu Christi, wollest mir auch geben und imer in mir vermehren deinen heili57 Zitiert nach: WA(Br) 12, 299. Luthers Absolutionsformel, die im gleichen Zusammenhang wie die Melanchthons entstand, ist kurz und prägnant. Zu beachten ist dabei, dass Luther die allgemeine Absolution vor allem für den Fall eines plötzlichen Todes erteilte. 58 Zitiert nach: EKO 6/2, 795. Die Offene Schuld verwendet das mittelalterliche Beichtschema, bleibt aber in den ersten drei Gliedern sehr knapp. Sehr ausführlich wird dagegen das vierte Glied mit der Bitte um Sündenvergebung und Mitteilung des Heiligen Geistes ausgestaltet.

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gen und guten Geist, der mich lere und füre in alle warheit, der auch mein sündiges herz imer anhalte, nichts anders anzufangen oder zu thun, denn dein götlicher wille ist, der mich desgleichen sterke in der letzsten stunde meins abscheids, das ich, lieber Herr, bey dir ewiglich möge behalten werden. Absolution. Allen denjenigen, die ihre sunde also von herzen bekennen und die zuversicht ihres herzen allein aufs verdienst Christi setzen, wil ich als ein diener der kirchen in kraft der schlüssel und des evangelii aus Christi befelh vergebung der sunde verkündigt haben. Uber denen aber, so ihre sünde von herzen nicht bekennen und auch die zuversicht ihres herzen nicht setzen auf das verdienst Christi, bleibet der zorn Gotts. Der fried unsers herrn Jhesu Christi besitze unser herze von nu an bis in ewigkeit. Sprecht alle: Amen, das geschehe!“ Nr. 30: Confiteor in Form der Offenen Schuld, Mecklenburg (1552)59 „Mein allerliebsten in gott, eröffnet euere herzen, last uns gott unsere sünden bekennen, und um vergebung, im namen unsers herrn Jesu Christi bitten. Sprecht mir nach mit herzlichem begeren zu gott, im glauben an den herrn Jesum Christum, durch den heiligen geist. Denn kniet der priester nieder, fur den altar, und ein ander kirchendiener oder custos60 neben in, und spricht der priester mit lauter stimme. Unser hülf stehet im namen des herrn. Antwort der Chor. Der geschaffen hat himel und erden. Der priester. [1] Ich armer sündiger mensch, bekenne fur dir, o allmechtiger gott, meinem schöpfer und erlöser, das ich gesündiget hab, [2] nicht alleine mit gedanken, worten und werken, sondern das ich auch von natur sündig 59 Zitiert nach: EKO 5, 197f. Dieser Text geht auf das Confiteor im Stil der Offenen Schuld aus der Döber’schen Messe zurück (s. o. Anh. Nr. 17). Hier ist wieder ein Dialog gestaltet worden, der aber nicht mehr gegenseitiges Schuldbekenntnis und gegenseitige Fürbitte zum Inhalt hat. Während die Offene Schuld vom Priester auch stellvertretend für die Gemeinde gesprochen wird, nimmt der Diakon die Bitte um Sündenvergebung in einem breiter entfalteten Confiteor auf. 60 S. o. 77, Anm. 328.

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und unrein bin, in sünden empfangen und geboren. [4] Ich hab aber zuflucht zu deiner grundlosen barmherzigkeit, suche und begere gnade, um des herrn Jesu Christi willen. Herr sei gnedig mir armen sünder. Der ander diener antwort dieses gebet. O allmechtiger barmherziger gott, der du deinen eingebornen son für uns in den tod gegeben hast, wollest dich unser erbarmen, und um desselben deines geliebten sons willen, uns alle unsere sünd vergeben. Auch deinen heiligen geist uns geben, der in uns wares erkentnis deines göttlichen wesens und willens, dazu waren gehorsam gegen dir anzünde und vermehre. Uff das wir das ewige leben, durch deine gnad, um des herrn Jesu Christi willen erlangen, amen. Der priester spricht hernach diese absolution. Der allmechtige barmherzige gott hat sich unser erbarmet, vergibt uns warhaftiglich alle unsere sünd, um seines lieben sons willen, den er um unsert willen hat in den tod gegeben, und hat macht gegeben, gottes kinder zu werden, allen, die an seinen namen gleuben, gibet uns dazu seinen heiligen geist, wer gleubt und getauft wird, sol selig werden. Das verleihe uns gott allen, amen.“ Nr. 31: Offene Schuld nach Johann Pfeffinger, Leipzig (1567)61 „Almechtiger got und vater unsers herrn Jesu Christi, wir bekennen, das wir mit vielen sünden, wissentlich und unwissentlich vorunreinet sind, und ist uns herzlich leid, das wir wider deinen gerechten willen gethan haben, und bitten, du wollest unsere herzen zu dir bekeren, und uns alle unsere sünde, umb deines lieben sohns Jesu Christi willen vorgeben, und wollest in uns mit deinem heiligen geist rechten glauben und rechten gehorsam anzünden, und uns regieren. So ist auch unser ernstlicher fürsatz, uns mit deiner hülf zu bessern, und in deinem gehorsam zu leben.“

61 „Gemein gebet. Nach der predigt mit mund und herzen zu sprechen. Verneuert durch d. Johann Pfeffinger.“ Zitiert nach: EKO 1, 595. Der Schwerpunkt dieser Offenen Schuld liegt auf der Bitte um Sündenvergebung.

