Schtetl, Stadt, Staat: Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783205206927, 9783205206088


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German Pages [482] Year 2017

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Schtetl, Stadt, Staat: Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783205206927, 9783205206088

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Schriften des Centrums für Jüdische Studien Band 27 Herausgegeben von Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz

Petra Ernst

SCHTETL, STADT, STAAT Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von Gerd Kühr, Gerald Lamprecht und Olaf   Terpitz Mit einem Vorwort von Jay Winter

2017 BÖHLAU V ER LAG W IEN KÖLN W EIM AR

Veröffentlicht mit der Unterstützung durch: Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7, Wissenschafts- und Forschungsförderung Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Referat Wissenschaft und Forschung Karl-Franzens-Universität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung  : Lee Miller, Portrait of Space. Al Bulwayeb, Near Siwa, Egypt 1937 © Lee Miller Archives, England 2017. All rights reserved. www.leemiller.co.uk Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20608-8

Inhalt

Jay Winter: The Poetics of Jewish Space . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Literatur als Sozialsystem und Symbolsystem . . . 2. Das Teilsystem Deutschsprachig-jüdische Literatur . 3. Poetologie des Orts.. . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Raum – Ort – Narrativität. . . . . . . . . . . . . . 5. Text und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Semantisierung von Raum.. . . . . . . . . . . . .

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II. Das erzählte Schtetl und Dorf – Ghettogeschichten. . 1. Schtetl, Gasse und Ghetto – historische Aspekte . . 2. Ghettogeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Entstehung und definitorische Annäherung . . . . . 2.2 Ghettogeschichte – Medium der Erinnerung.. . . . 3. ›Jüdische‹ Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Haus und Stube.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Cheder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Synagoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Räume der Begegnung und der Konfrontation . . . 4.1 Schenke und Gasthaus . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gasse – Straße – freies Feld.. . . . . . . . . . . . . 4.3 ›Christliche‹ Orte. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die erzählte Stadt – Großstadtromane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Berlin und Wien in der deutschsprachig-jüdischen Literatur um 1900 .190 2. Die erzählte (jüdische) Stadt – Raum der Erfahrung . . . . . . . . . . . 196 3. Fritz Mauthner Der Neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin (1882) . . . . 202 3.1 Historischer Hintergrund.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3.2 »Heimat« versus »Vaterland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3.3 Ort der Herkunft  : Die Prager Josefstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.4 Topologien des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4. Georg Hermann Jettchen Gebert (1906).. . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.1 Bürgerliche Identität und räumliche Gebundenheit . . . . . . . . . . . . 231

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Inhalt

4.2 Wege im Freien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4.3 Der ›gute Ort‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

5. Hugo Bettauer Stadt ohne Juden (1922) – Artur Landsberger Berlin ohne Juden (1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Schtetl und Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wien und Berlin als Orte des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . 5.3 Geteilter Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 ›Eigener‹ Innenraum – ›Fremder‹ Außenraum . . . . . . . . . . . . . 6. Leopold Hichler Der Sohn des Moses Mautner – Ein Wiener Roman (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Konstellationen des sozialen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 »Vom echt jüdischen Hause« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kulturelle Manifestationen der Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der erzählte Staat – Zionistische Romane . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Text – Nation – Zeichen – Territorium.. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der (erzählte) Staat – Raum der Erwartung. . . . . . . . . . . . . . 3. Theodor Herzl Altneuland (1902). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Orte des Aufbruchs  : Krakau – Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Orte der Ankunft  : Die Insel – Altneuland . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Bewegter Raum  : Das Schiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ernst Sommer Gideons Auszug (1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Räume des Realen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Räume des Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sammy Gronemann Tohuwabohu (1920) . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 ›Klassifikationen‹ des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Eruv – ›Vermischung‹ des Raums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Paradoxien des Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Karl Teller Altneue Menschen. Ein Judenroman (1926) . . . . . . . . . 6.1 Orte/Räume der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Orte/Räume des Privaten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Der ästhetische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Lothar Brieger-Wasservogel René Richter. Die Entwicklung eines modernen Juden. Berliner Roman in 3 Büchern (1906) – Selig  Schachnowitz Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart (1912) – David Weinbaum Gerson Regensburger. Ein jüdischer Bauer (1920).. 7.1 Orte/Räume des Vertrauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Orte/Räume der Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Orte/Räume der Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt 

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V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 VI. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 VII. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472

Jay Winter: The Poetics of Jewish Space

Sometimes the house of the future is better built, lighter and larger than all the houses of the past, so that the image of the dream house is opposed to that of the childhood home […] Maybe it is a good thing for us to keep a few dreams of a house that we shall live in later, always later, so much later, in fact, that we shall not have time to achieve it. For a house that was final, one that stood in symmetrical relation to the house we were born in, would lead to thoughts – serious, sad thoughts – and not to dreams. It is better to live in a state of impermanence than in one of finality. Gaston Bachelard, The Poetics of Space (1958)

Petra Ernst’s achievement in ‘Shtetl, City, State: Space and Identity in German-­ Language Jewish Literature of the 19th and early 20th Century’ is to have uncovered in rich and original ways a poetics of Jewish space within the work of several generations of German-language writers facing major upheavals in the period from the mid-nineteenth-century to the First World War. Just as Bachelard explored the dreams and possibilities inherent in the poetics of architectural space, so too Ernst pointed out to what extent German-language Jewish writers imagined Jewish identity both then and in the future within a spatial framework. Like most innovative interpretations, Ernst’s argument seems hardly surprising, though only after she completed it. Traditional Jewish life in the rural world of Galicia and in the Pale of Settlement to the east and north came under intense pressure in a period of massive outmigration and urbanization. Towns and cities were transformed in decades. The population of Vienna and Berlin trebled in the period 1880–1910, attracting people from rural areas in the east of the Austro-Hungarian, German and the west of the Russian empires. The incorporation of suburbs changed metropolitan boundaries too, and vast building projects constructed much of the urban façade of these cities which has lasted to our own days. Newspapers, literary reviews, publishing houses flourished. This metropolitan moment had major effects on the cultural life of both sending and receiving regions. The growth of transportation networks both within and around these burgeoning cities opened up possibilities of urban or metropolitan life for large numbers of people in adjacent regions. So far we are on traditional ground. But Ernst went beyond this point. The triad she constructed of Shtetl, or Jewish village, city and state both describes a vector of migration, but also serves as a site of imaginative speculation as to where Jewish life, traditional or secular, could be lived.

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Jay Winter

Space, in Ernst’s usage, is a constellation of meanings attached to places, which are the inhabited sites in which spatial systems come to have meaning. Ernst develops this distinction on both the micro and the macro levels. The eruv, the lane, the shul are places around which the space of Jewish life in the shtetl operates on the micro level. The village, the city, the state or empire are places too on the macro level, that is to say, elements in a spatial constellation of Jewish life that extends even into the state of future Jewish life imagined by Herzl and others. The triad shtetl – city – state had their corresponding literary forms as well: the Ghettogeschichte, the Großstadtroman, and the Zionist novel. All three demonstrate the symbiotic relationship between literary genres and history. Ernst shows clearly how in each of them, we find the binary form, or division between old/new, traditional/modern, unassimilated/assimilated, East/West. Here is a literary terrain recognized in the abundant literature surrounding the Yiddish writings of the Singers and others, but until now, the work of Jewish writers working in German has not been subject to the same rigorous spatial analysis. Furthermore, Petra Ernst offers critical readings of a number of approaches to what may be termed the ‘spatial turn’, and thereby points a way forward for students of German, Jewish, and broader cultural movements. The upshot of her deep research is to offer us a much more complicated sense of the spatial possibilities of the German Jewish imagination, not only based on the slow withering away of the life of the shtetl in the era both before and (more rapidly and violently) during and after the First World War. Hers is no linear history of the path from innocence to experience, or from belief to atheism, or from the comforting glow of Jewish Gemeinschaft to the cold harshness of modern Gesellschaft. What may have begun as binaries turns into complexities moving in multiple directions. ‘Authentic Jewish life’, however one takes that term, could be lived in many places or in none; of this the writers she examines were clear. The poetics of Jewish space they developed, Ernst argues convincingly, infused their works with a deep understanding of the staggering transformation of sites of Jewish experience at the time, and breathed life into their rich meditations on the nature of Jewish identities. All of them knew doubt. Like Bachelard, many of the writers whose work Ernst examines knew that when faced with these vexed questions, impermanence and not finality was their inevitable fate. Jewish space, like every other kind, knows no fixed position. Her tragic death which put an end to the burgeoning literary scholarship of Petra Ernst has deprived us of one of the most creative colleagues in the field of cultural studies per se, and of Jewish cultural studies in particular. Her mastery of literary and critical theory, alongside her original readings of texts, both liter-



The Poetics of Jewish Space 

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ary and historical, put her in a position to move from this Habilitationsschrift to a broader reconsideration of Jewish cultural life in Central and Eastern Europe in the period of the Great War and after. That is not to be, but it is up to those of us who were and are inspired by her work to try to realize the potential inherent in her interpretation of the poetics of Jewish space. That task remains to be done.

Einleitung

Spätestens im Zuge des zunehmenden Theoriebewusstseins in den Literaturwis­ senschaften seit Beginn der 1980er-Jahre gerieten ›alte‹ Gewissheiten über die vorgebliche Einheitlichkeit nationaler Literaturen, über vermeintlich eindeutige Ordnungsvorstellungen und kausal ablaufende Entwicklungen in der Literatur(geschichte) oder über literarische Wertung und Kanonbildung ins Schwanken. Durch interdisziplinäre, multiperspektivische, mithin kulturwissenschaftlich orientierte Ansätze, die nach und nach Einzug in die Germanistik hielten, eröffneten sich neue und Disziplinen übergreifende Forschungsfelder. Etwa zur selben Zeit setzte auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ­Juden in der deutschen Literatur ein. 1983 fand in Jerusalem unter diesem Titel ein »deutsch-israelisches Symposion«1 statt, »um über jene deutsch-­jüdische Litera­turgeschichte zu sprechen, die 1933 so grauenvoll und unwiderruflich zu Ende gegangen ist.«2 Wenngleich von den israelischen und deutschen Vortragenden damals nicht nur über berühmte Größen wie Paul Celan, Walter Benjamin oder Kurt Tucholsky, sondern auch über in Vergessenheit geratene Werke und Autoren referiert wurde, verfolgte man diesen Ansatz an deutschen und österreichischen Universitäten kaum weiter. Man beschränkte sich in der Beschäftigung mit deutschsprachig-jüdischer Literatur im Wesentlichen auf prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller, wie ‒ um nur einige wenige zu nennen ‒ Heinrich Heine, Franz Kafka, Joseph Roth, Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger oder Stefan Zweig. Daran änderten auch die ebenfalls in den 1980er-Jahren verfassten Studien von Hans Otto Horch und Itta Shedletzky3 vorläufig nur wenig. Horch und Shedletzky machten auf das weite Feld der deutschsprachig-jüdischen Erzählliteratur, die sich abseits der ›großen Namen‹ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt und etabliert hatte, aufmerksam  ;4 gleichzeitig zeichneten sie die sich im Zuge dieser ›literarischen Emanzipation‹ entfaltenden Diskurse in jüdischen Zeitschriften nach. Erst seit 1

Siehe dazu Stéphane Moses und Albrecht Schöne (Hg.), Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt am Main 1986. 2 Moses, Schöne, Juden in der deutschen Literatur, [Verlagsinformation, Innenseite o. P.]. 3 Horch Hans Otto, Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der Allgemeinen Zeitung des Judentums (1837–1922), [=  Literarhistorische Untersuchungen  ; 1]. Frankfurt am Main, Bern, New York 1985, sowie Itta Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik in den juedischen Zeitschriften in Deutschland 1837–1918, Phil. Diss. Jerusalem 1986. 4 Gustav Karpeles sprach schon 1898 von »populärer« Literatur. Siehe Gustav Karpeles, Eine Ghetto-Geschichte, in  : Allgemeine Zeitung des Judentums 62 (1898) 11, S. 131–132, hier S. 131.

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Einleitung

Mitte der 1990er-Jahre erschienen dann zunehmend Ausgaben von Werken jüdischer Autorinnen und Autoren, deren Namen ‒ oft durch den Holocaust ‒ in Vergessenheit geraten waren, sowie Dissertationen, Monographien, Artikel und Sammelbände, die sich nicht zuletzt der von Jonathan M. Hess so bezeichneten middlebrow literature widmeten.5 Abseits der damit vermittelten Einzelerkenntnisse verwiesen all diese Arbeiten punktuell auf jenes reiche literarische Segment, das die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur seit Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich geprägt und (mit)gestaltet hatte. Eine umfassende und systematische Darstellung deutschsprachig-jüdischer Literatur von ihren Anfängen im Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart fehlt aber bis heute.6 Das kann (natürlich) auch die vorliegende Studie nicht leisten. Ziel ist es aber, ein größeres Korpus exemplarischer Erzähltexte, deren Entstehungszeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und den späten 1920er-Jahren liegt, einer systematischen Betrachtung zu unterziehen. Die forschungsleitenden Paradigmen beziehen sich dabei auf Raum und Identität. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit deutschsprachig-jüdischer Literatur hat es mit einem verhältnismäßig jungen Untersuchungsgegenstand zu tun. Erst im Zuge der Haskala, der jüdischen Aufklärung, begann sich eine eigenständige säkulare jüdische Literatur in deutscher Sprache auszubilden. Laut Philo-Lexikon »[…] beginnt ein jüdisches Schrifttum in deutscher Sprache mit Moses Mendelssohn.«7 Mit seiner Bibelübersetzung ins Deutsche ab 1778, setzte, wie Stephan Braese feststellt, »der Eintritt der mittel- und ostmitteleuropäischen Juden in die deutsche Sprache zu einem Zeitpunkt ein […], als die moderne Spaltung von ›Literatur oder Poesie einerseits, wahrheitsfähigem Wissen oder gar Wissenschaft andererseits‹ in die ›zwei Kulturen‹ noch nicht vollzogen war«.8 Die mit der Bibelübersetzung verbundene Aufwertung der deutschen Sprache für das Judentum ist also in etwa zeitgleich bzw. im unmittelbaren Vorfeld jener Entwicklungsprozesse anzusetzen, die man allgemein als ›Autonomisierung der Literatur‹ versteht. Als erster bedeutender deutschspra5

Jonathan M. Hess, Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity. Stanford/California, 2010. 6 Das mag u. a. auch damit zusammenhängen, dass es im deutschsprachigen Raum nur sehr wenige eigens gewidmete Lehrstühle für jüdische Literatur gibt (in Österreich nicht einmal einen einzigen Lehrstuhl). 7 Philo-Lexikon, Handbuch des jüdischen Wissens, unveränd. Nachdruck der dritten, vermehrten und verbesserten Aufl., Berlin 1936, Frankfurt am Main 1992, S. 663. Als erster bedeutender deutschsprachig-jüdischer Erzähltext gilt Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt und herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Berlin 1792. 8 Stephan Braese, Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930. Göttingen 2010, S. 21.



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chig-jüdischer Erzähltext gilt schließlich die in redaktioneller Zusammenarbeit mit Karl Philipp Moritz herausgegebene Autobiographie Salomon Maimons aus dem Jahr 1792.9 Die erzählende Literatur blieb fortan das bevorzugte Format jüdischen Schreibens.10 Vergegenwärtigt man sich die Fülle deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur, die ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allein bis zur rechtlichen Gleichstellung der Juden in der Habsburgermonarchie 1867 und in Deutschland 1871 entstand, so darf schon aus der Tatsache der enormen Produktivität der Autoren auf ein bis dahin unbekanntes jüdisches Selbstverständnis geschlossen werden. Das Schreiben von Romanen wurde nicht zuletzt als gesellschaftliche Aufgabe verstanden  : »es giebt für jüdische Federn keine schönere Aufgabe, als an der Abfassung solcher Romane sich zu versuchen.«11 Dieses neue Bewusstsein war getragen von der Aufbruchsstimmung vieler Jüdinnen und Juden, die im Zuge der Modernisierungsprozesse entstehenden Möglichkeiten zu nutzen, Gesellschaft aktiv mitzugestalten, am säkularen kulturellen Leben zu partizipieren und im Zuge der mit der Verbürgerlichung einhergehenden ›Autonomisierung der Künste‹ auch als Kunstschaffende, Vermittler und Mäzene zu wirken.12 Die verstärkt einsetzende literarische Produktion darf aber keineswegs als Ausdruck einer einseitig vollzogenen Akkulturation interpretiert werden, sondern vielmehr als gelungene Umsetzung einer selbstbewussten Positionierung, die Integration und Partizipation sowie Abgrenzung und Differenzierung innerhalb eines nicht  9 Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt und herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Berlin 1792. 10 Siehe dazu Mark H. Gelber, Stefan Zweig, Judentum und Zionismus. Innsbruck et al. 2014, S.  148 f. Noch 1901 hatte z. B. Martin Bubers spätere Frau Paula Winkler ‒ hier im Zusammenhang mit dem zukünftigen ›Kulturprogramm‹ der Kulturzionisten ‒ an Buber geschrieben  : »An die Existenzfähigkeit einer jüdischen Lyrik, ja an die große Zukunft einer solchen glaube ich unbedingt. Der Roman ist ja schon da. […] Das Drama aber, glaub ich, wird das Schmerzenskind sein.« Zitiert nach Gelber, Stefan Zweig, S. 149. 11 O.  V., »Ein Hirsch-Roman«, in  : Jüdische Monatshefte  1 (1914), S.  436–441, hier S.  441. Der Artikel bezog sich auf Selig Schachnowitz’ Roman Luftmenschen. 12 Den Begriff ›Autonomisierung der Literatur‹ beziehe ich ‒ sehr weit gefasst ‒ auch auf jene Literatur, die als »populär« bezeichnet wird, mithin auf jene gehobene Unterhaltungsliteratur, die im 19. Jahrhundert häufig auch als »Journalprosa« massenhaft verbreitet wurde. Vgl. weiterführend Manuela Günter, Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008. Als ›autonom‹ kann Literatur m. E. dann bezeichnet werden, wenn sie ‒ pauschal gesagt ‒ unabhängig von herrschaftlichen, machtpolitischen oder ideologischen Zwängen entstehen bzw. sich in ihrer inhaltlichen und ästhetischen Gestaltung davon (weitgehend) freihalten kann. Dieses Autonomie-Verständnis basiert auf immanent literarischen Prämissen und korrespondiert daher nicht mit den Annahmen des New Historicism, wonach Autonomie im künstlerischen Prozess prinzipiell unmöglich erscheint.

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Einleitung

jüdischen dominanten Umfelds verbinden konnte. Diese Literatur entstand ja nicht in oder aus einem Vakuum, sondern sie entwickelte sich in einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit der jüdischen Diasporasituation an unterschiedlichen geographischen Orten in je unterschiedlichen kulturellen Räumen. Bereits diese sehr allgemeine Beobachtung lässt den Schluss zu, dass die Kategorie Raum, die nicht zwangsläufig territorial zu verstehen ist, eine zentrale Funktion in der deutschsprachig-jüdischen Literatur einnimmt. Jüdische Lebenswelten im Europa des späten 18. und 19. Jahrhunderts waren nicht nur durch traditionelle jüdische Diaspora-Vorstellungen geprägt, sondern auch durch konkrete, räumlich signifikante Wohnsituationen, durch (regional unterschiedlich) verordnete, aber auch selbst gewählte Separierung von Siedlungsgemeinschaften oder durch symbolische Grenzen markierte Räume. Spätestens mit dem erwachenden Zionismus wurden schließlich sowohl die althergebrachten Auffassungen von Diaspora und Exil als auch Wohn- und Lebensmodelle von Jüdinnen und Juden zur Diskussion gestellt. Es nimmt also nicht wunder, dass raumbezogene Ideen und gesellschaftliche Prozesse sowie daran anschließende Diskurse grundlegenden, – um nicht zu sagen – geradezu Text konstituierenden Einfluss auf die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Literatur haben sollten. Auf diese ersten Überlegungen bezieht sich die vorliegende Studie als Ausgangspunkt. Sie versteht sich als Beitrag zu einer raumtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft im Bereich der jüdischen Literaturstudien und der Germanistik. Den Untersuchungsgegenstand bilden exemplarische deutschsprachig-jüdische Erzähltexte vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren topographische Bezugsrahmen auf einer Makroebene das Schtetl, das Dorf oder die »Gasse«, die Stadt sowie der imaginierte »Judenstaat« darstellen. Diese Texte zeichnen sich durch ihr poetologisches Potenzial aus, eigenständige Genres auszubilden  : die Ghettogeschichte, den Großstadtroman und den zionistischen Roman. Auf einer Mikroebene sind diese Texte wiederum von spezifischen Raumkonstellationen und Orten, die jenseits ihres Schauplatzcharakters bedeutungsgenerierende Funktion im Gesamtgang der erzählten Handlungen besitzen, gekennzeichnet. Durch eine Art Wechselwirkung zwischen historischer Realität und – diese wiederum häufig zeitnah – reflektierender Fiktion steigerte sich das Identifikationspotenzial dieser Texte für das Lesepublikum insofern, als der Nachvollzug beschriebener Handlungen, Debatten und Lebenswelten – so lautet eine Ausgangsthese  – durch topisch gesetzte, an je spezifische Orte gebundene Motive zentriert und damit gefördert wird. Das erzählte Schtetl oder Dorf, die erzählte Stadt und der erzählte bzw. imaginierte Staat werden durch ein je unterschiedliches topographisches Setting  – z. B. bestimmte (An)-Ordnungen von Straßen, die Fokussierung auf signifikante Gebäude und Räumlichkeiten, architektonische Aufbau- und Verfallsszenarien –, aber auch durch



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die Situierung und Bewegung von textrelevanten Gegenständen und vor allem der handelnden Figuren als relationale, dynamische und oft instabile Räume entworfen. Gleichzeitig strukturieren teils hochgradig semantisierte Raumkonstellationen das Geschehen und den Erzählvorgang. Räume fungieren im Zuge dessen als ‒ sozial, rituell und/oder habituell verstandene ‒ narrative Konstruktionen mit dem Potenzial, als konstitutiver Teil der erzählten Geschichte(n) wirksam zu werden. Innerhalb der Makroräume markieren benennbare Orte wie die Synagoge, die Schenke oder der Cheder identitäre Bezugspunkte für die Figuren, die sich dort aufhalten. Auch diese Orte werden erzählerisch jenseits simpler Schauplatzfunktionen gewissermaßen als abstrakte Aktanten in die Handlungen eingebunden. Im ersten Kapitel der vorliegenden Studie werden methodisch-theoretische Voraussetzungen erörtert  : zuerst das im Rahmen dieser Untersuchung zugrunde gelegte Literaturverständnis sowie weiterhin relevante Aspekte im Hinblick auf die narratologisch relevanten Kategorien Ort und Raum sowie schließlich (auch historisch relevante) Zusammenhänge zwischen Text und Identität. Das zweite, dritte und vierte Kapitel sind dann jeweils der Auseinandersetzung mit einem Genre gewidmet  : der Ghettogeschichte, die u. a. als Medium der Erinnerung, dem Großstadtroman, der als Medium der Erfahrung und dem zionistischen Roman, der als Medium der Erwartung angenommen wird. Vor diesen Prämissen wird in den textanalytischen Unterkapiteln ein breites Spektrum konkreter Fragestellungen verhandelt  : Wie werden in den Erzählungen und Romanen Orte und Räume narrativ hergestellt  ? Welche raumbezogenen Topoi und Motive lassen sich in Ghetto- und Großstadtgeschichten sowie in zionistischen Erzähltexten beobachten, und in welchen funktionalen Zusammenhängen stehen sie  ? Welche Raumkonstellationen werden in den einzelnen Texten entworfen, wie sind sie semantisiert und inwiefern strukturieren sie die Texte  ? Welches Verhältnis besteht zwischen den narrativ entfalteten Raumkonstruktionen, den erzählten Orten und den textimmanent vorgeführten Identitätsdebatten  ? Unter welchen diskursiven Prämissen werden die Erfahrungen seit der Haskala und der damit verbundenen politischen, sozialen sowie kulturellen Neuorientierungen für Juden in Deutschland und der Habsburgermonarchie literarisch zu fassen versucht  ? Wie erzählen fiktionale Geschichten den Wandel von außerliterarisch relevanten Identitätskonzeptionen und Prozessen der Sinnverständigung (nach), und inwieweit sind sie selbst Teil dieser (außerliterarischen) Entwicklungen  ? Gibt es regionale Unterschiede in der Ausformung bestimmter (topographischer) Erzählmuster und Motive  ? Hinter all dem steht eine übergeordnete Frage, nämlich die nach der Funktion von deutschsprachig-jüdischer Literatur im Rahmen der umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen im Untersuchungszeitraum zwischen 1840 und Ende der 1920er-Jahre. Zweifellos ‒ das

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sei als These dieser Studie formuliert ‒ übernimmt die Literatur eine wesentliche und eigenständige Rolle, um nicht zu sagen eine Leitfunktion, im Rahmen der Prozesse (post-)emanzipatorischer jüdischer Identitätsbildung, und zwar in einem Ausmaß, das vor allem in der Geschichts-, aber auch in der Literaturwissenschaft bisher zu wenig gewürdigt worden ist.13 Es gilt die Annahme, dass auch für die deutschsprachig-jüdische Literatur von Bedeutung ist, was Dieter Henrich allgemein festgestellt hat  : [dass] insbesondere die Literatur […] viele ihrer Themen aus Identitätsproblemen zu ziehen vermag. Die Dekomposition von Charakteren, der Gang des Lebens durch konkurrierende Entwürfe der Lebensintegration, der Konflikt von inkompatiblen Identitätsansprüchen ist sicher eines der thematischen Felder, in denen sich die moderne Literatur entfaltet hat.14

13 Stellvertretend seien hier als Ausnahmen erwähnt  : Armin A. Wallas (Hg.), Jüdische Identitäten in Mitteleuropa  : literarische Modelle der Identitätskonstruktion, unter Mitwirkung v. Primus-Heinz Kucher. Tübingen 2002, und Klara Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Königstein/Ts. 1981. 14 Dieter Henrich, ›Identität‹ – Begriffe, Probleme, Grenzen, in  : Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, [= Poetik und Hermeneutik  ; VIII]. München ²1996, S. 133–186, hier S. 184. [Kursivstellung im Text]. Henrich ergänzt seine Feststellung dahingehend, dass im literarischen Kontext »vor allem der sozialpsychologische und nicht der philosophische Identitätsbegriff« von Relevanz sei.

I. Voraussetzungen

Wiewohl die das ganze 19. Jahrhundert anhaltenden Auseinandersetzungen um ein jüdisches Selbstverständnis nicht nur, aber auch im Zeichen der Literatur einerseits keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sich mindestens seit dieser Zeit eine säkulare jüdische Literatur herauszubilden beginnt, so gelang es dennoch nicht, allgemeine Kriterien respektive einen Konsens darüber zu finden, was denn das Spezifische dieser Literatur ausmache.1 Wirkte zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein voremanzipatorisches Literaturverständnis, das unter jüdischer Literatur ausschließlich Werke in hebräischer Sprache religionsrelevanten Inhalts subsumierte, so bedurfte es noch einiger Zwischenschritte, bis Moritz Steinschneider 1850 ‒ wie es Gabriele von Glasenapp formuliert ‒ den »literarischen Säkularisationsprozeß vollendete«.2 Unabhängig von der Sprache, in der sie verfasst wird, versteht er unter jüdischer Literatur nun alle literarischen Werke von jüdischen Autoren. Dass sich Schriftsteller und Literaturvermittler unter dem Eindruck der künstlerischen Moderne(n) sowie des sich im Laufe der Jahrzehnte wandelnden jüdischen Selbstverständnisses mit dieser Vorgabe Steinschneiders allerdings nicht zufrieden gaben, verwundert kaum. Dementsprechend formulieren die Herausgeber eines 75 Jahre später erschienenen Katalogs über jüdische Literatur ihre Fragen  : Sollen z. B. nur Werke von Juden aufgenommen werden, oder solche über Juden und Judentum  ? Soll bewußtes Judentum als Maßstab angelegt werden, oder auch die ganze große Schar der Schriftsteller berücksichtigt werden, die zwar nicht unter der ausdrücklichen Flagge des Judentums segeln, in deren Schaffen sich aber dennoch die Spuren jüdischen Blutes und jüdischer Eigenart unauslöschlich eingeprägt haben  ?3

Wie schwierig eine definitorische Eingrenzung des Begriffs »deutsch-jüdische« oder »deutschsprachig-jüdische Literatur« ist, belegen jenseits der historischen 1

Vgl. dazu Hans Otto Horch, Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der Allgemeinen Zeitung des Judentums (1837–1922), [=  Literarhistorische Untersuchungen  ; 1]. Frankfurt am Main, Bern, New York 1985, sowie Itta Shedletzky, Literaturdiskussion und Belletristik in den juedischen Zeitschriften in Deutschland 1837–1918. Phil. Diss. Jerusalem 1986. 2 Gabriele von Glasenapp, Zur (Re-)Konstruktion von Geschichte im jüdisch-historischen Roman, in  : Aschkenas 9 (1999) 2, S. 389–404, hier S. 393. 3 Vorwort, in  : Ein Viertel-Jahrhundert jüdischer Literatur 1900–1925 anlässlich des XIV. Zionistenkongresses in Wien, herausgegeben von der Buchhandlung R. Löwit. Wien [1925], [S. I].

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Bemühungen auch zahlreiche Versuche, die im Rahmen von literaturwissenschaftlichen Studien, Monographien und lexikalischen Werken unternommen wurden.4 Dabei kristallisierten sich pauschal gesprochen drei Möglichkeiten des theoretisch-methodischen Zugangs heraus  : eine autorbezogene, eine textbezogene und eine Mischform dieser beiden. Letztlich wird wohl das jeweilige Erkenntnisinteresse ausschlaggebend für die gewählte Annäherungsweise sein. Eine rein historische Betrachtungsweise im Stile einer separierenden Literaturgeschichtsschreibung lässt in diesem Zusammenhang allerdings nur unzureichende Ergebnisse erwarten  ; mehrere verdienstvolle, im Detail informative, in systematischer Hinsicht aber doch Kritik provozierende Überblicksdarstellungen liegen vor.5 Um ein möglichst breites Spektrum von Fragestellungen nach der Spezifik von Texten, die sich nicht nur auf das Judentum ihrer Verfasser als Kriterium stützen wollen, integrieren zu können, scheint m. E. eine auf den Systembegriff Bezug nehmende Herangehensweise günstig. Sie gewährleistet eine dem Gegenstand angemessene Differenzierung, da im Zuge dessen nicht nur Autor und/ oder Werk erfasst werden, sondern gleichzeitig die sich im Rahmen verschiedener sozialer Handlungen herausbildenden gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen, auf die die Autoren und ihre Texte Bezug nehmen. Als Teilsystem eines umfassenderen autonomen Literatursystems unterliegt die deutschsprachig-jüdische Literatur seit ihren Anfängen hinsichtlich ihrer pragmatischen Voraussetzungen ähnlichen, wenn nicht denselben Mechanismen wie nichtjüdische Literaturen. Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass Juden und Nichtjuden in interaktionalen Beziehungsgefügen lebten, die in vielen Lebensbereichen wirksam wurden.6 Diese Beziehungen wurden in ihrer Komplexität auch in literarischen Texten immer wieder dargestellt und solchermaßen festgeschrieben als Teil der eigenen kulturellen Identität.7 Fiktionale Texte, die sich auf zeit- und 4

Vgl. dazu den in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren wohl am häufigsten zitierten Beitrag des Züricher Literaturwissenschaftlers Andreas Kilcher, Was ist »deutsch-jüdische Literatur«  ? Eine historische Diskursanalyse, in  : Weimarer Beiträge 45 (1999) 4, S. 485–517, sowie weiterhin Alfred Bodenheimer, Wer definiert für wen, was jüdische Literatur ist  ?, in  : transversal 5 (2005) 2, S. 3–10. 5 Z. B. Hans Schütz, Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdische Geschichte im Überblick, München 1992, oder in jüngerer Zeit Willi Jasper, Deutsch-jüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. München 2004. 6 Über die Verwobenheit kultureller Austauschprozesse und literarischer Produktion siehe Stephan Braese, Schreiben ans Stiefvaterland. Zum Anregungsgehalt postkolonialistischer Begriffsarbeit für die Lektüre deutsch-jüdischer Literatur, in  : Eva Lezzi, Dorothea Salzer (Hg.), Dialog der Disziplinen  : Jüdische Studien und Literaturwissenschaft, [=  minima judaica  ; 6]. Berlin 2009, S. 415–435. 7 Seit dem Entstehen der ersten belletristischen Texte im letzten Drittel des 18.  Jahrhunderts



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realitätsnahe Konstellationen beziehen, offerieren dem Leser in der Regel ein hohes Maß an Identifikationsmöglichkeiten. In diesem Sinne kann die junge deutschsprachig-jüdische Literatur auch als (Re-)Präsentation kultureller Selbstbehauptung und Selbstbeschreibung gelten. Weiterhin kann man unter Bezugnahme auf Mirjam Storim,8 die sich auf systemtheoretische Gesellschafts- und Literaturmodelle beruft, davon ausgehen, dass sich Juden ebenso wie Nichtjuden im Zuge der Modernisierungsprozesse innerhalb vieler Kontexte bewegten und dementsprechend zwischen verschiedenen kulturellen Codes wechseln mussten. Storim nimmt an, dass historische Selbstbeschreibungen und historiographische Fremdbeschreibungen in der Regel »variable Semantiken« ausprägen, die sich in unterschiedlichen Beziehungen von ›Milieu‹ und Subjekt bzw. »von objektiver Außenwelt und subjektiver Innenwelt« konturieren.9 Eine moderne, sich nicht mehr stratifikatorisch, sondern funktional differenzierende Gesellschaft lässt sich durch eine auf einem abgeschlossenen relationalen Verhältnis basierende Annahme aber nicht mehr erfassen, da die Kommunikationsprozesse in einem immer dichter werdenden polykontextuellen Feld stattfinden. Die Tatsache, dass es als Reaktion einzelner Gruppierungen immer wieder zu Homogenisierungstendenzen in Bezug auf die Vielfalt der Codes kommen kann, darf als indirekter Beleg dafür gelten. Gerade in der Geschichte weltanschaulicher Bewegungen – in der vorliegenden Untersuchung mithin des Zionismus – lassen sich in diesem Zusammenhang nicht selten visionär geprägte Werthorizonte, teils mit starker Tendenz zur Vereinheitlichung, ausmachen. Deren Ziel scheint es zu sein, durch eine neu formulierte Geschlossenheit (einer Gruppe) die durch die vielen überindividuellen Umgebungskontexte verloren gegangene Selbstbestimmung oder verbindliche Selbstbeschreibung (wieder) herzustellen. Dies spielt im 19.  Jahrhundert vor allem im Hinblick auf die außerliterarische Funktion vieler Texte eine Rolle, denn im Verlauf der Identitätsdebatten im 19. Jahrhundert wurde die deutschsprachig-jüdische Erzählliteratur nicht nur, aber auch zu einem zentralen Medium kommunikativen Handelns. Um die im Zentrum dieser Untersuchung stehende Verbindung von literarischen Topographien, der Semantisierung von Raum, narrativen Raumkonstruktionen und Identitätskonzepten zu untersuchen, werden zunächst einige grund-

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entwickelte sich außerdem parallel und begleitend dazu »die Herausbildung eines Diskurses im wörtlichsten Sinn  : des Diskurses der deutsch-jüdischen Literatur.« Siehe dazu Andreas B. Kilcher, Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben  ? Perspektiven historischer Diskursanalyse, in  : Lezzi, Salzer, Dialog der Disziplinen, S. 351–379, hier S. 353. Mirjam Storim, Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der »Rede über Kunst« um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund. Tübingen 2002. Storim untersucht Ästhetiken des Katholizismus und der Sozialdemokratie im Wilhelminischen Kaiserreich. Storim, Ästhetik, S. 18.

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sätzliche theoretische und methodische Voraussetzungen geklärt. Im Folgenden wird der zugrunde gelegte Literaturbegriff und dann sehr allgemein der Konnex zwischen Text und Identität diskutiert  ;10 dies allerdings nicht nur mit Bezug auf literarische Texte, sondern mit einem kurzen Ausblick auf die im 19. Jahrhundert sich entwickelnde jüdische und national orientierte nichtjüdische Historiographie  ; denn in dieser Zeit der Debatten über Nation, kollektive Herkunft und Zugehörigkeiten kommt sowohl fiktionalen wie auch nichtfiktionalen  – vornehmlich historiographischen – Texten eine eminent wichtige Rolle zu. Anders gewendet  : Für das moderne postaufklärerische Judentum wird Literatur neben der Historiographie und der Wissenschaft des Judentums zu einer wichtigen Säule kollektiver Selbstvergewisserung. 1. Literatur als Sozialsystem und Symbolsystem Um sich dem Phänomen einer eigenständigen deutschsprachig-jüdischen Literatur theoretisch anzunähern, ist es zunächst notwendig, einen adäquaten und jedweden Essentialismus ausschließenden Literatur-Begriff zu entwerfen. Um die hier zu verhandelnden Probleme sinnvoll erörtern zu können, muss er die gesellschaftlich-soziale Dimension von Literatur berücksichtigen, ohne dabei allerdings deren semantisch-diskursives und ästhetisches Potenzial zu vernachlässigen. Nur dann kann man nach den in die Texte eingegangenen außerliterarischen Diskursen fragen und gleichzeitig die Literatur selbst als (poetologische) Diskursvariante verstehen. Am besten lässt sich eine Verbindung dieser beiden Erfordernisse, wie es scheint, aus systemtheoretischen Ansätzen ableiten. In diesem Zusammenhang bietet sich als Ausgangspunkt zunächst ein auf Siegfried J. Schmidt und weiterhin ein auf die Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900 zurückgehender Systembegriff an, wie er seit den 1980er-Jahren entwickelt wurde.11 Danach konstituierte sich als eine 10 Über die definitorischen Schwierigkeiten des Identitätsbegriffs siehe Henrich, ›Identität‹, S. 133  : Er versucht in seiner Überblicksdarstellung, den »hohen Grad an Dunkelheit und [die] Problemverwirrung, welche […] den Gebrauch des Identitätsbegriffs kennzeichnen«, zu erhellen. Henrich unterscheidet zwischen »sozialpsychologischem und philosophischem Identitätsproblem«, »Theorien der Identität in der Geschichte der Philosophie«, »Identität in der formalen Logik«, »semantischen Problemen der Identität«, »Identität und Prädikation«, »Identität und Person« sowie »Identitätsproblemen in der Kunsttheorie«. 11 Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, Jörg Schönert (Hg.), Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf, [= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur  ; 21]. Tübingen 1988  ; Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989.



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Folge der Aufklärung um 1800 ein autonomes Literatursystem, das zunächst als soziales Handlungssystem zu definieren ist  : Damit sind zum einen Kommunikationshandlungen gemeint, die zum Entstehen von solchen Texten führen, die als literarisch angesehen werden, oder von diesen Texten ausgehen. Zum anderen [bezieht sich die Forschergruppe] auf Interaktionen, die literarische Verständigung ermöglichen, regeln, kontrollieren, fördern, verhindern usf. (›literaturbezogenes Handeln‹). Die Handlungen der Erfahrungsverarbeitung und Sinnverständigung mit Hilfe von Literatur und das literaturbezogene Handeln sind vielfach ineinander verschränkt […]12

Innerhalb dieses Systems bildeten sich einzelne Teil- oder Subsysteme heraus, und in diesem Sinne entwickelte sich auch rasch ein eigenständiges deutschsprachig-jüdisches Literatursystem. Als Systembegriff verstanden, bezeichnet Literatur nach diesem Verständnis aber keine »Menge von Texten«, sondern das Phänomen, dass um 1800 ein ›autonomer‹, kultureller Bereich in der Gesellschaft entsteht, der sich gegen andere kulturelle Teilsysteme wie Religion, Philosophie und Moral, Recht und Politik, Wissenschaft und Pädagogik abgrenzen lässt und verselbständigt. Es ist der Bereich der ›Literatur als Kunst‹, [der] gemeinsam mit einer neuen Ästhetikkonzeption, und zwar der ›Ästhetik der Autonomie‹ oder der ›Genieästhetik‹ [entsteht].13

Literatur setzt sich nun laut Renate von Heybrand und Simone Winko von den unterschiedlichen heteronomen Zielen ab, »für die sie in der rhetorischen Tradition, etwa noch von den Aufklärern, funktionalisiert wurde.« Literatur dient nicht mehr vorrangig der Belehrung, sie »versteht sich nicht mehr als erlernbare Technik der Vermittlung von Wahrheiten« oder als formschöne Instanz in der Weitergabe wertvoller Einsichten. Autonome Literatur resultiert nach dieser Konzeption seitens des Produzenten, des dichterischen »Genies«, aus dessen Inspiration und »beansprucht eine eigene, nur über Reflexion ihrer Form zugängliche Wahrheit«.14 Als wichtiger Proponent der Genieästhetik beschreibt Johann 12 Von Heydebrand et al., Sozialgeschichte, S. 4. 13 Renate von Heydebrand, Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn, München, Wien, Zürich 1996, S. 25 ff. 14 Von Heydebrand, Winko, Wertung S.  26. Der Autonomie-Begriff ist hier nicht im Sinne des New Historicism zu verstehen  ; demzufolge kann Literatur ja generell nur als kontextuelles, wenngleich kontingentes Resultat historischer Faktoren angesehen werden und deshalb per se nicht autonom sein. Der von Winko und von Heydebrand verwendete Autonomie-Begriff bezieht sich hingegen systemimmanent auf die Vorstellung einer autonomen Literatur, die sich –

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Gottfried Herder deren Verfahren und Funktionsweisen im Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker und in den Anmerkungen zu den zwei Teilen seiner Volksliedsammlung von 1778/79.15 Analog zum Autor wird nun auch der Leser in einem neuen Verhältnis zum Text verstanden. Er soll im Rezeptionsprozess zu einer »eigenständigen Erkenntnis angeregt« werden,16 das heißt der Leser erfährt eine Aufwertung als deutendes Individuum. Die Dichtung, die Herder als »Ausdruck des ›Lebens‹ des Volkes«17 gilt und gemeinsame Erinnerung und Wertvorstellungen evoziert, erfordert eine »konzentrierte, nach innen gewandte Lektüre, jenseits bürgerlicher Geschäfte«,18 und sie wird nur in der inneren Empfindung, auch durch Wiederholung angemessen nachvollziehbar. Der einzige Zweck von autonomer Literatur  – eben jenseits von heteronomen Zielen  – ist nach diesem Verständnis in einer quasi utopischen Vorstellung aufgehoben, der »Herstellung der Menschennatur, des idealen Menschen«, der sich laut Renate von Heybrand und Simone Winko »kollektiv im Naturvolk, individuell im schöpferischen Genie, dem Künstler« manifestiert.19 Im Zuge der Verbürgerlichung kann sich das autonome Literatursystem durch die signifikant ansteigende Zahl von professionell Schreibenden, Verlegern, Buchhändlern, Vereinen, Zeitschriften und Almanachen, aber auch öffentlich zugänglichen Bibliotheken20 sowie eine permanent wachsende Leserschaft rasch etablieren. Um die in diesem Zusammenhang ablaufenden Prozesse kommunikativen und ästhetischen Handelns zu untersuchen, stellt Siegfried J. Schmidt mit seinem Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft entspre-

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als Gegenentwurf konzipiert – von einer heteronomen Literatur abheben will. Zur weiterführenden Diskussion im Hinblick auf die populäre Zeitschriftenliteratur im 19. Jahrhundert und die der gegenüber zu konstatierende Medienvergessenheit der Germanistik siehe Günter, Im Vorhof der Kunst, sowie Günter Butzer, Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, in  : Gereo Blasileio, Hedwig Pompe, Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität [=  Mediologie  ; 13]. Köln 2005, S. 115–135. Johann Gottfried Herder, Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, in  : ders., Werke, hg. v. Wolfgang Proß, Bd. 1. München 1984, S. 475–525, sowie ders., Volkslieder, 2 Teile, in  : Herders sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 25. Berlin 1885, S. 308 f. (1. Teil), S. 313–334, S. 391–398, S. 545 (2. Teil). Von Heydebrand, Winko, Wertung, S. 26. Von Heydebrand, Winko, Wertung, S. 180, Bezug nehmend auf Herder, Briefwechsel über Ossian, S. 518. Von Heydebrand, Winko, Wertung, S. 181, Bezug nehmend auf Herder, Briefwechsel über Ossian, S. 486. Von Heydebrand, Winko, Wertung, S. 27. Für den jüdischen Kontext vgl. hierzu Markus Kirchhoff, Bilder jüdischer Bibliotheken, hg. v. Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. Leipzig 2002.



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chende Ansätze bereit.21 Schmidt unterscheidet vier Typen literarischer Handlungen  : »die Produktion, die Vermittlung, die Rezeption und die Verarbeitung literarischer Kommunikate«.22 Weiterhin vertritt die Empirische Literaturtheorie die Vorstellung, dass das Sozialsystem Literatur wie auch andere Teilsysteme der Gesellschaft – Wirtschaft, Religion, Recht etc. – »Funktionen für die Gesellschaft als Ganze, z. B. in Form von Reflexivität, Innovativität und Identität […] sowie für die im [Literatursystem] handelnden Individuen auf kognitiver, emotiver und normativer Ebene erbringt.«23 Das bedeutet, dass die Definition von Literatur als kommunikativem Ereignis einen Kommunikationsbegriff erfordert, »der immer schon über den literarischen Text hinaus in Richtung auf seine Interpretation verweist.«24 Literatur wird dementsprechend als System von Handlungen aufgefasst, die auf solche sprachlichen Objekte abzielen, die von den Handelnden gemäß der von ihnen vertretenen ästhetischen Normen ›für literarisch‹ gehalten werden. Die Struktur dieses Systems wird bestimmt durch die zeitlichen und kausalen Relationen, die zwischen den vier für elementar gehaltenen Handlungsrollen (des Produzenten, Vermittlers, Rezipienten und Verarbeiters literarischer Kommunikate) bestehen.25

Dass eine solche Position, sofern sie einseitig vertreten wird, hinsichtlich texttheoretischer Fragestellungen Probleme aufwirft, verwundert nicht. Die Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900, die ihren Entwurf einer sozialhistorischen Literaturwissenschaft an Talcott Parsons’ Handlungs- und Systemtheorie orientierte, hielt im Gegensatz zu Schmidt an einem hermeneutischen Paradigma fest. Ihr Konzept »bleibt in den Grenzen eines kritisch reflektierten ›geschichtlichen Verstehens‹«.26 Daraus schließt Rainer Baasner, dass es der Münchener Gruppe um Renate von Heydebrand, Die21 Siegfried J. Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, Teilbd. 1  : Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur. Braunschweig, Wiesbaden 1980, Teilbd.  2  : Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in einer empirischen Theorie der Literatur. Braunschweig, Wiesbaden 1982. 22 Siegfried J. Schmidt, Empirische Literaturwissenschaft, hier zitiert nach der TB-Ausgabe. Frankfurt am Main 1991, S. 14. 23 Gebhard Rusch, Empirische Theorie der Literatur (ETL), in  : Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2004, S. 143–145, hier S. 144. 24 Oliver Jahraus, Literaturtheorie. Tübingen, Basel 2004, S. 139. 25 Dagmar Hintzenberg, Siegfried J. Schmidt, Reinhard Zobel, Zum Literaturbegriff in der Bundesrepublik Deutschland. Braunschweig, Wiesbaden 1980, S. 13. 26 Von Heydebrand et al., Sozialgeschichte, S. 23.

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ter Pfau und Jörg Schönert also nicht um die Ablöse einer sich hermeneutisch verstehenden durch eine empirische Literaturwissenschaft ging, sondern um die Etablierung eines integrativen Ansatzes, der »gesellschaftliche Mikro- und Makroperspektive, Synchronie und Diachronie, literarisches, literaturbezogenes und auch nicht-literarisches Handeln in einem Modell des Sozialsystems Literatur […] zusammenspannt.«27 Die damit verbundene Forderung, »Literaturgeschichtsschreibung auf eine breitere empirische Basis und eine kontrollierte Auswertung und Verbindung des ›Datenmaterials‹ zu beziehen«,28 sollte den Zugang zu spezifischen Fragestellungen eröffnen. Gerade im Hinblick auf die Erforschung von Wechselbeziehungen literarischer und außerliterarischer Felder sowie literarisch reflektierter sozialer Interaktions- und Transferprozesse, wie sie auch für die vorliegende Untersuchung von Relevanz ist, stellen die Überlegungen der Münchener Forschergruppe deshalb wichtige Basisannahmen bereit. Sind in der Auseinandersetzung mit der Herausbildung eines eigenständigen Sozialsystems Literatur, mithin auch eines Subsystems deutschsprachig-jüdischer Literatur, einerseits system- und handlungstheoretische Ansätze fruchtbar zu machen, so bedarf es andererseits in Bezug auf diskursanalytische Fragestellungen eines komplementär gefassten Literaturbegriffs. Dem Rechnung tragend hat Claus-Michael Ort entsprechende Defizite der empirischen Literaturwissenschaft aufgegriffen. Um hier eine Vermittlungsschiene zu entwerfen, bringt Ort mit Blick auf das Sozialsystem ›Literatur‹ als Analogon den Symbolbegriff ins Spiel.29 Ort wendet sich nicht per se gegen die systemische Charakterisierung von Literatur, sehr wohl aber gegen die Ausschließlichkeit betreffend die soziale und handlungsbezogene kommunikative Dimension. Denn auch das Symbolische sei empirisch beobachtbar und die textuelle, vornehmlich die semiotische Dimension könne damit ebenfalls in den Rang eines Systems erhoben werden, wenngleich auf andere Weise. Diese Erweiterung eines systemischen Literaturbegriffs unterstützt auch allfällige Argumentationen im Hinblick auf die Funktion literarischer Texte im Rahmen kollektiver Gedächtnisprozesse und Sinnverständigung. Andererseits wird der ästhetische Anspruch von Literatur berücksichtigt. Die Kompatibilität zwischen Symbol- und Sozialsystem, die bei Siegfried J. Schmidt nicht gegeben ist bzw. unmöglich erscheint, stellt Ort 27 Rainer Baasner unter Mitarbeit von Maria Zens, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Berlin 1996, S. 200. 28 Von Heydebrand et al., Sozialgeschichte, S. 23. 29 Claus-Michael Ort, Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsystem ›Literatur‹. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft, in  : Siegfried J. Schmidt, Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993, S. 269–294.



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her, indem er den Begriff des Sozialsystems, wie ihn Schmidt einsetzt, mit dem des Wissens verknüpft  : »Vom Text zum Wissen«30 lautet Orts Formel, Bezug nehmend auf Schmidts Skizze einer konstruktivistischen Literaturwissenschaft Vom Text zum Literatursystem.31 »Wissen ist jedenfalls ein Diskurs, in dem sich soziale Strukturen der Erzeugung, Verarbeitung, Nutzung und Archivierung von Wissen und die symbolische Repräsentation von Wissen immer schon miteinander vermengen.«32 Als eine Folge dessen, lassen sich dann »literarische ›Realitätskonstrukte‹ […] sowohl als Selbstbeschreibungen des Sozialsystems ›Literatur‹ oder auch der Gesellschaft überhaupt interpretieren.«33 Um seinen Ansatz wissenssoziologisch weiterzuentwickeln, nimmt Ort den Wissensbegriff als »leere[n] Vermittlungsbegriff am Schnittpunkt von semiotischer und sozialer Systemreferenz«34 an. Das »Kooperationspotenzial« liege zwischen beiden Bereichen,35 wobei analytisch die semiotische und die soziale Systemebene zu unterscheiden seien. In diesem Gefüge wird Literatur zu einem Ort, an dem der Nexus von Sozial- und Symbolsystem beobachtbar wird. Möglich ist dies, da die Literatur selbst  – zumindest nach Foucault’schem Verständnis  – nicht als Diskurs aufgefasst werden kann, denn es gibt »kein spezifisches literarisches Wissen«,36 das in der Literatur verwaltet werden könnte. Literatur kann also einerseits als semiotisch offenes, unterschiedlich zu besetzendes Medium definiert werden, »andererseits aber gerade als eigenständiges 30 Claus-Michael Ort, Vom Text zum Wissen. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur, in  : Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, in Zusammenarb. mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Stuttgart 1992, S. 409–442. 31 Siegfried J. Schmidt, Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft, in  : Einführung in den Konstruktivismus. Mit Beiträgen von Heinz v. Foerster et al., [= Veröffentlichung der Carl Friedrich von Siemens Stiftung  ; 5)]. München 52000, S. 147–166. 32 Jahraus, Literaturtheorie, S.  142. Jahraus vermerkt in diesem Zusammenhang allerdings die »allzu rigide Funktionsbestimmung von Literatur« (S. 143) und stellt zur Diskussion, »ob man den Nexus nicht vom spezifizierten Wissen auf die unspezifizierte Kommunikation umstellen müsste.« 33 Ort, Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsystem ›Literatur‹, S. 274 f. 34 Ort, Vom Text zum Wissen, S. 414. 35 Ort, Vom Text zum Wissen, S. 420. 36 Baasner, Methoden, S. 138 und S. 135  : »Da Foucault selbst keinen literarischen Diskurs vorgesehen hat, besteht eine Diskussion darüber, inwieweit die Annahme eines solchen angemessen wäre. Die meisten expliziten Überlegungen zur Diskurstheorie bestreiten einen eigenen Diskurs Literatur, da letztere kein genuines Thema, keine spezielle Semantik aufweist.« Wenn Foucault tatsächlich einmal von »literarischem« Diskurs spricht, wie in der Schrift Was ist ein Autor  ?, setzt er dementsprechend Anführungszeichen. Vgl. Michel Foucault, Was ist ein Autor  ?, in  : ders., Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main ²1991.

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Sozialsystem, [das] seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts fest institutionalisiert ist.«37 In der Konsequenz fungiert Literatur einerseits als Quelle des Wissens, andererseits als »spezifischer Modus der Wissenskonstruktion«38 sowie als Schnittstelle im Gewebe der Diskurse. Zu unterscheiden sind demnach jene Positionen, die intern ihr Objekt im literarischen Text ansiedeln und die extern »ihr Objekt in der Umwelt des Textes situieren und konstituieren«,39 wobei die externe Position im literarischen Text mehr oder weniger nur die Initiativfunktion für soziale und kommunikative Handlungen berücksichtigt. Oliver Jahraus wirft nun die Frage auf, inwieweit es einer systemtheoretisch ausgerichteten Literaturwissenschaft gelingen kann, »die Einheit der Differenz von Symbol- und Sozialsystem Literatur in den Griff zu bekommen«.40 Diese Frage scheint angesichts der in dieser Studie zu verhandelnden Problemstellungen vielleicht besser dahingehend modifiziert zu werden, wie es trotz der offenkundigen Differenz der beiden Systemkonzepte gelingen kann, eine Zusammenschau herzustellen. Um in einem entsprechenden Bild zu bleiben, wird deshalb vorgeschlagen, das Sozialsystem Literatur und das Symbolsystem Literatur mit ›geteiltem Blick‹ zu beobachten. Dieser geteilte Blick, der seine Wirksamkeit erst in der Gleichzeitigkeit entfaltet, kann angemessen auf systemimmanente Unschärfen, die vor allem durch die unterschiedlichen Konstitutionsbedingungen von Symbol- und Sozialsystem zum Tragen kommen, reagieren. Wie Jahraus feststellt, könne zwar der Systembegriff des Sozialsystems Literatur, nicht aber der des Symbolsystems mit der Luhmann’schen Systemtheorie in Einklang gebracht werden. Die »Fähigkeit zu semantisch-semiotischer Analyse«41 spricht Jahraus dem Luhmann’schen Modell aufgrund seiner Lücken hinsichtlich Semantik und Zeichentheorie ab, andererseits erkennt er aber dessen besondere Eignung für die problematisierte Doppelperspektive. Luhmann zufolge wird ja jedem System eine je eigene Umwelt zugeordnet, sodass sich »keine einheitliche Umwelt für alle Systeme ausmachen«42 lässt. Gleichwohl stehen Umwelt und System immer in einem relationalen Verhältnis zueinander. Darauf bezieht sich Jahraus, wenn er feststellt  : »Symbolsystem und Sozialsystem wären demnach wechselseitig füreinander Umwelt entlang der Grenzlinie des literarischen Textes.«43 Daraus folgert er weiterhin, dass sich beide Systemtypen durch den literarischen Text »wechselseitig konstitutiv« voraussetzten. Der in dieser Weise aus der Systemtheorie abgeleitete 37 38 39 40 41 42 43

Jahraus, Literaturtheorie, S. 144. Ort, Vom Text zum Wissen, S. 429. Jahraus, Literaturtheorie, S. 144. Jahraus, Literaturtheorie, S. 144. Jahraus, Literaturtheorie, S. 144. Vgl. dazu Johann Dieckmann, Luhmann-Lehrbuch. Paderborn 2004, S. 83. Jahraus, Literaturtheorie, S. 145.



Das Teilsystem Deutschsprachig-jüdische Literatur 

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Grenzbegriff eignet sich in besonderer Weise dafür, die Konzepte von Text und Kommunikation bzw. kommunikativem Handeln in ein produktives Verhältnis zu setzen »und nach der Bedeutung des Textes für die Kommunikation zu fragen, um dann wiederum sowohl den Zeichen-, als auch den Kommunikationsbegriff für eine literaturtheoretische Bestimmung des literarischen Textes zu nutzen.«44 2. Das Teilsystem Deutschsprachig-jüdische Literatur Bezieht man sich auf Literatur als Sozialsystem, kann man deutschsprachig-jüdische Literatur als Teil- oder Subsystem desselben annehmen, mit dem bestimmte Formen kommunikativen Handelns verbunden sind. Da das Teilsystem in einem überwiegend interaktionalen Verhältnis zu den Handlungssystemen nichtjüdischer Literaturen steht, kann Jüdisches im Hinblick auf mögliche Handlungsorientierungen vielfach zurücktreten, andererseits weist es wiederum spezifische, teils exklusiv vorkommende Merkmale vor allem auf inhaltlicher und/oder semiotischer Ebene auf. Dies ist vor allem unter Berücksichtigung der in den literarischen Texten vorgeführten identifikatorischen Prozesse relevant, die in geradezu als typologisch zu bezeichnenden Konstellationen und Motiv­ varianten manifest werden. Durch die sich vielfach wiederholenden Motive, Erzählmuster, Themen etc. wirken diese Texte an der Herausbildung kollektiver Gedächtnisformationen mit. Sie ersetzen in gewisser Weise sogar ein kommunikatives Gedächtnis, das verschiedenen jüdischen Bevölkerungsgruppen aufgrund der räumlichen und zeitlichen Distanzierung voneinander mitunter verloren ging. Vor allem in der Ghettogeschichte wurde qua Fiktion ›Erinnerung‹ an eine vermeintlich vorgängige Lebenswelt ›erzeugt‹. Auf diese Weise konnte beispielsweise symbolisch die kulturelle Kluft zwischen ost- und westeuropäischen Juden sowie jene zwischen verschiedenen Generationen überbrückt werden. Die literarischen Texte diskutieren – natürlich nicht ausschließlich – Positionen und Identitätskonzeptionen, die, wie zu zeigen sein wird, (bei jüdischen wie nichtjüdischen Lesenden) Identifikationen befördern oder blockieren können/sollen. Die Ästhetik, Rhetorik und formale Gestaltung dieser Texte unterscheiden sich kaum von jenen in anderen (literarischen) Teilsystemen, ebenso entsprechen teilweise die Vermittlungsinstanzen, wie z. B. Zeitschriften und Verlage, einander. Als Symbolsystem verstanden, speist sich jüdische Literatur jedoch (auch) aus eindeutig zuordenbaren semiotischen Codes. Um den im Fokus dieser Untersuchung stehenden Konnex von Topographie und Identitätskonzeptionen in literarischen Texten angemessen beleuchten 44 Jahraus, Literaturtheorie, S. 145.

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zu können, wird es nötig sein, die Gleichzeitigkeit beider Systemtypen, also Literatur als Sozial- und Symbolsystem, im Auge zu behalten. Eine wesentliche Rolle kommt dabei in beiden Systemtypen dem Wechselspiel zwischen nichtjüdischen und jüdischen Bereichen zu, wenn beispielsweise auf textlicher Ebene interaktionale Konzepte verhandelt werden, die andererseits auf außerliterarische Konstellationen referieren oder selbst wiederum auf konkrete gesellschaftliche Realisierungen abzielen. Es wäre zu fragen, ob als eine Konsequenz dessen Claus-Michael Orts theoretische Setzung »vom Text zum Wissen« weitergedacht werden kann im Sinne einer analogen Vorstellung »vom Text zur Identität«. Dazu bedarf es wohl einer Erweiterung des Textbegriffs, wie er beispielsweise als eine Folge der Arbeiten von Clifford Geertz und James Clifford über den Begriff der Repräsentation diskutiert wird.45 Dieser Begriff inkludiert über das Textuelle hinaus, das primär »Elemente wie Fixierung, Strukturierung und Speicherung akzentuiert«, auch »Vollzugsformen kulturellen Handelns«.46 In diesem Zusammenhang spielen Inszenierung, Theatralität und Verkörperung eine Rolle, wie es u. a. Erika Fischer-Lichte mit ihrer Fortschreibung des Konzepts der Performanz gezeigt hat.47 Denn die komplexen Prozesse um Identität und Identifikation sind schwerlich ausschließlich auf symbolischer, textlicher oder sozialer Ebene festzumachen. Performative Akte, seien sie historisch nachweisbar und/oder literarisch gespiegelt, können als Bindeglied zwischen Text und sozialer Handlung fungieren und damit die Trias Autor – Text – Rezipient um die Dimension der körperlichen Darstellung sowohl im fiktionalen als auch im realen Kontext erweitern. Die Frage, welche Werke nun einer deutschsprachig-jüdischen Literatur zurechenbar seien, wird zwar vor allem im Zusammenhang mit der Erstellung von lexikalischen Werken und Literaturgeschichten immer wieder diskutiert,48 letztlich bleiben entsprechende Definitionen aber stets vorläufig. Wie bereits angedeutet, wird ein essentialistischer Literaturbegriff, der sich auf ein wie immer aufzufassendes ›Wesenhaftes‹ von Literatur bezieht, generell als ungeeignet erachtet, um sich der deutschsprachig-jüdischen Literatur analytisch anzunähern. Auch die Vorstellung, literarische Texte von der Biographie bzw. der jüdi45 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973  ; dt. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1991  ; James Clifford, Writing Culture, The Poetics and Politics of Ethnology. Berkeley, London 1986. 46 Aleida Assmann, Ulrich Gaier, Gisela Trommsdorff (Hg.), Positionen der Kulturanthropologie, unter Mitarbeit v. Karolina Jeftić. Frankfurt am Main 2004, S. 11. 47 Aus ihren vielen Publikationen zum Thema sei stellvertretend genannt  : Erika Fischer-Lichte, Performativität und Ereignis. Tübingen, Basel 2003. 48 Z. B. Andreas B. Kilcher (Hg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart, Weimar 2000, S. V–XX, oder Willi Jasper, Deutsch-jüdischer Parnass, S. 11–24.



Das Teilsystem Deutschsprachig-jüdische Literatur 

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schen Herkunft eines Autors her zu erschließen, birgt erhebliche Probleme in sich. Allzu leicht kippt dann der Versuch einer Beschreibung in die explanatorische Kategorie der Zuschreibung. Hier sei stellvertretend an Peter Gay erinnert, der die Brauchbarkeit »nationaler oder ethnischer Charakterisierungen« für künstlerische Werke ebenso in Abrede stellt wie er die »Versuche, den jüdischen Geist in der Literatur zu entdecken«, ablehnt.49 Als sinnvoll erweist sich m. E. in jedem Fall eine Annäherung primär auf der Ebene des Textes und nicht auf der Ebene des Autors. Wenn im Folgenden von »deutschsprachig-jüdischer« oder von »jüdischer Literatur« gesprochen wird, so wird damit einerseits eine Position aufgegriffen, wie sie Gershon Shaked vorgeschlagen hat, »wonach jüdische Literatur all jene Literatur ist, die in dem, was sie beschreibt, Verhaltens- und Lebensformen widerspiegelt, die aufgrund semiotischer Kriterien als aus der jüdischen Sozialgruppe abgeleitet bestimmt werden können.«50 Weiterhin werden Texte im Sinne des oben beschriebenen heuristischen Konstrukts einem Teilsystem ›jüdische Literatur‹ zugerechnet, wenn darin primär Problemkonstellationen thematisiert und/oder Werthaltungen vermittelt werden, die sich an eine daran interessierte Leserschaft zu richten scheinen.51 Dementsprechend wird jüdische Literatur im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch spezifische Vermittlungsstrategien begleitet und befördert  : zum Beispiel durch ein ausgeprägtes Rezensionswesen in wichtigen Zeitschriften wie der Allgemeinen Zeitung des Judentums oder durch literarische Vereinigungen. Für den nichtjüdischen Leser besteht die Möglichkeit, sich selbst als Teil der dargestellten Problematiken zu begreifen und Einblick in die (fiktionalen) Argumentationen von jüdischer Seite zu erhalten sowie die eigenen Meinungen, Klischees und Vorurteile zu überprüfen und zu korrigieren. Sowohl die das Sozialsystem wie auch die das Symbolsystem betreffenden Annahmen führen im Weiteren dazu, dass eine automatische Zuschreibung aller Werke von Autoren jüdischer Herkunft als Teil der jüdischen Literatur entfällt. Radikal weitergedacht, bedeutet das, dass zum Beispiel Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie einem Teilsystem ›jüdische Literatur‹ zuzurechnen ist, nicht hingegen seine Novelle Casanovas Heimfahrt.52 Ob das Werk 49 Vgl. Peter Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur. München 1989, S. 198 f. 50 Gershon Shaked, Die Macht der Identität, Essays über jüdische Schriftsteller. Frankfurt am Main 1992, S. 192. 51 Exkludiert sind damit in jedem Fall antijüdische und antisemitische Texte, die Judentum und jüdische Figuren lediglich missbräuchlich darstellen, um antisemitische Anschauungen zu explizieren und zu propagieren. 52 Über die wenigen nichtjüdischen Verfasser von Ghettogeschichten siehe Gabriele von Glasenapp, Aus der Judengasse  : zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettolite-

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eines nichtjüdischen Autors, wie etwa Leopold Sacher-Masochs Genrebilder Jüdisches Leben in Wort und Bild (1882), als Teil einer deutschsprachig-jüdischen Literatur aufgefasst werden kann, wäre jeweils zu klären. Allein die räumliche Verortung in einem Text, beispielsweise in einem Schtetl, wird ebensowenig wie die Einführung jüdischer Figuren und Charaktere als ausreichend gelten können, um eine entsprechende Zuordnung zu begründen. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass zur (deutschsprachig)-jüdischen Literatur all jene Texte gezählt werden können, die sich aufgrund außerliterarischer, inhaltlicher, motivischer und/oder semiotischer Aspekte, die auf ein als jüdisch konnotierbares »kulturelles System«53 zurückzuführen sind, erschließen lassen. Weiterhin sei auf Andreas B. Kilcher hingewiesen, der im Vorwort seines Lexikons deutschjüdischer Literatur festhält, dass die Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschreibung [darin besteht], literarische Selbstbestimmungsdiskurse zum Gegenstand zu machen und zu fragen, mit welchen argumentativen Verfahren in den historischen Debatten, letztlich aber in jedem Schreib­ akt, in jedem einzelnen Text, der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird.54

Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen können neue Fragestellungen entwickelt werden, die sich dezidiert auf ein Teilsystem ›deutschsprachig-jüdische Literatur‹ beziehen. Und im Zuge dessen könnte dieser Literatur endlich der Stellenwert zuerkannt werden, der ihr literaturhistorisch bis heute weitgehend versagt geblieben ist.55

ratur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1996, Kap. 10  : Der Blick von außen  : Ghettogeschichten nichtjüdischer Autoren, S. 217–253. 53 Vgl. dazu Shulamit Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in  : dies., Das jüdische Projekt der Moderne, zehn Essays. München 2001, S. 121. Ersterscheinung  : Shulamit Volkov, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in  : Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 603–628. 54 Kilcher, Lexikon deutsch-jüdischer Literatur, S. XV. 55 Wenngleich es in den letzten Jahren zahlreiche Versuche gab, hier durch Monographien über einzelne Autoren, Sammelbände, lexikalische Projekte und Überblicksdarstellungen Abhilfe zu schaffen, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit das Bewusstsein eine eigenständige jüdische Literatur betreffend so gut wie nicht vorhanden ist.



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3. Poetologie des Orts Im Zentrum der vorliegenden Studie steht die exemplarische Analyse von Erzähltexten, die zwischen dem ausgehenden 18.  Jahrhundert und den 1920er-­ Jahren verfasst wurden. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei sowohl auf die Erschließung diskursiver Zeichensysteme und Codes sowie strukturaler Elemente, die in die Texte Eingang gefunden haben. Gleichzeitig werden die historischen Rahmenbedingungen, unter denen diese Texte entstanden sind, reflektiert  ; dies nicht zuletzt deshalb, weil die Texte vor allem aufgrund der darin diskutierten Identitätskonzeptionen als »literarische Sinnverständigung, als soziale Handlung im Kontext anderer sozialer Handlungen«56 verstanden werden (können). Ihr weitreichendes Bedeutungsspektrum wird daher in der literarischen Umsetzung in ihrer Abhängigkeit zu politisch und sozial bedingten Entwicklungen der Zeit betrachtet. Das Forschungsinteresse bezieht sich dabei primär auf die textimmanent verhandelten innerjüdischen Entwicklungen, jedoch stets mit Blick auf die Interkulturalität der dargestellten jüdischen und nichtjüdischen ›Milieus‹. In analytisch-methodischer Hinsicht wird ein strukturalistischer Ansatz favorisiert, der die Funktionsweisen der Sinnstiftung »ausgehend vom Modell der Sprache als einem System differentieller Zeichen« erforscht und zwar mit der Zielrichtung, »die Strukturen der Sinnstiftung«57 anhand narrativer Raumkonstruktionen und raumbezogener Motive sichtbar zu machen. Die seitens der Narratologie, vor allem von Gérard Genette vernachlässigte Instanz des Lesers in seinen unterschiedlichen Konzeptionen ist im Zuge dieser Analyse immer mitzudenken, denn der auf der Seite der Narration angesiedelten Sinnvermittlung steht auf der Seite des Lesers ein entsprechendes Identitäts- oder zumindest Identifikationsbegehren gegenüber.58 Die ausgewählten Texte sind drei Genres zuzurechnen   : der Ghettogeschichte, dem Großstadtroman und dem zionistischen Roman. Erschienen in den letzten 25 Jahren zwar eine Vielzahl von Aufsätzen zu einzelnen Werken und Autoren sowie eine Reihe von gewichtigen Einzeluntersuchungen und Monographien vor allem zur Ghettogeschichte59 sowie vereinzelt zu zionis56 Baasner, Methoden, S. 200. 57 Arne Klawitter, Michael Ostheimer, Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen. Göttingen 2008, S. 124. 58 Genette hat zwar auf entsprechende Kritik reagiert, gleichwohl bleiben seine Ausführungen über den »narrativen Adressaten«, den »implizierten« [sic  !] oder »virtuellen« Leser weit hinter den bereits durch die Vertreter der Rezeptionsästhetik entwickelten Modellen zurück. Vgl. dazu Gérard Genette, Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. v. Jochen Vogt. München 21998, Kap. II. Neuer Diskurs der Erzählung, v. a. S. 279–295. 59 Als bisher umfassendste Untersuchung dieses Genres kann noch immer Gabriele von G ­ lasenapps

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tischer Literatur,60 so fehlt bislang jedoch eine Untersuchung, die auf einen Konnex zwischen diesen ›Mustergattungen‹ Bezug nähme. Dabei bietet sich aus literaturwissenschaftlicher Perspektive als tertium comparationis deren jeweilige Bezüglichkeit auf spezielle Räume und Orte geradezu an. Den diesen Genres korrespondierenden Räumen, Schtetl, Dorf, Ghetto, Stadt und Staat, kommt nicht nur außerliterarisch im Zuge der sich verändernden jüdischen Identitätskonzeptionen eine eminent wichtige Rolle zu, sondern auch produktionsästhetisch, da diese Räume – wie bereits festgestellt – Text konstituierend wirkten  : eben in der Herausbildung der Ghettogeschichte, des Großstadtromans61 und des zionistischen Romans. Alle drei Genres, die sich in der Zeit zwischen 1840 und 1900 entwickeln und im Literaturbetrieb etablieren konnten, waren um 1900 präsent.62 Daraus ergibt sich eine Fülle von Fragestellungen, die sich vornehmlich auf die Wechselbeziehungen von fiktivem und konkretem Ort, (literarischer) Topographie, narrativer Raumkonstruktion und Identität beziehen. Aus der Zusammenschau der im Rahmen dieser Studie exemplarisch untersuchten Texte soll schließlich eine Poetologie des Orts erschlossen werden. Poetologie kann dabei natürlich nicht im historischen Sinn als normative Dichtungslehre verstanden werden, sondern als deskriptiv-analytische Auseinandersetzung mit einer Literatur, die durch den (poetischen) Ort und Raum ihre wesentlichen narrativen Impulse erhält. Der Ort wird als konstitutives Element der Literatur wirksam, sobald er nicht nur vereinzelt als mehr oder weniger lokalisierbare Vorlage des Geschehens innerhalb eines Textes dient, sondern wenn er in einer Vielzahl von Texten erzählerische Topoi ausprägen kann bzw. Voraussetzung einer motivischen Typologie wird. Gleichzeitig wird der wieder und wieder fiktionalisierte Ort – selbst wenn er keine konkreten außerliterarischen Bezugspunkte aufweist – als Teil eines kulturellen Gedächtnisses festgeschrieben. Vom Begriff des Topos und der Topik,63 der

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Aus der Judengasse gelten. Weitere Arbeiten legten u. a. Maria Kłańska, Maria Theresia Wittemann und Anna-Dorothea Ludewig vor. Stellvertretend sei hier u. a. auf die Arbeiten von Hanni Mittelmann, Armin A. Wallas, Leah Hadomi und Philipp Theisohn hingewiesen. Der Großstadtroman ist natürlich nicht immer und nicht automatisch jüdischer Erzählliteratur zuzurechnen. Von den unzähligen literaturwissenschaftlichen Publikationen über Großstadtliteratur des betreffenden Zeitraums sei stellvertretend auf Arbeiten von Klaus Scherpe verwiesen sowie auf Susanne Hauser, Der Blick auf die Stadt  : große Städte und literarische Wahrnehmung bis 1915. Berlin 1990 (= Phil. Diss. TU Berlin). Den jüdischen Kontext betreffend siehe u. a. Helmuth Kiesel, Sandra Kluwe, Großstadtliteratur, in  : Daniel Hoffmann (Hg.), Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Paderborn 2002, S. 323–362. Gewisse Einschränkungen gelten allein aufgrund ihrer Entstehungsbedingungen für die zionistische Erzählliteratur. Die Zahl der fiktionalen zionistischen Texte blieb vergleichsweise gering. Einen kurzen, auch heute noch lesenswerten Überblick zur Entwicklung der Toposforschung



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von Aristoteles begründeten Lehre der Argumentationsfindung, lässt sich also eine Verbindungslinie zur literarischen Topographie herstellen. Beide Begriffe sind der Rhetorik zuzuordnen mit je unterschiedlicher Funktion. Die Topographie ist dabei als Mittel der Beschreibung, das ein Höchstmaß an tatsächlicher (oder vermeintlicher) Authentizität verbürgt, anzusehen. Gleichwohl erweist sich der Begriff aufgrund seiner Bedeutungsvarianten – »als räumliche Metaphorik, als Verräumlichung narrativer Verfahren, […] als diagrammatische Anordnung von Daten oder als kartographische Aufzeichnung und Interpretation von Räumen und Geschichte(n)« – als tendenziell unscharf. Innerhalb dieses Spektrums meint Topographie nach Bernhard Siegert »das Beschreiben von Orten, […] in oder mit Orten. Orte sind sowohl Gegenstand als auch Medium topographischen Schreibens und Beschreibens.«64 Die Topik hingegen will argumentative Kohärenz herstellen.65 Die Erzählung wird durch die Verwendung topischer Elemente in argumentative Strategien eingebunden, die sich in den hier zu untersuchenden Texten vorwiegend auf den Diskurs über Identität(en) im Umfeld der poetischen Funktion des Schtetls, der Stadt und des imaginierten Staats beziehen. Als Topoi wären in diesem Kontext beispielsweise zu nennen  : der Name, der Sabbat, die Grenze, die Familie, das Gesetz, der Generationenkonflikt, die unerwünschte Liebesbeziehung, die verbotene Lektüre. Die Überlagerung von Topos und Topographie bzw. die Gebundenheit von Topoi an je besondere »Örter«66 – ein Ort kann in bestimmten Konstellationen auch als Intertext angenommen werden  – findet in der deutschsprachig-jüdischen und der Topik gibt Ludwig Fischer, Topik, in  : Heinz Ludwig Arnold, Volker Sinemus (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, Bd. 1. München ²1974, S. 157–164. Ausgehend von Arbeiten Ernst Robert Curtius’, der Prinzipien der Rhetorik auf die Literatur übertragen hat, hat sich aus der Toposforschung die Stoff- und Motivforschung entwickelt. Mithin veränderte sich auch die Funktion der Topoi  : Sie »werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfaßten und geformten Lebens aus.« Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern, München ³1961, S. 79. Siehe weiterhin Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt am Main 1976. 64 Bernhard Siegert, Einleitung, Kap. I. Repräsentation diskursiver Räume, in  : Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. v. Hartmut Böhme, Stuttgart. Weimar 2005, S. 3–11, hier [S. 3]. 65 Günter Butzer hat diesen Zusammenhang für die autobiographische Holocaust-Literatur eindrucksvoll nachweisen können. Günter Butzer, Topographie und Topik. Zur Beziehung von Narration und Argumentation in der autobiographischen Holocaust-Literatur, in  : Manuela Günter (Hg.), Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, unter Mitarbeit von Holger Kluge. Würzburg 2002, S. 51–77. 66 Fischer, Topik, S. 159  : »die Topoi, die Loci sind nie die Argumente selbst, sondern die ›Örter‹, an denen man sie finden kann.«

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Literatur eine besonders prägnante Ausformung. Vor allem in der Ghettogeschichte scheint die Topik auch einem aus der antiken Rhetorik bekannten Ziel zu dienen  : Als mnemotechnische Praktik soll sie Erinnerung generieren.67 Auf diese Praxis spielt auch Roland Barthes in seinen Ausführungen über Die alte Rhetorik an  : Was ist ein Ort  ? Das, sagt Aristoteles, wo eine Vielzahl von rednerischen Beweisführungen zur Deckung kommt. […] Warum ein Ort  ? Um sich an Dinge zu erinnern, sagt Aristoteles, braucht man nur den Ort wiederzuerkennen, an dem sie sich befinden (der Ort ist also ein Element der Ideenassoziation, einer Dressur, einer Konditionierung, einer Mnemonik)  ; die Orte sind also nicht die Argumente selbst, sondern die Abteilungen, in die sie eingereiht werden. Daher all die Bilder, die die Vorstellung eines Raums und eines Aufbewahrungsplatzes, einer Lokalisierung und einer Entnahme verknüpfen  : eine Region (in der man Argumente finden kann) […] Die Orte bilden also einen ganz besonderen Speicher wie das Alphabet  : einen [sic  !] Korpus an sich sinnentleerter Formen, die durch Auswahl, Verknüpfung, Aktualisierung am Sinn mitwirken.68

Im Weiteren dienen Norbert Mecklenburgs Überlegungen über eine »topische« Erzählweise als heuristische Anregung bei der Untersuchung der Ghettogeschichten, Stadtromane und zionistischen Romane. Laut Mecklenburg macht topisches Erzählen […] die kommunikative Erzählsituation und damit den möglichen argumentativen Hintergrund des Erzählstoffes sichtbar. […] Topisches Erzählen heißt pragmatische – bei einem fiktionalen Text quasi-pragmatische – Einbettung der Narration in Argumentation, Darstellung der einem Sachverhalt zugrunde liegenden Umstände, die Punkt für Punkt durchgegangen werden.69

Eine solchermaßen verstandene topische Erzählweise scheint gerade im Zusam­ menhang mit identitätsbezogenen Diskursen besonders gut nachvollziehbar.

67 Vgl. dazu auch Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, in  : Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), Sonderheft Stimme und Figur, S. 17–35. 68 Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 66 f. 69 Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein/ Ts. 1982, S. 194.



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4. Raum – Ort – Narrativität Dass sich literatur- und kunstwissenschaftliche Forschung schon verhältnismäßig lange u. a. mit der Repräsentation, Struktur und Funktionalisierung von Räumen befasst, ist bekannt. Gleichwohl ist der so genannte spatial turn70 – sofern es sich tatsächlich um einen turn handelt – den Entwicklungen der Postmoderne geschuldet. Anfang der 1980er-Jahre formulierte der amerikanische Kulturtheoretiker Frederic Jameson den markanten Aufruf  : »Always spatialise  !« Damit signalisierte er vielleicht weniger eine Wende, als vielmehr einen einsetzenden Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften, der allerdings in Anbetracht der Entdeckungen und Entwicklungen in den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert – zumindest retrospektiv betrachtet – unvermeidlich schien. Die Kategorie Raum, die im Vergleich zur Kategorie Zeit lange eine untergeordnete Rolle spielte, erlebt seither gerade mit ihren theoretischen Implikationen in vielen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen einen ungeahnten Aufschwung. In den angewandten Wissenschaften und in den Naturwissenschaften beherrschen Raum/Räume sowohl als physikalische, ontologische, real (ver)messbare, aber auch als konstruktivistische und heuristische Parameter wissenschaftliche Praxis in unvergleichlich höherem Ausmaß – und dies seit jeher. Möglicherweise war und ist die zögerliche Annäherung an den Raum-Begriff seitens der Kulturwissenschaften durch die mit der vermeintlich offenkundigen Materialität von Raum zusammenhängenden Befürchtung verbunden, positivistische und essentialistische Denkmodelle und Konzepte zu fördern. Dass in diesem Zusammenhang auch politische Ängste und Unsicherheiten zum Tragen kommen, verwundert angesichts der historischen Entwicklungen und Ereignisse im 19. und 20. Jahrhundert kaum. Nichtsdestoweniger kann sich heute wohl kaum eine Wissenschaftsdisziplin der Auseinandersetzung mit der Kategorie Raum entziehen. Gleiches gilt für die verschiedenen Künste  : Theater bzw. alle Formen der Performing Arts, bildende Kunst, Architektur, aber auch Musik und Literatur. Raum fungiert dabei gleichermaßen als Vorlage für theoretische Modelle, die zudem methodologisches Potenzial entfalten können, in vielgestaltiger Form als konkretes Untersuchungsobjekt unterschiedlichster Forschungsfelder sowie als künstlerische Manifestation. Jenseits konkreter physikalischer, geographischer oder topographischer Räume entstehen Raum und Räume sowohl virtuell, materiell und sozial zum Beispiel in künstlerischen und in anderer Weise (z. B. rituell) gestalteten, aber natürlich 70 Vgl. hierzu und im Folgenden den kompakten Überblick von Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn, in  : dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 22007, S. 284–328.