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Nr. 32: Offene Schuld für die Hofkirche zu Dresden (1581)62 „Vermahnung zum volck. Geliebten In Christo, Dieweil wir alhie versamlet sind Im Namen des almechtigen gottes, Und haben sein heiliges seligmachendes wortt gehoret, So wollen Wir auch Uns gegen seiner hohen Göttlichen Maiestet demütigen, Und Ihme Von herzen alle Unsre Sünde bekennen, Beichten Undt mitteinander also sprechen. Beicht. [1] O allmechtiger gnediger Gott, barmhertziger Vater, Ich armer elender Sünder bekenne dir alle meine Sünde Vnd Missethat, Damit Ich dich jemalß erzörnet, Vnd deine Straffe zeitlich Vnd ewiglich Verdienet, [4] Sie sind mir alle herzlich leid Vnd rewen mich sehr, Vnd bitte dich durch deine grundlose barmherziegkeit, Vnd durch das heilige Vnschuldige bittre leiden Vnd sterben deines lieben Sohns Jhesu Christi, Du wollest mir armen Sünder gnedigk Vnd Barmherzieg sein, Amen. Absolution, Auf solch euer bekentnuß Verkündige Ich euch krafft meines ampts, als ein beruffener Vnd Verordeneter diener des worts, die gnade gottes, Vnd Vorgebe Euch anstadt Vnd auß befhell meines herren Jhesu Christi alle eure Sünde Im Namen Gott[es] des Vaters, sohns Vnd heiligen Geistes, Amen. Beschlus, Weil vns der gnedige barmhertzige Gott Vnsere Sünde Vnd Missethat Vergeben, So wollen wier Ihme auch nun ferner die nott der gantzen Christenheit Vortragen Vndt miteinander also beten […]“ [es folgt das Allgemeine Gebet] Nr. 33: Offene Schuld für die Kreuzkirche zu Dresden (1581)63 „Wyr wollen unß lieben freunde, vor gott unßerm himlischen vater demütigen, unsere ßünde bekennen, vnd vmb gnade vnd vergebung der ßel62 Ein offene Beicht vnd absolution, So da tzuo | | Dreßden In der Churfürstlichen Schloßkirchen | | auf der Cantzel nach gethaner Predigte | | gehaltten Und gesprochen wird. Dresden 1581. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc 8687. [handschr.] Vgl. auch: Müller, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 69f; EKO 1, 557. Die Offene Schuld ist eine Weiterbildung der Offenen Schuld aus Naumburg 1537/38 (s. o. Nr. 26). Vgl. dazu 88ff. 63 Theologische Händell, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc 8687. Vgl. auch: Müller, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 69, Anm. 92. Diese Offene Schuld ist wieder nach dem ma. Beichtschema aufgebaut, verzichtet aber auf das Aufzählen konkreter Einzelsünden.

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bigen durch chtm [=Christum] unßern herren bitten, der halben wollen myr myt warem bekenntnisch alßo nach sprechen [1] Ich armer ßündiger mensch bekenne mich dyr meynem gott vnd hern, das ich leyder dick [= oft] vnd viel geßündiget habe, [2] myt vielem thun das ich lassen solt, [3] vnd myt vielem lassen das ich thun ßolt, wie du ßie meyn gott vnd her an myr erkennest vnd ich leyder nicht alle erkennen kan, [4] so [=sie] sein myr doch von grundt meynes hertzen leyd, vnd begere von dyr genade. Nuh allen denen ßo das von grundt ihres hertzen bekennen und meynen, denen verkündige ich vergebunge der ßünden, vnd abßolvire sie da von, wegen meynes ampts, im namen des vaters vnd des sohns vnd des heiligen geistes amen +“ Nr. 34: Confiteor im Stil der Offenen Schuld, Baden (1720)64 „Unser Anfang seye im Namen GOttes deß Vatters/ deß Sohnes und deß heiligen Geistes/ Amen. Geliebte im HErrn ! Wir seynd an diesem heutigen H. Sonntag (Weyhnacht-Fest etc. oder Apostel-Tag) im Namen deß HErrn versammlet/ sein heiliges Wort zu hören; Damit dann solches mit wahrer Frucht von uns geschehe/ so wollen wir uns vor dem Angesicht deß allmächtigen ewigen GOttes demüthigen/ ihme alle unsere Sünden von Hertzen mit einander bekennen/ und also sprechen: [1] Allmächtiger barmhertziger GOtt und Vatter! wir bekennen und verjähen dir/ daß wir/ leyder ! in Sünden und Ungerechtigkeit empfangen und gebohren/ voller ubertrettung seynd in allen unserm Leben/ [3] als die deinem heiligen Wort nicht vollkommen glauben/ noch deinen Gebotten nachgeleben. [4] Das ist uns aber allen von Hertzen leyd/ und begehren deiner Gnade ; So erbarme dich nun über uns/ du allergütigster GOtt und Vatter ! und um deines lieben Sohns/ unsers Heylandes JEsu Christi willen/ seye gnädig/ und verzeihe uns alle unsere Sünde und Missethat/ die da/ leyder! schwer und groß ist/ und verleihe uns deine göttliche Gnade/ daß wir uns warhafftig bessern/ und im Leben deines lieben Sohnes immer wachsen und zunehmen. Hierauf lieset der Pfarrer der nachfolgenden Trost-Sprüche einen/ so auf selbigen Tag verordnet/ und spricht: Höret nun auch an den Trost deß heiligen Evangelii. (Es folgt ein Trostspruch) [für den 1. Advent z. B. Jes 62,10.11 oder Joh 1,11.12] 64 Kirchen-Agenda Baden, 1720, 7ff. Der Text der Offenen Schuld stammt aus Straßburg 1526 (vgl. Hubert, Ordnungen, 91f). Er wurde von Calvin für seine 1542 veröffentlichte Genfer Liturgie verwendet (vgl. Waldenmaier, Entstehung, 72). Vgl. auch die Offene Schuld aus Württemberg 1536, s. o. Nr. 24.

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Hierauf spricht der Prediger ferner also: Ein jedes erkenne sich in seinem Hertzen für einen Sünder/ und glaube an JEsum Christum/ unsern einigen Heyland/ so verkündige ich euch/ als ein verordneter Kirchen-Diener/ (statt eines verordneten KirchenDieners/) Vergebung aller eurer Sünden hie auf Erden/ daß ihr derer auch im Himmel loß seyd in Ewigkeit/ im Namen GOttes deß Vatters/ deß Sohnes und deß heiligen Geistes/ Amen.“ Nr. 35: Gemeinsame Beichte, Baden (1831)65 „[1] Vater im Himmel! Wir haben gesündiget, mannichfaltig gesündigt, [2] in Gedanken, Worten und Werken, [3] und sind der Heiligung unsers Sinnes und Lebens nach deinem Willen nicht so redlich und treu beflissen gewesen, als wir es dir gelobten. [4] Wir demüthigen uns aber vor dir, unserm allwissenden Richter, erkennen und bekennen unsere Sünden, und versprechen dir, mit deinem Beistande, besser zu werden. Hilf uns, lieber himmlischer Vater, und gib das Vollbringen zu dem Wollen. Stehe uns in dem Werke unserer Besserung mit allen Kräften deines guten Geistes bei, und führe uns auf diesem Wege durch Freuden und Leiden dem Tode und der künftigen Welt entgegen, wo uns erst die endliche Befreiung von der Macht der Sünde erwartet, und wo wir nur dir und der Tugend ewig und selig leben werden; amen. (Hierauf fragt der Geistliche:) 1.) Sind dieses, liebe Freunde, Euer aller aufrichtige Empfindungen, Bekenntnisse und Entschließungen, so bezeugt es vor Gott dem Allwissenden mit ‚Ja !‘ (Die Gemeinde antwortet:) Ja ! 2.) Wollt ihr den hier ausgesprochenen heiligen Vorsätzen mit Ernst und Treue nachkommen? (Die Gemeinde antwortet:) Ja, mit Gottes Hülfe! (Der Geistliche.) So setzet denn, wie die Schrift sagt, euere Hoffnung auf die Gnade, die uns angeboten ist durch die Offenbarung Jesu Christi, auf ihre freundliche Zusicherung: ‚So wir unsere Sünden bekennen und lassen, so ist Gott treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergibt, und uns reinigt von aller Untugend.‘ 65 Entwurf einer Agende Baden, 1831, 123f. Diese Gemeinsame Beichte ist als 2. Beichttext für eine Beichtfeier vorgeschlagen. Der Akzent liegt deutlich auf der Bitte um Sündenvergebung, Verleihung des Heiligen Geistes und Gabe des ewigen Lebens.