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auch und vor allem in alltäglichen, nicht-reflektierten Prozessen. Die Sozialwissenschaften, in deren Umfeld der spatial turn zuerst proklamiert wurde,71 und die Geowissenschaften haben eine »›Wiederkehr‹ bzw. ›Permanenz‹ des physischen Raums in Erinnerung gerufen.«72 Wie Ansgar Nünning vor einigen Jahren vermerkte, zählen Untersuchungen über Räume, Raumdarstellungen oder Raumkonzeptionen in größeren kulturwissenschaftlichen oder mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhängen aber immer noch zu den Desideraten, wenngleich mittlerweile eine verstärkte »Erforschung der kulturellen Konstruktion von Räumen und Grenzen« zu verzeichnen ist.73 Auch im Bereich der Jüdischen Studien stellt sich der spatial turn oder wie es Sigrid Weigel bevorzugt ausdrückt, der topographical turn,74 trotz herausragender Projekte wie z. B. des Graduiertenkollegs MAKOM  : Ort und Orte im Judentum an der Universität Potsdam (2002–2007) erst langsam ein. Anna Lipphardt und Julia Brauch formulierten in einem rezent erschienenen Forschungsüberblick, »dass in der bisherigen jüdischen Raum- und Ortsforschung deskriptiv-positivistische und normative Forschungsperspektiven bzw. die Ausrichtung auf Raumimaginationen und -erinnerungen überwiegen.«75 Für die Literaturwissenschaften stellte Natascha Würzbach vor 10 Jahren fest, dass »eine gezielte Beschäftigung mit dem erzählten Raum […] in den achtziger und neunziger Jahren eher sporadisch« ausgefallen sei, obwohl diverse themenbezogene Untersuchungen, die sich beispielsweise mit den ästhetischen Darstellungsformen der Großstadt oder der Landschaft, mit ideologischen Positionen des Raums aus der postkolonialen Perspektive in der Reiseliteratur sowie mit der psychologischen oder soziologischen Semantik einzelner Orte, wie des Gartens oder des Gefängnisses beschäftigten, vorgelegt wurden. Detaillierte Analysen »textueller Strategien, mit denen Raum im Erzähltext evoziert wird«, seien aber eher die Aus71 V. a. Edward W. Soja, Postmodern Geographics. The Reassertation of Space in Critical Social Theory. London, New York 31993. 72 Vgl. dazu Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Gundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 12. 73 Ansgar Nünning, Raum/Raumdarstellung, literarische(r), in  : ders. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2004, S. 559. 74 Sigrid Weigel, Zum ›topographical turn‹. – Karthographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in  : KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151–165. 75 Anna Lipphardt, Julia Brauch, Gelebte Räume – neue Perspektiven auf jüdische Topographien, in  : Petra Ernst, Gerald Lamprecht (Hg.), Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten. Innsbruck, Wien, Bozen 2010, S.  13–32, hier S.  23, [Kursivstellung im Original]. Zu Makom vgl. auch die Anmerkungen von Joachim Schlör, Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938. Tübingen 2005, S. 21 f.



Raum – Ort – Narrativität 

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nahme geblieben.76 Dass sich daran seither nur tendenziell etwas geändert hat, konstatierten kürzlich Wolfgang Hallet und Birgit Neumann  : Es liegen einige umfassende Studien vor, die die Raumdarstellung in literarischen Texten untersuchen und Systematisierungsvorschläge für die Vielfalt von Formen und Funktionen der literarischen Raumrepräsentation machen […]. Dabei handelt es sich meist um phänomenologische oder strukturalistisch orientierte Ansätze, in denen ›Raum‹ nur selten unter Bezugnahme auf konstruktivistische Ansätze der Sozial- und Kulturwissenschaften konzeptualisiert wird.77

Ansgar Nünning formuliert in diesem Zusammenhang seinen Eindruck, dass »nur selten ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen den oftmals sehr laborierten Modellen zur Analyse der Techniken der Narration, Fokalisierung oder der erlebten Rede und der Frage, wie der fiktionale Raum narrativ vermittelt und semantisiert wird.«78 Weiterhin erkennt Nünning als ein »besonders großes Desiderat für eine kulturwissenschaftlich und kulturgeschichtlich ausgerichtete Erzählforschung […], dass es unter Rückgriff auf Bachtins Konzept des Chronotopos und Lotmans semiotischem Ansatz einer Rekonstruktion unterschiedlicher historischer, epochenspezifischer und national-sprachlicher Kultur- und Raummodelle bedarf.«79 Auf diese Forderung möchte die vorliegende Studie, die sich als Beitrag zu einer raumtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft versteht, zumindest in ihrer Zielrichtung reagieren – wohl wissend, dass es sich dabei nur um einen ersten Schritt handeln kann. Eine Voraussetzung dafür bildet nichtsdestoweniger die Relativierung einer radikal konstruktivistischen Sichtweise. Bezugnahmen auf empirische, physikalische oder topographisch eindeutige Orte und Räume müssen möglich sein, ohne dass man sich damit dem Generalverdacht einer positivistischen Zugangsweise aussetzt. Andererseits dominieren in der hier zur Diskussion 76 Natascha Würzbach, Erzählter Raum  : fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung, in  : Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Heidelberg 2001, S. 105–130. Siehe dazu auch Thomas Anz, Textwelten, in  : Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1  : Gegenstände und Grundbegriffe, hg. v. Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 111–130, bes. S. 118–122. 77 Wolfgang Hallet, Birgit Neumann, Raum und Bewegung in der Literatur  : Zur Einführung, in  : Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 11–32, hier S. 19. Gleichzeitig belegt aber gerade das Interesse an dem von Neumann und Hallet herausgegebenen Band eine verstärkte Hinwendung zu raumtheoretischen Fragestellungen in der Literaturwissenschaft. 78 Ansgar Nünning, Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung  : Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven, in  : Hallet, Neumann, Raum und Bewegung, S. 33–52, hier S. 34. 79 Nünning, Formen und Funktionen, S. 49.

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stehenden Literatur komplexe Raumkonstellationen, die nicht nur erzählstrategisch hochgradig konstruiert und semantisiert sind, sondern die auf der (narrativen) Herstellung soziokultureller, politischer oder symbolischer Räume sowie abstrakter Raumrelationen basieren. Insofern werden in der vorliegenden Studie Anschlussmöglichkeiten an theoretische Ansätze der Kultur- und Sozialwissenschaften, der Kultursemiotik, der Gender Studies und vereinzelt der Postcolonial Studies gesucht. Sie haben unter anderem Leitbegriffe wie Grenze und Grenzüberschreitung, Transgression, Liminalität, cognitive mapping, third space/Dritter Raum, Zwischenraum, Territorialisierung, Zentrum und Peripherie oder gendered space etabliert. Einzelne Fragestellungen wurden weiterhin inspiriert durch die vielfach raumbezogenen Gedächtnistheorien, die vor allem mit Aleida und Jan Assman sowie Pierre Nora in den letzten 15  Jahren einen ungeheuren Aufschwung erlebten. Die im Zuge dessen mittlerweile popularisierten Begriffe lieux de mémoire, Erinnerungsräume, Gedächtnisorte etc. trugen generell dazu bei, die Sensibilität für das heuristische Potenzial von sozialem, ästhetischem, mythischem, symbolischem, virtuellem oder imaginärem Raum respektive von Raumdarstellungen und kulturellen Raumkonzeptionen und -konstruktionen zu erhöhen. Die vielen Attribute, die dem Raum heute zugeordnet werden, suggerieren, er sei eine wenngleich komplexe, so doch stabile Kategorie. Unterstützt wird diese tendenziell intuitive Annahme durch die Tatsache, dass sich Menschen ihr ganzes Leben in Räumen bewegen  : in physikalisch-vermessbaren, real-ontologischen. Allein ein Blick in zwei historische Nachschlagewerke demonstriert jedoch die epistemologische und immanente Dynamik des Begriffs, der nicht immer in deutlicher Abgrenzung zu den Begriffen ›Ort‹ und ›Platz‹ verstanden wurde. Um 1800 legte Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch für den Begriff ›Ort‹ einen sehr umfangreichen Artikel an  :80 Der Ort, des -es, plur. die Orte und Örter, Diminut. das Örtchen, Oberd. Örtlein, ein Wort von vielfachen Bedeutungen, welche sich doch insgesammt aus einem gemeinschaftlichen Stammbegriffe herleiten lassen. 1.* Ein Theil eines Ganzen, ein abgebrochenes Stück, ein Stückchen  ; eine Bedeutung, welche sich nur noch in einigen Überresten erhalten hat. […] 2. Die Schärfe, Spitze, Ecke eines Dinges  ; eine mit der vorigen sehr genau verwandte Bedeutung, welche im gemeinen Leben Ober- und Nieder-Deutschlandes noch häufig genug vorkommt. […] 3.* Das Erste und Letzte an einem Dinge, der Anfang und das Ende in Ansehung der Ausdehnung  ; […] 80 Der Artikel ›Ort‹ würde hier einzeilig fünf DIN-A4-Seiten einnehmen. Es werden daher nur ausschnittweise einige wenige Bedeutungsvarianten angeführt.



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4. Derjenige Raum, welchen ein Körper einnimmt oder doch einnehmen kann, ein bestimmter Theil des Raumes  ; […] In der Metaphysik nennet man denjenigen Raum, welchen ein Körper wirklich einnimmt, den absoluten Ort, den Theil des Raumes aber, welchen er in Ansehung anderer Körper einnimmt, sein Verhältniß gegen die neben ihm befindlichen Dinge, die Stelle, den relativen Ort. Im gemeinen Leben begreift man beyde unter dem Nahmen des Ortes schlechthin. […] Raum, Ort, Stelle und Platz kommen in gewissen Fällen mit einander überein, gehen aber auch in vielen Stücken von einander ab […] In engerer Bedeutung, ein von Menschen bewohnter Theil der Erdfläche  ; […] (g) In noch engerer Bedeutung, ein kleinerer von Menschen besuchter Raum, auf eine ganz unbestimmte Art, ob es ein Gebäude, ein Haus, ein Zimmer u.s.f. ist.81

Neben der ursprünglichen etymologischen Bedeutung, die auf ein exakt zu Bezeich­ nendes und ein Lokalisierungsindiz verweist, wird hier im Weiteren schon eine Verbindung von Mensch und Territorium hergestellt. Als implizites Kriterium für die Definition von ›Ort‹ wird zudem eine zeitliche Dimension der relativen Dauer durch die Zusätze »bewohnter Theil der Erdfläche« und »besuchter Raum« eingeführt. Von Belang ist nicht zuletzt bei der Analyse von literarischen Raum- und Ortskonstruktionen die dem Ort inhärente Grenze, die ihn dadurch gleichzeitig als Teil eines Raumes bestimmbar macht. Dadurch unterscheidet er sich essentiell von einem Platz, wie »ein breiter, ebener oder geebneter Theil der Erdfläche, so fern gewisse Handlungen darauf vorgenommen werden sollen«,82 genannt wird. Die Besonderheit des Platzes besteht darin, dass er zwar »in Ansehung der Befestigung« auch im Sinne einer Ortsbezeichnung gebraucht werden kann (frz. place, ital. piazza), dass er aber im Gegensatz zum Ort ohne Grenze bestimmbar ist  : »Ein freyer Platz, welcher mit nichts besetzt ist, ingleichen, welcher durch nichts eingeschränkt wird. Ein schöner ebener Platz.«83 Weiterhin definiert sich ein Platz »in Ansehung der Handlung«84 zum Beispiel als Marktplatz, als Handelsplatz etc. Diese dem Platz immanente Freiheit bildet auch in Erzählungen ein wichtiges Kriterium hinsichtlich eines freien Handlungspotenzials. Auf Plätzen – seien es Marktplätze oder Erholungsflächen im Grünen – gelingt es den Figuren am ehesten, ihre Handlungen relativ autonom zu setzen und ihre ansonsten häufig räumlich recht eng gezogenen Grenzen auch im übertragenen Sinne zu überschreiten. 81 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart nach der Ausgabe letzter Hand. Zweyte vermehrte und verbesserte Ausgabe, 4  Bde. Leizpig 1793–1801, Bd. 3, S. 619–622. Hier zitiert nach der elektronischen Volltextedition »10 Jahre Digitale Bibliothek«. Jubiläumsband. Berlin 2005. 82 Adelung, Bd. 3, S. 788 f. 83 Adelung, Bd. 3, S. 788 f. 84 Adelung, Bd. 3, S. 788 f.

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Diese semantische Vielschichtigkeit des Orts-Begriffs erscheint um 1900 deutlich relativiert. In Brockhaus’ Kleinem Konversations-Lexikon von 1911 wird ›Ort‹ – in einem nur wenige Zeilen umfassenden Artikel – zum einen als Ausdruck einer punktuellen Markierung, zum anderen als geographisch-geometrische und astronomische Größe benannt  : Ort, mittelalterlicher Ausdruck für Spitze, scharfe Ecke  ; daher Ortsteine, Ortziegel etc.; […]– Im Bergbau ist O. das Ende einer Strecke, d. h. der Punkt, an welchem zur Verlängerung derselben gearbeitet wird (vor O. arbeiten)  ; […].85

Diese Definition impliziert auch die mathematische Erfassung, die dann unter dem Stichwort »Ortsbestimmung« erklärt wird. Auch der Begriff »Raum« wird in den beiden Nachschlagewerken vom Umfang her sehr unterschiedlich abgehandelt. Bei Adelung wird ›raum‹ sogar noch als Adjektiv bzw. Adverb aufgeführt.86 Weiterhin heißt es dort u. a. zum Substantiv  : Der Raum, des -es, plur. die Räume. 1. Im engsten und allem Ansehen nach eigentlichsten Verstande, derjenige Theil des von sichtbaren Körpern leeren Luftkreises, welchen ein Ding zur Ausfüllung oder zu gewissen körperlichen Veränderungen bedarf  ; ohne Plural. Keinen Raum haben. […] Raum machen. Raum zu etwas machen. Raum gewinnen, bekommen. Der Raum ist mir zu enge. […] In eben diesem Verstande wird auch Platz gebraucht, obgleich bey demselben diese Bedeutung nur figürlich ist. In der Mechanik ist der Raum die gerade Linie, welche so wohl von der Last, als auch von der Kraft durchgangen wird. 2. In weiterer Bedeutung, ein jeder von Körpern leerer Ort des Luftkreises  ; da denn auch der Plural statt findet. Die großen Räume des Himmels. Ein luftleerer Raum. Der Raum zwischen Säulen. Der Raum eines Fasses, einer Bouteille. […]87

Im Brockhaus wird auf diese sehr weit ausholende Bedeutung überhaupt nicht mehr Bezug genommen, dort heißt es kurz und bündig  : Raum, die allgemeine Form unserer Anschauung von der Körperwelt  ; die Wissenschaft vom R. ist die Geometrie. – Auf Handelsschiffen heißt R. der zur Aufnahme der La85 Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, 5., vollständig neubearbeitete Auflage, in zwei Bänden. Leipzig 1911, Bd. 2, S. 320, [Hervorhebung im Original]. Hier zitiert nach der Elektronischen Volltextedition der fünften Auflage von 1911, [= Digitale Bibliothek  ; 50]. Berlin 2004. 86 Adelung, Bd. 3, S. 978. Im heutigen Sprachgebrauch ist diese Form nur noch in der Verbindung »geraume Zeit« gebräuchlich. 87 Adelung, Bd. 3, S. 978 f.



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dung bestimmte, unter dem untersten Deck liegende Teil des Schiffs. (S. auch bestrichener Raum.)88

Erstaunlicherweise ist um 1900 die Wissenschaft, die dem Raum zugeordnet wird, nicht wie heute v. a. in der Nachfolge der Postmodern Geographies (1989) des Kulturgeographen Edward W. Soja vermittelt wird, die Geographie, auch nicht die Astronomie, sondern die Geometrie, also ein Gebiet der Mathematik. Die angeführten historischen Definitionen lassen nun kontextabhängig mehrere Schlüsse zu  : 1. Der Begriff des Orts bezieht sich (im Entstehungszeitraum der in dieser Studie zu betrachtenden Texte) auf etwas klar Benennbares. Ein Ort kann bestimmt werden und insofern eignet sich ein Ort auch als ›Gegenstand‹ einer damit verbundenen Geschichte und in der Folge entsprechender Erinnerungen. Außerdem kann ein Ort als benennbare Größe einer Wohn-, Lebens- oder Herkunftssituation narrativ hergestellt werden. »[G]roß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt«, heißt es schon bei Cicero in De finibus bonorum et malorum.89 Ein Ort und seine Geschichte können Identifikationen auslösen, aber auch Zurückweisung erfahren. Dies gilt für Orte im Sinne einer Ortschaft, aber auch für einzelne Häuser, Gebäude oder Gebäudeteile (z. B. im Sinne von Generationenorten)  ; beide Varianten finden sich in den drei hier zur Diskussion stehenden Genres narrativ entfaltet. Eine Person kann sich identifikatorisch als Bürger einer Stadt bezeichnen und dies unabhängig von einer nationalen oder staatlichen Zuordnung, einem administrativ-legistischen Akt oder anderen selbst gewählten oder verordneten Gruppenzugehörigkeiten. Dieser Umstand spiegelt sich auch in Berliner oder Wiener Großstadtromanen wider. Durch Bezeichnungen wie »Ein Wiener Roman«90 wird zunächst ein wie auch immer auszudeutendes affektives Verhältnis von Mensch, Ort und Geschichte an einem Ort suggeriert. Geschehnisse, die an einem Ort stattfinden, können scheinbar neutral in einer Chronik oder einer Ortsgeschichte festgehalten werden. Andererseits kann ein Ort auch metaphorisch umgedeutet oder semantisch aufgeladen werden. Das gilt für individuelle Erinnerungsorte ebenso wie für Orte kollektiven Gedächtnisses und Gedenkens  ; 88 Brockhaus, S. 496. 89 Cicero, De finibus bonorum et malorum, (dt. Übersetzung  : Das höchste Gut und das größte Übel), hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1989, S. 394 ff., hier zit. nach Aleida Assmann, Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften, in  : Hanno Loewy, Bernhard Moltmann (Hg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn  : authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt am Main, New York 1996, S. 13–29, hier S. 17. 90 Z. B. Leopold Hichler, Der Sohn des Moses Mauthner. Ein Wiener Roman. Wien, Leipzig 1927.

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auch solche Konstellationen sind in den hier zu untersuchenden Erzähltexten handlungsrelevant funktionalisiert. Aleida Assmann hat sich in vielen Texten mit Erinnerungsorten auseinandergesetzt. In ihrem Aufsatz Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften unterscheidet sie zwischen »Generationenorte[n]«,91 deren Bedeutung »mit einer langfristigen Bindung von Familien oder Gruppen an einen bestimmten Ort«92 entsteht  : Hier existiert ihrer Meinung nach ein enges Verhältnis von Mensch und Ort z. B. aufgrund dort lange verbrachter Lebenszeit. Weiterhin nennt sie »traumatische Orte«93 und Erinnerungsorte,94 die sich dadurch auszeichnen, dass sie durch eine Diskontinuität geprägt seien, durch einen Abbruch, eine abgebrochene Geschichte, die sich dann in Ruinen, anderen Relikten, auch nicht mehr wahrnehmbaren Resten materialisiert. Ein Erinnerungsort wäre nach diesem Verständnis (so auch von Nora vertreten) »das, was übrig bleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen und weitergelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ergänzt.« Solche Orte sind nach Assmanns Verständnis »erklärungsbedürftig«  ; »die Bedeutung der Relikte muß durch unabhängige Erinnerungen und Erzählungen gesichert werden.«95 Dieser Befund gilt gleichermaßen für Orte in einem übertragenen Sinn, wie sie Pierre Nora in seiner Konzeption des nationalen lieu de mémoire vorsieht. Grundsätzlich bleibt aber im Rahmen der damit verbundenen Diskurse zu beachten und kritisch zu reflektieren, dass historische Erinnerungsorte gerade wegen ihrer immanent notwendigen Erklärungsbedürftigkeit immer Gefahr laufen, vorgebliche Authentizität durch ›erzählte Geschichte(n)‹ herzustellen. In literarischen Texten lassen sich solche Prozesse gleichermaßen beobachten, nur mit dem Unterschied, dass im Zuge der räumlich-narrativen Strategien einer Erzählung die Mechanismen der Generierung von Erinnerungsorten nachvollziehbar sind, sofern sie nicht überhaupt als Teil der Erzählung gewissermaßen selbstreflexiv mitgedacht werden. 2. ›Raum‹ scheint im Gegensatz zu ›Ort‹ keine eindeutig bestimmbare und stabile Kategorie zu sein. ›Raum‹ wird im Brockhaus zwar noch in einem ursprünglichen Sinn in seiner Materialität nach einem bestimmten Teil in einem Schiff benannt. Das kommt einem durchaus populären Verständnis entgegen, dass ein Raum eine Art Gefäß darstellt, das durch Mauern, Wände, Zäune etc. 91 Assmann, Erinnerungsorte, S. 13 ff. 92 Assmann, Erinnerungsorte, S. 15. 93 Assmann, Erinnerungsorte, S. 18–25. Auschwitz gilt Aleida Assmann als der traumatische Ort schlechthin. Ein Merkmal traumatischer Orte besteht nach Assmann in der Unmöglichkeit, affirmative Sinndeutungen zuzulassen. 94 Assmann, Erinnerungsorte, S. 15–17. 95 Assmann, Erinnerungsorte, S. 16.



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begrenzt und eingefasst ist. Wesentlich ist aber, dass Raum im Zusammenhang mit der Körperwelt verstanden wird. Auch Adelung spricht schon von der Veränderung und damit indirekt von der Bewegung von Körpern, die notwendig ist, um Raum zu erzeugen oder erstehen zu lassen. Hier lässt sich erstaunlicherweise bereits ein Bogen zu aktuellen Theorien in den Kulturwissenschaften schlagen, die, pauschal gesprochen, davon ausgehen, dass Raum und Räume performativ durch Bewegung oder diskursiv hergestellt, verändert, sozial, kulturell, ästhetisch, medial etc. konstruiert und ausgehandelt werden.96 Was schon für kleinste soziale Formationen gilt, überträgt die Soziologin Martina Löw auf Großgruppen  : »Moderne Kulturen agieren in vielfältigen räumlichen Figurationen.«97 In den Kulturwissenschaften rücken dementsprechend »Praktiken  – sozialer wie technischer Art  – der kulturgeschichtlichen Konstitution in den Blick«.98 Sie basieren teils auf einem unterschiedlichen Raumverständnis und können gleichzeitig zu einem unterschiedlichen Raumverständnis führen. Oder, wie es Martina Löw ausdrückt, Räume sind ihrem Verständnis nach »Figurationen auf symbolischer und […] materieller Basis, die (einerseits) das soziale Leben formen und die (andererseits) im kulturellen Prozess hervorgebracht werden.«99 Weiterhin ist zu folgern, dass ›Raum‹ einen übergeordneten Bezugsrahmen darstellen kann, allein in dem Sinn, dass mehrere Orte einen Raum figurieren können. Eine Stadt kann demzufolge Ort (als klar benennbare Größe) oder Raum (als Anordnung verschiedener Orte und Plätze oder als soziale Anordnung) sein. Räume – unabhängig davon, ob sie als reale, virtuelle, ästhetische, imaginäre oder 96 Vgl. dazu u. a. die Grundlagentexte von Georg Simmel, Über räumliche Projektionen socialer Formen (1903), in  : ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908/I, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1995, S. 201–220  ; Michel Foucault, Von anderen Räumen (1967/1984), a. d. Frz. v. Michael Bischoff, in  : ders., Schriften in vier Bänden, Bd.  IV (1980–1988) hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main 2005, S. 931–942  ; Henri Le­ febvre, La production de l’espace, Paris 1974, dt. Erstübersetzung der Kap. I. 14/15/17 von Jörg Dünne u. d. T. »Die Produktion des Raums«, in  : Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 330–340  ; Michel de Certeau, Kunst des Handelns (1980), III. Teil  : Praktiken im Raum, a. d. Frz. v. Ronald Voullié. Berlin 1988, sowie Pierre Bourdieu, Sozialer Raum, symbolischer Raum (1989), in  : ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, S. 13–27 [ohne Anhang]. Passagen dieser Texte (teils mit verbesserten Übersetzungen) siehe in  : Dünne, Günzel, Raumtheorie. 97 Martina Löw, 1.4. Raum – Die topologischen Dimensionen der Literatur, in  : Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1  : Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hg. v. Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch. Stuttgart, Weimar 2004, S. 46–59, hier S. 46. 98 Dünne, Günzel, Raumtheorie, S. 13. 99 Löw, Raum, S. 46.

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soziale angenommen werden – können, wenngleich in anderer Form als Orte, ebenfalls eine Kraft besitzen, Identifikationen auszulösen, zu binden oder auch abzuwehren. Raum wird aber selbst in diesem Zusammenhang zunächst nicht als fixierbare physische oder physikalische Größe verstanden, sondern, durchaus auf den lateinischen Wortsinn von spatium referierend, als »Raum für freie Bewegung, wovon sich auch das deutsche ›spazieren‹ ableitet«.100 Im Lateinischen bedeutet dieser Begriff auch (ein bestimmter) Zeit-Raum. Diese Komponente verliert sich in der deutschen Sprache  ; hier setzte sich nach und nach die territoriale Bezugnahme durch, wie sie im Grimm’schen Wörterbuch (1838–1960) nachzulesen ist  : »gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung«.101 Die Begriffe Raum, space, espace oder spazio verweisen so (mindestens) auf zwei theoretische Positionen  : »auf die Annahme einer absoluten, territorialen Bindung einerseits und auf den Ausgangspunkt einer relationalen (also auf Beziehung gründenden) Verortung andererseits.«102 Wie komplex und anfällig für Missverständnisse die (Re-)Präsentation von Erinnerungsorten, aber auch wissenschaftliche und künstlerische Zukunftsvisionen von Orten und Räumen sein können, zeigt sich im Bereich der Auseinandersetzungen und Bemühungen um mehrfach kulturell besetzte Orte/Räume. Moderne Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Nationalstaaten und -gesellschaften waren ebenso an räumliche Konzeptionen gebunden wie politisch oder religiös motivierte Vorstellungen von Exil und Diaspora, Vaterland und Heimat. Gerade im Kontext sich herausbildender Nationenvorstellungen im 19. Jahrhundert, mithin auch des Zionismus, mit ihren signifikant politischen, aber auch kulturellen Ausrichtungen wurden diese verstärkt an die Vorstellung eines Territoriums gebunden. Vor allem in narrativen Texten ließen diese Raumkonzeptionen in der Folge bis dahin unbekannte Möglichkeiten von Zuschreibungen, Sinnstiftungen und identitären Entwürfen zu. Auch erfahrene, gelebte und rituell funktionalisierte Mikroräume bzw. konkrete Örtlichkeiten, wie Synagoge oder Kirche, das Haus als Ort familialer, sozialer und religiöser Praxis und die Erzählungen darüber besitzen maßgebliche – wenngleich nicht immer auf den ersten Blick erkennbare – Wirkkraft im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen. Gleichzeitig stellen diese Orte aber selbst einen Ausdruck dieses Wandels dar. Die deutschsprachigen Erzähllite100 Dünne, Günzel, Raumtheorie, S. 10. 101 Der Digitale Grimm. Deutsches Wörterbuch, nach der elektronischen Ausgabe der Erstbearbeitung von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, bearbeitet von Hans-Werner Bartz et al., hg. v. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Frankfurt am Main 2004, Stichwort  : raum. 102 Dünne, Günzel, Raumtheorie, S. 10.



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raturen partizipieren seit dem 19.  Jahrhundert an diesen Entwicklungen, indem sie poetologische und diskursiv wirksame Raumkonzepte entwerfen  : Dies betrifft v. a. die neu entstehenden Genres der Dorfgeschichte und im weiteren Verlauf die wachsende Bedeutung von Regionalliteraturen sowie die Großstadtromane. Ob die deutschsprachig-jüdische Literatur in diesem Prozess Schrittmacher oder Nachzügler ist, muss nicht entschieden werden  ; in jedem Fall zeigt sich auch hier die Verwobenheit der verschiedenen literarischen Teilsysteme. Schließlich beeinflussen das Nebeneinander, die Überlagerung, die wechselseitigen Beziehungen und die Ablösung kultureller, sozialer, ästhetischer, ritueller und imaginärer Räume konkrete Handlungspraxis sowie die Generierung oder den Wandel von Identitätskonzeptionen. Durch das Verlassen von Räumen und Orten, durch Reise- und Migrationsbewegungen oder auch durch den Verfall oder die Zerstörung bestimmter räumlicher Rahmenbedingungen geraten auch die daran gebundenen Identitäten immer wieder ins Fließen. Die Auflösung von Gruppen spiegelt sich schließlich in der Auflassung bzw. dem Verlassen spezifischer Orte/Örter wider. Gleichzeitig markiert das Fehlen von Raum und ›eigenen‹ Räumen eine Form von sozialer Entwurzelung. D. h. ebenso wenig wie Gesellschaften als klar voneinander abgrenzbare, statische kulturelle Entitäten verstanden werden können, ist auch Raum  – im Gegensatz zum (konkreten) Ort  – eindeutig fixierbar. Er ist gewissermaßen elastisch, kann daher in unterschiedlichen Konstellationen besetzt werden und wiederum selbst in diese Konstellationen hineinwirken. Einerseits kann er als Schnittstelle kultureller Verflechtungen, die unterschiedliche Handlungsoptionen zulassen, andererseits aber auch als Zone der Begrenzung oder Blockade fungieren. Raum ist in seiner Bedeutung abhängig von unterschiedlichen Codierungen. Allerdings konstituiert er sich erst dann, wenn Menschen diese Codierungen lesen und verstehen können. Da aber bestimmte räumliche Konstellationen nicht von allen Menschen bzw. handelnden Personen decodiert werden können, bleiben damit auch diese räumlichen Konstellationen teilweise unsichtbar. Dies gilt sowohl auf der Ebene konkreten sozialen und religiösen Lebens sowie weiterhin auf der Ebene der Literatur. So kann beispielsweise eine (erzählte) Synagoge auf einen Unkundigen oder Nichtinteressierten lediglich als architektonisches oder kulturelles Bauwerk wirken, wohingegen ein jüdischer Besucher/Leser darin auch einen Raum gelebter Religiosität erblicken wird. Die (erzählte) Sabbatstube decodiert ein unkundiger (nichtjüdischer) Leser vermutlich lediglich als feiertäglichen Rückzugsort, wohingegen sich vor den Augen eines wissenden (jüdischen) Lesers ein traditionell aufgeladener und rituell belebter Raum eröffnet. Ein weiteres markantes Beispiel stellt der Eruv dar, die Sabbatgrenze, die sowohl materiell als auch symbolisch in den innerjüdischen Debatten im Zeitalter der Emanzipation und Verbürgerlichung eine eminent wichtige Rolle

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spielt.103 War eine Ansiedlung mit jüdischer Einwohnerschaft nicht durch Gräben, Mauern oder Tore als abgeschlossen wahrzunehmen oder wurden im Zuge der Modernisierungsprozesse Stadt(viertel)tore, Mauern etc. geschliffen, wurde es für gesetzestreue Gemeinden notwendig, die Sabbatgrenze anderweitig zu markieren. Meist geschah das durch das Aufziehen von Drähten oder Schnüren, deren Bedeutung aber wiederum nur jenen zugänglich war, die die damit verbundene religiöse Codierung (an)erkannten. Gleichzeitig lassen sich entlang der auch bürokratisch geführten Auseinandersetzungen um die Errichtung oder Abtragung von Eruvim die regional graduell unterschiedlich verlaufenden historischen Identitätsbildungsprozesse im Zeitalter der Modernisierung in Europa ablesen.104 Der sichtbare, materielle Raum, der gleichwohl durch Gegenstände, in den genannten Beispielen auch durch rituelle (An)-Ordnungen und Handlungen gestaltet wird, überlagert gewissermaßen den symbolischen, unsichtbaren Raum, der nur von jenen ›betreten‹, weil verstanden werden kann, die seine Codes entziffern können. Oder, wie es Martina Löw formuliert  : Die topologischen Dimensionen einer oder mehrerer Kulturen [sic  !] zu untersuchen, heißt nicht, wie Alltagsvorstellungen nahe legen, die Anordnung der Gebilde im Raum zu betrachten, sondern die Anordnungen zu Räumen zu erkunden. […] Um überhaupt Räume in Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung verknüpfen zu können, bedarf es einer Platzierungs- und Lokalisierungspraxis. Das heißt, neben der Syntheseleistung ist jedem kulturellen Raum ein Platzierungsmoment immanent.105

103 Vgl. dazu Schlör, Das Ich der Stadt, S. [11] ff. sowie S. 21 f. Schlör zitiert u. a. eine Eingabe zur Errichtung eines Eruvs der Vorsteher der Judenschaft von Filehne Deutsch-Crone und Schönlanke an das preußische Innenministerium aus dem Jahre 1835  : »Den Bekennern des mosaischen Gesetzes ist das Tragen von Sachen von einer Stelle zur anderen am Sabbat auf unbebauten Plätzen und in einem beschränkten Kreise von vier Ellen erlaubt, dagegen in einem weiten Raume verboten  ; in einer Stadt aber darf der Jude am Sabbat nur wenn sie von Mauern oder tiefen Gräben umgeben ist und ihre Ausgänge mit Thoren versehen sind, beliebig Sachen tragen. Im anderen Falle muß um die Stadt ein Merkmal der Begränzung dadurch angebracht werden, indem man mittels an den beiden Enden der Ausgänge befestigten Drahts oder Schnürchens diese Ausgänge oben zusammen verbindet.« (S. 12). 104 Siehe Schlör, Das Ich der Stadt, S. 23. Schlör verweist nachdrücklich auf dieses von Peter Freimark schon 1983 eröffnete Forschungsfeld  ; allerdings hätten bisher nur wenige Kulturwissenschaftler Freimarks Ansätze aufgegriffen. Vgl. dazu Peter Freimark, Eruw/Judentore. Zur Geschichte einer rituellen Institution im Hamburger Raum (und anderswo), in  : Judentore, Koggel, Steuerkonten. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Juden, vornehmlich im Hamburger Raum. [= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden  ; 9]. Hamburg 1983, S. 10–69. 105 Löw, Raum, S. 46 [Hervorhebung im Original].



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Der Raum bietet also jenen Grund, der erst ›graphiert‹ und gelesen werden muss, um sein Potenzial zu entfalten. Erst wenn Topos und Zeichen (Graphein) sich semiotisch verbinden, kann Topographie als »räumliches Ordnungsverfahren«106 wirksam werden. Topographien sind also weniger »Präfigurationen von Aktionen«, wie Hartmut Böhme meint,107 sie markieren vielmehr ›Möglichkeitsräume‹ für Orientierungen, Identifikationen und Aktionen. Wenn Topos, Zeichen, Topographie und handelnde Figuren in Erzähltexten in einen engen narrativen Zusammenhang gestellt werden, lassen sich daran auch poetologische Aussagen ablesen, die in ihrer Zusammenschau wiederum als Teil einer Poetologie des Orts fungieren können. Eine über die gängigen Befunde der Semantik hinausgehende Erfassung narrativer Konstruktionen von Ort und Raum sowie deren strukturierende poetologische Qualität wurde in Untersuchungen deutschsprachig-jüdischer Literatur aber bisher weitgehend vernachlässigt.108 Deshalb sollen im Zuge der gegenständlichen Analyse der Semantisierung und Funktionalisierung von literarischen Räumen und Orten sowie der Verknüpfung von Topographie und Topologie die ausgewählten Texte teils auch unter narratologischen Aspekten in den Blick genommen werden.109 Ausgangspunkt einer narratologischen Lektüre können, wie Alexandra Strohmaier in einem Beitrag über Karl Emil Franzos exemplarisch vorführt, diskurstheoretische Zugänge, die sich auf Michel Foucault berufen, darstellen. Demnach sind Diskurse »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.«110 Aber nicht nur die (gesellschaftliche) Rede über bestimmte Phänomene, sondern auch das Erzählen darüber ist eingespannt in ein kom106 Hartmut Böhme, Einleitung  : Raum – Bewegung – Topographie, in  : ders., Topographien der Literatur, S. IX–XXIII, hier S. XIX. 107 Böhme, Einleitung, in  : Raum, S. XIX. 108 Ausnahmen bilden v. a. Alexandra Strohmaier, »Barnow in Halb-Asien«  – Zur Konstruktion des Raumes in den Texten von Karl Emil Franzos, in  : Petra Ernst (Hg.), Karl Emil Franzos. Schriftsteller zwischen den Kulturen, [=  Schriften des Centrums für Jüdische Studien  ; 12]. Innsbruck, Wien, Bozen 2007, S.  11–36  ; Eva Lezzi, Ein jüdischer Ort  ? Die bürgerliche Wohnstube in der deutsch-jüdischen Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts, in  : Ernst, Lamprecht, Jewish Spaces, S. 173–189  ; Christine Ivanović, Im Zwischenraum der Geschichte. Reisen in Texten von Heinrich Heine, Sigmund Freud, Paul Celan und Ilse Aichinger, in  : Ernst, Lamprecht, Jewish Spaces, S.  191–215  ; Annette Runte, Orte der Schrift. Imaginäre Räume zwischen den Kulturen bei Franz Kafka und Bruno Schulz, in  : Ernst, Lamprecht, Jewish Spaces, S. 217–239. 109 Die kürzlich erschienene Narratologie des Raumes von Katrin Dennerlein bietet für die Analyse von (abgegrenzten) Räume und Schauplätzen in Erzähltexten eine gute Basis. Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes. Tübingen 2009. 110 Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1981, S. 74. Zitiert bei Strohmaier, Barnow, S. 12.

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plexes Netz von anderen (sozialen, politischen, kommunikativen, kulturellen) Handlungen. Insofern ist mitunter auch die Literatur in eine Realisierung dessen eingebunden, worüber sie scheinbar nur spricht. Umgelegt auf die Kategorie Raum bedeutet eine diskurstheoretische Konzeption wiederum, dass das Beschreiben oder die Aktualisierung von Raum und Räumen im Erzählakt nicht nur der Imagination eines real Vorgängigen gilt, sondern dass im Beschreiben und Erzählen des Raums selbiger erst entsteht.111 Hierin zeigt sich auch eine deutliche Analogie zu handlungstheoretischen und soziologischen Raumkonzeptionen. Sobald raumbezogene Diskurse durch Schriftlichkeit fixiert und damit spezifische Wissensvorräte gespeichert werden, greifen sie ein in konkrete politische und ideologisch motivierte Entwicklungen, nicht zuletzt wenn es um Grenzziehungen und Grenzverschiebungen geht – und seien sie auch nur symbolischer Natur. Deshalb kann man nur bedingt davon ausgehen, dass sich in der Verschriftlichung die Scheidung von ontologischem und nicht-ontologischem Raum tatsächlich in dem Maße vollzieht, wie man auf den ersten Blick anzunehmen geneigt ist. Denn in der Schrift, mithin in der Literatur, werden zum Beispiel jene Grenzen eingezogen, die ein ›Anderes‹ oder ein ›Fremdes‹ von einem ›Eigenen‹ abheben bzw. ein ›Anderes‹ und ein ›Eigenes‹ überhaupt erst definieren.112 Je nach literarischem und/oder kulturellem Teilsystem variieren die Konstellationen und die Dichte der Selbst- und Fremdbeschreibungen, die schließlich ein enges Netz von Codierungsmustern erzeugen. Ein bislang völlig vernachlässigtes Phänomen bildet in diesem Zusammenhang die Konstruktion von Raum und Ort als erzähltheoretisch relevante Größe, die Strohmaier für die literaturwissenschaftliche Analyse zu erschließen versucht, indem sie Michel de Certeaus raumtheoretische Ansätze mit narratologischen Kategorien zusammenführt.113 Aus dem Blickwinkel literarischer Raumentwürfe ließe sich in diesem Sinne auch die These Shaindy Rudoffs weiterdenken, dass im Judentum 111 Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der Ghettogeschichten von Karl Emil Franzos kann als bester Beleg dieser These gelten. Das Bild, das die Texte von Franzos über das von ihm so benannte »Halb-Asien« entwarfen, evozierte eine quasi-ethnographische Vorstellungswelt der Bukowina, Galiziens und Podoliens, sodass Theodor Fontane diese Regionen als »Karl-EmilFranzos-Gegend« bezeichnen konnte. Vgl. dazu Oskar Ansull, Zweigeist. Karl Emil Franzos. Ein Lesebuch von Oskar Ansull [mit CD], hg. v. Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V. Potsdam 2005 (Potsdamer Bibliothek Östliches Europa – Literatur), S. 11. 112 Vgl. dazu Strohmaier, Barnow, S. 13. Ein ›Anderes‹ muss allerdings nicht zwangsläufig als ein ›Fremdes‹ konnotiert sein. 113 Primär bezieht sich Strohmaier dabei auf Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, III. Teil  : Praktiken im Raum, sowie auf Gérard Genette, Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch, in  : Genette, Die Erzählung, S. 132 ff. Vgl. dazu ausführlich Strohmaiers Ausführungen, Barnow, S. 20 ff.



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Texte über ontologische Orte gestellt würden  : »Das Geheimnis des Überlebens der Juden war schon immer die Entscheidung, dem Exil mit Worten zu begegnen, den Ort durch den Text zu ersetzen.«114 Im Zeitalter der Verbürgerlichung scheint es jedoch, zumindest im Zusammenhang mit den hier zur Diskussion stehenden Ghettogeschichten und Großstadtromanen, dass der Ort mit dem Text eine unauflösbare Verbindung eingeht, dass der Ort den Text bedeutungshaltig strukturiert, er damit aber nicht ersetzt, sondern in besonderem Maße integriert wird. Anders hingegen verhält es sich mit zionistischer Literatur. Hier ersetzt der Text nicht den Ort, sondern er setzt ihn voraus. Darauf bezieht sich Philipp Theisohn, der davon ausgeht, dass der Zionismus »für die Vorgängigkeit seiner Schrift bürgen« müsse und dass die (zionistische) »Erzählgemeinschaft, […], sich selbst erzählend, aus dem Nichts ersteht.«115 Wenn nun Räume als anthropologische bzw. handlungsbedingte und -bedingende Konstrukte angenommen und in diesen Funktionen erzählt werden, so knüpft sich daran als logische Konsequenz die Vorstellung einer extremen Dynamisierung. Die räumlichen Koordinaten verschieben sich dann in einem permanenten Prozess durch die Mobilität und die Bewegung der handelnden Personen bzw. Figuren. Infolgedessen kann auch erzählter Raum schwerlich nur noch als stabiler Schauplatz, der vielleicht nur eine Rahmung für das erzählte Geschehen darstellt, wahrgenommen werden. In einem unaufhörlichen Wechselspiel transformieren sich im erzählten Raum einerseits dessen kartographische Routen und Wege, Begrenzungen und Horizontlinien, andererseits verändern sich jene Figuren, die ihn qua Anwesenheit und Aktivität funktional herstellen, ihm Bedeutung verleihen oder zuweisen. Außerdem werden in der Narration metaphorisch aufgeladene und symbolische Räume erschaffen, deren Analyse den Blick für neue Lesarten auch bekannter Texte – wie zum Beispiel Theodor Herzls Roman Altneuland (1902) – öffnet. Die Untersuchung narrativer Strategien in Bezug auf erinnerte, wahrgenommene, erfahrene und konzipierte Räume in der Literatur verspricht also komplementäre Einsichten im Hinblick auf eine Poetologie des Orts.

114 Shaindy Rudoff, Heilige Cybersites. Eine Pilgerfahrt im Zeitalter der digitalen Reproduktion, in  : Gisela Dachs (Hg.), Jüdischer Almanach. Frankfurt am Main 2001, S. 9–16, hier S. 13. 115 Philipp Theisohn, Die Urbarkeit der Zeichen. Zionismus und Literatur – eine andere Poetik der Moderne. Stuttgart, Weimar 2005, S. 23.

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5. Text und Identität Die angenommene Poetologie des Orts entfaltet sich offenkundig in einem Spannungsfeld zwischen dem Ort des Erzählers, dem Ort der Erzählung, den erzählten ›Örtern‹ und Räumen sowie in letzter Instanz dem Ort des Lesens und des Lesers. Die damit verbundenen Topographien beziehen sich in der vorliegenden Untersuchung auf das Schtetl respektive das jüdische Dorf, die Großstadt sowie Zion als Sehnsuchtsort. An jeden dieser fiktionalen Orte, denen in der Regel auch je unterschiedliche zeitliche Dimensionen zugeordnet sind und die gleichwohl ontologische Entsprechungen aufweisen (können), werden in jüdischen Erzähltexten des 19. Jahrhunderts Geschichten über Identifikationen und Identitätsprozesse gebunden. Insofern wird diese Literatur im 19. Jahrhundert neben der sich eben erst etablierenden jüdischen Historiographie bzw. der Wissenschaft des Judentums zur weiteren – und aufgrund ihrer breiten Rezeption für einige Jahrzehnte wohl wirkmächtigsten – Säule einer jüdischen Sinngeschichte im deutschen Sprachraum. Deutlich wird der Konnex von Sinn und Identität in nahezu jedem Text, in dem gesellschaftlicher Wandel verhandelt wird. Die Ablösung von als überkommen erachteten Traditionen durch Modernisierung oder Anpassung an allgemeine kulturelle und/oder politische Entwicklungen wird in literarischen Texten nahezu immer in argumentative Strategien der Sinngebung eingebunden. Nur in der Sinnkonstruktion erhält das Neue, das Veränderte die Möglichkeit, seine Wirkmächtigkeit zu entfalten. Gleichzeitig wird durch aktive Sinnentwertung traditionelle Bedeutung desavouiert und destruiert, sofern dies nicht ohnehin schon als Folge kollektiven Vergessens geschehen ist.116 Genau auf solche Vorgänge rekurrieren viele Texte, die jüdische Lebenswelten des »langen 19. Jahrhunderts« vorstellen. Bezug nehmend auf Jan Assmann, der in seinem Ägypten-Buch den Begriff der Sinngeschichte konsequent anwendet,117 expliziert der Wiener Mittelalterforscher Walter Pohl das enge Verhältnis von Text und Identität und dessen Bedeutung für die Untersuchung von »›Völkern im Werden‹« im Frühmittelalter.118 Was auf den ersten Blick wie das Spezialproblem einer heutzutage wenig 116 Vgl. dazu u. a. Heiko Haumann, Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen, in  : Anfang und Grenzen des Sinns, hg. v. Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Weilerswist 2006, S.  42–54. Vgl. weiterhin  : Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997. 117 Jan Assmann, Ägypten – eine Sinngeschichte. Frankfurt am Main 1999. 118 Walter Pohl, Identität und Widerspruch  : Gedanken zu einer Sinngeschichte des Frühmittelalters, in  : ders. (Hg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des Frühen Mittelalters. Wien 2004 [=  Forschungen zur Geschichte des Mittelalters  ; 8  ; gleichzeitig  : Österrei-



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beachteten Disziplin wirkt, entpuppt sich als weitreichender und über die Mittelalterforschung hinausreichender Deutungsansatz für kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung bezüglich kollektiver Identifikationsprozesse bis in die Gegenwart. Im Folgenden werden daher kurz einige Thesen Walter Pohls und einer mit ihm assoziierten Forschergruppe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt und in einem nächsten Schritt auf die in dieser Studie relevante historische Situation zu übertragen versucht. Über viele Jahre untersuchte die Gruppe schwerpunktmäßig »das Wechselspiel von Texten und Identitäten«.119 In ihren Forschungen bezog sie sich dabei vor allem auf Prozesse, die unter Begriffe wie Ethnogenese, Stammesbildung und Nationenbildung im Mittelalter gefasst wurden. Die Ergebnisse dieser historischen Ethnographie des Frühmittelalters haben in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erfahren, vor allem im Hinblick auf »die Entstehung der europäischen Völker und der Texte, die davon berichten.«120 Wesentlich ist dabei zum einen, dass den Untersuchungen ein komplexer, weil offener Identitätsbegriff zugrunde liegt, zum anderen, dass historische Quellen auf ihr narratives Potenzial hin befragt werden, ähnlich wie dies Hayden White oder Paul Ricœur theoretisch ausgeführt haben.121 Die aus einer Tagung hervorgegangenen Beiträge zum Thema Suche nach den Ursprüngen sind in ihrer Bedeutung für die hier auch mittelbar zur Diskussion stehenden Fragen  – vor allem bezüglich der Rolle der Umgebungsgesellschaften von Juden im 19. Jahrhundert – gar nicht hoch genug zu schätzen, beziehen sie sich doch »einerseits auf die mittelalterlichen Vergegenwärtigungen einer gemeinsamen Herkunft, andererseits aber auch [auf ] den modernen Gebrauch und Mißbrauch ethnischer Ursprünge im Rahmen nationaler Mythen.«122 Das Frühmittelalter gilt Walter Pohl als »eine Zeit von ›Völkern im Werden‹, aus denen sich bis heute wirksame Identitäten entwickelten.« Damals sei »aus der Verbindung von klassischer Ethnographie, biblischen Gechische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Denkschriften, 322. Band], S. 23–37. Von ›Völkern im Werden‹ spricht Pohl in seinem »Vorwort des Herausgebers«, in  : Pohl, Suche nach den Ursprüngen, [S. 7]. 119 Pohl, Identität, S. 34. 120 Pohl, Identität, [S. 7]. 121 Vgl. Paul Ricœur, Temps et récit, 1  : L´intrigue et le récit historique, Paris 1983, sowie Hayden White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore, London 1987, dt. Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1990. 122 Pohl, Identität, [S. 7]. Auch Hagen Schulze erörtert diese Zusammenhänge in seiner Arbeit über Staaten- und Nationenbildung in Europa, allerdings spielt bei ihm weder der Identitätsbegriff eine Rolle noch der Konnex von Identität und Schrift  ; vgl. dazu Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München ²2004, v. a. Zweites Kapitel  : Nationen, S. 108–189.

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nealogien und den Identitätsbedürfnissen der neuen Völker die Art und Weise, in der das Abendland ethnische Identitäten verstand«,123 hervorgegangen. Dass diese frühen Ausprägungen kollektiven Identitätsbedürfnisses zu ethnographischen Identitäten führten, wird vor allem mit der Rolle der Verschriftlichung historischer Prozesse erklärt  : »Erst wenn sich die Identität einen dauerhaften Text schafft, schafft der Text eine dauerhafte Identität, sofern diese nicht von außen gestört oder gar zerstört wird.«124 Diese Feststellung, die der bisher gängigen Vorstellung, dass »die Erzählung nach den Ereignissen« komme und sie »mehr oder weniger verzerrt« widerspiegle,125 eine Absage erteilt, kann nicht nur für mittelalterliche Überlieferungen, die als Herkunftsgeschichten im Auftrag von Herrschenden formuliert wurden, Geltung beanspruchen. Dies zeigt sich überdeutlich, wenn man die Überlieferungsprozesse solcher alten Texte verfolgt, aber auch wenn man sich mit allfälligen historischen Umdeutungsprozessen von schriftlichen Zeugnissen sowie mit vorgeblich tradierten Geschichtstexten befasst. Denn die »niedergeschriebenen Herkunftsgeschichten verhelfen bestenfalls zum Einstieg in die Suche nach den Ursprüngen, sie dokumentieren diese ebenso wenig wie Moses die Erschaffung der Welt.«126 Das heißt, dass alle, auch jene originären Texte, die Ursprünge kollektiver Identitäten beschreiben (wollen), einerseits durch Fiktionalität gekennzeichnet sind,127 andererseits gerade mittels dieser Fiktionalität jene Wirklichkeit einer meist als einheitlich verstandenen Gruppe behauptet wird, die es erst zu schaffen gilt.128 Dass Herkunftsgeschichten kaum auf einheitliche »Völker« zurückverweisen, untermauert Herwig Wolfram durch chronologisch weit zurückreichende Zeugnisse, die belegen, dass »es keine unvermischten Völker gegeben haben kann«.129 Diesen Befund habe schon Seneca in seiner Schrift Ad Helviam mat123 Pohl, Identität, [S. 7]. 124 Herwig Wolfram, Auf der Suche nach den Ursprüngen, in  : Pohl, Suche nach den Ursprüngen, S. 11–23, hier S. 15. 125 Pohl, Identität, S. 31. 126 Wolfram, Auf der Suche, S. 15. 127 Die konstruktivistischen Elemente von Geschichte bzw. der Historiographie weist Siegfried J. Schmidt auch aus der Perspektive der Gedächtnisforschung nach. Vgl. dazu Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt am Main 1991, S. 48. 128 Diese These wird v. a. im Kapitel  IV. Der erzählte Staat aufgegriffen und diskutiert. Philipp Theisohn bezieht sich in seinen Ausführungen über die Poetik des Zionismus – allerdings aus einer anderen Perspektive argumentierend  – auf einen ähnlichen Zusammenhang. Theisohn erzählt die Entstehung des Zionismus aus der Schrift in dem Sinne, dass die Schrift eine Gruppenwirklichkeit behauptet, deren identifikatorischen Rahmen sie eben erst entwerfen muss. In diesem Kontext prägt Theisohn den Begriff von der Urbarkeit der Zeichen. 129 Wolfram, Auf der Suche, S. 14.



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rem hergeleitet, als er auf die »alles erfassenden Völkerwanderungen verwies  : ›Du wirst sehen, daß alle Stämme und Völker ihre Sitze verändert haben.‹ Videbis gentes populosque universos mutasse sedem.«130 Das bedeutet in der Konsequenz nichts weniger, als dass jedes Konzept eines essentialistisch verstandenen »Volks-Begriffs«, wie er ja letztlich vor allem in politischen Zusammenhängen bis in die Gegenwart gebräuchlich ist, als Konstrukt und Ergebnis von Fiktionalisierungen, Mythisierungen und Ideologisierungen angesehen werden muss. Walter Pohl erklärt die Popularität dieser Vorstellung »von den Völkern als ›eigenlebige Wesenheiten‹« damit, dass sie einerseits »das moderne Interesse an den Wurzeln der eigenen Identität zu befriedigen« erlaube, andererseits mache sie es leicht, »Geschichte als Geschichten von Völkern zu erzählen. […] Obwohl fast alle Völker der Völkerwanderungszeit nach kurzem wieder [zerfallen seien, werde] die Dauer ethnischer Verbände […] als selbstverständlich vorausgesetzt«131 und in vertrauten Erzählmustern transportiert. Zeitweise wurde ein durch Auto­ritäten verkörperter ›Traditionskern‹ für die Mythisierungen oder Umdeutungen solchermaßen interpretierter Herkunftsgeschichten als verantwortlich erachtet. Hagen Schulze identifiziert damit bestimmte institutionalisierte Gruppen, die er im Zusammenhang mit der »Erfindung von Volksnationen« im 19.  Jahrhundert als »Erwecker« bezeichnet.132 All jene, die qua Auftrag dazu legitimiert waren oder die sich in Gesellschaften als Repräsentanten einer zu erhaltenden, einer neu zu begründenden oder umzudeutenden Tradition mehr oder weniger selbst ermächtigten, wie Chronisten, Dichter, Kleriker, Historiographen etc. hätten unterschiedliche Beiträge zum Gesamtkonstrukt solch ­linear deutbarer Herkunftsgeschichten geliefert. Nach einem postmodernen Verständnis sind solche Entwicklungen nicht zu trennen von der Verfügbarkeit des Wissens und der Schrift. Der Diskurs der Macht, der nach Foucault abstrakt und nicht politisch zu verstehen ist, und der ohne die Präsenz eines konkret Mächtigen auskommt, ist in diesem Sinne unlösbar mit der Verfügbarkeit der Schrift und den Mitteln zu deren Verbreitung verbunden. Bezieht sich diese Feststellung auf den Prozess der Produktion, so bedarf es auf der Rezipientenseite eines entsprechenden Identitätsbegehrens, dem durch die Lektüre von Herkunftsgeschichten Rechnung getragen wird. Erst durch das Zusammenspiel von Text und Rezipient – sei es auch chronologisch verschoben – kann ein Gedächtnisort, an dem sich kollektives Bewusstsein verankert, seine volle Wirkung entfalten. Die entscheidende im Text eingelagerte Schnittstelle zwischen Produzent und Rezipient, die als primäres semantisches Signal Zugehörigkeiten 130 Wolfram, Auf der Suche, S. 14. 131 Pohl, Identität, S. 29. 132 Schulze, Staat und Nation, S. 176.

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stiftet oder stiften soll, besteht laut Pohl im »Volksnamen«. Denn der darin aufgehobene »Identitätsbegriff beinhaltet die Vorstellung von einer Kontinuität des Identischen über die Zeit hinweg«,133 die wiederum nur deshalb möglich ist, da die »Namen oft permanenter [sind,] als die Dinge, die sie benennen.«134 Mit dem Volksnamen werden »Subjekte historischen Handelns in die Erzählung« eingeführt, »handelnde Gruppen benennbar« gemacht, und es wird »dem Realen eine narrative Struktur«135 verliehen. Der Name enthält also schon jenes narrative Potenzial, das Identität erzählbar macht. »Er aktualisiert einen Vorrat an Aneignungen der Vergangenheit, an Erklärungen des Bestehenden, aber auch an Versprechen für die Zukunft. Der Volksname ist immer schon gemeinsame Erinnerung.«136 Diese Erinnerung ist nach Walter Pohls Auffassung ­jedoch nicht durch die »Interpretationshoheit eines ›Traditionskerns‹ mono­ poli­siert«.137 Vielmehr repräsentiert sie nach Pohls Verständnis, dem auch im Rahmen dieser Studie der Vorzug gegeben wird, einen offenen Bestand an Erzählungen und Deutungen, die wiederum in den Texten selbst verhandelt werden.138 Unter Bedachtnahme dieser Thesen kann man im Hinblick auf die jüdischen Gesellschaften in voremanzipatorischer Zeit zu der Auffassung gelangen, dass Juden unabhängig von Ritus, Sprache oder Herrschaftsbereich, in dem sie lebten, allein aufgrund ihres Namens und ihrer gemeinsamen Schriften139 eine in immer gleicher Weise erzählbare und unverbrüchliche Identität sowie ein entsprechendes Bewusstsein dafür besessen hatten.140 Auf diesen über Jahrtausende 133 Peter Wagner, Fest-Stellungen, in  : Aleida Assmann, Heidrun Friese (Hg.), Identitäten, [= Erinnerung, Geschichte, Identität  ; 3]. Frankfurt am Main 1998, S. 45, zitiert nach Pohl, Identität, S. 31. 134 Pohl, Identität, S. 31. 135 Pohl, Identität, S. 31. Pohl bezieht sich hier auf Thesen von Paul Ricœur, v. a. auf Paul Ricœur, L’écriture de l’histoire, in  : Annales ESC 55 (2000), S. 731–748. 136 Pohl, Identität, S. 31. 137 Pohl, Identität, S. 31. 138 Pohl, Identität, S. 31. 139 Vgl. z. B. Theresia Maria Wittemann, Draußen vor dem Ghetto  : Leopold Kompert und die ›Schilderung jüdischen Volkslebens‹ in Böhmen und Mähren. Tübingen 1998, S.  6  : »Neben Bibel und Talmud waren mit dem Ausbruch der Kreuzzüge Martyrologien und Memorbücher getreten, die ebenso wie die dichterische Aufarbeitung eines Pogroms in den Selichot […] im Mittelalter die jüdische Geschichtsschreibung ersetzten.« Siehe weiterhin Yosef Hayim Yeru­ shalmi, Zachor  : Erinnere Dich  !, Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, S. 58. 140 In diesem Zusammenhang lässt sich auch die These Charles Taylors aufrufen. Taylor knüpft an den Begriff der »Identität« jenen des »moralischen Horizonts«. In vormoderner Zeit war seiner Ansicht nach der Horizont »restlos gegeben, existierte im Sinne eines Schicksals oder eines ob-



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unauflösbaren Konnex von Schrift und Identität bezieht sich auch der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordete niederländische Rabbiner S.  Ph.  de  Vries, wenn er schreibt  : »Oft wird es [das Judentum] als das Volk der Bibel bezeichnet. Im doppelten Sinn  : daß die Bibel von ihm geschaffen wurde und daß es selbst durch die Bibel geschaffen wurde«.141 Bis in das frühe 19. Jahrhundert blieb diese Kontinuität von Text und (religiöser) Identität großteils unangetastet. Sie wurde weder durch eine säkulare Geschichtsschreibung oder Literatur noch durch andere konkurrierende Texte, etwa mythologische Erzählungen oder herrschaftlich beorderte Fiktionen gestört. Als Gottesvolk sah man sich in erster Linie »kollektiv zur Erfüllung der Torah«142 verpflichtet. Die Zuordnung zu einem Staatswesen oder anderen Herrschaftsräumen wurde administrativ und extern geregelt und konnte letztlich als transitorisch angesehen werden, da selbst »Toleranz« zum Beispiel qua Edikt verordnet oder wieder aufgehoben, Niederlassungsfreiheit gewährt oder verweigert werden konnte. All dies berührte das durch die heiligen Schriften geprägte Bewusstsein von Juden in den ständisch organisierten Gemeinwesen voremanzipatorischer Zeit nicht in seiner Substanz. Erst das Zeitalter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, brachte schließlich einschneidende Änderungen, die mittelbar mit einigem zeitlichen Abstand im 19.  Jahrhundert zu großen Verunsicherungen in Bezug auf traditionelle Vorstellungen führen mussten. Als theologisches Beispiel kann die Distanzierung des Reformjudentums vom »talmudischen Judentum« angeführt werden, die u. a. eine apologetisch motivierte »Aufwertung der den Juden wie Christen ›gemeinsamen Bibel‹« zur Folge hatte.143 Im Reformjudentum wurde im Zuge der Verbürgerlichung und der Akkulturation nach und nach auch das »traditionelle Selbstverständnis als V[olk] aufgegeben.«144 Der Volks-Begriff erfuhr dann im Laufe des 19. Jahrhunderts – auch infolge der Debatten in den nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften – unterschiedliche, teils konkurrierende Deutungen  : So wurde er beispielsweise in der Neo-Orthodoxie und im konservativen Judentum spiritualisiert oder durch Einflüsse der Romantik und der allgemein wirksamen Nationalbestrebungen »mit der Behauptung eines spezifischen Volks­ jektiven Faktums. Dagegen soll die moderne Identität, auch wenn ihre Grundelemente gegeben sein mögen, angenommen sein.« Siehe Charles Taylor, Ursprünge des neuzeitlichen Selbst, in  : Krzysztof Michalski (Hg.), Identität im Wandel. Stuttgart 1995, S. 11–24, hier S. 13. 141 S. Ph. de Vries, Jüdische Riten und Symbole [Erstveröffentlichung in Niederlanden 1. Teil 1927, 2. Teil 1932]. Reinbek bei Hamburg 1990, hier zit. nach der Ausg. 1993, S. 339. 142 Johann Maier, Judentum von A bis Z. Glauben, Geschichte, Kultur. Freiburg i. Br. 2001, S. 416. Vgl. weiterhin auch die Ausführungen zum Stichwort »Bibel«, S. 57–59. 143 Maier, Judentum, S. 59. 144 Maier, Judentum, S. 417.

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charakters« von nichtreligiösen Gruppen teilweise ideologisch aufgeladen.145 Leon Pinsker, bedeutender Wegbereiter des politischen Zionismus, formuliert schließlich in seiner Schrift Autoemanzipation von 1882 einen Konnex von Volk und Nation, indem er das »jüdische Volk«, das er ohne »staatlich-leibliche Existenz« und »politisches Dasein« »unter den lebenden Nationen der Erde« erkennt, als »geistige« Nation verstanden wissen will.146 Dass er darin allerdings einen Mangel sieht, wird deutlich, wenn er die Juden als »geisterhafte Erscheinung eines wandelnden Toten, eines Volkes ohne Einheit und Gliederung, ohne Land und Band« bezeichnet.147 Juden besitzen nach Pinsker »kein Vaterland«, und da »ihre Heimat ohne Grenzen ist, hinter denen sie sich verschanzen könnten – ist auch ihr Elend ohne Grenzen.«148 Pinsker bezieht sich mit seinen Ausführungen nicht mehr auf traditionelle Vorstellungen, sondern auf (natur-)wissenschaftliche Entwicklungen seiner Zeit. Wenn er etwa vom »jüdischen Volksorganismus« spricht, drückt sich darin nicht nur eine aus damaliger Sicht zeitgemäße Favorisierung biologistischer Rhetorik aus, sondern letztlich die völlige Profanierung des früheren Bildes vom jüdischen Volk. Außerdem offenbart sich in Pinskers Rede auch jene zeittypische Verwobenheit der Diskurse, wenn er organologische, also naturwissenschaftlich motivierte Sprachmuster, politisch oder weltanschaulich ausdeutet. Im Versuch seiner Analyse des unglücklichen Zustandes der Juden beklagt Pinsker weiterhin den Umstand, dass die Juden »mit der eigenen kleinen Volksgeschichte« nicht einmal »leidlich fertig […] werden.«149 Damit zitiert er indirekt den Zusammenhang von (historiographischem) Text, Geschichtsbewusstsein und Identität, der jüdische Gelehrte spätestens ab der Wende zum 19. Jahrhundert beschäftigte.150 Denn als eine Folge der Emanzipation und der wenn auch langsam sich vollziehenden Integration als Staatsbürger in den verschiedenen Ländern Europas war auch das Bedürfnis nach einer eigenständigen Geschichtsschreibung immer stärker geworden. Galt der Haskala zwar zunächst die »Philosophie, nicht die

145 Maier, Judentum, S. 417. 146 Leon Pinsker, Autoemanzipation. Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1882. Hier zitiert nach  : Mona Körte, Robert Stockhammer (Hg.), Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom »Ewigen Juden«. Leipzig 1995, S. 193. 147 Pinsker, Autoemanzipation, S. 193. 148 Pinsker, Autoemanzipation, S. 197. 149 Pinsker, Autoemanzipation, S. 200. 150 Das Fehlen einer jüdischen Geschichtsschreibung hatte bereits Salomon Maimon kritisiert. Siehe dazu  : Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt und herausgegeben von Karl Philipp Moritz, 2 Teile, Berlin 1792–93, Neuausgabe, hg. v. Zwi Batscha. Frankfurt am Main 1984, S. 193.



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Geschichte [als] Königsweg zum Welt- wie zum Selbstverständnis«,151 so wurde die Geschichtsschreibung doch bald als handlungsleitende Disziplin entdeckt. Die Religion verlor ihre solitäre Position in Bezug auf die Ausprägung kollektiver Selbstvergewisserung. Es wurde Aufgabe einer unabhängigen, nicht nur als »Ergänzung der Religionsgeschichte«152 verstandenen Historiographie, in einer wissenschaftlich orientierten Welt Texte zur Verfügung zu stellen, die Juden über ihre religiöse Ursprungsgeschichte hinaus gemeinschaftliche Erinnerung ins Bewusstsein bringen konnten, denn – so war Isaak Markus Jost überzeugt – »einzig in der Geschichte erblicken wir das Volk der Israeliten.«153 Erste Versuche in Form von Lebensbildern historisch bedeutender Persönlichkeiten wie etwa Moses Maimonides (1135–1204) oder Manasse ben Israel (1604–1657) fanden bald gezieltere Fortsetzung. Der Prager Peter Beer (1758–1838), zusammen mit Naftali Herz Homberg (1749–1841) der Verfechter der jüdischen Schulreformen in der Habsburgermonarchie, veröffentlichte beispielsweise 1822 eine Geschichte der »religiösen Sekten« der Juden, wohl vorwiegend in der Absicht, das »Trugbild einer einheitlichen jüdischen Tradition zu zerschlagen und dadurch die Vielfalt jüdischer Identität in der Gegenwart zu rechtfertigen.«154 Der Nachweis historischer Varianten wurde vor allem deshalb bedeutend, da er als Relativierung von früher als unverbrüchlich geltenden ›Wahrheiten‹ jene Impulse beförderte, »die den Weg frei machte[n] für Reformen.«155 Die erste Allgemeine Geschichte der Israeliten legte Isaak Markus Jost in 9 Bänden zwischen 1820 und 1829 vor  ; weitere ›Geschichten‹ anderer Autoren folgten. Während Jost einzig die Religion als raum-zeitliche Konstante der Juden, ihre unterschiedlichen Lebenssituationen aber im Hinblick auf die verschiedenen Länder, in denen sie lebten, ansah, entwarf er eine Vorstellung von jüdischer Geschichte, die – wenn auch unter anderen Prämissen – ebenfalls wie bei Beer »nicht ein für sich bestehendes Ganzes« darstellte. Vielmehr galt sie ihm als »eine Seite der Geschichte der wichtigsten Völker und Staaten, mit denen die Juden in Berührung traten  ; jene vervollständigt diese und liefert ihr ein bisher unbe-

151 Michael A. Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, in  : Michael A. Meyer (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts unter Mitwirkung von Michael Brenner. München 2000 (erstmals 1996/97), S. 137. 152 Isaak Markus Jost, Allgemeine Geschichte des Israelitischen Volkes, Bd. 1. Berlin 1832, S. 2–15. Hier zitiert nach Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni, Nils Römer (Hg.), Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München 2003, S. 26. 153 Jost, Allgemeine Geschichte, S. 24. 154 Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, S. 137. 155 Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, S. 137.

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kannt oder unbeachtet gebliebenes Lebensmoment.«156 Jost vertrat die Ansicht, dass die europäische Geschichte ohne die Berücksichtigung der Rolle der Juden nicht vollständig (erfasst) sei. Insofern legte Jost eine dezentrale Geschichte vor, die alsbald andere Historiker, wie Abraham Geiger, dazu veranlasste, den Einheitsgedanken wieder stärker zu betonen. Michael A. Meyer zufolge machte Geiger aus der jüdischen Geschichte eine »Synagogengeschichte«. Das einstige jüdische Volk sei laut Geiger im Laufe der Zeit zu einer »Glaubensgemeinde« geworden, »zum historischen Gefäß des Monotheismus«. Da der Geist des Judentums religiöser Natur sei, stehe das »historische Wesen der Juden […] nicht im Widerspruch zu ihrer völligen politischen und kulturellen Integration« in ihre Umgebungsgesellschaften. Einzig im religiösen Glauben bleibe die Differenz und Sonderung bestehen.157 Anhand dieser  – wenngleich nur kursorisch angeführten  – Beispiele wird deutlich, dass die allgemeine Debatte über Einheit und Vielheit, Ursprung und Herkunft im Zuge der europäischen Nationalisierungsbestrebungen auch die Juden erfasst hatte. Da Juden und Nichtjuden denselben Diskursen unterworfen waren, verwundert es kaum, dass zeittypische Entwicklungen und Phänomene mit (teils) identischem Vokabular, gleichen Terminologien und ähnlichen Strategien diskutiert wurden  ; die Bewertung der zu verhandelnden Fragen hingegen fiel häufig unterschiedlich aus.158 Die jüdischen Gesellschaften sahen sich allerdings in mehrfacher Hinsicht  – einerseits durch innerjüdische Diskussionen, andererseits durch Druck der Umgebungsgesellschaften – mit identitären Forderungen konfrontiert, die sie in eine bis dahin unbekannte Rolle nötigen sollten. Die Vorstellung vom einheitlichen Gottesvolk schien vorderhand zwar noch gesichert, war durch säkulare Um-Schreibungen realiter aber schon einigermaßen relativiert. In den nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften Deutschlands führte die Suche nach neuen Konzeptionen des Volks- und Nationenbegriffs unter dem Einfluss der nationalen Bestrebungen in Europa schon recht früh zu essentialistisch bzw. rassisistisch motivierten Vorstellungen über »Deutschtum«. War im 18. Jahrhundert zur Zeit des Absolutismus der Volksbegriff noch relational verstanden worden, meist in dem Sinne, dass in einer Hierarchie oben stehende Persönlichkeiten Gruppen unter sich versammelten, wie z. B. Landesfürsten die 156 Isaak Markus Jost, Beitrag zur jüdischen Geschichte und Bibliographie, in  : Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 1 (1835), S. 358, zitiert nach  : Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, S. 144. 157 Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, S. 145. 158 Dies lässt sich beispielsweise an den im 19. Jahrhundert entstehenden Geschichtswissenschaften, die ja zunächst nahezu ausschließlich historiographisch orientiert waren, nachzeichnen.



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Bewohner ihres Territoriums, so entwickelte sich mit der Französischen Revo­ lution ein ideologisch unterfütterter Volksbegriff, der politische Führungspersönlichkeiten zum »Fürsprecher unterprivilegierter Schichten«159 werden ließ. Hatte die Aufklärung in Deutschland mit Lessing, Kant und Herder sowie in ihrer Folge mit Goethe und Schiller noch den universalen Gedanken des »Weltbürgertums« als teleologische Zielvorstellung von Geschichte vertreten,160 Herder mit seiner Konzeption von »Volksliteratur«, den Liedern und Märchen, die vielen Sprachengemeinschaften als »Völker« vorgestellt, so setzt eine biologistische Umdeutung des Volksbegriffs mit dem Zusammenbruch des »Heiligen römischen Reiches deutscher Nation« 1806 ein. In Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/08)161 zeichnet sich ein Begriff des »deutschen Volkes« ab, der auf die Abstammung der Deutschen von den »Germanen« referiert und den Deutschen gleichzeitig das Privileg einräumt, auf ursprünglichem germanischen Territorium zu leben.162 Michael Titzmann erkennt darin eine politische Ambivalenz  : […] in ihm [dem Begriff ] ist einerseits, aus der antinapoleonisch-antifranzösischen Kampfrichtung resultierend, schon das Potential eines xenophoben Nationalismus angelegt  ; er ist andererseits mit dem politischen Liberalismus korreliert, der auf ›nationale Einheit‹, und das heißt  : auf Überwindung der bisherigen Staatengliederung im deutschen Sprachgebiet, und auf ›konstitutionelle Monarchie‹, und das heißt  : eine Einschränkung absolutistischer Herrschaft zugunsten des ›Volkes‹, drängt.163

Durch dieses Konzept können sich auch »übernationale Herrschaftsgebiete wie das Habsburgs gefährdet [sehen], das schließlich unter eben diesem Alibi eines national begründeten deutschen Staates aus dem späteren ›Deutschen Reich‹ 159 Michael Titzmann, »Volk« und »Nation« in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sozio-semiotische Strategien von Identitätsbildung und Ausgrenzung, in  : Wolfgang Benz (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1992). Frankfurt am Main, New York 1993, S. 38–62, hier S. 39. 160 Vgl. z. B. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784  ; Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte  ?, 1789  ; Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, 1794. 161 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, in  : Immanuel Hermann Fichte (Hg.), J. G. Fichte, Sämmtliche Werke. Berlin 1845/46, Bd. 7. 162 Vgl. dazu weiterhin die Ausführungen Friedrich Battenbergs über die »Bewegungen des pangermanischen und christlichen Staates«, Friedrich Battenberg, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, in zwei Teilbänden. Darmstadt 1990, II, S. 128–131. 163 Titzmann, Volk und Nation, S. 41.

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ausgeschlossen werden wird.«164 Eine Fortschreibung des immanenten xenophoben Ansatzes dieses Volkskonzepts liefert Ernst Moritz Arndt in verschiedenen Schriften, wobei er sich mit seiner antijüdischen Haltung sehr deutlich positioniert  : weil die Deutschen das geistreichste und idealischeste Volk Europens sind, so müssen sie auch die Dummsten und albernsten Menschen unter sich haben […]. Kein Volk in der Weltgeschichte hat eine solche Legion des Nachbeter- und Nachäfferreichs gehabt als die Deutschen. […] Jene deutsche Allgemeinheit des Geistes, die wir anbeten, ist durch diese zur Gemeinheit, jener fromme Weltbürgersinn zum schnatternden Judensinn erniedrigt, ja die Deutschen selbst sind dadurch fast in Allerweltjuden verwandelt.165

Die Geschichtsschreibung griff schließlich den bei Fichte angelegten Gedanken der Herkunft der Deutschen auf  : Heinrich Luden lieferte in seiner ab 1825 erscheinenden Geschichte des Teutschen Volkes den Grund für eine »germanozentrische Verengung der Volksidee«, als er behauptete, »das eigentlich Gemeinsame eines Volks« sei nicht die Sprache, »sondern das Blut.«166 Damit war laut Hagen Schulze eine Argumentationsebene beschritten, die »weit von jeder geschichtswissenschaftlichen Begründbarkeit fortführte.«167 Bevor jedoch die hier in ersten Ansätzen aufscheinende Rassentheorie, die später u. a. von Gobineau und Chamberlain ausformuliert wurde, politisch wirksam wurde, verband die »Utopie vom Nationalstaat aller Deutschen« die verschiedenen, auch oppositionellen Kräfte in Deutschland. Das Ziel eines geeinten Staats vor Augen, stellten sich Politiker, Schriftsteller und Wissenschaftler  – allen voran die Historiker  – in den Dienst der Sache. Die durch solche Bestrebungen zunächst nur auf einer symbolischen Ebene ausgeschlossenen jüdischen Bevölkerungsgruppen (re)agierten in unterschiedlicher Weise. Es ist sicher kein Zufall, dass bedeutende Proponenten der zionistischen Bewegung ihre Schriften im Umfeld der Nationalisierungsprozesse in Deutschland und in den Ländern der Habsburgermonarchie verfassten. Auch wenn sie nicht selbst im Zentrum der Auseinandersetzungen standen, konnten sie die Entwicklungen doch aus nächster Nähe mitverfolgen. Andererseits partizipierten bürgerliche jüdische Kreise aktiv am Projekt ›Deutschland‹ und galten nicht selten als Verfechter eines meist kulturell 164 Titzmann, Volk und Nation, S. 40. 165 Ernst Moritz Arndt, Was müssen die Deutschen jetzt tun  ?, (1813), aus  : Geist aus der Zeit III, in  : ders., Werke, hg. v. August Leffson u. Wilhelm Steffens, T.  1–12. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1913, T. 8, S. 157–160, hier S. 160. Friedrich Ludwig Jahn schreibt Arndts Gedanken in seiner Schrift Deutsches Volkstum (1810) fort. 166 Schulze, Staat und Nation, S. 181 f. 167 Schulze, Staat und Nation, S. 182.



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ausgerichteten Deutschnationalismus, der sich an einer ›Konzeption der Teilhabe‹ an einer als deutsch verstandenen Kultur orientierte. In der Habsburgermonarchie lagen die Dinge aufgrund der politischen Ausgangssituation anders  : Die Donaumonarchie bildete einen Nationen- bzw. »Nationalitätenstaat«, und dieser Umstand wurde von den unterschiedlichen jüdischen Bevölkerungsgruppen der Monarchie, den frommen wie den bürgerlich-akkulturierten, den in der Provinz lebenden wie den urbanen, den armen wie den wohlhabenden, in der Regel hoch geschätzt. Als Beleg dafür sei eine Passage aus einer Schrift des zu seinen Lebzeiten bekannten Publizisten, Abgeordneten und Rabbiners Joseph Samuel Bloch (1850–1923) angeführt  : Allein die oesterreichische Idee ist nun einmal mit der nationalen Unduldsamkeit unvereinbar  ; der Staat, der nicht national ist, sondern in der Gleichberechtigung aller Staatsbürger sein Heil sieht, der nicht deutsch und nicht slavisch, nicht katholisch und nicht protestantisch ist, der […] muß jedem Volksstamme die positive Bethätigung und die geistige culturelle Entwicklung der Nationalität gewährleisten  ; er hat gleichsam den Kosmopolitismus zu seiner Grundlage und bildet die höhere Synthese zwischen Nationalität und Weltbürgerthum. Ebendarum ist Oesterreich aber auch der einzige Staat in Europa, welcher einen Staat und nichts als einen Staat darstellt. Anderweitig geht der Staat ganz in einer Nationalität auf und verschwindet somit hinter derselben.168

Und so gilt es Bloch als »die höchste Gunst der Vorsehung, die ihn als Österreicher hat geboren werden lassen.«169 Viele Jüdinnen und Juden in der Habsburgermonarchie teilten im ausgehenden 19. Jahrhundert diese Ansichten Blochs. Im Gegensatz zu Deutschland entzündeten sich die österreichischen Debatten um ein zeitgemäßes jüdisches Selbstverständnis nicht an der vermeintlichen Dichotomie zwischen ›jüdischer‹ und ›deutscher‹ Kultur.170 Dem Rechnung tra168 Joseph Samuel Bloch, Der nationale Zwist und die Juden in Österreich. Wien 1886, S. 46–[48]. Hier zitiert nach Peter Stachel, Übernationales Gesamtstaatsbewusstsein in der Habsburgermonarchie. Zwei Fallbeispiele [Erstveröffentlichung], in  : kakanienrevisited, http://www.kakanien. ac.at/beitr/fallstudie/PStachel1.pdf, S. 7 (letzter Zugriff  : 04.02.2017). 169 Bloch, Der nationale Zwist, [S. 39]–41, zitiert nach Stachel, Übernationales Gesamtstaatsbewusstsein, S. 7. 170 Stellvertretend für die Vielzahl an Publikationen zu diesem Thema vgl. Michael A. Meyer, Jüdische Identität in der Moderne, Kap. Aufklärung. Frankfurt am Main 1992  ; Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2 und Bd. 3, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner. München 2000 (erstmals München 1996 und 1997)  ; Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewußtseinslandschaft des österreichischen Judentums [= Schriften des David-Herzog-Centrums für Jüdische Studien  ; 1]. Innsbruck, Wien, München 2000.

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gend werden in dieser Studie auch inhaltlich relevante Unterschiede zwischen jenen Texten, die in den Ländern der Habsburgermonarchie und solchen, die in Deutschland angesiedelt sind, in den Blick genommen. In der deutschsprachig-jüdischen Literatur werden die sich als Konsequenz der Haskala und Emanzipation diskutierten und sich stetig differenzierenden Identitätskonzeptionen der verschiedenen jüdischen Gesellschaftsgruppen schon sehr früh explizit und implizit verhandelt. Auffallend ist, dass diese Texte überwiegend von Schriftstellern, die einem etablierten Bürgertum zuzurechnen sind und damit nach einer bislang gängigen Terminologie als »akkulturiert« gelten, verfasst wurden. Die heute vielfach vergessenen Texte dienten auf pragmatischer Ebene nicht selten dazu, die  – häufig in Gegenwartsnähe angesiedelten – dargestellten Positionen immanent zu werten, das heißt im Extremfall zu affirmieren oder abzulehnen und damit außerliterarisch zu propagieren oder zu verwerfen.171 In diesem Sinne begründet die autonome deutschsprachig-jüdische Literatur vor allem ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einerseits eine eigene Tradition, auf die sich (vor allem bürgerliche) jüdische Leser berufen können, andererseits ist sie selbst in den permanenten Prozess des Ausverhandelns wechselnder identitärer Vorstellungen eingebunden. Diese These kann jedoch nur unter der Voraussetzung weiterentwickelt werden, wenn man Shulamit Volkovs Vorschlag folgt, »Judentum weder als Konfession noch als Bezeichnung für eine bestimmte ethnische Gruppe zu behandeln, auch nicht als eine moderne Nation  – sondern als ein einzigartiges ›kulturelles System‹.«172 Volkov bezieht sich auf die Arbeiten von M. Rainer Lepsius und Thomas Nipperdey, mit ihrem Systembegriff aber vor allem auf Clifford Geertz. Volkov sieht am Ende des 19. Jahrhunderts die meisten Juden […] nicht mehr [als] Teil der alten jüdischen Welt  ; aber sie waren auch nicht so völlig mit ihrer neuen Umgebung verschmolzen, wie sie oft glauben wollten. Die meisten von ihnen lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts langsam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem.173

171 Vielfach erschienen diese Texte zunächst in Zeitschriften und fanden deshalb entsprechend weitreichende Resonanz bei unterschiedlichen Publikumsschichten. Vgl. dazu Itta Shedletzky, Literaturdiskussion. 172 Volkov, Die Erfindung einer Tradition, S. 121. Allgemein über »die Erfindung von Traditionen« siehe u. a. Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Cambridge 1990. Zum Begriff des »kulturellen Systems« vgl. weiterhin Jurij Lotman, Kunst als Sprache. Leipzig 1981, sowie ders., Über die Semiosphäre, in  : Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), S. 287–305. 173 Volkov, Die Erfindung einer Tradition, S. 123.