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Empfangt diesen hohen Trost der Religion mit wahrhaft bußfertigem, Gott und der Tugend wieder rein zugewandtem Herzen; kommt mit diesem Herzen voll heiliger Gefühle zu dem Mahl der Liebe, welches euch Jesus wieder zur Stärkung eures Glaubens, zum Trost eures Gewissens und zur Besserung eures Lebens bereitet, und vergeßt dann nie wieder, was euch der Herr Gutes gethan hat, der euer Leben vom Verderben errettet und euch krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, amen.“ Nr. 36: Confiteor mit dem Kyrie verknüpft, Bayern (1856)66 „2. Das Confiteor oder Sündenbekenntniß mit dem Kyrie oder HErr, erbarme Dich. a) Das Confiteor. Geistlicher (gegen die Gemeinde.) Geliebte in dem HErrn! Eröffnet eure Herzen; laßt uns Gott unsre Sünde bekennen und im Namen unsers HErrn Jesu Christi um Vergebung bitten. Sprechet mir nach mit herzlicher Begierde zu Gott, im Glauben an den HErrn Jesum Christum durch den heiligen Geist: (Gegen den Altar.) Ich armer sündiger Mensch bekenne Gott, dem Allmächtigen, meinem Schöpfer und Erlöser, daß ich nicht allein gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken, sondern auch in Sünden empfangen und geboren bin, so daß meine ganze Natur und all mein Wesen vor Seiner Gerechtigkeit sträflich und verdammlich ist. Darum fliehe ich zu seiner grundlosen Barmherzigkeit, suche Gnade und spreche: Gott, sei mir Sünder gnädig ! Ja, gnädiger und barmherziger Gott, Du wollest Dich unser aller erbarmen, uns unsre Sünde verzeihen und Deinen heiligen Geist geben, auf daß wir durch denselben Deinen göttlichen Willen erfüllen und das ewige Leben empfangen mögen. Amen. […] b) Das Kyrie. […] Geistlicher (gegen den Altar.) Kyrie eleison !

Gemeinde. HErr, erbarme Dich!

Geistlicher. Christe eleison !

Gemeinde. Christe, erbarme Dich!

Geistlicher. Kyrie eleison !

Gemeinde. HErr, erbarm Dich über uns!

66 Agenden-Kern Bayern, 1856, 4ff. Zur geschichtlichen Entwicklung s. o. 136ff.

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3. Die allgemeine Absolution mit dem Gloria in excelsis oder Ehre sei Gott in der Höhe. a) Die allgemeine Absolution Geistlicher (gegen die Gemeinde.) Der allmächtige und barmherzige Gott hat sich unser erbarmet, Seinen einigen Sohn für unsre Sünde in den Tod gegeben und um seinetwillen uns verziehen, auch allen denen, die an Seinen Namen glauben, Gewalt gegeben, Gottes Kinder zu werden, und ihnen Seinen heiligen Geist verheißen. Lobsinget Ihm, lobsinget Seinem Namen. b) Das Gloria Geistlicher (gegen den Altar.) Ehre sei Gott in der Höhe Gemeinde. Und auf Erden Fried und den Menschen ein Wohlgefallen. Gemeinde. Wir loben Dich, wir benedeien Dich, wir beten Dich an, wir preißen Dich, wir sagen Dir Dank um Deiner großen Ehre willen, […]“ Nr. 37: Einsicht und Umkehr67 „Herr, unser Gott ! Wie friedlos und unglücklich sind wir – voller Unruhe, voller Kleinmut, enttäuscht, verzagt, ohne Zutrauen zu dir, ohne Zutrauen zu den Menschen, mit denen wir leben, lieblos und kalt. Nun sind wir wieder zusammen vor dir: Herr, heute wenigstens möchten wir ins reine kommen, heute wenigstens möchten wir alle das Unheil hinter uns lassen, heute wenigstens wollen wir Frieden machen. Aber gerade vor dir erkennen wir: Wir können nicht einfach alles abwerfen, 67 Werkbuch Gottesdienst/hg. von Gerhard Schnath. Wuppertal 1967, 214. Dieser Text wird nicht als Sündenbekenntnis bezeichnet, sondern steht unter der Rubrik „Einsicht und Umkehr“. Trotzdem enthält er Elemente eines Sündenbekenntnisses, vor allem im mittleren Teil, der Unglaube und Lieblosigkeit als Gestalten der Sünde benennt (s. o. 169, Anm. 125). Eine Vergebungsbitte fehlt.

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was uns die Zeit über beschäftigt – unser Unglaube, unsere Lieblosigkeit, unser Unfriede mit dir und den anderen – wir werden nicht damit fertig. Du selbst mußt es tun, du selbst mußt uns Frieden geben, du selbst mußt unsere Unruhe, unseren Unfrieden, unser Unheil überwinden. Darauf warten wir jetzt zu dieser Stunde. Herr, unser Gott ! Rede so mit uns, daß wir deine Stimme vernehmen, rede so mit uns, daß alles verstummt, rede so mit uns, daß wir mutig werden zu deinem Frieden !“ Nr. 38: Sündenbekenntnis68 „[1] Mein Gott, meine Augen aufzuheben zu dir, muß ich mich scheuen. Denn Schuld lastet auf mir. Was ich getan habe, war nicht gut. Meine Werke stören deine Ordnung. [3] Ich habe keine Ruhe gelassen. Ich habe keinen Frieden gestiftet. Ich habe keine Liebe geübt. Ich habe keine Tür geöffnet. Ich habe kein Wort gesagt. Ich habe keine Hand gerührt. Ich habe keinen Schritt getan. Ich habe keinen Einspruch erhoben. Ich habe nicht nachgegeben. Ich habe nicht verziehen. Ich habe nicht gelacht. Ich habe nicht getröstet. Ich habe nicht versöhnt. Ich habe nicht verbunden. Ich habe nicht geschlichtet. [2] Ich habe geschwiegen. Ich habe weggesehen. Ich habe bagatellisiert. Ich habe Ausreden. Ich habe Alibis. Ich habe Termine. Ich habe Familie. [4] Ich habe Schuld. – Da ist sie. Nimm sie weg, mein Gott, und tilge sie.“

68 Gottesdienst ’75, 24. Mit dieser massiven Aufzählung von Einzelsünden wirkt das Sündenbekenntnis beinahe unglaubwürdig und lässt an krankhafte Schuldgefühle denken. Es entspricht kaum dem Empfinden des durchschnittlichen Gottesdienstteilnehmers und lenkt außerdem davon ab, was „Sünde“ wirklich ist. Die Offene Schuld ist – sicher nicht bewusst – nach dem viergliedrigen Beichtschema aufgebaut.

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Register Personenregister Althaus, Paul 145–169, 194, 202, 223–225, 231f Barth, Karl 145, 200–202, 206, 208, 210–216, 218–225, 231, 234, 248 Blarer, Ambrosius 84 Brenz, Johann 69f, 105 Bugenhagen, Johannes 97f, 109–112, 297, 299

Luther, Martin 12, 16–18, 20f, 40, 54–56, 58–68, 70, 72, 75, 86, 88, 90, 100–102, 104, 111, 115, 141f, 144, 147, 158, 162, 166, 179, 187, 216, 218, 252, 254, 257, 292, 305 Melanchthon, Philipp 70, 72, 112, 304 Müntzer, Thomas 78, 294 Osiander, Andreas 68– 73, 96, 98, 112

Dietrich, Veit 50, 64, 68, 72, 96 Rosenmüller, Johann Georg 131–133 Francke, August Hermann 115, 119 Friedrich Wilhelm III. 139 Funke, Christian 117 Jonas, Justus 85

Schade, Johann Caspar 116, 118, 122 Spener, Philipp Jacob 116, 119–122 Spitta, Friedrich 14 Surgant, Johann Ulrich 46–48, 281, 291f

Kliefoth, Theodor 137 Linck, Wenzel 69, 72, 96, 295 Löhe, Wilhelm 138f

Tertullian 28, 30 Tillich, Paul 145, 170–199, 223–225, 231

Orts- und Sachregister Abendmahl 13f, 18, 20, 23, 26, 62f, 69, 82, 84, 88, 92f, 96, 99– 102, 104f, 108, 113, 118, 122f, 125, 127–129, 133–135, 141–143, 161, 169, 193, 199f, 216, 218, 222, 224f, 242, 245–249, 252, 254, 284, 292 Abendmahlsvermahnung 66, 69, 75, 81–85, 87, 93–99, 108, 110– 112, 124, 130, 141f, 296 Ablass 38, 44, 280, 282, 292

Absolution 12, 14, 16–18, 21–23, 28, 33–35, 40, 42, 45, 47f, 51–53, 58, 61, 63, 66, 68–71, 73–75, 77–79, 81–91, 93–96, 98, 100–107, 112, 114f, 118–120, 123–127, 129, 131–137, 139–142, 144, 158, 160, 162f, 167, 169, 193, 199, 216, 218, 220, 223–225, 239, 242–244, 246, 248, 251f, 254, 256–258, 282, 287, 290, 294–296, 300, 305f, 308, 312

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– Generalabsolution 21, 33–35, 42, 51f, 82, 122, 289 Angst 149f, 172, 175, 182f, 186, 238, 251 Anthropologie 145, 171, 194, 201, 229 Apostolikum 45, 81, 84, 88, 109, 281f, 284, 290 Aurich 116–118 Baden 92, 124–129, 138, 303, 309f Beichte 9, 11f, 14–24, 26f, 34–40, 44– 47, 51, 54, 58–63, 65–69, 73–76, 81f, 88–93, 100–103, 105–110, 112–120, 122f, 125–134, 136–138, 140–146, 162, 168f, 191f, 219f, 222, 224f, 227, 231f, 240, 242–247, 249, 250–259, 279–284, 287, 295, 298, 310 – Beichte, allgemeine 34, 39, 42f, 45, 58f, 63, 79, 99f, 105–107, 118, 132, 134, 141, 167, 244, 283 – Beichte, gemeinsame 104, 241 – Beichte, gottesdienstliche 11, 15, 23, 44, 47, 54, 74, 76, 110f, 115, 129, 136, 140, 142f, 145, 232, 245, 249, 254, 258 – Einzelbeichte 12, 16, 18, 20, 23f, 49, 52f, 60–62, 69f, 72f, 76, 87, 90–107, 113–118, 120, 122f, 125–127, 129f, 133, 135f, 141–143, 162, 166f, 191f, 242, 251, 256, 258 – Herzensbeichte 12, 22, 39, 63f, 219, 255 Beichtempfängerformel 39, 279 Beichtformel 36, 38f, 101, 103, 115, 132, 142 Beichtfragen 118, 125, 127, 134 Beichtpfennig 103, 118f Beichtstuhl 102, 115, 119, 122, 131f Beichttexte 19, 36f, 39, 256 Beichtvesper 85, 92f, 98, 101, 105f, 115, 123, 125–127, 129, 134, 142 Bekehrung 159, 215 Berlin 11, 16, 18, 21, 29f, 35, 37, 40, 44, 58, 61, 66, 92f, 100, 116, 118, 122, 140, 156, 165, 170, 243, 254 Besessenheit 153, 184 Böse, das 151, 153f, 207, 211f, 223 Buße 11–13, 16, 26–33, 35, 49, 52f,