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Damit rekurriert Volkov auf einen offenen Kulturbegriff, den m. E. einzig sinnvollen und produktiven in der Untersuchung kultureller Wandlungsprozesse und kollektiver Identitätsentwürfe. Bereits 1922 verwarf Karl Mannheim – vielleicht auch aufgrund seiner Erfahrungen in der Habsburgermonarchie und nach deren Zusammenbruch  – ein monolithisches Kulturmodell und plädierte für ein Verständnis von Kultur als »pluralistische[m] Interaktionssystem«, innerhalb dessen inner- wie zwischengesellschaftlich Wandlungsprozesse stattfinden.174 Mit Bezugnahme auf Theoreme der Systemtheorie entwarf der Münchener Soziologe Walter L. Bühl schließlich Mitte der 1980er-Jahre den Grundriss einer dynamischen Kultursoziologie, in deren Rahmen Kultur als ein adaptationsfähiges und ständig in Fluktuation befindliches System begriffen wird. Am Beispiel der »deutschen Nationalkultur« in ihrer »klassischen« Ausprägung um 1800 erläutert Bühl die prinzipielle Relationalität nationaler Kulturen  : Nationen und Nationalkulturen sind […] Bezugssysteme, die sich in ihrem Verhalten (positiv oder/und negativ, mehr an der einen oder mehr an der anderen Nation) orientieren und die ihre eigene soziale Integration und kulturelle Identität gerade aus diesem Prinzip der Abhebung von B durch die Aneignung von C und die Verarbeitung, Weiterentwicklung oder auch nur Verdrehung von D gewinnen. […] Man könnte fast sagen  : das Nationale an den Kulturen ist die besondere Form der Auseinandersetzung, der Absetzung und Verarbeitung  ; das ›Nationale‹ ist oft nur das ›fruchtbare Mißverständnis‹.175

Nach Bühls Verständnis bilden kulturelle Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen Nationen respektive  – wie man analog dazu annehmen kann  – zwischen verschiedenen kulturellen Systemen also weniger die Ausnahme, als vielmehr die Regel. Akzeptiert man diese Prämisse, bedeutete das im Kontext der Erforschung von Austauschbeziehungen, dass die Zirkulation das Selbstverständliche und die Blockierung das Ungewöhnliche darstellt. Als eine Konsequenz dessen stellt sich die Frage, ob die Produktivität der seit den 1980er­Jahren entwickelten Ansätze der Kulturtransferforschung, die auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit theoretische Vorüberlegungen mitbestimmte, im Vergleich zu anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Modellen nicht eigentlich im Umfeld des Theorems der Blockierung, das nicht zuletzt von Stephen 174 Walter L. Bühl, Kulturwandel. Für eine dynamische Kultursoziologie. Darmstadt 1987, S. 23. Bühl bezieht sich hier v. a. auf Karl Mannheim, Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis (1922), in  : Strukturen des Denkens, hg. v. David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr. Frankfurt am Main 1980, S. 33–154. 175 Bühl, Kulturwandel, S. 161.

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Greenblatt ausführlich erörtert worden ist,176 vermutet werden muss. Unter verstärkter Berücksichtigung der Blockierungsmechanismen von Systemen könnte die Untersuchung von Phänomenen wie Transfer, Austausch, Interaktion und Wechselbeziehungen über tatsächliche und/oder symbolische Grenzen hinweg neue Perspektiven eröffnen. Für die Formulierung weiterführender Fragestellungen scheint es also sinnvoll, einen weit gefassten und dynamischen Kulturbegriff, der jedenfalls die Kategorie des Nationalen als primäre Größe verlässt, anzuwenden. Gerade in Forschungsarbeiten über jüdische Kulturen und Geschichte in Deutschland und der Habsburgermonarchie ist es notwendig, entsprechende Differenzierungen zu beachten, um nicht in jene Klischeevorstellungen zurückzufallen, die sich letztlich auf eine aus den Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts resultierende Annahme einer vermeintlichen Opposition von ›deutsch‹ und ›jüdisch‹ beziehen. Selbst in aktuellen Untersuchungen wird das Attribut ›deutsch‹, hervorgegangen aus den historischen Selbstbeschreibungsdiskursen, noch gelegentlich als nationale Beschreibungskategorie im Sinne von »deutscher Kultur« eingesetzt  ; tatsächlich folgt dieser Kategorisierung aber letztlich niemals eine schlüssige und haltbare Definition. Gerade weil ›das Deutsche‹ erst im 19.  Jahrhundert im Zuge der Nationalisierungsprozesse als essentielle Kategorie gedacht und eben als ›Tradition‹ erfunden wurde, letztlich aber außer seiner Verortung  – eben ›in Deutschland‹ und gegebenenfalls durch die deutsche Sprache – keine Verankerung besitzt, müssen alle Versuche, hier sinnhafte Relationen herzustellen, scheitern. Die »deutsche Kultur« und andere national verstandene Kulturen formieren sich flexibel und dynamisch aus unterschiedlichen kulturellen (Teil)-Systemen, die allerdings durch das Wechselspiel bestimmter Blockierungs- und Zirkulationsmechanismen temporär und regional unterschiedliche Stabilitäten aufweisen (können). Historisch und soziologisch sind als prägende kulturelle Faktoren in Europa schon lange, bevor die Kategorie des Nationalen kollektive Bewusstseinsprozesse mitbestimmte, unterschiedliche religiös motivierte Traditionen nachweisbar  : In den Ländern der Habsburgermonarchie waren diese (unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede) vielfach katholisch dominiert,177 in Deutschland katholisch und protestantisch, wobei mit der Reichsgründung und der damit einhergehenden Vormachtstellung Preußens sowie durch Bismarcks »Kulturkampf« der politische Protestantismus enorm gestärkt wurde. Barrieren, die durch religiös geprägte habituelle Differenzen markiert werden, sind aber 176 Vgl. z. B. Stephen Greenblatt, Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden  : Reisende und Entdecker. Berlin 1994. 177 Neben der römisch-katholischen Kirche waren dies v. a. die orthodoxen Kirchen sowie als Sonderform z. B. in Galizien die unierte Kirche.



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nicht immer leicht zu identifizieren, zumal wenn sie in einem räumlichen Naheverhältnis zueinander bestehen und dann in der Regel lediglich symbolische und damit hoch variable Grenzen darstellen. Das Wissen um besondere historische, wenngleich markante kulturelle Phänomene wie beispielsweise die Entstehung und Verbreitung der Oper im Zeitalter der Gegenreformation, das räumlich sehr genau begrenzte Vorkommen des Karnevals178 und (anderer) religiöser Bräuche in multikonfessionellen Regionen oder die in verschiedenen Ländern und Regionen unterschiedlich wirksamen Zensurbestimmungen müssen sensibel dafür machen, dass in Europa bis weit über das Zeitalter der Aufklärung hinaus Religionen bzw. Konfessionen in höchstem Maße kulturelle Identitätsprozesse präg(t)en und Erinnerungsräume konstituier(t)en. Noch 1973 konnte der Soziologe Gerhard Schmidtchen »konfessionell verschiedene Sozialisationspraktiken« von Katholiken und Protestanten in der Bundesrepublik Deutschland nachweisen, und zwar auch bei jenen Personen oder Gruppen, die sich von dem »System einer konfessionellen Kultur […] längst […] abgesetzt« hatten.179 Dass im Zuge der Nationalisierungsbestrebungen und nationalen Einigungsprozesse im Europa des 19.  Jahrhunderts eine religiös motivierte Definitionsmacht an Einfluss verlor, ist deshalb zwar ohne Zweifel zu konstatieren, doch die Kon­ trollfunktionen darüber, was – um mit Termini der Transcultural Studies zu sprechen – blockiert werden muss, zirkulieren oder transferiert werden darf,180 sind nur zum Teil durch andere, beispielsweise nationale oder regionale kulturelle Ordnungen und soziale Bedeutungsmuster überlagert oder abgelöst worden. Für die Untersuchung komplexer gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge und Wandlungen ist es also nachgerade unabdingbar, Kulturen als variabel und dynamisch konzipiert anzunehmen. Die Kultursemiotik bietet in diesem Kontext vor allem durch Jurij M. Lotmans Beiträge ein überzeugendes theoretisches Instrumentarium. Unterscheidet die Anthropologie soziale, materiale und mentale Kultur, so bindet die Semiotik diese drei Bereiche in ein systematisches Gefüge, indem sie »eine soziale Kultur als eine strukturierte Menge von Zeichenbenutzern (Individuen, Institutionen, Gesellschaft) definiert, die materi178 Vgl. dazu die Arbeiten von Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der »Verkehrten Welt«. Graz, Köln, Wien 1986, sowie ders., Oper und Karneval. Anmerkungen zur Frühgeschichte der Oper, in  : Otto Kolleritsch (Hg.), Vom Neuwerden des Alten. Über den Botschaftscharakter des musikalischen Theaters, [= Studien zur Wertungsforschung  ; 29]. Wien, Graz 1995, S. 99–131, besonders S.117 ff. 179 Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur. Bern, München 1973, S. 29. 180 Vgl. dazu Werner Suppanz, Transfer, Zirkulation, Blockierung, in  : Federico Celestini, Helga Mitterbauer (Hg.), Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, [= Studien zur Inter- und Multikultur  ; 22]. Tübingen 2003, S. 21–35, hier S. 28 ff.

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ale Kultur als eine Menge von Texten (Zivilisation) und die mentale Kultur als eine Menge von Codes.« Nach Lotman ist »Kultur als System konzentrischer Sphären«, das das Zentrale, das Periphere, das Nicht- und das Außerkulturelle enthält, rekonstruierbar. An den Grenzen dieser Sphären finden nach diesem Verständnis kulturelle Wandlungsprozesse, wie z. B. die Übernahme ›fremder‹ Artefakte oder Wertesysteme, statt. Kulturellen Wandel mit prognostizierbaren Ergebnissen bezeichnet Lotman als »Evolution«, unvorhersehbare Entwicklungen – er siedelt sie vorrangig im Bereich der Kunst und der Mode an – versteht er als »Ausbruch«.181 Durch die literarische Thematisierung kultureller Wandlungsprozesse, die in vielen deutschsprachig-jüdischen Erzähltexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zumeist exemplarisch an der Entwicklung einzelner Figuren für die Leserschaft eindrücklicher und nicht selten früher demonstriert werden als in theoretischen oder wissenschaftlichen Schriften, wird deutlich, dass sich Phänomene wie Verbürgerlichung und wirtschaftlicher Aufstieg innerhalb eines breiten Spektrums abspielten, dass ›Assimilation‹182 für den Einzelnen auch Zwischenstadium auf dem Weg zum Zionismus sein konnte, dass das Individuum auch innerhalb scheinbar noch homogener Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel im galizischen Schtetl) massiven Spannungsfeldern ausgesetzt war oder dass vermeintlich unüberwindbare Gegensätze zwischen ›Ost- und Westjuden‹ unter bestimmten Umständen innerhalb kurzer Zeit nivelliert werden konnten. Die Tatsache, dass an der Wende des 18. Jahrhunderts zum 19. Jahrhundert in der Folge von Moses Mendelssohn überhaupt eine so weitreichende Entwicklung eingeleitet wurde, Deutsch als Literatursprache für Juden im deutschen Sprachraum durchzusetzen, kann geradezu prototypisch als Beginn einer Traditionslinie und somit tatsächlich als Erfindung einer (deutsch-jüdischen) Tradition interpretiert werden. Als eine Konsequenz dessen kann sich Literatur in etwa zeitgleich mit der im ersten Drittel des 19.  Jahrhunderts begründeten »Wissenschaft des Judentums« als wesentlicher Teilbereich des komplexen jüdischen kulturellen Systems etablieren. Literatur wird in diesem Konnex schon sehr früh und zunächst populärer als die »Wissenschaft des Judentums« zu einem Me181 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stichwort  : Kultursemiotik, S. 364 f. Siehe dazu v. a. Lotman, Kunst als Sprache, sowie ders., Über die Semiosphäre. 182 »Assimilation« meint hier die völlige Anpassung an die Umgebungsgesellschaft, verbunden mit der Aufgabe der Religion und jüdischer Traditionen. Der Begriff wird hier lediglich im Sinne der zeitgenössischen Selbstbeschreibung verwendet, wissenschaftstheoretisch wird er jedoch nicht als adäquat betrachtet, um Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden angemessen zu beschreiben. Einen kursorischen Überblick über verschiedene Positionen zu dieser Thematik gibt die Ausgabe der Zeitschrift transversal 5 (2004) 1, Jenseits des Nationalen, siehe v. a. Klaus Hödl, »Jenseits des Nationalen« – Ein Bekenntnis zur Interkulturation, S. 3–18.



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dium, das die zeittypischen identitären Differenzierungstendenzen benennt und gleichzeitig versucht, kollektiv akzeptable und zeitgemäße Konzeptionen zu entwerfen.183 Diesen Konzeptionen soll in ihrer Literarisierung vor allem unter Bedachtnahme der Wechselbeziehungen von Figur, Identität, (poetischem) Ort und Raum nachgegangen werden. 6. Semantisierung von Raum Mit der (im weitesten Sinne) Funktionalisierung und Semantisierung von Raum beschäftigen sich die Künste und in der Folge die Kunstwissenschaften seit jeher. Am sinnfälligsten erscheint diese Auseinandersetzung naturgemäß in bildorientierten und visuell wirksamen Künsten. In der deutschsprachigen Literatur hat eine bewusste und nachhaltige Semantisierung von Raum offen­ kundig erst verhältnismäßig spät eingesetzt. Das hängt vermutlich mit der Gattungsdominanz des (klassischen) Dramas in Deutschland zusammen, denn die Raumkonzeption des Dramas blieb über lange Perioden von unspezifischen Schauplatz-Konstellationen dominiert. Die Bühne bot den »marginale[n] Rahmen, der in abstrakter Stilisierung den Schauplatz andeutet[e] und zu dem die Figuren kaum in physisch-haptischen Kontakt« traten.184 Außerdem hatte die Rhetorik mit ihrem umfangreichen Regelwerk, das allerdings mit Beginn des 18. Jahrhunderts zusehends erstarrte, ein entsprechendes Repertoire zur Festlegung und zum Einsatz von Topographien bereitgestellt. Mit dem allmählichen Bedeutungsschwund der Regelpoetik, die zwar noch bis weit ins 18. Jahrhundert Geltung für sich beanspruchen konnte, und der zunehmenden Säkularisierung ging in der Folge zunehmend auch das Wissen um die symbolischen und allegorischen Orte verloren. Im Zuge der einsetzenden Autonomisierung des Literatursystems verschwand mit den Vorgaben der Regelpoetik weiterhin die so genannte Ständeklausel, die die Auswahl des ›Personals‹ in literarischen Texten bis dahin dominiert hatte. Ein endgültiger Paradigmenwechsel kann spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts angenommen werden, als ideale Räume, wie »Arkadien«, mit realen Konnotationen versehen, wie in diesem Beispiel Italien, als allgemeine Örtlichkeiten, z. B. »im Innern des Palasts«, geographisch bestimmt oder zumindest erkennbar wurden. Das bedeutete einerseits eine stärkere Anbindung literarischer Texte an wahrnehmbare, beobachtbare und damit 183 Vgl. dazu allgemein Michael A. Meyer, Jüdische Wissenschaft und jüdische Identität, in  : Julius Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judentums, Anfänge der Judaistik in Europa. Darmstadt 1992, S. 3–20. 184 Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. München 31982, S. 346.

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überprüfbare Realitäten und andererseits eine Flexibilisierung in der Verwendung und Funktionalisierung von Räumen und Raumdarstellungen. Damit ist selbstverständlich lediglich eine Tendenz angedeutet. Denn natürlich existieren seit jeher auch konkrete Bezüge zwischen literarischem und außerliterarischem Raum  ; häufig wurden reale Räume und Orte aber aufgrund ihres Symbolgehalts oder ihrer historischen Aufgeladenheit in der Fiktion umgedeutet und damit vor allem ›dramaturgisch‹ eingesetzt. Als im Zuge der Aufklärung Stilvorschriften für die Schreibenden ihre Bedeutung verlieren, änderte die so genannte ›Hohe Literatur‹ – auffallend, dass einem ästhetischen Phänomen bis heute ein räumliches Attribut zugeordnet wird  – unmerklich ihren Status als im klassisch-(protestantischen) Sinne Erziehungs-, Erbauungs- oder Lehrinstitution. Die damit verbundene größere Freiheit der Autoren führte binnen kurzer Zeit zu einer Erweiterung des literarischen Spektrums, deren markantestes Zeichen eine »Umschichtung der literarischen Medien und Gattungen« darstellte. Spätestens seit 1800 setzte ein »Prozeß des Umfunktionierens und Zersetzens der überkommenen Gattungen«, mithin der Lyrik und vor allem der dramatischen Dichtung, ein.185 Infolgedessen erlebten die narrativen Gattungen, v. a. die Romanliteratur und die Novellistik, einen ungeheuren Aufschwung, der wiederum als eine Konsequenz den Personenkreis der Schreibenden anwachsen ließ  : Die Zahl von Schriftstellerinnen stieg stetig an und, was im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung ist, die Zahl jüdischer Autorinnen und Autoren, die in Deutsch schrieben. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man sich die kurze Zeitspanne vor Augen hält, die seit Moses Mendelssohns deutscher Bibelübersetzung (gedruckt 1780–1783) vergangen war, denn damit hatte der Philosoph die deutsche Sprache für Juden überhaupt erst ›literaturfähig‹ gemacht. Kurz zuvor, 1779, war das erste »Lesebuch für jüdische Kinder« von David Friedländer in deutscher Sprache und mit lateinischen Lettern erschienen.186 Mit der Gattungserweiterung vor allem in der Literatur des Realismus setzte eine neuartige und bewusste Suche nach (vermeintlich) Authentischem und Dokumentarischem ein, was sich zum Beispiel in künstlerischer Zeitnähe und Raumbezogenheit ausdrückte. Auch die zunehmende Popularisierung von Reiseliteratur ist in diesem Kontext zu verstehen  : Die vielen Italienreisebücher, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden und die gattungstheoretisch eine Zwischenstellung zwischen fiktionaler, autobiographischer und doku185 Udo Müller, Realismus. Begriff und Epoche. Freiburg, Basel, Wien 1982, S. 77 f. 186 Hermann Simon, Berlin I – Deutsche Kultur und jüdische Bildung, in  : Willi Jasper, Julius H. Schoeps (Hg.), Deutsch-jüdische Passagen. Europäische Stadtlandschaften von Berlin bis Prag. Hamburg 1996, S. 33–62, hier S. 42 f.



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mentarischer Literatur einnehmen, markieren einen nachvollziehbaren Beginn dieser Entwicklung. Von da an übernahm der konkrete literarisierte Raum eine wesentliche Funktion im Rahmen des Rezeptionsverhaltens. Die Nachprüfbarkeit (durch den Leser ebenfalls bereister und deshalb) bekannter Räume lieferte in dieser Form bislang ungewohnte Identifikationsangebote und Erinnerungsbilder. Das Vorführen unbekannter, exotischer Räume hingegen steigerte im Idealfall das Interesse am Fiktiven und damit an einer Fortsetzung von (einmal begonnener) Lektüre. Doch erst mit den allgemein zugänglichen Möglichkeiten der F ­ ortbewegung, dem Ausbau der Verkehrswege und der Infrastruktur wurde das Bedeutungsspektrum von Räumen und Räumlichkeiten sowohl lebensweltlich als auch lite­ rarisch nachhaltig erweitert. Aufgrund der bis ins zweite Drittel des 19.  Jahrhunderts weitgehend herrschenden Immobilität großer Bevölkerungsgruppen, auch der Wohlhabenden, war der Radius des täglichen Lebens meist recht beschränkt gewesen.187 Die eigenen vier Wände, die Straße, der (Dorf-)Platz steckten den Rahmen der Bewegungsfreiheit ab. Im ländlichen Bereich befand sich die Arbeitsstätte in der Regel in der Nähe des Wohnhauses, doch auch in den wenigen größeren Städten bewegte man sich hauptsächlich im jeweiligen Wohnquartier. Die Menschen lebten überwiegend in einem raum-zeitlichen Kontinuum, das stabile Identitäten garantierte. Symbolisch relevante Orte, die die Zyklen des Alltags und des Jahreslaufs mitbestimmten, waren in erster Linie religiös motiviert, wie z. B. Kirchen, Kapellen, Kreuzwege in den christlichen, Synagoge, Bêt-ha-midraŝ, Mikwe, Cheder und Jeschiwa etc. in den jüdischen Gemeinschaften. Für das öffentliche Leben spielten weiterhin Schulen, Gasthäuser, Gutshöfe, Herrschaftshäuser und Friedhöfe eine wichtige Rolle. Die Bedeutung dieser Orte wurde in der Regel durch gemeinschaftlichen Konsens hergestellt, sie wurde durch die Praxis des alltäglichen Lebens permanent bestätigt und musste nicht qua Definition von außen festgelegt werden. Erinnerungsorte im Sinne von lieux de mémoire, wie sie Pierre Nora vor allem als Schnittstellen nationaler Projektionen vorstellt,188 werden erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts relevant, als das aufbrechende raum-zeitliche Identitätskonti187 Vgl. z. B. Manès Sperber, All das Vergangene …, »Die Wasserträger Gottes« – »Die vergebliche Warnung« – »Bis man mir Scherben auf die Augen legt«. Wien 1983, S. 31  : »Gewiß fehlte [den Leuten vom Städtel, P. E.] die Möglichkeit zu vergleichen, denn die meisten von ihnen starben, ehe sie sich ein- oder höchstens zweimal weiter als 30 Kilometer entfernt hatten.« (aus  : Die Wasserträger Gottes). Sperber verwendet die Schreibweise »Städtel«. 188 Für die französischen Gedächtnisorte siehe Pierre Nora et al., Les lieux de mémoire, 7 Bde. Paris 1984–92, für die deutschen Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3  Bde. München 2001, für die österreichischen Moritz Csáky, Orte des Gedächtnisses. Wien 2000 ff.

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nuum früherer Epochen durch die Konstruktion neuer Orte der Identifikation ergänzt oder abgelöst wird. Diese Entwicklungen werden in der Literatur und in den anderen Künsten aufgegriffen, bzw. die Künste übernehmen im Zuge der Prozesse kollektiver Zuordnungen und Neuorientierungen einen aktiven Part. Denkmäler, denen in offiziellen Ritualen Bedeutung zugeschrieben wird, werden in Auseinandersetzungen um nationale Zugehörigkeiten ebenso funktionalisiert wie Theaterstücke und Gedichte,189 politische und militärische Ereignisse werden wie Naturkatastrophen in der kollektiven Erinnerung vor allem in Verbindung mit den Orten ihres Geschehens abgespeichert. Sie werden außerdem in der bildenden Kunst festgehalten und auf diese Weise gleichzeitig dokumentiert wie gedeutet.190 Zu den gewohnten Orten, die das Leben der Menschen in voraufklärerischer und vorrevolutionärer Zeit geprägt hatten, traten im Laufe des 19. Jahrhunderts also vermehrt Orte, die mit konstruierter Bedeutung aufgeladen wurden und damit in den Diskurs kollektiven Gedenkens und kollektiver Identifikation eintraten. Dieser Diskurs wiederum war in Bezug auf kollektive Raumsymboliken im Gegensatz zu früheren Zeiten weniger ein auf lebenspraktischem Konsens basierender als vielmehr ein herrschaftlich oder politisch dominierter. Die Definitions- und Deutungsmacht lag zumeist bei den politischen Funktionsträgern, denen sich die Bevölkerung mehr oder weniger begeistert oder auch gezwungenermaßen anschloss. Obwohl die ›alten Orte‹ ihre Bedeutung noch lange behielten, erwuchs ihnen ein Konkurrenzverhältnis durch die ›neuen‹ lieux de mémoire. Denn mit den alten Ordnungen und Lebenszusammenhängen fielen allmählich auch die gewohnten Strukturen des Alltags weg, die Lebensrhythmen passten sich vermehrt den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen an, neue Berufsfelder eröffneten vielen Gruppen gesellschaftlichen Aufstieg und Mobilität. Gleichzeitig führte die Industrialisierung zu massenhafter Verelendung und in gewissem Sinne zu einer Ent-Ortung. Der Begriff ›Ent-Ortung‹ spielt nicht auf eine soziale Entwurzelung z. B. durch Arbeitsmigration an  ; gemeint ist vielmehr die topographisch wahrnehmbare Auflösung funktional und sozial ordnender Raumstrukturen in Dörfern oder Städten. Durch Ent-Ortung – durchaus im wörtlichen Sinne als Negation des Begriffs ›Ortung‹ zu verstehen – wird nicht nur die Erkenn- und 189 Z. B. Heinrich von Kleist, Die Hermannsschlacht (1808), Theodor Körner, Leyer und Schwert (1814) oder Franz Grillparzer, König Ottokars Glück und Ende (1825). 190 In Frankreich wären in diesem Zusammenhang der Sturm auf die Bastille zu nennen, in Deutschland später z. B. das Hambacher Fest (1832) oder die deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche (1848), in Österreich die Dreikaiser-Schlacht bei Austerlitz (1805). Als Beispiel für eine Naturkatastrophe, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert wurde, kann das Rheinhochwasser von 1784 gelten, das sowohl in christlichen als auch in jüdischen Berichten überliefert ist.



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Benennbarkeit markanter Gebäude unterminiert, sondern gleichzeitig geht damit eine Relativierung der Bedeutung und Bedeutsamkeit von Ortsmarkierungen und in der Folge eine Orientierungslosigkeit derjenigen, die sich in solchen Räumen bewegen, einher.191 Nicht zuletzt bedingt durch die technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen verloren die Religionen und ihre Repräsentanten – was vielfach gezeigt worden ist – an Einfluss, obwohl gerade in ländlichen Gebieten die so genannte ›Volksfrömmigkeit‹ von christlicher wie von jüdischer Seite noch bis weit ins 20. Jahrhundert den Beschleunigungs- und Säkularisierungstendenzen beharrend entgegenstand. Darüber hinaus wurde vor allem von christlicher Seite versucht, diesen Bedeutungsverlust durch Politisierung auszugleichen, was vor allem seit der Gründung so genannter »christlicher« Parteien in Deutschland und in der Habsburgermonarchie mit einer zunehmenden Ideologisierung einherging. Die aus diesen Konstellationen zwangsläufig erwachsenden Konflikte, die die europäischen Gesellschaften erfassten und wohl erstmals in der Geschichte sowohl kollektive wie individuelle Bewusstseinsprozesse betrafen, wurden in der Literatur ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt aufgegriffen. In diesem Zusammenhang spielen zunehmend auch die unterschiedlichen Konzeptionen von Raumdarstellungen eine wichtige Rolle  : Der literarische Raum fungiert über sein mimetisches Funktionsspektrum hinaus als Handlungs-, Erlebnis- oder atmosphärischer Stimmungsraum192 und ist unter bestimmten Bedingungen in ein Netz übergreifender Sinn- und/oder Symbolstrukturen eingebunden. Jurij Lotmann zufolge bestimmen die Relationen zwischen räumlichen Elementen in einem Text und die Sprache darüber, die gleichzeitig »Material für den Aufbau von kulturellen Modellen mit keineswegs 191 Besonders anschaulich zeigt sich das z. B. in dem Photo-Band von Claudia Erdheim, Das Stetl. Galizien und Bukowina 1890–1918. Wien 2008. Vgl. z. B. Abb. 16 »Borysław, Erdölfelder mit Bohrtürmen« (Photo S. Erdheim, um 1910) und Abb. 18 »Borysław, jüdische Arbeiter in den Erdwachsgruben« (Photo S.  Erdheim, um 1910) mit Abb.  11 »Drohobycz, Neue Synagoge in der Ul. Stryjska, 1909 erbaut« (Photo anonym, um 1910) oder Abb. 37 »Wasserträger am Marktplatz von Żółkiew. Im Hintergrund die Pfarrkirche (1604, umgebaut 1677) und die Dominikanerkirche (1655)« (Photo anonym, um 1905). Die Bohrtürme des Erdölfelds ragen wie unzählige kleine Kirchentürme in die Luft, ohne aber einen Hinweis auf ein Verhältnis eines etwaigen Zentrums zu einer Peripherie zu geben oder eine funktionale Ordnung erkennbar werden zu lassen. Im Gegensatz dazu bieten die alten Raumanordnungen nicht nur dem Blick des Betrachters Halt, sondern sie kommunizieren auch ihre soziale und kulturelle Funktion und Bedeutung. 192 Zu einer Typologie des Raums vgl. z. B. Gerhard Hoffmann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart 1978.

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[nur] räumlichem Inhalt«193 bilden, den Grad der Semantisierung. Die verschiedenen möglichen Relationen, die je unterschiedliche Verhältnisse abstecken, werden durch Grenzen markiert, die den Raum in »disjunkte Unterräume«194 splitten. Als eine Konsequenz dessen werden in Texten, die solche disjunkten Räume präsentieren, Überschreitungen der Grenze(n) zum topischen Element, die Grenze selbst »zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes«.195 Für Lotman macht schließlich »die Art und Weise, wie der Text von der Grenze geteilt wird«, ein dafür wesentliches Charakteristikum aus. Wesentlich ist dabei, dass die »interne Struktur jedes der Unterräume verschiedenartig« sein muss und die Grenze »impermeabel«196 ist. Albrecht Koschorke hat in seiner Studie über Die Geschichte des Horizonts197 eine immanente Logik der Grenze, die sich auf das Horizontmotiv in literarischen Landschaftsbildern bezieht, in ihrer historischen Entwicklung untersucht und zugleich den kulturellen Konstruktcharakter liminaler Phänomene deutlich gemacht. Ausgehend von Bildern mythologischer, zunächst unhintergehbar scheinender Weltgrenzen, zeichnet Koschorke eine Dynamik des Horizonts nach, die in der Bewegung der Annäherung einerseits ihre Eigenschaft des permanenten Zurückweichens und andererseits das Erschließen neuer Erfahrungsräume freigibt. Theologische Behauptungen fester Weltgrenzen, die sich ja historisch auch in symbolischen Grenzziehungen, wie beispielsweise in autoritär verordneten Beschränkungen der Wissenschaften, äußern konnten, werden durch die Aufbrüche in der Frühen Neuzeit und vor allem seit der Aufklärung in ihrer Rigorosität unterminiert. Andererseits zeigt sich in vielen Aufbruchbewegungen – Koschorke zitiert hier z. B. Melvilles Moby Dick –, dass das Versprechen einer Auflösung der Grenzen oder einer Verschiebbarkeit ins Unendliche unerfüllt bleibt oder in eine »Figur der Nichtigkeit«198 mündet. Das »neuzeitliche Offensein« wird annulliert, und es scheint, dass »am wenigsten unglücklich [jene] sind […], die klug genug waren, um zu Hause zu bleiben.«199 Derjenige, der aufbricht, um neue Räume zu erkunden, wird also Teil 193 Jurij Lotman, Das Problem des künstlerischen Raums, in  : ders., Die Struktur des künstlerischen Textes, hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1973, S. 327–347, hier S. 329. 194 Lotman, Raum, S. 344. 195 Lotman, Raum, S. 344. 196 Lotman, Raum, S. 344. 197 Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main1990. 198 Koschorke, Horizont, S. 312. 199 Koschorke, Horizont, S.  312. Dieser Aspekt spielt beispielsweise eine wichtige Rolle in Leopold Hichlers Wien-Roman Der Sohn des Moses Mautner (1927), vgl. dazu die Ausführungen in Kap. IV. 6.



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eines räumlichen Spannungsfelds, das in der Linie des Horizonts geschieden wird. Der Verharrende jedoch, der im ewig gleichen Horizont ein unverbrüchliches Kontinuum zu sehen glaubt, bleibt nicht nur auf die eine und einzige unüberprüfbare Wahrnehmung zurückgeworfen, sondern er wird dadurch auch in ein Distanzverhältnis zu jedwedem ›anderen‹ Raum versetzt. Er ist herausgenommen aus einem nach außen gerichteten Begehren, das im Zeitalter der Verbürgerlichung zugleich die Aussicht auf ein besseres Leben, auf (klein)-bürgerliches Glück verheißt. In einem solchen Kontext kann die Geschichte des Horizonts zugleich als eine Geschichte kultureller Identität(skonzeptionen) gelesen werden, ähnlich wie dies schon Charles Taylor angedeutet hat.200 Wenn in dieser Studie narrative Raumkonstruktionen in ihren unterschiedlichen Darstellungsmodi und Funktionalisierungen analysiert werden, stehen Fragen nach potenziellen Bedeutungen von Erinnerungsräumen, religiös konnotierten Orten und gendered spaces, aber auch nach Zwischenräumen, in denen sich neue Bedeutungen generieren und traditionelle Verstehensmuster diskutiert werden, im Vordergrund. Der Horizont wird dabei in allen drei zur Diskussion stehenden Textgenres, der Ghettogeschichte, dem Großstadtroman und dem zionistischen Roman, als unausgesprochenes Metamotiv gerade im Hinblick auf seine Produktivität, identity spaces zu eröffnen, angenommen. Wesentlich für eine Analyse der Texte hinsichtlich ihrer topographischen Bezüge und topischen Potenziale ist weiterhin die Vorstellung, dass die literarischen Räume nicht nur in ihrer Abbildfunktion, also als Re-Konstrukt außerliterarischer Räume oder als referenzund bedeutungslose fiktive Schauplätze wahrzunehmen sind. Ausgehend von Jurij Lotmans Überlegungen über Das Problem des künstlerischen Raums in Gogols Prosa sowie über Die Struktur des künstlerischen Textes, in denen Lotman die strukturierenden Qualitäten von Raum und Zeit für den literarischen Text in ein theoretisches Konzept fasst, führt Walter Koschmal weiterhin aus, dass die künstlerische Raumzeit […] auch Relationen ethischer, sozialer oder abstrakter Art, die weder räumlichen noch zeitlichen Charakter besitzen, ausdrückt. Raum und Zeit sind dabei […] Vehikel und dienen als solche der Vermittlung eines bestimmten Weltmodells.201

Diese immer auch auf Michail M. Bachtins Chronotopos referierenden Ansätze gehen in ihrer semiotischen Raum-Zeit-Konzeption über rein narratologische Prämissen, wie sie Genette zum Beispiel artikuliert, hinaus. Sie nehmen ein in200 Vgl. Taylor, Ursprung, S. 13. 201 Walter Koschmal, Semantisierung von Raum und Zeit. Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Toten Haus und Čechovs Insel Sachalin, in  : Poetica (1980), Bd. 12, S. 397–420, hier S. 399.

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tegratives Bezugssystem an, in dem historisch und kulturell prädisponierte sowie zeitlich dynamische Räumlichkeit und Raumvorstellungen Eingang in literarische Konfigurationen finden, die wiederum außerliterarisch kulturell wirksam werden. Für die Analyse setzt das methodisch die Annahme eines triadischen Literaturmodells, das Autor, Text und Leser zusammenspannt, voraus. Damit erscheint auch die von Genette vernachlässigte Instanz des Lesers im Hinblick auf die hier diskutierten raumtheoretischen Überlegungen deutlich aufgewertet. Nicht zuletzt deshalb eignet sich Lotmans Ansatz für die im Rahmen dieser Studie zu untersuchenden Fragestellungen, die als Basisannahme von einem Konnex zwischen (erzähltem und ontologischem) Raum und (erzählter und kultureller) Identität ausgehen, besonders gut. Die künstlerische Sprache bzw. der künstlerische Text fungieren in diesem Zusammenhang bei Lotman als »sekundär modellbildendes System«,202 das in einem komplexen Geflecht von Codes sichtbar und wirksam wird. Die Konstituierung einer solchermaßen angenommenen Raum-Zeit-Struktur im Text bedarf weiterhin bestimmter Orientierungs- oder Wahrnehmungszentren, die Walter Koschmal in einer differenzierten Analyse zweier Texte von Dostojewski und Tschechow in vier Typen unterscheidet  : Autorenraumzeit, Erzählerraumzeit, Personenraumzeit, Leserraumzeit.203 Als organisierende Instanz lässt der (abstrakte) Autor durch Auswahl und Komposition von Raum­ ausschnitten und Zeitfenstern selbst durch explizit voneinander getrennte Einheiten »ein raumzeitliches Kontinuum entstehen«,204 das sich erst aus der Perspektive des Lesers endgültig formiert. Die Erzählerraumzeit bezieht sich auf die erzählende Instanz und inkludiert auch Zeitdehnungen, Raffungen, Wiederholungen sowie die Kommentierung räumlicher Strukturelemente. Den Figuren sind laut Koschmal häufig nur eine Perspektive von Zeit und Raum sowie die darin stattfindenden Bewegungen zugeteilt. Dabei unterscheiden sich die Protagonisten von den Nebenfiguren durch eine dominantere raumzeitliche Ausstattung. Für den Leser schließlich wird die Darstellung von Raum und Zeit im Text zur »vorgestellten Raumzeit«,205 das heißt zum wesentlichen Faktor der Imagination. Der erzählte Raum wird wiederum durch spezifische Orte, die ihrerseits in ein Netz von Bedeutungen eingespannt sind, ausdifferenziert. In der vorliegenden Studie sind das für das Schtetl als relevante Innenräume z. B. das Haus, 202 Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 22 f. 203 Koschmal, Semantisierung, S. 400. Koschmal erläutert die komplexe Funktion und Hierarchisierung der vier Raumzeiten auf S. 400–402. 204 Koschmal, Semantisierung, S. 400. 205 Koschmal, Semantisierung, S. 401.



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die Synagoge, die Schenke, als Außenraum die Gasse oder das freie Feld, für die Stadt als Innenraum das Bürgerhaus, die gute Stube und die Synagoge, als Außenraum z. B. das ›jüdische Viertel‹ oder die Straße. Wird auf diese Weise eine (fiktionale) Topographie bzw. eine narrative Karte entworfen, so erfahren die Figuren, die sich in diesem Raum bewegen, bestimmte Prägungen, die in enger Wechselbeziehung zu diesem Raum stehen bzw. nur aus dem semantischen Kontext dieses Raums verständlich werden. Gleichzeitig wird durch die Handlungen und die Wahrnehmungen der Figuren – sowie zuletzt durch den Leser – jener Raum erst zur Gänze in seiner narrativen Dimension hergestellt. Insofern kommt dem Raum eine handlungsrelevante sowie besondere narratologische Funktion zu. Was die Strukturierung eines Textes durch zeitlich orien­ tierte Motivkomplexe angeht, so spielen hier neben lebenszeitlichen Phasen, wie der Verlobungszeit oder der Zeit der Ausbildung, vor allem die traditionellen rituellen Zeiten, Sabbat und Feiertage, eine wesentliche Rolle. Im Koordi­ natensystem der raumzeitlichen Strukturelemente entfalten sich schließlich jene Topoi und Motivkomplexe, die in ihren spezifischen Ausformungen immer auch Diskurse über Identitäten transportieren. In diesem Sinne entwerfen die populären Ghettogeschichten, Großstadtromane und zionistischen Romane, in denen Erinnerungen ›erfunden‹ und aufbewahrt, Zeit-Geschichte(n) erzählt, Erfahrungen wiedergegeben, Erwartungen geschürt oder Träume entworfen werden, eigenständige poetologisch wirksame Raumkonzepte. Fasst man diese Texte dann wiederum als Medien kollektiver Sinnverständigung auf, die auch außerliterarisch wirksam werden, so resultiert daraus die These, dass Ghettogeschichten, Großstadtromanen und zionistischen Romanen eine raumpoetische Kraft innewohnt, die »entscheidend zur Entstehung neuer kultureller Raumordnungen«206 beiträgt bzw. beigetragen hat. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden – der literaturhistorischen Chronologie folgend – zunächst exemplarisch ausgewählte Ghettogeschichten aus Böhmen, Mähren, Galizien und Deutschland (Hessen und Rheinland) dis206 Hallet, Neumann, Raum und Bewegung, S.  23. Am offensichtlichsten zeigt sich diese raumpoietische Energie wahrscheinlich in Theodor Herzls Roman Altneuland (1902), der als quasi ›kanonischer‹ Text bis heute in Israel präsent ist. Vgl. dazu Nurit Pagi, Altneuland – Altneue Sprache – Altneue Idee. Four translations to Hebrew of Herzl’s Novel Altneuland as a reflection of language development and political change, in  : Petra Ernst, Hans-Joachim Hahn, Daniel Hoffmann, Dorothea Salzer (Hg.), trans-lation – trans-national – transformation Übersetzen und jüdische Kulturen (=Schriften des Centrums für Jüdische Studien  ; 21). Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S.  193. »The identity of Israel as a Jewish secular State is built on three canonic texts  : The declaration of independence (1948), Herzl’s brochure Der Judenstaat (1896) and Herzl’s futuristic novel Altneuland (1902). These three texts are being constantly used in the Israeli public sphere as a permanent source for comparison between vision and reality.«

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kutiert. In der Ghettoliteratur wird die von Taylor aufgerufene Interdependenz von der Semantik bzw. Semantisierung des Raums und Identität entlang der in den Texten beschriebenen symbolischen und realen Grenzen besonders deutlich. Der in der Ghettogeschichte oder der Ghettonovelle, wie das Genre aus zeitgenössischer Sicht auch oft genannt wurde, dargestellte Raum ist das Dorf, das Ghetto, die Judengasse, »meist kurzweg ›Gasse‹«207 genannt, oder das Schtetl als Schauplatz jüdischen Lebens. Fast immer fungieren Dorf, Ghetto oder Schtetl dabei als Räume prototypischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen.

207 Ghetto und Ghettodichter, Vortrag gehalten im Verein für jüdische Geschichte und Literatur in Karlsruhe […] von Rabbiner L. Treitel, hg. v. M. Brann. Breslau 1891, S. 5.

II. Das erzählte Schtetl und Dorf – Ghettogeschichten

1. Schtetl, Gasse und Ghetto – historische Aspekte Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe Schtetl, Ghetto, ( Juden-) Gasse oder Judenviertel häufig ungenau oder synonym verwendet. Der Begriff Ghetto firmiert dabei mitunter als vage Sammelbezeichnung, deren Bedeutungsspektrum primär durch Vorstellungen von Begrenzung, Einengung, Zwang geprägt ist. Der Begriff Schtetl bezieht sich auf Kleinstädte oder Dörfer mit überwiegend jüdischer Bevölkerung, die bis zur Shoah in ganz Osteuropa bestanden  ; allein in Polen lebten 1939 viele der rund dreieinhalb Millionen Juden in Schtetln (Shtetlach) oder jüdischen Stadtvierteln, davon rund 10 % in Warschau.1 Überliefert sind letzte Bilder dieser Verschwundenen Welt durch den Fotografen Roman Vishniac, der bis Ende der 1930er-Jahre in Tausenden Fotos jüdisches Leben in polnischen, russischen und slowakischen Kleinstädten sowie in bedeutenden jüdischen Stadtvierteln wie in Krakau oder Warschau dokumentierte.2 Elizabeth Herzog und Mark Zborowski haben in den 1950er-Jahren die Ergebnisse eines langjährigen Forschungsprojekts, in das die Analyse verschiedener Medien, Zeitschriften, Filme, Fotos, Bilder und literarischer Texte ebenso eingeflossen ist wie zahlreiche »Interviews osteuropäischer Juden«,3 in einem Buch zusammengefasst, das den Anspruch erhebt, »die ganze Kultur der osteuropäischen Juden darzustellen« und »als Hauptquelle für osteuropäische jüdische Kultur«4 zu gelten. Ein zentraler Befund von Herzog und Zborowski, 1

Über 90 % der polnischen Juden wurden Opfer der Shoah. Über die Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs siehe Malgorzata Niezabitowska, Tomasz Tomaszewski, Die letzten Juden in Polen. Schaffhausen 1987, S. 160–162, S. 182. 2 Roman Vishniac, Verschwundene Welt. München 1996. Siehe auch Claudia Erdheim, Das Stetl. 3 Mark Zborowski, Elizabeth Herzog, Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden, 3. durchgesehene Aufl. München 1992 [1952], S. 11. 4 Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 13. Das Forschungsprojekt wurde in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen und die Ergebnisse wurden 1952 in Amerika erstmals vorgelegt. – Einzelne Beiträge in einem kürzlich von Steven T. Katz herausgegebenen Sammelband versuchen interdisziplinär und teils unter Heranziehung theoretischer kulturwissenschaftlicher Ansätze, eine Neubewertung des Phänomens Schtetls vorzunehmen. Siehe Steven T. Katz (Hg.), The Shtetl. New Evaluations. New York, London 2007. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist u. a. von Interesse  : Eva Hoffman, Shtetl  : The History of a Small Town and an Extinguished World. London 1999.

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Das erzählte Schtetl und Dorf – Ghettogeschichten

der auch im Hinblick auf die Ghettogeschichte von Relevanz ist, bezieht sich auf die traditionell fromme Lebensweise im Schtetl  : Da das Reich des Lebens von dem der Gesetze der Heiligen Bücher nicht zu trennen ist, zieht man im Schtetl keine Grenze zwischen dem Religiösen und dem Säkularen. […] denn alles Leben ist aus einem Guß, und alle Wahrheit liegt in den geistlichen Schriften. Für das Schtetl heißt der Gegensatz nicht so sehr sakral – weltlich, er heißt eher jüdisch – nichtjüdisch.5

Die Feststellung einer zeitgenössisch empfundenen Einheitlichkeit im osteuropäischen Schtetl bestätigt beispielsweise auch ein Artikel von A. Coralnik aus dem Jüdischen Volks-Kalender für das Jahr 5665 (1904–05)  : Im Osten gibt es kein Ghetto, sondern eine jüdische Gesellschaft, ein jüdisches Volk. Um dieses zu desorganisieren müssen Ereignisse gewaltiger Natur eingreifen  ; im Westen gibt es tatsächlich ein moralisches Ghetto, weil den einzelnen Juden, den Individuen die Erkenntnis abgeht, warum sie abgesondert seien und was ihre Wesenheit ausmache. Der Begriff ›Ghetto‹ ist westlichen Ursprungs …6

Coralnik kehrt den Ghetto-Begriff gleichsam um, indem er ihn aus seiner Konkretheit herauslöst und ihn als abstrakte Kategorie umdeutet. Das Ghetto, die in tatsächliche und/oder symbolische Grenzen gezwängte Siedlungsform, gewährleistet nach Ansicht des Autors Juden eine größere innere Freiheit und kohärente Identität als die Öffnung der Ghettogrenzen, denn damit sei zugleich der Verlust der (Er-)Kenntnis über die eigene »Wesenheit« verbunden  ; dieser führe allerdings nicht zu größerer Freiheit als vielmehr zu einer anderen Form der Absonderung, dem »moralische[n] Ghetto«. Diese Auffassung findet sich, meist auf Figurenebene verankert und unterschiedlich bewertet, auch in einigen der hier verhandelten Erzähltexte wieder – und zwar in allen drei Genres. Dass das ›Ghetto‹ tatsächlich als Schlüsselbegriff galt, der nicht nur ein geographisch-politisches Ost-Westgefälle auswies, sondern die Bruchlinie zwischen den sich als fortschrittlich, aufgeklärt und modern und den sich als (struktur)-konservativ, beharrend und traditionalistisch begreifenden ›Milieus‹, war selbst dadurch nicht zu relativieren, dass in Westeuropa seit Mitte des 19. Jahrhunderts eigentlich keine Ghettos mehr existierten. Die aus westlicher Sicht ursprünglich mit dem Ghetto in Zusammenhang gebrachte Rückständigkeit wurde künftighin 5 6

Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 89. A. Coralnik, Einiges über die Mischehe, in  : Jüdischer Volks-Kalender für das Jahr 5665. Brünn, Wien, Berlin, Prag [1904–05], S. 20 f.



Schtetl, Gasse und Ghetto – historische Aspekte 

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vor allem auf das osteuropäische Schtetl projiziert. Und so markierte der nun eigentlich referenzlos gewordene, transformierte Sammelbegriff ›Ghetto‹ sowohl für das aufgeklärte und liberale bürgerliche Judentum wie auch für Nichtjuden einen weithin unbekannten Raum, den man mitunter gar nicht näher kennenlernen wollte und in der Regel mit Misstrauen oder gar Ablehnung betrachtete. In dieser schwierigen Situation nimmt es nicht wunder, dass die Bewohner des Schtetls, die zudem ab den 1870er-Jahren verstärkt in die westlichen Metropolen migrierten, vielfach eine Position einnahmen, die auf Absicherung eines Status quo ausgerichtet war  : So sehen wir das Ghetto und den Ghettomenschen […] eingekapselt in eine ganz besondere Lebensform, die dem Außenstehenden, wenn er nicht selber Jude ist, für immer verschlossen oder doch eine fremde Welt bleibt. Und so kommt es, daß man mit vagen Vorstellungen vom Wesen des Ghettojuden herumgeht.7

Mit diesen Worten beschreibt Artur Landsberger, der mit seinem Buch Das Volk des Ghetto auf die »ganze[.] gewaltige[…] Tragik«8 der polnischen Juden im Ersten Weltkrieg aufmerksam machen wollte, die Beziehung zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Juden bzw. zwischen Juden und Nichtjuden. Landsberger vertraut aber auf die Wirkmächtigkeit der Literatur, um den Blick für diese fremde und verschlossene Welt zu öffnen. Er kann sich auf eine Gattung beziehen, die sich schon seit den 1840er-Jahren in ihrem fiktionalen Potenzial als einzigartige Vermittlungsinstanz bewiesen hatte. Mit der Ghettogeschichte konnte eine Brücke geschlagen werden zwischen osteuropäischem Schtetl und westeuropäischem städtischen Raum, zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen aufgeklärten und frommen Juden, wobei anzunehmen ist, dass die Texte primär an ein aufgeklärtes bürgerliches Publikum gerichtet waren. Auf einer recht oberflächlichen Ebene hatte sich für viele Menschen in Deutschland und in der Habsburgermonarchie die Vorstellung über ›Ostjuden‹ durch die nach Berlin und Wien zugewanderten, vielfach vor den Pogromen geflüchteten osteuropäischen Juden konkretisiert. Wahrnehmbar waren vor allem ihr äußeres Erscheinungsbild, ihre wirtschaftliche Not und die soziale Bedrückung. Die das ganze Leben dominierende Religiosität wurde hingegen nur in ihren aus westlicher Sicht exotisch anmutenden Ausdrucksformen, sofern sie überhaupt öffentlich wurden, zur Kenntnis genommen, ohne einen inneren Zugang oder ein tieferes Verständnis dafür entwickeln zu können. 7 Artur Landsberger (Hg.), Das Volk des Ghetto, unter Mitwirkung von H.  Blumenthal u. J. E. Poritzky. Berlin, Wien 1921, S. 2. 8 Landsberger, Volk des Ghetto, S. 2.

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Das erzählte Schtetl und Dorf – Ghettogeschichten

In Berlin reüssierte das so genannte Scheunenviertel zum Inbegriff ›ostjüdischen‹ Lebens in städtischer Umgebung  : Von den 1925 in Berlin rund 173.000 lebenden Juden waren ca. 43.000 osteuropäischer Herkunft.9 Das Schtetl schien gewissermaßen in einen modernen großstädtischen Raum transferiert, und es trat damit in ein neues topographisches und soziales Beziehungsgefüge ein. Gleichzeitig wurden damit auch die enormen kulturellen Differenzen zwischen »Ost« und »West«, die sich aus Sicht vieler westeuropäischer bürgerlicher Juden als Gefälle – in der Bildung, im Arbeitsleben, im Wohlstand, im religiösen Leben – darstellten, direkt und unmittelbar spürbar.10 Erst infolge einer kulturellen Rückbesinnung und der Jüdischen Renaissance11 konnten die Traditionen des osteuropäischen Judentums mit dem Argument ihrer Ursprungskraft auch in einem säkularen Kontext aufgewertet und den Entfremdungserscheinungen des westeuropäischen Judentums als symbolisches Korrektiv entgegengehalten werden.12 Diese Tendenz verstärkte sich vor allem im Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit, in der das »Ostjudentum« literarisch und publizistisch eine enorme Popularität erfuhr und ein eigenes Narrativ ausprägen konnte, das nun im Gegensatz zur Vorkriegszeit auch für viele liberale Juden und vor allem für Zionisten positiv besetzte Gegenbilder zu den kulturellen und politischen Bedrohungen der Gegenwart bereitzustellen in der Lage war. Einen wesentlichen Unterschied zwischen ost- und westeuropäischen Juden bildete die Sprache. Im Schtetl wurde jiddisch gesprochen und in hebräischen Lettern geschrieben. Die Verhandlungssprachen richteten sich nach den Umgebungsgesellschaften. So sprachen in Galizien die meisten Juden auch polnisch, in der Bukowina hingegen deutsch,13 in Böhmen tschechisch und/oder deutsch. Artur Landsberger unterscheidet zudem noch eine Reihe von »Jargondialekten«,   9 Ingrid Kirschey-Feix (Hg.), Treffpunkt Scheunenviertel. Leben im Schtetl. Berlin 1993, S. 6. 10 Selbst Prominente wie der Sprachphilosoph Fritz Mauthner oder Walther Rathenau äußerten sich wiederholt in ziemlich drastischer Weise gegen »das Ostjudentum«. Vgl. dazu Ludger Lütkehaus, Nachwort, in  : Fritz Mauther, Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Ludger Lütkehaus. Wien 2001, S.  375. Mauthner sprach sich einmal sogar für die Schließung der Reichsgrenzen aus, um »Ostjuden« den Zuzug nach Deutschland zu verwehren. 11 Zum Begriff und Phänomen der Jüdischen Renaissance siehe Inka Bertz, Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914, in  : Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Berlin 1995, S. 149–180. 12 Einen knappen Überblick gibt Ludger Heid, Das Ostjudenbild in Deutschland, in  : Julius H. Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums. München 1992, S. 350–352. Siehe auch Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden. München 31991. 13 Vgl. dazu Martin Broszat, Von der Kulturnation zur Volksgruppe. Die nationale Stellung der Juden in der Bukowina im 19. und 20.  Jahrhundert, in  : Historische Zeitschrift, hg. v. Theodor Schieder und Walther Kienast, Band 200, München 1965, S. 572–605.



Schtetl, Gasse und Ghetto – historische Aspekte 

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die sich durch den Einfluss der jeweiligen Sprachen eines Landes, in denen Juden lebten, herausgebildet hatten.14 Das Leben der jüdischen Bevölkerung im Schtetl spielte sich zwischen Haus, Betstube, Synagoge und Markt(platz) ab. Die Männer widmeten sich ab dem Kindesalter dem Studium der Heiligen Schriften, die Frauen dominierten das häusliche Familienleben. Die Mühsal des Erwerbs des Lebensunterhalts, der parnóße,15 meist durch Handel oder Kleinhandwerk, oblag dem Mann, sofern er nicht studierte. Sonst musste die Frau diese Aufgabe übernehmen. Über Jahrhunderte bildete das Schtetl nicht nur eine spezifische Siedlungsform, sondern es war Ausdruck der Lebensweise der größten jüdischen Bevölkerungsgruppe auf der Erde. Die Wohngebiete der sog. Ostjuden in Polen, Litauen, Weißrußland, der Ukraine und in Ungarn […] beherbergten zeitweise mehr als die Hälfte aller Juden. […] Die Lebensform des Schtetl […] war – bei aller Armut, Einschränkung und Unfreiheit – für das Überleben des Judentums in der Diaspora von entscheidender Bedeutung.16

Mit dem Schtetl war die Kontinuität einer Lebensform in der Diaspora verbunden, die über alle Fährnisse, Widrigkeiten und Verfolgungen hinweg auch als symbolische Kraft gedeutet werden konnte. Im »Überdauern« und in der geduldigen Hinnahme von Unterdrückung und wirtschaftlicher Not war es möglich, eine »Leistung« zu erkennen, die gläubigen Juden zugleich den »Sinn« eröffnen konnte, »die Botschaft des sich offenbarenden Gottes zu suchen.«17 Da kein anderes Volk aus biblischen Zeiten trotz zeitweiliger militärischer und politischer Macht bis in die Neuzeit überdauert hatte, konnte eine solche Interpretation nachvollziehbar und plausibel erscheinen. Während der Begriff ›Schtetl‹ noch deutlich auf das Wort ›Städtchen‹ verweist, existieren über die Etymologie des Begriffs ›Ghetto‹ bis heute unterschiedliche und letztlich nicht mehr überprüfbare Meinungen. Noch 1921 schreibt Arthur Landsberger  : Die Etymologie des Wortes ›Ghetto‹ findet sich in keinem Lexikon. Dem Namen nach weist das Wort nach Italien als seinem Entstehungslande, wo ja tatsächlich auch in der Frühzeit Ghetti bestanden, Stadtviertel oder Straßen, die ausschließlich von Juden bewohnt wurden. In Urkunden aus dem Jahre 1000 werden solche Stadtbezirke bereits 14 Landsberger, Das Volk des Ghetto, S. 31. 15 Die Schreibweise folgt dem Duden, Jiddisches Wörterbuch, 2.  durchgesehene Auflage von Ronald Lötzsch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1992, S. 141. 16 Im Schtetl, in  : Neues Lexikon, [S. 416]. 17 Horch, Erzählliteratur, S. 138.

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Das erzählte Schtetl und Dorf – Ghettogeschichten

in Venedig, Salerno, und anderen Städten erwähnt. Sie wurden Juderia genannt, Judaea oder Judaica, woraus der italienische Name Giudecca und aus diesem wahrscheinlich das korrumpierte Wort Ghetto entstand.18

Vermutet wird weiterhin die Herleitung aus einer mundartlichen Variante von ital. ghetto (=  Gasse)19 oder ital. borghetto (=  Bezirk), auch der Hinweis auf die Gießerei in der Nähe von San Hyeronimo in Venedig (»in getto appresso San Hyeronimo«) oder die Herleitung aus hebr. ‫גט‬, get (= Absonderung) finden sich in der Literatur, um die Herkunft des Begriffes zu erklären.20 Der Historiker Markus Brann wiederum erachtet einen Zusammenhang mit dem deutschen Wort »Gitter« als wahrscheinlich.21 Die Encyclopaedia Judaica favorisiert als Erklärung eine im Laufe der Zeit erfolgte Übertragung der Bezeichnung »getto« für den Ort, an dem das venezianische Judenviertel errichtet worden war, auf alle städtischen Judenviertel, allerdings mit der Einschränkung, dass »die Judenviertel, die auf den freien Willen der Juden zurückgehen, […] nicht als G[hetto] bezeichnet werden«22 können. Als gesichert gilt die Tatsache, dass Papst Paul IV. 1555 für den Kirchenstaat die Abgrenzung jüdischer Wohnviertel verfügte, die in Anlehnung an das venezianische Judenviertel dann als Ghettos bezeichnet wurden. Die Viertel durften nur eine Synagoge und ein Eingangstor besitzen, außerdem wurde den Juden Grundbesitz verboten, und es wurde die Kenntlichmachung mit einem gelben Fleck an der Kleidung bzw. mit einem gelben Tuch für Frauen verordnet. Die Bezeichnung ›Ghetto‹ für das römische jüdische Viertel findet sich erstmals in einer päpstlichen Bulle aus dem Jahr 1562.23 Unabhängig von der vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft und den Bedeutungen des Begriffs ist festzuhalten, dass die Mehrheit der jüdischen Bevölkerungen in Europa vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution und teilweise noch bis zur Durchsetzung der Emanzipation in solchen abgegrenz18 Landsberger, Das Volk des Ghetto, S. 3. 19 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl. unter Mithilfe von Max Bürgisser u. Bernd Gregor, völlig neu bearb. v. Elmar Seebold. Berlin, New York 1989, S. 264. 20 Z. B. Günther A. Höfler, Nachwort, in  : Der Dorfgeher. Ghettogeschichten aus Alt-Österreich, hg. v. Ingrid Spörk u. Günther A. Höfler. Leipzig 1997, S.  235–247, hier S.  235. Die Encyclopaedia Judaica verwirft diese Herleitung allerdings mit der Begründung, dass »Juden diese Bezeichnung [sonst wohl, P. E.] überall gebraucht hätten.« Siehe Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, 7. Bd., Gabriol–Hess. Berlin 1931, Sp. 389–393, hier Sp. 393. 21 Treitel, Ghetto, S. 5. 22 Encyclopaedia Judaica, Sp. 389. 23 Encyclopaedia Judaica, Sp. 390.



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ten Vierteln, teilweise durch regional unterschiedliche diskriminierende Anordnungen unterdrückt, leben musste, z. B. in Augsburg, Frankfurt, Köln, Worms, Nürnberg, Wien und Prag.24 In Anbetracht der Tatsache, dass auch verschiedene christliche Bevölkerungsgruppen, am augenfälligsten die Handwerker und Angehörigen verschiedener Zünfte, lange Zeit in je voneinander abgegrenzten Quartieren lebten, fand in den letzten Jahren allerdings eine Neubewertung des Ghettos in Deutschland und Österreich zumindest für die Zeit des Mittelalters statt.25 Auch die Zunahme der Ghettos in italienischen Städten führte trotz der beengten und begrenzten Wohnverhältnisse nicht zwangsläufig zu einem Ausschluss »aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben.«26 Untersuchungen zum jüdischen Leben in der italienischen Renaissance kommen sogar zu dem Schluss, dass »die allgemeine Haltung gegenüber Juden in den Zeiten der Ghettos liberaler war als zuvor.«27 In England, Holland und Dänemark lebten Juden zumindest de jure ­teilweise schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts als mit Nichtjuden gleichberechtigte Bürger. Frankreich hatte seiner ca. 40.000 Menschen umfassenden jüdischen Bevölkerung bereits 1791 das volle Staatsbürgerrecht zuerkannt.28 Dieses Staatsbürgerrecht genossen auch die Juden im Königreich Westfalen bzw. im Rheinbund, solange die dazugehörigen Gebiete napoleonischer Herrschaft unterstanden. Mit dem Sieg über Napoleon wurden den Juden von Preußen ihre Rechte vorübergehend wieder aberkannt, nichtsdestoweniger lebten sie unter deutlich besseren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen als die Juden in Osteuropa.29 In Rom hatte Papst Pius IX. 1847, also ein Jahr vor der Revolution, 24 Vgl. z. B. Ghetto, in  : Neues Lexikon, S. 168 f. Über die Errichtung des Ghettosystems in Polen durch die Nationalsozialisten als »administrative Vorbereitung des Holocaust« (ebd.) siehe Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin 1982. 25 Siehe dazu z. B. Markus J. Weninger, Das Grazer Judenviertel im Mittelalter, in  : Gerald Lamprecht (Hg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung – Auslöschung – Annäherung. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004, S. 13–31. 26 Annegret Nippa, Peter Herbstreuth, Eine kleine Geschichte der Synagoge in dreizehn Städten. Hamburg 1999, S. 85. 27 Nippa, Herbstreuth, Synagoge, S. 85. Die Verfasser beziehen sich primär auf den italienischen Historiker Robert Bonfil. 28 Vgl. dazu auch David Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, in  : Nicholas de Lange (Hg.), Illustrierte Geschichte des Judentums, aus dem Engl. von Christian Rochow. Frankfurt am Main 2000, S.  223–279, hier S.  235 ff. Sorkin gibt einen informativen Gesamtüberblick über die Entwicklung in den europäischen Ländern. Vgl. weiterhin die tabellarische Übersicht über den »Verlauf der Emanzipation in den Ländern Europas« in  : Susanne Galley, Das Judentum. Frankfurt am Main 2006, S. 136 f. 29 Vgl. dazu u. a. Kenneth H. Ober, Die Ghettogeschichte. Entstehung und Entwicklung einer Gattung, [= Kleine Schriften zur Aufklärung  ; 11]. Göttingen 2001, S. 16 f.

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»aus freien Stücken das Ghetto als Zwinger«30 aufgehoben. Für die Länder der Habsburgermonarchie hatte Joseph  II. in den Jahren 1781 bis 1789 Toleranzpatente in Niederösterreich, Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn erlassen, die bestimmte Vergünstigungen gewährten und Beschränkungen aufhoben, wie z. B. die Kleidervorschriften oder den Leibzoll.31 Auch den Lutheranern, Kalvinisten und Griechisch-Orthodoxen wurden durch die Toleranzpatente bis dahin verwehrte Rechte zugestanden.32 Ab dieser Zeit durften Juden auch außerhalb von Ghettos wohnen, staatliche Schulen besuchen und Handel treiben. Die Umsetzung der von Joseph  II. eingeleiteten Maßnahmen verliefen allerdings schleppend und stagnierten aufgrund der politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert überhaupt, zumal in Galizien, das erst mit der Ersten Teilung Polens 1772 an die Monarchie gefallen war und deshalb wirtschaftlich, sozial und kulturell nicht annähernd den Standard der westlichen Kronländer aufweisen konnte.33 Erst 1849 erhielten Juden schließlich das Landbesitz- und Wahlrecht.34 Wenngleich sich die rechtliche Situation für die Juden in den Ländern im nachrevolutionären Europa unleugbar verbessert hatte, so bestanden in der Praxis doch noch lange massive Benachteiligungen. Die Jahrhunderte währende Unterdrückung, »Alles in Dei majorem gloriam«,35 hatte u. a. zur Folge, »daß das Mittelalter, welches für die übrige Menschheit auf der Scheide zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert zu Ende ging, für die Juden allein volle zwei Jahrhunderte länger gedauert hat.«36 Leopold Treitel vermutet für manche Regionen diese symbolisch verstandene Verlängerung des Mittelalters sogar bis in das ausgehende 19. Jahrhundert. Die zahlenmäßig größte Gruppe von Juden vor dem Zweiten Weltkrieg, etwa 4,9  Millionen Menschen, existierte in größtem sozialen Elend im Russischen Reich, wo sie durch eine Reihe von Dekreten und Gesetzen ab 1791 in den so genannten Ansiedlungsrayon, ein Gebiet im Westen Russlands, das sich auf rund 30 Treitel, Ghetto, S. 11. 31 Battenberg, Das europäische Zeitalter der Juden, I/S. 94–97. 32 Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte – Wirtschaft – Kultur. Leipzig, Wien 1933, Kap. IV. Vom Toleranzedikt zur Märzrevolution, v. a. S. 113–125. Über Joseph II. informiert in diesem Kontext ausführlich  : Joseph Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs  II., Gerlingen 1985 [in  : Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Tel Aviv 1980]. 33 Über die Zustände in Galizien und die (teilweise gescheiterten) Reformversuche siehe Wolfgang Häusler, Das galizische Judentum in der Habsburgermonarchie im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772–1848. München 1979. 34 William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938. Wien, Köln, Graz 1974, S. 32. 35 Treitel, Ghetto, S. 4. 36 Treitel, Ghetto, S. 4.



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1  Million Quadratkilometer erstreckte, gezwungen wurde.37 Im Ansiedlungs­ rayon lebten die Juden in Städten und Marktflecken, aber auch in Schtetlach, die durch »patriarchal. Existenz charakterisiert waren, in der sorgsam jüd. Riten u. Traditionen konserviert wurden, Legenden u. jüd. Volksmusik blühten u. jüd. Lehrtätigkeit gepflegt wurde.«38 Zeitlich limitiert wurden Aufenthalte zu geschäftlichen Zwecken in die inneren Provinzen des Landes zugelassen, manche gesellschaftlich als nützlich erachtete Gruppen erhielten Privilegien, die eine Niederlassung auch außerhalb des Rayons erlaubten. Regelmäßig vertrieb man die Juden jedoch auch wieder aus ihren ihnen zunächst zugewiesenen Gebieten, sodass »in der Folge […] die Dörfer innerhalb des ›Siedlungsrayons‹ immer entsetzlicher überfüllt« wurden.39 Ab Einführung der Wehrpflicht für die jüdische Bevölkerung 1827 wurden bis 1856 geschätzte 60.000 jüdische Kinder vorwiegend aus armen Familien in die russische Armee eingezogen, wo sie einer brutalen und gewalttätigen Ausbildung unterzogen wurden. Nach Vollendung ihres 18. Lebensjahres mussten diese so genannten Kantonisten weitere 25 Jahre Dienst in der Armee leisten, wo sie häufig auch Opfer von Zwangstaufen wurden. Wenn sie nominal Juden bleiben konnten, hinderte man sie an der Ausübung ihrer religiösen Bräuche und Traditionen, der Kontakt zu den Familien wurde unterbunden.40 Schriftsteller, wie Karl Emil Franzos, Mendele Mocher Sforim, aber auch Joseph Roth erinnerten in ihren Texten mehrfach an diese Form moderner Zwangschristianisierung und Russifizierung  : »Bei uns Soldat zu sein ist nichts Angenehmes, aber in Rußland gar ist es ärger als der Tod, und wenn ein jüdisch Kind dort zum Militär abgestellt wird, so ist es verloren für Gott, für seine Eltern und für sich selbst.«41 Die »Judenviertel« in den Städten müssen wie die Schtetlach als Siedlungsformen mit festen Strukturen angesehen werden. Innerhalb der Ghettogrenzen war den Juden in Deutschland und in der Habsburgermonarchie Kultusfreiheit und eine eigene Gerichtsbarkeit garantiert, und insofern verbanden sich manche Maßnahmen verordneter Abgrenzung mit einer aufgrund der religiösen Praxis selbst gewählten Absonderung, die z. B. im Hinblick auf die Vorstellungen und Vorschriften über die rituelle Reinheit bzw. Unreinheit notwendig sein konnte. Johann Maier bezeichnet die Tendenz zur Selbstabsonderung überhaupt als 37 Stichwort  : Ansiedlungsrayon, in  : Neues Lexikon, S. 33 f. Die Regelungen blieben mit wenigen Änderungen bis zum Ersten Weltkrieg in Kraft. 38 Stichwort  : Ansiedlungsrayon, in  : Neues Lexikon, S. 33. 39 Ober, Ghettogeschichte, S. 17. 40 Stichwort  : Kantonisten, in  : Neues Lexikon, S. 254. 41 Karl Emil Franzos, Zwei Retter, in  : Die Juden von Barnow. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 95. Die Edition folgt der 1929 bei der J. B. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart, Berlin, erschienenen Ausgabe.

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»Grundanliegen religiöser Gemeinschaften, sich durch Abgrenzung von anderen zu definieren und sich vor Assimilation zu schützen.«42 Der damit verbundene zeitweise Rückzug von Juden aus gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen, prägnant vor allem in Zusammenhang mit der Einhaltung der Kaschruth-Bestimmungen, die gemeinsame Mahlzeiten und Gastmähler von Juden und Nichtjuden erschwerte oder verunmöglichte, wurde von (christlichen) Umgebungsgesellschaften allerdings immer wieder als überhebliche oder gar verach­ tende Haltung missdeutet. Die Ghettosituation jedenfalls brachte es trotz vieler negativer Auswirkungen mit sich, dass Juden ihre durch die religiösen Traditionen geprägten, teilweise regional variierenden Bräuche pflegen, nach den Regeln des rituellen Tages- und Jahreszyklus leben, eigene Formen der Gelehrsamkeit praktizieren und ihre autonome Gerichtsbarkeit ausüben konnten. Neben Synagoge und Mikwe war in den Ghettos auch immer eine koschere Fleischerei zu finden. Weiterhin bot das Ghetto einen gewissen Schutz vor gewalttätigen Übergriffen der christlichen Umgebung. Allein daraus wird erkennbar, dass das Ghetto trotz der Freiheitseinschränkung und der Unterdrückung sowie der in allen Herrschaftsformen autokratisch auferlegten wirtschaftlichen Bürden und Zwänge, die es für die jüdische Bevölkerung einerseits bedeutete, andererseits auch Schutzfunktion innehatte, dass aus jüdischer Sicht das Ghetto in manchen historischen Epochen wohl zumindest als ambivalent angesehen werden konnte. Obwohl das Ghetto im Laufe seiner Geschichte verschiedene Ausprägungen erfahren hatte und komplexen Wandlungsprozessen unterworfen war, war es letztlich dennoch immer mit Zwangsmaßnahmen und Unterdrückung verbunden. Diesen Umstand benennt Artur Landsberger unmissverständlich  : »Während es [das Ghetto] in früheren Zeiten mancherorts nichts anderes bedeutete als Isolierung und Absonderung, verbindet jeder moderne Kulturmensch mit diesem Worte die Vorstellung von Qual und Not, von Marterung jeder Art, von Raub und Plünderung, von Mord und Schändung.«43 Eine immanente und konstituierende Konstante des Ghettos bildet seine Begrenzung  : In städtischen Bereichen war es meist von Mauern umgeben und besaß einen einzigen Zugang bzw. ein Tor, das zu Tagesanbruch geöffnet und bei Sonnenuntergang wieder geschlossen werden musste. An christlichen Fei42 Stichwort  : Absonderung, in  : Maier, Judentum, S. 10. Vgl. dazu das auch aufgrund der zitierten Quellen aufschlussreiche Einleitungskapitel »Präludium 1822« in  : Schlör, Das Ich der Stadt, S. 11–27, bes. S. 14 ff. Schlör zitiert hier ausführlich Aktenläufe zwischen östlichen Gemeinden Preußens und dem preußischen Innenministerium in Berlin betreffend die »Abschließung« bzw. »Einschließung der Juden in abgesonderte Stadt-Reviere« (S. 14, Anm. 5). 43 Landsberger, Volk des Ghetto, S. 4. Landsberger bezieht sich nicht zuletzt auf die Ereignisse zur Zeit des Ersten Weltkriegs in Osteuropa, wo die jüdische Bevölkerung vor allem durch die russischen Truppen schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt war.



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ertagen blieben die Ghettotore geschlossen. Die Grenze trennte ein Innen von einem Außen, die jüdische von der nichtjüdischen Bevölkerung, den erweiterten privaten von einem öffentlichen Raum,44 Geschlossenheit von Offenheit, Enge von Weite. Eine Folge dieser Begrenzung des Ghettos stellte immer wieder die Überbevölkerung dar. Die räumliche Ausdehnung des Viertels war in der Regel untersagt, und so mussten Häuser aufgestockt, zusätzliche Wohnungen in die Keller verlegt werden. Die beengten Lebensverhältnisse, die neben den teilweise katastrophalen hygienischen Bedingungen zusätzlich die Brandgefahr erhöhten, werden auch in der Literatur, vor allem in Reiseschilderungen und journalistischen Arbeiten wiederholt beschrieben, in der Ghettogeschichte allerdings werden diese topographischen Besonderheiten nur dann ausführlicher dargestellt, wenn sie handlungsrelevant sind. Nicht zuletzt markieren die Ghettogrenzen Trennlinien zwischen verschiedenen kulturellen Systemen, die vor der Aufklärung, aber auch noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, überwiegend religiös motiviert sind. Im Laufe des 19. Jahrhunderts überlagerten in den Ländern Europas die Vorstellungen einheitlicher Nationalkulturen allmählich die bis dahin geltenden traditionellen kulturellen Ausdrucksformen und sozialen Lebensverhältnisse. Doch in den Schtetlach und Dörfern sowie Städten mit jüdischen Minderheiten trennten die realen und symbolischen Grenzen nach wie vor die verschiedenen, wenngleich durch ein räumliches Nebeneinander gekennzeichneten kulturellen Bereiche. Die Grenzen waren aber variabler geworden, ihr Blockierungspotenzial erwies sich bis zu einem bestimmten Grad flexibel, und so bildeten sich in ihrer Umgebung nicht selten neuartige Phänomene heraus, die – um einen Terminus der Postcolonial Theory zu verwenden – als hybrid zu bezeichnen sind. Als augenfällige Beispiele wären in diesem Zusammenhang die Synagogenarchitektur im 19. Jahrhundert, die Einführung deutschsprachiger Predigten oder die Reformen der Synagogalmusik vor allem durch Salomon Sulzer zu nennen. Da die jüdische Bevölkerung des Schtetls oder Dorfs mit den nichtjüdischen Bewohnern der Umgebung allein durch die alltäglichen Begegnungen und die wirtschaftlichen Kontakte in permanentem Austausch stand, darf man zumindest für bestimmte Bereiche auch kulturelle Transfers und Transformationen vermuten.45 Die damit einhergehenden Phänomene werden auch in der Literatur immer wieder beschrieben. Leopold Kompert erzählt zum 44 Durch diese Konstellation war auch die Aufhebung des Trageverbots am Sabbat gewährleistet. Die Begrenzung ermöglichte es gesetzestreuen Juden, sich innerhalb der Mauern und Tore, die in dieser Funktion den erweiterten Raum des Privaten absteckten, zu bewegen. Vgl. dazu ausführlicher den entsprechenden Kapitelabschnitt über den »Eruv« in Kapitel IV. 45 Über kulturelle Austausch- bzw. Übersetzungsphänomene siehe Michael Hilton, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich«. 2000 Jahre christlicher Einfluss auf das jüdische Leben. Berlin 2000. Über kulturelle Transferbewegungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Lebensbereichen

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Beispiel in seiner Ghettonovelle Judith die Zweite von einem christlichen Wirt, der »mehr Jud’ als Christ« ist, da er »im Ghetto geboren und ›aufgewachsen‹ […] und mit den Sitten, Gebräuchen und Zeremonien der Leute ganz vertraut« ist und deshalb von den jüdischen Bewohnern des Ghettos auch als »Rebb Christoph« betitelt wird.46 Beobachtet man kulturelle Transfers an jenen markanten Schnittstellen, an den Rändern unterschiedlicher Sphären, an denen bestehende Blockierungen verschoben oder aufgehoben werden, treten Austauschprozesse sehr deutlich in den Blickpunkt. In der Umgebung durchlässig werdender Grenzen lässt sich daher die Stabilität kollektiver Identitäten in Bezug auf ihre Normen und Werthaltungen ebenso überprüfen wie das damit verbundene Potenzial kultureller Zeichen, Codes, Texte oder Verhaltensformen, in neuen Kontexten wirksam zu werden. Nicht nur die Zeichen etc. verändern sich durch Kontextwechsel, sondern mittelbar auch die Kontexte selbst.47 Übertragen auf gesellschaftliche Entwicklungen hieße das in der Folge, dass durch kulturelle Transfers in der Regel keine einseitigen Assimilationsprozesse ausgelöst werden, sondern stets wechselseitiger Austausch und Wandel. Es ist jedoch davon auszugehen, dass solche Prozesse selten reibungslos und linear oder in einem gleichmäßigem Verhältnis verlaufen, dass gerade in sensiblen, identitätsbildenden Bereichen wie Religion und Brauchtum versucht wird, Austausch zur Gänze zu blockieren, und dass manche Transfers stufenweise und erst über einen Zeitraum von mehreren Generationen wirksam werden. Gerade im Hinblick auf die zeitliche Dimension gesellschaftlichen und kulturellen Wandels ist die Tendenz zu beobachten, das sich Verändernde, vielleicht zu Verlierende, zu konservieren und/oder der Bedrohung des Vergessens zu entreißen. Wenn also ab Ende des 18. Jahrhunderts im übertragenen Sinn an den Toren des Ghettos gerüttelt wird, bedeutete dies keineswegs allen Juden Befreiung im positiven Sinn, wenngleich die Lockerung der Jahrhunderte langen Unterdrückungsmaßnahmen und die angestrebte bürgerliche Gleichberechtigung begrüßt wurden. So sollen beispielsweise die Juden von Verona der Überlieferung nach jährlich »den Tag ihrer Einschließung ins G[hetto]«48 gefeiert haben. Anlässlich der Zerstörung der Ghettomauern siehe Wolfgang Schmale, Martina Steer (Hg.), Kulturtransfer und Jüdische Geschichte. Frankfurt am Main, New York 2006. 46 Leopold Kompert, Judith die Zweite, in  : Leopold Komperts Ausgewählte Werke in vier Bänden, mit einer biographischen Einleitung von Dr. Stefan Hock. Leipzig [1906], I/S. 4. 47 Vgl. hierzu Federico Celestini, Um-deutungen. Transfer als Kontextwechsel mehrfach kodierbarer kultureller Elemente, in  : Celestini, Mitterbauer, Ver-rückte Kulturen, S. 37–53. Vgl. weiterhin zu relevanten Begriffen der Kulturtransferforschung  : Werner Suppanz, Transfer, Zirkulation, Blockierung, in  : Celestini, Mitterbauer, Ver-rückte Kulturen, S. 28 ff. 48 Ghetto und Judenviertel, in  : Encyclopaedia Judaica, S. 393.