316

55–58, 60f, 65, 68, 84, 86, 99, 119, 126, 137, 141, 152, 155, 157, 167, 215, 218, 237, 249, 254, 281, 283f, 287, 292 – kanonische Buße 30f, 52 – Kirchenbuße 26f – öffentliche Buße 28, 30, 32 Bußinstitut 28f, 31f, 35, 52 Bußleistung 31–33, 52, 55 Bußsakrament 16, 42f, 54, 283 Christus 13–15, 22, 28, 55, 62, 65, 71, 73, 85, 128, 146–148, 156, 158, 161, 163, 165f, 171, 184f, 188, 193, 201, 203, 206–216, 218, 220–225, 227, 241f, 280, 289f, 293, 296–299, 302–304 Confiteor 12, 19–24, 48, 50–52, 76–81, 85, 88, 90, 111f, 124–128, 134–136, 138–143, 241–244, 252, 259, 280f, 286, 289, 293–295, 299, 303, 306, 309, 311 dämonisch 187, 190 Dämonisierung 190, 193 Didache 26, 99 Entfremdung 171, 175–187, 194f, 224, 230f Erbsünde 150f, 163, 175, 177, 180, 183f, 211, 224, 231 Exhomologese 28 Existenz 11, 148, 171–176, 182f, 187, 190f, 194, 199, 202–205, 210–213, 218, 236 Freiheit 41, 70, 146f, 152, 159, 172–177, 179–185, 194, 208, 210, 216, 222, 224, 236, 238, 258 Fürbittengebet, allgemeines Gebet 245–247, 253 Gebet 27, 30, 41–43, 49, 63f, 66, 68, 75, 79–86, 88, 90f, 93f, 96–98, 105, 108–110, 112f, 120, 124f, 134f, 137f, 142f, 162, 167f, 189–191, 193, 218, 223–225, 240f, 245f, 253f, 257, 282, 285, 292, 308

Gemeinde 14f, 19, 27f, 30–34, 37, 40f, 46, 52f, 60, 69, 76–78, 80f, 85f, 88, 90, 93, 96f, 99f, 102f, 109–112, 118, 120, 126–128, 134, 136, 139, 141f, 161, 165f, 168f, 189, 199f, 203, 217f, 220–222, 225, 227, 232, 237, 239, 245f, 252–254, 257–259, 294f, 306, 310–312 Gemeinschaft 10, 15, 28, 30, 32, 40, 60, 146–148, 157, 161, 166, 168, 169, 172, 181, 183f, 188f, 192, 197, 218, 222f, 225, 247, 253f Glaube 45, 61, 99, 147, 156f, 159, 161f, 166–168, 185f, 188, 192, 200, 218, 227 Glaubensverhör 58, 62f, 101 Gnade 14, 43, 47, 57, 92, 97, 126f, 130, 139, 155, 158, 165, 170, 181, 184, 186, 191f, 195, 197–199, 201f, 206–209, 212–214, 216, 219, 221, 224f, 234–238, 242–244, 248, 250f, 256, 281, 283f, 285f, 289, 293, 309–311 Gott 11f, 14, 18, 20, 22, 26, 28, 36f, 39, 42f, 45, 47, 49, 58f, 62, 65, 67f, 86f, 89f, 92f, 98, 100, 109f, 126, 130, 132, 139, 142, 144, 146–151, 153–166, 168f, 171, 174, 176, 178, 180–183, 185–192, 194, 196, 198, 201–209, 211–213, 215–217, 221– 224, 226–228, 230f, 238–241, 244, 247f, 253, 258, 279–281, 283, 285, 287–296, 298–305, 308, 310–313 Gottebenbildlichkeit 146–149, 164, 202, 248 Gottesdienst 9–16, 18, 20–23, 26, 33, 36f, 39, 41, 44, 63, 65–68, 74–77, 80–82, 84f, 90, 92, 94, 99, 101, 109, 123, 125f, 128f, 131, 134–138, 140, 142–145, 160, 166–168, 189, 191–193, 196, 198f, 216, 220–225, 231, 239–242, 244–247, 249–252, 254, 256–259, 285, 303, 312f Gründonnerstag 30, 32f, 52f Heiligung 79, 84, 87, 130, 168, 185, 188f, 195, 200, 215, 217, 244, 300, 310