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an manchen Orten durch französische revolutionäre Truppen soll es auch zu Protesten von jüdischer Seite gekommen sein.49 Die sich im Zuge dieser Entwicklungen abzeichnenden Konflikte, ausgelöst durch das Auseinanderbrechen der bis dahin herrschenden Einheit »zugunsten einer Vielfalt von Richtungen innerhalb des Judentums«,50 boten in reichem Maße Stoff für die ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstehende säkulare jüdische Literatur. Diese bildete, wie es zunächst den Anschein hatte und von der Allgemeinen Zeitung des Judentums gefordert wurde, ein erstes Paradigma mit historisch-heroischen Erzählungen und Romanen aus, das sich letztlich aber nicht in dem erwarteten Maße entwickelte.51 Als tragfähig im Sinne des Realismus und »der westeuropäischen Regionalisierung der Erzählliteratur«52 sowie einer auch damit verbundenen publikumsbezogenen Popularität sollte sich hingegen die Dorf- und Ghettogeschichte erweisen.53 Sie steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. 2. Ghettogeschichte Über die Anfänge der Ghettogeschichte liegen unterschiedliche Thesen und Interpretationen vor, was in erster Linie mit den variablen bzw. fehlenden Definitionen dieser Gattung zusammenzuhängen scheint. Frühe umfangreichere Einlassungen dazu erschienen bereits in den 1880er-Jahren, erste groß angelegte wissenschaftliche Auseinandersetzungen in den 1930er-Jahren.54 In den l­etzten 49 50 51 52 53

Ghetto, in  : Schoeps, Neues Lexikon, S. 169. Glasenapp, Judengasse, S. 285. Horch, Erzählliteratur, S. 139. Horch, Erzählliteratur, S. 166. Horch, Erzählliteratur, S. 165. Horch stellt in seiner Untersuchung über die Literaturkritik der Allgemeinen Zeitung des Judentums diese zwei propagierten Paradigmen fest. Ein drittes Paradigma für den »modernen jüdischen Roman« sei hingegen vergeblich gesucht worden. 54 Wilhelm Goldbaum, Ghetto-Poeten, in  : ders., Jüdische Physiognomien. Wien, Teschen 1884  ; Ghetto und Ghettodichter, Vortrag gehalten im Verein für jüdische Geschichte und Literatur in Karlsruhe […] von Rabbiner L. Treitel, hg. v. M. Brann. Breslau 1891  ; Karl Emil Franzos, Über A. Bernstein, in  : Allgemeine Zeitung des Judentums 59 (1895), S. 5–8, S. 56–58, S. 67 f., S. 92–94, S. 116–118, S. 128–130, S. 140–142, S. 247–249, S. 259–261, S. 273 f., S. 285–287, S. 295 f., S.  308 f., S.  330 f.; Wilhelm Stoffers, Juden und Ghetto in der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Weltkriegs. Nymwegen 1939  ; Mina Schiffmann, Die deutsche Ghettogeschichte. Wien 1931 (Diss. Phil)  ; Oskar Donath, Böhmische Dorfjuden. Brünn 1926. Donath beleuchtet – ähnlich wie Stoffers für den deutschsprachigen Raum – in dem Kapitel über »Dorfjuden[n] in der Literatur« nicht nur Texte der Ghettoliteratur, sondern teilweise antijüdische bzw. antisemitische Texte tschechischer Autoren, die nur vereinzelt jüdische Figuren in ihre Erzählungen aufgenommen haben.

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25 Jahren erfuhr die Ghettogeschichte nicht zuletzt aufgrund der wichtigen Arbeiten von Hans Otto Horch und Itta Shedletzky vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Die bisher umfangreichste Studie über die Entstehung und die vielfältigen Ausprägungen der Ghettoliteratur legte 1996 Gabriele von Glasenapp vor.55 Sie setzt den Beginn der deutschsprachig-jüdischen Literatur mit dem Erscheinen der ersten Ghettoromane von Berthold Auerbach, Spinoza. Ein historischer Roman (1837) und Dichter und Kaufmann. Ein Lebensgemälde (1840), Ende der 1830er-Jahre an.56 1840 legte Jakob Kaufmann die Erzählung Der böhmische Dorfjude vor, die nach Einschätzung von Hans Otto Horch wohl als »erste jüdische Dorfgeschichte« gelten kann.57 Mit Leopold Komperts Ghettogeschichten erlebt die Gattung dann ab Ende der 1840er-Jahre einen bedeutenden Aufschwung, der bis zum Ersten Weltkrieg anhalten sollte. Schon die ersten Ghettogeschichten »sind geprägt von den Auseinandersetzungen um die deutsche Aufklärung, der jüdischen Emanzipation sowie dem daraus resultierenden Grad der Akkulturation bzw. Assimilation«,58 und dies darf wohl als wesentliches inhaltliches Kriterium für alle Texte dieses Genres behauptet werden. In der Forschungsliteratur wurde mehrfach und schon sehr früh – gelegentlich auch abwertend59 –auf die didaktisch-pädagogische Tendenz in der Ghettoliteratur hingewiesen. Da diese Texte letztlich allerdings nur im Kontext der außerliterarischen Debatten über jüdische Identitätskonzeptionen zu verstehen sind, muss dieser vermittelnde Gestus des Schreibens gewissermaßen als ästhetisches Grundelement dieser Gattung akzeptiert werden. Diese neue literarische Form, die sich »an den gängigen zeitgenössischen Prosaformen orientierte«,60 kam in erster Linie einem Bedürfnis nach diskursiver Auseinandersetzung entgegen – und gerade deshalb ist dieses Genre für eine kulturwissenschaftlich ausgerich55 Glasenapp hat ihrer Untersuchung eine umfangreiche Bibliographie zur Ghettoliteratur angefügt, die nicht nur Buchausgaben, sondern auch Vor- und Teilabdrucke in Zeitschriften berücksichtigt. 56 Diese Einschätzung vertrat mit Einschränkungen bereits Stefan Hock, Herausgeber der gesammelten Werke Leopold Komperts. Stefan Hock, Einleitung, in  : Leopold Komperts sämtliche Werke in zehn Bänden. Erster Band. Leipzig [o. J.], S. XXIV f. Hock nennt als Vorläufer von Kompert noch Aron Bernstein und Hermann Schiff sowie die Sagen und Märchen von Isidor Heller, Siegfried Kapper und I. S. Tauber. 57 Horch, Erzählliteratur, S. 166. 58 Glasenapp, Judengasse, S. 285. 59 Z. B. W. G. Sebald, Westwärts – Ostwärts. Aporien deutschsprachiger Ghettogeschichten, in  : ders., Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Salzburg, Wien 1991, S. 40– 64, bes. S. 42 f. 60 Primus-Heinz Kucher, Tradition, Emanzipation und Erinnerung. Reflexionsebenen von Ghettogeschichten in der österreichischen Literatur, in  : Wallas, Jüdische Identitäten, S. 17–33, hier S. 22.



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tete Literaturwissenschaft, in der Fragen der literarischen Wertung eher in den Hintergrund treten, von besonderem Interesse. Das Argument, dass die zeitgenössische Popularität der Gattung einem gesteigerten Exotismusbedürfnis der Epoche geschuldet sei,61 ist aufgrund einer allgemeinen zeitgenössischen Begeisterung für unbekannte Regionen und Kulturen nicht von der Hand zu weisen. Als wahrscheinlicher ist jedoch anzunehmen, dass das wohl überwiegend städtische (jüdische) Lesepublikum die vorgeführten Konflikte aus einer räumlichen Distanz zum Ghetto oder Schtetl erleben wollte. Man konnte sich zwar mit den vorgeführten (jüdischen) Positionen identifizieren oder zumindest dazu Stellung beziehen, sich aber ebenso in sicherem Abstand zu der erzählten fernen Welt wähnen und davon ausgehen, mit den aus urbaner Sicht durchaus antiquiert anmutenden dargestellten Konstellationen doch nichts gemein zu haben. Unter diesem Aspekt lassen sich auch jene Texte, die vorwiegend als harmlose Genrebilder konzipiert sind und weniger auf die Konflikte im Zuge der Säkularisierung und Emanzipation abheben, wie z. B. die Jüdischen Dorfgeschichten von Arthur Kahn,62 als Teil des Diskurses über eine zeitgemäße jüdische Identität lesen. Sich als »akkulturiert« verstehende Leser hatten die Möglichkeit, etwaige Konflikte in der eigenen Familie, z. B. Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, in der Lektüre zu ›wiederholen‹ oder nachzuvollziehen. Dass ähnlich gelagerte Debatten  – wenngleich unter anderen Prämissen  – auch in den christlichen Gesellschaften der Jahrhundertwende eine wesentliche Rolle spielten, wird in der Forschung meist vernachlässigt. Allein ein Blick in christliche Almanache, Tugendbücher oder Periodika um 1900 lässt darauf schließen, dass die Positionen und Forderungen der Aufklärung in weiten Kreisen der Bevölkerung noch längst nicht in dem Maße verankert waren, als dass man von einer vollständig säkularen Gesellschaft hätte sprechen können. Der Bereich des Religiösen war für Christen und Juden in seinen Grundfesten bis ins 20. Jahrhundert hinein in vielen Bereichen unantastbar geblieben. Die gesellschaftliche Realität, das, was man mitunter als ›Volksfrömmigkeit‹ bezeichnet, und die häusliche religiöse Praxis standen in Widerspruch zu den philosophischen Ausrufungen über den Tod Gottes und die daraus resultierenden Konsequenzen. 2.1 Entstehung und definitorische Annäherung

Die Entstehung und Voraussetzungen der Ghettogeschichte werden in der Forschung mit leichten Verschiebungen unterschiedlich datiert, vielfach hängt das mit der Berücksichtigung von schwer einzuordnenden Texten zusammen, die 61 Vgl. z. B. Höfler, Dorfgeher, S. 241. 62 Arthur Kahn, Jüdische Dorfgeschichten, Berlin 1910.

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man je nach Auffassung noch nicht oder schon der Ghettoliteratur zurechnet.63 Einen markanten Text in diesem Zusammenhang bildet Heinrich Heines Rabbi von Bacherach. Folgt man dem von der Allgemeinen Zeitung des Judentums lange Zeit favorisierten Paradigma einer historisch-heroischen Poetik für die jüdische Erzählkunst des 19.  Jahrhunderts,64 wäre Heines Text wohl eher dort anzusiedeln als im Bereich der Ghettoliteratur. Versteht man die historische Komponente hingegen als Teilaspekt der literarischen Topographie65  – dieser Ansatz wird hier vertreten – und orientiert man sich ausschließlich an der L ­ okalisierung der erzählten Handlung, so wäre der Rabbi von Bacherach als Vorläufertext der Ghettogeschichte durchaus von Relevanz.66 Kenneth Ober allerdings, der als ein Definitionskriterium der Ghettogeschichte festlegt, »der Autor [müsse] ihm selbst persönlich vertraute, im wesentlichen zeitgenössische, Verhältnisse wirklichkeitsgetreu schildern«, sieht in Heines Erzählfragment lediglich eine »pseudohistorische Phantasie[…]«67 und klammert es deshalb aus seinen Überlegungen aus. Weiterhin gelten Ober als Definitionsmerkmale des Genres die literarische Kurzform, die vereinzelt durch Romane erweitert werde, die jüdische Herkunft des Autors,68 die Abfassung in »der Sprache einer der nichtjüdischen Mehrheiten« und die Lokalisierung in einem »typisch jüdische[n] Viertel«.69 Warum Ober alle in jiddischer Sprache verfassten Texte nicht als Ghettogeschichten gelten lassen will, bleibt offen  ; eine immanente Logik dieser Argumentation ist nicht erkennbar. In zeitgenössischen Sammlungen von Ghettogeschichten wur-

63 Einen Problemaufriss zum Stand der Forschung und zur »Stellung der Ghettogeschichte innerhalb der jüdischen Literaturdiskussion« gibt von Glasenapp, Judengasse, S. 1–6 und S. 23–32. 64 Vgl. dazu Horch, Erzählliteratur, Kap. V. Das historisch-heroische Genre als erstes Paradigma jüdischer Erzählliteratur – der Idealismus als poetologische Leitidee, S. 131–164. 65 Israel Bartal spricht von einer »Imagined Geography« des (literarischen) Schtetls, die sich im Spannungsfeld zwischen Mythologisierung und Realität entwickelt hat. Vgl. Israel Bartal, Imagined Geography  : The Shtetl, Myth, and Reality, in  : Katz, The Shtetl, S. 179–192. 66 Mit Vorläufertexten und Ursprüngen der Ghettogeschichte setzen sich letztlich alle Arbeiten, die in diesem thematischen Umfeld angesiedelt sind, auseinander. Es wird im Folgenden aber darauf verzichtet, die in Nuancen unterschiedlichen Positionen zu referieren, da sich daraus keine neuen Perspektiven für die hier relevanten Fragestellungen ergeben. Primus-Heinz Kucher vertritt z. B. auch die Meinung, dass der Rabbi von Bacherach als Vorläufertext anzusehen sei  ; vgl. dazu Kucher, Tradition, Emanzipation, Erinnerung, S. 19–21. 67 Ober, Ghettogeschichte, S. 12. 68 Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu Gabriele von Glasenapp, die ein Kapitel ihrer Studie Texten nichtjüdischer Autoren wie Leopold von Sacher-Masoch widmet. Auch ältere »Theoretiker« wie L. Treitel, die sich mit dem Genre auseinandersetzen, sehen in der jüdischen Herkunft der Autoren keine zwingende Voraussetzung. 69 Ober, Ghettogeschichte, S. 12.



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den jiddische Texte in Übersetzungen jedenfalls immer wieder aufgenommen70 – ebenso wie im anlässlich des XIV.  Zionistenkongresses in Wien herausgegebenen Katalog zur jüdischen Literatur.71 Einigkeit herrscht in der Forschung hingegen über die Verortung des Geschehens in einem »jüdischen Viertel« – das können ein Dorf, ein Schetl, die Gasse, viel seltener ein Ghetto als hermetisch abgeschlossener Bezirk sein. Dass sich daraus, wie manchmal behauptet wird, eine allgemeine Erzählintention ableiten ließe, die auf eine möglichst genaue ethnographische Beschreibung einer spezifischen Siedlungsform gerichtet sei, darf allerdings bezweifelt werden. Die realitätsnahe Wiedergabe tritt vielmehr zurück hinter eine »jeweils […] dem Stand der Emanzipations- und Reformdiskussion entsprechende Funktion«.72 Das impliziert, dass das Ghetto manchmal »nicht mehr als räumliche Komponente« aufgefasst wird, sondern »in seiner Bedeutung eines geistigen Ghettos, aus dem es auszubrechen gilt.«73 Dementsprechend lassen sich verschiedene Erzählhaltungen ausmachen, die u. a. als »nostalgisch, ironisch, kritisch, didaktisch«74 zu bezeichnen sind. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine nicht geringe Zahl von Texten, wenn nicht gar die Mehrzahl, sich durch eine grundsätzlich affirmative Haltung auszeichnet. Selbst wenn ein Autor wie Karl Emil Franzos, der gerne als deutsch-national und Anhänger einer weitreichenden ›Assimilation‹ apostrophiert wird, in seinen galizischen Ghettogeschichten Fanatismus und Aberglauben chassidischer Provenienz anprangert, schafft er durch viele seiner Protagonisten doch immer ein positives Gegengewicht zu den von ihm kritisierten Auswüchsen und Zuständen.75 Man kann davon ausgehen, dass letztlich alle Autoren von Ghettogeschichten in einem solidarischen Verhältnis stehen zu dem von ihnen gewählten Erzählgegenstand, dessen allmähliches Verschwinden sie mindestens bedauern, niemals aber befürworten. Sofern die äußeren Umstände der Unterdrückung und der wirtschaftlichen Not überhaupt thematisiert werden, werden sie immer und einhellig verurteilt. Die spezifische Lebensform, die sich über Jahrhunderte im 70 Vgl. z. B. Artur Landsberger (Hg.), Das Ghettobuch. Die schönsten Geschichten aus dem Ghetto. München 1914. Landsberger bezieht sich ausdrücklich auf die »neuhebräische und jungjüdische Literatur« und nennt die Autoren Smolenski, Bialik, Abrahamowicz (Pseudonym  : Mendele Mocher Sforim) oder Jizchak Leib Perez. 71 Ein Viertel-Jahrhundert jüdischer Literatur 1900/1925. 72 Horch, Erzählliteratur, S. 168. 73 Bernhard Weikmann, Leo Herzberg-Fränkel und Nathan Samuely. Zwei Autoren der galizischen Ghettogeschichte im Vergleich. Graz 2000 [Diplomarbeit, unveröff. Ms.], S. 12. 74 Höfler, Dorfgeher, S. 240. Siehe dazu auch Horch, Erzählliteratur, S. 166. 75 Vgl. zu dieser Problematik Petra Ernst, »Ach  ! Was wißt ihr Gebildeten in den großen Städten …«. Zum Motiv des Lesens in ausgewählten Prosatexten von Karl Emil Franzos, in  : Ernst, Karl Emil Franzos, S. 77–101, v. a. S. 77–79.

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Schtetl, Ghetto oder Dorf herausgebildet hatte, wird aber selten in Frage gestellt. Einzig der aus der Aufklärung entstandene und politisch vor allem in der Habsburgermonarchie durch Joseph  II. wirksam gewordene Bildungsgedanke wird von den meisten Autoren von Ghettogeschichten im Sinne der Verbesserung der Lebensumstände favorisiert. Insofern repräsentiert das erzählte Ghetto, Schtetl oder Dorf selbst vor dem Hintergrund der dargestellten Konflikte einen Raum der Herkunft, der Familie, der Religiosität, der Gemeinschaft und der Tradition und avanciert mithin zu einer Sinn stiftenden Institution kollektiven Zusammenlebens. Nichtsdestoweniger wird als seine zentrale immanente topographische Kategorie die Grenze aufgefasst, die in allen Texten explizit oder implizit stets aufs Neue ausverhandelt wird.76 Die Grenze kann sich verschieben, sie kann sich öffnen und wieder geschlossen werden  ; niemals aber kann sie zur Gänze verschwinden. Denn mit dem Verschwinden der Grenze würde das Ghetto, das Schtetl, das Dorf als erzählter Raum aufhören zu existieren. Aber nur der erzählte Raum eignet sich als Interpretament im Rahmen eines Diskurses über Identitätsentwürfe, nicht die Materialität eines (unbestimmten) vorgängigen Raums. Allein dieses narratologisch wirksame Potenzial unterscheidet die Ghettogeschichte im Kern von der nichtjüdischen Dorfgeschichte. Zu fragen wäre weiterhin, ob in diesem Zusammenhang auch eine von Primus-Heinz Kucher ins Feld geführte Typologie der Ghettogeschichte von Relevanz ist. Kucher identifiziert in der Ghettogeschichte einen »narratologischen Ansatz«, in dem mündliche Überlieferung, Oralität in Schrift verwandelt wird und dabei ihre Bindung an genau jene von Benjamin beschworene Formen der Überlieferung, vor allem der Rituale des Vortrags, beizubehalten versucht.77 76 Dass der Grenze in diesem erzählerischen Kontext bis heute eine tragende Funktion zukommt, belegt besonders eindrucksvoll und mit einem kuriosen Bild Jonathan Safran Foer in seinem Roman Everything is Illuminated (2000), dt. u. d. T. Alles ist erleuchtet. Köln 2003. Siehe S. 22  : »Alle so genannten heiligen Handlungen […] fanden im Jüdischen Viertel statt. Jene Tätigkeiten dagegen, die zur Routine des täglichen Lebens gehörten […], fanden im Menschlichen Dreiviertel statt. Auf der Grenzlinie zwischen den beiden stand die Aufrechte Synagoge […] Wenn sich das Verhältnis zwischen Heiligem und Weltlichem verschob, […] verschob sich auch die Grenzlinie […] und die Synagoge wurde angehoben und versetzt. 1783 brachte man Räder an dem Gebäude an, um beim ständigen Hin und Her des Schtetls zwischen jüdischem und menschlichem Leben weniger Kraft zu vergeuden.« 77 Kucher, Tradition, Emanzipation und Erinnerung, S. 23. Kucher bezieht sich auf Walter Benjamin, Der Erzähler, in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2/2, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main 1980, S.  438–465. Dieser Ansatz erscheint allein aufgrund der Erzählerstimmen, die sich in Ghettogeschichten häufig autobiographisch inszenieren, sehr plausibel. Dabei muss jedoch das methodisch problematische Potenzial der Oral Tradition im Rahmen



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Mit der vielfach festzustellenden Empathie der Autoren gegenüber ihrem Erzählgegenstand und der manchmal auch explizit formulierten Intention, Unbekanntes und Vergessenes (wieder) sichtbar zu machen, ist wohl zu erklären, dass in Ghettogeschichten häufig auf eine komplexe ästhetische Ausarbeitung verzichtet wird. Im Vordergrund stehen geläufige Plots und stringent erzählte Handlungen, die nicht zuletzt auf die Vermittlung jüdischer Lebensformen abzielen. Ghettogeschichten sind aus ästhetischer Sicht in den meisten ­Fällen der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen, sie können als populärer Lesestoff bezeichnet werden, ohne sie jedoch »als epigonales Phänomen in eine Reihe mit der biedermeierlichen Novellenflut«78 zu stellen. Die immer wieder konstatierte Nähe zur Dorfgeschichte79 scheint auf den ersten Blick aufgrund gewisser Analogien – z. B. die Begrenzung einer Handlung auf das Dorf oder die Kleinstadt, Lokalkolorit oder »die mit Erinnerungsappellen versehene Idyllisierung und Sentimentalisierung der Lebenswelt«80 – nicht abwegig. Doch allein ein Blick auf die historischen Umstände, auf die die Ghettogeschichten einerseits reagieren und die sie andererseits diskursiv mitgestalten, sowie auf das daraus resultierende Differenzierungspotenzial müssen zu dem Schluss führen, dass die Ghettogeschichte nicht »einen Teil der europäischen Dorfgeschichte«,81 sondern ein eigenständiges Phänomen darstellt. Dominiert in vielen Ghettogeschichten unabhängig von der jeweiligen Erzählhaltung, die von affirmativ bis radikal-aufklärerisch reicht, auf einer ersten Ebene häufig eine sich sachlich gebende Schilderung »[j]üdischen Lebens«,82 womit für eine städtische jüdische Leserschaft zunächst einmal »Lücken im jüdischen Wissen« gefüllt und das »geschwächte jüdische Bewußtsein gestärkt«83 werden konnte, so werden auf einer zweiten Ebene schon in frühen Texten dieses Genres Konstellationen sichtbar, die die Brüchigkeit der unveränderlich geglaubten Strukturen, der Traditionen und sozialen Bindungen konturieren.

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fiktionalen Erzählens stets mitgedacht werden. Vgl. dazu weiter unten Kap.  2.2. Ghettogeschichte  : Medium der Erinnerung. Kucher, Tradition, Emanzipation und Erinnerung, S. 22. Vgl. z. B. L. Kahn, Tradition and Modernity in the German Ghetto Novel, in  : Judaism (1979) 28, S. 31–41, oder Gerhard Kurz, Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien. Zu Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden, in  : Hans Otto Horch, Conditio Judaica  : Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg  : interdisziplinäres Symposium der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg, Teil 2. Tübingen 1989, S. 247–257, bes. S. 251. Kurz, Lebensbilder, S. 251. Kurz, Lebensbilder, S. 251. So lautet z. B. der Titel einer Sammlung von Ghettogeschichten Leopold Sacher-Masochs  : Jüdisches Leben in Wort und Bild. [o. O] 1892. Shedletzky, Literaturdiskussion, S. 331 f.

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Meist geschieht dies in Stellvertreterfunktion am Beispiel des Generationenkonflikts oder der Geschichte eines Aufbruchs, einer geglückten oder gescheiterten Karriere außerhalb des Ghettos. Selbst die als »orthodoxe ›admonitio judaica‹« zu verstehenden Erzählungen Arthur Kahns,84 die das historisch schon entrückte, von Religiosität durchdrungene Judentum in seiner positiven Wirkmächtigkeit nachvollziehbar machen wollen, geben durch wiederholte Hinweise auf die Situation der Gegenwart des Autors zu verstehen, dass das ›altjüdische Dorf‹ unwiederbringlich verloren sei.85 Unterschiedlich gewichtet erscheint je nach Position des Autors die objektivierende Darstellung von regionalem Minhag, religiösen Traditionen und sozialen Strukturen. In diesem Zusammenhang erfüllt die Ghettogeschichte zwei Funktionen  : Einerseits vergegenwärtigt sie vergessene Tradition, möchte diese mitunter auch wiederbeleben, andererseits entwirft sie Bilder eines verhältnismäßig intakten Gemeinwesens, das auf dem Grundvertrauen der Menschen untereinander, einer strengen sozialen Kontrolle und einer selbst in Konfliktsituationen unerschütterlichen Verbundenheit mit dem Glauben beruht. Da die Dynamik in den urbanen Zentren des ausgehenden 19.  Jahrhunderts die Kontinuität solcher Vorstellungen sozialer und spiritueller Geborgenheit permanent unterlief, konnten Ghettogeschichten mitunter einen medialen Beitrag zur Kompensation dieses Verlusts leisten, indem sie z. B. bürgerlich-liberalen Lesern gewissermaßen säkular gewendete Ursprungsmythen anboten.86 Denn die Herkunftsorte vieler Familien, die in städtischer Umgebung innerhalb von ein oder zwei Generationen gesellschaftlich aufgestiegen waren, lagen  – zumindest in der Habsburgermonarchie  – häufig in den Schtetlach der Kronländer oder auf dem Land. Die Ghettogeschichten erinnern an traditionelle jüdische Lebenswelten, weisen andererseits aber schon in Richtung einer Emanzipation, die nicht nur staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten bringen, sondern zu weitreichenden Verlusten althergebrachten Wissens führen sollte. Insofern kommt der Ghettogeschichte eine wesentliche Rolle zu hinsichtlich der Herausbildung einer »jüdischen ›Gesinnung‹, [eines] jüdischen ›Gemüts‹«, die im Zuge der Modernisierungsprozesse des 19.  Jahrhun84 Horch, Erzählliteratur, S. 167. 85 Kahns Erzählungen erschienen überwiegend nach 1900. 86 Die biblische, abrahamitische Ursprungserzählung verlor für viele Menschen im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung. Insofern konnten familiäre Herkunftsgeschichten mit ihren nachvollziehbaren Genealogien u. a. einen säkularen Ersatz für verloren gegangene kulturelle Bindungen anbieten. Ghettogeschichten, die sich ja auf allgemeine historische Entwicklungen beziehen, konnten darauf Bezug nehmen und gerade mittels der implizit angelegten »Damals-Heute-Deixis« zeitgenössische Leser darauf hinweisen, dass Ghetto, Schtetl, jüdisches Dorf, also Orte, an denen religiöse Observanz noch weitgehend Geltung hatte, gleichwohl einen Ausgangspunkt ihrer eigenen säkularen (Familien)-Geschichte bildeten.



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derts allmählich »an die Stelle der lebendigen Verbundenheit mit der jüdischen Tradition« treten.87 Eine solche Funktion kann ein literarischer Text allerdings nur dann übernehmen, wenn er in hohem Maße mit Bedeutung aufgeladen ist. Diese Bedeutungsfülle wird in den Ghettogeschichten dem Ort selbst übertragen bzw. den inhärenten räumlichen Strukturen des erzählten Orts. 2.2 Ghettogeschichte – Medium der Erinnerung

Seit über 20 Jahren fokussieren kultur- und geisteswissenschaftliche Fragestel­ lungen verschiedenste Ausprägungen kollektiven Erinnerns. Der Gedächtnis-­ Begriff  – zurückreichend auf Maurice Halbwachs  – er sprach schon in den 1920er-Jahren von »mémoire collective« – wurde auf der Basis eines vor allem durch Jan und Aleida Assmann in unzähligen Publikationen entwickelten theoretischen Gerüsts zu einem Leitbegriff in Zusammenhang mit der kritischen Analyse »gesellschaftliche[r] Deutungsmuster«88 im Kontext identitätsbezogener Vergangenheitsbilder. In historischen Darstellungen, die nach wie vor noch häufig nationalen Konzeptionen verhaftet sind und diese selbst zu wenig reflektieren – Heidemarie Uhl hat darauf vor allem in Zusammenhang mit den Kompendien nationaler Gedächtnisorte aufmerksam gemacht89 –, spielen Fragen nach der Durchschlagskraft von hegemonialen Geschichtsvorstellungen ebenso eine Rolle wie die Analyse von Symbolen und Diskursen entsprechender Erinnerungsprozesse. Die repräsentativen Ausdrucksformen kollektiven Gedächtnisses sind, wie Jan Assmann festhält, an Wert- und wohl auch Sinnperspektiven gebunden, die den kulturellen Wissensvorrat strukturieren  : In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar  : für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar und in der Wertperspektive ihrer iden87 Shedletzky, S. 332 f. Dass dieser Aspekt von »Gefühl« im Sinne eines affektiven Identitätskriteriums v. a. um die Jahrhundertwende generell von Bedeutung gewesen zu sein scheint, betont Shedletzky u. a. mit einem Hinweis auf Carl Schorskes These einer Gefühlskultur im Österreich des Fin de siècle. Weiterhin zitiert Shedletzky den Historiker Max Wiener, der vom »Judentum als Stimmung« spricht. Vgl. dazu Max Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Berlin 1933, Neuausg. hg. v. Daniel Weidner. Berlin 2002. 88 Eva Maria Hois, et al. Gedächtnis/Erinnerung und Identität  – Konstruktionen kollektiver Identität in einer pluriethnischen Region, in  : Kultur, Identität, Differenz, hg. v. Moritz Csáky, Astrid Kury, Ulrich Tragatschnig. Innsbruck et al. 2004, S. 215–254, hier S. 215. 89 Heidemarie Uhl, Gedächtnis – Konstruktion kollektiver Vergangenheit im sozialen Raum, in  : Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen, hg. v. Christine Lutter, Margit Szöllösi-Janze, Heidemarie Uhl, [Querschnitte  ; 15]. Innsbruck et al. 2004, S.  139–158, v. a. S. 148–151.

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tifikatorischen Aneignung hervortreten läßt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill.90

Assmann spricht hier von »Gesellschaft« im Singular. Tatsächlich besteht aber genau darin ein grundlegendes Problem, dem sich letztlich auch die historisch ausgerichtete Gedächtnisforschung bisher nur unzureichend zu entziehen vermochte. Denn sie untersucht in erster Linie kanonisierte und damit ›offizielle‹ Ausdrucksformen, d. h. solche, die qua Deutungsmacht – etwa durch Politiker oder politische Systeme, aber auch durch Historiographen und so genannte Kulturvermittler  – dazu bestimmt worden sind, kollektive Erinnerung zu generieren und zu binden. Damit schreibt sie mitunter gerade jenes konstruierte Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart fort, das sie eigentlich kritisch in den Blick nehmen will. In modernen, komplexen Gesellschaften, die in Bezug auf Herkunft, Religion, Geschlecht, Generation, Sprache etc. multiperspektivisch ausdifferenziert sind, hat das zur Folge, dass viele gesellschaftliche Gruppen ihren kulturellen Erinnerungen keinen sichtbaren Ort zuweisen können. Entweder, weil sie im Sinne Foucaults nicht dazu ermächtigt sind oder weil ihnen die pragmatische Durchsetzungskraft fehlt. Obwohl Jan Assmann sechs Merkmale für das »kulturelle Gedächtnis«, das sich zuerst durch einen übergreifenden Zeithorizont auszeichnet, formuliert hat, nämlich ›Rekonstruktivität‹, ›Geformtheit‹, ›Organisiertheit‹, ›Verbindlichkeit‹, ›Reflexivität‹ und schließlich ›Identitätskonkretheit‹ oder ›Gruppenbezogenheit‹, wird gerade letztere häufig zu wenig berücksichtigt. Das bedeutet gesamtgesellschaftlich, dass der Übergang von einem kommunikativen (sozialen) zu einem kulturellen Gedächtnis vielfach nur unzureichend und fragmentarisch erfolgt.91 Die entsprechenden 90 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in  : ders., Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 16. Zitiert nach Uhl, Gedächtnis, S. 140. 91 Kulturelles Gedächtnis definiert Assmann als Sammelbegriff für eine Verknüpfung von Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis. Ersteres zeichnet sich aus durch materielle Träger, es ist entfristet, transgenerationell, drückt sich in Symbolen und Zeichen, Monumenten, Jahrestagen, performativ durch Riten und Alltagspraxis sowie durch Texte und Bilder aus. Das Speichergedächtnis bildet sich durch Sicherungsformen der Wiederholung wie symbolische Praktiken, Traditionen, Riten, Kanonisierung von Artefakten. Das Kulturelle Gedächtnis entwickelt Sicherungsformen der Dauer in Form von materialen Repräsentationen, z. B. Bücher, Bilder, Filme, Bibliotheken, Museen, Archive. Das soziale oder kommunikative Gedächtnis bezieht sich hingegen auf die Kommunikation von Personen, es ist befristet auf ca. 80–100 Jahre, entspricht also dem Generationenverhältnis zwischen Großeltern und Enkel, und funktioniert intergenerationell. Vgl. weiterhin Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen kulturellen Gedächtnisses. München 1999, v. a. die Ausführungen über Speicher- und Funktionsgedächtnis, S. 130–145. Über die Begriffe »kommunikatives«, »kollektives« und »kulturelles« Gedächtnis vgl. z. B. Jan Assmann, Was ist das »kulturelle Gedächtnis«  ?, in  : ders., Religion und kulturelles Gedächtnis  : zehn Studien. München 2000, S. 11–44.



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kollektiven ›Gedächtnislücken‹ betreffen daher in der Regel soziale Minderheiten, was ihren Minderheitenstatus aus einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung wiederum befestigt. In der Literaturwissenschaft haben sich erst in den letzten Jahren tragfähige Konzepte herausgebildet, die einen Zusammenhang zwischen Literatur und kollektivem Gedächtnis formulieren. Astrid Erll unterteilt sie in drei Kategorien  : 1. Das Gedächtnis der Literatur, 2. Das Gedächtnis in der Literatur, 3. Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses.92 Während sich »das Gedächtnis der Literatur« auf die »Vorstellung von einem Gedächtnis des Symbolsystems Literatur«, das sich durch Intertextualität in einzelnen Texten manifestiert, bezieht,93 geht das Konzept des »Gedächtnisses in der Literatur« davon aus, dass in literarischen Texten Erinnerung und Erinnerungsprozesse dargestellt und inszeniert werden. Die Texte verhandeln dann Gedächtnisdiskurse (meist) ihrer Entstehungszeit und bringen gleichzeitig Problemkonstellationen individuellen und kollektiven Erinnerns fiktional zum Ausdruck. Wenn schließlich »Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses« fungiert, erfüllt sie im Kontext historischer Erinnerungskultur verschiedene Funktionen als Medium, etwa bei der Etablierung bestimmter Vergangenheitsvorstellungen, und damit beteiligt sie sich auch an der Ausverhandlung konkurrenzierender Erinnerungen und an kollektiven Identitätsbildungsprozessen. Die deutschsprachige Ghettoliteratur kann nun im Sinne der von Astrid Erll formulierten literaturwissenschaftlichen Gedächtniskonzepte im Rahmen aller drei skizzierten Kategorien – wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung – neu gelesen werden. Dabei zeigt sich, dass der Ghettoliteratur auch jenseits rein literaturhistorischer Zusammenhänge vor allem im Zuge der Identitätsdebat­ten im 19.  Jahrhundert eine Bedeutung zukommt, die nicht nur seitens der allgemeinen Literaturwissenschaft, sondern auch in den interdisziplinären Kontexten der Jüdischen Studien bislang zu wenig gewürdigt wurde. Es ist bekannt, dass Ghettoliteratur im Sinne der ersten Kategorie, die das »Gedächtnis der Literatur« betrifft, in ein Gewebe intertextueller Bezüge und Traditionen eingebettet ist. Einerseits beziehen sich Ghettogeschichten formal, gattungspoetisch 92 Astrid Erll, Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, in  : Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 3. überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar 2004, S. 219 f. Siehe weiterführend v. a. ­Astrid Erll, Ansgar Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin 2004. 93 Erll spricht hier weiterhin von Gattungsgedächtnis in dem Sinne, dass literarische Gattungen ein Resultat der intertextuellen Erinnerung darstellen, und von Gedächtnisgattungen wie Autobiographie oder Memoiren. Schließlich referiert der Begriff auf ein Gedächtnis des Sozialsystems Literatur  : d. h. durch Kanonbildung und Literaturgeschichtsschreibung wird Erinnerung an literarische Traditionszusammenhänge etabliert. Vgl. dazu auch Renate Lachmann, Literatur und Gedächtnis 1990.

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und motivisch auf die literarische Produktion der Zeit, etwa auf die zeitgleich entstehende Dorfgeschichte, und auf vorgängige literarische Werke, in erster Linie auf Novellen, Märchen oder autobiographische Werke. Andererseits prägen die Ghettogeschichten innerhalb kürzester Zeit ein eigenes und wirkmächtiges Repertoire an poetischen Topoi, an literar-topographischen Typisierungen und an inhaltlichen Mustern aus, die selbst wiederum intertextuelle Kraft entfalten und die nicht zuletzt auch dafür verantwortlich sind, dass man Ghettogeschichten als ein eigenständiges Genre wahrnimmt. Eine besondere Rolle im Zuge dessen spielte Leopold Kompert, den Paul Amann als einen der »Erfinder der Gattung« bezeichnet  : Aus drei grundverschiedenen Auffassungen musste Kompert sich eine Idee der neuen Volksdichtung bilden, worin er, bei der Verschiedenheit der Formen und des geistigen Gehaltes, notwendig nur das stoffliche Moment als gemeinsames Merkmal festhalten konnte. Zwischen drei Arten der Gestaltung hatte der junge Schüler zu wählen, die ihm durch drei literarische Erscheinungen vor Augen geführt waren. Es waren dies die ›Schwarzwälder Dorfgeschichten‹ von Berthold Auerbach […] 1843. Ferner die ›Sittengemälde aus dem elsässischen Volksleben‹. Novellen von Alexander Weill […] 1843. Endlich der Band ›Aus dem Böhmerwalde‹. Von Josef Rank […] 1843.94

Aus einer narratologischen Perspektive fallen weiterhin die »autobiographische[n] Elemente in der Ghettoliteratur« auf.95 Insofern schließt sie sich teilweise an jene Genres an, die man unter dem Begriff ›Gedächtnisgattungen‹ subsumieren kann, respektive trägt sie ihren Teil dazu bei. Nicht zuletzt aufgrund der Disposition zur autobiographisch geführten Erzählerstimme lässt sich Ghettoliteratur schließlich in ihrer Bezugnahme auf ein Phänomen verstehen, das Erll als »Gedächtnis in der Literatur« begreift. Die primäre Funktionalisierung der autobiographisch inszenierten Erzählerinstanz besteht – wie schon Glasenapp formulierte – in der Beglaubigung des Selbsterlebten und der damit verbundenen Authentizität der Schilderung. Gerade die Etablierung einer »eigenen jüdischen Vergangenheit«96 sowie die unterschiedlichen Geschichtsauffassungen mussten durch die autobiographische Verankerung stärker auf das intendierte Lesepublikum wirken als durch eine rein fiktionale Erzählweise. Das spielt auch insofern eine Rolle, als die Ghettogeschichten explizit und implizit jene aktuellen Auseinandersetzungen und Prozesse veranschaulichten, die 94 Paul Amann, Leopold Komperts literarische Anfänge, [= Prager Deutsche Studien, hg. v. Carl von Kraus und August Sauer  ; 5]. Prag 1907, S. 64. 95 Glasenapp, Judengasse, S. 265. 96 Glasenapp, Judengasse, S. 266 f.



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im Zuge der Haskala, der Modernisierung, der Migrationsbewegungen im 19.  Jahrhundert und der damit teilweise verbundenen Auflösung traditioneller Lebensformen auch permanenten Kampf gegen das Vergessen bedeuteten. Religiöse Traditionen und Minhag, Familiengeschichte(n), der Name, sprachliche Eigenheiten oder, um es zusammenzufassen, die Herkunft sollten vor dem Vergessen bewahrt werden. In stilistisch sehr unterschiedlichen Texten bezieht sich die Ghettoliteratur auf diese Entwicklungen, deren Komplexität der Darstellung sich nicht immer auf den ersten Blick erschließt. Indem Ghettoliteratur vielfach, wenn nicht sogar durchgängig, in einem geradezu dialogischen Verhältnis mit den Erinnerungsdiskursen ihrer Entstehungszeit, aber auch darüber hinaus, verbunden ist, partizipiert sie schließlich als Medium des Gedächtnisses an kollektiven Identitätsbildungsprozessen  – und bis heute an der Erzeugung von (teils stark idealisierten) Vergangenheitsvorstellungen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Publikationspraxis von Ghettogeschichten, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs manchmal über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten in unterschiedlichen Formaten, in Zeitschriften, Einzelausgaben, Anthologien, Werkausgaben oder Kalendern und Almanachen, immer wieder aufgelegt und dann von den Herausgebern oder Autoren mit entsprechenden Kommentaren eingeleitet wurden. So deklariert Moritz Steinhardt in seinem Erzählband Aus dem Ghetto, in dessen Fokus »das ungarische Ghettostädtchen Eisenstadt« steht, im Vorwort zur ersten Auflage (ca.  1895) seine Zeitgenossenschaft mit den Personen, über die er schreibt. Dadurch unterstreicht er den dokumentarischen Charakter seines Unternehmens  : Durch dieses Büchlein wollte ich eine Schuld tilgen, indem ich der Erinnerung an meine Heimat hiermit ein Dokument errichtet habe. […] All’ diese Sitten und Gebräuche, wie ich sie […] schildere, noch heute werden sie eingehalten. Alle Personen, wie ich sie gezeichnet, sie haben gelebt […] die Erinnerung an ihre Originalgestalten lebt fort im Munde der Generationen.97

Die zweite Auflage von 1913 widmet der Verfasser zum Dank, dass die »Juden Eisenstadts […] sich [seit 1622] ungehindert ihrem religiösen Leben hingeben und ihren Berufen nachgehen konnten […] dem hochfürstlichen Hause Esterházy […] zum ewigen Gedächtnis«.98 Der Verfasser verlagert damit die Erinnerungsintention nicht nur weg von seinem Erzählgegenstand auf eine au97 Moritz Steinhardt, Aus dem Ghetto. Erzählungen aus dem vorigen Jahrhundert, 3. vermehrte Aufl. Leipzig 1920, S. 4 ff. Die dritte Auflage führt alle Vorworte der vorangegangenen Auflagen an  ; die erste ist ohne Angabe einer Jahreszahl vermerkt. 98 Steinhardt, Ghetto, S. 7

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toritative politische Instanz, sondern er scheint am Vorabend des Krieges die aus seiner Sicht historisch bewährten Herrschaftsverhältnisse bekräftigen zu wollen, indem er seinen Text wie einen Gedenkstein signiert  : »zum ewigen Gedächtnis«. Als Steinhardt schließlich 1919/1920 »nach einem Vierteljahrhundert« und nach dem Ende des »grimmigen Weltkrieg[s]«, »das Ghetto«, wieder aufsucht, muss er feststellen, dass »alle in diesem Buche geschilderten Typen […] dahin in jene Gefilde [sind], wo es keinen Kampf mehr gibt, nur im Munde der Epigonen leben sie fort.« Damit ändert sich die Funktion seiner Texte grundlegend. Sie werden nun im Sinne eines (mahnenden) ›Gedächtnismediums‹ verstanden, dessen einziges Ziel es zu sein scheint, den verlustig gegangenen Gegenstand seiner Darstellung über die Zeiten hinweg präsent zu halten  : »So ziehe denn mein Büchlein abermals hinaus, die Leser an die alten Traditionen zu mahnen.«99 Abhängig vom Erscheinungsdatum der Texte verlagerte sich also auch die Wirkung(sabsicht) des Erzählten im Hinblick auf seine Erinnerungsfunktion. So kam der Ghettogeschichte gerade in den urbanen Zentren seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert nicht selten eine Kompensationsfunktion zu, etwa durch die Beschreibung und damit im buchstäblichen Sinne Wieder-Holung religiöser Feiertage, die ein Teil der zeitgenössischen Leserschaft aus eigenem Erleben kaum noch kannte. Denn die Privatisierung des Religiösen hatte für Juden weiterreichende Änderungen in der Lebenspraxis als für christliche Bevölkerungsgruppen zur Folge gehabt. Denn mit der Haskala und der politischen Emanzipation, die in Europa nicht getrennt von den nationalstaatlichen Entwicklungen der Länder betrachtet werden kann, ging im Judentum vielerorts eine »Abwertung des Zeremonialgesetzes« einher, die zu einem »Rückgang religiöser Praxis« führte.100 Die zentrale Bedeutung der alltäglichen religiösen Praxis, die auch als »kultische Mnemotechnik«101 interpretiert werden kann, erfuhr im Kontext der Verbürgerlichung im 19.  Jahrhundert allerdings eine massive Relativierung, was mit der Zeit zu eklatanten Leerstellen im traditionellen Wissen und Bewusstsein führte. Hinzu kommt, dass in den säkularisierten Staaten das christliche Symbolsystem, z. B. in Form der Feiertagsordnung, weiterhin Geltung behielt, während »Juden als Mitglieder säkularer Gesellschaften das Sabbatgebot […] nur unter Verzicht auf die volle gesellschaftliche Teilhabe ein 99 Steinhardt, Ghetto, S. 7 f. 100 Almuth Hammer, »Wenn ich dein vergesse, Jerusalem  …«. Vergessen als Deutungskategorie in der jüdischen Tradition und ihre Fortschreibung in Else Lasker-Schülers Malik, in  : Günter Butzer, Manuela Günter (Hg.), Kulturelles Vergessen  : Medien – Rituale – Orte, [= Formen der Erinnerung  ; 21]. Göttingen 2004, S. 129–150, hier S. 137. 101 Hammer, Vergessen, S. 137.



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halten« konnten.102 Die Gasse, das Dorf, das Schtetl, seltener das Ghetto kann dann in der Erzählung über den Sabbat oder einen Feiertag zum Ort der Begegnung mit dem Ritus oder der Erinnerung daran werden. Der erzählte Ort löst gleichermaßen die Erinnerung aus, wie er Ort der Erinnerung ist. Der Prager Schriftsteller Hans Natonek erzählt diesen Vorgang des Vergessens und Erinnerns anhand eines Spaziergangs von Vater und Sohn an einem Sabbat durch das ehemalige Prager Ghetto. Die autodiegetische Erzählerstimme ist an die Figur des Sohnes gebunden. In der narrativen Parallelführung des Gehens durch die engen Gassen und der Dialogsituation wird zunächst die Abwehrhaltung des Vaters gegenüber den »uralten Gesetzen« evident  : ›Was sind das für Tücher, Papa, die die Knaben um die Schultern hatten  ?‹ – ›Das sind – das weiß ich nicht mehr – Einst – legte – ich – sie – auch – um – diese Tücher – Aber nun komm  ; wir wollen nach Hause gehen  ; es ist spät.‹ – ›Aber wenn früher alle im Ghetto wohnten, hast du denn da nicht auch im Ghetto gewohnt  ?‹ – ›Ich auch.‹ – ›Und nun hast du es ganz vergessen‹ – ›Man muß mit der Entwicklung gehen, mein ­Junge.‹103

Wie durch einen Schock löst sich aber in der Konfrontation an und mit dem Ort seiner Herkunft die bewusste Vergessenheit des Vaters und weinend murmelt er schließlich »einen hebräischen Spruch […] auf [das] Haupt« seines Sohnes.104 Schlagartig ändert sich damit das räumliche Szenario  : Das zuvor als dunkel, feucht und ungesund wahrgenommene Ambiente weicht im letzten Satz dem traulichen Bild der Sabbatstube, die hier im Gegensatz zu den älteren Ghettogeschichten als menschenleerer ›reiner‹ Ort konstruiert ist – selbst die autodiegetische Erzählerstimme zieht sich zurück  : »In den niedrigen Häuschen hatten auf weißen Tischen sich die Sabbatlichter entzündet.«105 Das Ghetto, das jüdische Dorf, das Schtetl, die aus der Sicht einer vorrangig als urban anzunehmenden zeitgenössischen Leserschaft zunächst in erster Linie durch eine räumliche Ferne gekennzeichnet waren, rücken – wie auch Natoneks kleiner Text illustriert – seit den 1870er-Jahren zudem in eine zeitliche Distanz. Der erzählte Raum hingegen bleibt resistent, gewissermaßen zeitlos, er über102 Hammer, Vergessen, S.  138. Hammer zitiert in diesem Zusammenhang auch Klaus L. Berghahn, Der Jude als der Andere. Das Zeitalter der Toleranz und die Judenfrage, in  : Jost Hermand, Gert Mattenklott (Hg.), Jüdische Intelligenz in Deutschland, [= Argument-Sonderband  ; 157]. Berlin 1988, S. 7–33. 103 Hans Natonek, Ghetto, in  : Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift mit Texten von Max Brod, Martin Buber u. a. Prag 1917, S. 36–38, hier S. 38. 104 Natonek, Ghetto, S. 38. 105 Natonek, Ghetto, S. 38.

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dauert die Historie und kann deshalb über das Bestehen eines vielleicht sogar benennbaren Referenzorts hinaus seine Wirksamkeit entfalten. Das ermöglicht auch die Umdeutung des erzählten Ghettos aus einer zionistischen Perspektive nach dem Ende des Ersten Weltkriegs  : Die Schilderung des Galuth, der jüdischen östlichen und westlichen Ghettos […] bekam sinnvolle Bedeutung, weil sie zu einem epischen Erfassen einer untergehenden Epoche eines Volkes an der Schwelle einer neuen, zukünftigen wurde. Dies war die Geburt des literarischen Augenblicks der Krise.106

Die Ghettogeschichten werden nun als »Literatur des Weges […] zur Verlebendigung jüdischer Vergangenheit« verstanden,107 also in einer Art Brückenfunktion zwischen alter und neuer Zeit, die bisher unbekannte Perspektiven eröffnet. Insofern wird das Ghetto selbst aus einer Position, die die Situierung des Jüdischen in der Diaspora auf Dauer eigentlich ablehnt, nicht als notwendig zu Überwindendes dem Vergessen überlassen oder verdrängt, sondern es wird vielmehr in einen umfassenden und weit zurückreichenden Traditionszusammen­ hang integriert, der sich einem positivistisch orientierten Geschichtsbewusstsein allerdings entzieht. Es scheint vielmehr, dass das erzählte Ghetto zunehmend als symbolischer Ort aufgefasst wird, an dem Erinnerung aufbewahrt wird  : Erinnerung an das »innere[…] Leben der Juden, [das] religiöse[…] Leben, [das] soziale[…] Leben«.108 Damit wird es gleichwohl an einen der Ratio unzugänglichen Ort, der sich allfälligen definitorischen Annäherungen entzieht, verlagert. Andererseits wird es dadurch offen für Zuschreibungen mannigfaltiger Art, die wiederum durch spezifische raumbezogene Strukturmerkmale der Ghettogeschichten begünstigt werden. Denn unabhängig von ihrer regionalen Provenienz (Böhmen, Mähren, Galizien, Polen, Hessen etc.) weisen die Ghettogeschichten in der Raumdarstellung mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Die Beschreibung geographisch-topographischer Eigenheiten nimmt in der Regel nur wenig Platz ein. Es geht also selten um die ›naturgetreue‹ Abbildung eines real-vorgängigen Orts, selbst dort nicht, wo der Erzähler dies behauptet oder durch eine Lokalisierung z. B. in der Nähe einer bekannten Stadt beglaubigen will. Die erzählten Orte zeichnen sich jedoch vielfach durch ein bestimmtes räumliches Setting aus, eine Anordnung von Innen- und Außenräumen wie die Sabbatstube, Schenke, Schul, Cheder oder Gasse. Zum einen besitzen diese Orte und Räume in einem hohen Maße topische Funktion, zum 106 Vorwort, in  : Jüdische Literatur 1900/1925, S. III f., [Hervorhebung im Original]. 107 Vorwort, in  : Jüdische Literatur 1900/1925, S. II. 108 Karpeles, Eine Ghetto-Geschichte, S. 131.



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anderen werden sie durch die Handlungen, Figuren und Konflikte erst komplettiert und dadurch Teil der Diskurse, über die gesprochen wird, mithin auch des Erinnerungs-Diskurses. Das erzählte Schtetl, Ghetto oder Dorf schließt also als Erinnerungsraum in gewisser Weise eine Meta-Intention der Gattung ein.109 Infolgedessen scheint es auch plausibel, dass die »identitätsstiftende Intention der Ghettogeschichte in all ihren Varianten«110 durch die autobiographischen Elemente über den einzelnen Text hinaus gestützt wird. Denn mehr als die Großstadtromane oder die frühen zionistischen Romane sind die Ghettogeschichten an einem prekären Ort angesiedelt, der aus der Sicht eines als urban und tendenziell aufgeklärt anzunehmenden Lesepublikums zwar einerseits exotische Ferne, mitunter Unterdrückung, Rückständigkeit und Enge, andererseits aber verloren geglaubte Ursprünglichkeit und Einheitlichkeit bedeuten musste. Die Ghettogeschichte wird deshalb spätestens seit 1900 zu einem Medium des jüdischen Memoria-Diskurses, der zwar in der Forschung immer wieder angesprochen, als zentraler Aspekt des Genres bislang allerdings zu wenig herausgearbeitet wurde.111 Unter Memoria wird an dieser Stelle ein Sammelbegriff verstanden, der in jedem Fall als Erweiterung der zunächst nur in Zusammenhang mit Textformen und architektonischen Erinnerungsformen und -ritualen des Totengedenkens anzunehmen ist.112 In einem allgemeinen Funktionszusammenhang sind Memoria dahingehend zu verstehen, Personen, Ereignisse, Schriften, die für eine größere gesellschaftliche Gruppe von Bedeutung sind, vor kollektivem Vergessen zu schützen. Dazu scheint es unabdingbar, dass einzelne Überlieferungen, Texte, Erzählungen, Bilder, die im Sinne der Gedächtnistheorie zunächst einem kommunikativen Gedächtnis, z. B. einem Familiengedächtnis, zuzurechnen wären, in einem größeren Korpus ähnlicher Texte, Bilder etc. aufgehen müssen, um kollektiv wirksam zu werden. Als Genrebezeichnung kann Memoria auf 109 Ingrid Spörk spricht einmal von einem »imaginäre[n] Archiv des Judentums«. Siehe Ingrid Spörk, Zum Archaischen in der Moderne, in  : Alice Bolterauer, Dietmar Goltschnigg (Hg.), Moderne Identitäten, [= Studien zur Moderne  ; 6]. Wien 1999, S. 75–89, hier S. 76. 110 Glasenapp, Judengasse, S. 266. 111 Wittemann spricht diesen Konnex an, ohne ihn allerdings weiter auszuführen. Vgl. Wittemann, Kompert, S. 145  : »Unter Berücksichtigung ihrer Eigenart können sie dann als Bestandteil einer jüdischen Memoria-Kultur neben statistische Daten und die ebenfalls stilisierten Szenen Aus dem altjüdischen Familienleben (1865) von Moritz Oppenheim treten […]«. 112 Vgl. dazu u. a. Birgit Klein, Christiane E. Müller, Memoria – Wege jüdischen Erinnerns, Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, in Verbindung mit dem Vorstand des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte. Berlin 2005. Zur Begrifflichkeit siehe weiterhin Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Erinnern und Vergessen, [= Politik und Hermeneutik  ; 15]. München 1993.

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unterschiedlichste Äußerungsformen und Artefakte angewandt werden, deren Intention darin begründet liegt, Erinnerung für eine größere oder kleinere Personengruppe zu stiften. Als jüdische Memoria wären in diesem Sinne beispielsweise Memorbücher,113 aber auch Inschriften auf Grabsteinen, Urkunden oder Berichtschroniken etc. anzunehmen. Nach diesem Verständnis können Memoria, sofern sie durch Lesungen, Ausstellen oder andere Rituale des Gedenkens aktualisiert werden, aus dem Status individueller Erinnerung zum Bestand eines regional oder lokal begrenzten Gedächtnisses avancieren. Dies betrifft aber noch kein allgemeines Geschichtsbewusstsein oder ein kulturelles Gedächtnis, wie es aktuelle Gedächtnistheorien formulieren. Das »lange 19. Jahrhundert« kann wahrscheinlich auch in diesem Zusammenhang als eine Periode des Übergangs bezeichnet werden. Jüdische Memoria verändern erst im Zuge eines sich herausbildenden säkularen Geschichtsbewusstseins und kollektiver Identitätsentwürfe ihre Funktion bzw. sie erfahren auf einer Metaebene einen Bedeutungszuwachs, indem sie über ihre ursprüngliche Funktion hinaus als Medien eines Generationen- und Bindungsgedächtnisses wirken. Als Teil einer Vielzahl von unterschiedlichen Kohärenzfiktionen im Sinne Assmanns114 lassen sich Memoria nun auch im Rahmen einer kollektiven Sinngeschichte interpretieren, die weit über die Erinnerungsfunktion innerhalb einer Familie, eines Orts, einer begrenzten Region hinausreicht. Es stellt sich dabei die Frage, ob dieser Übergang vom kommunikativen zum kollektiven und schließlich zu einem kulturellen Gedächtnis notwendigerweise mit dem Verlust der ursprünglichen sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen der Memoria verbunden ist, ob also kultureller Wandel als Filter im Hinblick auf die Kanonisierung bestimmter Ausprägungen und Überlieferungsformen von Erinnerung angenommen werden muss. Auf die Umbruchsituation im 19. Jahrhundert übertragen, wäre demnach zu fragen, welche Erinnerungstexte weiterhin Gültigkeit behalten, welche neu in Erscheinung treten und welche vergessen werden. Die Ghettogeschichte tritt m. E. partiell in den Memoria-Diskurs ein, obwohl sie als literarisches Genre primär fiktive und in der Regel keine realen Ereignisse und Personen vergegenwärtigt. Ein Wahrheitsanspruch wird jedoch 113 Vgl. dazu Stichwort  : Memorbuch, in  : Neues Lexikon, S. 309  : Die Memorbücher bestehen aus »1. Gebetssammlung  ; 2. Nekrologium von Personen allg.-jüd. oder lokaler Bedeutung  ; Martyrologium (Verzeichnis von Märtyrern und Märtyrerstätten). Nekrologium und Martyrologium wurden innerhalb des Gottesdienstes zum Gedenken verlesen.« 114 Unter dem Begriff sind nicht nur fiktionale Äußerungsformen zu verstehen, sondern auch dokumentarische, autobiographische etc. Das fiktive Element ergibt sich v. a. aus der Rezeption, denn in der Zusammenschau verschiedener Kohärenzfiktionen verstärkt sich m. E. der Charakter der Fiktionalität. Erst im Akt der Rezeption wird das Nicht-Kohärente, das Widersprüchliche oder Widerständige in einen kohärenten Zusammenhang umzudeuten bzw. einzubetten versucht.



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vielfach durch die oben beschriebenen autobiographischen Einschübe inszeniert. Wenngleich es also schwer sein dürfte, einzelne dieser Texte tatsächlich als Memoria zu deuten, so offenbart sich in einer Zusammenschau vieler Texte eine Lebenswelt, die zwar seit dem Zeitalter der Verbürgerlichung im Schwinden begriffen war, die aber durch die Erzählungen in einem kollektiven Bindungsgedächtnis verankert werden konnte. Auf ein kollektives Bindungs- bzw. Generationengedächtnis beziehen sich auch Autoren, wenn sie auf die Erinnerungsfunktion ihres Erzählens verweisen, wie Arthur Kahn in der Widmung zu seinen Jüdischen Dorfgeschichten aus dem Rheinland  : Aus einem Halbjahrhundert gemeinsamer Erinnerungen aus unserer sonnigsten Lebenszeit auf gemeinsamem Heimatboden, sind die vorliegenden Erzählungen entnommen. Wenn sie dem Leser werden, was sie uns waren und geblieben sind, […] so ist erreicht, was […] ich erstrebte.115

Kahn bezeichnet sich als »der letzte jüdische Belletrist, […] der noch aus eigener Anschauung und noch aus eigenen Erlebnissen, Menschen und Dinge im deutschen Judentum schildern konnte.«116 Diesen »reichen Schatz seiner Erinnerungen vom Dorfe« gelte es, »der Nachwelt zu bewahren.«117 Kahn tritt an, den »unverfälschte[n] Typus des seit Jahrhunderten deutschen Judentums, wie es in den Städten und Dörfern Mitteldeutschlands, insbesondere am Rhein, existierte«,118 »lebenswahr«119 zu schildern. Die Dringlichkeit dieses Vorhabens ergibt sich für ihn auch daraus, dass im Gegensatz zum osteuropäischen Judentum, das »eine große Zahl jüdischer Belletristen, Dichter und Schriftsteller besitzt«, Deutschland »nicht einen einzigen jüdischen Schriftsteller, der Land und Leute aus der jüngern [sic  !] Vergangenheit, etwa der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Vorwurf seiner Erzählungsgabe gemacht hätte«,120 hervorgebracht habe. Kahn versteht sich also als Chronist einer bereits in Vergessenheit geratenen, wenn auch noch nicht lange zurückliegenden Zeit, als Schilderer Entschwindender Gestalten,121 die er der »jetzige[n] Generation«122 vergegenwärtigen möchte.

115 Kahn, Dorfgeschichten, [Widmungsblatt]. 116 Kahn, Ein notwendiges Vorwort, in  : Dorfgeschichten, S. 1, [Hervorhebung im Original]. 117 Kahn, Vorwort, S. 1. 118 Kahn, Vorwort, S. 1, [Hervorhebung im Original]. 119 Kahn, Vorwort, S. 5. 120 Kahn, Vorwort, S. 2. 121 Arthur Kahn, Entschwindende Gestalten. Erzählungen aus dem rheinischen Gemeinde- und Familienleben, Frankfurt am Main 1905. 122 Kahn, Vorwort, S. 4.

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Dazu gehört es auch, »die fast ganz verschollenen Hebräismen«123 beizubehalten und den Lesern zu übersetzen. Das Vergessen kulturellen Wissens bedauert Kahn als Charakteristikum »bei uns modernen Juden«.124 Seine Aufgabe als Schriftsteller sieht er deshalb in einer Schnittstellenfunktion nicht nur einfach als Mittler zwischen den Generationen, sondern tatsächlich zwischen einer ›alten‹ und einer ›neuen‹ Welt. Darauf spielt auch Daniel Stauben in den Szenen des jüdischen Lebens im Elsass (1860) an  : Wir haben mit allen Mitteln versucht, diese zeitgenössische Form des antiken Judentums zu porträtieren, die leider im Verschwinden begriffen ist […] Schon stirbt es an mehr als einem Ort aus, wie alles, was veraltet ist. Deshalb müssen wir uns beeilen, rasch die charakteristischsten Züge aufzuzeichnen.125

Verfügte die ›alte‹ Welt noch über ein kulturelles Gedächtnis, in dem »sich die Tiefe der Zeit«126 eröffnet, so verflacht die ›neue‹ Welt offenkundig in ihrer Gegenwartsbezogenheit  : »man ist förmlich stolz darauf, behaupten zu können, von der heiligen Vätersprache ebensowenig zu wissen, als von jüdischer Geschichte.«127 Die Aufgabe, gleichermaßen als Schriftsteller und Historiograph zu wirken, formuliert schließlich auch der Erzähler in der Dorfgeschichte Das Sefer-Mahl, wenn er beispielsweise von der Haltung Napoleons gegenüber den Juden berichtet  : Der Geschichten-Erzähler muß, wenn er aus der Vergangenheit, von der er ein Stück miterlebt hat, getreu schildern will, auch ein wenig Geschichtsschreiber sein. Und nach unserer festen Ueberzeugung ist die Zeit Napoleons noch immer nicht genügend gewürdigt. Es ist eine Ehrenschuld jedes jüdischen Schriftstellers, der noch aus dem Munde seiner Zeitgenossen ihn schildern hörte, an die Lichtseiten dieses Großen zu erinnern, welche Fehler er auch den Juden gegenüber, in Verkennung ihres Charakters, einmal begangen hatte.128

Damit die junge jüdische Generation in Deutschland nicht die vermeintlich letzte Verbindung zu Tradition, religiösem Brauchtum und ihrer (säkularen) Geschichte verliert, will der Autor die von kollektivem Vergessen bedrohte Welt festschreiben. Die autobiographischen Signale, die Kahn und andere Autoren 123 Kahn, Vorwort, S. 5. 124 Kahn, Vorwort, S. 5. 125 Daniel Stauben, Szenen des jüdischen Lebens im Elsass (1860), hier zitiert nach Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, S. 247 f. 126 Assmann, Was ist das »kulturelle Gedächtnis«  ?, S. 37. 127 Kahn, Vorwort, S. 5. 128 Kahn, Das Sefer-Mahl, in  : ders., Dorfgeschichten, S. 25.



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immer wieder in ihre Texte einfließen lassen, dienen deshalb auch dazu, die kulturell prägende Kraft des Dargestellten durch deren Wirkmächtigkeit an der eigenen Person oder einer Person, die man kannte, zu beglaubigen. Die Position des Erzählers ist aber nicht mehr im Schtetl oder im jüdischen Dorf angesiedelt  ; der Erzähler spricht nicht nur aus der zeitlichen, sondern auch aus der räumlichen Distanz. An der Schwelle des Zurücksinkens hinter den Horizont des teilweise sogar bewussten Vergessens oder Verdrängens tritt der Erzähler auf, um das alltägliche Leben aus der Gasse, dem Ghetto oder dem Dorf für die Nachwelt zu bewahren. Aleida Assmann würde den Erzähler der Ghettogeschichte möglicherweise als Archivar ansehen, der das »Palimpsest« Kultur schreibend mitgestaltet.129 Dass die Ghettogeschichte als Teil eines jüdischen Memoria-Diskurses betrachtet werden kann, dass sie in ihren Narrativen sowohl kulturelles Erinnern ist als dieses auch erzeugt, wird weiterhin durch die Ausbildung spezifischer Topoi nachhaltig unterstützt. Aufgrund ihrer permanenten Aktualisierungen in den über einen Zeitraum von Jahrzehnten entstandenen Erzählungen können die Topoi intertextuell, aber auch außerliterarisch wirksam werden. Durch die wiederholte Lektüre ähnlicher Motive, die einem mnemotechnischen Effekt gleichkommt, kann solchermaßen »kulturell geformte […] Erinnerung«130 entstehen. Entlang der Motive und Topoi, die meist an narrative Raumkonstruktionen gekoppelt sind, wie Sabbat und heilige Feste, Generationenkonflikt, christlich-jüdische Liebe oder verbotene Lektüre, lassen sich dann genau jene Fragen erörtern, die trotz der gefälligen Form des Genres dessen Brisanz und Bedeutung ausmachen. In dieser Hinsicht bleibt die jüdische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hinter den Möglichkeiten der Literatur zurück. Diese Auffassung jedenfalls vertrat 1891 Leopold Treitel, als er meinte, die Geschichtsschreibung sei »mit der Aufgabe, die culturhistorische Bedeutung des Ghettos zu würdigen«, nicht »fertig geworden«  : Meist wird darüber wie über ein leeres Blatt der Geschichte einfach hinweggegangen, allenfalls noch im trockensten Chronistenstyl gemeldet, wann und wo die Ghetto errichtet worden. Und leichtfüßige Journalistik findet sich nur zu gern mit der Phrase ab  : ›nur mit leisem Grauem schaue man in die dumpfe Finsterniß des Ghettos‹. […] Das aber ist einseitige, nur zu sehr an der Außenseite haften gebliebene Geschichtsauffassung. [Erst] eine Reihe neuerer Dichter und Künstler [hat] die eigenste Welt, das reiche Gemüthsleben des Ghettos erschlossen.131 129 Assmann, Was ist das »kulturelle Gedächtnis«  ?, S.  38  : »Die Kultur ist ein Palimpsest und gleicht darin auch dem individuellen Gedächtnis.« 130 Assmann, Was ist das »kulturelle Gedächtnis«  ?, S. 30. 131 Treitel, Ghetto, S. 13, [Hervorhebung im Original].

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Die Schilderung des »reichen Gemüthslebens« in den Ghettoerzählungen diente allerdings nicht nur der Absicht, gegen das Vergessen zu wirken. Damit verbunden war auch die »Aufgabe einer jüdischen ›Selbstdarstellung‹«,132 die im Kontext der Verbürgerlichung im 19. Jahrhundert wiederum im Rahmen säkularer Herkunftsmythen fungieren konnte. Nichtjüdischen Leserkreisen eröffneten die manchmal harmonisierenden und unterhaltsamen Ghettogeschichten außerdem Einblicke in gänzlich unbekannte Lebenswelten, und so durfte man sich aus jüdischer Sicht durchaus einen günstigen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung erhoffen.133 Insofern will die Ghettoliteratur »auch als Replik auf zeitgenössische Vorurteilsmuster gelesen werden.«134 Aus heutiger Sicht erhalten jedoch alle diese Texte durch die Shoah eine zusätzliche und unumstößliche Bedeutung, die wohl nicht nur in einer kühlen theoretischen Betrachtung zu fassen ist. In gewisser Weise könnte man die Geschichten aus dem Ghetto, der Gasse und dem Schtetl auch als Memoria-Texte im ursprünglichen Sinne – also des Totengedenkens – verstehen, insofern als sie implizit dem Gedenken an die ermordeten Menschen, die diese Orte einmal bewohnt haben, dienen. Exkurs  : Salomon Maimons Lebensgeschichte

Salomon Maimons Lebensgeschichte aus dem Jahre 1792,135 die »nicht nur die erste jüdische Autobiographie in deutscher Sprache überhaupt [bildet], sondern […] auch zugleich noch am Beginn der neuen literarischen Gattung Autobiographie«136 steht, stellt bereits grundlegende Motive für die erst Jahrzehnte später sich etablierende Ghettoliteratur, vor allem für jene, die im osteuropäischen 132 Wittemann, Kompert, S. 8. 133 Vgl. Wittemann, Kompert, S. 13. Allerdings ist Wittemann nur bedingt zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass »viele genuin jüdische Bereiche […] wie die traditionelle Ausbildung im Cheder, der Elementarschule, der Jeschiwa  ; […] sowie der grassierende Aberglaube unter dem einfachen Volk ausgespart bleiben«. 134 Wittemann, Kompert, S. 10. 135 Salomon Maimons Lebensgeschichte wird im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe, hg. v. Zwi Batscha, Frankfurt am Main 1984. Zur Editionsgeschichte und zur formalen Gestaltung des Textes siehe Inka Arroyo Košenina, Der »Radikale Traditionalismus«. Salomon Maimons Lebensgeschichte und das aporetische Denken, in  : Ashraf Noor (Hg.), Erinnerung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne. Freiburg i. Br. 1999, S. 59–114, v. a. S. 60 ff. Salomon Maimon, eigentlich Salomon ben Josua wurde 1753 in Nieszwicz/Litauen geboren und starb 1800 in Nieder-Siegersdorf/Schlesien. – Die folgende Passage wurde modifiziert bereits publiziert in  : Petra Ernst, Goethe und Schiller im Schtetl  – literarische Transferprozesse in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur«, in  : Wolfgang Schmale, Martina Steer (Hg.), Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt am Main, New York 2006, S. 123–153. 136 Glasenapp, Judengasse, S. 271.



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Schtetl angesiedelt ist, bereit. Gleichzeitig begreift diese »Haskala-Autobiographie«137 erstmals die (erzählten) Orte Schtetl und Stadt in einem Konnex. In der Beschreibung der Reise, der Sehnsuchtsbewegung Salomon Maimons vom Schtetl in die Stadt Berlin, manifestiert sich darüber hinaus ein trans- und interkulturelles Moment, das nicht nur auf den Gegensatz Ost und West oder auf jüdisch-nichtjüdisch, sondern auch auf jenen zwischen aufgeklärter und nicht-aufgeklärter Welt abzielt. Der Text avanciert solchermaßen zu einem Ort der Begegnung von verschiedenen kulturellen Milieus. Gerade unter Berücksichtigung interkultureller Transfer- und Übersetzungsprozesse muss Maimons Lebensgeschichte als exemplarisch gewertet werden, denn sowohl textimmanent als auch auf der Metaebene wird das Wechselspiel von Blockierung und Zirkulation permanent präsent gehalten. Dies zeigt sich schon an der Publikationsgeschichte der Autobiographie. Karl Philipp Moritz (1756–1793), Verfasser von Romanen, kunsttheoretischen Abhandlungen und Schriften über Sprachphilosophie, Mythologie, Psychologie, Pädagogik sowie Poetik und Stilistik, hatte in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (10  Bände 1783–1793), der ersten Zeitschrift für Psychologie in Deutschland, autobiographische Fragmente des aus (polnisch)-Litauen gebürtigen Juden Salomon Maimon publiziert. Angeregt durch deren positive Aufnahme durch das Lesepublikum, schrieb Maimon seine Lebensgeschichte nieder, die schließlich unter dem Titel Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt und herausgegeben von Karl Philipp Moritz in Berlin erschien. Bereits der Titel verweist darauf, dass der Text durch eine enge Wechselbeziehung zwischen Juden und Nichtjuden geprägt ist, in diesem Fall durch die Kooperation und Kommunikation zwischen Autor, Redaktor/Herausgeber und schließlich Leser. Leo Löwenthal bezeichnet den Text als literarisches Dokument »eines ostjüdischen Versuches, in die rationale Bildungswelt des deutschen Bürgertums kurz vor 1800 einzudringen«.138 Gleichzeitig manifestiert sich durch die eingefügte »Kurze Darstellung der jüdischen Religion von ihrem Ursprung bis auf die neuesten Zeiten« sowie die Ausführungen über »Die Schriften des berühmten Rabbi Moses ben Maimon« Maimons bewusstes Festhalten am Judentum. Eine Besonderheit in der mit fiktiven und ironisch-gebrochenen Passagen durchsetzten Autobiographie bilden Maimons selbstreflexive Einschübe bezogen auf die Geschichte seines zunächst traditionellen und später selbst bestimmten Lernens.139 Seine spezifische Form analytischen Schreibens unterscheidet Maimon 137 Arroyo Košenina, Maimons Lebensgeschichte, S. 58. 138 Leo Löwenthal, Judentum und deutscher Geist, in  : ders.: »Judaica, Vorträge, Briefe«, hg. v. Helmut Dubiel, [= Schriften  ; 4]. Frankfurt am Main 1990, S. 9–56, hier S. 17. 139 Vgl. Maimon, Lebensgeschichte, S. 86.

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zwar grundsätzlich von jenen Schriftstellern, die das Schtetl später im Stile der Genremalerei als Idealbild jüdischen Lebens schildern. Nichtsdestotrotz setzt Maimon verschiedene Motive ein, die sich in der späteren Ghettogeschichte wiederholen, sodass man ihn wohl als einen »Gründungstext« in der deutschsprachig-jüdischen Literatur bezeichnen kann. An dieser Stelle seien nur stellvertretend Leopold Kompert und Karl Emil Franzos genannt, die Motive und Topoi, die Maimon Jahrzehnte zuvor etabliert hatte, aufgreifen  : Beispielsweise die kritische Beschreibung des Schtetls als geschlossenes und strukturkonservatives System, das dem Einzelnen wenig Freiheiten zubilligt,140 das Ungenügen des Wissensdurstigen am Talmudstudium und die Sehnsucht nach weltlichem Wissen und Aufklärung, das Erlernen der deutschen Sprache, die heimliche Lektüre deutscher Bücher, der als eine Konsequenz daraus resultierende Weggang aus dem Schtetl, damit verbunden die Stadt als Sehnsuchtsort, schließlich das Scheitern in der Stadt. Salomon Maimon findet in der aufgeklärten Welt Deutschlands nicht die erhoffte ›Wahrheit‹. Aus dieser Vergeblichkeit resultiert eine scheinbar unauflösbare Spannung, die sich unter anderem im fragmentarischen Charakter der Lebensgeschichte widerspiegelt und als frühes literarisches Signal einer Grunderfahrung von krisenhaft erlebter ›Moderne‹ gewertet werden kann. Diese Spannung zeigt sich auch in Maimons Versuchen, als Mittler zwischen der aufgeklärten Welt (von Christen und Juden) und den »Unaufgeklärten, von rabbinischen Vorurteilen« beherrschten polnischen Juden141 aufzutreten, indem er auf Vorschlag von Moses Mendelssohn sowie anderen jüdischen und christlichen Gelehrten wissenschaftliche Werke ins Hebräische übersetzt.142 Was ihm jedoch in eine Richtung gelingt, nämlich der symbolische Transfer des Schtetls in die aufgeklärte Welt qua Buch, bezweifelt er a priori für die gegenläufige Richtung aufgrund der ihm bekannten Blockierungsmechanismen  : Ich kannte zu gut den rabbinischen Despotismus, der durch die Macht des Aberglaubens schon seit vielen hundert Jahren in Polen seinen Thron befestigt hat und der zu seiner Sicherheit die Ausbreitung von Licht und Wahrheit auf alle mögliche Art zu verhindern sucht  ; wußte, wie genau die jüdische Theokratie mit ihrer Nationalexistenz 140 Vgl. Maimon, Lebensgeschichte, S. 198  : »… ohne die Unmöglichkeit einzusehn, dass ein Mann von meiner Art […] sich von den Fesseln des Aberglaubens und der Religionsvorurteile losgemacht, seine rohen Sitten […] abgelegt und seine Kenntnisse um vieles erweitert hatte, freiwillig wieder in den vorigen barbarischen und elenden Zustand sich zurückbegeben […] und der rabbinischen Wut sich bei der kleinsten Abweichung vom Zeremonialgesetz und bei Äußerung eines freien Gedankens aussetzen sollte.« 141 Maimon, Lebensgeschichte, S. 194. 142 Maimon, Lebensgeschichte, S. 192 und 198.



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verknüpft ist, so dass die Abschaffung der ersten die Vernichtung der letzten notwendig nach sich ziehn muß.143

Diese Äußerungen lassen im Hinblick auf Fragestellungen nach interkulturellen Begegnungen und Austauschbeziehungen, die auch in späteren Ghettogeschichten immer wieder aufgeworfen werden, in mehrfacher Hinsicht aufhorchen. Die Blockierung aller Einflüsse von Außen resultiert nach Maimons Ansicht ausschließlich aus der primär religiös ausgerichteten Gesellschaftsordnung, die gestärkt durch einen pseudoreligiösen Unterbau in doppelter Weise gefestigt ist. Daraus hat sich ein geschlossenes Handlungs- und Kommunikationssystem herausgebildet, das allen an diesem System Beteiligten eine maximale identitäre Sicherheit, von Maimon schon als »Nationalexistenz« bezeichnet, bietet. Jegliche Kommunikation nach außen, sei es durch mehr als nur beruflichen Kontakt oder eben durch Literatur und Wissenschaft, würde diese Sicherheit zumindest potenziell erschüttern. Die Aufhebung der Blockierung bedeutete die Aushöhlung und Zerstörung des Sozialsystems Schtetl  ; eine Lockerung hingegen scheint Maimon als unaufhaltbare Konsequenz der Aufklärung allerdings ebenso unabdingbar für dessen Fortbestehen. Eine schwerwiegende Folge der über Jahrhunderte aufrechterhaltenen Blockierung bildet für Maimon weiterhin nicht nur die mangelnde »Achtung für Wissenschaften überhaupt«,144 sondern das Fehlen einer eigenständigen jüdischen Geschichtsschreibung  : Auch gäbe es, die Wahrheit zu sagen, keine eigentliche Geschichte der Nation  ; denn diese stand beinahe niemals in einem politischen Verhältnis mit andern zivilisierten Nationen  ; und außer dem alten Testament, dem Josephus und einigen Fragmenten von den Verfolgungen der Juden in den mittleren Zeiten, finden wir davon nichts aufgezeichnet.145

Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein entstehen nach Maimons Verständnis ausschließlich im Rahmen eines Beziehungssystems. Ein kollektives Geschichtsbewusstsein ist demnach bedingt durch eine relationale Ausrichtung, die wiederum nur in einem System möglich ist, das Zirkulation – zumindest in einzelnen kulturellen Feldern – zulässt. Mit dieser Argumentation stellt Maimon also eine essentielle Verbindung her zwischen Gedächtnis und kulturellem Transfer, und nicht zuletzt plädiert er damit für eine säkulare jüdische Geschichtsschreibung, die auch der Diaspora-Existenz Rechnung tragen müsse. 143 Maimon, Lebensgeschichte, S. 192, [Kursivstellung im Original]. 144 Maimon, Lebensgeschichte, S. 192. 145 Maimon, Lebensgeschichte, S. 193.

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Der polnisch-litauische Jude Salomon Maimon kann sich als Schriftsteller-­ Philosoph schon um die 1790er-Jahre in das sich im deutschsprachigen Raum zu dieser Zeit etablierende autonome Literatursystem einschreiben. Gleichzeitig wird mit seiner Lebensgeschichte der Beginn einer eigenständigen deutschsprachig-jüdischen Literatur markiert, die wiederum in einer engen Wechselbeziehung zur nichtjüdischen anzunehmen ist. Das bedeutet weiterhin, dass deutschsprachig-jüdische Literatur unabhängig von ihrer Eigenständigkeit gleichwohl als Medium kultureller Transferprozesse gelesen werden könnte. Aus der Perspektive eines kulturellen Transfergeschehens lässt sich auch die Vorgeschichte von Maimons Autorschaft als Bildungs- und Lektüregeschichte analysieren. Mit den ihm aus seiner traditionellen Bildung zur Verfügung stehenden Techniken eignet sich Maimon zunächst autodidaktisch die deutsche Sprache an. Ein Oberrabbiner, der in seiner Jugend einmal in Deutschland gewesen war und von dort eine umfangreiche Bibliothek mitbrachte, leiht Maimon schließlich deutsche Bücher, für die »seit einunddreißig Jahren, dass er [der Oberrabbiner] von Deutschland zurückgekommen war, noch kein Mensch sich gefunden ­hatte«,146 der daran Interesse gezeigt hätte. Die Lektüre dieser hauptsächlich wissenschaftlichen deutschen Bücher bestärkt Maimon in seiner Sehnsucht, nach Berlin, dem Zentrum der jüdischen Aufklärung zu ziehen. Maimons Leseerlebnisse entsprechen ungefähr dem, was im Zuge der Autonomisierung der Literatur von einem Leser als verändertes Lektüreverhalten erwartet wird, obwohl Maimon nicht literarische, sondern ausschließlich wissenschaftliche und philosophische Texte zur Kenntnis nimmt. Der Impuls zur Selbstbildung entspringt aber  – zumindest vermittelt dies der Autor retrospektiv  – seinem inneren Bedürfnis, einem ,idealen‹ Menschenbild nahezukommen, wie es auch die nichtjüdische Philosophie der Zeit als wertvoll erachtet. Diese Form des autonomen Lernens, wie hier der Aneignungsprozess Maimons analog zu dem Begriff des autonomen Lesens bezeichnet werden soll, kann als kultureller Transfer  – allerdings ohne eine konkrete Vermittlerinstanz  – aus einem nichtjüdischen in ein jüdisches kulturelles Feld gedeutet werden. Die Bücher, die Maimon liest, bleiben in seiner Herkunftswelt jedoch weiterhin verboten oder unzugänglich, und so wirkt dieser Transferprozess nur im Verborgenen. Jeder, der dieser Sehnsucht nach autonomer Bildung nachgibt, verlässt, wie es spätere Ghettogeschichten immer wieder beschreiben, das Schtetl irgendwann oder wird in ein isoliertes Dasein am Rande der Gesellschaft gezwungen. D. h. das Schtetl bleibt gegenüber jenen äußeren Einflüssen, die auch nur potenziell eine Gefährdung für das System darstellen könnten, (scheinbar) resistent. Obwohl Maimon als Privatperson keineswegs die ersehnte Aufnahme in Deutschland 146 Maimon, Lebensgeschichte, S. 86.