Hochmut 200f, 205–207, 217, 219, 286, 288 Hybris 176, 178, 180, 184, 195 Indulgentiam 21, 35, 42, 46, 49, 50–52, 280, 287, 289, 291f Katechumenen 29 Kirche 10f, 13f, 16–19, 28f, 31f, 34, 36, 40, 42, 46, 50, 52, 60, 62, 70, 74f, 76, 83, 92, 100f, 106, 110, 112, 114, 125f, 128f, 138f, 141, 161f, 166f, 170, 185, 187–189, 192f, 197, 220f, 224, 227, 229, 231, 243, 248–251, 254, 256–259, 281, 283, 289–291 Kirche, keltische 31 Kirchenordnung 63, 69, 104 Kirchenraum 29, 197 Konkupiszenz 176, 178–180, 195 Kultus 14, 197–199 Kyrie 45, 50, 79, 85, 90, 112, 124–128, 135–140, 142, 168, 223, 244, 252, 284, 311 Lieblosigkeit 148f, 164, 169, 312f Liturg 46, 241, 243f, 257 Liturgie 15, 17, 19–22, 27, 29, 32, 37, 40f, 45, 48, 66f, 74, 88, 91, 98f, 102, 126, 128, 131, 135, 137f, 140–142, 167, 169, 171, 177, 190, 197–199, 221, 245f, 250, 309 Liturgik 9f, 16, 20, 76, 137, 140, 166, 196, 220, 255 Lüge 121, 200f, 205f, 209f, 213, 217, 219, 236 Mensch 11, 16, 34, 89, 99, 146–152, 155–160, 164, 166, 168f, 171–183, 185–189, 191, 194f, 201–211, 213–215, 217, 219–221, 223–227, 229, 230–233, 236–238, 240, 244, 248, 282f, 288, 311 Messe 30, 34f, 40f, 44, 48–52, 64, 66f, 75–79, 81–85, 93, 96, 98, 108–111, 136, 138, 289, 293, 295, 303, 306 Misereatur 38, 42, 46, 49, 51, 79, 280f, 286, 289, 291–293, 296

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Nürnberg 11, 68f, 71f, 77f, 83, 92, 96, 111f, 115, 124, 132, 271, 293, 295, 300 Pfarrmesse 34, 40f, 48, 53 Predigt 12–14, 18–21, 33, 37, 40f, 47f, 53, 56, 58, 61, 64, 66, 71–73, 76, 79–85, 87–90, 93–99, 108–112, 119f, 124, 128f, 134–137, 139, 141– 143, 160, 162, 167, 169, 187, 192, 196–198, 217, 222, 243, 245–247, 253, 259, 292 Pronaus 34, 41, 43–45, 47f, 52f, 64, 67, 76, 79, 81–85, 87f, 95–97, 109–112, 245f, 281, 284, 292 Rechtfertigung 14, 73, 100, 149, 156– 160, 165, 168, 185–188, 193, 195f, 198–200, 213–217, 220, 224f, 256 Reformation 11, 21, 26, 36, 41, 44, 46, 66, 71, 74, 76f, 100, 109, 113, 137, 186f, 194, 283, 300 Ritual 12, 102, 108, 132, 232, 253f, 256f Ritus 34, 49f Sachsen 63, 74, 76, 83, 88, 93f, 101, 124, 129, 130, 133–136, 255, 269 Sakrament 12, 16f, 47, 63, 66, 73, 83, 95, 98, 126, 141, 158, 160f, 169, 192f, 217, 222, 254 sakramental 35, 42, 51, 53, 192f Sakramentalien 42 Schicksal 11, 155, 172–175, 177f, 180f, 184 Schöpfer 147f, 164, 201f, 206, 212, 223, 311 Schöpfung 146f, 154, 165, 176, 182, 200–203, 212f, 231, 234, 248 Schöpfungslehre 146 Schöpfungstheologie 158, 163 Schuld 10–12, 18, 20, 22f, 26, 33–35, 39–41, 43–49, 52, 60, 62–68, 75, 78–85, 87f, 90f, 93–95, 98, 100, 103, 105, 109f, 112, 114, 124–129, 134– 136, 138f, 141–144, 148, 155f, 160, 165, 167, 169, 171, 174–178, 180f, 183, 186, 194f, 207, 211, 217, 224f,