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findet, kann er als Schreibender Grundlegendes  – nicht nur für die deutschsprachig-jüdische Literatur  – leisten. Maimon beschreibt das Schtetl und das jüdische Leben in Polen einerseits aus seiner sehr persönlichen Innensicht, andererseits mit distanziertem, ethnographischem Blick, der aber nicht mit dem eines einfachen Reisenden oder gar Kolonisators zu vergleichen ist. Als Teilnehmer an mehreren Kulturen kann er deshalb eine mehrfache Vermittlerrolle einnehmen  : 1. zwischen polnischen Juden und Juden in Deutschland, 2. zwischen den beschriebenen jüdischen ländlichen und städtischen Partikularkulturen sowie einem heterogenen nichtjüdischen Lesepublikum und 3. zwischen Gegnern und Anhängern der Aufklärung bzw. der Haskala.147 Obwohl das erzählte polnische Schtetl in Deutschland fremdartig wirken musste, wird im Akt des Aufschreibens durch Maimon, der selbst aus dieser unbekannten Welt kommt, das Fremde in die Vertrautheit der deutschen Sprache hereingeholt und damit in seiner Fremdheit zumindest teilweise relativiert. Jüdischen Lesern bot sich dadurch beispielsweise die Möglichkeit, vielleicht schon in Vergessenheit geratene Wertvorstellungen in Bezug auf ihr Judentum zu reaktivieren oder sie auch bewusst zu verwerfen. Für viele nichtjüdische Leser fand wohl zum ersten Mal eine (literarische) Begegnung mit dem Judentum statt. Weiterhin beginnt mit der Publikation von Maimons Lebensbeschreibung das osteuropäische Schetl als ferner und exotischer Ort in Deutschland qua Buch bekannt zu werden – das Schtetl wird als Motiv und als Handlungsort literaturfähig. Daran knüpfen die Autoren der Ghettonovellen seit den 1840er-Jahren an. 3. ›Jüdische‹ Räume Die Anbindung einzelner Erzählstränge an bestimmte Orte innerhalb des übergeordneten Handlungsraums scheint in der Ghettoliteratur noch stärker als in anderen Genres semantisch aufgeladen zu sein. Ein Grund dafür kann darin vermutet werden, dass im Schtetl einzelnen Orten spezifische Funktionen zugeordnet sind. Diese werden in der Literatur aufgegriffen und entweder als bekannt vorausgesetzt oder entsprechend erläutert und dann in einen handlungs147 Dass Vertreter der späteren Ghettogeschichte ihre »Vermittlerrolle zwischen den Kulturen« tatsächlich nur noch als periphere Aufgabe ansahen, wie Maria Theresia Wittemann behauptet, ist m. E. nicht zu belegen. In den meisten Ghettogeschichten lässt sich eine vermittelnde Erzählhaltung ausmachen. Über den Grad der Vermittlungsintention sagt das allerdings nichts aus, und so mag für manche Verfasser von Ghettogeschichten Wittemanns Feststellung insofern zutreffen, dass »die Mehrzahl […] ihren Zweck schon erfüllt [sah], wenn der jüdische Leser mit einem gewissen Stolz auf seine Vergangenheit und der christliche mit milderem, verständnisvollerem Blick auf seine jüdischen Mitbürger schaute.« Wittemann, Kompert, S. 14.

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relevanten Zusammenhang eingebunden. Während düstere Bilder der Gasse, die Schmutz, Enge und Elend suggerieren, zunächst gängige Vorurteilsmuster zu bedienen scheinen,148 überlagert vor allem das als rein, bescheiden und sauber attribuierte ›jüdische Haus‹ als Ort des Schutzes und der Geborgenheit diese negativen Konnotationen. Darauf beziehen sich die Autoren von Ghettogeschichten, wenn sie je nach Erzählhaltung und weltanschaulicher Einstellung entsprechende Stereotype bestätigen, sozialromantisch verklären oder  – was weit häufiger der Fall ist –, wenn sie sich um Differenzierung bemühen und versuchen, die historischen oder politischen Rahmenbedingungen zu erläutern und die ›eigentliche‹ Lebenswelt im Schtetl in ihrer Komplexität zu schildern. Im Zuge dessen transportiert die Erzählung wiederum eine spezifische Form von (konstruierter) Erinnerung, mithin ein Bewusstsein über die Eigenheit und ›Eigentlichkeit‹ jüdischer Geschichte, die gleichwohl nicht nur auf ein belegbares historisches Geschehen bezogen ist, sondern auf eine »ewige Wirklichkeit«.149 Was sich in der Ghettoliteratur auf den ersten Blick wie eine zufällige Verortung des Geschehens ausnimmt, erweist sich in der Analyse nicht selten als Bekräftigung einer Aussage, als unterstützendes Element einer Figur oder der Erzählerstimme oder als semantisch aufgeladener fiktionaler Reflex auf einen historischen Wandlungsprozess. Da mit dem allmählichen Verschwinden des Schtetls und dessen funktionalen Raumordnungen auch die Erinnerung daran in Vergessenheit zu geraten drohte, konnte seine literarische Fixierung zumindest ein mediales Zeichen gegen das Vergessen setzen. So vermittelt selbst die oft nur knappe Beschreibung von Innenräumen in der Ghettogeschichte ein Bündel kultureller Codes, die unabhängig von ihren semantischen Implikationen einerseits die Reichweiten der erzählten Lebenswelten abstecken und andererseits auf das den Orten inhärente Transformierungs- und Gestaltungspotenzial verweisen.150 Dieser Konnex spielt auch hinsichtlich der narratologischen 148 Vermutlich haben historiographische Ghettobilder, die sich auf Galizien beziehen, einen nicht unwesentlichen Anteil an diesen negativ bewerteten Images. Vgl. dazu z. B. Dietlind Hüchtker, Der ›Mythos Galizien‹. Versuch einer Historisierung, in  : kakanienrevisited, http://www. kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/DHuechtker2.pdf (letzter Zugriff  : 20.02.2017)  – Siehe weiterhin die Homepage des Doktoratskollegs »Galizien« an der Universität Wien https:// dk-galizien.univie.ac.at (letzter Zugriff  : 20.02.2017). 149 Paul Mendes-Flohr, Zwischen Anamnesis und Anagnorisis – Die Dialektik der jüdischen Erinnerung, (a. d. Amerik. v. Dorthe Seifert), in  : Noor, Erfahrung und Zäsur, S. 39–58, hier S. 40. 150 Vgl. dazu Dirk Hoerder, Transkulturelle Gesellschaftsstudien – Transcultural Societal Studies, in  : Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts. Neue Folge 2006 (21) 1, S. 68–78, hier besonders S. 72 f. Mit Hinweis auf Henri Lefebvre, The Production of Space. London 1991, S. 33, S. 38, S. 245, unterscheidet Hoerder 1) espace perçu als wahrgenommenen oder erlebten, 2) espace conçu als geplanten und 3) espace vécu als gelebten Raum.



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Funktion der Innenräume eine Rolle, dann nämlich, wenn sich in den erzählten Geschichten die Räume ›auflösen‹, wenn den Räumen ihre Bewohner und der Narration ihre Figuren abhanden kommen. Der leere Raum, der verlassene Ort, dem in den Texten meist Verfallsszenarien vorangehen, signalisiert dann nicht nur den Stillstand des Geschehens (histoire) – in der Regel als Resultat dramatischer Wandlungsprozesse geschildert –, sondern das Ende der (erzählten) Geschichte. Wenn die Figuren im Text aufhören, den Raum durch ihre Aktionen, Handlungen, Reden, Rituale und religiösen Praktiken zu gestalten, verdunkelt sich nicht nur die Semantik des Raums und des jeweiligen Orts, sondern auch deren anthropologische Dimension. In dem Maße, wie in der Erzählung der Ort ›gelebt‹ und wahrgenommen und der Raum kartiert oder ausgeschritten wird, ereignet sich durch eine Art Rückkopplung eine Einwirkung des Räumlichen in die implizite Sinnstruktur des jeweiligen Textes (oder gar des Genres). Je spezifischer ein Ort für das dargestellte Leben erscheint, umso enger scheint dieser Konnex ausgeprägt. Anders als in den sich später etablierenden Großstadtromanen und zionistischen Erzähltexten bilden in der Ghettogeschichte spezifisch ›jüdische Orte‹, d. h. solche Orte, die exklusiv in jüdischen Lebenszusammenhängen von Bedeutung sind, handlungsrelevante Markierungspunkte in der fiktionalen Topographie des erzählten Schtetls und Dorfs. Dazu zählen die Synagoge, der Cheder und häufig die Wohnräume der Protagonisten. Letztere werden im Gesamtzusammenhang des Textes nicht nur  – wie meist im Großstadtroman  – als notwendige lokale Anlaufstationen, als Aufenthaltsräume oder gar als Orte der Repräsentation erzählt. Sie ermöglichen zuerst eine stabilisierende Rahmung und religiöse Selbstbestimmung im Familienverband. Die Wohnstube im Schtetl oder im Dorf ist jenseits eines äußeren Identitätsbegehrens und gesellschaftlicher Wertvorstellungen, die beispielsweise an sozialen Aufstieg gekoppelt sind, auf die Erhaltung einer inneren Zugehörigkeit zum Judentum gerichtet. Auf einer oberflächlichen Ebene der Erzählung dominiert zwar vermeintlich der simple Schauplatzcharakter eines solchen Orts, doch die Übergänge hin zu einer motivischen und damit handlungsrelevanten Funktionalisierung erweisen sich als fließend. 3.1 Haus und Stube

Den zentralen Innenraum in der Ghettogeschichte bildet das Haus, die Wohnung, die ›gute Stube‹.151 Die Feststellung, dass literarisches Geschehen in einem Haus angesiedelt ist, erscheint zunächst banal. Im jüdischen Kontext kommt dem Haus oder der Stube allerdings eine grundlegende Bedeutung zu  : 151 Vgl. dazu v. a. Lezzi, Ein jüdischer Ort.

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Nicht der Makro-Raum, also das Schtetl oder das Dorf, sondern das Haus stellt den primären Bezugsort der Familie dar. Das durch die familiale Organisation geschaffene intakte Haus oder die Wohnstube versinnbildlichen einen Zustand der Integrität, der Einheit, der Unversehrtheit. Dementsprechend unerheblich ist auch die Namensnennung eines Dorfes oder Schtetls in Ghettogeschichten, die tatsächlich mit Hinweisen auf konkrete Ortsnamen recht sparsam umgehen.152 Die topographische Beglaubigung erfolgt, wenn überhaupt, lediglich durch die Erwähnung größerer Städte, die als Ausbildungsorte oder Handelszentren im jeweiligen Kontext von Wichtigkeit sind. Die wesentlichen Einstellungen und Lebenshaltungen der Figuren werden jedoch im Haus geprägt  ; es gilt zugleich als Zentrum des religiösen Lebens der Familie.153 Das Profane und das Heilige sind im traditionell geführten jüdischen Haus nicht voneinander zu trennen. Das bildet sich auch in allen Ghettogeschichten unabhängig von ihren jeweiligen regionalen Besonderheiten ab  ; so auch in den über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entstandenen in Galizien angesiedelten Erzählungen von Leo Herzberg-Fränkel, Nathan Samuely, Karl Emil Franzos oder Selig Schachnowitz. Leo Herzberg-Fränkel Polnische Juden

Mit unterschiedlichen Funktionalisierungen von »Wohnräume[n] als Handlungsort«154 setzte sich bereits Bernhard Weikmann am Beispiel ausgewählter Texte der zwei galizischen Schriftsteller Leo Herzberg-Fränkel155 und Nathan 152 Auch durch die häufige Nennung des Namens Barnow, fiktiver Schauplatz vieler Geschichten von Karl Emil Franzos, soll nicht etwa den ethnographischen oder lokalen Besonderheiten mehr Gewicht verliehen werden. Vielmehr wird der Ortsname, angelehnt an Franzos’ Geburtsort Czortkow, vom Autor in seinen Texten als topographisch markiertes Synonym für Rückständigkeit und chassidischen Fanatismus etabliert. 153 Vgl. dazu auch Wittemann, Kompert, S. 140–142. 154 Weikmann, Herzberg, S.  56–60. Weikmann bezieht sich auf die Erzählsammlungen  : Leo Herzberg-Fränkel, Polnische Juden. Geschichten und Bilder, Wien 1867, sowie Nathan Samuely, Cultur-Bilder aus dem jüdischen Leben in Galizien. Prag 1885. 155 Leo Herzberg-Fränkel, geboren in Brody 1827, gestorben 1915 in Teplitz. Zur Biographie siehe S. Wininger, Große jüdische National-Biographie. Ein Nachschlagewerk für das jüdische Volk und dessen Freunde, Bd. 3 Harischon–Lazarus. [ohne Ort und Jahr], S. 80. Gabriele von Glasenapp bezeichnet Herzberg-Fränkel als »Begründer der galizischen Ghettogeschichte«. Nach der Niederschlagung der Revolution 1848 ging Herzberg-Fränkel zeitweise nach Wien, wo er bei verschiedenen Zeitschriften arbeitete. Der Erfolg seiner »Geschichten und Bilder«, unter dem Titel Polnische Juden erstmals 1867 in Buchform erschienen, führte 1878 und 1888 zu Wiederauflagen. Von Kronprinz Rudolf wurde Herzberg-Fränkel beauftragt, für das so genannte »Kronprinzen-Werk« den Teil über Die Juden in Galizien zu verfassen. Siehe dazu Gabriele von



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Samuely156 auseinander. Für die Erzählungen von Herzberg-Fränkel, die vielfach im russischen Teil Polens situiert sind, konstatiert er, dass dessen Beschreibungen der sabbatlichen Stube und der Behausung im Alltag deutlich voneinander abwichen. So werde die Sabbatstube durch den Festtagsschmuck symbolisch aufgewertet und als durchgängig positiver und nicht zu kritisierender Ort aufgefasst. Die vorwiegend ärmliche Ausstattung des Wohnraums im Alltag verweise hingegen einerseits auf die wirtschaftliche Not der galizischen Schtetlbewohner, auf die auch der nichtjüdische Leser aufmerksam gemacht werden soll, andererseits ließen sich die vorwiegend »düsteren Bilder« jedoch »als Mahnung an die orthodoxen Juden […] verstehen, daß das Festhalten an der orthodoxen Lebensform nicht aus dem Elend herausführen kann«.157 In der Erzählung Aus den unteren Schichten wird diese Kontrastierung insofern noch verdichtet, als im Elend einer düsteren Behausung orthodoxe Juden in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer aufgeklärten Frau und ihrem Kind leben. Deren Wohnbereich hebt sich von jenem der Orthodoxen ab »wie etwa eine Wiese von einer Pfütze«.158 Nicht ökonomischer Wohlstand, sondern das Gepflegte mit seiner impliziten Licht-Metaphorik, »der reinliche Winkel, das saubere Bett, der gescheuerte Tisch«,159 wird vom Erzähler zum Signum des Fortschritts erhoben  ; ein Fortschritt, der vor allem unabhängig von materiellem Reichtum erreicht werden kann. Der Zugewinn zumindest geringfügig verbesserter Lebensqualität stellt sich nebenbei mit ein. Nathan Samuely Cultur-Bilder aus dem jüdischen Leben in Galizien

Nathan Samuely hingegen tendiert laut Weikmann zu einer prinzipiell positiven, ja romantisierenden Darstellung von Wohnräumen, die schon an bürgerliche Vorstellungen appelliert, selbst wenn die Plots noch eindeutig in der orthodoxen Lebenswelt des osteuropäischen Schtetls verortet sind. Im Umfeld der bedrückenden Lebensumstände, die im Gegensatz zu Karl Emil Franzos allerdings kaum ausformuliert werden, wird die Wohnung zum geschützten und schützenden Ort, zu einer Idylle, an der auch der (intendierte bürgerliche) Leser partizipieren soll  : Glasenapp, Leo Herzberg-Fränkel, in  : Kilcher, Lexikon der der deutsch-jüdischen Literatur, S. 229 f. 156 Nathan Samuely, geboren 1846 in Stryj, gestorben 1921 in Baden bei Wien. Zur Biographie s. Wininger, National-Biographie, Bd. 5. Leipzig o. J., S. 362. 157 Weikmann, Leo Herzberg-Fränkel, S. 59. In seinem Vorwort betont Herzberg-Fränkel, dass er das Leben der polnischen Juden vor allem »dem nicht jüdischen Leser« vorführen wollte. Siehe Herzberg-Fränkel, Vorwort, in  : Polnische Juden, S. IV. [Hervorhebung im Original  !] 158 Herzberg-Fränkel, Aus den unteren Schichten, in  : ders., Polnische Juden, S. 178. 159 Herzberg-Fränkel, Aus den unteren Schichten, S. 178.

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Die Wohnung sah niedlich wie ein Schmuckkästchen aus, weihevoll wie ein kleiner Tempel […] Die blüthenweißen Gardinen über den kleinen Fenstern, der runde Tisch mit dem schneeigen Linnen bedeckt, […] das zierliche Blumentischchen und die anderen bescheidenen Einrichtungsstücke nehmen sich so traut aus, daß es einem beim Eintritte warm um’s Herz wurde.160

Solche adjektivisch überladenen Beschreibungen evozieren zunächst Assoziationen an ein Konzept bürgerlichen Wohnens klein- oder vorstädtischen Zuschnitts. Doch allein durch das Wort »Tempel« lässt sich hier eine differenziertere Lesart anschließen  : Wie die hochgradig semantisierte »Gute Stube«, die 1899 im Jüdischen Museum Wien installiert wurde, kann diese Wohnung für ihre Bewohner als Ort der Gleichzeitigkeit von religiöser Observanz – vor allem hinsichtlich der Einhaltung der Sabbatruhe  – und aufgeklärter Wertvorstellungen fungieren.161 Allfällige Annahmen einer Unvereinbarkeit von zeitgemäßer Bürgerlichkeit und Traditionsbewusstsein werden auf diese Weise allein durch die stimmungsvolle Schilderung der Wohnung abgewiesen, ohne dass es dazu noch einer weiterführenden diskursiven Auseinandersetzung bedürfte. In vielen anderen Ghettogeschichten bleiben aber Signale, die schon auf ein bürgerlich-urbanes Wohnen hindeuten, ausgeklammert. Traditionelle, kulturell vorgängige Konzeptionen von Haus und Häuslichkeit, deren ohnehin hohes Identifikationspotenzial vor allem ab den späten 1860er-Jahren aufgrund der einsetzenden Migrationsbewegungen eine zusätzliche Steigerung erfuhr, dominieren in der Regel die topographischen Ausgangssituationen der Texte. Im Haus findet das eheliche Leben, die Erziehung der Kinder, die Auseinandersetzung zwischen den Generationen statt. Als zentraler Figur der Familie obliegt der Mutter die Gestaltung des Hauses  : Sie hütet das jüdische Haus als Zentrum religiösen Praktizierens [und bewahrt] es so als den traditionellen Ort der »Heiligung« des Lebens […]. Die tiefe Verehrung und Glorifizierung, die sie dafür erfährt, strahlt ihrerseits wieder auf die Familie ab und mani160 Nathan Samuely, Aussteuer, in  : ders., Cultur-Bilder aus dem jüdischen Leben in Galizien. Prag, S. 1885, S. 63 f. Zit. nach Weikmann, S. 58. 161 Zur Bedeutung der »Guten Stube« aus historischer Sicht siehe u. a. Klaus Hödl, Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, [= Schriften des Centrums für Jüdische Studien  ; 9]. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2006, Kap. 5 Die Gute Stube – Angelpunkt für eine identitäre Neuorientierung, S. 91–119, v. a. S. 95. 1895 wurde das Wiener Jüdische Museum eröffnet. Als zentraler Ort wurde 1899 von dem bekannten Maler Isidor Kaufmann eine Sabbatstube, die so genannte »Gute Stube« zusammengestellt. Sie avancierte zum Vorbild für andere Ausstellungen.



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festiert von Generation zu Generation ihre zentrale Bedeutung für das Überleben der Gemeinschaft.162

Wenn in einer Ghettonovelle eine Mutter ihr Haus verlässt oder stirbt, knüpft sich daran in der Regel das absehbare Ende der erzählten Geschichte. Selbst wenn der Mutter im Rahmen der Handlung keine tragende Rolle zukommt, bildet die Figur auf einer unterschwelligen Ebene die dramaturgische Schnittstelle für den Zusammenhalt der erzählten häuslichen Gemeinschaft sowie der Erzählung selbst. Dementsprechend erweisen sich mutterlose Figuren in Ghettogeschichten, aber auch in den späteren zionistischen Romanen meist als ortsungebunden, was dann je nach Erzählerhaltung positiv oder negativ konnotiert wird. Das Haus und die Hausfrau bilden in der Ghettogeschichte also eine substanzielle Einheit, die ihren Vorwurf ganz offenkundig jüdischer Auslegungs­ tradition und nicht unbedingt sozial präformierten Geschlechterrollen verdankt. In diesem Kontext führt Rachel M. Herweg den Midrasch (RutR 2,8) an  : »Ich nenne meine Frau nicht ›Frau‹ und mein Haus nicht ›Haus‹  ; vielmehr nenne ich meine Frau ›Haus‹ und mein Haus ›Frau‹.«163 Als Ort der täglichen Erfüllung ritueller Bestimmungen, für deren Umsetzung wiederum die Frau verantwortlich ist, ist das Haus entsprechend eingerichtet. Den damit verbundenen Bedeutungshorizont des jüdischen Heims fasste S. Ph. de Vries zusammen  : »Der Tisch  : ein Altar  ; das Haus  : ein Tempel.« Da im »Tempel […] alles zu einer höheren Ordnung« gehört, ist alles »geweiht, alle Geräte sind geheiligt.«164 Diese Durchdrungenheit des Hauses mit Religiosität, mit dem Signum der Heiligung schon in der Mesusa am Türpfosten der Eingangstür (sowie in größeren Häusern an den Türpfosten zu Wohnräumen) sichtbar ausgedrückt, verleiht dem Ort eine besondere Bedeutung, die den Bewohnern sehr bewusst ist. Rachel M. Herweg spricht vom jüdischen Haus als »kollektive[m] Erinnerungsort der göttlichen Offenbarung«.165 Wie es auch fiktionale Texte immer wieder vermitteln, werden an diesem Ort in einem ununterbrochenen und geschichtlich bewährtem Kontinuum die rituellen Vorschriften erfüllt, gebetet, die Bibel ge162 Rachel Monika Herweg, Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt 1995, S. 100. Herweg untersucht verschiedene Images der ›jüdischen Mutter‹, Klischeebildungen und Transformationen der Stereotype bis in die Gegenwart. 163 Herweg, Die jüdische Mutter, S. 91. 164 De Vries, Jüdische Riten, Kap. Die Speisevorschriften, S. 162–188, hier S. 185. Die holländische Erstausgabe erschien erstmals in zwei Bänden 1927 und 1932. S. Ph. de Vries, Rabbiner der niederländischen Gemeinde Haarlem, wurde 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet. Siehe weiterhin Herweg, Die jüdische Mutter, S.  89  : »Das jüdische Haus wurde gleichsam der ›Tempel der Frau‹, und der Tisch ist ihr ›Altar‹.« 165 Herweg, Die jüdische Mutter, S. 89.

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lesen  ; dies alles, um »den Herrn […] zu ehren«.166 Insofern dürfen literarische Schilderungen solcher Alltagsszenen nicht nur als oberflächliche Dekors oder als exotisch anmutende Genrebilder gelesen werden, sondern als mehrschichtige Bedeutungsträger innerhalb des Erzählten, die eine dem Gegenstand angemessene Lesart verlangen – und dies unabhängig von der ästhetischen Komplexität eines Textes. So wäre es verfehlt, die häufig dargestellten Sabbathstimmungen167 aus einer christlich-bürgerlichen Perspektive lediglich parallel zum Sonntag als Erholungsszenarien von der Mühsal des Alltags zu verstehen. Wenn das Haus als »eigentliche[r] Mittelpunkt des religiösen Lebens«168 dem Tempel gleichgestellt wird, so können nach einem traditionellen bzw. orthodoxen Verständnis Ausstattung und Lage des Heimes keine maßgeblichen Bewertungskriterien außer in einem ökonomischen Kontext bedeuten.169 Diese Vermutung bestätigen auch viele Ghettogeschichten durch die Schilderung sehr unterschiedlicher Häuser, Wohnungen und Stuben – und zwar unabhängig davon, ob die Beschreibung oder die Evokation eines Raums an eine Figuren- oder Erzählerstimme gebunden ist. Manchmal präsentieren sich die Behausungen nur als notdürftig eingerichtete kleine Kammern, manchmal als prächtige Bauten. Karl Emil Franzos Der Shylock von Barnow

Das größte und schönste Haus ist jedoch in seinem Wert relativiert, wenn es von keiner intakten Familie bewohnt wird, die wiederum als Garant für das Fortbestehen jüdischen Lebens schlechthin verstanden wird. Darauf bezieht sich auch Karl Emil Franzos in seiner Erzählung Der Shylock von Barnow  : Wer in einem der kleinen, schmutzigen Häuser des Ghetto geboren ist, wächst in Ehrfurcht und Bewunderung auf vor diesem Haus und seinem Besitzer, dem alten Moses Freudenthal. […] Da ist zuerst das Haus. Es ist, als wüßte es seinen Wert, so stolz und stattlich steht es da in seinem weißen, reinlichen Aufputz, mit der langen, glänzenden Fensterreihe des ersten Stockwerks, mit den bunten Kaufläden zu ebener Erde, zu beiden Seiten des mächtigen Torwegs […]. Fragt den ärmsten Mann in der Judenstadt, den Thoralehrer, der mit seinen sechs Kindern am Hungertuch nagt, oder den Wasserträger, der die Woche hindurch […] zum Stadtbrunnen keucht, fragt sie, ob sie 166 De Vries, Jüdische Riten, S. 19. 167 So auch der Titel einer Erzählsammlung von Arthur Kahn  : Arthur Kahn, Sabbathstimmungen, Frankfurt am Main o. J. [1909]. 168 De Vries, Jüdische Riten, S. 19. 169 Hierin besteht ein signifikanter Unterschied zu protestantischen Strömungen (z. B. Calvinimus, Pietismus), die äußere Wohlhabenheit als eine Form profanen Lohns für ein gottgefälliges Leben deuten.



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mit Moses tauschen wollen, und sie würden euch ›Nein‹ sagen. Denn größer als dieses Mannes Reichtum ist sein Unglück.170

Über das Unglück dieses »frömmste[n] und ehrlichste[n] Mann[es] der Judenschaft«171 im Schtetl erfährt der Leser im Verlauf der weiteren Erzählung. Die Frau von Moses starb bei der späten Geburt ihres einzigen Kindes. Als junge Frau wird die Tochter Esther von einem Husaren-Rittmeister verführt und verlässt mit ihm das Schtetl. Der zutiefst verletzte Vater verstößt daraufhin seine Tochter und verabschiedet sich von ihr in einem symbolischen Trauerzeremoniell, da sie ihm nun als tot gilt.172 Als Esther nach Jahren wieder zurückkehrt, verweigert ihr der Vater den Eintritt in sein Haus  ; er lässt sie vor dem Tor tatsächlich sterben. Damit hat das Haus des Moses Freudenthal endgültig seine eigentliche Funktion als Ort einer gottgefälligen Lebensweise verloren. Dieser existenzielle Verlust hatte sich bereits mit dem Weggang der Tochter abgezeichnet  : in dem großen weißen Haus […] strahlen die Sabbatlichter. Aber eine fremde Hand hat sie entzündet und kein frommer Frauenmund spricht den Segen über sie. In der guten Stube prangt das feinste Linnen auf den Tischen und reicher, schwerer Hausrat an den Wänden, doch kein frohes Kinderlachen klingt darin und kein liebes Wort. Nur die vielen Kerzen knistern leise im Verbrennen und das gibt einen traurigen Ton.173

In dieser Erzählung führt die fanatische – aus Sicht des Erzählers eindeutig negativ bewertete – Frömmigkeit des Vaters zum endgültigen Niedergang der Familie. Hätte Moses seine Tochter wieder aufgenommen, hätte daraus ein Neuanfang für die Familie resultieren können. So aber bleibt der alte Mann alleine mit seinem Reichtum zurück. Doch der materielle Besitz, der in dem prachtvollen Gebäude am deutlichsten zum Ausdruck kommt, bedeutet weder aus der Sicht des Erzählers noch aus jener der Schtetlbewohner einen Wert, denn es 170 Karl Emil Franzos, Der Shylock von Barnow, in  : ders., Die Juden von Barnow, S. 7–9. 171 Franzos, Shylock, S. 8. 172 Hier bezieht sich Franzos auf das Schiw’a-Sitzen von Eltern, wenn ein Kind das Judentum verlässt, sich taufen lässt oder eine interreligiöse Ehe eingeht. Auch in anderen Texten wird gelegentlich darauf angespielt, siehe z. B. Salomon Hermann Mosenthal, Raaf ’s Mine, in  : ders., Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben, mit einem Nachwort hg. v. Ruth Klüger. Göttingen 2001, S. 90. Vgl. dazu Alfred J. Kolatch, Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten. Aus dem Amerikanischen neu übersetzt und bearb. v. Miriam Magall. Wiesbaden 2005, S. 92  : »Juden trauern manchmal um ein Kind, das das Judentum verlässt, aus dem Gefühl heraus, damit ihr Kind verloren zu haben.« 173 Franzos, Shylock, S. 14.

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ist nicht mehr in den Dienst der Familie gestellt. Im Bild des am Ende fast ›entleerten‹ Hauses wird die Kritik an einer falsch verstandenen Frömmigkeit, die dann ins Gegenteil dessen kippt, was sie vorgibt zu sein, evident gemacht. Die Werthaltungen und die Sinnfälligkeit jüdischer Traditionen werden von der Erzählerinstanz aber keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Gerade in der Analyse solcher Details zeigt sich, dass Franzos, der in der Forschungsliteratur gerne als Vertreter einer bedingungslosen ›Assimilation‹ bezeichnet wird, zwar kritisch Stellung bezieht gegen mögliche Auswüchse fanatischen Glaubens, dass er aber niemals und mit keinem Wort für eine Abschaffung der Sozialform ›Schtetl‹ plädiert. Arthur Kahn Ein Freitagabend

Der besondere Stellenwert des Hauses als primärer Ort der Familie zeigt sich auch in weniger dramatischen Ghetto- oder Dorfgeschichten, und zwar unabhängig von der Region, in der sie angesiedelt sind. So etwa in einer kleinen Erzählung aus Hessen, Ein Freitagabend, von Arthur Kahn. Hier drängen sich einem Jungen nach der märchenhaften Schilderung des Frankfurter Hauses Roth­schild durch einen Gast im Halbschlaf träumerische Vergleiche zwischen der imaginierten Rothschild’schen Einrichtung und der elterlichen Wohnung auf. Zentrale Bedeutung kommt hier der »Schabbeslampe« zu, die »einen traulichen Halbschatten in der Stube« verbreitet174 und durch deren Licht die kindliche Phantasie entzündet wird. Am Ende erfüllen sich die Sehnsüchte aber nur in der familialen Wirklichkeit  : Ich denke an Rothschilds goldne Lampe, die ein wahrer Goliath sein muß. […] ich stelle Vergleiche an, zwischen Rothschilds goldner Riesenlampe und der hier von [sic  !] mir hängenden, die auch recht groß ist, allerdings nicht von Gold, aber doch so schön, daß ich sie nicht mit Rothschilds Goldlampe tauschen würde. Und vor allem, ist es denn nicht meine Mutter, die allsabbatlich mit frommstrahlenden Augen auf diese Lampe blickt […] Nein, mit Rothschilds goldner Lampe möchte ich die unsrige doch nicht eintauschen…175

Das fromme jüdische Haus, hier symbolisch im Bild der Sabbatlampe gefasst, wird zum Ort und Sinnbild gelebter Einheit und Einheitlichkeit für all jene Familienmitglieder, die sich ihm zugehörig fühlen. Sie leben in einem als ideal angenommenen emotionalen Zustand, der auf dem Bewusstsein ihrer unver174 Kahn, Ein Freitagabend, in  : ders., Sabbathstimmungen, S. 12–28, hier S 27. 175 Kahn, Freitagabend, S. 26 f.



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brüchlichen gemeinschaftlichen Identität basiert. Deren Koordinaten stecken durch die Verbindung der religiösen Rituale, der Alltagsgewohnheiten und des täglichen Broterwerbs allerdings einen einigermaßen engen Rahmen ab. Der Modus der Beschreibung dieser häuslichen Idylle – hier gekoppelt an die F ­ igur eines Kindes – kann mit Blick auf die zeitgenössische jüdische Leserschaft letztlich nur aus ihrer Vorbildfunktion heraus verstanden werden. Nur die Bedachtnahme auf den familiären Zusammenhalt sowie auf die rituelle Gestaltung und damit auf die eigentliche Herstellung des Orts als Sabbatstube garantiert demnach persönliches und dauerhaftes Glück. Von materiellem Wohlstand ist eine solche Konzeption unabhängig. Leopold Kompert Der Dorfgeher

Gerade aus aufklärerischer Perspektive erweist sich diese häusliche Idylle aber als recht begrenzt  : »›Warum seid Ihr nicht bei [der Mutter] geblieben  ?‹ – ›Es ist mir zu enge geworden daheim‹«,176 so antwortet der vorgebliche Bettler Emanuel in Leopold Komperts Erzählung Der Dorfgeher auf die Frage seines Gastgebers, warum er einstmals sein Zuhause verlassen hat. Wer den Horizont jenseits der häuslichen Mauern erreichen will, verlässt in der Regel das Schetl und das elterliche Haus  – auch um den Preis des Verlusts der Geborgenheit, der sozialen Sicherheit und einer damit verbundenen kohärenten kulturellen Identität. Auch dieses Phänomen wird in der Ghettoliteratur vielfach beschrieben. Der Ausgang solcher Aufbruchgeschichten wird unterschiedlich dargestellt und gewertet. Eine feststehende Figur in diesem Kontext bildet der Heimkehrer bzw. die Heimkehrerin. Leopold Kompert installiert die Figur des heimkehrenden Kindes – mit einer durchgängig positiven Perspektive auf den Konnex von Haus und Familie – schon in dieser frühen Erzählung aus dem Jahr 1851. Ausgangspunkt bildet die Ankunft eines als Bettler verkleideten jungen Mannes im Schetl  : »der Bettler […] schritt […] durch alle Windungen und Krümmungen der Gasse, ja sogar durch das finstere Durchhaus, das man sonst ohne Wegweiser nicht finden konnte. Mit einem Male standen sie vor Schimme Pragers Wohnung.«177 Dass Schimme Pragers Haus ein – wenngleich topographisch verborgener  – Ort der Frömmigkeit ist, wird bereits durch ein zeichenhaftes Detail deutlich gemacht  : Der Dorfgeher berührt die Mesusa. Die damit verbundene Wirkung teilt der heterodiegetische Erzähler mit ehrfürchtigem Gestus mit  : 176 Leopold Kompert, Der Dorfgeher [1851], in  : Der Dorfgeher, S. 10–S. 54, hier S. 22. (Abgedruckt nach der Ausgabe L. K., Böhmische Juden. Geschichten. Gesammelte Schriften, Bd. 2. Berlin 21882, S. 1–54). 177 Kompert, Dorfgeher, S. 11.

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»es war, als hebe ihn die Nähe seines Gottes über die Wucht seines Packes und über sich selbst hinaus.«178 Der vermeintliche Bettler hingegen erschrickt vor dem Anblick des Vaters in dieser Situation, was als eindeutiger Hinweis auf den tatsächlichen Grad der Entfremdung zwischen den Generationen gelesen werden kann. Mit einer »Plett« für »die Sabbatkost«179 ausgestattet, betritt nun der junge Mann die Wohnstube, wo er als Gast aufgenommen wird. Der Leser weiß von Beginn an, dass der Bettler der nach Jahren der Abwesenheit zurückgekehrte Sohn der Familie Elije ist. In Wien hat er den Namen Emanuel angenommen. Eigentlich will sich Emanuel unerkannt und endgültig von seinen Eltern und damit von seinem Judentum verabschieden, um seine christliche Braut in Wien zu heiraten. Als vorgeblicher Kostgänger erlebt er das erste Mal nach langer Zeit wieder eine Sabbatfeier im Kreise der Familie. Im Gegensatz zu der Erzählung Der Shylock von Barnow von Franzos hat die Familie den Sohn aber nicht verstoßen, sondern er lebte in den Gedanken von Vater und Mutter seit seinem Weggang fort  : ›Sie wünschten also Ihren Elije nicht geboren zu haben  ?‹ fragte Emanuel leise. […] ›Lebendiger Gott‹, rief die Mutter entsetzt, ›hab’ ich so etwas gesagt  ? Ich kann mir ja gar nicht vorstellen, was ich wär’ ohne meinen Elije in der Welt  ; gerade meinen Elije muß ich geboren haben.‹180

Die häusliche Welt seiner Herkunft, die Emanuel einst »zu enge geworden«181, holt ihn schließlich wieder ein. Am Ende gibt er sich zu erkennen, um fortan bei seiner Familie zu bleiben. »›Elije, mein Elije  !‹ tönte es darauf von den Lippen der Mutter so laut schrillend, daß es im Hause widerhallte.«182 Die Figuren bzw. die Familie und ›ihr‹ Ort, das Haus, bilden am Schluss der Erzählung also scheinbar wieder die ursprüngliche Einheit. Die Spuren des Verzichts auf seine christliche Braut spiegeln sich allerdings in einem schmerzlichen Brief Elijes an Klara wider. Darin bemüht er eine Metapher, deren Bedeutungsspektrum wiederum im semantischen Umfeld der Begriffe ›Behausung‹ und ›Behaustheit‹ zu 178 Komper, Dorfgeher, S. 13. 179 Kompert, Dorfgeher, S. 12. Die Plette war eine Art Empfehlungsschreiben für Kostgänger am Sabbat. Der Brauch, Bettler und Schnorrer zum Sabbat aufzunehmen, wird verschiedentlich in Erzählungen und Genrebildern des Ghettos beschrieben. Siehe z. B. Max Grünfeld, Ghetto-­ Freundschaft, in  : ders., Mährische Dorfjuden. Eine Sammlung von heiteren Erlebnissen, Erinnerungen, Erzählungen aus dem mährischen Ghetto. Brünn 1928, S. 13–14, oder Kahn, Ein Freitagabend, S. 20 f. 180 Kompert, Dorfgeher, S. 23. 181 Kompert, Dorfgeher, S. 22. 182 Kompert, Dorfgeher, S. 54.



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verstehen ist  : »Hart an die Wohnung des Glücks baut der Unglückselige seine Hütte an. Er wandelt mitten unter den Glücklichen, und sein Lächeln hat oft den Anschein, als wäre es von ihnen erborgt. Ich werde lächeln, ich werde mich freuen – kann ich aber dein vergessen, Klara  ?«183 Unverkennbar ist hier der berühmte Psalm 137,5 allerdings in einer säkularen Umdeutung und Umkehrung, anzitiert  : »Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem«, so spricht das Volk Israel im Exil, »an den Strömen von Babel«, um aber sofort die Unmöglichkeit des Vergessens mit der drastischen Formulierung »dann soll mir die rechte Hand verdorren./Die Zunge soll mir am Gaumen kleben«184 zu beglaubigen. In Leopold Komperts Erzählung suggeriert die Schlussfrage aber nichts weniger als dass das Vergessen der Geliebten und damit der Welt außerhalb des Schtetls, die hier in der räumlichen Erzähllogik auf das Gegenbild Jerusalems, also das Exil, abzielt, eigentlich ersehnt wird, wohl aber nicht eintreten kann. Der häusliche Frieden, den Emanuel im Elternhaus wiedergefunden hat, wird den Schmerz über den Verlust der Braut niemals vollständig kompensieren. Die Welt außerhalb des Schtetls bleibt künftighin aufgrund der Unmöglichkeit, vergessen zu können, als Erfahrungsspur in Emanuel und damit letztlich auch in seiner Familie verborgen. Die Einheit ist zwar augenscheinlich wiederhergestellt, der ursprüngliche Zustand familialer ›Unschuld‹ ist jedoch unwiederbringlich verloren. Insofern verweisen die Metaphern von der »Wohnung des Glücks« und der Hütte des Unglückseligen letztlich auf die Unvereinbarkeit von voraufklärerischer, auf Beschränkung basierender, aber in sich kohärenter Identität und emanzipatorischer Freizügigkeit, deren Folge in krisenhaften individuellen Identifikationen auszumachen ist. Verstärkt, wenngleich nicht explizit thematisiert, wird dieser Zusammenhang noch durch die Darstellung der geschlechterspezifischen Raumnutzung. Der im Text abwesenden bzw. nur in der brieflichen Anrede anwesenden Braut Emanuels ist der städtische Raum zugewiesen. Im Kontrast zu Emanuels elterlicher Wohnstube im Dorf ist dieser urbane Raum in jedem Fall mit einer Welthaltigkeit belegt, die im Rahmen der Erzählung nicht näher ausgeführt zu werden braucht. Der fernen Braut haftet per se ein emanzipatorischer Grundzug an, der sich allein darin bestätigt findet, dass sie mit Emanuel eine (interreligiöse) Liebesbeziehung eingegangen ist.185 Im Gegensatz dazu erweist sich die Bewegungsfreiheit der Frauen in der Familie des Dorfgehers als absolut eingeschränkt. Wie Eva Lezzi dargelegt hat, »werden Rösele [Emanuels 183 Kompert, Dorfgeher, S. 54. 184 Hier zitiert nach  : Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, (Stuttgart 1980). Freiburg, Basel, Wien [Lizenzausgabe] 2001. 185 Vgl zu diesem Aspekt Eva Lezzi, »Liebe ist meine Religion  !« Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2013, S. 211–222.

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Schwester] und ihre Mutter nur in ihrer häuslichen Umgebung gezeigt.«186 Die von Männern und Frauen ›geteilte‹ Häuslichkeit erweist sich in diesem Arrangement also nicht als gleichberechtigt, sondern sie liegt in einer »verdeckten Geschlechterhierarchie« begründet. Die damit verbundene »Normierungsfunktion« bezieht sich in erster Linie auf die nach wie vor aufrechte Trennung von innen und außen, von »öffentlichem und privatem Raum«, die von den Frauen nicht aufgehoben werden kann.187 Für die männliche Figur Elije/Emanuel ist es hingegen möglich, das Haus zu verlassen, die imaginäre Grenze sogar in beide Richtungen zu überschreiten  : Er definiert seinen Handlungsraum selbst und setzt damit die normative Raumordnung des Schtetls zumindest vorübergehend außer Kraft. Doch dadurch verändern sich zwangsläufig die Vorstellungswelten dieser Figur, die in letzer Konsequenz auch die konkrete Räumlichkeit des Hauses und des Dorfes betrifft. Eine räumliche Konstellation, die diesem Zustand entspräche, wäre in der Denkfigur des ›Zwischenraums‹ zu vermuten, doch ob es im Ghetto oder Schtetl einen Zwischenraum jenseits eines Entweder-Oder geben kann, lässt die Erzählung Komperts offen. Selig Schachnowitz Merelaika

Diese Frage greift, wenngleich von der spektakulären Handlung zunächst verdeckt, auch der galizische Roman Merelaika188 auf, um sie in einer überraschenden Schlusswendung in unvermuteter Weise zu beantworten. Erzählt wird die Geschichte des jüdischen Mädchens Merelea, auch Merelaika oder polnisch Marianka genannt. Da der elterliche Arbeitsplatz, die Schenke am Ort, für das Kind als nachteilig erachtet wird, schlägt die Mutter eines Tages vor, »Merelaika, und wäre es nur, um sie einen Teil des Tages fern vom Hause zu halten, in die Schule zu schicken.«189 Dort nimmt, aus retrospektiver Sicht der Familie, die unselige Entwicklung Merelaikas ihren Anfang  : Sie lernt Polnisch, liest polnische Bücher, entfremdet sich zunehmend ihrer Familie und ihrem Juden-

186 Lezzi, Ein jüdischer Ort  ? S. 177. 187 Lezzi, Ein jüdischer Ort, S. 178. 188 S. Schachnowitz, Merelaika. Roman aus dem galizisch-jüdischen Volksleben, [= Belletristische Bibliothek des Israelit  ; IV]. Frankfurt am Main 5671 (1910). Selig Schachnowitz wurde am 27.5.1874 in Russland geboren und starb am 23.1.1952 in Zürich. Einige Jahre wirkte er als Kantor der jüdischen Gemeinde Endingen, ging später nach Frankfurt am Main, wo er als Dozent der Breuer Talmud-Hochschule und als Redaktor der orthodoxen Zeitschrift Israelit tätig war. Durch die Nationalsozialisten vertrieben, kehrte er wieder in die Schweiz zurück. Siehe dazu  : Historisches Lexikon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.ch (letzter Zugriff  : 06.02.2017). 189 Schachnowitz, Merelaika, S. 2.



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tum.190 Merelaikas Traum, die weite Welt kennen zu lernen, mündet schließlich in den fatalen, wenngleich halbherzig getroffenen Entschluss, katholisch zu werden und einen polnischen Gutsverwalter zu heiraten. Kolportagehaft mutet die Entführung Merelaikas aus dem Elternhaus in ein Kloster an, wo sie auf die Taufe vorbereitet werden soll. Im Kloster erkennt sie schließlich ihre Verfehlungen, will sich deshalb der Taufe um jeden Preis widersetzen. Durch eine List werden Merelaika und eine andere Jüdin, die ebenfalls von der Zwangstaufe bedroht ist, von ihrem von den Eltern für sie bestimmten Bräutigam und ihrem Bruder aus dem Kloster gerettet. Die verschiedenen Schauplätze der Handlung sind mit eindeutigen Konnotationen, die sich allerdings im Verlauf der Geschichte ändern oder überhaupt verschwinden, belegt. Das Geschehen nimmt seinen Ausgang in der florierenden Dorfwirtschaft von Sander und seiner Frau, Merelaikas Eltern. Die Tatsache, dass das Haus nur gepachtet ist, bildet zwar einerseits gängige historisch belegbare Besitzverhältnisse ab, lässt sich auf der Ebene der Narration allerdings dahingehend deuten, dass die Rahmung, die das Haus dem Geschehen (und der dort lebenden Familie) verleiht, lediglich auf jederzeit kündbarem Konsens beruht und damit tendenziell instabil ist. In dem Haus befindet sich neben dem Schankraum und dem »Herrenzimmer« für die »Notabeln« der Ortschaft auch das Familienzimmer. Jeder Raum ist einer Personengruppe zugeteilt  : In drei Gruppen teilte sich abends die Gesellschaft im Hause […], durch den Raum wie auch durch die Art der Beschäftigung und Unterhaltung scharf voneinander getrennt. In der ›Schenke‹ saßen ernste Bergleute […] In der Restauration saßen die Honoratioren am Spieltisch. […] Nur eine dünne Wand trennte diesen Raum von dem Familienzimmer, aber sie schied zwei entgegengesetzte Welten voneinander […].191

In dem »sauberen, einfach ausgestatteten«192 Familienzimmer wird »gelernt«, d. h. der Sohn und der zukünftige Schwiegersohn, die beide eine »berühmte Jeschiwoh in Ungarn«193 besucht haben, studieren Talmud,194 die Mutter geht häuslichen Arbeiten nach, am Sabbat liest sie aus ihrem »Deutsch-Chumesch« 190 »Lektüre« und »Bildungssehnsucht« bilden in der Ghettogeschichte eigenständige Topoi aus. Vgl. dazu u. a. Ernst, Goethe und Schiller im Schtetl. 191 Schachnowitz, Merelaika, S. 12 f. 192 Schachnowitz, Merelaika, S. 13. 193 Schachnowitz, Merelaika, S. 2. 194 Schachnowitz, Merelaika, S. 14  : »Mehrere Folianten lagen ungeordnet auf dem Tische, in denen die jungen Leute von Zeit zu Zeit blätterten, um dann wieder singend und gestikulierend, zuweilen auch heftig debattierend, in die Materie tiefer einzudringen.«

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oder dem »jüdisch-deutschen Techinotbuch«,195 während der Vater »sein Mittagschläfchen«196 hält. Merelaika meidet diesen Raum zunehmend, hält sich gerne im Schankraum auf, verlässt aber das Haus auch immer öfter. Die essenzielle Verbindung des Sabbats mit dem Familienzimmer, das dadurch einen herausgehobenen Stellenwert in der Erzählung erhält, wird einerseits durch die darin befindlichen Gegenstände, vor allem durch die Gebetbücher und Folianten, andererseits durch die sabbatlichen Handlungen der Personen markiert. Der Umstand, dass sich die Tochter zunehmend und immer öfter räumlich distanziert, der Raum also (für sie) seine Bindungskraft verliert, kann schon als erste Ablösung von ihrer erlernten Frömmigkeit gelesen werden. Darüber hinaus verdient dieser Befund eine weitere Ausdeutung hinsichtlich der impliziten Genderperspektive. Denn die Stube, die eigentliche Heimstatt, bildet – wie bereits dargestellt  – den Ort der Frau. Ihre häuslichen Aufgaben, die Reinigung, die rituellen Handlungen und Segnungen am Sabbat und an den Feiertagen, das gemeinsame Mahl etc. stellen den Raum in seiner (religiösen) Bedeutung für die jüdische Familie erst performativ her. Entzieht sich die Frau diesen Aufgaben oder meidet sie – wie das Erzählungen immer wieder thematisieren – den Ort, an dem diese Tätigkeiten situiert sind, kündigt sich damit auf einer inhaltlichen Ebene der Erzählung meist ein Verfalls- oder Bedrohungsszenario für die gesamte Familie an. Nicht selten werden in Ghettonovellen, die überwiegend von Männern verfasst wurden, solche Rückzugsgeschichten von Frauen aus ihrem traditionellen Aufgabenbereich mit (weiteren) grenz- bzw. gesetzesüberschreitenden Aktivitäten gekoppelt. Dazu gehören in erster Linie verbotene Liebesbeziehungen vornehmlich mit christlichen Männern und das Lesen verbotener Bücher. Beides trifft auch auf Merelaika zu. Dass sich Merelaika durch den Umgang mit dem christlichen Gutsverwalter und einer polnischen Fürstin, die ihr das Neue Testament nahezubringen versucht, auch innerlich von ihrer Familie entfernt, wird folgerichtig in ihrer Einstellung zum Sabbat am deutlichsten  : »Ueberhaupt der Samstag  ! Das war ein Tag geistestötender Oede für das Mädchen, das nach Leben und Bestätigung dürstete.«197 Aus der Figurenperspektive Merelaikas wird immer wieder die Opposition aufgemacht zwischen der Enge der Häuslichkeit und der vermeintlichen Offenheit und Weite der Welt außerhalb des Hauses. In letzter Konsequenz bedeuten die »zwei entgegengesetzten Welten« aus der Figuren-, aber auch aus der Erzählerperspektive jüdische und nichtjüdische Welt  ; dies wird allerdings erst mit fortschreitender Handlung erkennbar. Der tägliche Umgang zwischen 195 Schachnowitz, Merelaika, S. 40. 196 Schachnowitz, Merelaika, S. 40. 197 Schachnowitz, Merelaika, S. 40.



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den meisten polnisch-christlichen Gästen und den jüdischen Gastleuten ist freundlich, teilweise sogar herzlich. Allein der katholische Missionierungseifer der fürstlichen Herrschaft spricht eine andere Sprache. Hier offenbart sich ein Gemisch aus polnischem Nationalismus und christlichem Fanatismus, dessen Opfer nicht nur die Familie des Schankwirts wird. Das Bewusstsein über die tatsächliche Geschiedenheit zwischen der jüdischen und christlichen Lebenswelt stellt sich bei den Eltern mit der Entführung der Tochter ein. Jetzt wird die Trennung, die im Gasthaus nur eine rein funktionale zu sein schien, und privaten von öffentlichem bzw. beruflichem Raum unterschied, als fundamental und existenziell wahrgenommen. Als zum Sabbatausgang die »Segensprüche der Hawdalah« gesprochen werden, bricht Sander in Tränen aus »besonders an der Stelle, die von dem Unterschiede zwischen dem Heiligen und Gemeinen, Israel und den Völkern spricht.«198 Dass es aber verschiedene, gleichberechtigt nebeneinanderstehende, ja, sich einander ergänzende Konzeptionen jüdischen Lebens gibt, kann als implizite Mitteilung des Autors aus dem Text herausgelesen werden. Strikt ausgenommen aus dieser Wertung ist allerdings eine assimilatorische Haltung, die an der Entwicklung der Protagonistin in ihrer für das Judentum katastrophalen Konsequenz exemplifiziert wird. Hingegen stehen Orthodoxe wie Chassidim und gemäßigt Konservative, personifiziert in Sander, dem Zaddik von »Doragosa«199 und David, dem Bräutigam Merelaikas, gleichberechtigt nebeneinander. Vater Sander, selbst zwar kein Chassid, nichtsdestoweniger ein treuer Anhänger des Wunderrabbis und streng religiös, verstößt im Gegensatz zu der Erzählung Der Shylock von Barnow seine Tochter nicht, gleichwohl wird das Schicksal Merelaikas ähnlich wie in Franzos’ Erzählung »wie in einem Trauerhause« beklagt.200 David versteht sich offenkundig als orthodox, durch seine Erfahrungen in Ungarn steht er Reformen allerdings offen gegenüber. David wägt die Situationen ab und trifft dann wohlüberlegte Entscheidungen. Er ist der uneingeschränkte Sympathieträger des Romans und deshalb werden die von ihm vertretenen Positionen im Hinblick auf ein zeitgemäßes Judentum ausschließlich positiv bewertet. So auch seine Haltung gegenüber dem Zaddik, dessen Persönlichkeit ihn aufrichtig beeindruckt, obwohl er das Brimborium um 198 Schachnowitz, Merelaika, S. 98. 199 Schachnowitz, Merelaika, S.  113. Hier spielt der Autor durch Silbenverkehrung kaum verschlüsselt auf Sadagóra, einen Vorort von Czernowitz, an, wo der legendäre Wunderrabbi Friedmann ein aus damaliger Sicht eindrucksvolles Palais errichtet hatte. Dorthin pilgerten Juden aus dem ganzen Lande. Eine Abbildung des Palais siehe in  : Illustrierter Führer durch die Bukowina von Hermann Mittelmann. Czernowitz 1907/08, neu herausgegeben von Helmut Kusdat. Wien 2002, S. 36. Das Palais steht, wenngleich stark beschädigt, noch heute. 200 Schachnowitz, Merelaika, S. 98.

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ihn ablehnt. Gerade an der Episode um den Zaddik,201 der eine in der Literatur öfter und meist kritisch beschriebene Figur darstellt, zeigt sich die Integrationskraft Davids, der aus der Perspektive des Erzählers als idealer Stellvertreter einer jungen jüdischen Generation gezeichnet wird. David vereint das Positive des traditionellen Judentums mit einer gemäßigt-pragmatischen Haltung  : Er möchte Neuerungen aus anderen Regionen  – vor allem aus Ungarn202  – integrieren und plädiert nachhaltig für die Reformierung des Rabbinerwesens, um damit den zeitgenössischen Anforderungen Rechnung zu tragen.203 Dass der Ort für ein solchermaßen verstandenes und zukunftsträchtiges Judentum aus Sicht des Erzählers allerdings nicht im polnischen Galizien liegen kann, signalisiert der Schluss des Romans. Die Gewalt, die Merelaika und einer ebenfalls entführten jungen Jüdin angetan wurde, veranlassen die jungen Leute letztendlich zur Auswanderung. Die kurze Schlusspassage zeigt sie in Bremen, wo sie auf eine Schiffspassage warten – ob nach Amerika oder Palästina, bleibt offen. Diese Schlusswendung kommt unvermutet, denn die Auswanderung wird an keiner Stelle im Text diskutiert oder angedeutet. Allerdings wird parallel zur Gefangenschaft Merelaikas im Kloster der rasche Niedergang des elterlichen Hauses beschrieben. Aufgrund der Ereignisse sehen sich die Eltern Merelaikas nicht mehr imstande, das Gasthaus regelmäßig zu öffnen, sodass die Einnahmen zurückgehen und deshalb nach kurzer Zeit die Pacht aufgekündigt wird. Die Bedrohung der Familie, die pars pro toto für die gesamte jüdische Bevölkerung in Galizien steht,204 spiegelt sich im allmählichen Verfall des Wirts- und Wohnhauses. Schließlich wird das Wirtshaus, das für eine lange Zeit Zentrum des wirtschaftlichen und religiösen Lebens der Familie gewesen war, aber auch Ausgangspunkt der unseligen Entwicklungen, aufgegeben. Als positiver Ausblick steht am Ende der Aufbruch der Protagonisten in eine neue Heimat. Der gewandelten Situation korrespondiert ein dürftig ausgestatteter Aufenthaltsort, dessen enges Bedeutungsspektrum nun allerdings nur noch durch den gemeinsamen Wunsch, gerade diesen Ort sowie den in der Erzählung dahinter liegenden lebensweltlichen Raum endgültig zu verlassen. Der Ort, der von den Figuren in ihrer ›alten Welt‹ zuletzt besetzt wird, ist völlig unspezifisch. Er zeichnet 201 Schachnowitz, Merelaika, S. 119–140. 202 Offenkundig bezieht sich Schachnowitz darauf, dass nach der Abspaltung der später als »Konservatives Judentum« bezeichneten Gruppen (nach 1845) einige »radikalere Reformer« aus Deutschland nach Ungarn ausgewichen waren. Vgl. dazu Stichwort  : Reformjudentum, Reform Judaism, Progressive Judaism, in  : Maier, Judentum, S. 353–356, v. a. S. 354. 203 Z. B. Schachnowitz, Merelaika, S. 81. 204 Die Bedrohung rührt ausschließlich von Vertretern des Feudalsystems bzw. der institutionalisierten Kirche. Die einfachen Landbewohner, die das Gasthaus Sanders regelmäßig besuchen, leben in gutem Einvernehmen mit den Wirtsleuten.



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sich einzig durch eine verheißungsvolle Helligkeit und Weite aus  : »Im hellen, weiten Lesezimmer der jüdischen Auswanderungshalle zu Bremen saß […] eine geschlossene Gruppe von acht Köpfen.«205 Jemand liest »aus einer jüdischen Zeitung« einen Bericht über die Ereignisse um Merelaika vor. Die Lehre, die aus der Sicht des Vorlesenden daraus zu ziehen sei, richtet sich an »Väter, Erzieher und die geistigen Führer«. Sie mögen sich »der jungen Generation mit mehr Liebe und Verständnis annehmen und sie lehren […], stark zu bleiben und unentwegt an den Heiligtümern ihres Volkes« festzuhalten.206 So endet dieser »Roman aus dem galizisch-jüdischen Volksleben« mit einem Plädoyer für ein verändertes Verhältnis der alten und jungen Generation, dessen conditio sine qua non aber stets die religiöse Tradition bleiben müsse – an welchem Ort der Welt auch immer. Eduard Kulke Eigene Haare

Eine ähnliche Quintessenz vermittelt auch Eduard Kulkes Erzählung Eigene Haare, die in Mähren, »Marreland«,207 angesiedelt ist. Das Mädchen Rosa verlässt anlässlich ihrer Hochzeit mit Jossef »das Haus ihres guten Vaters« und muss sich »in eine fremde Umgebung fügen lernen«,208 die vornehmlich durch die strenge orthodoxe Schwiegermutter Kreßel dominiert wird. Der vorprogram­ mierte Konflikt zwischen Rosa und Kreßel wird bereits am Anfang der Erzäh­ lung durch den Hinweis angekündigt, dass Rosa  – die »auf jüdisch Rochele heißt«209 – »aus einem Orte komme, in welchem die neue Mode, die sogenannte ›Aufklärerei‹ bereits angefangen habe Wurzel zu fassen«.210 Rosa reagiert verblüfft auf Kreßels Ansinnen, dass sie nach der Hochzeit die Haare schneiden solle  : »tragen denn die jungen Weiber bei Euch daheim noch nicht die eignen 205 Schachnowitz, Merelaika, S. 185. 206 Schachnowitz, Merelaika, S. 187. 207 Eduard Kulke, Eigene Haare, in  : ders., Eduard Kulke’s erzählende Schriften, hg. v. Friedrich S. Krauss, 2. Band. Leipzig 1906, S. 6. Erstveröffentlichung in  : Kalender für Israeliten auf das Jahr 5628 (1867/68). Wien 1867, S.  85–166. Zur Biographie Kulkes (1831–1897) siehe Primus-Heinz Kucher, Kulke, Eduard, in  : Kilcher, Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S.  359–361. Als topographisches Umfeld der Ghettoerzählungen Kulkes identifiziert Kucher »einerseits [die] Judengassen mährischer Kleinstädte und deren Umfeld (bäuerliche Dörfer), andererseits […] Brünn und Wien.« Dabei greife der Autor, Sohn eines Rabbiners, »zentrale kulturelle und religiöse Fragen auf, die im Judentum der österreichischen Monarchie virulent waren.« (S. 360). 208 Kulke, Eigene Haare, S. [3]. 209 Kulke, Eigene Haare, S. 4. 210 Kulke, Eigene Haare, S. 4.

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Haare  ?«211 Die Auseinandersetzung um die eigenen Haare führt schließlich zu einem jahrelangen Zerwürfnis zwischen den beiden Frauen, deren diametral entgegengesetzte Anschauungen sich auch in der Wohnsituation widerspiegeln  : »Rechts vom Eingange führte eine Tür in die Wohnung der Mutter  ; dieser Türe gegenüber links gelangte man in die Zimmer, wo sich das junge Ehepaar einrichten sollte.«212 Wie sehr Kreßel gegen ihre Schwiegertochter als vermeintliche Sünderin eingenommen ist, zeigt sich beispielsweise darin, dass sie in Rosas Zimmer ein Bildnis von Schiller als Christusbild interpretiert. Auch die Erklärung, wen dieses Bild darstelle, bringt Kreßel nicht von ihrer Vorstellung ab, dass ihre Schwiegertochter letztlich ein gottloses Leben führe und damit Unglück über ihr Haus bringen werde. Aus der Erzählerperspektive wird Kreßels Haltung allerdings dahingehend relativiert, dass ihre Frömmigkeit »nicht durch erlangte Einsicht, sondern aus Gewohnheit« resultiere und sie daher auch keine »andere Grenze des Erlaubten und Unerlaubten [kannte], als diejenige, an die sie aus langer Übung sich gewöhnt hatte.«213 Rosa hingegen hat durch ihre Sozialisation, die gleichwohl durch religiöse Traditionen geprägt ist, ein höheres Maß an Freiheiten kennen gelernt, die sowohl aus der Figurenperspektive als auch durch den Erzähler als letztlich unausweichlich für die Zeit gedeutet werden. Dass Rosa religiöse Vorschriften generell ablehnen würde, widerlegt der Text eindeutig – mehrfach wird sogar darauf verwiesen, dass sie aus einem »echt jüdisch[en] Haus«214 komme, – und insofern wird ihre Position im Hinblick auf ihr Beharren, keinen »Scheitel« zu tragen, gestärkt. Ohne viel Aufhebens passt sich Rosa zum Beispiel in der Befolgung der Speisevorschriften den strengeren Regeln der Schwiegermutter an.215 Am Ende, nach 10 Jahren, da Gottes Strafe ausgeblieben ist, Rosa endlich noch Mutter wird und Kreßels eigene Tochter anlässlich ihrer Hochzeit nun auch auf ihre »eigenen Haare« besteht, versöhnt sich die Familie.216 Der Ausgleich zwischen den Generationen wird vom Erzähler am Schluss wieder im Bild des Hauses symbolisiert  : »Eine friedlichere Stätte als das Haus Kreßels hat es seit diesem Tage in der ›Gasse‹ nicht gegeben  ; und wenn man heute durch die ›Gasse‹ geht, so kann man finden, daß Rosas Beispiel viel Nachahmung gefunden hat.«217 211 Kulke, Eigene Haare, S. 7. 212 Kulke, Eigene Haare, S. 17. 213 Kulke, Eigene Haare, S. 23. 214 Kulke, Eigene Haare, S. 26. 215 Kulke, Eigene Haare, S.  33 oder S.  39. Rosa nimmt gewöhnlich den Milchkaffee »um vier Uhr nachmittags« ein, die Schwiegermutter besteht auf einer sechsstündigen Pause zwischen Fleisch- und Milchgenuss. 216 Kulke, Eigene Haare, S. 59. 217 Kulke, Eigene Haare, S. 59.



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Allein diese kurzen Ausführungen über den erzählten Innenraum Haus mit seinem möglichen Funktionsspektrum machen deutlich, dass der Verortung religiöser Traditionen in Ghettogeschichten im Vergleich zu nichtjüdischen Erzähltexten im 19.  Jahrhundert wesentliche Bedeutung beizumessen ist. Dabei geht es nicht um die Vermittlung mehr oder weniger dokumentarisch belegter Images mit der Zielrichtung, einem neugierigen Publikum Kulturbilder 218 aus einer fernen Welt vorzustellen, wie das häufig in der Forschung konstatiert wird,219 sondern um die grundlegende Diskussion über zukünftige Reichweiten und Differenzierungen jüdischer Traditionen in einer zunehmend säkularisierten Umwelt. Durch den ›Eintritt‹ des Judentums in eine säkulare Geschichte spätestens seit der Aufklärung wuchs in den zunehmend interkulturell agierenden Gesellschaften auch der Druck, religiöse Praktiken zu überdenken bzw. im Rahmen der sich formierenden nationalen Gesellschaften und Gruppierungen Fragen um bewusste und notwendige Abgrenzungen, Adaptierungen oder Aufhebungen neu zu stellen. Ghettogeschichten greifen diese Fragen nicht nur nebenbei auf, sondern sie werden, wie bereits erörtert, zu einem wesentlichen Medium im Rahmen der grundlegenden Debatten des Judentums im 19. Jahrhundert. Insofern muss es als selbstverständliche Konsequenz gewertet werden, Bräuche, Traditionen und (halachische) Vorschriften in den Ghettogeschichten so zahlreich beschrieben und verhandelt zu sehen, da sich darin ja gerade jene Kontinuitäten jüdischen Lebens manifestieren, die unter den Bedingungen der Modernisierungen plötzlich zur Disposition zu stehen schienen. Auffallend ist, dass die Autoren ihre Darstellungen häufig mit Erklärungen über den Sinn und die Herkunft des Dargestellten versehen. Daraus lässt sich folgern, dass sich die Erzählungen einerseits an ein nichtjüdisches Publikum wenden,220 anderer­ seits aber an ein bürgerlich-urbanes jüdisches Publikum, dass seinen religiösen Wurzeln schon weitgehend entfremdet ist. Unabhängig von einem intendierten Publikum kann konstatiert werden, dass sich ein Großteil der Autoren von 218 So lauteten immer wieder Titel von Ghettogeschichten, wie z. B. Nathan Samuely, Cultur-Bilder, oder Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien. Kulturbilder aus Galizien, Südrußland, der Bukowina und Rumänien. Leipzig 1876. 219 Mit dieser Vermutung wird in der Forschung letztlich nur fortgeschrieben, was manche Verfasser von Ghettogeschichten häufig selbst als übergeordnete Intention ihres Schreibens ausgeben. Es bleibt zu fragen, ob durch diesen inszenatorischen Gestus nicht eher eine publikumswirksame und populäre Etikettierung erwirkt werden sollte, die einem Anspruch auf Objektivität und ethnographischer Wissensvermittlung – und damit indirekt auf Modernität – gerecht zu werden versprach. 220 Diese Vermutung dürfte vor allem dann gelten, wenn die Texte nicht in deklariert jüdischen Verlagen publiziert wurden, wie etwa Salomon Kohns Prager Ghettobilder im Philipp Reclam Verlag in Leipzig. Salomon Kohn, Prager Ghettobilder. Leipzig o. J.

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Ghettogeschichten wertend mit den von ihnen beschriebenen Traditionen auseinandersetzen. Dies geschieht durch unterschiedliche S ­ trategien  : entweder durch Kommentierungen seitens der Erzählerstimmen, durch Sympathie­lenkung im figuralen Spektrum der Erzählung, durch damit verbundene Wertun­gen der von den Figuren vertretenen Positionen, durch Brüche im Handlungsverlauf etc. Das bedeutet in jedem Falle, dass sich die (realen) Autoren unabhängig von ihrem individuellen Selbstverständnis als Teil des von ihnen beschriebenen kulturellen jüdischen Systems verstehen, das sich spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Möglichkeiten, aber auch Anforderungen der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen neu definieren musste. Nichtsdestoweniger war dieses kulturelle System nach wie vor durch einen religiösen Bezugsrahmen fundiert – und zwar ex positivo wie ex negativo. Religion mochte zwar z. B. von manchen Vertretern der Wissenschaft des Judentums gemäß den Idealen der Französischen Revolution und der Aufklärung als Privatsache angesehen werden, die absolute Durchdrungenheit sozialer Beziehungen und familialer Strukturen sowie eines identitären Verständnisses als Kollektiv durch die Jahrtausende alte Tradition ließ sich jedoch nicht qua Diktum innerhalb einer Generation aufweichen oder gar ablösen. Das bestätigen u. a. jene Ghettonovellen, die anhand von Generationskonflikten über das Zeitgemäße bestimmter Praktiken diskutieren. Auch in diesem Kontext fungieren Innenräume im Rahmen von Erzählungen als handlungsrelevant  ; teilweise fokussieren sich dort die Problemstellungen oder die Orte selbst avancieren zum Austragungsort der Auseinandersetzungen. Im Folgenden wird die Funktionalisierung von Innenräumen, die im Gegensatz zum Haus primär öffentliche Räume sind, exemplarisch untersucht  : Cheder, Synagoge (Schul) und Schenke. 3.2 Cheder

In Ergänzung zum Haus, das als Ort des familiär-religiösen Lebens von der Frau gestaltet wird,221 »steht das Lehrhaus als traditioneller Wirkungsort der Männergemeinschaft.«222 Wie Rachel M. Herweg konstatiert, wird dort die »tradierte Lehre am jeweils gegenwärtigen Leben« überprüft und das Leben damit gleichsam durchdrungen.223 Das »Lernen« ist für das Judentum von zentraler Bedeutung. Das Studium gilt als »mizwe, eine Handlung, die von Gott

221 Zu den Grundlagen vgl. noch einmal Herweg, Mutter, Kapitel 3.2 Jüdisches Haus, »Priesterschaft« der Frau und die »Heiligung der Familie«, S. 88–101. 222 Herweg, Mutter, S. 82. 223 Herweg, Mutter, S. 82.



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befohlen ist.«224 Es ist ein unabschließbarer Vorgang, der, von keiner Generation unterbrochen, den Traditionsbestand sichert. Bis zum Ende des Exils und zur Ankunft des Messias kennt das gesetzestreue Judentum nach Jakob Katz »kein anderes Mittel zur Selbstidentifizierung als die Aufrechterhaltung der Tradition.«225 Oder wie es Herzog und Zborowski für das osteuropäische Judentum formulieren  : »Jeder Angehörige des Schtetls war dort, und jeder ist so wie Moses selbst dem Bunde verpflichtet.« Die 613 Gebote formulieren Aufgaben, »die auf drei Hauptverpflichtungen basieren. Eine ist die Verpflichtung, ständig das Wort Gottes zu studieren, um mehr Wissen über die Gebote zu erlangen und sich der Wahrheit zu nähern, die in den Heiligen Büchern liegt.«226 Der Zugang zum »Lernen« bleibt traditionsgemäß dem Mann vorbehalten. Aus diesem Umstand erklärt sich aber auch, dass ab Mitte des 19.  Jahrhunderts mit der verstärkten Einführung öffentlicher Schulen vor allem Mädchen von einer säkularen Ausbildung profitieren konnten.227 Ghettogeschichten  – als Beispiele seien nochmals Merelaika von Selig Schachnowitz oder Franzos’ Der Shylock von Barnow genannt – spielen auf dieses Phänomen wiederholt an  ; auch autodidaktische Bildungsgänge werden in den Texten immer wieder geschildert. Meist wird in diesem Zusammenhang aus orthodoxer oder chassidischer Perspektive, die oft auf Figuren-, gelegentlich aber auch auf der Erzählerebene angesiedelt sein kann, deutliche Kritik an dieser Entwicklung geübt. Die Auswirkungen der säkularen Bildung werden – unabhängig von der Bewertung seitens der Erzählerinstanz  – im Handlungsverlauf meist so dargestellt, dass sie zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Auflehnung gegen traditionelle Auffassungen und Lebensmodelle führen.228 Typischer »Lernort« außerhalb des familiären Rahmens war für Kinder zwischen drei und fünf Jahren zunächst einmal der Cheder, die Elementarschule, in 224 Zborowski, Herzog, Das Schtetl, S. 52. Nach Dtn 6,7 gilt die Weitergabe der »Worte« an die »Söhne« als Pflicht. 225 Zitiert nach  : Stichwort  : Jüdisches Lernen, in  : Neues Lexikon, S. 244. 226 Zborowski, Herzog, Das Schtetl, S. 80. 227 Vgl. dazu auch Kłańska, Schtetl, S. 177 f. Als literarisches Beispiel siehe Nathan Samuely, Das Tüpferl auf dem i, in  : Höfler, Spörk, Der Dorfgeher, 194–214, hier S. 196  : »Später freilich vergingen oft ganze Stunden, daß wir einander nicht sahen, denn ich mußte eine höhere Stufe im Hebräischen erklimmen, während Esther häuslichen Unterricht im Lesen und Schreiben der deutschen Sprache genoß.« 228 Vgl. z. B. die Figur des Aaron Leiblinger in Karl Emil Franzos, Esterka Regina, in  : ders., Die Juden von Barnow, S. 152. Aaron erpresst von den Vorstehern der Gemeinde den Besuch der »Christenschule […], und obwohl derlei bis dahin unerhört war im Städtchen, so gelang ihm dies auch.« Später wird aus Aaron »ein junger Herr, der sich deutsch kleidet und nur deutsch spricht« und nach Wien geht, »um Doktor zu werden.« (S. 156 f.).

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der man Hebräisch lernte und in die Bibellektüre eingeführt wurde.229 Zwischen dem 8. und dem 13. Lebensjahr besuchten die Knaben, »deren Eltern keine Unterweisung zahlen«230 konnten, eine weiterführende Talmud-Thora-Schule, anschließend konnte im Bêt-Ha-Midraš, im Bethaus, »eine[r] Art Hochschule für das Studium des Talmud, aber ohne Hausordnung und Lehrer«,231 oder in der Jeschiwa, dem traditionellen rabbinischen Lehrhaus, das Studium intensiviert und vervollkommnet werden.232 In Ghettogeschichten wird zwar häufig erwähnt, dass ein junger Mann eine Jeschiwa besucht, ausgestaltet wird dieser Ort und das damit verbundene Lernen aber vergleichsweise selten. Insofern bleibt die Jeschiwa für den Leser ein unbekannter und unzugänglicher Raum, ein Ort der Distanz, selbst wenn er mit positiven Konnotationen versehen Wertschätzung und Respekt erfährt, wie etwa in Leo Herzberg-Fränkels Erzählung Ein Osterfest  : Eine ferne Jeschiwe […] nahm ihn gastlich auf, und der Welt und dem geräuschvollen Leben draußen entrückt, warf sich der junge Mann mit ehernem Fleiße und einem rastlosen Eifer auf die Studien von Bibel und Talmud, in denen er rapide Fortschritte machte und seine Lehrer überholte.233

Obwohl Herzberg-Fränkels Schilderung des Jeschiwa-Aufenthalts des Protagonisten rund ein Zehntel des gesamten Textes ausmacht, bleibt die »Klause« für den Leser ein verborgener Ort. Er erfährt letztlich nicht mehr, als dass »die frommen Schüler« von weisen Männern in Thora und Talmud unterrichtet werde  : »sie leben, wohnen, schlafen und essen in der Klause, von Folianten umgeben, in welchen sie wie Schatzgräber nach antiker Weisheit wühlen.«234 Wichtiger als der Ort erscheint in den Erzählungen die Geschichte der Bochurim,235 die nach ihrem Studium wieder in das heimatliche Schtetl zurückkehren, um dort 229 Vgl. dazu auch Zborowski, Herzog, Das Schtetl, Kap. II  : Er möge in die Thora eingeführt werden […], Abschnitt  : Vom Chejder bis ins Grab, S. 52–66, sowie Helge-Ulrike Hyams, Jüdische Kindheit in Deutschland. Eine Kulturgeschichte. München 1995, S. 31–39. 230 Zborowski, Herzog, Das Schtetl, S. 52. 231 Jakob Fromer, Ghettodämmerung. Eine Lebensgeschichte. Berlin, Leipzig 1911, S. 22, zitiert nach Maria Kłańska, Aus dem Schtetl in die Welt  : 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien, Köln, Weimar 1994, S. 169. 232 Vgl. auch Herweg, Mutter, S.  207. Die Jeschiwot sind ohne Altersbeschränkung jedem jüdischen Mann zugänglich  ; »das Lernen vollzieht sich vorrangig in Dialog und Disput.« 233 Leo Herzberg-Fränkel, Ein Osterfest, in  : ders., Polnische Juden, S. 103–125. Hier zitiert nach der Ausgabe Höfler, Spörk, Der Dorfgeher, S. 141–S. 154, hier S. 147. 234 Leo Herzberg-Fränkel, Ein Osterfest, S. 147. 235 Bochurim oder Bachurim stellten als Junggesellen zwischen 15 und 18 Jahren in der Jeschiwa Osteuropas die Mehrzahl. Vgl. dazu Kłańska, Aus dem Schtetl, S. 169.



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jichuss 236 und das Ansehen der Familie zu stärken237 oder aber um sich aufgrund der zusätzlich erhaltenen säkularen Ausbildung von ihrem bisherigen Leben abzuwenden. Als Beispiel für letzteres wäre stellvertretend Max Grünfelds Erzählung Die Abtrünnigen. Eine Geschichte aus dem Leben der Gasse 238 anzuführen. Die Ursache für dieses tendenzielle Ausblenden der Jeschiwot aus den Erzähltexten dürfte zum einen in der mangelnden Innensicht und Kenntnis vieler Autoren über diese Institution liegen, zum anderen in einer gewissen Ehrfurcht davor. Nicht außer Acht gelassen werden darf darüber hinaus die Tatsache, dass das Studium in den Jeschiwot als höchste Stufe des Lernens letztlich auf einem freiwilligen Entschluss basiert.239 Der Cheder hingegen diente der »massenhaften Ausbildung jüdischer Knaben«240 und war in diesem Sinne für den Einzelnen eine unumgängliche Einrichtung, die nicht selten mit Zwang verbunden war. Nichtsdestoweniger konnte aufgrund der elementaren Chederausbildung der Prozentsatz jüdischer Analphabeten verglichen mit jenem in den nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften stets gering gehalten werden. Die Autoren vor allem der galizischen Ghettogeschichten zollen dem Cheder, der Elementarschule, keinen Respekt. Vielmehr wird der Cheder fast durchgängig als anachronistischer Ort stupiden und mechanischen Lernens, körperlicher und psychischer Gewalt und wirtschaftlicher Not gezeichnet. In der Darstellung des Cheder ist die Kritik an der Starrheit der osteuropäischen Orthodoxie und des Chassidismus so deutlich und unverblümt wie in kaum einem anderen räumlichen Kontext gefasst.241 Das düstere Bild dieses Orts, das in fiktionalen Texten entworfen wird, 236 Zum Begriff jichuss siehe Zborowski, Herzog, Das Schtetl, S. 56  : »Dem Wesen nach ist es [jichuss] ein Produkt aus Gelehrsamkeit plus Vermögen, aus Gelehrsamkeit ohne Vermögen oder von Vermögen im Sinne des höchsten gemeinsamen Nenners  : zur Erfüllung der göttlichen Gebote.« 237 Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa die Figur Rafael in Leo Herzberg-Fränkels Erzählung Ein Osterfest, die Figur David in Selig Schachnowitz’ Roman Merelaika oder Henoch in Salomon Hermann Mosenthals Erzählung Raaf ’s Mine  ; zu letzterem siehe z. B. Salomon Hermann Mosenthal, Raaf ’s Mine, in  : ders., Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben, mit einem Nachwort hg. v. Ruth Klüger. Göttingen 2001, S. 67–108, hier S. 75. Der Text folgt der ersten Buchausgabe  : Salomon Hermann Mosenthal, Gesammelte Werke, Bd. 1. Stuttgart 1878. 238 Max Grünfeld, Die Abtrünnigen. Eine Geschichte aus dem Leben der Gasse, in  : ders., Leben und Lieben im Ghetto. Prag o. J., S. 5–60. 239 Vgl. auch dazu Herzberg-Fränkel, Ein Osterfest, S. 147  : Der vormals »unbesonnen[e] und ungebunden[e]« Protagonist Rafael reist »in die Welt hinaus, mit dem Entschlusse, ein ernster Mann zu werden […] eine ferne Jeschiwe war das Ziel seiner Wanderung […].« 240 Kłańska, Schtetl, S. 166. 241 Vgl. dazu auch Günther A. Höfler, Bildungsaspekte in den Ghettogeschichten. Anmerkungen zum archaischen Interesse der Moderne, in  : Sonja Rinofner-Kreidl (Hg.), Zwischen Orientierung und Krise  : zum Umgang mit Wissen in der Moderne. Wien, Köln, Weimar 1998 [= Studien zur Moderne  ; 2], S. 309–328.

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bestätigen auch viele Autobiographien bis ins 20. Jahrhundert.242 Helge-Ulrike Hyams bemüht sich, die Negativdeutungen, die dem Cheder anhaften, historisch auszuleuchten und zu korrigieren sowie die Bewertung des Cheders im 19. Jahrhundert als Reaktion bzw. Resultat »in einer Phase der Assimilation und der Integration in das christliche Umfeld« zu interpretieren.243 Obwohl Hyams tendenziell einer harmonisierenden bzw. idealtypischen Sichtweise huldigt, stellt sie einer idealisierenden Beschreibung von Elieser Meir Lipschütz244 eine kritische Passage des Zionisten Shmarya Levin245 gegenüber, die die Kritik vieler Verfasser von Ghettogeschichten zusammenzufassen scheint  : Noch heute durchschauert es mich, wenn ich an die fürchterliche Welt denke, in der wir die Jahre unserer zartesten Kindheit verlebten. Hätte der berühmte Josua ben Gamala, der Begründer des Cheders,246 aus dem Grabe aufstehen und sehen können, was aus seiner Idee einer Volksschule geworden war – er würde vor Scham und Entsetzen ins Grab zurückgeeilt sein.247

Levin kritisiert nicht nur die triste Umgebung des Lernorts, das pädagogische Unvermögen des Melameds, des Lehrers, und den »jämmerlich mager[en] geistig[en] Inhalt«,248 sondern er beklagt auch die mit der Chederausbildung einhergehenden langen Trennungsphasen der Kinder von ihren Eltern  : Ich kann nicht oft genug betonen, welche überragende, ja ausschließliche Rolle der Cheder im Leben des kleinen jüdischen Jungen spielte. Er sah seine Eltern nur die eine halbe Stunde am Morgen – vor den Gebeten – und die halbe Stunde am Abend – ehe er schlafen ging. So kam es, daß in den meisten Fällen ein vertrautes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und selbst zwischen Brüdern, wenn sie verschiedene Cheder besuchten, gar nicht aufkommen konnte.249 242 Vgl. dazu Kłańska, Schtetl, S. 165–169. 243 Hyams, Jüdische Kindheit, S. 39. 244 E[lieser] M[eir] Lipschütz, Das Leben des Kindes im Cheder, in  : Der Jude  4 (1919/20) 9, S. 413–418. Vgl. weiterhin Höfler, Bildungsaspekte, S. 323, Anm. 35. 245 Zu Shmarya Levin vgl. auch Ingo Loose, »Out of Bondage« – Zum 70. Todestag des Zionisten Shmarya Levin (1867–1935) in  : transversal 6 (2005) 2, S. 11–35. 246 Josua ben Gamala (um 65 n. Z.) ist nach dem Talmud für die Errichtung von Schulen für Knaben verantwortlich. Vgl. dazu M. Holzmann, Volksbildung, in  : Die Lehren des Judentums, hg. v. d. Vereinigung für Schriften über jüdische Religion begründet vom Verband der Deutschen Juden. Leipzig o. J. [1925], Reprint-Ausgabe Leipzig 1997, S. 75. 247 Shmarya Levin, Kindheit im Exil, Berlin 1935, S. 74–76. Zit. nach Hyams, Kindheit, S. 38. 248 Levin, Kindheit, S. 74–76. Zit. nach Hyams, Kindheit, S. 38. 249 Levin, Kindheit, S. 76. Zit. nach Hyams, Kindheit, S. 38.



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Implizit äußert sich in dieser Feststellung auch eine nach bürgerlichem Verständnis veränderte Auffassung von Kindheit, die nun verstärkt emotionale Bedürfnisse des Kindes, sein autonomes Verhältnis zur es umgebenden Umwelt und sein Recht auf Eigenständigkeit und die Schutzfunktion der Erwachsenen in den Blickpunkt rückt. In Galizien, das als letztes Kronland zur Habsburgermonarchie gekommen war und dementsprechend eine schlechtere Infrastruktur besaß als die anderen Länder, wurde vor allem durch den Aufklärer Herz Homberg versucht, die von Joseph  II. vorgesehene Schulreform umzusetzen. Sie sah u. a. die Einführung deutschsprachiger Grundschulen für jüdische Kinder vor, die allerdings mit dem Tod des Kaisers nur noch schleppend voranging, um dann schließlich zu scheitern.250 An der Institution des Cheder entzündeten sich bis ins 20.  Jahrhundert Debatten zwischen aufgeklärten und frommen Juden, die in Ghettoerzählungen nicht nur aufgegriffen, sondern buchstäblich weitergeführt werden.251 Wenngleich die meisten Autoren den Cheder als Bildungseinrichtung mehr oder weniger deutlich ablehnen, erscheint er nichtsdestotrotz als Erinnerungsort und integrativer Bestandteil des Schtetls. Leo Herzberg-Fränkel Heirathen

In Leo Herzberg-Fränkels kurzem Text Heirathen vertritt ausschließlich die Erzählerinstanz bürgerliche Wertvorstellungen über Kindheit und Bildung. Sie schildert und kommentiert den Cheder wie auch den damit in Verbindung stehenden Handlungsverlauf und bindet daran eine explizite und forcierte Kritik an den traditionellen Anschauungen des Ostjudentums über das »Lernen«. Erzählt wird die Geschichte einer überstürzt arrangierten Heirat zwischen dem halbwüchsigen, traditionell erzogenen Sohn eines Melamed 252 und einem aufgeklärten Mädchen, das sich autodidaktisch säkulares Wissen angeeignet hat, so-

250 Vgl. dazu Karniel, Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II, S. 381. Die Bemühungen um eine Integration traditioneller jüdischer Bildungsformen in ein zeitgemäßes Erziehungswesen formulierte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Salomo Frankfurter. Vgl. dazu Salomo Frankfur­ ter, Das altjüdische Erziehungs- und Unterrichtswesen im Lichte moderner Bestrebungen, in  : ­Pädagogisches Jahrbuch 32 (1809). 251 Vgl. z. B. auch Hermann Blumenthal, Der Weg der Jugend. Berlin 1907–1910. In dem Roman illustriert der Bildungsgang des Jungen Dawid sowohl im Cheder als auch in der säkularen Schule die gegensätzlichen Positionen eines traditionellen jüdischen Bildungsverständnisses und eines aufgeklärten Bürgertums. Siehe dazu auch Höfler, Bildungsaspekte, S. 326. 252 Melamed, Pl. Melamdim (hebr. Lehrer, Lehrender). Stichwort  : Melamed, in  : Neues Lexikon, S. 309.

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dass es nun als »Gelehrte des Dorfes und beinahe Advocat«253 gilt, den Bauern Beschwerden schreibt, Gesuche aufsetzt und Entscheidungen verliest. Dadurch haftet dem Mädchen als potenzielle Braut aus chassidischer Sicht allerdings ein nicht unerheblicher Makel an.254 Die Familie der Braut ist deshalb erleichtert, unverhofft einen Bräutigam für die Tochter zu bekommen, obwohl das soziale Ansehen der Familie eines Melamed im Schtetl üblicherweise sehr gering ist.255 Fradel, die Frau des Melamed, sieht wiederum großzügig über die Aufgeklärtheit der zukünftigen Schwiegertochter hinweg angesichts der Tatsache, dass sie ihren Sohn schnellstmöglich verheiraten muss, um ihn vor dem galizischen »Rekrutirungsgesetz« vom Oktober 1858 zu schützen.256 Fradel und die Eltern des Mädchens sind sich schnell über das Procedere einig  ; die Konsequenzen für die jungen Leute schildert der Erzähler ebenso knapp wie eindringlich  : »Wenige Stunden genügten, das Schicksal zweier Personen, die früher Einander nie kannten, Einander nie sahen, für die Lebensdauer an Einander zu schmieden.«257 Sie werden wie viele andere ihrer Generation »in eine unbekannte Zukunft eingesargt.«258 Auf den ersten Blick spielt die Ausgangssituation der Geschichte, d. h. die Schilderung des Alltags im Cheder, nur eine marginale Rolle. Setzt man sie allerdings mit dem Ende der Erzählung in Beziehung, zeigt sich eine andere Gewichtung. Durch den »Heirathspact«, der »das Unglück zweier Wesen besiegelt«,259 wird das aus der Sicht des Erzählers überkommene System, das sowohl in der Institution des Cheder wie auch in der Kinderheirat manifest wird,260 nachdrücklich bestätigt. Denn obwohl sogar der alte Melamed die Zukunft der »Chedurim« und die daraus resultierende Lebensweise für die nachfolgenden Generationen bezweifelt,261 wird durch die Initiative seiner Frau 253 Leo Herzberg-Fränkel, Heirathen, in  : ders., Polnische Juden, S. 19–39. Hier zitiert nach der Ausgabe Höfler, Spörk, Der Dorfgeher, S. 128–140, hier S. 139. 254 Selbst wenn der Text nicht dezidiert darauf hinweist, dass die Protagonisten Chassidim sind, legt das der weitere Handlungsverlauf nahe. Nachdem Fradel sich einige Zeit vergeblich um eine Braut für den Sohn bemüht hat, entschließt sie sich zu einem Besuch beim Wunderrabbi von Belz. 255 Vgl. dazu Kłańska, Schtetl, S. 166 f. 256 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S.  131. Dieses Gesetz sah vor, nur jenen jungen Leuten »Heirathsconsense« zu erteilen, »die ihrer Militärpflicht genügten« (S. 131). Dies führte nach Angaben des Erzählers zu einer Heiratswelle, da die jungen Menschen befürchteten, später den »Consense« nicht mehr zu erhalten. 257 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 131. 258 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 132. 259 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 140. 260 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 129  : Gerschon, der Sohn von Reb Chune und Fradel, ist »ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren«. 261 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 132 f.: »Wirst auf den Markt treten und hinaus schreien  : Ich



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Sohn Gerschon wiederum in die bislang geltenden Rollenkonzeptionen gezwungen. Insofern avanciert die Figur des naiven und unreflektierten Sohnes zum Stellvertreter einer »längst verblichene[n] Zeit«.262 Sinnfällig wird diese Deutung wieder an der Institution des Cheders festgemacht. Denn Gerschons Erfahrungshorizont ist in doppelter Weise durch den Cheder beschränkt  : Einerseits hat er ihn selbst als Schüler durchlaufen, andererseits unterstützt er nun den Vater als »Behelfer« bzw. Belfer  : Er holt den Kindern das Essen, wenn sie zur Strafe oder aus Zeitmangel nicht zum Mittagmahl heimgeschickt werden […] Er knüpft Zizis an Talis und Arbekanfis für sämmtliche Schüler und deren Väter, er hält die Beine der Kleinen […], wenn sie auf eine Weise gestraft werden, daß ihnen der Estrich zur Decke wird  ; er schleppt häuslich gesinnte Kinder gewaltsam ins Cheder, um sie an der Schwelle gegen ein Lösegeld freizugeben, […] kurz er ist der Engel und Teufel der ganzen kleinen Welt.263

Im Cheder liegt die Ursache für die begrenzte Vorstellungswelt Gerschons begründet, die letztlich seine gesamte Lebensperspektive prägt. Mit der Heirat wird diese zwangsläufig auf seine junge aufgeklärte Frau übertragen, wie es der Erzähler in der Schlusswendung andeutet  : Fradel wird beglückt […] heimkehren, […] ihr Söhnchen wird in der neuen Heimat sich unthätig an den Talmud setzen, statt auf ’s Feld zu gehen und sich an die Arbeit zu gewöhnen  ; er wird im Karren sitzen und sich ziehen lassen, und das arme junge Weib […] wird welken und zusammenbrechen, keuchen und verkümmern unter der schweren Last des Lebens, der Sorgen und des häuslichen Unfriedens  !264

Auch in anderen Erzählungen beschwört Herzberg-Fränkel den Cheder als »Schreckbild der ausgezehrten Jugend«.265 In den Texten Der Klausner und Ein Meschumed wird der Cheder als anachronistischer Ort beschrieben, in dem die »Vorfahren ihre Vorurtheile, ihren Aberglauben, mumiesirt [sic  !] für spä-

habe ein Kind daheim […], bringt mir noch Eins, […] auf daß ich sie beide ein Jahr füttere und dem Bettel aufziehe. Viele Mütter werden Dir ihre Töchter bringen und diese ihr Elend zur Mitgift. Zwei Jahre später werden die Kinder Kinder haben und – werden wir Alle ernähren können  ? Es entstehen Schulen, die Chedurim sind im Abnehmen, mein Einkommen verringert sich, kann ich zweien Generationen Brot geben  ?« 262 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 129. 263 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 130. 264 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 140. 265 Weikmann, Leo Herzberg-Fränkel, S. 65.

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tere Jahrhunderte eingesargt haben.«266 Die Tatsache, dass dieses Relikt einer vergangenen Zeit vor allem in Osteuropa noch bis ins 20.  Jahrhundert zen­ trale Bedeutung im Rahmen des jüdischen Erziehungswesens besaß, erklärt die hohe Aufmerksamkeit, der dieser Einrichtung von vielen Autoren des osteuropäischen Schtetls,267 besonders aber von Herzberg-Fränkel, der sich in seiner Tätigkeit in Brody als Inspektor für die Baron-Hirsch-Stiftungen auch für die Vermittlung säkularen Wissens einsetzte,268 eingeräumt wird. Als Symbol eines als erstarrt empfundenen Systems fungiert der Cheder in Ghettogeschichten mitunter sogar als sichtbarer Ausdruck »des bigotten Judenthumes«, dessen Sitz vor allem in »Galizien und Polen« vermutet wird.269 Karl Emil Franzos Der Pojaz

Karl Emil Franzos widmet dem Cheder in seinem posthum erschienenen R ­ oman Der Pojaz (1905) ein ganzes Kapitel.270 Der Erzähler versäumt es nicht, darauf hinzuweisen, dass es »ein schöner und kluger Grundzug des jüdischen Volkstums [sei], das Lernen zur religiösen Pflicht, die Gelehrsamkeit zum Verdienst vor Gott, den Adel der Gelehrsamkeit zum einzigen im Judentum gültigen Adel zu machen«, den Cheder aber bezeichnet er als »Schandfleck des orthodoxen Judentums«, als »Marterhöhlen für Körper und Geist«.271 Was damit gemeint ist, expliziert der Erzähler auf wenigen Seiten  ; dabei verzichtet er auf eine ausführliche Beschreibung der Gewalttätigkeiten des Melameds mit dem Hinweis, »man [solle] nicht überflüssig Düsteres berichten, und nichts [sei] düsterer als grausames Leid, das sich über hilfloser Kindheit entlädt«.272 Der Leser erfährt allerdings das Resultat des nur zwei Monate währenden Chederbesuchs des kleinen Sender Glatteis, des Protagonisten des Romans  : »das Bübchen atmete kaum noch und sein linker Arm war gebrochen.«273 Die Auflehnung Senders 266 Herzberg-Fränkel, Der Klausner, in  : ders. Polnische Juden, S. 6. 267 Vgl. z. B. Nathan Samuely, Unser Cheder sowie Der Consens. Wenngleich Samuely den Unterricht im Cheder ebenfalls kritisch darstellt, formuliert er seine Kritik doch weniger harsch als Herzberg-Fränkel. Vgl. dazu Weikmann, Leo Herzberg-Fränkel, S. 67. 268 Glasenapp, Leo Herzberg-Fränkel, S. 229. 269 Herzberg-Fränkel, Ein Osterfest, S. 148. 270 Siehe außerdem Karl Emil Franzos, Im Cheder, in  : ders., Aus der großen Ebene, Bd. 2, HalbAsien Bd. 6. Stuttgart 1888. 271 Karl Emil Franzos, Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Stuttgart, Berlin 1905. Hier verwendete Ausgabe  : Karl Emil Franzos, Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten, hg. und mit einem Nachwort von Jost Hermand. Hamburg 1994, S. 40. 272 Franzos, Der Pojaz, S. 42. 273 Franzos, Der Pojaz, S. 42.



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gegen den Cheder äußert sich schließlich darin, dass er nicht mehr isst, bis ihn die Mutter nach Hause zurückholt. Die hartnäckige Weigerung Senders, im Cheder zu lernen, ist für die gesamte weitere Handlung von weitreichender Bedeutung  : Sie markiert den Beginn des eigenwilligen Bildungsganges von Sender Glatteis, der letztlich im Fokus des Romans steht. Im Cheder überwindet Sender als Kind erstmals eine symbolische Grenze im Schtetl, von der er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß, wovon sie ihn trennt. Offenkundig markiert also der Cheder in der Ghettogeschichte für jene Figuren, die bewusst oder unbewusst aus dem Schtetl ausbrechen wollen, ein topographisches Feld, in dem sie sich erstmals für oder gegen den Aufbruch in eine ›neue Welt‹ entscheiden. Bilder der Freiheit, die gleichzeitig für Aufklärung und Modernität stehen, werden dabei nicht selten hinter unscheinbarer Naturmetaphorik verborgen, um den Kontrast zum Cheder noch zu erhöhen  : Jung und unreif werden sie aus Gottes heller Sonne und grüner Erde in die dunklen Labyrinthe des Talmuds gejagt und in Katakomben getrieben, in denen nur Erfahrung und Verständniß nach Dingen suchen sollen, die eine längst verblichene Zeit uns überlieferte, und die in unseren Tagen nur den Werth und die Weihe der Antiquität haben  !274

Um »zur Naturfreiheit und zum Genuß«275 jenseits der Enge des Cheders (und später der Talmud-Thora-Schule) zu gelangen, bleibt dem jüdischen Kind und Jüngling letztlich nur die Flucht, die aber nicht selten mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft geahndet wird, wie zum Beispiel in den Erzählungen Ein Meschumed oder Ein Osterfest von Herzberg-Fränkel. In diesen Konfliktsituationen zwischen Gemeinschaft und Individuum offenbaren sich schließlich die Reichweiten der jeweils vertretenen Auffassungen innerhalb der sich im Wandel befindlichen Lebenswelten des Schtetls. Für eine bürgerliche Leserschaft dürften wohl weniger die Schilderungen der Armut und Tristesse der zumeist kleinen, dumpfen Schulräume, die zugleich als Wohnstube der Familie des Melamed dienten, provozierend gewirkt haben, als vielmehr die immer wieder dargestellte Unterdrückung der Kinder und deren damit verbundene körperliche Beschädigung  : Nach und nach erblich der helle Glanz seiner großen, blauen Augen, fielen die rundlichen vollen Wänglein zusammen und das Krausköpfchen […] senkte sich tief und tiefer, als hätte eine eiserne Faust es niedergedrückt.276 274 Herzberg-Fränkel, Heirathen, S. 129. 275 Herzberg-Fränkel, Ein Osterfest, S. 146. 276 Nathan Samuely, Der Consens, in  : ders., Cultur-Bilder, S. 5, hier zit n. Weikmann, Leo Herzberg-Fränkel, S. 64.

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Anders als im Zuge der erzählstrategischen Funktionalisierungen des jüdischen Hauses verfallen in den Cheder-Geschichten trotz der meist desolaten Räumlichkeiten allerdings nicht die Gebäude und damit die diese Orte konstituierenden Handlungspraktiken. Vielmehr verfallen ausschließlich die Figuren, die diesen Ort eigentlich erst sozial herstellen  : die Kinder. Insofern ist dem Cheder als narrativem Ort des Leids und Schmerzes sowie der Auflehnung dagegen eine eigentümliche Resistenz eingeschrieben, die wirkmächtig und dauerhaft scheint. Das mag auch damit zusammenhängen, dass trotz der negativen Darstellungen dieser Einrichtung in den Ghettogeschichten weder an das Gebot des »Lernens« noch an andere mizwot gerührt wird. Die Kritik betrifft auch keine substanziellen Fragen des Glaubens und der Tradition, sondern in erster Linie die als Fehlentwicklung interpretierte Härte und Brutalität in der Vermittlung. Insofern ist mit der Beurteilung des Cheders in der Regel keine generelle Attacke auf jüdische Traditionen verbunden. In den meisten Texten plädieren die Autoren mit den Cheder-Episoden allerdings implizit oder explizit für eine Liberalisierung und Modernisierung des jüdischen Erziehungs- und Schulwesens nach westeuropäischem Vorbild.277 Die Beschädigung kindlichen Lebens, sei es durch körperliche oder psychische Gewaltanwendung, wird einhellig abgelehnt, selbst wenn aus der Figurenperspektive die körperliche Züchtigung verteidigt wird. Die räumliche Anordnung, die in der Mehrfachfunktion der Stube als Unterrichts- und Privatraum des Melamed das ohnehin schon eindeutige Machtverhältnis zwischen Schüler und Lehrer noch einmal verstärkt, verweist die Kinder auf einen fixen Platz, womit jegliche (Bewegungs)-Freiheit und Einspruchsmöglichkeit unterbunden wird. 3.3 Synagoge

Im Gegensatz zum Cheder steht die Synagoge so gut wie nie im Zentrum der Kritik von Ghettogeschichten. Das griechische Wort Synagoge gibt »sinngemäß den hebräischen Ausdruck Beth Haknesset wieder, was ›Haus der Versammlung‹, ›der Zusammenkunft‹ bedeutet«.278 Als zentraler religiöser, aber auch kultureller und sozialer Versammlungsort der jüdischen Gemeinde heißt sie im Jiddischen auch Schul. Dies deshalb, weil man dort auch zusammenkommt, um in der 277 Die Autoren konnten sich dabei u. a. auf Entwicklungen in Deutschland beziehen. Gerade am Beispiel des Schulwesens, aber auch in anderen Bereichen lässt sich ein deutliches West-OstGefälle nachweisen. In Hamburg wurde etwa durch ein Gutachten des Oberrabbiners Isaak Bernays an der »Israelitischen Armenschule der Talmud-Tora« eine Reform eingeleitet, die zusätzlich zu den religiösen Fächern allgemeinbildende Disziplinen vorsah. Vgl. dazu Stichwort  : Talmud-Tora-Schule Hamburg, in  : Neues Lexikon, S. 445. 278 De Vries, Jüdische Riten, S. 13.



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Gruppe zu »lernen«.279 Jede Gemeinde besitzt mindestens ein »Unterrichtszimmer«, das Bêt-Ha-Midraš  : »Und gleich wird […] der Unterrichtssaal zum Gebetshaus.« Denn die Zusammenkünfte werden laut de Vries so eingeteilt, dass sie mit den »für den Gottesdienst bestimmten Zeiten zusammenfallen«. Insofern wurde aus dem Unterrichtssaal »auch die Synagoge, die gleichbedeutend wurde mit dem Unterrichtssaal.«280 De Vries bezieht sich in seinen Ausführungen über das »Lernen«, die der Synagoge eben den Namen Schul eingetragen hat, auf eine vergangene Epoche. Doch die Bezeichnung Schul, die vielfach in Ghettogeschichten verwendet wird, wurde selbst dort beibehalten, wo die Funktion des gemeinsamen Lernens nicht mehr erfüllt wurde. Außerdem unterscheidet de Vries strikt zwischen der traditionellen Synagoge und jener Ausprägung, »die der protestantischen Kirche nachempfunden ist und zu Beginn des 19.  Jahrhunderts in Deutschland erstmals gebaut wurde.«281 Sie gilt dem Gelehrten nicht mehr als Synagoge im eigentlichen Sinne, und er bekräftigt daher die sich im Zuge der Entwicklung des Reformjudentums etablierende Bezeichnung »Tempel«.282 Der Gottesdienst wird meist in der Synagoge gefeiert, er kann aber auch »an jedem beliebigen Ort stattfinden«,283 sofern ein Minjan284 anwesend ist. Der Autor Max Grünfeld erläutert dem »theuere[n] Leser« in seiner Ghet279 De Vries, Jüdische Riten, S. 14. Laut de Vries wurde je nach Vorbildung der Gruppe der Penta­ teuch mit dem Raschi-Kommentar studiert, weiterhin der Schulchan Aruch oder eine seiner Kurzfassungen, die Bibel mit und ohne Kommentar, die Mischna, seltener der Talmud selbst, »weil es zumindest in den Ländern des Westens dafür kaum die Instruktoren mit dem nötigen Fachwissen gibt.« 280 De Vries, Jüdische Riten, S. 15. 281 De Vries, Jüdische Riten, S. 18. 282 Aus der umfangreichen Literatur sei nur exemplarisch verwiesen auf  : Alfred Grotte, Deutsche, böhmische und polnische Synagogentypen vom 11. bis Anfang des 19.  Jahrhunderts. Berlin 1915  ; Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933), 2 Bde. Hamburg 1981  ; Carol Herselle Krinsky, Europas Synagogen. Architektur, Geschichte und Bedeutung. Wiesbaden 1997 (engl. Originalausgabe 1985)  ; Annegret Nippa, Peter Herbstreuth, Eine kleine Geschichte der Synagoge aus dreizehn Städten. Hamburg 1999  ; Geoffrey Wigoder, The Story of the Synagogue. London 1986. 283 Harold A. Meek, Die Synagoge. München 1996, (engl. Originalausgabe 1995), S. 12. 284 Minjan bezeichnet das Quorum von zehn religionsmündigen Männern und Knaben. Vgl. dazu u. a. Stichwort  : Gottesdienst, -ordnung, in  : Maier, Judentum, S. 181  : »Für eine gottesdienstliche Veranstaltung ist die Teilnahme von zehn Israeliten (minjan) im Alter von mehr als 13 Jahren (bar miçwah) erforderlich. In Fortführung kultischer Reinheitspraxis am Tempel gelten Frauen auch synagogal nicht als kultfähig, sondern nur als anwesenheitsberechtigt.« Die teils mit Sichtschutz eigens eingerichteten Frauenemporen, auch Frauenschul genannt, wurden im Reformjudentum und im Konservativen Judentum aufgegeben und Frauen nahmen (und nehmen) dann gleichberechtigt am Gottesdienst teil. In Ghettogeschichten spielen die Errichtung oder die Auseinandersetzungen um Reformsynagogen mitunter eine handlungsrelevante Rolle, nicht aber deren Nutzung.

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togeschichte Romeo und Julia in der »Gasse« das Minjan, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass »ein solches Minjan auch anderen profaneren Zwecken [diente]. Man versammelte sich ziemlich lange vor der gesetzlichen Gebetstunde und besprach nun, da man so traulich beisammen saß, allerlei weltliche Dinge mit den dazugehörigen Glossen.«285 Bestandteile der gottesdienstlichen Ordnung sind die Pflichtgebete šema’ Jisrael und Achtzehngebet, weiterhin Segenssprüche, Bibelabschnitte und Psalmen in Hebräisch (oder Aramäisch). Seit dem 19. Jahrhundert sind durch die Reformbewegungen landessprachliche Liturgien bzw. Liturgieteile zugelassen. Die Liturgie von Sabbat und Festtagen wird durch anlassbezogene Zusätze und einen Musaf-Gottesdienst sowie durch synagogale Dichtungen bereichert.286 Selbst wenn der »Wortgottesdienst in der S[ynagoge] als Ausdruck einer Laienreligion«287 gilt, so haben sich im Rahmen dessen doch einzelne Funktionsträger herausgebildet wie der Schammes, der Synagogendiener und der Chasan, der Vorbeter oder Vorsänger. Sie spielen als ›typische‹ Figuren auch in Ghettogeschichten immer wieder eine Rolle. Michael Klapp Der Bäckerschegiz

So markiert etwa in der Erzählung Der Bäckerschegiz von Michael Klapp288 die Ankunft eines berühmten Chasan, in dem man »den echten, guten Vorbeter alter Zeit«289 bewundert, die Ausgangssituation für mehrere Handlungsstränge. Eine Prager Synagoge wird in diesem Text zum einen kurz in ihrer gottesdienstlichen Funktion beschrieben, wobei es der Erzähler nicht versäumt, auf die marginale Position der Frauen in der Synagoge hinzuweisen.290 Zum anderen fungiert die 285 Max Grünfeld, Romeo und Julia in der »Gasse«, in  : ders., Leben und Lieben im Ghetto. Prag o. J., S. 61–100, hier S. 62. 286 Vgl. dazu Stichwort  : Gottesdienst, -ordnung, in  : Maier, Judentum, S. 180. 287 Stichwort  : Synagoge, in  : Neues Lexikon, S. 444. Über den Ablauf der Gottesdienste siehe z. B. de Vries, Symbol, S. 25–39, oder L. Trepp, Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart 1992. Vgl. auch Meek, Synagoge, S. 12–18. 288 Michael Klapp, Der Bäckerschegiz, in  : ders., Zweierlei Juden. Erzählungen Wien, Pest, Leipzig 1870, S. 97–161. Schegiz (weibliche Form Schikse) gilt eigentlich als Schimpfwort für einen Nichtjuden (Verbalhornung von hebr. Schekez). Ein kurzer biographischer Abriss über Michael Klapp (geboren 1834 in Prag, gestorben 1888 in Wien) siehe in  : Adolph Kohut, Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, zweiter Bd. Leipzig-Reudnitz o. J., S. 28 f. 289 Klapp, Bäckerschegiz, S. 101. 290 Klapp, Bäckerschegiz, S. 100  : »Darum bemerken wir unter den Auszüglern der Altschul höchstens die ›Schameste‹ (Schuldienerin), die aber nur um ihre Schuldigkeit gethan zu haben, die ›Weiberschul‹ geöffnet, und einige andere alte Weiber, die, weil ihnen der poetische Genuß eines Familienlebens mangelt, den Sabbath in Schul empfangen.«



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Synagoge als zentraler Ort der Verlautbarung in einer Situation existenzieller Bedrohung  : Die ganze Khile war nämlich um drei Uhr Nachmittags [vor dem Ausgangsabend des Pessachfestes] in die ›Altneuschul‹ geladen zur großen Predigt, welche der erste Rabbi halten werde. Der Umstand, daß der Rabbi forderte, es sollen nicht wie sonst bloß die Talmudgelehrten und Talmudjünger zu seiner Predigt kommen, sondern die Familienväter alle, so viele ihrer die Schul fassen kann, hatte die größte Spannung hervorgebracht.291

Am Tag nach dieser »Predigt«, in der die Gemeindemitglieder von einer angeblich falschen Datierung des Pessachfestes unterrichtet werden, erfahren sie den wahren Grund der Zusammenkunft  : »In allen Bethäusern des Ghettos ward die wunderbare Abwendung eines frevlerischen Vorhabens von Seiten der Bäcker laut verkündigt und der Christenjüngling Prokop als Retter der ganzen Judenstadt bezeichnet.«292 In den Passagen über die Synagogen und Bethäuser des Prager Ghettos wird noch ein Teil jener »mittelalterlichen jüdischen Haltung«293 erkennbar, die durch die enge Verflochtenheit von Religion und Alltag geprägt ist  : »Es genügt nicht zu sagen, die Religion nehme das Leben des Juden in sich auf  ; denn es trifft ebenso zu, daß sein Leben die Religion aufnimmt. Die Synagoge war daher nicht nur ein Ort, an dem er betete  ; sie war ein Ort, an dem er lebte.«294 Jene Ghettogeschichten, die die Lebenswelten frommer Juden beschreiben, bestätigen diesen von Israel Abrahams für das Mittelalter formulierten Konnex auch noch für das 19. Jahrhundert. Allerdings wird in den Ghettogeschichten der Besuch sabbatlicher oder feiertäglicher Gottesdienste nicht unbedingt betont. Er wird vielmehr als unabdingbarer Bestandteil jüdischen Lebens oft nur nebenbei und gewissermaßen als selbstverständlich erwähnt  ; bei christlichen Lesern mögen solche beiläufigen Passagen wohl eher Assoziationen zum Kirchgang hervorgerufen haben. Der eigentliche Stellenwert der (erzählten) Synagoge kommt hingegen in den Darstellungen von Krisenund Umbruchsituationen zum Tragen. Diese kann mit einem bedrohlichen singulären Ereignis verbunden sein, wie etwa in Karl Emil Franzos’ Erzählung Zwei Retter.295 Dort schildert der Autor 291 Klapp, Bäckerschegiz, S. 149. 292 Klapp, Bäckerschegiz, S.  158. Weitere Ausführungen zu dieser Erzählung siehe unten in Kap. 5.2. 293 Meek, Synagoge, S. 97. 294 Israel Abrahams, Jewish Life in the Middle Ages, London 1932, hier zitiert nach  : Meeks, Synagoge, S. 97. Diese Aussage deckt sich mit der Beobachtung, dass die Synagoge in Ghettogeschichten als gestalteter und gestaltender Raum erzählt wird. 295 Franzos, Zwei Retter, in  : ders., Die Juden von Barnow, S. 85–98.

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die innere Wandlung eines konvertierten gräflichen Mandatars, der seine ehemaligen Glaubensbrüder kraft seines Amtes brutal drangsaliert. Als er am Vorabend von Jom Kippur in die »Betschul« kommt, um von der Gemeinde einen flüchtigen Soldaten herauszupressen, wird er durch die Töne des »Kol-Nidra«296 in seinem Innersten getroffen  : »Wollmann hatte sein Gesicht während des Gesanges der Thora-Lade zugekehrt, dann aber wendete er sich um. Er war entsetzlich blaß, seine Knie zitterten, der starke Mann konnte sich kaum aufrecht erhalten.«297 Der Mandatar zeigt sich nach seinem Besuch in der Synagoge durch die Intensität des Erlebten, den Gesang des Chasan, geläutert und war fortan »milde gegen uns«.298 Max Grünfeld Die Abtrünnigen. Eine Geschichte aus dem Leben der Gasse

Eine weniger dramatische Ausgangssituation beschreibt Max Grünfeld in der Erzählung Die Abtrünnigen. Eine Geschichte aus dem Leben der Gasse,299 die in den 1850er-Jahren angesiedelt ist. Auch hier liegt der Ausgangspunkt des sich anbahnenden Konflikts – wie häufig in Ghettogeschichten – im zeitlichen Umfeld eines hohen Feiertags. An Pessach – der Erzähler spricht zunächst mit Bezugnahme auf eine christliche Leserschaft »von der Zeit des Frühlings, des Osterfestes«300 – besucht der Student Josef seine Eltern im Schtetl. Voller Erwartung geht die Familie am »großen Sabbath, [der] diesmal auch Vorabend des Passahfestes«301 ist, in die Synagoge, um dem »Mussaph […] dem »wichtigste[n] Gebet des Tages« beizuwohnen. Die Eltern malen sich schon aus, wie ihr gelehrter Sohn, von dem sie glauben, er studiere »die hebräische und die deutsche Wissenschaft«,302 während des Gottesdienstes »seine talmudische Dialectik dem alten Rabbi gegenüber geltend machen« werde. Er werde »alle Bochurim schlagen, man wird in der Gemeinde von Niemand sprechen, als von dem gelehrten Josef Glaeser.«303 Die Synagoge als Ort der Gemeinschaft dient hier gleichzeitig als öffentlicher Raum der Bewährung und der Gelehrsamkeit, die für das Ansehen des Bochers und seiner Familie entscheidend sind. Der Erzähler schildert nun in einer kurzen Passage die Auseinandersetzung zwischen dem Rabbi und 296 Franzos, Zwei Retter, S. 97. 297 Franzos, Zwei Retter, S. 98. 298 Franzos, Zwei Retter, S. 98. 299 Max Grünfeld, Die Abtrünnigen. Eine Geschichte aus dem Leben der Gasse, in  : ders., Leben und Lieben im Ghetto, S. 5–60. 300 Grünfeld, Abtrünnigen, S. [5]. 301 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 15. 302 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 8. 303 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 15.



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den Bochurim, die die Gemeinde wie ein »Geistesturnier«304 mit Spannung verfolgt. Die unerwartete Weigerung Josefs, an dem »Mephalpolsein«305 teilzunehmen, wird von den Eltern mit Entsetzen zur Kenntnis genommen und, was schlimmer wiegt, von einzelnen Gemeindemitgliedern umgehend mit Verachtung bestraft. Josefs fluchtartiges Verlassen der Synagoge nimmt vorweg, was er den Eltern später gestehen wird  : »seine Religion« findet er in den »neuen Ideen, die er gewonnen«.306 Josef will nicht Rabbi und Talmudgelehrter werden, wie es die Eltern erhofften, sondern Mediziner. In dem daraus resultierenden Konflikt zwischen den Generationen wird sowohl aus der Figurenperspektive Josefs als auch aus der des Erzählers die Schul zum Sinnbild einer überholten Epoche. Wenngleich Josef weiterhin Jude bleibt und die Religion seiner Väter respektiert, ist ihm »der große Formelapparat zur wahren Religion«,307 ohne den die Elterngeneration nicht auskommt, nicht mehr notwendig. Josef bekennt sich zur Thora, aber in Erweiterung mit einem humanistischen, ganz im Zeichen der Aufklärung stehenden Weltbild  : »ich bin kein Rabbi, aber doch ein Mensch geworden, der immer wissen wird, daß er Pflichten zu erfüllen hat gegen seine Nebenmenschen. Lehrt nicht die Torah  : Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst  ? Nun, das ist unser Glaubenssatz.«308 Mit diesem »Glaubenssatz« aus Lev 19,18 bezieht sich Josef auf ein soziales Grundprinzip, dem sowohl aus jüdischer wie aus christlicher Sicht mit uneingeschränkter Akzeptanz begegnet wird. Wesentlich im Hinblick auf eine Änderung seiner religiösen Einstellung scheint hingegen, dass er traditionelle Formen und Riten des Judentums verwirft und für seine zukünftige Lebensweise eine neue Sinngebung konstruiert, die die vergangene weitgehend ablöst. Die Eltern bemühen sich um Verständnis für ihren Sohn und akzeptieren schließlich seine Entscheidung. Dadurch wird auf der Figurenebene die Position des Sohnes untermauert, ohne jedoch die der Eltern zu beschädigen. Obwohl auch in dieser Erzählung die Positionen der Orthodoxie verworfen werden, werden die Gegensätze zwischen den Generationen von Grünfeld deutlich milder gezeichnet als z. B. von Karl Emil Franzos in Der Shylock von Barnow. Grünfeld propagiert offenkundig ein evolutionistisches Konzept, das integrativ alte und neue Formen jüdischen Selbstverständnisses zulässt. Die ältere Generation als Vertreter der Orthodoxie wird dabei nicht notwendigerweise als starrköpfig und unnachgiebig dargestellt. Dass Josef einen 304 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 17. 305 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 16. In einer Fußnote wird der Ausdruck mit »Talmudische Dialectik« übersetzt. 306 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 22. 307 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 22. 308 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 23.

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auch im Sinne des Judentums positiv zu bewertenden Weg eingeschlagen hat, obwohl er die Orthodoxie seiner Eltern nicht mehr leben kann, bestätigt der Schluss der Erzählung. Der Sohn begründet nach dem Tod der Eltern in seinem geerbten Haus ein Hospital  : »zum ewigen Gedächtnis heißt es ›Sarah und Schlomoh Gläser’sches Stiftungshaus‹«.309 Josefs gelebte Wohltätigkeit wird vor allem von den »Armen und Elenden« gepriesen. Reb Itzig Fränkel hingegen, der sich selbst »mit Stolz Zdokoh-Gaboh nannte«310 und »immer der Letzte aus Schul, der Erste in Schul gieng«,311 der aus der Figuren- und Erzählerperspektive allerdings als hartherzig und bigott beschrieben wird, ist mit Josef »nicht zufrieden […], denn dem gieng er zu wenig in ›Schul‹«.312 Die gegensätzlichen Anschauungen des alten Itzig und des jungen Josef schlagen sich also aus Sicht des Vertreters der Orthodoxie u. a. in der Häufigkeit des Synagogenbesuchs nieder, wobei die textimmanenten Wertungen spiegelverkehrt hinsichtlich eines auf religiöser Observanz fußenden Identitätsspektrums erscheinen.313 Insofern wird die Synagoge gewissermaßen als passiver Akteur in einer Art Stellvertreterfunktion für Positionen der Orthodoxie und ihrer Gegner in den Text eingebunden. Die Sympathie des Erzählers gilt in diesem Konflikt eindeutig Josef  ; ein ehemaliger Studienkollege Josefs, der sich ebenfalls als Aufgeklärter deklariert, zuletzt aber taufen lässt, wird dagegen von Beginn an negativ gezeichnet. Das Motiv für dessen Taufe entspringt unmissverständlich einer opportunistischen Haltung und kann daher nicht als Ausdruck im Prozess der Sinnfindung einer jungen Generation gerechtfertigt werden. Dass die Synagoge schließlich selbst Gegenstand von Reformen wird, wird auf der Ebene der Erzählung nochmals als Argument für jene Anschauungen aufgebaut, die Josef vertritt. Itzig Fränkel verzichtet auf den Besuch der neuen Synagoge, denn er »gieng nicht in eine ›Schul‹, in welcher der Almemor nicht in der Mitte war. Er und gleichgesinnte Fanatiker in der Killah bildeten von nun an einen separatistischen, conservativen Flügel und schlossen sich zu einem Vereine der Orthodoxen zusammen«.314 Der Erzähler berichtet kurz, dass dieser Verein »das Rad der Zeit [gewaltsam] zurückschrauben« wollte, signalisiert aber schon durch die Wortwahl, dass seine 309 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 59. 310 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 40. Der Ausdruck bezieht sich auf seine Funktion als Vorsteher in Wohltätigkeitseinrichtungen. 311 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 40. 312 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 58. 313 Ähnliche Konstellationen werden auch in Erzählungen, die in katholischen Milieus der Jahrhundertwende angesiedelt sind, vorgeführt. Tragend erscheint auch dort immer wieder der Gegensatz zwischen nach außen hin orientierter Observanz und einer Frömmigkeit, die ›richtiges‹ Handeln selbst unter Vernachlässigung vorgeschriebener Pflichten bestimmt. 314 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 58.



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Sympathien auf Seiten der Reformer liegen. Die Zeitläufte geben ihm recht, denn als Itzig stirbt, ist das »Häuflein Orthodoxer immer mehr« zusammengeschmolzen.315 Die titelgebenden Abtrünnigen – zunächst nur wenige Personen – bilden am Ende der Geschichte die Mehrheit in der Gemeinde. Salomon Hermann Mosenthal Raaf’s Mine

Dass der Übergang von der Orthodoxie zur Reform auch weniger konfliktbeladen vonstatten gehen kann, veranschaulicht eine Erzählung aus dem Hessischen von Salomon Hermann Mosenthal, in der die Synagoge ebenfalls zum Sinnbild sich verändernder Identitätskonzeptionen im Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts avanciert. Der Titel der Erzählung Raaf ’s Mine bezieht sich auf die einzige Tochter des »alten Raaf ’s«, des Rabbiners, in einer kleinen Residenzstadt. Wenn die »alte, einfache Geschichte eines ›einschichtigen‹ Herzens«316 mit der Beschreibung der Situation der jüdischen Gemeinde einsetzt, ist deshalb auch noch nicht erkennbar, dass es dabei nicht nur um eine illustrierende Schauplatz- und Milieubeschreibung aus dem Umfeld der Protagonistin geht. Denn erst vom Ende der Erzählung her erschließt sich der primäre Konflikt, der jedoch auf einer sekundären Ebene angesiedelt ist. Während der Erzähler von Mines Leben und ihrer platonischen Liebe zu dem schönen Henoch berichtet, beleuchtet er parallel dazu die Veränderungen in der Killah, die sich im Laufe weniger Jahre von einer orthodoxen zu einer Reformgemeinde wandelt. Anschaulichen Ausdruck dieses Wandlungsprozesses bildet die Synagoge. In der Synagoge sind nun  – im Gegensatz zu Grünfelds Erzählung wesentlich prägnanter dargestellt  – all jene Bedeutungskomponenten gebündelt, die ihre poetische Funktion als identity space ausmachen. Sie bildet als Ort der Identifikation das eigentlich strukturierende Element der Erzählung. Zu Beginn wird der Leser mit einem sinnfälligen Bild über die »Baufälligkeit« der »alten Synagoge« darüber aufgeklärt, dass diese geschlossen worden [war], und man […] Betstuben errichtet [hatte], in denen die verschiedenen Fraktionen der Gemeinde je nach ihren rituellen Schattirungen [sic  !] ihren Gottesdienst hielten. Die Orthodoxesten fanden sich in ›Benary’s Schul‹ […] Hier wurden die Gebete in der Ursprache und in jenem fugirten [sic  !] Recitativ gemurmelt und geschrieen, das den gemeingültigen Namen einer ›Judenschule‹ geschaffen hat.317

315 Grünfeld, Abtrünnigen, S. 58 f. 316 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 69. 317 Mosenthal, Raaf´’s Mine, S. 69.

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Ruth Klüger sieht in dieser (hier abgekürzten) Textpassage zwar eine »abwertende Beschreibung des orthodoxen Gottesdienstes«, die sie als »fragwürdig« erachtet, andererseits ordnet sie sie aber in einen allgemeinen Fortschrittsdiskurs ein, dem die »Auflehnung gegen religiöse Rituale, denen man entwachsen ist und die man für fortschrittswidrig hält« inhärent sei. Auch bei christlichen Autoren stelle dies nichts Ungewöhnliches dar  ; ein Unterschied bestehe allerdings darin, dass sich Mosenthals Ausführungen »gegen die Sitten einer verspotteten, oft verfolgten Minderheit«318 beziehe. Auf der Figurenebene sind dieser ›alten Schul‹, die düster und wenig einladend wirkt, Mines Vater und ihr Onkel, der Schammes der Gemeinde, zugeordnet. Während der Raaf ein freundlicher und harmoniebedürftiger Mensch ist, ist »das rastlose Gemüth« des Schammes nur damit beschäftigt, »durch Aufspürung aller Gesetzesübertretung […] mit einer neuen Denunziation« beim Raaf aufzuwarten.319 Das traurige Schicksal des Schammes, das aus narratologischer Sicht nach dem rhetorischen Prinzip der ›poetischen Gerechtigkeit‹ gestaltet zu sein scheint, mündet in seinen dramatischen Tod nach der Konversion seines einzigen Sohnes. Mit ihm stirbt der härteste Gegner der Reformwilligen, an deren Spitze der wohlhabende Geschäftsmann Joel Reinach steht. In den Augen des Schammes, dessen Negativzeichnung durchaus christliche Vorurteile bedient, galt dieser jedoch seit jeher als »Posche Jisroel (Sünder)«.320 Bestätigt findet der Schammes die Sündhaftigkeit Reinachs durch den Umstand, dass von sieben der Töchter Reinachs sechs vor Erreichen ihres 18. Lebensjahres verstorben sind. Dass dies allerdings nicht als Gottesurteil zu interpretieren ist, wie der Schammes glaubt, sondern der Diagnose eines jungen Arztes zufolge als Resultat des »Treibhausleben[s]« ohne »Licht, Luft, Bewegung im Freien«,321 bekräftigt einmal mehr die Reformer, die mit ihren eigentlich systemkonformen Bestrebungen nun offenkundig auch in einen zeitgemäßen medizinischen Diskurs eintreten. Mit dem Hinweis auf die bisherige hohe Sterblichkeitsrate der Mädchen in der Familie Reinach und der einfachen Behandlungsmethode, die einem weiteren Todesfall vorbeugen soll, plädiert der Text indirekt für die Unaufschiebbarkeit der als notwendig erkannten Neuerungen, um weiteres Unglück zu vermeiden. Die gleichermaßen konkrete wie symbolische Öffnung des Raums bezieht sich in diesem Zusammenhang letztlich also auch auf die Partizipation an den Errungenschaften der modernen Wissenschaft. In Mosenthals Geschichte werden diese Veränderungen aber nicht durch Konfrontationen zwischen den gegnerischen Par318 Ruth Klüger, Nachwort, in  : Mosenthal, Erzählungen aus dem jüdischen Familieneben, S. 207. 319 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 70. 320 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 76. 321 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 90 f.



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teien vorangetrieben wie in der Erzählung Grünfelds, sondern in einem als natürlich dargestellten und auch topographisch sichtbaren Prozess, der letztlich nicht aufzuhalten ist. Die Reformer müssen nach dem Tod des alten Raafs und des Schammes keine Rücksichten mehr nehmen und planen den Bau eines »würdige[n] Gotteshaus[es]«.322 Joel Reinach, vom Erzähler als »zweiter Esra« tituliert und damit eindeutig positiv bewertet, finanziert die Errichtung »des neuen Tempels«,323 der durch die Wortwahl der Beschreibung allerdings eher Assoziationen an eine christliche Kirche aufkommen lässt als an eine Synagoge. So befindet sich »über dem Eingangsthor, im Innern der Säulenhalle […] der Chor für die Sänger«, in den »von bunten Säulchen umgebene[n] Tabernakel« werden die »Gesetzesrollen und die silbernen und goldenen Kle-kodesch (Paramente)« getragen und Frauen »stickten Vorhänge und Altardecken«.324 Analog dazu beschreibt der Erzähler einzelne Teile der Liturgie, die ein Naheverhältnis von jüdischem und christlichem Ritus suggerieren. Dass sich der Erzähler dabei auch auf historische Entwicklungen bezieht, ist offenkundig. Denn schon die Einweihung des Tempels des Hamburger Neuen Israelitischen Tempelvereines im Oktober 1818 hatte eine Kontroverse zur Folge gehabt, die schließlich in ganz Deutschland eine dauerhafte Konfliktlinie zwischen Reformjuden, Orthodoxen und Neo-Orthodoxen markierte. Gab man sich in religiöser Hinsicht unversöhnlich, so verband die konkurrierenden Gruppen allerdings eine ähnliche Auffassung über die Emanzipation. Man verstand Juden zwar [als] eine religiöse, nicht aber eine nationale oder ethnische Gruppe und als solche [hatten sie] die Aufgabe […], als moralische Vorbilder zu wirken, die Wahrheit des Monotheismus zu verfechten und die Ankunft des messianischen Zeitalters vorzubereiten.325

Aufgrund dieser Positionen befürworteten »alle drei Strömungen eine kulturelle Anpassung an das nichtjüdische Umfeld.«326 Im Zuge der »Hamburger Kontroverse« trat dann seit den 1830er-Jahren eine neue Generation von akademisch gebildeten Rabbinern auf, die weltliche Fächer ebenso studiert hatten wie die jüdischen Schriften. Diese Rabbiner sahen sich nun nicht mehr »als halachische Richter, sondern als Lehrer, Prediger und Seelsorger.«327 Diesen neuen Rabbiner322 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 90. 323 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 90. 324 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 91. 325 Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, S. 244. 326 Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, S. 244. 327 Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, S. 243. Vgl. weiterhin S. 242  : »Der Pariser Sanhedrin von 1808 autorisierte dieses neue Verhältnis zur weltlichen Kultur. Er bestätigte den Wert der

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Typus verkörpert Henoch in Mosenthals Erzählung. Und folgerichtig wird der zur Entstehungszeit sich in Gang befindliche Wandlungsprozess an dieser Figur nahezu prototypisch nachvollzogen. Findet die Erziehung des Waisenkindes Henoch durch den Raaf noch völlig traditionell statt, so beginnt der jugendliche Henoch, dessen Ziel, Rabbiner zu werden, zu keinem Zeitpunkt in Frage steht, gleichwohl von einer ergänzenden säkularen Ausbildung zu träumen. Würzburg ist sein Ziel, denn dort gibt es eine »Jeschive«, aber eben auch eine Universität.328 Gilt ihm der alte Raaf zwar als »ein großer Schriftgelehrter«, so verwirft Henoch andererseits »die Ameisenhaufen des talmudischen Pygmäenkrams« und begeistert sich für den »neue[n] heilige[n] Geist […] in jenen Gemeinden […], die den erhabenen Gedanken des Judenthums aus seinen verwitterten Formen auferstehen lassen.« Henoch schwärmt von Prediger[n] des reinsten Gottesglaubens, ausgerüstet mit der Kenntniß der Völkergeschichte, vertraut mit allen Fortschritten menschlicher Denkkraft, [die] in deutscher, Allen verständlicher Sprache die geläuterten Lehren unseres Glaubens, des Urquells aller Gotteserkenntniß [predigen]  ! In Hamburg, in Berlin, in Breslau –.329

Als Henoch schließlich nach Würzburg aufbricht, bleibt ihm Mine eine treue und kritische Brieffreundin. Ihr kommt die Rolle zu, Henoch die Grenzen seiner liberalen Ansichten vor Augen zu führen. In ihrer Naivität verkörpert sie dennoch eine Mittlerrolle, die die Notwendigkeit der Reform begreift, das Bewährte aber nicht vollends verwirft. Als Trägerin dieser Mittlerfunktion besetzt Mine aus Erzählersicht den uneingeschränkt positiven Part in dieser Geschichte, die am fiktiven Beispiel einer kleinen jüdischen Gemeinde eine makrohistorische Perspektive auf Umwälzungen innerhalb des Judentums in Deutschland um die Jahrhundertmitte zulässt. In einem Brief an Mine erläutert Henoch seine während des Studiums gewonnenen Erkenntnisse, die nun schon jene integrative Haltung andeuten, die er später als Rabbiner in seiner Heimatgemeinde umsetzen wird. Seine Studien münden in die Einsicht, dass die

Bürgerrechte, erkannte den Vorrang des bürgerlichen vor dem religiösen Gesetz an und konstituierte mit der Schaffung des Konsistoriums das Judentum neu als religiöse Gemeinschaft. Der Sanhedrin vertrat damit eine Emanzipationsideologie, die eine kulturelle Anpassung zugleich voraussetzte und förderte.« Der Sanhedrin hatte damit auf die Gründung neuer Schulen in Breslau (1791), in Dessau (1799), Frankfurt am Main (1804) und anderen Gemeinden reagiert, die einen »dualen, also weltlichen und religiösen Lehrplan« vorsahen. 328 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 75. 329 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S.  74. Breslau galt seit Mitte des 19.  Jahrhunderts (v. a. durch sein Rabbinerseminar) als bedeutendes Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit.



›Jüdische‹ Räume 

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geistreichsten Hypothesen der Wissenschaft zu einem Punkt [führen], wo das Wissen endet und der Glaube beginnt. […] Wer [aber] auf dem Wege des Wissens zum Glauben gelangt, wird nicht nur gläubiger als der Beschränkte, sondern auch duldsamer sein. Er wird die Form nicht zu zerstören, nur zu beseelen trachten …330

Nichtsdestoweniger ändert sich die Form im Vergleich zu Henochs Kinderzeit radikal. Das wird nicht nur durch die Architektur der neuen Synagoge zum Ausdruck gebracht, sondern auch durch die wiederholte Bezeichnung des zukünftigen Rabbiners als »Prediger«.331 Henoch selbst sieht sich weiterhin als »Reformator« und »Seelsorger«332 sowie insgeheim als »Nehemia«, der an der Seite »Esras«333 (= Joel Reinach) wirken darf.334 Er möchte zwar »schonend und rücksichtsvoll« auf »die Gemeinde in ihrer Zersplitterung« zugehen,335 lässt aber keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er die alten Formen nur als »Reliquien, die kindliche Beschränktheit für heilig hält«,336 anerkennt. Bemerkenswert ist, dass in diesem Text der Wandel von einer orthodoxen zu einer Reformgemeinde im Vergleich zu anderen Texten weniger als Konfrontationsgeschichte denn als Integrationsgeschichte dargestellt wird. Auch Ruth Klüger erkennt in dem »eigentümlich milde[n] und sozialkritische[n] Zugriff« Mosenthals eine Besonderheit dieses Schriftstellers. Die Veränderungen in der Gemeinde werden sowohl aus der Figuren- als auch aus der Erzählerperspektive als zeitgemäß, zeitbedingt und zwangsläufig beschrieben. Erstaunen muss trotzdem die Beschreibung der »Probepredigt«337 Henochs, die den jüdischen Gottesdienst unverhohlen mit

330 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 88 f. 331 Z. B. Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 98, S. 100. 332 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 97 f. Allein in den einem protestantischen Wortschatz entlehnten Formulierungen zeigt sich die auf die christliche Umgebungsgesellschaft hin ausgerichtete Liberalisierungstendenz, die der Autor mittels der positiv gezeichneten Figur propagiert. 333 Nehemia reorganisierte im 5. Jahrhundert v. Z., als Palästina Teil des Persischen Reiches war, das jüdische Gemeinwesen. Über seine Tätigkeit gibt Neh 1,1 bis 6,19 Auskunft (basierend auf einer Denkschrift Nehemias). Siehe dazu z. B. Reclams Bibellexikon, hg. v. Klaus Koch, Eckart Otto, Jürgen Roloff und Hans Schmoldt, 6., verbesserte Aufl. Stuttgart 2000, S. 134  : Der Priester Esra wurde vom persischen König Artaxerxes nach Palästina entsandt, um den »Kult am neuerbauten zweiten Tempel zu regeln«. Die Bücher Esra und Nehemia gelten zusammen mit den Chronik-Büchern als das Chronistische Geschichtswerk, wobei Esra und Nehemia von der »heilvollen Wende in der Geschichte des Gottesvolkes nach dem Babylonischen Exil« erzählen (Bibel, Einheitsübersetzung, S. 460). 334 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 97. 335 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 97. 336 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 98. 337 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 99.

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christlicher Symbolik auflädt.338 Die Passagen, dass vom »Chor herab ein vielstimmiges Hallelujah« erklingt und Henoch gekleidet ist wie ein »griechische[r] Pope«, dass Henoch »dem verklärten Propheten [gleicht], der seinen Jüngern die Bergpredigt verkündet«, sind als eindeutige Signale zu werten, mit denen der Erzähler eine immanente Nähe zwischen jüdischem und christlichem Ritus suggeriert – ebenso wie die Benutzung der Landessprache, wie sie im Protestantismus (im Gegensatz zum Katholizismus) üblich war. Trotzdem bewegen sich diese Hinweise noch auf der oberflächlichen Ebene der Performanz. Ihre eigent­liche Bedeutung erhält diese Passage erst durch die Bibelstelle, die Henoch als Ausgangspunkt seiner »Predigt« wählt. Denkt er zunächst sogar daran, 1 Kor 13,1, also eine neutestamentliche Textstelle zu nehmen,339 so entscheidet er sich schließlich für die Worte des Propheten Maleachi  : »Haben wir nicht Alle einen Vater  ? Hat nicht ein Gott uns alle geschaffen  ?«340 Bemerkenswert daran ist, dass das Buch Maleachi in der christlichen Bibel das letzte alttestamentliche Buch darstellt, bevor das Neue Testament bzw. das Zweite Testament mit dem Evangelium des Matthäus einsetzt. In mehrfacher Hinsicht wird aus christlicher Perspektive mit diesem kurzen Prophetenbuch schon eine Ankündigung auf das kommende christliche Zeitalter verbunden. Maleachi 2,10–16, das sich in 2,14 auf die Treue zur ersten Frau bezieht und »mit dem Bund Gottes mit seinem Volk in engen Zusammenhang gebracht wird«,341 endet aber mit der Mahnung  : »handelt nicht treulos  !« Selbst wenn diese Verse im Text nicht zitiert werden, beziehen sie sich doch auf die von Henoch angeführte Anfangspassage  : 338 Möglicherweise führten solche Passagen zu abschätzigen Urteilen wie z. B. von Julius Moses. Moses kritisiert im Vorwort eines 1908 in der Reihe Jüdischer Novellenschatz erschienenen Erzählungsbandes Mosenthal dermaßen hart, dass man sich nach der Lektüre des Vorworts eigentlich über die Aufnahme der Erzählungen Mosenthals in die Reihe wundert  : »Ueberhaupt war er kein jüdischer Dichter. Er war höchstens ein ›israelitischer Poet‹. […] Kompert und Bernstein offenbaren jüdische Besonderheit durch Erfassen aller seelischen und geistigen Eigenschaften des Judentums  ; sie sind echte Juden und Ghettopoeten. Mosenthal ist ein literarischer Jude. […] Mosenthal hat den Geist des Ghettos nicht empfunden, sondern nachempfunden. [Er] war bereits weit hinausgewandert in die germanische Welt, als er sich nachträglich erinnerte, dass daheim in den Tagen seiner Väter und Großväter einmal eine Schranke bestanden hatte […].« Nur aufgrund des »kulturgeschichtlichen Wert[s]« würden die Erzählungen in die »Reihe der Ghettopoeten« aufgenommen. Siehe Dr. Julius Moses, Vorwort, in  : S. H. v. Mosenthal, Tante Guttraud. Bilder aus dem jüdischen Familienleben, [= Jüdischer Novellenschatz  ; 2]. Berlin, Leipzig 31908, S. 7 f. 339 Der Erzähler zitiert nur den Wortlaut, nicht aber, um welche Textstelle es sich handelt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass jüdischen Lesern gar nicht bewusst war, dass es sich bei diesem Zitat um eine Textstelle aus einem Paulus-Brief handelte. 340 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 100. Maleachi, Gegen Mischehe und Ehescheidung  : 2,10. 341 Die Bibel, hier zitiert nach  : Einheitsübersetzung, S. 1074.



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»Warum sollen wir Einer den Andern verfolgen und den Bund unserer Väter entweihen  ?«342 Auf die Ebene des discours übertragen, könnte man die Predigt Henochs deshalb als positive Konterkarierung der auf der Oberfläche hergestellten Verbindung zwischen Judentum und Christentum – die möglicherweise für ein christliches Lesepublikum von Relevanz hätte sein können – interpretieren. Denn bei allem Zugeständnis an äußere Formen des christlichen Ritus in dieser Erzählung und bei aller Sympathie der Figur Henochs gegenüber einem Text wie dem Korintherbrief, indiziert nämlich gerade die Wahl des Buches Maleachi das Bewusstsein Henochs dafür, trotz der gewünschten Reformen »nicht treulos« am Judentum zu handeln. So wird auch verständlich, weshalb die gesamte Gemeinde die »Predigt« mit uneingeschränktem Beifall annehmen kann. In diesem Kontext firmiert nun die neue Synagoge auch zum Ort der Zustimmung zu einer kollektiven Erneuerung  : Denn Henochs »Ernennung zum ›Landrabbiner‹« wird von der Gemeinde einstimmig beantragt. In der Folge werden der Schulunterricht und der Gottesdienst neu organisiert, doch der Erzähler versäumt nicht, zu betonen, dass Henochs Talmudkenntnisse den Älteren ebenso imponierten wie seine »Rücksichten, die er rituellen Satzungen trug.«343 Mit dem Hinweis auf die alte baufällige Synagoge wurde zu Beginn der Erzählung die damit verbundene Ordnung als obsolet dargestellt  ; selbst die Vertreter der Orthodoxie denken zu keinem Zeitpunkt an eine Wiedererrichtung oder Renovierung des Bauwerks. Mit der neuen Synagoge wird allerdings dezidiert eine Epoche des Aufbruchs, des »rastlose[n], fröhliche[n] Wirken[s]«344 ins Bild gesetzt. Die neue Synagoge wirkt solchermaßen als weithin sichtbarer Ausdruck einer Modernität, die keine Konfliktlinien markiert, sondern generationenübergreifend alle Gemeindemitglieder verbindet. Und trotz der Adaptionen traditioneller Rituale bleibt die Synagoge in dieser Erzählung ein zentraler Ort ›inneren‹ jüdischen Lebens, offen und bewahrend zugleich. 4. Räume der Begegnung und der Konfrontation 4.1 Schenke und Gasthaus

Den bisher untersuchten Innenräumen Haus, Sabbatstube, Cheder und Synagoge kommt im Rahmen der Erzählungen meist eine motivische oder topische 342 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S.  100. Über die Benutzung der Landessprache in der Liturgie in Hamburg 1818 und später in anderen Gemeinden Deutschlands vgl. Sorkin, Auf dem Weg in die Moderne, S. 242 f. 343 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 102. 344 Mosenthal, Raaf ’s Mine, S. 102.

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Funktion zu. Die Häufigkeit der Schilderungen korrespondiert dabei mit der immanenten Bedeutung dieser Orte und Räume, deren Gemeinsamkeit darin gründet, eindeutig als ›jüdisch‹ markiert zu sein. Die dort vorgeführten oder evident werdenden Auseinandersetzungen beziehen sich analog dazu in der Regel auf innerjüdische Debatten. Die grundständige Funktion dieser Orte, die im Zusammenspiel mit den Menschen, die sich an diesen Orten verhalten und bewegen, das Schtetl, Dorf oder Ghetto erst als (erzählten) Raum figurieren, wird von den Erzählerinstanzen aber nicht angezweifelt. Christliche Figuren haben teilweise zwar Zugang zu diesen Orten, sie gestalten als Teil der Einwohnerschaft den Sozialraum Schtetl oder Dorf auch mit, haben aber nicht die Kompetenz – außer durch Gewalt –, in dieses besondere Verhältnis Mensch-Innenraum, das einen wesentlichen Teil der jüdischen Lebenswelt ausmacht, einzugreifen. Im Gegensatz dazu bilden das in Ghettogeschichten immer wieder beschriebene Wirtshaus und die Schenke Orte (vermeintlich) gleichberechtigten gemeinsamen Handelns von Juden und Nichtjuden. Ihre Eigentümlichkeiten formieren sich erst in einem räumlich-solidarischen Verhalten und Sprechen der Figuren, die zwar miteinander in Kontakt stehen, jedoch nicht zwangsläufig ihren privaten Raum miteinander teilen (wollen). Die Schenke bildet insofern eine hybride Kontaktzone, einen Zwischenraum, für Fremde(s) und Vertraute(s). Als Plattform für eine öffentliche Auseinandersetzung unterliegt die Schenke klar definierten, auf Konsens beruhenden Verhaltensreglements, die vom Schankwirt diskret überwacht und von den Gästen meist eingehalten werden. Die Außenmauern sind gleichsam als Rahmung für die Vorkommnisse im Innern des Gebäudes anzusehen. Konflikte ergeben sich dann, wenn symbolische, sichtbare oder unsichtbare Grenzen überschritten werden, wenn sich aufgrund besonderer Geschehnisse oder sozialer und politischer Entwicklungen die Beziehungskonstellationen zwischen den Gästen untereinander bzw. zwischen den Gästen und dem Wirt verschieben. Werden die Begegnungen zwischen Juden und Christen in der Regel als friedlich geschildert, so lassen die Autoren von Ghettogeschichten jedoch keinen Zweifel daran, dass der bestehende soziale Grundkonsens labil und brüchig ist, dass sich kommunikative Ungereimtheiten und Missverständnisse unverhältnismäßig schnell und unvermittelt zu bedrohlichen Szenarien für Juden entwickeln können. Doch zunächst sind Schenke und Wirtshaus für Juden wie für Nichtjuden Orte, die außerhalb der gewohnten häuslichen und beruflichen Ordnungen den Dialog ermöglichen.



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Leopold Kompert Judith die Zweite und Die Kinder des Randars

Darauf bezieht sich Leopold Kompert beispielsweise in der kurzen Erzählung Judith die Zweite. Eine der Hauptfiguren, Christoph, der katholische Wirt zum goldenen Kreuz auf dem Schloßberge […] war mehr Jud’ als Christ. Im Ghetto geboren [sprach er] den Jargon […] so meisterhaft, daß man sich’s kaum einredete, der Mann könne hinterdrein zur Beichte gehen oder ein Kreuz schlagen.345

An einem Sabbat lädt Christoph einmal einen Schnorrer ein, »wo er ihn ganz nach jüdischer Art bewirtete,«346 ohne dass dieser bemerkt, dass er Gast eines Christen ist. Das Leben im Wirtshaus wird in dieser Erzählung nicht näher beschrieben, auch der Ort selbst wirkt nicht handlungsstrukturierend. Allerdings kommt diese Funktion auch keinem anderen Raum zu. Vielmehr wird das Ghetto in seiner Gesamtheit als integrativer sozialer Raum von Christen und Juden mit wenigen Strichen skizziert. Diese Anlage der »Gasse« als gemeinsame Lebensweltwelt von Juden und Nichtjuden entspricht in der Tendenz der historischen Situation in Böhmen, denn, wie Stefan Hock vermerkt, [i]n steter und nicht immer unfreundlicher Berührung mit der nichtjüdischen Bevölkerung, die ihre Fühler in Gestalt armer Handwerker und Tagelöhner bis in die »Gasse« ausstreckte, hatten die böhmischen Juden im Laufe der Jahrhunderte reichlicher von der Kultur des Westens empfangen als ihre Glaubensgenossen in den übrigen slawischen Ländern. Von den deutschen Herren gleichmäßig gedrückt, lebten sie mit den tschechischen Bauern und Handwerkern in einer gewissen Vertraulichkeit.347

Diese integrative Dimension des jüdischen Viertels findet in Komperts Erzählung in nuce in Christophs Wirtshaus ihren Ausdruck. Dass der christliche Wirt für seine jüdischen Gäste, die ihn nicht kennen,  – trotz des christlich konnotierten Gasthausnamens – als Gleicher unter Gleichen gelten kann, verweist auf eine immanente Hierarchie der raumbezogenen Erzähllogik. Die Handlungen von Juden und Nichtjuden markieren hier tatsächlich eine soziale Gemeinschaft und sie überbieten damit das semantisch aufgeladene Zeichen der Trennung, also in diesem Fall das »goldene Kreuz«. In dem Gasthaus wird die Unter-Scheidung von Jüdischem und Christlichem zumindest kurzfristig aufgehoben bzw. 345 Leopold Kompert, Judith die Zweite, in  : ders., Ausgewählte Werke in vier Bänden, mit einer biographischen Einleitung von Stefan Hock, Erster Band. Leipzig o. J. [1906], S. 1–26, hier S. 5. 346 Kompert, Judith die Zweite, S. 5 f. 347 Stefan Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, S. VI.

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unsichtbar. So verläuft das Leben im Ghetto in friedlichen Bahnen, bis plötzlich eine Bedrohung heraufzieht, die die kleinstädtische Gemeinschaft von Christen und Juden in ihrer Gesamtheit betrifft  : die Franzosen. Das Ziel, den gemeinsamen Feind, den Fremden und Besatzer zu schädigen, macht schließlich aus dem jüdischen Leb Rother und seinem christlichen Freund Christoph auch politisch Verbündete. Beide verstehen sich als Patrioten, zuvörderst Leb Rother, der einmal im Auftrag der Pressburger Gemeinde Martinigänse an den Wiener Hof überbracht und bei dieser Gelegenheit »mit dem Kaiser selbst gesprochen«348 hat. Die beiden bestehlen mit Unterstützung von Bauern die siegreiche französische Armee349 in größerem Stil. Kurz bevor ihre Wohnungen von französischen Soldaten durchsucht werden, erhalten sie einen Wink und können fliehen. Es bleibt zwar offen, von wem die Warnung an Rother und Christoph ergangen ist, der Erzähler suggeriert aber, sie sei aus dem Ghetto gekommen  : Denn »abgesehen von der Brandschatzung« als dem »erste[n] fühlbare[n] Angriff des strengen Kriegsrechtes […] war [die Hausdurchsuchung] gegen ein Leben des Ghettos gerichtet.«350 In dieser Situation begreifen sich die Ghettobewohner als uneingeschränkte Solidargemeinschaft, in der »jeder wie mit tausend Ketten an das Ganze gebunden«351 ist. Gefangen genommen werden Christoph und Rother später trotzdem, aber nicht im Ghetto, sondern wiederum in einem Wirtshaus. Obwohl Leb Rother während der Flucht den hungrigen Christoph immer wieder davon abhalten kann, in »eine einsame Schenke auf ihrem Wege«352 einzukehren, gibt Rother endlich Christophs Drängen nach. Allein dessen Gier, nach Tagen der Entbehrung ausgiebig zu essen und zu trinken, verzögert den Aufenthalt so lange, bis schließlich Soldaten die Schenke betreten und die beiden verhaften. Das Leben der später zum Tode Verurteilten rettet schließlich der Opfergang eines jüdischen Mädchens aus dem Ghetto, das den französischen General mit einer Liebesnacht besticht. In diesem Text erzählt Kompert eine Geschichte aus jenen Tagen, als in vielen Teilen Europas das Ghetto noch einen unantastbaren lebensweltlichen Bezugsrahmen bot.353 Weder Fragen um natio348 Kompert, Judith die Zweite, S. 4. Die Schilderung der persönlichen Begegnung mit dem Kaiser als identitätsstiftendes Erlebnis bildet auch fast 90  Jahre nach Erscheinen von Komperts Erzählung in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932) eine Schlüsselstelle. Siehe dazu Joseph Roth, Radetzkymarsch, in  : ders., Werke in vier Bänden, II. Band, hg. v. Hermann Kesten. Köln 1976, S. 219 f. 349 Kompert bezieht sich auf die von der österreichischen Armee 1809 verlorene Schlacht bei Wagram. 350 Kompert, Judith die Zweite, S. 11. 351 Kompert, Judith die Zweite, S. 11. 352 Kompert, Judith die Zweite, S. 15. 353 Die böhmisch-mährischen Ghettos lösten sich erst seit den 1840er-Jahren allmählich auf. Zur



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nale Zugehörigkeiten noch Diskussionen um Modernisierung oder Bewahrung jüdischer Traditionen scheinen die Menschen in dieser historischen Epoche, die der Erzähler überwiegend positiv bewertet, zu beunruhigen. Im Gegensatz dazu geraten in Texten, die in einer späteren historischen Zeit angesiedelt sind, die stabilen Verhältnisse zwischen Juden und Nichtjuden sowie zwischen Juden untereinander allmählich aus dem Gleichgewicht. Beide Phänomene werden also in Ghettogeschichten dargestellt. Ähnlich wie in Selig Schachnowitz’ Roman Merelaika, in dem die Verände­ run­gen in der Familie der Protagonistin mit dem äußeren Niedergang der einstmals florierenden Wirtschaft einhergehen, spiegelt auch der Wandel des einst bedeutenden Randarhofs das Schicksal der Pächter-Familie in Komperts romanhafter Novelle Die Kinder des Randars354 wider. Darüber hinaus aber nimmt dieser Text in Bezug auf raumpoetologische Fragestellungen aufgrund der Dichte der textimmanenten räumlichen Vernetzungsstruktur eine hervorragende Position im Genre der Ghettogeschichte ein. Vom böhmisch-jüdischen Dorf samt seiner spezifischen Innen- und Außenräume über den offenen Raum des freien Feldes hin zur (klein)städtischen Topographie, von den Routen der »Schnorrer« aus Russisch-Polen nach Böhmen bis hin zum imaginierten »Jeruschalaim« werden alle Orte und Räume in die Narration handlungskonstituierend eingebunden und diskursiv aufgeladen.355 Dabei sind die Protagonisten in unterschiedlicher Weise den Orten und den darin implizit angelegten raumzeitlichen Konzeptionen zugeordnet. Die Fixierung an einen einzigen Ort markiert dabei aus der Erzähler- und Figurenperspektive tendenziell die Unfähigkeit der Figuren, sich den unabwendbaren Veränderungen der Zeit zu stellen. Für die Betroffenen hat das letztlich die Aufgabe ihrer gesellschaftlichen Souveränität zur Folge, was gleichwohl nicht zwangsläufig negativ bewertet wird. Das räumliche Ausgreifen hingegen bedeutet trotz der damit einhergehenden bzw. sozialen und rechtlichen Situation der böhmischen Juden auf dem Land und in den Kleinstädten vgl. Thomas Winkelbauer, Leopold Kompert und die böhmischen Landjuden, in  : Hans Otto Horch, Horst Denkler (Hg.), Conditio Judaica  : Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1989, S. 190–217, besonders S.  190–195  ; weiterhin Glasenapp, Judengasse, S.  91 ff. Aus älterer Zeit siehe Paul Amann, Leopold Komperts literarische Anfänge. Prag 1907 [=  Prager deutsche Studien  ; 5], Neuauflage  : Hildesheim 1975, und Oskar Donath, Böhmische Dorfjuden. Brünn 1926, Kap. II »Erlebtes«, S. 9–37. 354 Leopold Kompert, Die Kinder des Randars, in  : ders., Ausgewählte Werke in vier Bänden, S. 76– 221. Die Paginierung korrespondiert mit dem ersten Band der Gesamtausgabe in 10 Bänden [1906]. Randar = Schnapsbrenner und Schankwirt. 355 Im Folgekapitel wird die Erzählung deshalb ein zweites Mal aufgegriffen und dann hinsichtlich der narratologischen Funktion der Außenräume diskutiert.

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der vorausgehenden, teils existenziellen Krisensituationen letztlich immer selbst bestimmte identitäre Freiheit. Auf den ersten Blick scheint Kompert allerdings ›nur‹ die Verfallsgeschichte einer Familie zu erzählen, die sich am augenscheinlichsten in der Raumdarstellung der Schenke, des Randarhofs, erkennen lässt. Der jüdische Pächter des Randarhofes und seine Familie sind zu Beginn der Geschichte nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in narratologischer Hinsicht die Eigner des Raums. Ihr Handeln wird  – folgt man der heterodiegetischen Erzählerinstanz – als raumgestaltend beschrieben und zwar sowohl im Kleinen des Betriebs als auch im Großen der Dorfgemeinschaft  : Nach der ›Herrschaft‹ und ihren allmächtigen Beamten gab es im ganzen Dorfe keine einflußreichere Person als unsern Randar. Sein Haus war das schönste, das man weit und breit in der Umgegend finden konnte  ; er saß darauf wie auf einem angestammten Lehnsitz, als ein geachteter, immer gern gesehener Vasall seines Herrn und Grafen.356

Die körperliche Präsenz der Familie, die seit Generationen den Randarhof betreibt, durchdringt gewissermaßen den (erzählten) Raum. Sie verleiht ihm seine Bedeutung als Ort der Gastlichkeit, der Geborgenheit, der Behaglichkeit, als Ort des Austausches, aber auch des Streits, der »hitzigsten Kämpfe und Dis­ kurse«357 zwischen jüdischen und christlichen Gästen sowie zwischen den christlichen Bauern untereinander. Die poetologische Dimension des Gastraums wird schließlich in einer Aussage der Erzählerinstanz gebündelt, wenn es heißt  : »In der Schenkstube ging die eigentliche Geschichte des Dorfes vor, und der Randar hatte ihre Fäden in der Hand.«358 Die gängigen Bilder über Enge, Dumpfheit und Zwang des Schtetls oder Ghettos hinter sich lassend, markiert allein die topographische Lage des Ran­ darhofes einen ›dritten Raum‹, der weder ganz dem jüdischen, noch ganz dem christlichen Bereich zuzuordnen ist. Während es »im Ghetto […] an Raum« fehlt, was unmittelbare Auswirkungen auf »die Seele« hat, die dort nicht »frei und ungeängstigt« sein kann, nimmt der Erzähler den Leser mit an den »Ort, […] wo wir das alles finden  : Duft, Grün, Lerchenschlag – ich meine das Haus des Randars.«359 Die vielgestaltigen Funktionen des Gastraums können innerhalb kürzester Zeit wechseln, und das verdeutlicht einmal mehr, dass der Raum durch die Aktionen der dort anwesenden Figuren erst hergestellt wird. Anders als in Schachnowitz’ Roman, in dem die Trennung der christlichen und der 356 Kompert, Randar, S. 77. 357 Kompert, Randar, S. 99. 358 Kompert, Randar, S. 99. 359 Kompert, Randar, S. 76.



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jüdi­schen Lebenswelten auch in der räumlichen Trennung von Gaststube und Familienzimmer im Fortgang der Handlung forciert wird, sind in Komperts Erzählung selbst die religiös definierten Grenzen im Hause des Randars als flexibel und verhandelbar dargestellt  : In religiösen Dingen überhaupt ließen Rebb Schmul und die Bauern vieles gelten. Sprach er auf das Lob des Heilands sein Amen, so verrichtete er auch mitten unter ihnen seinen Gottesdienst. Die Tefillin (Gebetriemen) um Kopf und Arm gelegt, ging er unter den Bauern herum, und es mag manchen sonderbar bedünken, daß sich keiner darüber belustigte. ›Der Pan Schmul betet‹, hieß es, wenn sich der Randar beim Schmona-Esre-Gebete in einen Winkel stellte, und mitten unter slawischen Lauten die Sprache Zions ertönen ließ. Dann rückten sie die Gläser zusammen und redeten still, solange das Gebet dauerte.360

Doch nicht nur die Bauern des Dorfes besuchen den Randarhof, auch viele jüdische Dorfgeher und Kleinhändler aus der gesamten Monarchie und selbst aus Russisch-Polen beehren regelmäßig das Haus am Sabbat und an den jüdischen Feiertagen. Durch ihre wenngleich ökonomisch bedingte Wanderschaft tragen sie ihren Teil zu dem ritualisierten Leben der Familie bei und stärken durch ihre vorübergehende Anwesenheit das Haus in seiner Funktion als ›jüdischen‹ Ort. Die christlichen Gäste hingegen konstituieren auf profaner Ebene vor allem durch ihre Gespräche über aktuelle Ereignisse den Raum als einen sozialgemein­schaftlichen von Juden und Nichtjuden. Die scheinbare Sicherheit dieses Orts erweist sich aber im Laufe der Zeit als gefährdeter, als je von seinen Bewohnern und Gästen angenommen. Dies zeigt sich einerseits durch veränderte Herrschaftsverhältnisse nach dem Tod des alten Grafen und andererseits durch das zunächst unmerkliche Verrücken symbolischer Grenzen durch die Kinder des Randars, Hannele und Moschele. Beide werden von gänzlich anderen (räumlichen) Vorstellungen geleitet als ihre Eltern. Sie wollen sich nicht mehr bescheiden mit dem ihnen qua Geburt zugewiesenen Platz. Die aus der Sicht der Eltern und Vorfahren eigentlich offene Welt des Randarhofs ist den Jungen zu eng. Dabei eignen den jeweiligen Orten und Plätzen, die die Geschwister aufsuchen bzw. die sie ersehnen, unterschiedliche lebensweltliche und ideelle Konzeptionen, die teilweise erst im Laufe der Erzählung entfaltet werden. Beide Kinder des Randars sind nach außen orientiert, und beide haben einen Gefährten, der als Proponent für eine je unterschiedliche Raumkonzeption angesehen werden kann. Moschele ist zunächst dem alten Mendel Wilna, der einen unpolitischen, aber sozial und religiös motivierten Proto-Zionismus vertritt, herzlich 360 Kompert, Randar, S. 99.

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zugetan. Ihm will er schon als Kind nach »Jeruschalaim« folgen. Eine kurze gemeinsame Wegstrecke – Mendel schickt Moschele schon nach wenigen hundert Metern wieder nach Hause zurück – zieht eine tiefe, unsichtbare Spur in »das Innere«361 des Jungen, der er künftig immer wieder nachgehen wird. Sein äußerer Weg führt ihn über Bunzlau, in das dortige Piaristengymnasium, und über den inneren Weg der Bildung hin zu einem Bewusstsein nationaler Eigentümlichkeit. Und dies mit einer zweifachen Zielrichtung  : »Jerusalem und Böhmen  !«362 markieren fortan seine weltanschaulich-topographischen Bezugspunkte. An Moritz’ ehemals Moscheles Überlegungen und an seinen Diskussionen mit dem christlichen Honza, der sich als Böhme und Tscheche versteht und gegen die bildungspolitischen Strategien der »k. k. Germanisierungsanstalt«363 aufbegehrt, vergegenwärtigt der Erzähler in einem eigenen Kapitel unter der Überschrift »Wo ist des Juden Vaterland« die drängenden Anforderungen der Zeit, die nun nolens volens auch räumlich konditioniert erscheinen. Insofern stellt dieser Text Komperts eine absolute Besonderheit dar  : Aus der Perspektive der Ghettogeschichte spannt der Autor den erzählten Horizont gewissermaßen konzentrisch vom Haus (des Randars) über die (nächstgelegene) kleine Stadt (Bunzlau) zu einem idealistisch vorgestellten Wien, wo der legendäre Rothschild leben soll,364 hin zu einer tschechisch-nationalen Raumkonzeption Böhmens und schließlich zu dem schon zionistisch imaginierten Ort »Jeruschalaim« auf. Die Schenke, die traditionelle Wohn- und Arbeitsstätte der Familie, bildet dabei nicht nur einen Schauplatz oder den lokalisierbaren Ausgangspunkt der Erzählung. Ist sie zunächst als Raum der Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden funktionalisiert, so mutiert sie durch die Brandstiftung (von Honzas Vater) zum Ort der Spaltung. Darüber hinaus wird der Randarhof vom Erzähler als wichtige Durchzugsstation der jüdischen Dorfgeher, Schnorrer und Pilger entworfen. In diesem Kontext bildet er einen Kreuzungspunkt unterschiedlichster Routen, die sich hier gleichsam verdichten. Diese Verdichtungen kulminieren am Sabbat und an religiösen Feiertagen, wenn die durchziehenden Männer in die familiäre Hausgemeinschaft aufgenommen werden. Ihre Erzählungen wirken an diesem Ort noch nach, selbst wenn ihre Urheber wieder weiter gezogen sind. Der Randarhof ist also nicht nur Ort der Diegese, sondern auch Ort der Erzählungen jener Figuren, die ihn betreten. Insofern ist er gewissermaßen kontaminiert von Geschichten, die wiederum auf seine Bewohner zurückwirken. So ›deponiert‹ Mendel im Hause des Randars seine visionäre Geschichte von 361 Kompert, Randar, S. 128. 362 Kompert, Randar, S. 141. 363 Wittemann, Kompert, S. 278. 364 Kompert, Randar, S. 160.