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227–232, 238f, 241–249, 251–253, 255–259, 280–283, 287, 289, 292f, 295, 299f, 302f, 306–309, 313 Schuld, Offene 12, 19f, 22–24, 37, 39, 40f, 43–48, 51f, 65–67, 69, 76, 78f, 81–88, 90–96, 98, 102–105, 108, 109f, 112, 124, 127, 129, 134f, 141, 143, 241, 245–247, 251, 256, 284, 286, 292, 295, 297, 300, 302f, 305–309, 313 Sein, Neues 171, 185, 193, 224 Sinn 16f, 40, 45, 63, 66, 83, 95, 98, 112, 142, 147, 152, 155, 158f, 161, 163, 167–169, 173f, 181–183, 186–191, 197–199, 202, 207, 210, 212, 215, 217, 221, 227, 233, 246, 252, 254, 301 Strafe 28, 154–156, 183, 191, 213, 255, 304 Sünde 11, 12, 14, 17f, 26, 28–30, 32, 34, 36, 43, 45, 60, 79, 81, 86, 89, 91, 93, 95f, 99, 124, 138, 142, 144–161, 163–166, 169, 171, 176f, 179–184, 187, 189, 191f, 194f, 199, 201–213, 216, 219, 220, 223–244, 247–250, 253–255, 257f, 283, 285, 288, 291, 295, 298, 303f, 308–313 – Erbsünde 150f, 163, 175, 177, 180, 183f, 211, 224, 231 – Menschheitssünde 149–151, 224, 231, 253 – Personsünde 149–151, 163 – soziale Sünde 231 – strukturelle Sünde 231f – Ursünde 211, 224, 231 Sündenbekenntnis 14, 16–22, 26, 28, 31–33, 35, 39f, 43, 49–53, 55, 65f, 68f, 77–79, 81–83, 85, 87f, 90, 92–95, 100, 105, 124f, 127f, 133, 135, 137, 139f, 142, 144, 167, 169, 192, 194, 199, 216, 220, 223, 225, 238–246, 248, 250, 252, 258, 284, 294f, 300, 302, 312f Sündenkatalog 40 Sündenlehre 145f, 163, 170, 194f, 201, 219f, 234, 238 Sündhaftigkeit 39, 61, 82, 145, 184, 205, 219, 234–237, 253

Symbol 173, 180, 187, 196, 248 Systeme, soziale 233, 236–238 Taufe 27, 29, 47, 57, 132, 158, 160, 200, 216–218, 222, 257, 281, 283 Tauferinnerung 257 Trägheit 200f, 205f, 208f, 217, 219, 235, 283, 288 Übel, das 181f, 212f, 280 Unglaube 148f, 169, 176, 178, 180, 195, 204, 208, 312f Unschuld 174f Urbeichte 36 Vaterunser 40f, 44f, 47f, 64–66, 75, 79, 81–85, 88, 94–98, 110, 141f, 224, 281f, 284, 292 Vaterunserparaphrase 64, 66, 75, 82, 84, 93–95, 97, 98, 111, 130, 141f, 296

Vergebung 12, 14, 21f, 34, 39, 42, 45–47, 60f, 66f, 73, 82, 87, 89, 94–96, 124, 130, 144, 155, 156, 159–163, 165, 167–169, 171, 180f, 183, 185–187, 189, 191f, 194f, 198, 214–217, 220, 223–225, 229, 238–242, 244, 247–250, 252–254, 256–258, 280, 283, 287, 289–291, 295, 300, 304, 310f Versöhnungslehre 200, 205, 215 Volkssprache 37, 48 Wiedergeburt 185f, 188, 195, 215 Wirtschaft 184, 196, 198, 229, 233–235 Zerrissenheit 187, 194 Zuspruch 22, 47, 158, 163, 216, 257 Zweidrittelwelt 228, 231

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 55: Wolfgang Wiedemann »Act of Faith«

50: Constanze Thierfelder Durch den Spiegel der Anderen

Der Beitrag Wilfred Ruprecht Bions für eine Analytische Seelsorge 2008. Ca. 460 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62401-2

Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung 2008. Ca. 256 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62394-7

54: Klaus Kohl Christi Wesen am Markt

49: Andrea Grillo Einführung in die liturgische Theologie

Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 2007. 323 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62402-9

53: Gerald Kretzschmar Kirchenbindung Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation 2007. 384 Seiten mit 1 Grafik und mehreren Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62398-5

52: Harald Beutel Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780–1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung 2007. 320 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62396-1

51: Jörg Herrmann Medienerfahrung und Religion Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62397-8

Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente Übersetzt und eingeleitet von Michael MeyerBlanck. 2006. 252 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62393-0

48: Alexander Deeg Predigt und Derascha Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum 2006. 608 Seiten mit 1 Grafik, 8 Tab. und 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62390-9

47: Eike Kohler Mit Absicht rhetorisch Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 2006. 320 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62389-3

45: Ralf Günther Seelsorge auf der Schwelle Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis 2005. 357 Seiten mit beigelegter Begleit-CD, kartoniert. ISBN 978-3-525-62382-4