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Jerusalem, die vor allem den kleinen Moschele nicht mehr loslassen wird. Vom Hause des Randars bricht Mendel schließlich nach Jerusalem auf. Das Wort »Jerusalem« hat der fromme Mann seinem Körper durch eine Tätowierung buchstäblich eingeschrieben.365 Er trägt den Namen seines Sehnsuchtsorts immer in und mit sich. Dass Mendel Jerusalem dann tatsächlich erreicht, was er letztlich als seine einzige Lebensaufgabe ansieht, spielt angesichts der ohnehin unauflöslichen Verbindung des Orts mit seinem Körper nur eine untergeordnete Rolle. Unabhängig an welchem Ort sich Mendel befindet, welchen Raum er ausschreitet, welches unmittelbare Ziel er vor Augen hat, er ist und bleibt bis zu seinem Tode untrennbar mit Jerusalem vereint. Alle anderen Aufenthaltsorte, so auch das Haus des Randars, können ihm deshalb nur Raum des Transits sein. Mendels visionäres Jerusalem bildet also gleichsam das Gegenmodell zum Hause des Randars, das am Ende verfallen und verlassen ist. Der Autor knüpft auf diese Weise ein enges narratives Band zwischen dem Haus des Randars, seinen Bewohnern und Gästen, zwischen ihren Geschichten und den eingeschobenen Binnenerzählungen, zwischen dem »Lebensbuch« Mendels und dem in seine Haut geätzten Schriftzug Jerusalem, zwischen den Büchern, die der junge Moschele studiert, und seiner vorübergehenden (und nicht nur) räumlichen Orientierungslosigkeit  : mithin also zwischen Körper, Schrift, Ort und Raum. Die Schrift scheint in diesem Beziehungsgeflecht jedoch die einzig verlässliche und unhintergehbare Größe dazustellen. Die Orte und Räume sowie die Körper, die sich dort aufhalten und bewegen, werden als instabil und gefährdet gezeichnet, die Erzählungen verflüchtigen sich im Strom der Zeit. Salomon Kohn Die fidelen Alten

In einer völlig anderen Weise als in Leopold Komperts Text erscheint das Wirtshaus in Salomon Kohns Erzählung Die fidelen Alten.366 Der Erzähler – hier in intradiegetischer Position – sitzt mit »mehrere[n] Männer[n] verschiedenen Alters und Standes beisammen.«367 Er delegiert die eigentliche Erzählung an einen Mann aus der Gesprächsrunde, der eine Episode aus seinem Leben erzählt  : die Begegnung mit den »fidelen Alten«. Die homodiegetische Erzähler­figur 365 Kompert, Randar S. 88 f.: »Es waren blutrünstige hebräische Buchstaben, die mit einem scharfen Instrument in das Fleisch geätzt waren. ›Das heißt Jeruschalaim‹, schrie der Knabe, ›darf man das tun  ?‹« Mendel überbietet mit seiner fragwürdigen Handlung einerseits den Erinnerungsmodus, der im berühmten Psalm 137 beschlossen ist, andererseits unterminiert er damit dessen Zielrichtung. 366 Salomon Kohn, Der alte Grenadier. Die fidelen Alten, Zwei Erzählungen [= Kollektion Cronbach. Skizzen und Erzählungen aus dem jüdischen Kultur- und Familienleben  ; 2]. Berlin 1893. 367 Kohn, Die fidelen Alten, S. [109].

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bzw. der Binnenerzähler trägt den Namen Dr. Glanwitz. Er stammt aus einer »ungarischen Landstadt«, erwarb seinen Titel im Rahmen eines Philoso­phie­ studiums in »W.«,368 was offenkundig Wien meint, und möchte als »reli­giöser Jude« »eine Rabbinerstelle erlangen«.369 Von seinem Onkel erbt der junge Mann »sechzig Gulden, einen silbernen Becher, eine Riechbüchse, eine Goldmünze und einen Brief.«370 Die Goldmünze wird schließlich zum Auslöser eines Konflikts, der Glanwitz fast seine bürgerliche Existenz kostet. Eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch an einen nicht näher bezeichneten Ort »A.« für eine frei gewordene Rabbinerstelle, im Rahmen dessen er »eine  – der Form nach – moderne Predigt, als auch einen talmudischen Vortrag« halten soll, führt den Protagonisten auf seiner Reise in einen Ort namens »C.« in die »Gaststube des dortigen Hotels ›Zum Veilchenstrauß‹«.371 Dort will ihn der Vorsteher Ezechiel Samuelsohn abholen. Der Leser erfährt, dass die neue Wirkungsstätte des Dr.  Glanwitz in Deutschland liegt. Die Wegstrecke, die Glanwitz dabei von Wien aus zurücklegen muss, markiert aus seiner Sicht als Erzähler nicht nur eine geographische Route, sondern gleichzeitig einen handlungsrelevanten Übergang von der vertrauten Rede zum Schweigen, das letztlich bis kurz vor Schluss der Erzählung anhält  : Solange ich auf österreichischen Bahnen fuhr, hatte ich unter den Mitreisenden Glaubensgenossen gefunden, mit denen ich ein Gespräch anknüpfte  ; aber von dem Momente an, wo ich deutschen Boden betrat, erkannte ich – natürlich nur infolge eines Zufalls – unter den Mitreisenden keinen Juden.[…] Ich hatte, seitdem ich deutschen Boden betreten […] nicht ein Wort über die Lippen gebracht.372

Dies ändert sich nur vorübergehend, als kurz vor Glanwitz’ Reiseziel ein alter Herr das Abteil betritt und mit ihm ein Gespräch beginnt. Glanwitz stellt sich dem Herrn, einem jagdbesessenen Oberförster, namentlich und als Doktor der Philosophie vor. Er nennt ihm das Ziel seiner Reise, nicht jedoch den Zweck. Beide steigen in C. aus und gehen in die Gaststube des Hotels »Zum Veilchen­ strauß«, wo der Oberförster seine »Tafelrunde«, »die fidelen Alten«, trifft. Um dem jungen Mann die Wartezeit zu verkürzen, laden ihn die Herren der Tafel­ runde ein  ; dass er jüdisch ist, wissen sie im Gegensatz zum Leser zu diesem Zeitpunkt nicht. Der Leser versteht deshalb auch, warum Glanwitz »selbst368 Kohn, Die fidelen Alten, S. [109]. 369 Kohn, Die fidelen Alten, S. 111. 370 Kohn, Die fidelen Alten, S. 112. 371 Kohn, Die fidelen Alten, S. 116. 372 Kohn, Die fidelen Alten, S. 118 f.



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verständlich nur ein Glas Bier«373 trinken kann, das ihm »mit geringschätziger Miene«374 serviert wird. Die alten Herren stürzen sich hingegen auf ihr Essen. Da das nichtjüdische Gasthaus prinzipiell nicht zur Stätte des gemeinsamen Mahls werden kann, verbindet hier die kulturelle Handlung des Essens nicht, sondern trennt die Anwesenden auf einer ersten Ebene. Nach dem Essen zückt einer der Herren, ein Münzsammler, eine seltene assyrische Münze, die er als Unikat anpreist. Just in dem Moment, als Glanwitz anheben will, diese Vorstellung zu korrigieren – wie sich später herausstellt, hat er von seinem Onkel eine identische Münze geerbt – beginnt einer der Honoratioren, der Apotheker, als erklärter Antisemit auf den jüdischen Berliner Münzhändler seines Freundes zu schimpfen. Es entbrennt ein heftiger Streit zwischen den alten Herren, der Glanwitz endgültig zum Verstummen bringt. Er will den Raum verlassen, denn die primäre Funktion des Orts, das gemeinsame und freundschaftliche Gespräch in privat anmutender Atmosphäre, erscheint durch das Verhalten der Tafelrunde aus seiner Perspektive obsolet. Auch ohne persönlich angesprochen zu sein, wird Glanwitz durch die antisemitische Haltung des Apothekers auf einer zweiten Ebene ausgeschlossen – mit seinem konkreten räumlichen Rückzug will er lediglich das vollziehen, was er in sozialer Hinsicht als symbolischen Ausschluss erlebt. Das Geschehen spitzt sich schließlich zu, als die Münze plötzlich verschwunden ist. Nachdem alle Anwesenden außer Glanwitz375 ihre Taschen geleert haben, die Münze aber unauffindbar bleibt, ändert sich die Haltung aller im Gasthaus anwesenden Personen zueinander. Der damit verbundene Wandel der Figurenkonstellation wird in der Narration des Raums unmittelbar evident  : Der Vorgang an unserem Tische hatte die Aufmerksamkeit der zahlreichen Gäste in dem großen Saale auf sich gezogen, sie verließen ihre Plätze, bildeten in einiger Entfernung einen großen Halbkreis um unseren Tisch und verfolgten mit sichtlicher Spannung die weitere Entwickelung dieser Scene, in welcher ich leider die Hauptrolle spielte.376

Der Gastraum mutiert durch das Verhalten der Gäste zur Bühne beziehungsweise zum Gerichtssaal. Die »fidelen Alten« stellen nun gleichzeitig das Tribunal und die Zeugen dar, die anderen Gäste das schaulustige Publikum, Glanwitz, der 373 Kohn, Die fidelen Alten, S.  124. Als ungarischer Jude ist Dr.  Glanwitz weder durch Bart-, Haartracht oder Kleidung, wie sie im galizischen Schtetl üblich war, für die »fidelen Alten« ›erkennbar‹. 374 Kohn, Die fidelen Alten, S. 125. 375 Glanwitz weigert sich, seine Taschen umzustülpen, wissend, dass er die Münze seines Onkels, die mit der verschwundenen identisch ist, bei sich trägt. 376 Kohn, Die fidelen Alten, S. 136.

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sich in dieser Situation plötzlich selbst als »den Fremden, den völlig Unbekannten« erkennt,377 wird zum Angeklagten. In diesem prekären Moment betreten der jüdische Gemeindevorsteher und seine Tochter den Raum, wodurch sich wiederum handlungsrelevante Verschiebungen ergeben. Da Glanwitz durch die Anklage der Honoratioren, die Münze entwendet zu haben, gewissermaßen bewegungsunfähig gemacht wird  – er darf den Raum nicht verlassen  –, wird die (Ver-) Handlung als Diskurs, als Rede und Gegenrede, weitergeführt. Im Gerichtssaal bestimmt nicht mehr die Handlung das Geschehen, sondern die Stimme – und der Blick  : Schon war ich entschlossen, alles […] schweigend zu ertragen […], als mein brennender Blick, der unwillkürlich hilfesuchend im Saale umherirrte, auf das herrliche Mädchen, Samuelsohns Tochter, fiel, die am ganzen Körper bebend, […] ihr thränenfeuchtes Auge mitleidsvoll auf mich richtete  !378

Dieser Blick, der zwischen dem jungen Mann und dem Mädchen einen neuen und nur ihnen zugänglichen Kommunikationsraum eröffnet, veranlasst Glanwitz schließlich, sich doch zu verteidigen, dem Apotheker »mit so mächtiger Stimme« schreiend entgegenzutreten.379 Dass es in dieser Auseinandersetzung nicht nur um das Verschwinden einer wertvollen Münze geht, hat der Leser längst erkannt. Glanwitz’ Verhalten ist vielmehr zu deuten als Positionierung eines selbstbewussten Vertreters des Judentums gegen die antisemitischen Ausfälle eines deutschen Bürgers, der sich wiederum als pars pro toto einer einflussreichen Gruppierung versteht. Das Terrain, das für Glanwitz aufgrund der widrigen Umstände allerdings verloren zu gehen droht, wird zumindest teilweise durch die Tochter des Vorstehers ›zurückerobert‹. »›Ich glaube Ihnen  !‹ ertönte es […] so laut, daß man es bis in die entfernteste Ecke des Saales deutlich vernehmen konnte.«380 Die Tochter Samuelsohns, die aufgrund ihrer doppelt benachteiligten gesellschaftlichen Stellung als Frau und Jüdin in einem öffentlichen Raum eigentlich nicht (vor Publikum) spricht oder sprechen darf, eignet sich durch ihr Verhalten und durch ihre Stimme den Raum an und gibt damit dem hilflosen Angeklagten – zumindest für Augenblicke – seine Würde zurück. Nach dieser Episode öffnet sich in kurzen zeitlichen Abständen zweimal die Saaltür  : Zunächst stürmen zwei »uniformierte Polizeimänner« in den Saal, um Glanwitz zu verhaften, und Sekunden später 377 Kohn, Die fidelen Alten, S. 134. 378 Kohn, Die fidelen Alten, S. 141. 379 Kohn, Die fidelen Alten, S. 141. 380 Kohn, Die fidelen Alten, S. 146.



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öffnete sich von neuem die Saalthüre  ; der Kellner durchschritt eiligst den Saal, drängte sich durch den Menschenknäuel, der in unserer Nähe stand, zu unserem Tische und sprach  : ›Beim Geschirrwaschen hat sich auf dem Teller des Apothekers ein Goldstück gefunden  !‹381

Mit dieser Aussage setzt schlagartig der Umschwung ein, die gesamte räumliche Szenerie verändert sich, »Rufe der Verwunderung, der Befriedigung durchschwirrten den Saal«,382 währenddessen die »Herren von der Tafelrunde […] mehrere Minuten bedurften, um sich zu sammeln.«383 Die Anwesenden werden wieder zu Gästen, die Gaststube zum Raum der Verständigung, ja der Verbrüderung.384 Der antisemitische Apotheker wird zunächst von seinen Freunden ob seines »Judenhasses« verurteilt,385 um sich im Anschluss daran bei Glanwitz zu entschuldigen. Als dieser nun dem Apotheker antwortet, wird der Gastraum ein letztes Mal zum öffentlichen Forum  : »Meine Worte, die nur gegen den Apotheker gerichtet waren, hatten gegen mein Erwarten einen gewaltigen Eindruck hervorgerufen. Als ich geendet, erdröhnte langanhaltender, mächtiger Beifall durch den Saal.«386 Die Gaststube ist also nicht nur Schauplatz, sondern elementarer Bestandteil dieser Erzählung. Als Ort der Verhandlung und der Aushandlung gegensätzlicher Positionen von Juden und Christen eröffnet sich hier tatsächlich ein ›dritter Raum‹, der am Ende allen gehören kann und Platz für neue Einsichten gewährt. Er ist gleichermaßen Ort der Exklusion wie der Inklusion, des Konflikts und der Versöhnung, des Schweigens und der (öffentlichen) Rede, des regelmäßigen Aufenthalts wie der Durchreise  – er muss allerdings immer wieder durch das Handeln und Sprechen der Figuren neu hergestellt werden. Die Gaststube bildet daher nicht nur einen öffentlichen, sondern einen bedeutungs-offenen Raum. 4.2 Gasse – Straße – freies Feld

Die bisher untersuchten Innenräume werden in Ghettogeschichten also im Wesentlichen in zweierlei Richtungen narrativ entfaltet  : Bedeutungs-offene Räume wie die Schenke oder das Gasthaus werden nicht nur unterschiedlich semanti381 Kohn, Die fidelen Alten, S. 147 f. 382 Kohn, Die fidelen Alten, S. 148. 383 Kohn, Die fidelen Alten, S. 149. 384 Kohn, Die fidelen Alten, S. 151  : »›An mein Herz, du lieber, braver, edler Mensch  !‹ und der gute, derbe Mann umschlang mich und drückte mich mit seinen eisernen Armen an seine Brust, daß mir alle Knochen krachten.« 385 Kohn, Die fidelen Alten, S. 152 ff. 386 Kohn, Die fidelen Alten, S. 156.

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siert, sondern auch diskursiv unterschiedlich besetzt. Entsprechend ändern sich die Funktionalisierungen dieser Räume in Bezug auf die Figurenkonstellationen sowie auf die in den einzelnen Texten zur Disposition stehenden Argumentationsstränge. Tendenziell eindeutig codierte Räume wie der Cheder oder die Sabbatstube weisen hingegen innerhalb eines abgegrenzten lebensweltlichen Bezugsrahmens spezifische, sich in den Erzählungen wiederholende (An-)Ordnungen auf. Die Innenräume wirken zwar auf die Figuren, diese können die Zeichen, die beispielsweise in der ›guten Stube‹, in der Synagoge oder im Cheder festgeschrieben sind, aber ignorieren, verschieben, zerstören oder umgehen. Die damit einhergehenden räumlichen Veränderungen setzen dann wiederum personale Transformationsprozesse in Gang, die sich auf das gesamte Beziehungsgeflecht, das Selbstverständnis der Figuren sowie auf die textimmanent verhandelten Diskurse beziehen. Wenn diese Innenräume als motivähnliche Erzählelemente eingesetzt werden, stärken oder schwächen sie in der Regel die Argumentationsrichtung der Figuren. Insofern übernehmen sie eine wesentliche Funktion im topischen Gefüge der Sinnvermittlung. Inwieweit das für den Leser unmittelbar erkennbar wird, hängt im Wesentlichen von der Transparenz der zugrunde liegenden Erzählstrategien und den daran gebundenen Wertungen seitens der Erzählerinstanz ab. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die als ›jüdisch‹ codierten Innenräume häufig aus einer heterodiegetischen Position zunächst nur als vorgefundener Schauplatz dargestellt zu werden scheinen. Erst im Laufe der voranschreitenden Handlung konstituieren das Interieur, die sich an einem Ort oder in einem Raum bewegenden Figuren sowie die in einem Raum vollzogenen Rituale zusammenwirkend jene Spezifität des Raums, die immer wieder als Teil einer jüdischen Identität, die von außen nicht angreifbar und teils auch gar nicht wahrnehmbar ist, aufgerufen werden kann. ›Jüdische‹ Innenräume wie die Sabbatstube bilden in Ghettogeschichten daher weit mehr als nur persönliche Schutzzonen für materielles Eigentum oder körperliche Unversehrtheit. Sie schmiegen sich gewissermaßen wie eine zweite Haut um die darin befindlichen Körper, stellen vor allem in rituell hervorgehobenen Zeiten eine Art Gefäß bereit, in der eine Einheit von Körper, Handlung, Schrift und Geist hergestellt werden kann. Je exklusiver allerdings die erzählte Handlung an die als jüdisch konnotierten Innenräume narrativ gebunden bleibt, desto beschränkter erweisen sich die Texte in poetologischer Hinsicht. Denn die Entwicklung der Ghettogeschichte als eigenständige Prosagattung scheint ganz wesentlich mit der topographischen Gesamtanlage des erzählten Schtetls, Ghettos oder Dorfes, die jedenfalls in einem spannungsvollen Wechselverhältnis von Innen- und Außenräumen jenseits der lokalen Begrenzungen ihren adäquaten Ausdruck finden muss, zu korrespondieren. Erst im Rahmen einer solchermaßen komplexen narrativen Raumkonstruktion kann sich topologi-



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sches Erzählen, wie es Norbert Mecklenburg dargelegt hat, wirkungsvoll ereignen. Das stellte indirekt schon Stefan Hock in der Einleitung zur Werkausgabe Leopold Komperts zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest. Darin vergleicht Hock Aron Bernsteins Vögele der Maggid und Mendel Gibbor, die er als Vorgängertexte der Ghettogeschichte ansieht, mit Komperts Dichtungen. Für Bernstein existierten nach Hocks Auffassung die Juden […] förmlich außer der christlichen Welt [und in] seinen köstlichen Geschichten […] leben wir wirklich nur innerhalb des ›Eiruws‹, jener Drähte, die am Sabbat das Gebiet der Gemeinde symbolisch umfassen. So konnten wohl einzelne Meisterwerke deutscher Erzählkunst geschaffen, aber keine neue Gattung begründet werden. Denn die Enge des Gesichtskreises gestattet nur eine beschränkte Stoffwahl und eine eintönige Behandlung.387

Insofern sei Bernstein, wissend um dieses Manko, nur mit »wenigen Dichtungen« hervorgetreten. Erst Kompert sei es schließlich gelungen, »das kleine Milieu liebevoll, aber mit einem weiten, freien Blick zu betrachten«. Und so sei es Komperts Verdienst, »aus den jüdischen Genrebildchen die problematische jüdische Novelle geschaffen« zu haben.388 Im Gegensatz zu den Innenräumen entzieht sich der außerhalb des Schtetls oder Dorfes angesiedelte, unspezifisch anmutende erzählte Außenraum vielfach einer eindeutigen Codierung durch die Personen, die sich dort bewegen. Innerhalb des Dorfes bestimmt allerdings noch eine klare Topographie, meist durch die zentrale Situierung der Gasse, das Verhältnis von Figur und Umgebung. Wie schon festgestellt, werden in Ghettogeschichten nur sehr selten (narrative) Pläne oder Karten entworfen, die ein Dorf oder Schtetl als typisch jüdische Örtlichkeit ausweisen würden. Mit dem Hinweis auf eine Schul, eine Synagoge etc. wird lediglich signalisiert, dass in diesem Ort auch Jüdinnen und Juden leben. D. h. zu einem hohen Maße lassen die Bewohner und erst in zweiter Linie normative Raumordnungen ein jüdisches Dorf oder Schtetl in seiner Besonderheit erstehen. Reale Ortschaften lassen sich in Ghettogeschichten nur vereinzelt als Vorbilder eines Schauplatzes nachweisen, wie etwa die Bunzlauer oder Münchengrätzer »Gasse« in einigen Novellen Komperts oder das galizische Czortkow als Vorlage für das fiktive Barnow in Karl Emil Franzos’ Erzählungen.389 Die von den Autoren intendierte Authentizität des Erzählten bleibt 387 Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, Bd. I, S. LVI. 388 Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, Bd. I, S. LVI. 389 Unabhängig von der bekannten autobiographisch motivierten Vorlage für den Schauplatz Barnow stellt Karl Emil Franzos bzw. die jeweilige Erzählerinstanz durch die in verschiedenen

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davon aber unberührt. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang vielmehr die eine gewisse Einheitlichkeit von topographischer, sozialer und religiöser Ordnung suggerierenden narrativen räumlichen Strukturen, die ein jüdisches ›Innen‹ mit einem nichtjüdischen ›Außen‹ verbinden bzw. diese voneinander abgrenzen. Dass die damit einhergehenden (symbolischen) Grenzziehungen häufig fließend verlaufen, lässt eine räumliche Uneindeutigkeit entstehen, die durchaus in Analogie zum historischen Gebrauch des Begriffs ›Ghetto‹ im 19. Jahrhundert gesehen werden kann. Denn ebenso wie sich in der Tatsache, dass nach der Aufhebung der Ghettos »Orte mit dichterer jüdischer Einwohnerschaft, ungeachtet ob erzwungen oder freiwilligen Ursprungs«, weiterhin als Ghettos bezeichnet wurden, die Auffassung widerspiegelt, »durch das enge Zusammenleben sei eine eigene, sich abgrenzende Kultur entstanden«,390 so erweist sich diese Kultur in ihren Abgrenzungen nun doch zunehmend als durchlässig. Die Modernisierungsdiskurse überwinden teils unmerklich die alten Barrieren, die Außenräume wirken dann in unterschiedlicher Weise in die geschützten Innenräume hinein. Die damit einhergehenden Veränderungsprozesse, die in der Erzählung immer von einzelnen Figuren, die sich aus ihrer häuslichen Umgebung entfernen, ausgelöst werden, betreffen das Zusammenleben von Juden untereinander sowie jenes von Juden und Nichtjuden. Spätestens, wenn die handelnden Personen ihre Wohnung oder ihr Haus verlassen, treten Phänomene der Begegnung, des Austauschs, aber auch der Konfrontation und der Verführung in den Blick. Die Offenheit von Außenräumen, von Wegen, Straßen, Plätzen, Feldern, offeriert über die körperliche Bewegungsfreiheit hinaus die Möglichkeit, gewohnte Aufgaben und traditionelle Pflichten zu hinterfragen oder gar – und sei es auch nur temporär – aufzugeben. Dabei scheint eine immanente Hierarchie, prädisponiert durch topographische Eigenheiten des jeweils erzählten Raums, zu existieren. So bieten die durch Häuser gesäumten zentralen Dorfstraßen den Dorfbewohnern kaum Rückzugsorte vor der gegenseitigen sozialen Kontrolle.391 Texten immer wieder narrativ begangenen Wege und die Benennung einzelner Häuser ein vermeintlich authentisches Bild des fiktiven Orts Barnow her. Barnow/Czortkow ist zudem durch die behauptete geographische Nähe zu Czernowitz in ein überprüfbares geo- und soziographisches Umfeld eingebettet. Vgl. dazu auch den Hinweis von Karl Emil Franzos, Mein Erstlingswerk  : ›Die Juden von Barnow‹, in  : ders. (Hg.), Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze. Stuttgart, Berlin 1894, S. 213–240, hier S. 238  : »›Barnow‹ nannte ich den Ort nicht blos deshalb, weil ›Czortkow‹ der deutschen Zunge Mühe macht, sondern weil mein Heimatstädtchen nur der äußere Schauplatz ist  ; die Menschen haben zumeist in Sadagora gelebt.« 390 Stefanie Leuenberger, Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 1, Anm. 41. 391 Das bestätigen zahlreiche Fotografien noch aus der Zeit um 1900. Vgl. z. B. die Abbildung von



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Wie die Foucault’sche Aussichtsplattform im Zentrum eines Gefängnisses – sie erlaubt einem potenziellen Wächter zwar den Blick auf die Zellen, kann von den Zelleninsassen aber nicht eingesehen werden  – die permanente Überwachung ungeachtet ihres Vollzugs suggeriert, so gewährleisten auch die Häuser entlang der Dorfstraße die Möglichkeit zur (ununterbrochenen) Beobachtung. Die auf der Dorfstraße gehenden Menschen unterliegen deshalb nach wie vor der Normierung des Raums. Sobald sich jedoch die Straße zu einem freien Feld hin öffnet, wachsen die Chancen für die Figuren, sich zu entfalten bzw. sich der Kontrolle zu entziehen  : Das kann (un)erwünschte oder (un)erlaubte Begegnungen, verbotene oder ungehörige Handlungen oder die Vernachlässigung von Geboten und auferlegten Pflichten einschließen.392 Insofern wird der offene Naturraum in der Ghettogeschichte weniger zum romantisch idealisierten Gegenbild oder zum komplementären Raum des Schtetls erhoben, als vielmehr zum symbolischen Freiraum, der je nach Erzählerhaltung positiv oder negativ konnotiert wird. Denn gleichzeitig lauern ›draußen‹ auch viele Gefahren für das Judentum, vor denen die dörflichen Stuben und die (dichte) Anordnung der Häuser schützen. So beschreibt auch Stefan Hock die Außen- und Innenansichten der ›Gasse‹  : Geschichte, die Geschichte des jüdischen Volkes im Exil, spricht aus diesen Häusern. Ängstlich zusammengedrängt harren sie der Verfolger, die die Außenseite der Wohnstätten nicht locken darf  ; düstere Winkel und Gänge dienen eiligem Verbergen, rascher Flucht. Im Innern aber, da macht sich unter dem sicheren Schutze des ärmlichen Äußern und des dämmrigen Lichtes eine stille Behaglichkeit, ein gewisser Luxus geltend, da glänzen die Heiligtümer dieses Volkes, das sein ganzes Glück auf die Familie gesetzt hat.393

Aber nicht nur das Schtetl selbst, auch die unkontrollierbaren offenen Flächen sind topographisch definiert  : durch den Eruv, eine Wegstrecke zwischen zwei Orten, natürliche Barrieren wie Flüsse oder Wälder oder durch die Zielvorstel­ lung einer entfernten großen Stadt. Die markantesten in Ghettogeschichten zum Tragen kommenden Topoi, die sich in diesem Umfeld narrativ anschließen lassen, bilden die christlich-jüdische Liebesbeziehung, der Generationenkonflikt, der meist in eine unüberbrückbare Distanzierung zwischen Kindern und Leopold Komperts Geburtshaus im böhmischen Münchengrätz, in  : Kompert, Werke, Bd.  I, S. VII, oder den Fotoband über das galizische Schtetl von Claudia Erdheim, Das Stetl. 392 Vgl. z. B. Kompert, Randar, S. 179  : »Ich bin über die Felder weit gelaufen, um nicht durchs Dorf gehen zu müssen. Nicht einmal meine Mutter weiß, daß ich gekommen bin.« 393 Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, Bd. I, S. [V f.].

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Eltern mündet, und die verbotene Lektüre bzw. die Verdrängung traditioneller Glaubensgrundsätze durch weltliches Wissen.394 Dies sei exemplarisch an zwei Beispielen demonstriert. Karl Emil Franzos Schiller in Barnow

Die kurze Erzählung Schiller in Barnow erschien erstmals 1876 in der Sammlung Aus Halb-Asien.395 Der Titelverweis auf den deutschen Klassiker erfährt in einer Art Einleitung des Textes dahingehend eine Präzisierung, dass der Ich-Erzähler sein Vorhaben bekannt macht, von »fünf Exemplaren« nicht näher spezifizierter Werke Schillers, die in deutscher und polnischer Sprache »im Städtchen« vorliegen, zu berichten.396 Die Unmittelbarkeit dieses Unterfangens erreicht er einerseits mit der performatorischen Erklärung, dass er dies »heute« tut, mit der Niederschrift zu Schillers Geburtstag, »zum 10. November 1875«, sowie andererseits mit der direkten Anrede an die Leser  : »Ach  ! was wißt ihr Gebildeten in den großen Städten, was […] in einem armseligen, abgelegenen Winkel der Erde ein Band von Schillers Gedichten wert sein kann.«397 Damit eröffnet der Erzähler zugleich eine durch eine vermeintlich unüberbrückbare Distanz begründete Opposition zwischen der angenommenen städtischen Leserschaft und jener randständigen Region, über die berichtet wird. Eine identifikatorische Lesart wird dadurch zunächst ausgeschlossen. Der anschließende Kommentar über die Bedeutung Schillers beschwört allerdings umgehend eine ideale Gemeinschaft all jener Menschen unabhängig von Herkunft, Stand und Religion, die die Lektüre »aus der Tiefe der Vorurteile […] emporführt zu den Höhen freien Menschentums«.398 Schiller wird mit einer religiösen Metapher zum »Erlöser« und  – auffallend im jüdischen Kontext  – zum »Heiland« stili394 Vgl. dazu auch ausführlicher die Beiträge von Petra Ernst, Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920, in  : Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Identitäten, [= Schriften des David-Herzog-Centrums für Jüdische Studien  ; 1]. Innsbruck, Wien, München 2000, S. 209–243, sowie dies., »Ach, was wißt ihr Gebildeten in den großen Städten …«. Aus letzterem Artikel wurden für den folgenden Abschnitt kurze Passagen übernommen. 395 Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien  : Land und Leute des östlichen Europa. (6 Bde. in 3 Bdn.), Bd. 1, 2  : Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, Südrußland, der Bukowina und Rumänien. Leipzig 1876. Im Folgenden wird nach der Ausgabe zitiert  : Karl Emil Franzos, Schiller in Barnow, in  : ders., Erzählungen aus Galizien und der Bukowina, hg. v. Joseph Peter Strelka. Berlin 1988, S. 19–33. 396 Franzos, Schiller in Barnow, S. 19 f. 397 Franzos, Schiller in Barnow, S. 20. 398 Franzos, Schiller in Barnow, S. 20.



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siert.399 Der Erzähler projiziert also eine unmittelbar greifbare Heilserwartung auf die Werke eines nichtjüdischen Schriftstellers, die ihm als Ausdruck eines »individualistischen und zugleich universal menschlichen Humanitätsideals«400 gelten. Schließlich erzählt er die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft im Schtetl, die jenseits aller nationalen und religiösen Schranken und deshalb wohl außerhalb der Ortschaft entsteht. Ein von Glaubenszweifeln geplagter Dominikanermönch, ein Außenseiter in seinem Orden, findet in der Lektüre von Schiller-Gedichten einen säkularen Glaubensersatz, »das Evangelium reiner Begeisterung, das Evangelium der Menschenliebe«.401 Der Zufall führt ihn mit einem ruthenischen Schulmeister und einem »jungen Juden im armseligen Kaftan« zusammen, die »wie eben er, im Dunkel getastet und in der Wüste gedürstet«.402 Der Wille der beiden ungleichen »Studenten«, »viel [zu] lernen, alles«,403 beeindruckt den Ordensbruder derart, dass er sich anbietet, die beiden zu unterrichten. Der Ort des selbstbestimmten Lernens ist außerhalb des Schtetls angesiedelt, auf offenem Feld, »auf der Heide, im Winter […] in der Stube des Basil in Koczince.«404 Der »weite Weg«, der dafür zurückzulegen ist, bezieht sich nicht nur auf die Bewältigung der geographischen Strecke, sondern vor allem für den jüdischen Jungen Israel Meisels auf die Entfernung aus seinem vertrauten sozialen und kulturellen Umfeld. Die damit verbundene Übertretung der für ihn geltenden symbolischen Grenzen, an die das Verbot säkularer Lektüre in deutscher Sprache gekoppelt ist, geht einher mit dem  – zumindest kurzfristigen – Verlassen seiner Herkunftsgemeinschaft. Ob er sich damit schon auf jenen Ab-Wegen befindet, die in anderen Texten die »Epikores (Epikuräer)« oder Maskilim beschreiten, bleibt offen. Der Talmudübersetzer Jakob Fromer versuchte einmal, basierend auf seinen Jugenderinnerungen, »die Ghettoverhältnisse […], wie [er] sie in den achtziger und neunziger Jahren [des 19.] Jahrhunderts aus eigener Erfahrung kennen gelernt«405 hatte, einer strukturellen Typisierung zu unterziehen. Die von Fromer so bezeichneten »Parteien« lassen sich auch auf die vielen Ghettogeschichten zugrunde liegenden maskulinen Figurenkonstellationen umlegen  : »Der fromme Gelehrte«, der »Chasid«, der »Zelot«, der »fromme Ungelehrte«, der »Frevler«, der »Kulturmensch« und der »Zweifler«.406 Jedem dieser ›Typen‹, die in Ghettogeschichten mitunter als 399 Franzos, Schiller in Barnow, S. 20. 400 Strelka, Nachwort, in  : Franzos, Erzählungen aus Galizien, S. 179. 401 Franzos, Schiller in Barnow, S. 30. 402 Franzos, Schiller in Barnow, S. 30. 403 Franzos, Schiller in Barnow, S. 31. 404 Franzos, Schiller in Barnow, S. 32. 405 Jakob Fromer, Der Organismus des Judentums. [Berlin] Charlottenburg 1909, S. 7. 406 Fromer, Der Organismus des Judentums, S. 7–13.

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»Originale«407 oder einmal als »Schnurrige Käuze«408 bezeichnet werden, ist im Gefüge des Schtetls, der Gasse oder des Ghettos eine bestimmte Position im Hinblick auf den »von der [Gelehrsamkeit] empfohlene[n] Lebenswandel« und damit meist auch ein konkreter Ort zugewiesen. Der Epikores, der »die Einsamkeit [aufsucht], um sich ungestört der verbotenen Lektüre hinzugeben«, wird, sofern er von »den Frommen erwischt [wird], mit Schimpf und Schande aus dem Bethamidrasch, aus dem Hause seiner Eltern oder Schwiegereltern gejagt und der bittersten Not preisgegeben.«409 Solch radikale Konsequenzen infolge einer kulturellen Verbotsübertretung werden in anderen Prosatexten von Karl Emil Franzos wie Esterka Regina, Der Shylock von Barnow, Nach dem höheren Gesetz oder Der Pojaz zum Teil ausführlich abgehandelt. In der kleinen Erzählung Schiller in Barnow aber bleiben die Treffen der drei jungen Männer unentdeckt. Dem Leser wird suggeriert, dass die anderen Bewohner des Schtetls nichts von der im gemeinsamen Bildungsgang gründenden Freundschaft erfahren. Der Mönch teilt schließlich das Schiller’sche Gedichtbändchen »als seinen größten Schatz«410 mit den neuen Freunden, indem sie sich »ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung, am Abend des zehnten November«,411 namentlich als Besitzer einschreiben dürfen. Dieser Akt der gemeinsamen Namenseintragung, der »zugleich die Geschichte des Büchleins«412 bildet, begründet eine symbolische Einheit der fiktionalen Gestalten (und der vom Erzähler angesprochenen Leser) in einer idealen und ideellen Gemeinschaft, die zudem individuelle und unangreifbare Identität außerhalb verordneter Zugehörigkeiten stiftet. In einem zerlesenen Buch, das nun gleichsam als medialer und virtueller Ort der Begegnung greifbar wird, werden die Grenzen kultureller Differenzen vorübergehend aufgehoben. Bekräftigt wird dies durch drei, den Unterschriften beigefügte Zeichen  : Der Mönch Franziscus zeichnet ein Kreuz, Israel Meisels eine Fackel413 und Basil ein Beil, »das Merkzeichen des freien Ruthenen.«414 Die hier beschriebene Harmonie leugnet nicht die Differenz, sondern vermerkt sie expli407 Grünfeld, Mährische Dorfjuden, S. [3]. 408 Eduard Kulke’s erzählende Schriften, hg. v. Dr. Friedrich S. Krauß, III. Bd., Schnurrige Käuze. Leipzig 1906. 409 Fromer, Der Organismus des Judentums, S.  13. Über solche Auseinandersetzungen wird  – ebenso wie über die Popularität Schillers im Schtetl – auch in Autobiogaphien der Zeit wiederholt berichtet. Vgl. dazu Kłańska, Schtetl, S. 189 ff. 410 Franzos, Schiller in Barnow , S. 32. 411 Franzos, Schiller in Barnow, S. 32. 412 Franzos, Schiller in Barnow, S. 28. 413 Franzos, Schiller in Barnow, S.  27 f. Hier wird vom Autor eine im Kontext der Aufklärung gängige Lichtmetaphorik abgerufen. 414 Franzos, Schiller in Barnow, S. 32.



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zit. Der Hinweis des Erzählers, dass die Zusammenkunft der drei Freunde an Schillers Geburtstag »die einzige Schillerfeier, die jemals in Barnow abgehalten wurde«,415 gewesen sei, bestätigt auf der Ebene des discours zum einen die eigentliche Unvereinbarkeit dieses Ereignisses mit den kollektiv wirksamen Vorstellungen im Schtetl und die notgedrungene Heimlichkeit der Begegnung, die nur außerhalb des dörflichen Beobachtungsraums gewährleistet ist. Zum anderen stellt gerade die Erzählung über dieses Ereignis die uneingeschränkte und vermeintlich unerschütterliche Gültigkeit der (räumlich kodierten) N ­ ormen im Schtetl in Frage. Leopold Kompert Die Kinder des Randars

Einen weitaus weniger glücklichen Ausgang als die Geschichte von Franzos nimmt die bereits vorgestellte Novelle Die Kinder des Randars. Das zuerst nicht nur seitens der Erzählerinstanz positiv gezeichnete Interesse Hanneles und Moscheles an der Welt außerhalb ihres Elternhauses, das vor allem von der aufgeschlossenen Mutter unterstützt wird, lässt bei den Kindern allmählich ein Ungenügen an der traditionellen Lebensweise der Familie aufkommen.416 Die einmal außerhalb des Hauses gemachten Erfahrungen nicht zuletzt im Umgang mit dem christlichen Freund Honza lassen sich nicht mehr rückgängig machen und hinterlassen tiefe Spuren in den Biographien der Protagonisten. Als eine Folge davon wird am Ende der Novelle, wenn der Randar stirbt, seine über Generationen in Familienpacht stehende Schenke samt der dazugehörigen Wirtschaft aufgegeben. Die Kinder bekennen sich nur noch formal zu ihrem Judentum. Das verdeutlicht der Erzähler zunächst mit dem Hinweis auf die Zukunft Hanneles, die »ehelos bleiben« wird. Diese wohl schwerwiegendste Folge von Hanneles Ausbruch aus dem elterlichen Haus kleidet die Erzählerinstanz in eine räumliche Metapher  : Das Mädchen sei »auf ›fremden Wegen‹ gewandelt«.417 Konkretisiert werden diese »fremden Wege« in der Topographie der Erzählung als Routen zwischen dem Randarhof und dem Elternhaus des Jugendfreundes Honza sowie dem Pfarrhof. Dort soll die Verehrung Hanneles für Honza, der mittlerweile Priester geworden ist, ihre Vollendung finden. Ihre Annäherung an das Christentum, die sich eben auch in den physisch zurückgelegten Wegstre415 Franzos, Schiller in Barnow, S. 32. 416 Vgl. dazu wieder Fromer, Der Organismus des Judentums, über den »Zweifler«, S. 12 f.: »Die neuartigen Eindrücke [durch heimliche Lektüre der neuhebräischen und jüdisch-deutschen Aufklärungsliteratur] unterwühlen die Grundlage seiner naiven Weltanschauung und erschüttern seinen Glauben an den Talmud, an die Bibel, an Gott. […] Er vernachlässigt die Gebete, entweiht den Sabbat, setzt sich über sonstige Vorschriften hinweg […].« 417 Kompert, Randar, S. 221.

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cken manifestiert, veranlasst sie zuletzt, noch dazu an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, aus dem elterlichen Haus zu fliehen, um sich taufen zu lassen. Der Körper Hanneles wird zwar von ihrem Bruder wieder zurückgeholt, doch dass damit eine innere Rück- bzw. Umkehr des Mädchens verbunden ist, scheint unwahrscheinlich. Das suggeriert zumindest die rhetorische Frage, die zugleich den Schluss der Novelle bildet  : »[…] kann sie vergessen, wer einst ihr Jugendgefährte gewesen  ?«418 Der fromme Schnorrer Mendel Wilna hat für sich (und den impliziten Leser) jedenfalls eine klare Antwort darauf. Er kommentiert die Flucht Hanneles mit einer Metapher, die wiederum auf das Verhältnis von Innen- und Außenraum abhebt  : »Wer mal fortgegangen ist aus einem Judenhaus, der kommt nicht mehr zurück. Wer kein Jud’ bleiben will, soll fort, Gott braucht solche Fortgelaufenen nicht  !«419 Obwohl Hannele schlussendlich doch nicht konvertiert, wird sie aufgrund ihrer Ehelosigkeit ihr Judentum aber nicht weitergeben. Ihr Verhalten, das Ergebnis einer bewussten Verweigerung, mündet also in einen genealogischen Bruch. Ihr Bruder Moschele, der sich nun Moritz nennt, wird »Arzt in einem stillen Ghetto Böhmens« und »heilt [dort] kranke Leiber und Seelen«.420 Sein emanzipatorischer Bildungsweg macht es ihm ebenfalls unmöglich, die Familientradition als Randar fortzuführen. Gleichzeitig bedeutet sein Rückzug in ein namenloses böhmisches Ghetto jedoch in der Logik der Erzählung die Aufgabe seiner ursprünglichen Vorstellungen über ein gelungenes interkulturelles Zusammenleben. Im anbrechenden Zeitalter der tschechischen Nationalsierung wird das aus der Perspektive der Figur als nicht mehr fortsetzbar angesehen. So beschränkt sich Moritz bewusst und freiwillig auf einen abgelegenen geographischen Winkel, der – wie es eine semantische Ausweitung des Wortes nahelegt  – nicht nur durch akustische Stille, sondern durch (vorläufigen) Still-Stand charakterisiert ist. Dass am Ende der Erzählung nicht nur die Familie der Protagonisten auseinandergebrochen, sondern das gesamte dörfliche Leben in Unordnung geraten ist, zeigt sich in einer gewissen ›Entleerung‹ des Schauplatzes. Nach und nach verschwindet die gesamte Dorfgemeinschaft aus der Erzählung. Der Erzähler berichtet nur noch punktuell über das Schicksal einzelner Figuren, die zusammenhanglos im Text-Raum platziert sind. Es besteht weder eine Ver-Bindung zwischen dem erzählten Raum und den Figuren noch zwischen den Figuren untereinander. Und der Randarhof erscheint zum Schluss nur noch wie der Schatten jenes ursprünglichen Orts der Begegnung, an dem die Geschichte ih418 Kompert, Randar, S. 221. Hier liegt offenkundig eine Analogie zum Ende der Erzählung über den Dorfgeher vor. 419 Kompert, Randar, S. 217. 420 Kompert, Randar, S. 221.



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ren Ausgang genommen hat. Nichts erinnert mehr daran. Die damit einhergehende ontologische Leere wirkt umso düsterer, als am Beginn der Erzählung der Randarhof in seiner herausragenden Stellung sowohl im innerjüdischen Kontext als auch im Gesamtgefüge des Dorfes  – topographisch angezeigt durch seine singuläre Situierung in naturnaher Umgebung außerhalb der ›Gasse‹ – geschildert wird. Bis weit nach Russisch-Polen ist der Hof bekannt, und jeden Sabbat sowie an den hohen Feiertagen ist er Anlaufpunkt für die Schnorrer, die von einem Ort zum andern ziehen. Mendel Wilna ist einer von ihnen, allerdings kommt ihm eine besondere Funktion zu. Auf der Figurenebene fungiert der Sympathieträger zunächst als wichtigster Gesprächspartner des kleinen Moschele, bevor dieser im christlichen Gymnasium eine säkulare Ausbildung erhält. Darüber hinaus besetzt er aber eine über den Text hinausweisende poetologische Schlüsselposition. Wenn er die überschaubare Umgebung rund um den Randarhof weniger als topographischen oder geographischen denn als im jüdischen Sinne historisch negativ aufgeladenen Raum, nämlich als Galut, wahrnimmt,421 so knüpft sich daran nicht nur die geschichtliche Vorstellung des Exils seit der Zerstörung des zweiten Tempels, sondern als Gegenbild ein diskursiv besetzter Topos, der erst Jahrzehnte nach der Entstehung von Komperts Erzählung in der zionistischen Literatur eine wichtige Rolle spielen wird  : das neue Jerusalem. Für Mendel nämlich bildet seine Umgebung selbst ohne konkret fassbare (nichtjüdische) Akteure einen potenziellen Raum der permanenten Gefährdung für das Judentum, der seiner Auffassung nach einzig durch den Wiederaufbau Jerusalems Einhalt geboten werden kann. Mendels protozionistischer Impuls wurde, wie er in einer Binnenerzählung selbst berichtet, ausgelöst durch die dauernde Wiederholung einer Geschichte über Jerusalem, die er einst seiner totkranken Schwester erzählte  : Ich habe auch zugleich erkannt, daß das beständige Erzählen von Jeruschalaim in mir einen Gedanken festgemacht hat, den ich nicht mehr habe herausbringen können. Ich selbst habe immer an Jeruschalaim denken müssen.422

So wird also bereits in dieser frühen Novelle423 lange vor dem Erscheinen der ersten zionistischen Romane mit dem an der Figur Mendel Wilnas festgemach­ 421 Vgl. z. B. Kompert, Randar, S. 150  : »Wir sind beide Juden, und doch kannst du dir meine Kindheit gar nicht denken. Das kommt leider Gottes von unserem Goles (Exil).« 422 Kompert, Randar, S. 153. Über den zeithistorischen Kontext und außerliterarische Bezüge im Hinblick auf die letztlich nur angedeuteten programmatischen protozionistischen Ideen der Figur Mendel Wilnas informiert Wittemann, Kompert, v. a. S. 282 ff. 423 Erstmals erschienen in  : Leopold Kompert, Aus dem Ghetto. Leipzig 1848. Siehe dazu auch das ausführliche Literaturverzeichnis bei Wittemann.

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ten Handlungsstrang ein Zusammenhang zwischen diskursiv wirksamer (mündlicher) Erzählung und erwartetem Raum hergestellt. Dass Mendels Entschluss, tatsächlich nach Jerusalem aufzubrechen, aber letztlich doch nicht dem Wort geschuldet ist, sondern seiner Erfahrung, große räumliche Distanzen überwinden zu können, verschiebt die von ihm ursprünglich als relevant gedachte Relation von Schrift und Raum hin zu jener von Körper und Raum  : Auf dem weiten Weg durch die Welt bin ich mir erst ganz klar geworden, was ich denn eigentlich will. ›Mendel, Narr‹, hab’ ich mir oft gesagt, ›wie hast du nur drauf verfallen können, mit Kabbala Jeruschalaim wieder aufzubauen  ? Hätten sie’s denn nicht schon lang’ aufgebaut, wenn sie könnten  ? Die Juden müssen sich selber helfen, ganz Israel muß einen Willen haben, dann muß auch der Messias kommen.‹424

Doch am Ende bleibt Mendel allein mit seiner Vision vom Wiederaufbau Jerusalems. Als er nach vielen Jahren aus (dem nicht näher beschriebenen) Palästina an den Randarhof zurückkehrt, lehnt selbst Moschele/Moritz, der ihm als Kind einst hat folgen wollen, dessen Vorstellungen ab  : »Nur Kinder und Mendel Wilna glauben noch an einen Wiederaufbau Jerusalems  ; das ist ihr Weihnachtsabend […].«425 Moritz brütet mittlerweise über einem anderen Konzept  : dem der tschechischen bzw. der böhmischen Nation.426 Im Zuge dessen beschäftigt ihn vor allem das Verhältnis von Staat und Religion, das er als konkret sichtbare normative Raumordnung wahrnimmt. Diese Erkenntnis fasst Moritz in persönlichen Aufzeichnungen, unter dem Titel »Schaufäden«427 als Binnentext in die Erzählung eingeschoben, zusammen. 4.3 ›Christliche‹ Orte

Eine wesentliche Rolle spielt darin die christliche Religion als »Staatsreligion«, die durch ihre Manifestationen im öffentlichen Raum einen ubiquitären Herrschaftsanspruch, der gleichzeitig auf eine Verdrängung der Juden hinausläuft, geltend macht. Worin besteht aber ihr eigentliches Wesen  ? Was erhält sie und führt ihr die meisten Anhänger zu  ? Nicht ihre Dogmen – die können finster, unfrei und beengend sein, aber 424 Kompert, Randar, S.159. Bemerkenswert ist, dass schon in dieser im Vormärz angesiedelten Erzählung die Idee einer ›Willensnation‹ auf die Situation der Juden übertragen wird. 425 Kompert, Randar, S. 195. 426 Kompert, Randar, S. 137–145. Das Kapitel trägt die Überschrift  : »Wo ist des Juden Vaterland«. 427 Kompert, Randar, S. 190–197. Schaufäden dienen eigentlich als Erinnerungszeichen an Gott.



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die große Freiheit ihres ganzen Auftretens. Eine solche Staatsreligion als Körperliches gedacht, ist das Freieste, was ich mir denken kann. Ist das nicht Freiheit, wenn man seine Kreuze, Heiligenbilder und Statuen an jede Straßenecke, an jedes Feld und Haus stellen darf  ?428

Diese Besetzung des öffentlichen Raums durch sichtbare Zeichen wird aus der Wahrnehmungsperspektive von Moritz durch regelmäßig wiederkehrende rituelle Handlungen performativ verstärkt. Die Aggressivität dieser Aneignung zeigt sich für ihn vor allem darin, dass sie selbst in jene Bereiche, die ihr nicht zugehörig sind, vordringt  : »wenn der Priester ungehindert mit der Monstranz selbst da erscheinen darf, wo sie fremd ist  ? wenn die Fahnen der Prozession überall flattern, die Gesänge überall ertönen dürfen  ?« Die Konsequenz dieser symbolischen Besitznahme erkennt er in der Härte und Unduldsamkeit einer solchen Staatsreligion »gegen die neben ihr bestehende«, mithin die jüdische. Nur aufgrund der vom Staat zugelassenen »Ausdehnung und Entwicklung« könne eine Religion schließlich »überall beten, überall ihre Banner aufpflanzen […], überall auf eigenem Grund und Boden« stehen. Ihren Anhängern werde dadurch »gleichsam eine Assekuranz«429 gewährt, die Andersgläubigen verwehrt bleibe. Das wesentliche Charakteristikum einer Religion, wie sie Moritz hier unabhängig von jedweden Glaubenssätzen skizziert, ist in ihren Grundzügen einer Phänomenologie des Räumlichen geschuldet. Das Ausmaß ihres Herrschaftsanspruchs offenbart sich in der Möglichkeit, großflächig Zeichen zu setzen. Unabhängig von der Position des Erzählers im Text wird in dieser bemerkenswerten Passage kein politischer oder theologischer, sondern – in einem sehr aktuellen Sinn – ein kulturtheoretischer Ansatz formuliert. Moritz denkt auch über die ›Haltbarkeit‹ von Markierungen nach  ; denn diese können die Institutionen, die sie repräsentieren, überdauern, sofern sie aus einem entsprechendem Material gefertigt sind. Andererseits fragt sich der junge Mann, ob der von ihm erkannte Zusammenhang zwischen Zeichen, dessen materieller Festigkeit und Institution überhaupt auflösbar ist, ob nicht irgendwann das Zeichen die Aufrechterhaltung einer womöglich nur noch behaupteten Präsenz und Wirkmächtigkeit einer Religion gewährleistet. Ausgelöst von einer konkreten, aber durchaus symbolisch interpretierbaren Beobachtung, dass ein Kreuz vor der Kirche im Dorf bald ersetzt werden müsse, weil die »Dornenkrone des Heilands […] ganz zerwaschen [ist], und der Regen […] die Blutstropfen beinahe farblos gemacht« hat, gerät Moritz über den Bestand der Staatsreligion ins Grübeln  :

428 Kompert, Randar, S. 191. 429 Kompert, Randar, S. 191.

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Wird es eine Zeit geben, wo kein Kreuz mehr auf Erden stehen wird  ? Man sollte keines aus Stein oder Metall aufrichten. Stein und Metall […] liegen mit dem Elemente im ewigen Hader und sind oft Sieger. Holz ist der eigentliche Stoff. […] Der Baum mußte doch früher sterben  ; aber vor diesem ewigen, nie gestorbenen leblosen Stein graut mir. Er ist die Ewigkeit des Kreuzes. Wenn aber ein Friede, ein Ostermorgen über die Welt wehen wird – dann werden die steinernen Vorwürfe noch stehen wollen. O keinen Stein, ich bitte euch  ! Holz ist der eigentliche Stoff.430

Unmittelbar an diesen Abschnitt schließen sich Gedanken über einen auch räumlich sichtbar werdenden rituellen Akt im jüdischen Jahreslauf an  : über Sukkot. Damit relativiert Moritz unausgesprochen  – und wahrscheinlich nur für jüdische Leser erkennbar – seine zuvor formulierten Befürchtungen, denn das Laubhüttenfest gilt als »eines der ältesten Feste des Judentums«.431 Sein Bestand ist aber nicht von den ehernen Zeichen der Dauerhaftigkeit geprägt. Im Gegenteil  : In seinen Ausdrucksformen erweist es sich als weich, luftig, lebendig  : Was kommt da natürlicher als das Laubhüttenfest  ? Grün ist die Farbe des Lebens, grün die Freude des Auges  ! Die Zerknirschung des Jom Kippur soll aufgehen unter der schwellenden Luft der Laubhütten.432

Die zuvor angestellten Überlegungen von Moritz referieren nicht generell auf das Christentum, sondern ausschließlich auf die katholische Kirche als Staatsreligion. Insofern beziehen sich diese Passagen auf einen historischen Kontext, der im Wesentlichen für die Habsburgermonarchie und einige Teile Deutschlands Gültigkeit besitzt. Wenn in Ghetto- und jüdischen Dorfgeschichten eindeutig christlich codierte Örtlichkeiten, Räume und Zeichen eine Rolle im Geschehen spielen, so ist der Schauplatz in der Regel in einem katholischen Umfeld  – in Ländern oder Provinzen der Habsburgermonarchie oder im süddeutschen Raum – angesiedelt. Doch die eindeutig katholisch codierten Orte und Räume spielen bis auf wenige Ausnahmen, wie etwa in der kurzen Erzählung von Eduard Kulke Pater Johannes. Eine Klostergeschichte,433 nur in zweierlei 430 Kompert, Randar, S. 192, [Hervorhebung im Original]. 431 Susanne Galley, Das jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage. München 2003, S. 84. 432 Kompert, Randar, S. 193. 433 Eduard Kulke, Pater Johannes. Eine Klostergeschichte, in  : Eduard Kulke’s erzählende Schriften, hg. v. Friedrich S. Krauß, III. Bd., Schnurrige Käuze. Leipzig 1906, S. 7–18. In diesem kurzen Text erscheint das Kloster als Ort des Austauschs, dessen Tore auch Juden offen stehen. Das einvernehmliche und respektvolle Verhältnis zwischen den Ordensbrüdern und den jüdischen Bewohnern des Dorfes wird am Beispiel eines kleinen Händlers, der »sich wirklich rühmen [konnte], daß er im Kloster gute Freunde habe«, erzählt. (S. 12).



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Ausprägungen eine handlungsrelevante Rolle  : entweder als Orte der weltlichen Bildung und Erziehung oder als Orte der Unterdrückung. Auf die Anwesenheit christlicher Einwohner in einem Dorf verweisen in Ghettogeschichten allein die eindeutig zuordenbaren Orte wie Kloster, Kirche, Pfarrhaus oder christliche Schule.434 Sie gelten aus einer erzählimmanenten jüdischen Perspektive eigentlich als verboten und werden meist als unzugänglich und fremd wahrgenommen. In Selig Schachnowitz’ Roman Merelaika wird der Protagonistin z. B. ein Kloster in Krakau zum Verhängnis. Ihre durch die Liebe zu einem christlichen Mann ausgelöste Bereitschaft, neutestamentliche Bibeltexte zu lesen, veranlasst eine fanatische Gräfin, das Mädchen in ein Kloster entführen zu lassen. Auf eine ausführliche oder narrativ bedeutsame Beschreibung des Klosters verzichtet der Autor allerdings trotz der Brisanz des Geschehens. Das einzig Aussagekräftige bildet die dem Kloster attestierte Düsternis und Geschlossenheit. Doch so eindeutig negativ konnotiert wie in diesem Text sind christliche Orte in Ghettogeschichten selten. Sie erscheinen teilweise mehrfach codiert, wobei sie für (christliche Leser und) die christlichen Figuren sowie (jüdische Leser und) die jüdischen Figuren im Text zunächst ein unterschiedliches Codierungsrepertoire aufweisen. Gleichwohl kann sich dies im Laufe eines Erzählvorgangs ändern  ; es kommt dann zu Annäherungen im gegenseitigen Verständnis, zu ›Umformatierungen‹ und zu Überschneidungen der Codes. Diese sind teilweise in enger Vernetzung mit den identitätsgebundenen Verhaltensweisen und Einstellungen der Figuren verknüpft. Insofern beeinflussen diese Orte, wenn sie textimmanent ihrer ursprünglichen Funktion als Austragungsort der christlichen Liturgie oder als Rückzugsort von Mönchen oder Nonnen enthoben werden, in der Regel den Verlauf der Narration. Sie sind also keineswegs nur als Staffage eingesetzt, um den Wirklichkeitsgehalt eines Schauplatzes zu beglaubigen, sondern sie fungieren auf der inhaltlichen Ebene als komplementäre räumliche Elemente. Nichtsdestoweniger bleibt ihre Beschreibung meist blass und unkonturiert. Auch strukturell haben sie selten Einfluss auf die Erzählung. Das gilt selbst für den verhältnismäßig häufig vorkommenden Schauplatz der Ordensschule als Ort weltlicher Bildung.435 Wenn sich in den Erzähltexten christliche Schulen aus einer orthodoxen Figurenperspektive mitunter als Orte der Verführung erweisen, so geschieht das allerdings in der Regel weniger durch die aktive Einflussnahme christlicher Lehrer auf ihre jüdischen Schüler, als vielmehr durch 434 Im Vergleich zu konkret bezeichneten Orten spielen christliche Figuren in Ghettogeschichten sowohl quantitativ wie auch qualitativ meist eine untergeordnete Rolle. 435 In den Ländern der Habsburgermonarchie war nach der Säkularisation nahezu das gesamte Bildungswesen in der Hand von katholischen Orden  ; darauf beziehen sich auch die in den Ländern der Habsburgermonarchie angesiedelten Ghettogeschichten.

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das vermittelte Wissen selbst, das in Konkurrenz zu traditionellen jüdischen Glaubensinhalten tritt. Das Gefahrenpotenzial wird dabei zwar mit bestimmten Örtlichkeiten assoziiert, in dem Roman Der Pojaz zum Beispiel mit einer Klosterbibliothek, letztlich bilden diese Orte aber nur eine Art neutrales Gefäß, in dem Wissen aufbewahrt und verfügbar gehalten wird. Je nach immanenter Wertung seitens der Figuren und der Erzählerinstanz wird die Schule dann entweder im positiven Sinne als Ort der Aufklärung oder aber negativ als Ort der Verlockung und Verblendung gedeutet. In Leopold Komperts romanhafter Novelle über Die Kinder des Randars erfüllt das Gymnasium in Jungbunzlau beide Funktionen. In diversen Geschichten von Karl Emil Franzos beherbergt das Dominikanerkloster von Barnow »die Christenschule«436 und nach deren Absolvierung besuchen die besonders Wissbegierigen die »Gymnasien zu Tarnopol und Czernowitz«.437 In der Erzählung Esterka Regina exemplifiziert Franzos am Bildungsgang des verschlossenen Knaben Aaron, der schon in jungen Jahren von einer »ungeheure[n] Sehnsucht nach dem Wissen«438 erfüllt ist, die nahezu prototypische Entwicklung eines armen Schtetlbewohners zum Akademiker, die in Barnow ihren Ausgang nimmt. Die Schule selbst wird nicht näher beschrieben, sehr wohl aber werden mit wenigen Sätzen die brutalen Erziehungsmethoden der Lehrer beschworen  : [Aaron] besuchte die Klosterschule als Jude mit Kaftan und Schmachtlöcklein. Was er um dieser Tracht willen litt, war entsetzlich. Vielleicht hat Gott die Tränen und Schläge gezählt  ; er selbst ward müde, sie zu zählen, müde, zu weinen.439

Als eine Folge seiner harten Schulausbildung und des anschließenden Studiums in Wien hat sich Aaron, der sich in der Hauptstadt Adolf nennt, seiner Religion vollkommen entfremdet. Wie in anderen Texten wird auch in dieser Erzählung auf den Gegensatz Schtetl versus Stadt rekurriert, wobei die Bildung in der Stadt ihren eigentlichen Ort besitzt. Die christlichen Schulen, meist in erreichbarer Nähe des Schtetls angesiedelt, fungieren in diesem System häufig als eine Art Vorstufe im späteren Entfremdungsprozess der Figuren. Wer schließlich den Gang in die Großstadt zum Universitätsstudium antritt, wird von den Zurückbleibenden meist als für das Judentum verloren angesehen. Ghettogeschichten sparen  – abgesehen von kurzen Hinweisen  – diese Episoden in der Regel allerdings aus. Die vielfach in Berlin oder Wien angesiedelten jüdischen 436 Karl Emil Franzos, Esterka Regina, in  : Die Juden von Barnow, S. 148–186, hier S. 152. 437 Franzos, Esterka Regina, S. 148. 438 Franzos, Esterka Regina, S. 153. 439 Franzos, Esterka Regina, S. 153.



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Großstadtromane beziehen sich aber erstaunlicherweise ebenfalls nur vereinzelt und tendenziell oberflächlich auf den akademischen Bildungsgang jüdischer Figuren. Allerdings weist die (erzählte) Großstadt ein vielgestaltiges komplexes Geflecht räumlicher Beziehungen auf und macht daran die unterschiedlichsten Wege und Umwege auf der Suche der Figuren nach zeitgemäßen Identitätskonzeptionen sichtbar.

III. Die erzählte Stadt – Großstadtromane

1. Berlin und Wien in der deutschsprachig-jüdischen Literatur um 1900 Etwa um die Zeit, als die bereits seit Jahrzehnten blühende Dorf- bzw. Ghettogeschichte von der Allgemeinen Zeitung des Judentums zu einem Paradigma jüdischer Erzählliteratur erhoben wurde, wählten immer mehr jüdische Schriftsteller Berlin und Wien als Schauplatz ihrer Erzähltexte. Die sich teils überschlagenden politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen nahmen ihren Ausgang in der Regel in den Städten, und damit wandel­ ten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Lebensbedingungen der dort ansässigen Bevölkerung.1 Die sich in Schüben vollziehenden Migrationsbewegungen führten darüber hinaus zu vielschichtigen sozialen Problemen, die vor allem durch die sich permanent verändernden Wohnsituationen auch in der Topographie der Städte sichtbar wurden. In der Folge fanden auch Sichtweisen, die in der Betriebsamkeit der Metropolen ihren Ursprung haben, Eingang in die deutschsprachige Literatur und wurden zum mitunter sogar ironisierten Signum von Modernität. So formulierten die Wegbereiter des Naturalismus, die Brüder Heinrich und Julius Hart, im Vorwort des Kritischen Jahrbuchs 1889  : Selbst von den Alten wurde mancher irr und wirr, die Schlagworte betäubten ihn, und er machte das Zugeständnis, seinen Romanen künftighin als Schauplatz Berlin anzuweisen und das Adreßbuch mit seinem genauen Straßennachweis als wichtigstes literarisches Hülfsmittel anzuerkennen.2

An anderer Stelle benannte Julius Hart die urbane Bilderflut als ästhetisches Spezifikum, die wiederum neue Akzente im Hinblick auf die Wahrnehmung der Großstadt als Ausdruck des Fortschritts und des Wohlstands setzte  : Die Großstadt gab den Hintergrund ab und forderte mit der Fülle ihrer Bilder, Gestalten und Ereignisse den reinen Künstler heraus und eine sinnliche Schauens- und Gestaltungskraft  ; die Stadt mit allen Dekorationswirkungen, mit ihren malerischen Ansichten und Stimmungen, das Leben auf den Straßen, in den Wirtshäusern und den 1 2

Vgl. dazu u. a. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985. Heinrich und Julius Hart, Vorwort, in  : Kritisches Jahrbuch 1 (1889), S. 4. Zit. nach  : Die Berliner Moderne 1885–1914, hg. v. Jürgen Schutte und Peter Sprengel. Stuttgart 1987, S. 190.



Berlin und Wien in der deutschsprachig-jüdischen Literatur um 1900 

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Cafés, die typischen Erscheinungen der Weltstadt […] wollten portraitiert, geschildert und beschrieben werden.3

Die »typischen Erscheinungen der Weltstadt«, die man in Paris, London, Berlin oder Wien vermutete, markierten den Modernisierungsphänomenen geschuldete Prozesse, die Künstler und Schriftsteller einerseits ausdeuten, aber auch visionär weiterdenkend ihrer nicht nur urbanen Leserschaft näher bringen wollten. In deutschsprachig-jüdischen Erzähltexten, die auf städtische Lebenswelten rekurrieren, rücken vor allem Berlin und Wien als Austragungsort produktiver Auseinandersetzungen über Aufgaben, Leistungen und Anforderungen zeitgenössischen (jüdischen) Lebens ins Zentrum des Interesses.4 Allein die in den letzten 30  Jahren erschienene historische und literaturwissenschaftliche Forschungsliteratur zu Wien und Berlin um 1900 als »gegensätzliche Entwürfe der Moderne«,5 als Orte der Krisen, als kulturelle Metropolen, aber auch als urbane Ausgangspunkte des Antisemitismus ist mittlerweile unüberschaubar geworden.6 Dabei werden die immer selben Bilder und Metaphern in der Benennung vermeintlicher Charakteristiken beschworen, häufig in der Absicht, kulturelle Oppositionen zwischen diesen beiden Städten aufzubauen bzw. diese zu (re)konstruieren. Peter Sprengel und Gregor Streim fassen einige dieser Stereotype zusammen, wobei sie »Berlin als Chiffre der Moderne« und »Wien als Seelenlandschaft« verstehen. In einem zweiten Schritt differenzieren sie diese Bilder  : Während Berlin »als Ozean«, »Stadt im Dunst« und »Stadt hinter der Kiefernheide« paraphrasiert wird, bietet Wien eine Projektionsfläche als »›état de l’âme‹, als ›porta orientis‹«, als »Rätsel der Stimmung« und Ort von »Verwilderung und Technisierung«.7 3

Julius Hart, Die Entwicklung der neueren Lyrik in Deutschland (1896), zit. nach  : Viktor Zmegać, Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende um 1900, in  : ders. (Hg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981, S. XXII. 4 München und Prag, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ebenfalls zunehmend als literarische Schauplätze an Bedeutung gewinnen, könnte man im Vergleich zu Wien und Berlin als literarisch-räumliche Modelle zweiten Grades ansehen. 5 Peter Sprengel, Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien 1998, S. 7. 6 Allein im Rahmen des Grazer Spezialforschungsbereichs »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« wurden zahlreiche Buchpublikationen zum Thema vorgelegt. Siehe dazu u.a. http:// www-gewi.kfunigraz.ac.at/moderne/ (letzter Zugriff  : 04.03.2017). Siehe exemplarisch  : Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siecle. München 1994 (Erstausgabe 1982)  ; Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Modernität. Wien 1990  ; Charles W. Haxthausen, Heidrun Suhr (Hg.), Berlin. Culture and Metropolis. Minneapolis, Oxford 1991  ; Albert Lichtblau, Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867–1914. Berlin 1994. 7 Sprengel, Streim, Berliner und Wiener Moderne, S. 7, vgl. die entsprechenden Kapitel S. 299–

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Als eine Reaktion auf die entsprechend negativen gesellschaftlichen Veränderungen wurde in der deutschsprachig-jüdischen Literatur nolens volens der Antisemitismus zum literarischen Gegenstand erhoben, nämlich insofern, als Autoren nun versuchten, in fiktionalen Texten dessen Wirkmechanismen aufzudecken. Obwohl der Antisemitismus im 19. und frühen 20.  Jahrhundert ein flächendeckendes »gesamteuropäisches Phänomen« darstellte, nahm er in Deutschland nach Meinung Helmut Berdings »die größten Ausmaße«8 an. Dass Antisemitismus von konservativen Parteien im deutschen Kaiserreich, mit einiger Verzögerung seit den 1890er-Jahren auch in Österreich parteiideologisch instrumentalisiert wurde, führte über die Jahre zu einer nachhaltigen Beeinflussung der Gesellschaften. Politische Parteien und parteienähnliche Interessensgruppen, studentische Organisationen sowie nationale Verbände und Berufsverbände, die in unterschiedlicher Intensität die Ausbreitung des Antisemitismus beförderten, siedelten sich hauptsächlich in den expandierenden Städten an, wo sie die meisten Menschen erreichten. Die anti­semitische Propaganda fiel dort zudem auf günstigen Boden, da parallel zu den allgemeinen Migrationsbewegungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch jüdische Bevölkerungsgruppen verstärkt vom Land in die Städte zogen. So machten Juden im Jahre 1900 in Ostgalizien 38,7 % der städtischen Einwohnerschaft aus, im Großraum Berlin lebten 1905 31,75  % aller preußischen Juden.9 Der Soziologe Arthur Ruppin fasst diese Entwicklungen mit der Feststellung zusammen  : »Das Charakteristische der jetzigen Wanderbewegung ist, daß die Juden aus Städtern zu Großstädtern werden.«10 Wenngleich sich Antisemitismus auch in ländlichen Regionen nachweisen lässt – hier äußerte er sich stärker in den bekannten Ausformungen eines christlich motivierten Antijudaismus –, so wird vor allem mit dem Anwachsen der Metropolen, der zunehmenden Industrialisierung und Ökonomisierung eine Tendenz erkennbar, die den Antisemitismus mit seinen neuartigen medialen Strategien als urbanes Phänomen auszeichnet. Werner Fuld erkennt Antisemitismus überhaupt als »ein Stück bürgerlicher Kultur.«11 Weiter360. Literaturhistorische Arbeiten und Monographien über Alfred Döblin, Joseph Roth, ­Arnold Zweig, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Peter Altenberg, Otto Weininger u. a. benennen diese Autoren in der Regel als bedeutende Proponenten einer städtischen Moderne.   8 Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, S. 7.   9 Arthur Ruppin, Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie. Berlin 31918, 6. Kap.: Die Konzentration in den Großstädten, S. 97–103. In Galizien lebte der überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung zwar nach wie vor in ländlich geprägten Regionen, innerhalb der Städte (mit mehr als 7500 Einwohnern oder städtischer Selbstverwaltung) stellten sie aber prozentual ein Drittel der Bevölkerung (S. 98). 10 Ruppin, Die Juden der Gegenwart, S. 99, [Hervorhebung im Original]. 11 Werner Fuld, Nachwort, in  : Artur Landsberger, Berlin ohne Juden, hg. v. Werner Fuld. Bonn 1998, S. 212.



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hin beeinflusste das Aufkommen von Rassentheorien und völkischem Gedankengut schon seit der spätwilhelminischen Ära die politische Kultur Deutschlands  ; analoge Entwicklungen gelten mit Abweichungen auch für die Habsburgermonarchie. Börsenkrach und Gründerkrise sowie die Proletarisierung großer Bevölkerungskreise begünstigten, wie schon vielfach in der Forschungsliteratur dargestellt, die Zunahme unterschiedlich grundierter Antisemitismen. Die Funktionsweisen und propagandistisch-medialen Strategien des urbanen politischen Antisemitismus schildert Fritz Mauthner in seinem Roman Der neue Ahasver (1882) erstmals und nahezu zeitgleich mit den historischen Ereignissen in der deutschen Hauptstadt, die heute unter dem Sammelbegriff Berliner Antisemitismusstreit bekannt sind. Wie instabil sich die sozialen Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaftsgruppen hinter den Fassaden des scheinbar Bewährten zumal in der Großstadt erwiesen, führen populäre jüdische »Zeitromane«12 seitdem in abgestufter Intensität immer wieder vor Augen. In einem Prozess zunehmender Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen untereinander eröffneten die Texte als Medien der Verständigung jedoch auch einen Raum der Begegnung, an dem die Überwindung bzw. Aufhebung vorhandener und/oder empfundener Gegensätze zwischen Juden und Nichtjuden zumindest virtuell möglich schien. Besonders gut nachvollziehbar wird dies in jenen Texten, in deren Mittelpunkt Liebesbeziehungen zwischen Juden und Christinnen bzw. Jüdinnen und Christen stehen  ; eine Konstellation, die auch Fritz Mauthner für seinen Roman gewählt hat, um daran aktuelle gesellschaftliche Konfliktsituationen exemplarisch vorzuführen. Andererseits hatte die Verstädterung für viele Teile nicht nur der jüdischen Bevölkerung einen sozialen Aufschwung und Verbesserungen vor allem hinsichtlich ihrer Ausbildung zur Folge.13 Der mit der Modernisierung, Technisierung und Nationalisierung einhergehende Strukturwandel, verbunden mit den sich permanent verstärkenden Säkularisierungstendenzen, führte allerdings zu einem Bedeutungsverlust der bis dahin geltenden (strengen) Normen, Werte und traditionalen Verbindlichkeiten innerhalb der Gesellschaften. In weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung war im Rahmen dieses Prozesses eine Distanzierung vieler bürgerlicher Jüdinnen und Juden als Teil der modernen Gesellschaft von einem rein religiös dominierten Selbstverständnis festzustellen. Im Gegensatz dazu lehnten vor allem orthodoxe Gruppen die so genannte »As-

12 Zum Begriff vgl. Shedletzky, Literaturdiskussion, S. 295. 13 Vgl. dazu ausführlich für Wien Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867–1914. Assimilation und Identität. Wien. Köln, Graz 1988, v. a. Kap. 3. Vom Händler zum Angestellten  : der Berufswandel der Wiener Juden, sowie Kap. 5. Bildung, Beweglichkeit und Assimilation  : Die Rolle des Gymnasiums.

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similation«, Akkulturation und Verbürgerlichung ab.14 Viktor Karady spricht davon, dass man in dieser Periode von der »›totalen‹ Gesamtdefinition […] zu unterschiedlichen Formen der ›Konfessionalisierung‹ des Judentums […], dann zur ›Dekonfessionalisierung‹« übergegangen war. Jüdische Identität sei in der Folge »Gegenstand von Strategien und Entscheidungen« geworden.15 Vor allem die junge Generation begab sich im Zuge dessen auf die Suche nach neuen Angeboten, die ihrer Sehnsucht nach kollektiver Zuordnung entsprachen. Peter L. Berger konstatiert in diesem Kontext, dass durch das Abhandenkommen der »Plausibilitätsstruktur« traditioneller Glaubensformen der persönliche Entscheidungswille gefordert war. Er bezeichnet dies als »häretischen Imperativ«, der »zum Grundphänomen der Moderne« geworden sei.16 In dieser Situation krisenhafter Verunsicherung kam der Literatur, speziell der Belletristik, – allerdings mit einem »immer abstrakter werdenden Begriff des ›Jüdischen‹«17 – eine entscheidende und bis dahin unbekannte Funktion zu. Die Literatur eignete sich nicht zuletzt aufgrund ihrer Distributionsmöglichkeiten sehr gut, unterschiedliche, ja, konkurrierende Auffassungen wirksam zu positionieren. Literatur sollte, wie Moritz Goldstein in seinem heftig diskutierten und polarisierenden Artikel »Deutsch-Jüdischer Parnaß« forderte, »unser jüdisches Ideal des Juden«, »einen neuen Typus Jude« kreieren.18 Neben den vielschichtigen zionistischen Vorschlägen über einen solchen »neuen Typus« entwirft auch die weltanschaulich vielfach uneindeutige Großstadtliteratur ein komplexes und breit angelegtes Spektrum zeitgemäßen jüdischen Lebens, das allerdings überwiegend bürgerlich-akkulturiert ausgerichtet ist und auf das sich später die zionistische Literatur als Anknüpfungspunkt ihrer Kritik beziehen wird. In Deutschland versuchte man vor allem in den protestantisch dominierten Ländern die im Zuge der Verstädterung heraufziehenden und als negativ er14 Vgl. dazu auch Max Nordau, I. Kongressrede 1897, in  : Max Nordau’s Zionistische Schriften, hg. v. Zionistischen Aktionskomitee. Köln, Leipzig 1909, S.  49  : »Die Juden des Ostens aber betrachten es mißtrauisch schon als Beginn der Abtrünnigkeit vom Glauben, wenn der Stammgenosse sich europäisch kleidet und irgendeine Sprache richtig spricht. Denn er hat die Bande zwischen sich und den Stammgenossen durchschnitten, sie aber fühlen, daß diese Bande allein ihnen jenen Zusammenhang mit einer Gemeinschaft gewährleisten, ohne den das Individuum sich auf Dauer […] nicht zu behaupten vermag.« 15 Viktor Karady, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 1999, S. 151 f. 16 Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Freiburg i. Br. 1992, S. 39–45. 17 Shedletzky, Literaturdiskussion, S. 331. 18 Moritz Goldstein, Deutsch-Jüdischer Parnaß, in  : Der Kunstwart 25 (1912) 11. Hier zitiert nach dem Abdruck in Moritz Goldstein, Berliner Jahre, Erinnerungen 1880–1933, [= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung  ; 25]. München 1977, S. 224.



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achteten Begleiterscheinungen durch eine »Sakralisierung der Nation«19 zu kompensieren. Wenn als eine Folge davon die Juden von der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft nun aber als »Mitbürger jüdischer Konfession« gesehen wurden, so marginalisierte man damit gleichzeitig »die als national zu verstehenden Aspekte des Judentums.«20 Andererseits übernahmen Juden häufig selbst das integrativ ausgelegte Bild des »Mitbürgers«. Eine Tatsache, die Joseph Roth 1933 in seinen im Pariser Exil entstandenen Cahiers Juifs nachhaltig beklagte  : »[…] und die Tatsache, daß sie den Namen ›deutsche Staatsbürger‹ anstatt einfach ›Deutsche‹ annahmen, beweist  : Sie selbst fühlten, daß die Staatsbürgerschaft noch keine Verschmelzung mit Volk und Nation bedeutete.«21 Als eine Konsequenz dessen ließe sich das allmähliche kollektive Vergessen oder gar Verdrängen der engen symbolischen Verbindung von ›Volk‹ und ›Land‹ deuten. Diese wiederum war und ist jedoch vor allem an den biblischen Erwählungsgedanken geknüpft und damit laut Almuth Hammer grundlegend für ein jüdisches Identitätsbewusstsein.22 Durch den Konfessionalisierungsschub im Judentum einerseits und die zunehmende Verstädterung andererseits gingen also teilweise jene Schnittstellen verloren, an die die traditionellen Erinnerungsrituale gebunden waren. In einer nicht mehr nachvollziehbaren Entwicklung von Ursache und Wirkung verlor die Thora für weite Kreise der jüdischen Bevölkerung, vor allem für (groß)bürgerliche Stadtbewohner, ihre elementare Bedeutung in der täglichen Lebenspraxis. Damit traten sowohl die »mediale« als auch die »motivierende« Funktion der Thora in den Hintergrund  : aus dem konfessionellen Bezugsrahmen wird sie ausgeblendet und der nationale Aspekt, dessen Erinnerung an das Gelobte Land durch sie motiviert wird, ist ebenfalls nicht mehr einholbar. Da Tora und Landnahme als Heilstatsachen auf die Erwählung zurückweisen, steht auch diese gleichermaßen mit in Frage. Infolgedessen wird es akkulturierten Juden unter den Voraussetzungen der Säkularisierung nahezu unmöglich, ihr Selbstverständnis aus der jüdischen Tradition herzuleiten.23

19 Vgl. dazu Hartmut Lehmann, Über die Varianten einer komplementären Relation  : Die Säkularisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation im 20. Jahrhundert, in  : ders., Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung. Göttingen 2001, S. 101, hier zit. nach Hammer, Vergessen, S. 138. 20 Hammer, Vergessen, S. 138. 21 Joseph Roth, Autodafé des Geistes, in  : Cahiers Juifs (Paris), September/November 1933, in  : Joseph Roth, Werke 3. Das journalistische Werk 1929–1939, hg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln, S. 494–503, hier S. 497. 22 Hammer, Vergessen, S. 138, sowie Yerushalmi, Zachor, S. 85–110. 23 Hammer, Vergessen, S. 139.

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Dies mag ein wichtiger Aspekt sein, weshalb das ›Vergessen‹ zu einer zentralen Kategorie im Diskurs jüdischen Selbstverständnisses seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert avanciert. Und dieses Phänomen ist wiederum nicht unerheblich durch die Dynamiken der Urbanität geprägt. Vergessen werden nicht allein religiöse Traditionen und Minhag, sondern darüber hinaus auch der Name, die (lokale) Herkunft oder die Familiengeschichte. In einer Art aporetischer Gegenbewegung thematisieren nun gerade literarische Texte diesen Modus des Vergessens, der solchermaßen ein eigenes Narrativ ausbilden kann. Die darin aufgehobenen Leerstellen, die in der Dissoziation von Religion und Konfession begründet scheinen, werden in geradezu dialektischer Weise konserviert, indem man sie einfach benennt. Insofern kann man diese Texte als Gedächtnisspeicher einer urbanen Erfahrungswelt bezeichnen  : Sie archivieren einerseits die zeitgenössischen Erscheinungsformen des Vergessens, halten dessen Ursachen und Inhalte solchermaßen aber gleichzeitig im Bewusstsein. 2. Die erzählte (jüdische) Stadt – Raum der Erfahrung Die Stadt mit ihren offenen Plätzen und verborgenen Rückzugsorten, den funktional sich anpassenden Mikro-Räumen des privaten wie des öffentlichen Lebens, dem sich permanent ausdehnenden Straßen- und Wegenetz, der nie zum Stillstand kommenden Besiedelung und der damit verbundenen räumlichen und sozialen Dynamik avanciert um 1900 zu dem zentralen Raum in der (deutschsprachig-jüdischen) Literatur. Er prägt die Narrationen, die Narrative und Topoi in bislang nicht gekannter Weise. Doch was sich zunächst nur wie die Dominanz eines neuen populären Schauplatzes ausnimmt, dringt zunehmend in die Struktur der Texte ein. Die Stadt gewinnt in ihrer vielfältig ausgestalteten Räumlichkeit poetologische Qualität, nicht in dem Sinne, dass sie den Akt des Schreibens und die Schrift immanent mitreflektierte, als vielmehr in der Funktion, die Argumentationslinien erzählter Identitätsprozesse narrativ anzubinden. In der jüdischen Erzählliteratur löst die Stadt – zunächst noch unmerklich – die Gasse, das Schtetl, das jüdische Dorf als Austragungsort identitärer Debatten ab. Im Gegensatz zur (erzählten) Gasse und zum Schtetl, die trotz der dort stattfindenden Veränderungen doch noch als Orte der Tradition und Permanenz wahrgenommen werden können, eröffnen sich in der Großstadt unterschiedlich konnotierbare Räume, die in ihrer Zusammenschau den Stadt-Raum als Umschlagplatz der Veränderung, der Instabilität, der Differenzierungen und der kurzfristigen Einschreibung ausweisen. Dieser Dynamik des (erzählten) städtischen Raums entspricht letztlich auch die Lebensrealität vieler Autoren in weitaus höherem Maße als jene des Schtetls oder Dorfes. Die Großstadtlitera-



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tur avanciert mithin zu einem Medium der Erfahrung. Ob Großstadtliteratur aber deshalb weniger idealisierend auf ihre zeitgenössische Leserschaft wirkte oder wirken wollte, soll vorläufig dahin gestellt bleiben. Sozialwissenschaftliche und historische Untersuchungen zeigen, dass die oft tristen Lebensbedingungen und bedrückenden wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Land der Sogkraft der Städte Berlin und Wien um die vorletzte Jahrhundertwende nur wenig entgegensetzen konnten. Auch die jüdische Landbevölkerung zog es, nicht selten motiviert durch die Aussicht auf ökonomische Verbesserung, Wohlstand und gesellschaftlichen Aufstieg in die zentraleuropäischen Metropolen, aber auch nach Amerika. Für das traditionelle Judentum bedeutete diese Landflucht eine existenzielle Bedrohung, da man dies als ersten Schritt einer immer rascher sich vollziehenden Entwicklung im Prozess der Auflösung der Gemeindestrukturen und des kollektiven Vergessens erkannte  : Heute zieht der Jude mit völliger Aufgabe seines ländlichen Besitzes in die Stadt, angezogen von dem gleißenden Trugbild einer falschen Civilisation ohne ethischen Gehalt. Hier gibt er seine jüdische Individualität, seine Tradition und seine Religion preis. […] Wie können wir dieses Unheil steuern  ? Wir müssen der Landflucht die Stadtflucht entgegensetzen  ; Rückkehr zur Scholle  ! […] Nur draußen auf dem Lande kann für das alte verfälschte Judentum ein gutes Bollwerk gegen Abfall und Abkehr entstehen.24

Die mit den Migrationsbewegungen einhergehende allmähliche Preisgabe von Tradition und Religion betraf im ausgehenden 19. und beginnenden 20.  Jahrhundert aber natürlich nicht nur Juden. Dementsprechend prägen analoge Argumentationen auch nichtjüdische Debatten der Zeit. Verdeckt oder offen werden im Zuge dessen soziale, wirtschaftliche und moralische Verfallserscheinungen, die vermeintlich nur dem Moloch Stadt geschuldet sind, beklagt. Dabei können sich die Kritiker der Stadt und Vertreter einer ideologisch unterfütterten Großstadtfeindschaft auf eine lange Überlieferung metaphorisch aufgeladener Städtebilder beziehen, die ihr eindringlichstes Oppositionspaar in den biblischen Vorlagen von Babylon (als Hure) und Jerusalem (als himmlische Königin) besitzt. Auch die Literatur referiert vielfach auf diese raummotivischen Typologien. Dabei wird in der modernekritischen Großstadtliteratur um 1900 vor allem die ›babylonische Variante‹ aufgerufen.25 Sie kommt in jenen Szenarien zum Ausdruck, in denen der Mensch als Individuum dem alles verschlingenden Stadtungeheuer ausgeliefert zu sein scheint. Doch obwohl Jerusalem, 24 Der Israelit 47 (1906) 40, S. 2 f., zit. n. Glasenapp, Judengasse, S. 264. 25 Siehe dazu auch die Überlegungen von Willi Jasper, »Großstadtdichtung«, in  : Deutsch-jüdischer Parnass, S. 382–398.

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nicht zuletzt in der Reiseliteratur, als Schauplatz und Sinnbild nie seine literarische Attraktivität eingebüßt hat,26 bildet es in der nichtzionistischen jüdischen Literatur der Zeit kein wirksames Gegenmodell zur Darstellung ambivalenter Urbanität aus. Erst in der zionistischen Erzählliteratur wird Jerusalem als Topos einer positiv verstandenen Moderne – vor allem durch Theodor Herzls Roman Altneuland (1904) – in einen neuen Funktionszusammenhang gesetzt. In einem um die Jahrhundertwende geprägten, häufig auch antisemitisch motivierten Stereotyp vom »Juden als Urbantyp«27 wird schließlich eine Bevorzugung städtischer Lebensweise von Juden behauptet, die aber letztlich für Vertreter aller Bevölkerungsschichten zu konstatieren ist, da die Großstadt um 1900, ganz allgemein gesprochen, individuellen und kollektiven Fortschritt oder zumindest eine Verbesserung der subjektiven Lebensverhältnisse verhieß. Realitätsnäher, weil häufig gegenwartsbezogen und konkreter verortet als in der Ghettogeschichte verhandeln nun jüdische Romane, die in Berlin oder Wien angesiedelt sind, jüdische Identitätsproblematik aus unterschiedlichen Perspektiven. Meist werden die daran anknüpfenden Debatten entlang der persönlichen Entwicklungs- oder Krisengeschichte eines Protagonisten erzählt, und insofern schließen diese Romane zuweilen an die Tradition des klassischen Bildungsromans an. Joseph Roth fasste 1933 in wenigen Zeilen zusammen, welche Bedeutung die Großstadt für die Ausbildung und Entwicklung der modernen deutschsprachigen Erzählliteratur hat. Ob sie sich tatsächlich in erster Linie »jüdischen Schriftsteller[n]« verdankt, wie Roth meint, oder ob er hier nicht ein Klischee reproduziert, mag dahingestellt bleiben. Sicherlich aber haben jüdische Autoren in besonderem Maße die (erzählte) Stadt – und hier wiederum Wien und Berlin, aber auch Prag – jenseits ihres Schauplatz-Status in ihrer sozialen und ästhetischen Komplexität, Qualität und Produktivität erkannt  : Das unbestreitbare Verdienst der jüdischen Schriftsteller für die deutsche Literatur besteht in der Entdeckung und literarischen Auswertung des Urbanismus. Die Juden haben die Stadtlandschaft und die Seelenlandschaft des Stadtbewohners entdeckt und geschildert. Sie haben die ganze Vielschichtigkeit der städtischen Zivilisation entschleiert. Sie haben das Kaffeehaus und die Fabrik entdeckt, die Bar und das Hotel, die Bank und das Kleinbürgertum der Hauptstadt, die Treffpunkte der Reichen und die 26 Siehe dazu u. a. Wolf Kaiser, Palästina  – Erez Israel. Deutschsprachige Reisebeschreibungen jüdischer Autoren von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg. Hildesheim, Zürich, New York 1992. 27 Vgl. dazu ausführlich Joachim Schlör, Der Jude als Urbantyp, in  : Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen (= Lizenzausgabe). Frankfurt am Main 2000, S. 229–241.



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Elendsviertel, die Sünde und das Laster, den städtischen Tag und die städtische Nacht, den Charakter des Bewohners der großen Städte.28

Die komplexe topographische Konstellationen entwerfenden Erzähltexte führen zeitgenössische Identifikationsprozesse vor und verhandeln dadurch jene Phänomene mit, die sie vermeintlich nur abbilden. In diesen Texten werden Erinnerungen aus vor-urbaner Zeit (re)konstruiert, Erfahrungen von Urbanität aktualisiert und Erwartungen auf ein besseres Leben geschürt. Berlin und Wien werden dabei in der Regel möglichst authentisch gezeichnet. Straßen, Stadtviertel, Parkanlagen, Hotels, Gasthäuser etc. werden konkret benannt und können ›buchstäblich‹ begangen oder betreten werden. Die solchermaßen erzählten und geographisch beglaubigten narrativen Karten werden in einem zweiten Schritt durch die Handlungen, Wahrnehmungen, Reden und Inszenierungen der Figuren überblendet. Die auf diese Weise narrativ hergestellte Topographie ist nicht mehr auf ihre plane Flächigkeit beschränkt, sie zeichnet sich vielmehr durch eine ästhetische Mehrdimensionalität und Tiefenstruktur aus, die auch der Komplexität der verhandelten Diskurse Rechnung trägt. Geschichten über eine Stadt und in einer Stadt demonstrieren die Wirkmächtigkeit des städtischen Raums auf deren Bewohner  : Dies gilt gleichermaßen für die fiktiven Figuren in einem Text wie auch für eine reale (nicht nur urbane) Leserschaft, die sich im Akt des Lesens durch einen vertrauten Raum bewegen kann. Durch die topographisch angebundenen Beschreibungen, Schilderungen und Lokalisierungen werden soziale Gefälle, aber auch hierarchische Verhältnisse und Machtpositionen evident, wobei die Orte und Räume selbst – mitunter sogar personalisiert  – zu einem Teil dieser Hierarchien avancieren können. Andererseits finden in der erzählten Stadt Neutralisierungen von symbolischen oder vorgängig existierenden Kampfzonen statt. In der Fiktion können Konflikte selbst dann bereinigt werden, wenn ihre realen Referenzprobleme unlösbar scheinen. Andererseits können ›Kämpfe‹ um Raum sowie die Aneignung von Raum narrativ ausgetragen werden und diskursiv in außerliterarische Debatten eingreifen. Gerade jene Texte, die sich mit den Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus auseinandersetzen, sind in diesem Umfeld anzusiedeln. Weiterhin eröffnet die (erzählte) Stadt aufgrund ihrer Größe und mangelnden Kontrollmechanismen eine bislang unbekannte Freizügigkeit und Freiräume für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht wenige Texte spielen in diesem Kontext ›kleine‹ Wanderbewegungen ihrer Protagonisten durch, meist in Form von Spazier- oder Erkundungsgängen durch die Stadt. Dabei korrelieren Umzüge innerhalb der Stadt, das Verlassen der elterlichen Wohnung, 28 Roth, Das Autodafé des Geistes, S. 501.

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die mit der Verehelichung oder dem Beruf verbundenen Ortswechsel nahezu immer mit Wandlungsprozessen der Figuren, mit ihrer Annäherung an jüdische Positionen oder ihre Distanzierung vom Judentum. So scheint in der erzählten Stadt – stärker als in der Ghettogeschichte – die Identitätssuche der Protagonisten narrativ an die physische Bewegung durch den Raum gebunden, wobei die Bewegungsfreiheit einer Figur gleichzeitig die Notwendigkeit permanenter Entscheidung erfordert. Die erzählte Stadt avanciert also zum mehrdeutigen Erfahrungsraum  : Sie kann Ort der Orientierungslosigkeit, aber auch der (politischen) Bewusstseinsbildung, des Aufstiegs, aber auch des Verfalls und der Verelendung, der Vereinsamung, aber auch der Gruppenbildung, des Wissens, aber auch des Vergessens, der Freiheit, aber auch der Bedrohung werden. Der Komplexität der Lebenswelten entsprechend wird die Großstadt vorwiegend in Romanform erzählt, das übersichtlichere Format der Novelle oder Erzählung bleibt dem Schtetl und dem jüdischen Dorf vorbehalten. Als erzählter Raum der Moderne prägt die Stadt spätestens seit den 1870er-Jahren in der (nicht nur jüdischen) deutschsprachigen Literatur eine eigene topographische Logik aus, die zum einen tatsächlich spatial angelegt ist und durch oppositionelle Begriffspaare wie ›Enge und Weite‹, ›Offenheit und Geschlossenheit‹, ›oben und unten‹, ›Kontinuität und Bruch‹ etc. umrissen werden kann. Eine semantisch mehrfach aufgeladene Oben-Unten-Deixis dominiert z. B. lange Passagen in Kurt Münzers Roman Jude ans Kreuz (1927) in der farbenprächtigen, exotistischen Darstellung der Berliner Unterwelt. Spannungsreiche Konstellationen ergeben sich dann in der Funktionalisierung bestimmter Figuren, die als Vermittler zwischen ›Ober‹- und Unterwelt agieren. Auch sozial und politisch motivierte Schilderungen von Ober- und Unterschicht wären unter diesem Aspekt zu untersuchen. Durch solche räumlichen Verweisstrukturen werden aber nicht nur simple Oppositionen oder Bipolaritäten angezeigt, sondern vielmehr die Ambivalenz und Vieldeutigkeit der letztlich nur fragmentarisch wahrnehmbaren und unverständlichen Stadt. Zum anderen werden in der Darstellung der Stadt exklusive diskursive Muster wirksam. Die Stadt wird u. a. als Ort der wechselnden Moden, der Konjunktur, des Verlusts, der Beschleunigung, des Unrechts, des Chaos und des Todes entworfen. Wie die bildende Kunst bedient sich die Literatur dabei mitunter der Technik der Rahmung, indem chaotische Szenarien in überschaubaren Tableaus angeordnet werden oder indem die Charakteristik der städtischen Vermassung durch das Erzählen von Geschichten über einzelne Personen für den Leser auf eine auch emotional nachvollziehbare Größe zugeschnitten wird. Mittels verschiedener narrativer Strategien, die die erzählten Ereignisse und die handelnden Personen raumbezogen im Rahmen eines Gesamttextes platzieren, werden in der erzählten Stadt durch häufige Schauplatzwechsel und dynamische Raum(an)ordnungen sich



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überlagernde Kartierungen entworfen, die das potenzielle Erfahrungsspektrum der Stadt schließlich in Schichten (ab)lesbar werden lassen. Die Sprachlichkeit und die letztlich uneinholbaren Bedeutungsstrukturen der Stadt, mithin die »wesenhaft signifikante Natur des städtischen Raums« haben einstmals nicht Theoretiker oder Stadtplaner erkannt, wie Roland Barthes einmal feststellte, sondern einzig die Schriftsteller. Sie fungieren in gewisser Weise als Übersetzer, indem sie z. B. »Wege, Zäune, Viertel, Knoten und Bezugspunkte« als semantische Kategorien einsetzen und damit die »Lesbarkeit der Stadt« zumindest im Medium des literarischen Textes verfügbar halten.29 Gleichwohl beziehen sich Schriftsteller nicht nur auf vorgefundene Codes einer Stadt, möglicherweise ahnend, dass die »Signifikate der entdeckten Einheiten« in der Stadt selbst »historisch äußerst ungenau, anfechtbar und unbezähmbar sind«.30 Autoren von Großstadtromanen spannen vielmehr einen Bedeutungshorizont auf, der (dem Leser) durch die Entschlüsselung von Codes oder der Auffüllung der Zeichen zumindest eine partielle Annäherung an einen nicht nur schwer verständlichen, sondern auch dauernd in Bewegung befindlichen und nicht fixierbaren Raum erlaubt. Im Folgenden werden exemplarisch und in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens fünf Romane (1882 bis 1927) in Bezug auf ihre räumlich motivierten Topoi und Narrative sowie auf ihre (strukturellen) Funktionszusammenhänge und Semantiken untersucht. Um die unterschiedlichen, sich verändernden und teils interdependenten Raumkonzeptionen innerhalb der jeweiligen Texte im Hinblick auf ihre immanente Logik zu erfassen, eignet sich eine Einzelanalyse besser als eine Querschnittsanalyse  ; zudem erlaubt diese Vorgangsweise, die Gesamtkonzeption der Texte im Blick zu behalten. Außerdem weisen die Großstadtromane hinsichtlich ihrer räumlichen (An-)Ordnungen im Vergleich zu Ghettogeschichten ein wesentlich komplexeres Spektrum an Semantisierungen auf. Die Konstruktionen von Raum sind hier weit seltener an spezifisch ›jüdische‹ Orte wie Synagoge oder Cheder gekoppelt, sondern sie werden vielfach erst im Handeln, im Gehen, im Sprechen oder durch die Wahrnehmung der Figuren hergestellt.

29 Roland Barthes, Semiologie und Stadtplanung, in  : Das semiologische Abenteuer, S. 199–209, S. 200 f. 30 Barthes, Das semiologische Abenteuer, S. 208.

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3. Fritz Mauthner Der Neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin (1882) Ein bemerkenswertes Beispiel eines in der Großstadt angesiedelten Zeitro­ mans bildet Fritz Mauthners Werk Der neue Ahasver.31 Mauthner hat als erster Schriftsteller aufgezeigt, wie die Wirkmechanismen des Antisemitismus seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert in besonderer Weise mit den sozialen, wirtschaftlichen und kommunikativen Strukturen der modernen Großstadt verwoben sind.32 Allein deshalb ist sein 1882 in Buchform erschienener Roman Der neue Ahasver unabhängig von seinen ästhetischen Unzulänglichkeiten von besonderer literaturgeschichtlicher Bedeutung.33 Kein anderer Autor dieser Zeit hat in ähnlicher Weise so unmittelbar und hellsichtig auf die bedrohlichen politischen Entwicklungen seit den 1870er-Jahren in Deutschland reagiert wie der Schriftsteller-Philosoph. An eine Überwindung des Antisemitismus glaubte er auch 25 Jahre nach Erscheinen seines Romans nicht. So antwortete er auf eine an mehrere Schriftsteller gerichtete Umfrage bezüglich einer Lösung der Judenfrage resigniert  : Ich wüsste auf Ihre Anfrage eine Antwort schon darum nicht zu geben, weil ich nicht weiss, welche Judenfrage Sie meinen. Die Judenfrage wird von jedem Frager anders gestellt, anders zu jeder Zeit, anders an jedem Ort. […] Wie sollte ich die Antwort kennen  ? Wir werden wohl das Ende der Geschichte abwarten müssen.34

In seinem Roman erzählt der Autor die kurze Lebensgeschichte des im ehemaligen Prager Ghetto aufgewachsenen Heinrich Wolff. Der bereits durch die elterliche Erziehung seiner Religion völlig entfremdete junge Mann übersiedelt zum Medizinstudium nach Leipzig, das er 23-jährig zur Zeit des Krieges 1866 31 Fritz Mauthner, Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin, 2 Bände. Dresden, Leipzig, 1882. Im Folgenden wird zitiert nach der Neuausgabe, hg. und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Berlin, Wien 2001. Die Neuausgabe wurde orthographisch angepasst. Lütkehaus gibt die zweite Auflage irrtümlicherweise für das Jahr 1886 an, tatsächlich ist die zweite Auflage bereits im Ersterscheinungsjahr 1882 erschienen. Der Roman war zunächst 1881 im Berliner Tageblatt veröffentlicht worden. 32 Vgl. dazu auch Petra Ernst, Die literarische Darstellung von Antisemitismus als Phänomen der Moderne am Beispiel von Fritz Mauthners Roman »Der neue Ahasver«, in  : transversal 5 (2005) 2, S. 75–93. 33 Lütkehaus fühlt sich u. a. an Eugenie Marlitt erinnert, weist aber die Kritik des Mauthner-Biographen Joachim Kühn zurück, der die Einbettung der zeithistorischen Umstände in eine Liebesgeschichte als relativierende Verkürzung deutet. Vgl. Lütkehaus, Nachwort, in  : Mauthner, Ahasver, S. 377 f. 34 Fritz Mauthner, in  : Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage. Veranstaltet von Dr.  Julius Moses. Berlin Leipzig 1907, S. 144.



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abschließt. In den folgenden Jahren bildet er sich in Paris und London weiter, begleitet eine wissenschaftliche Mittelmeerexpedition und unternimmt eine Forschungsreise nach Afrika.35 Während des Deutsch-Französischen Krieges 1871 geht er als Arzt nach Berlin. Dort verliebt er sich in die adelige Clemence von Auenheim. Die unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem jüdischen Mann und dem christlichen Mädchen  – ein gängiger Topos in jüdischen Erzähltexten der Zeit36 – bildet schließlich die Folie für den eigentlichen, von der Gesellschaft provozierten Konflikt, der den Protagonisten in eine tiefe Identitätskrise stürzt.37 Um dem Wunsch des Brautvaters zu entsprechen, willigt Heinrich ein, Clemence ein Jahr lang nicht zu sehen und sich vor der Hochzeit taufen zu lassen. Als eine Art Entwicklungshelfer geht Heinrich ein zweites Mal nach Afrika. Über Afrika erfährt der Leser allerdings nichts  ; es fungiert lediglich als Synonym für einen unbekannten und weit entfernten Ort, wohin keine Nachrichten aus Europa dringen. Umso ausführlicher schildert der Erzähler das Leben der Zurückgebliebenen sowie die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Berlin. Nach seiner Heimkehr erkennt Heinrich die einst weltoffene Metropole nicht mehr wieder. Ein aggressives, gegen die jüdische Bevölkerung gerichtetes Klima beherrscht die ganze Stadt. Ein ehemaliger Zuchthauslehrer und erfolgloser Journalist entpuppt sich als Wortführer der antisemitischen Kampagnen. Mit finanzieller Unterstützung eines verkrachten Adeligen hat er ein antisemitisches Kampfblatt gegründet, das binnen kürzester Zeit hohe Auflagen erreicht. Unter diesen veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen sieht sich Heinrich jedoch seiner jüdischen Herkunft verpflichtet und verzichtet damit auf die Heirat mit seiner Verlobten. Bei einer antisemitischen Demonstration wird Clemence tödlich verletzt. Heinrich lässt sich kurz darauf in einem Duell erschießen. 35 Weder die Mittelmeer-Expedition noch die Afrika-Reise werden näher beschrieben. 36 Vgl. dazu Ernst, Christlich-jüdische Liebesbeziehungen, sowie Lezzi, »Liebe ist meine Religion  !«, S. 303–323. 37 Eine in dramaturgischer Hinsicht ähnliche Konstellation findet sich in Ludwig Jakobowskis Roman Werther, der Jude, Berlin 1892. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Jakobowski seinen Protagonisten in Anlehnung an Mauthners Neuen Ahasver Leo Wolff nannte. Auch dieser Roman ist in Berlin angesiedelt und erzählt eine christlich-jüdische Liebesgeschichte, die mit dem Tod der Liebenden endet. Ebenso wie Mauthners Heinrich Wolff leidet Jakobowskis Leo Wolff einerseits unter seinem gesellschaftlichen Umfeld wie auch unter seiner spannungsvoll empfundenen deutsch-jüdischen Identität. Vgl. dazu weiterführend Petra Ernst, Ambivalenzen jüdischer Identitätsbildung um 1900 – dargestellt am Beispiel zweier Romane von Ludwig Jakobowski und Lothar Brieger-Wasservogel, in  : Manfred Lechner, Dietmar Seiler (Hg.), zeitgeschichte.at – 4. Österreichischer Zeitgeschichtetag 1999. Innsbruck, Wien, München 2000, [CD-Rom, 20 Seiten].

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3.1 Historischer Hintergrund

Den gesellschaftlich-historischen Hintergrund für die – wenngleich in der erzählten Zeit schon etwas früher angesiedelten  – Romanhandlung bilden die heute unter dem Namen Berliner Antisemitismusstreit zusammengefassten Auseinandersetzungen der Jahre 1879–81.38 Sie beziehen sich auf Heinrich von Treitschkes antisemitischen Artikel Unsere Aussichten,39 der zu heftigen Auseinandersetzungen, zustimmenden und ablehnenden Stellungnahmen und Repliken führte, die überwiegend in Zeitschriften, Zeitungen und Periodika abgedruckt wurden.40 Der Schriftsteller Berthold Auerbach verweist auf damit in Zusammenhang stehende Ereignisse, wenn er in einem Brief an Jakob Auerbach auf eine Debatte des Abgeordnetenhauses am 22.11.1880 Bezug nehmend resigniert konstatiert  : Vergebens gelebt und gearbeitet  ! […] Ich tröste mich freilich auch damit, daß nach Monaten das wieder zugeheilt sein wird, aber das Bewusstsein, was noch alles in deutschen Menschen gehegt wird und was unversehens explodieren kann, das ist untilgbar.41 38 Walter Boehlich machte 1965 mit einer verdienstvollen Edition unter dem Titel Berliner Antisemitismusstreit erstmals die wichtigsten Quellen dieser nicht nur für die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs markanten Ereignisfolge  – zeitgenössisch als »Treitschkestreit« oder »Treitschkiade« debattiert – zugänglich. Doch ein dem Gegenstand angemessener und notwendiger wissenschaftlicher Apparat blieb auch nach der zweiten Auflage von 1988 Desiderat. Erst seit einigen Jahren liegt nun eine erweiterte und kommentierte Quellenedition vor. Karsten Krieger (Bearb.), Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung. München 2003. Krieger führt 121 bislang schon veröffentlichte und weitere unveröffentlichte Quellen auf. Wolfgang Benz bemerkt im Vorwort zu der Edition Kriegers, dass der Bekanntheitsgrad der Bezeichnung »Antisemitismusstreit« seit Boehlichs Ausgabe und ihre Verwendung in der Fachliteratur letztlich für deren Beibehaltung gesprochen hätten. Wenngleich man dieser Argumentation manches abzugewinnen vermag, wird doch vor allem aufgrund der einschränkenden lokalen Attribuierung der historische Wirkungsradius dieser im negativen Sinne bedeutsamen Auseinandersetzung relativiert. 39 Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in  : Preußische Jahrbücher 44 (1879) 5, S. 559–576  ; 1880 separat publiziert unter dem Titel »Ein Wort über unser Judenthum«. Siehe Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. 6–16. 40 Vgl. dazu ausführlich Almut Vierhufe, Politische Satire  ? Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver und der Berliner Antisemitismusstreit, in  : Helmut Henne, Christine Kaiser (Hg.), Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposium zu seinem 150. Geburtstag. Tübingen 2000, S. 145–161. 41 Berthold Auerbach an Jakob Auerbach, Brief vom 22.11.1880, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. 643 f.



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Nicht nur mit dem Wissen um den Holocaust wird die Dimension und die geschichtliche Tragweite des Berliner Antisemitismusstreits deutlich, wie allein Berthold Auerbachs Reaktion zeigt. Wolfgang Benz benennt den Kern des Antisemitismusstreits kurz und prägnant  : »Treitschkes Angriffe gegen das deutsche Judentum markierten die Aufkündigung des bisherigen liberalen Konsens über dessen Emanzipation, wogegen sich seine Kontrahenten zur Wehr setzten.« Weiterhin führt Benz an, dass im Zuge dieses Streits »nahezu alles verhandelt wurde, was sich seit der Reichsgründung und der Judenemanzipation in Deutschland an Identitätskonflikten aufgestaut hatte.« 42 Die gegensätzlichen Standpunkte, die vor allem auf die Begriffe ›Herkunft‹, Religion‹ und ›Nation‹ referieren, spiegeln nicht zuletzt den krisenhaften Prozess der Entstehung eines nationalen Bewusstseins auf deutsch-jüdischer wie auf deutsch-christlicher, vor allem protestantischer, Seite wider. Vereinfacht ausgedrückt, stand die Vorstellung eines nationalen Einheitsstaats jener einer pluralistisch orientierten Gesellschaft gegenüber. Vor allem aufgrund der akademischen Position seines Verfassers erfuhr Treitschkes Artikel besondere Aufmerksamkeit  ; eine fatale Auswirkung bestand darin, dass diese neue Form des Antisemitismus damit gewissermaßen wissenschaftlich sanktioniert erschien. Die Radikalisierung antisemitischer Zirkel und die Bildung antisemitischer Parteien nahmen in den Folgejahren zu. Treitschke, der sich seit 1874 als Nachfolger Leopold von Rankes auf dem renommierten historischen Lehrstuhl an der Berliner Universität einen Namen gemacht hatte, prägte in seinem Artikel das später auch von den Nationalsozialisten vielfach instrumentalisierte Schlagwort  : »Die Juden sind unser Unglück  !«43 ­Trotzdem will Friedrich Battenberg den einflussreichen Historiker »nicht im klassischen Sinne als Antisemiten«44 bezeichnen – ein Befund, der nur schwer nachvollziehbar ist. Als wohl prominentester Gegner Treitschkes gilt Theodor Mommsen. Die weitreichende Wirkung seiner Replik Auch ein Wort über unser Judenthum (1880),45 die aus heutiger Sicht gleichwohl als problematisch anzusehen ist, verlangt sie doch in letzter Konsequenz von der deutschen jüdischen Bevölkerung die Aufgabe ihres Judentums, zeigt sich nicht zuletzt in der engen Bezugnahme 42 Wolfgang Benz, Vorwort, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. VIII f. 43 Treitschke, Unsere Aussichten, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S.  14  : »Täuschen wir uns nicht  : die Bewegung ist sehr tief und stark  ; einige Scherze über die Weisheitssprüche christlich-socialer Stump-Redner genügen nicht sie zu bezwingen. Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würde, ertönt es heute wie aus einem Munde  : die Juden sind unser Unglück  !« 44 Battenberg, Zeitalter der Juden, II/S.185. 45 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. 695–709.

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Fritz Mauthners auf diesen Text. Er stellt ein Zitat Mommsens als Motto vor sein Roman-Vorwort, das dann als offener Brief an den »Verehrte[n] Herr[n] Professor«46 Positionen aus dessen Artikel im Lichte des Romans erörtert. So adaptiert Mauthner Mommsens Vorstellung von »Christenheit« und wähnt sich mit dem Historiker prinzipiell im Einverständnis  : Ihre Flugschrift über das Judentum kam mir in die Hand, als ich eines der letzten Kapitel dieses Buches niederschrieb. So mächtig war der Eindruck […] Ihrer Schrift, daß mein Gedankengang in manchen Punkten beeinflußt wurde und daß ich mir einen der wichtigsten Begriffe derselben, den der Christenheit, in Ihrem Sinne anzueignen erlaubte.47

Im Folgenden diskutiert Mauthner Mommsens Vorwürfe gegen deutsche Juden einmal zustimmend, einmal ablehnend. Grosso modo jedoch plädiert er mit Mommsen für die Aufgabe jüdischer Traditionen zugunsten einer christlich dominierten »allgemeine[n] deutsche[n] Sitte«, wobei er den religiösen Glauben als individuelles Bekenntnis, als »Gewissenssache jedes Einzelnen« exkludiert wissen möchte.48 Mauthner trennt also gemäß den Idealen der französischen Revolution und der Aufklärung zwischen einer christlich geprägten abendländischen Kultur, die er am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch als säkulare Ausdrucksform identifizieren kann, und Religion als individueller, nicht nach außen gerichteter Überzeugung oder Weltanschauung. Eine wesentliche Rolle spielt in seinem Denken auch die moderne Wissenschaft, die seiner Meinung nach den »alten Glauben« ohnehin verunmögliche.49 Im literarischen Text vertritt der Protagonist Heinrich diese Positionen und unterscheidet dabei sehr deutlich zwischen dem Christentum, dem er sich nicht zugehörig fühlt, und der Christenheit, die er als soziale und kulturelle Entität als die auch ihn prägende akzeptiert.

46 Mauthner, An Theodor Mommsen [Vorwort], in  : Ahasver, S. 5–8. 47 Mauthner, An Theodor Mommsen [Vorwort], in  : Ahasver, S. 5. 48 Mauthner, An Theodor Mommsen [Vorwort], in  : Ahasver, S. 7. Die Auseinandersetzung darüber, dass der Glaube an die Offenbarung durch das individuelle Gewissen zu ersetzen sei, spielte schon in den jüdischen Reformdiskussionen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Vgl. dazu Meyer, Jüdisches Selbstverständnis, in  : Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, S. 206. 49 Mauthner, An Theodor Mommsen [Vorwort], Ahasver, S.  7. Mit dieser Auffassung steht Mauthner quer zu allen Konfessionen und Religionen der Zeit. Er formuliert Argumente, die später im Zuge der katholischen Diskussionen um den »Antimodernismus« schlagend wurden und worauf der Papst 1906/07 mit der Enzyklika Pascendi reagierte.



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Die Christenheit umfaßt […] als Kulturerscheinung unsere civilisierte Welt. Ihr gehört Jeder an, an welchem die Jahrhunderte unserer Civilisation nicht spurlos vorübergegangen sind, ob er sich nun einen Juden, einen Atheisten oder einen Buddhaisten nennen will. Der Christenheit gehört der größere Theil unserer deutschen Juden an, Alle leider nicht.50

Der Roman bezieht sich also explizit auf einen Ausschnitt historischer Wirklichkeit. Und dies zu einem Zeitpunkt, als sich ein folgenschwerer Umbruch für die Juden in Deutschland abzeichnete. Mauthner beschreibt die Ablösung bzw. den relativ abrupten Übergang vom Antijudaismus der Emanzipationszeit, der wesentlich von »benachteiligten Unter- und Mittelschichten getragen wurde und unter den Intellektuellen gleichermaßen Anhänger und Gegner fand«, zum modernen Antisemitismus, der im allgemeinen gesellschaftlichen Transformationsprozess seit Beginn der Reichsgründung durch die institutionelle Entstehung einer Parteienstruktur und der »Ausbildung eines vielfältigen Pressewesens«51 wesentlich begünstigt wurde. Erst damit wurden laut Battenberg die Voraussetzungen für eine Massenbewegung dieser Tragweite geschaffen. Auf der Figurenebene des Romans lässt sich für den Judenhetzer Dr.  Stropp als reales Vorbild u. a. der dem Zentrum nahestehende Journalist Otto Glagau (1834–1892) vermuten.52 Wie die meisten (jüdischen und nichtjüdischen) Figuren ist auch Stropp plakativ und typenhaft gezeichnet. Weiterhin dürften im Roman die Person des protestantischen Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker (1835–1909)53 und dessen 1878 gegründete Christlich-Soziale Arbeiterpartei die Darstellung des Antisemitismus zunächst als eine führerorientierte »Bewegung«, dann schon als unkonturierte »Partei« beeinflusst haben.54 Mauthner zielt darauf ab, ethische Positionen durch die Literatur außerliterarisch wirksam 50 Hier zitiert nach der historischen Aufgabe  : Mauthner, Ahasver, II/S. 37 f., resp. in der Ausgabe von Lütkehaus, S. 202. Letztere ist durchgehend paginiert  ; der zweite Teil beginnt mit Kapitel XI. auf S. 181. Die Originalausgabe setzt im II. Teil mit der Paginierung wieder neu ein. 51 Battenberg, Zeitalter der Juden, II/S. 179. 52 Der »Gartenlauben«-Journalist Glagau hatte 1880 die Zeitschrift Der Kulturkämpfer gegründet. Seine Rolle im Zuge der antisemitischen Radikalisierung erläutert Battenberg, Zeitalter der Juden, II/S. 182 f. 53 Auf Stoecker bezieht sich Mauthner – ohne dessen Namen zu nennen – auch in seinem Vorwort. Allerdings ruft er in seiner Bezugnahme auf jüdische Hilfsvereine, die vorgeblich nur Juden unterstützten, einen recht ›schiefen‹ und unangemessenen Vergleich auf  : »Es gibt in Deutschland wenig Anstößigeres als diese Vereine mit unverständlichen hebräischen Namen, die durch ihre Frage nach der Abstammung des Notleidenden so intolerant sind wie irgendein Hofprediger.« 54 Einen Überblick über die Entwicklung des Antisemitismusstreits in Deutschland und das zeitverschobene Aufkommen eines parteipolitisch funktionalisierten Antisemitismus in Österreich

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zu machen.55 In diesem Sinne führt der Roman eine breit gefächerte, einmal vernunftorientierte, einmal gefühlsbetonte Auseinandersetzung der jüdischen Figuren mit den Vertretern des Antisemitismus vor  – ihr rhetorischer Duktus folgt dabei beinahe ausschließlich den Regeln der Verteidigung oder der Rechtfertigung. Letztlich kann das mit Blick auf das tragische Ende Heinrichs und seiner Braut zweierlei bedeuten  : Dem Leser wird signalisiert, dass jenseits der fiktionalen Ebene des Romans eine Rechtfertigungsrhetorik gegenüber dem Antisemitismus zwangsläufig ins Leere laufen muss. Gleichzeitig gesteht der Autor aber das Scheitern (s)einer ethischen Grundeinstellung angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft ein. Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklungen werden in Mauthners Roman nicht zuletzt innerjüdische Positionen im Hinblick auf ein zeitgemäßes Judentum diskutiert. Sie sind exemplarisch an einzelne Figuren gebunden und umfassen ein breites Spektrum, das eine traditionell-orthodoxe Lebensform ebenso berücksichtigt wie verschiedene Reformideen, die völlige Ablehnung und schließlich ein unreflektiertes und vages Verständnis dessen, was Judentum bedeuten kann. Die uneingeschränkte Zustimmung der Erzählerinstanz gilt dabei einzig den toleranten und liberal geprägten Vorstellungen Heinrichs  ; durch seine positive Charakterisierung wird erzählstrategisch zugleich die Schlagkraft seiner Argumente unterstützt. Dass er zuletzt  – bei einem Duell durch einen Schuss in die Luft – eigentlich Selbstmord begeht, relativiert weniger die Qualität seiner Anschauungen als vielmehr den am Beginn des Romans durch ihn propagierten Zukunftsoptimismus. Formal ist der als Unterhaltungsroman konzipierte Text völlig konventionell gehalten  : Spannungsbögen orientieren sich am Episodencharakter seiner ursprünglichen Erscheinungsform, die Figuren wirken tendenziell klischeehaft, die Dialoge mitunter pathetisch, bekannte Handlungsmuster vor allem in den diversen Liebesgeschichten zielen auf die Erwartungshaltung eines Massenpublikums. Die Stärke des Textes liegt in der Verschränkung eines attraktiven plots mit aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen. Darauf bezieht sich auch eine nahezu 40 Jahre [!] nach Erscheinen des Romans von Ludwig Geiger in der Allgemeinen Zeitung des Judentums 1918 formulierte Kritik.56 Bemerkenswert ist, dass Mauthner schon zu Beginn der 1880er-Jahre erkennt, dass Antisemitismus in bietet u. a. Peter Pulzer, Die Wiederkehr des altes Hasses, in  : Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. III, S. 193–249, v. a. S. 201–228. 55 Mauthner, An Theodor Mommsen [Vorwort], Ahasver, S.  8  : »Aber mein Buch ist ein Tendenzroman. Ich denke gar nicht an den Beifall des Ästhetikers, ich will die Zustimmung des Ethikers, vor allem des Geschichtsschreibers.« 56 Vgl. dazu die Ausführungen von Hans Otto Horch, Erzählliteratur, S. 211.



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einer radikal national gesinnten Gesellschaft unversehens eliminatorische Züge annehmen kann und dass der Weg von verbaler zu tätiger Gewalt immanent vorgezeichnet ist. Im Unterschied zu früheren Ausprägungen der Judenfeindlichkeit, die sich zumeist gegen einzelne Personen richtete, »an denen man einen historischen Sühneauftrag zu vollziehen vermeinte«, wie es Friedrich Battenberg ausdrückt, war diese neue Ausprägung des Antisemitismus »von einer Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Schicksal getragen.«57 Die sich im Gefolge der Reichsgründung deutschnational gebärdende Aggression begann, sich gegen die Juden in ihrer Gesamtheit zu richten. 3.2 »Heimat« versus »Vaterland«

Das hing wohl auch damit zusammen, dass die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden, die mit der Reichsgründung 1871 endgültig in der Verfassung verankert worden war, bestehende gesellschaftliche Ressentiments gegen die jüdische Bevölkerung nicht hatte eliminieren können.58 Doch obwohl die Gleichstellung in der Praxis häufig unterlaufen wurde, wie Untersuchungen über unterschiedliche Karriereverläufe von Christen und Juden nachweisen,59 erlebten viele Juden das erste Jahrzehnt des durch Bismarck geprägten Deutschen Kaiserreichs als Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. So auch Fritz Mauthner, der 1849 im böhmischen Horice als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, den größten Teil seines Berufslebens in Deutschland verbrachte.60 57 Battenberg, Zeitalter der Juden, II/S. 179. 58 Vgl. z. B. Walter Grab, Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789–1938. München 1991. Grab sieht die Ursache dafür in der verordneten Gleichstellung, die nicht revolutionär durch die Bevölkerung mitgetragen worden war. 59 Vgl. z. B. Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933. Frankfurt am Main, New York 1995. 60 Als Journalist arbeitete Mauthner nach seinem Gymnasialjahren in Prag bei den Prager Deutschen Blättern. 1876 übersiedelte er nach Berlin und schrieb für das Berliner Tageblatt und das Deutsche Montagsblatt. 1889–1890 betreute er als Herausgeber eine Wochenschrift für Kunst und Literatur mit dem Titel Deutschland, die er retrospektiv 1906 als »Unding« bezeichnete  ; siehe dazu Mauthner an Clara Levysohn, Brief vom 30.04.1906, zitiert nach Gershon Weiler, Fritz Mauthner  : A Study in Jewish Self-Rejection, in  : Year-Book of the Leo Baeck Institute (1963) 8, S.  136–148, hier S.  147. Ab 1891 gab Mauthner  – er war mittlerweile zum Protestantismus konvertiert  – gemeinsam mit Otto Neumann-Hofer das Magazin für Literatur des In- und Auslandes und das Schorersche Familienblatt heraus. Ab 1895 wirkte er am Berliner Tageblatt als Theaterkritiker und Feuilletonredakteur. 1889 war er Mitbegründer der »Freien Bühne« und gründete 1894 nach deren Spaltung zusammen mit Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und Otto Erich Hartleben die »Neue Freie Volksbühne«. 1905 übersiedelte er nach Freiburg, 1909 nach Meersburg, wo er sich v. a. seinen philosophischen Arbeiten über den Atheismus und

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Die Familie hielt, wie für viele bürgerliche Juden der Zeit üblich, am Judentum fest, ohne es jedoch zu praktizieren  : Ich war von Abstammung Jude, und habe doch jüdische Religion und jüdische Sitten eigentlich niemals kennengelernt  ; höchstens häufiger als ein deutsches Kind die jüdische Sprechweise und Mauschelausdrücke gehört. Mein Elternhaus stand dem jüdischen Wesen fremd gegenüber.61

Ähnliche, mitunter beinahe stereotyp wirkende Aussagen, deren inszenatorischer Anteil heute allerdings kaum noch zu eruieren ist, kennt man u. a. auch von Karl Emil Franzos sowie später von Franz Kafka oder Alfred Döblin. Und dennoch  : Trotz einer offenbar gefühlten Entfremdung und Distanziertheit einem wie auch immer aufgefassten »jüdische[n] Wesen« gegenüber werden von diesen Autoren  – nicht selten in Abhängigkeit von gesellschaftlich oder politisch bedrohlichen Situationen für Juden  – Problemstellungen jüdischer Existenz literarisch verhandelt. Neben der, wenn auch für Mauthner subjektiv negativen Bedeutung des Jüdischen, vor allem des orthodoxen Judentums, waren für sein späteres Schaffen sowohl im Hinblick auf seinen sprachlichen Skeptizismus als auch auf seine Auseinandersetzung mit dem Problem nationaler Identitätsbildung jene Erfahrungen, die aus der sprachlichen Grenzsituation in Prag resultierten, von Relevanz.62 Gershon Weiler analysiert basierend auf der Autobiographie und ausgewählten Briefen Mauthners ambivalente Positionen gegenüber dem Judentum und seine Entscheidung, von Prag nach Berlin, und nicht nach Wien, zu gehen. Ein Schlüsselerlebnis sei für Mauthner die Anwesenheit der Preußischen Truppen im Jahre 1866 in Prag gewesen, die für ihn einer Befreiung von der tschechischen Bedrohung (»Czech menace«) gleichgekommen sei.63 Im Eingangskapitel des Romans Der neue Ahasver wird diese seine Geschichte im Abendlande, den Beiträgen zu einer Kritik der Sprache und dem Wörterbuch der Philosophie widmete. Heute wird Fritz Mauthner meist nur noch als Verfasser seines sprachphilosophischen Hauptwerkes Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1901–1902) genannt. Nicht mehr im Bewusstsein sind seine zwischen 1874 und 1923 erschienenen Dramen und Prosatexte (Romane, Novellen, Essays, Märchen, Kindergeschichten), insgesamt über 70 Bände, von denen manche bis zu 30 Auflagen erlebten, zum Beispiel die Parodiensammlung Nach berühmten Mustern (1878/80), außerdem Vom armen Franischko (1879), Gräfin Salamanca (1884), Xanthippe (1884), Der Geisterseher (1894), Die böhmische Handschrift (1897), Der goldene Fiedelbogen (1917) sowie die Gesamtausgabe (erstmals 1897). Mauthner starb 1923 in Konstanz. 61 Fritz Mauthner, Erinnerungen. München 1918, S. 110. 62 Zu der besonderen Situation in Prag vgl. z. B. Steven M. Lowenstein, Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur, in  : Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, S. 310, oder Schütz, Juden in der deutschen Literatur, VIII. Das jüdische Prag, S. 205–229. 63 Weiler, Mauthner, S.  137. Aus einer historischen Frontstellung von ›Deutschtum‹ und ›Sla-



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historische Situation anzitiert  : Zur Zeit des Kriegsausbruchs kehrt der junge Protagonist Heinrich Wolff nach Jahren der Absenz für einen kurzen Besuch nach Prag zurück. Ausgelöst durch das Chaos vor Ort, wird er gewahr, dass er sich der preußischen Armee eigentlich mehr verbunden fühlt als dem »niederösterreichischen Regimente […], bei welchem einige seiner Schulkameraden standen.«64 Schon auf diesen ersten Seiten wird die Zerrissenheit Heinrichs, die letztlich den Grundkonflikt des Romans aus der Figurenperspektive darstellt, in einen semantisch aufgeladenen räumlichen Bezugsrahmen gefasst. Heinrich sitzt in einem stehenden Zug – gewissermaßen im Niemandsland – und wartet auf die Einfahrt in den Prager Bahnhof. Aus seinem Abteil nimmt er das aufgeregte Geschehen außerhalb des Zuges wahr  ; gleichzeitig lässt er seinen Blick »liebevoll«65 über die Moldau und den Hradschin schweifen. Dieses ›natürliche‹ Bild Prags lässt in seiner scheinbaren Unveränderlichkeit Erinnerungen an die Kindheit aufsteigen. In Prag geboren, hatte Heinrich dort, wie der Leser erfährt, »sprechen und fühlen gelernt«, die Natur Böhmens ist ihm wohl vertraut, doch seine Studien vollendete er »draußen im Reiche, in Leipzig«. Das »große […] Deutschland« gilt ihm als »Vaterland«,66 Prag jedoch als »Heimat«.67 Und so interpretiert er die Konfrontation zwischen den preußischen und habsburgischen Truppen als Ziehung einer »Grenzlinie […] mitten durch sein junges Herz.«68 Schließlich entscheidet sich Heinrich Wolff »im Widerstreit der Identitäten als Jude, Österreicher und Deutscher […] emphatisch für das (preußische) Deutschtum«.69 Mit dieser Konstellation führt Mauthner eine zentraleuropäische Komponente ein, die neben einer wie auch immer definierten, in jedem Fall individuellen Identität eine nationale, sprachliche und letztlich auch religiös ausgerichtete Mehrfachidentität70 ins Spiel bringt. Diese

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wentum‹ argumentierend, betonen manche jüdische Autoren aus dem cisleithanischen Teil der Monarchie ihre Präferenz für das Deutsche. Von Franzos sind ähnliche Aussagen bekannt, nur richtet sich seine Abneigung gegen Polen. Mauthner, Ahasver, S. 16. Mauthner, Ahasver, S. 15. Mauthner, Ahasver, S. 16. Mauthner, Ahasver, S.  19. In ihrem Bedeutungsspektrum bleiben die Begriffe allerdings unerläutert. Indirekt ruft der Erzähler damit aber ein Oppositionspaar auf, das sich im Spannungsfeld von Emotion und Rationalität bewegt. Die Vaterlandsliebe drückt sich vor allem in Heinrichs deutsch-nationalem Patriotismus, der dem idealisierten Konstrukt eines liberalen Einheitsstaats geschuldet ist, seine Heimatverbundenheit in den Kindheitserinnerungen und der Liebe zu seinem Großvater aus. Mauthner, Ahasver, S. 16. Horch, Erzählliteratur, S. 209. Der Protagonist Heinrich Wolff versteht sich in einem nicht-institutionellen und idealistisch überhöhten Sinn auch als Christ, ohne getauft zu sein.

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erweist sich für Heinrich später im deutschnationalen Umfeld Berlins jedoch als zunehmend problematisch. Und dies, obwohl eine deutschnationale Vorstellungswelt zunächst auch sein Denken bestimmt. Er idealisiert das aufstrebende, um staatliche Einheit ringende Deutschland, will an dessen Aufbau mitarbeiten und später im Deutsch-Französischen Krieg auch dafür kämpfen. Gerade durch seinen militärischen Einsatz scheint er das Fehlen familiärer Wurzeln in Deutschland kompensieren zu wollen, denn Deutschland ist nicht »das Land des Vaters« oder »dasjenige Land, in welchem [er] geboren und erzogen« wurde.71 Obwohl also die im Begriff »Vaterland« zum Ausdruck kommende unlösbare Verbindung von »genealogische[m] und topographische[m] Diskurs«72 in Heinrichs Fall nicht gegeben ist, beansprucht er zumindest das theoretische Konzept eines einheitlichen deutschen »Vaterlandes« für sich. Das führt nicht nur zu einer Distanzierung von seinem eigentlichen »Vaterland«, sondern vor allem von den Menschen, die dort leben. Das alte Prag und die Habsburgermonarchie verkörpern aus seiner Sicht einen Zustand des Verfalls, der Unentschiedenheit, der Unvereinbarkeiten und der (nationalen) Zwistigkeiten. In einer ebenfalls räumlich angeordneten und metaphorisch aufgeladenen Szene wird diese Dichotomie zwischen Deutschland und der Habsburgermonarchie in nuce beschworen  : Aus einem vorbeirollenden Wagenzug der kaiserlichen Truppen tönen in Anspielung an die babylonische Sprachverwirrung »fast alle Sprachen der Monarchie durcheinander«.73 Eine Militärmusikkapelle, die immer wieder die Kaiserhymne »Gott erhalte« spielt, animiert aber niemanden zum Mitsingen. Der öffentliche Raum ist nur erfüllt von einem zusammenhanglosen Stimmengewirr  : aus dem einen Wagen erklang ein recht wehmütiges slowakisches Volkslied, aus dem anderen surrte und knatterte […] ein italienischer Gassenhauer, dazwischen wetterten polnische und ungarische Flüche, und aus einem überfüllten Coupé dritter Klasse erklang gar zu den Tönen einer böhmischen Ziehharmonika die Weise ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹.74 71 »Vaterland«, in  : Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch (1811), zitiert nach Stephan Braese, Im Konflikt der Topographien  : Deutsche Sprachkultur von Juden in Europa, in  : Böhme, Topographien, S.  328–354, hier S.  345. Braese diskutiert in dem Abschnitt »Heines ›Vaterland‹« diese Begriffsdefinition im Zusammenhang mit Heinrich Heine, S. 344–347. 72 Braese, Im Konflikt, S. 345. 73 Mauthner, Ahasver, S. 14. 74 Mauthner, Ahasver, S.  14 f. Diese Passage lässt sich durchaus in Opposition zu einer überlieferten Bemerkung Mauthners lesen  : Ihm sei Bismarck jene Musik gewesen, deren Ruf er nach Berlin gefolgt sei. Vgl. dazu Weiler, S. 137  : »In this he acted in conformity with the prevailing



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Ein Nationenkonzept, das sich sowohl durch einen gemeinschaftlichen Ursprung der Bewohner eines Territoriums wie durch deren sprachliche und kulturelle Einheit auszeichnet,75 wird durch ein solches Szenario nachhaltig desavouiert. In Prag verdichtet sich dieser Eindruck der Fragmentarisierung noch einmal. 3.3 Ort der Herkunft  : Die Prager Josefstadt

Gleich im ersten Kapitel des Romans wird die alte Stadt in ihren räumlichen Codierungen als metaphorisch aufgeladene Gegenwelt zu Deutschland beschworen. Das ehemalige Prager Ghetto, das der Protagonist nach seiner Ankunft aufsucht, fungiert dabei in mehrfacher Weise als manifester Ausdruck einer Epoche des Untergangs. Bis 1781 hatten die Prager Juden im Ghetto, das erst 1852 als einer von fünf Bezirken in die Stadt eingemeindet wurde, gelebt.76 Das »dem guten Kaiser Josef mehr zum Dank als zur Ehre«77 offiziell in »Josefstadt« umbenannte Viertel wurde von der Bevölkerung allerdings auch weiterhin als »Judenstadt« bezeichnet. Darauf bezieht sich der Roman, als Heinrich nach siebenjähriger Abwesenheit auf die Frage, wie er in die Zaikerlgasse gelange, mit einem von ihm als abfällig interpretierten Gestus in die »Judenstadt« verwiesen wird.78 In dieser unscheinbaren, auf eine Wegweisung abzielenden Passage wird zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen räumlich konnotierter Vergessenheit und jüdischer Identität evident. Obwohl Heinrich den Großteil seines Lebens in Prag verbracht hat, ist ihm der Weg zum Haus seines über 90-jährigen Großvaters, seines einzigen noch lebenden Familienangehörigen, entfallen. In einer narrativen Parallelbewegung wird nun die Erinnerung Heinrichs an seine alte Heimat mit der räumlichen Annäherung an das großväterliche Haus allmählich wiederhergestellt. Die Wegstrecke, die der junge Mann an einem Sonntag in Prag ankommend vom Bahnhof in die Zaikerlgasse

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German attitudes of his time  : enthusiasm for the Reich and contempt for the Habsburg dual monarchy. Referring to Bismarck’s saying that people came to Berlin in order to hear military music free of charge, he wrote ›for me Bismarck was the music which called me to Berlin.‹«. Vgl. dazu etwa Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S.  500  : »Bezeichnungsmotivisch ist eine Nation demnach eine Gemeinschaft desselben Ursprungs  ; daran anschließend dann die Bedeutungskomponenten ›gleiche Kultur, Sprache usw.‹«. Johnston, Österreichische Kulturgeschichte, S.  451. Siehe weiterführend Ignát Hermann, Jos. Teige, Zickmund Winter, Das Prager Ghetto. Prag 1903, oder Egon Erwin Kisch, Die Abenteuer in Prag. Wien 1920. Mauthner, Ahasver, S. 19. Mauthner, Ahasver, S. 19. 1895 wurde das durch sieben Tore begrenzte Viertel, in dem zu dieser Zeit nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung jüdisch war, geschleift bzw. »assaniert«.

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zurücklegt, präsentiert sich ihm im Wechsel von Enge und Weite, Vertrautheit und Fremde, Vergangenheit und Gegenwart. Zunächst bewegt sich Heinrich in Richtung Altstadt. Auf dem ersten Stück Weges fühlt er sich als Teil der in die zahlreichen Kirchen strömenden Menschen integriert  : Er »schlenderte unter all diesen Kirchgängerinnen und ihren verliebten oder mürrischen Begleitern selbst wie ein Spaziergänger mit dahin.«79 Doch je näher er seinem Ziel kommt, desto abweisender und diffuser wirkt das Stadtbild auf ihn. Dessen anthropomorphe Züge scheinen den jämmerlichen Zustand der Bevölkerung, die später als »das Proletariat der ganzen Stadt«80 identifiziert wird, vorwegzunehmen  : Aus welchen Jahrhunderten stammten diese schmalbrüstigen, krummlinigen, triefäugigen Häuser und Häuschen, deren Dächer sich wie die Köpfe einer verschüchterten Schafherde übereinanderschoben, deren mißfarbene rissige Mauern allen Gesetzen der Baukunst zum Hohne noch aufrecht standen, deren winzige Fenster eher von feindlichen Kanonen hineingeschossen, als von einem vernünftigen Maurermeister vorbedacht erschienen  ?81

Das kurz zuvor als vertraut und harmonisch erlebte Zusammenwirken von Plätzen, Straßen, markanten Gebäuden und den sich gemessen bewegenden Menschen weicht einer chaotischen, fremdartigen Szenerie – hergestellt »wie durch die Künste eines Theatermaschinisten«82  –, in der Menschen, Stimmen, Gegenstände, Gerüche und Lärm eine undurchdringliche Masse bilden. Schließlich markiert ein »kleines Seitengässchen« für Heinrich nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Trennlinie  : »Der sonnige Morgen mit seiner Weihestimmung lag hinter ihm. Er war […] plötzlich in einer fremden Umgebung.«83 Die Erzählerposition bleibt im gesamten Roman heterodiegetisch, der Grad der Fokalisierung changiert in dieser Passage allerdings zwischen interner und Nullfokalisierung, wodurch die Wahrnehmungsperspektive Heinrichs (und die damit verbundenen negativen Bewertungen) noch intensiviert werden. Während im nichtjüdischen Teil der Stadt »alle Läden […] geschlossen«84 und nur die Kirchenglocken »mehr freundlich als feierlich« zu hören waren, ist im »›fünften Stadtviertel‹« »[j]eder Fußbreit Boden eine Trödelbude.«85 Doch die auf der Straße dargebotenen »Handelsabfälle« erscheinen dem Protagonisten 79 80 81 82 83 84 85

Mauthner, Ahasver, S. 17. Mauthner, Ahasver, S. 20. Mauthner, Ahasver, S. 20. Mauthner, Ahasver, S. 20. Mauthner, Ahasver, S. 20. Mauthner, Ahasver, S. 17. Mauthner, Ahasver, S. 20 f.



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unbrauchbar, »alt, ekelerregend und rostig«.86 Das Fragmentarische, das sich vor Heinrichs Augen entfaltet, besitzt nichts Einladendes  – im Gegenteil, es zerstreut und verwirrt ihn. Im Gewühl der Menge verliert sich zeitweise sogar die Erinnerung an früher Erlebtes, die ihn auf dem ersten Wegstück durch die Stadt noch freundlich gestimmt hatte. Die zum Kauf angebotenen, aber eigentlich unbrauchbaren Gegenstände verunstalten aus Heinrichs Sicht nicht nur den öffentlichen Raum, sie werfen auch ein Licht auf die gleichfalls beschädigt wirkenden Personen, die sie feilbieten  : »Schlüssel ohne Bart  – Schlüssel ohne Griff – Schlösser ohne Federn – Ofentüren ohne Angeln – durchlöcherte Kochtöpfe  – […] fingerlose[…] Handschuhe[…], zahnlose[…] Kämme[…], schreckliche[…] Zahnbürsten.«87 In dieser Atmosphäre, die »sich wie eine Krankheit auf Heinrichs Brust« wälzt, legen die Menschen ihr übliches (zivilisatorisches) Verhalten ab. Der Raum, den sie durch ihre bloße Anwesenheit konstituieren, verändert sie gleichzeitig  : »Tausende von Käufern drängten sich in dem krummen Gäßchen umher, [sie] benahmen sich nicht wie im Kaufmannsladen, sie stritten mit den Verkäufern wie Diebe um die Beute.«88 Die Enge der Gasse setzt sich schließlich im Hause von Heinrichs Großvater fort. Es erscheint ihm »bald finster wie ein Kerker, bald abenteuerlich wie ein Märchen«.89 Die Einrichtung mutet ihn an wie »Urväterhausrat, der Hausrat seltsamer Urväter.«90 Mit der Schilderung des Interieurs durch die Erzählerinstanz, die für Momente die ursprüngliche Fokalisierung zu ändern scheint, wird in wenigen Sätzen eine zwar im Dunkel der Geschichte bleibende Ahnenreihe der Familie aufgerufen. Doch Heinrich wird dadurch unmissverständlich an seine Herkunft und Vergangenheit erinnert. Gleichzeitig deutet sich im Erzählerkommentar schon das zukünftige Schicksal des Protagonisten an  : »Hier hatten sicherlich seit manchen Geschlechtern Leute gehaust, denen der Sinn für behaglich harmonische Abstimmung der Umgebung fehlte oder die darauf wie ewig Reisende Verzicht leisten mußten.«91 Der Erzähler wechselt wieder in die Nullfokalisierung und sieht nun in den »Symbole[n] in der Stube«,92 die wie »ein siebenarmiger Leuchter« eindeutig jüdisch codiert sind, die »Erklärung« für die als rätselhaft bezeichnete Anordnung der Dinge. In Ansehung eines »absonderlichen« Bildes offenbart sich schließlich Heinrichs völlige Be- und Entfremdung. Das Bild stellt »den Moses mit seinen Gesetzestafeln« dar. Es 86 87 88 89 90 91 92

Mauthner, Ahasver, S. 21. Mauthner, Ahasver, S. 21 f. Mauthner, Ahasver, S. 22. Mauthner, Ahasver, S. 23. Mauthner, Ahasver, S. 24. Mauthner, Ahasver, S. 24. Mauthner, Ahasver, S. 24.

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ist aber nicht gezeichnet, sondern besteht »aus geschickt zusammengestellten, in kleinster Zierschrift ausgeführten Buchstaben des hebräischen Alphabets  – denselben Buchstaben, welche doch wieder auf den Tafeln des Bildnisses ganz natürlich die Zehn Gebote in der Ursprache mitteilten.«93 Im gleichen Maße wie dem jungen Mann die hebräische Schrift unverständlich ist, entziehen sich ihm auch die »Geister dieses Heims«.94 Letztlich erweist sich diese physisch nicht nachweisbare Präsenz der Ahnen für Heinrich als ebenso unergründlich wie das »Natürliche« der »Behausung des Großvaters«, mithin der orthodoxen jüdischen Lebenswelt seiner Herkunft.95 Den eigentlich seit Kindertagen vertrauten Ort erfährt Heinrich nach Jahren der Abwesenheit als ungenügend und seltsam entrückt. Die Kinder- und Jugendzeit Heinrichs in Prag wird also im ersten Teil des Romans vor allem als räumliche Gegenwelt zu seiner Lebenssituation in Deutschland beschworen. Gleichzeitig ist im Bild der »Judengasse« jede räumliche und zeitliche Dynamik zur Gänze aufgehoben  : seit 7 Jahren hatte ihn nichts […] daran erinnert, daß er kein schlichter Mensch sein sollte wie alle andern auch, und nun, kaum daß er in der Heimat angekommen, sagte ihm der erste beste Unbekannte  : ›Dein Großvater wohnt in der Judenstadt. Von dort bist auch du hervorgegangen, da ist noch dein Vater geboren.‹96

Davon will Heinrich allerdings nichts mehr wissen. Der Großvater jedoch verhält sich bei aller religiösen Observanz seinem säkular eingestellten Enkel gegenüber als großzügig und tolerant  ; als Juden anerkennt er ihn gleichwohl nicht mehr.97 Nicht zuletzt aufgrund der Haltung des Großvaters erweist sich aus der Gesamtperspektive des Romans die beengte und eingeschränkte Welt des Prager jüdischen Viertels (welt)offener als das vermeintlich bürgerlich-liberale Berlin, in das Heinrich später übersiedelt. 3.4 Topologien des Wandels

Diese raum-zeitlich gefasste Dialektik, die in unterschiedlichen Episoden auf der Ebene der histoire und des discours verhandelt wird, zeigt sich in ihrer topologischen Komplexität in keinem anderen jüdischen Großstadtroman dieser 93 Mauthner, Ahasver, S. 24. 94 Mauthner, Ahasver, S. 24. 95 Mauthner, S.  24. Vgl. dazu Renate Löw, Raum, Kap.  3  : Die Geister des Raums, S.  53. Löw beschreibt mit Bezugnahme auf Michael Mayerfeld Bell unter diesem Aspekt die Aufladung eines Orts »zu einem heiligen oder einem profanen Ort.« 96 Mauthner, Ahasver, S. 19. 97 Mauthner, Ahasver, S. 29 f.



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Jahre ähnlich sinnfällig verarbeitet. Mit der zunächst positiven Schilderung der deutschen Metropole, die Mauthner als Gegenpol zu Prag wohl sehr bewusst als Hauptschauplatz der Romanhandlung gewählt hat, bezieht sich der Autor – unabhängig von seiner persönlichen Vorliebe für Deutschland – auf jene Faszination Berlins, der viele jüdische Schriftsteller seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erlegen sind. Berlin galt immerhin als Ausgangspunkt und Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Literarisch manifest wurde ein in diesem Zusammenhang relevantes Berlin-Bild, wie bereits dargestellt, erstmals in Salomon Maimons Lebensbeschreibung. Diesen historisch bedeutsamen Text kannte Mauthner, ja, er wollte ihn sogar neu edieren.98 Ein jeglicher Aufklärung widersprechendes Phänomen, dessen gesellschaftliche Breitenwirkung in der so genannten »Antisemiten-Petition«99 genau zu der Zeit, als Mauthner seinen Roman verfasste, augenfällig wurde, nahm seinen Ausgang nun allerdings ebenfalls in der deutschen Kaiserstadt. Als Reaktion darauf konstatierte die Berliner Notablenerklärung 1880, dass in »unerwarteter und tief beschämender Weise […] an verschiedenen Orten, zumal den größten Städten des Reichs, der Racenhaß und der Fanatismus des Mittelalters […] gegen unsere jüdischen Mitbürger« gerichtet sei.100 Dieser an realen Vorgängen sichtbar gewordenen Ambivalenz Rechnung tragend, entwirft Mauthner in seinem Roman das Berlin der Gründerzeit aus einer jüdischen Perspektive nicht nur als Ort und Sinnbild bürgerlicher ›Heilserwartung‹, sondern auch als Ort der existenziellen Bedrohung. Beide Varianten sind dabei durch unterschiedliche topographische Koordinaten narrativ geformt. Gleichzeitig erweisen sich die innerhalb dieses Spannungsfeldes angesiedelten topologischen Dimensionen der Großstadt in ihren kulturellen, sozialen und politischen Ausprägungen als hochgradig semantisiert. Als auffälligstes Merkmal muss in diesem Zusammenhang die raum-zeitliche Konstruktion der im Text beschriebenen Wohnungen, Häuser, Stadtviertel und  98 Mauthner an Clara Levyson, Brief vom 26.04. 1906  : »Es ist doch das wahrste und – unfreiwillig – lustigste Judenbuch, das je geschrieben wurde  ; […] Ich habe Lust, nachdem ich es endlich auf einem so seltsamen Umwege ›entdeckt‹ habe, es zur Erinnerung neu herauszugeben. Wenn mir niemand zuvorkommt«. Zitiert nach Weiler, S. 146. Tatsächlich hat Jakob Fromer Maimons Lebensbeschreibungen 1911 wieder einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.  99 Diese in Berlin initiierte Petition wurde ab 1880 von ca. 225.000 Personen unterzeichnet. Vgl. dazu Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente. Berlin 1995, S.124. 100 Manifest der Berliner Notabeln gegen den Antisemitismus vom 12. November 1880, in  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. 552. Siehe auch Peter Pulzer, Die Wiederkehr des alten Hasses, in  : Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit, Bd. 3, S. 203. Über die autobiographischen Hintergründe bezüglich der Erfahrungen Mauthners mit dem Antisemitismus in Prag siehe Lütkehaus, Nachwort, in  : Mauthner, Ahasver, S. 375 f.

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Straßen gesehen werden. Die daran sichtbar gemachten äußeren Wandlungsprozesse verweisen nicht zuletzt auf den engen Zusammenhang zwischen narrativer Topographie und Identitätsdiskurs. Auf der Ebene des discours aber manifestieren sich darin sozial-hierarchische Beziehungen zwischen Wohlhabenden und ökonomisch Schwachen, zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern, zwischen Juden und Nichtjuden  ; andererseits werden in der ›Besetzung‹ bzw. Inbesitznahme von Räumen und Orten gesellschaftliche Positionen überhaupt erst ausverhandelt. Dabei sind drei qualitativ unterschiedliche Arrangements im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Raum zu beobachten  : Manche Figuren, wie Heinrichs Großvater, der Berliner Arzt Dr. Friedmann, der schwärmerische David alias Oswald Fränkel oder die adelige Familie von Auenheim, leben in einmal festgelegten Ordnungen über lange Zeit in ihren Räumen und Häusern. In ihrer »platzierten Körperlichkeit«101 erscheinen sie nicht nur wie ein immanenter Bestandteil des Raums, den sie bewohnen, sondern sie behaupten damit unabhängig von dessen Ausstattung auch eine Form von unerschütterlicher Identität und Glaubwürdigkeit. Während der in seiner wackeligen Prager Unterkunft beheimatete Großvater Heinrichs für ein vormodernes orthodoxes Judentum steht, lebt der liberale Dr. Friedmann mit seiner Familie in einer bescheidenen, über Jahre hin unveränderten Wohnung in Berlin.102 Der mit einer konvertierten Frau verheiratete David/Oswald Fränkel hat sich in seinem selbst gezimmerten Gedankengebäude ebenso eingerichtet wie in seinem »winzigen einstöckigen Häuschen, dessen Vordermauern beinahe noch mehr schmutzig als schwarz, noch mehr zerdrückt als geneigt aussahen.«103 Doch in dessen Inneren eröffnet sich wider Erwarten »ein großes, helles, vor allem […] so wohnliches Gemach«. Allein in seiner anspruchslosen Ausgestaltung verweist es auf die integrative Weltsicht seiner Bewohner  : »Holzschnitte, Photographien und schlechte Öldruckbilder, in der Mitte links ein Holzschnitt und Michelangelos Moses, rechts eine schreckliche Nachbildung von Raphaels sixtinischer Madonna.«104 In dieser »Nettigkeit der tiefen niedrigen Stube« wohnt und arbeitet der Schneider, dessen idealistisches Lebensziel es ist, »eine neue Religion [zu] gründen«. Wo Christentum und Judentum »auf halbem Wege zusammentreffen, da will [er] eine neue Kirche bauen«.105 Fränkel lebt mit seiner kleinen Familie sehr 101 Löw, Raum, S. 46. 102 Mauthner, Ahasver, S. 294  : »[H]ier hatte sich nichts verändert. […] Ja, hier war alles noch wie einst.« 103 Mauthner, Ahasver, S. 147. 104 Mauthner, Ahasver, S. 149. 105 Mauthner, Ahasver, S.  147. Dass diese Vorstellungen Fränkels durchaus eine Verbindung zu außerliterarischen Referenzen erkennen ließen, belegt ein Hinweis Stefan Hocks auf Leopold Kompert, der zeitweise »sogar – so seltsam es klingen mag – in ferner Zukunft auf eine Kirchen­



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bewusst in der Nähe der Klosterstraße, in diesem »Winkel« Berlins, in dem sich (jüdische) Traditionalität in einem sich stetig modernisierenden Umfeld behaupten muss. Heinrich sieht sich dort bei seinem ersten Besuch zunächst »wie durch Zauberei in seine Vaterstadt zurückversetzt«. Obwohl in diesem Stadtteil »hebräische Inschriften verrieten, daß hier eine altgläubige jüdische Bevölkerung im engen Anschluß aneinander hauste und von den kosmopolitischen Gewohnheiten anderer Stadtteile nichts wissen wollte«, lassen allerdings schon »mancherlei Anzeichen« erahnen, dass in den Gassen mit den »zahlreichen Speisehäusern und Schlächterläden«, auf denen »die drei bekannten hebräischen Buchstaben« prangen, »bald neuen uniformen Häusern Platz« gemacht werden soll.106 Diese topographischen Zeichen eines bevorstehenden Wandels korrespondieren mit dem Verhalten der in diesem Viertel lebenden Menschen. Denn im Gegensatz zu Prag erscheinen einzelne Vertreter der Berliner »altgläubige[n] jüdische[n] Bevölkerung« durch ihre Umgebung schon einigermaßen korrumpiert. Am sinnfälligsten wird dieses Phänomen an der Figur des spitzbübischen, aber gutmütigen Samuel Schöpps aufgezeigt. Er beklagt, als Schnorrer in Berlin nicht mehr wie ein Mensch leben zu können.107 Ob seine Vorwürfe, dass »sogar in den koscheren Wirtshäusern die Speisegesetze nicht mehr beobachtet werden«,108 den Tatsachen entsprechen, lässt der Erzähler offen. Allein, dass sie formuliert werden können, zeigt eine gewisse Brüchigkeit und Gefährdung traditionell jüdischen Lebens in Berlin an.109 Das deckt sich auch mit dem Hinweis der heterodiegetischen Erzählerinstanz anlässlich Heinrichs erstem Gang durch das Viertel, dass aus den Augen der »vielen verkümmerten blaßgelben Gesichter das konfessionslose Elend herausblickte.«110 So erweist sich die Gegend um die Klosterstraße gewissermaßen als topographische Schnittstelle im Text, die verschiedene Optionen für einen noch nicht eindeutig vorgezeichneten Wandel verheißt. Am Ende erfährt der Leser, dass die von Fränkel ersehnte Veränderung, eine umfassende Annäherung von Judentum und Christentum zu erreichen, jedenfalls in weite Ferne gerückt ist. Denn in der Wohnung des Schneiders wird Clemence von einem durch das Fenster geworfenen Stein tödlich getroffen. Mit diesem barbarischen Akt verlieren aus jüdischer Sicht die Behausung Fränkels und das Haus der Familie Auenheim, letztlich aber ganz Berlin, ihre Funktion als Bastionen positiver Transformationsmöglichkeiten. In der Folge ›verlassen‹ union zwischen Christen und Juden gehofft« hatte. Siehe Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, Bd. I, S. LVIII. 106 Mauthner, Ahasver, S. 143. Gemeint sind die hebräischen Buchstaben für »koscher«. 107 Mauthner, Ahasver, S. 145 und S. 165 f. 108 Mauthner, Ahasver, S. 144. 109 Mauthner, Ahasver, S. 166  : »Die Reformierten verachten uns alte, gute, treue Juden  !« 110 Mauthner, Ahasver, S. 143.

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jene jüdischen Figuren, die an eine hoffnungsvolle Zukunft in Deutschland geglaubt hatten, die Stadt  : Heinrich lässt sich im Duell erschießen und stirbt unter freiem Himmel, während David/Oswald, »dem die Erde ganz und gar nicht mehr gefällt«,111 beschließt, nach Amerika auszuwandern. Das Vorhaben, eine konstruktive, wohlwollende und respektvolle Beziehung zwischen »Christenheit« und Juden herzustellen, ist in Berlin und in Deutschland auf der persönlichen, der weltanschaulichen, der sozialen und der politischen Ebene gescheitert. Die positiv charakterisierten Figuren im Text zeichnen sich durch einen hohen Grad an identitärer Festigkeit aus, die – mit Ausnahme von Heinrichs Situation  – auch räumlich manifest wird. Instabile Charaktere müssen diese Sicherheit und ein entsprechendes räumliches Umfeld erst herstellen. In diesem Zusammenhang spielt sowohl »die Konstitution von Räumen im Sinne bewegter (An)Ordnungen […] als auch […] die Platzierung an einmaligen, meist markierten und benennbaren Orten«112 eine wesentliche Rolle. Als eindrücklichstes Beispiel kann diesbezüglich das Vorgehen einer Jugendfreundin Heinrich Wolffs gelten. Die ebenfalls aus der Prager »Judenstadt« stammende Tina Kolliner heiratet in Berlin den soliden und wohlhabenden Geschäftsmann Julius Feigelbaum. In der großbürgerlichen Umgebung Berlins verwandelt sich Tina unversehens von einer provinziell wirkenden, bescheidenen Frau zu einer egoistischen und profilneurotischen Neureichen, deren hemmungslosem Treiben ihr Ehemann kaum etwas entgegenzusetzen weiß. Da sich Tinas Selbstbewusstsein einzig aus der Anerkennung fremder Personen speist, gibt sie in ihrem »prächtige[n] Haus [in] der Tiergartenstraße«,113 in dem nichts mehr an ihre jüdische Herkunft erinnert, große Empfänge. Doch rasch verliert sie den Überblick, als immer »reicher, immer ungezwungener […] die Welt durch ihre Salons« rauscht.114 Das Fließende, Unstetige dieses Besucherstroms verhindert allerdings die Entwicklung tragfähiger Beziehungen der Menschen untereinander  ; darüber hinaus zeigt sich darin das wenig authentische Verhältnis der Figuren zu den von ihnen bewohnten Räumen. Dementsprechend kommt dem gutmütigen Hausherrn Julius Feigelbaum nicht nur auf der Ebene der erzählten Familiengeschichte im Spannungsfeld zwischen seiner Frau und seinem Vater eine schwache Stellung zu. Seine marginale Position im Gesamtgefüge der Gesellschaft wird auch in seiner mangelnden Autorität als Hausherr angedeutet. Er empfängt zahllose Gäste, die er überhaupt nicht kennt, und steht dabei un111 Mauthner, Ahasver, S. 371. Dieser von Fränkel gesprochene Satz bildet zugleich den Schluss des Romans. 112 Löw, Raum, S. 46, [Kursivstellung im Original]. 113 Mauthner, Ahasver, S. 72. 114 Mauthner, Ahasver, S. 73.



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beholfen »wie ein höflicher Portier« an der Eingangstür. Als schließlich »das Geldfieber ins Land«115 kommt, empfinden »die neuen Geldmänner« den Luxus der Feigelbaums bald »als ganz gewöhnlich«.116 So sieht sich Tina Feigelbaum gezwungen, ihre repräsentative Villa neu und noch prachtvoller zu gestalten. Die Geldmittel ihres Mannes erlauben es ihr nun sogar, »ihre kühnsten Pläne« auszuführen  : Auf einem benachbarten Grundstück lässt sie Raum schaffen für »einen feenhaften Wintergarten, für ein Badehäuschen und […] sogar für ­einen kleinen Reitplatz […], auf welchem [sie] im köstlichen Amazonenkleid […] Reitunterricht nehmen konnte.«117 Bei der Einrichtung ihres neuen Salons platziert sie nicht nur die Gegenstände und Möbel, sondern schließlich auch die Menschen  : Das Haus war ein wunderbares, künstlerisch abgestimmtes Interieur, es fehlte nur die Staffage, die geeigneten Menschen. Tina aber war jetzt gewitzigt. Kaum ein Dutzend von ihren bisherigen Gästen wurde mit Einladungen beehrt. Dafür hatte sie in der Schweiz und in Ostende recht brauchbare Bekanntschaften gemacht, von denen sich einige verwenden ließen.118

Das Haus der Feigelbaums avanciert mit diesem Arrangement zu einem integralen Bestandteil ihrer inszenierten Biographie, die ihre wesentlichen Impulse durch die »materielle Platzierung sozialer Güter und Menschen« erhält.119 Dabei wird durch symbolische Grenzziehungen festgelegt, wer im Hause willkommen ist und wer nicht. Im selben Maße, wie die Villa Feigelbaum durch entsprechende (An-)Ordnungen Tinas allmählich ihre Funktion als Wohnraum des kinderlosen Ehepaars verliert, wird sie als Faktor fremdbestimmter Identitätsbildung wirksam. Doch die durch Pomp, Luxus und zweckorientierte Beziehungen vermeintlich geschaffene Sicherheit und Anerkennung erweist sich zuletzt als trügerisch. Zuerst ziehen sich die »minderbemittelten jüdischen Familien, auf deren Freundschaft [Tina] keinen Wert legte«,120 von ihr zurück. Stattdessen empfängt sie unwissentlich einen immer größer werdenden Kreis von verkrachten Existenzen und Antisemiten, die sich auf Kosten der jüdischen Familie bereichern, um sie gleichzeitig zu diskreditieren und zu beschädigen  : »Wissen Sie Dokterchen, was können wir denn Besseres tun, als diese reichen 115 Mauthner, Ahasver, S. 73. 116 Mauthner, Ahasver, S. 74. 117 Mauthner, Ahasver, S. 74 f. 118 Mauthner, Ahasver, S. 75. 119 Löw, Raum, S. 47. 120 Mauthner, Ahasver, S. 77.

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Juden arm trinken  ?«121 Am Ende hat Tina das Vermögen ihres Mannes durchgebracht, die Familie ist materiell und gesellschaftlich ruiniert. Die veränderte Wohnsituation kündet weithin sichtbar vom Ausgang dieser Verfallsgeschichte  : »Frau Tinaleben [wird] sich ein bescheidenes Zimmer suchen müssen«.122 Als dritte Variante, die auf eine topologische Dimension von Wandlungsprozessen abhebt, ist die im Roman geschilderte Transformation des öffentlichen Raums in den Blick zu nehmen. Sie wird zum einen erzählt als gezielte Umgestaltung konkreter Örtlichkeiten, beispielsweise wenn Schaufensterauslagen neu arrangiert werden,123 zum anderen als Ergebnis diskursiver Veränderungen, die nur noch ansatzweise aktive Akteure erkennen lassen. In diesem Zusammenhang tritt prominent und stellvertretend für alle im Roman zu Wort kommenden Antisemiten der sich zum »Reformator«124 stilisierende Doktor Stropp in Erscheinung. Dessen erklärtes Ziel stellt die Ausweisung aller Juden »aus Germaniens Gauen«125 dar. Um das zu erreichen, sucht er Geldgeber für seine propagandistische Zeitung, die »die Höflichkeit und die Steuern abschaffen, den Pauperismus vernichten, die Juden vertreiben und Deutschland in eine neues Utopien verwandeln sollte.«126 Mit seinem Kampfblatt »Arminius« will er seinen »antijüdischen Feldzug«,127 dessen Etappen er schon genau vorhersieht, beginnen  : ›Da komme ich mit einem neuen Unternehmen. Was wir alle uns erzählen, wenn zufällig kein Jude unter uns ist, das lasse ich drucken und füge manches hinzu, was nur mir einfällt. Täglich bringe ich Räubergeschichten aus dem jüdischen Lager. Ich gründe Vereine, die es sich zur Aufgabe machen, Juden zu ärgern. Ich überrede Gastwirte, keinen Juden mehr in ihr Lokal einzulassen. Und was die Gastwirte tun und was in den Vereinen geredet wird, das ist wieder Stoff für meine Zeitung. Und meine Zeitung bestärkt die Leute in ihrem Tun. So stärken wir einander gegenseitig.‹128

Stropps Plan zielt auf die Wechselwirkung von medialer Propaganda und diskriminierendem Handeln, mithin auf die diskursive Hervorbringung gesellschaftlicher Fakten, die hier von Beginn an auf die räumliche Ausgrenzung und den sozialen Ausschluss der jüdischen Bevölkerung angelegt ist. Und tatsächlich ge121 Mauthner, Ahasver, S. 110. 122 Mauthner, Ahasver, S. 293. 123 Mauthner, Ahasver, S. 271. 124 Mauthner, Ahasver, S. 163. 125 Mauthner, Ahasver, S. 162. 126 Mauthner, Ahasver, S. 163. 127 Mauthner, Ahasver, S. 236. 128 Mauthner, Ahasver, S. 237 f.



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lingt es, innerhalb eines Jahres die Stadt zu verändern. Der Autor referiert mit dem der Figur Stropp und seinen Konsorten zugewiesenen Handlungsstrang aber nicht nur auf die außerliterarischen Begebenheiten seiner Zeit, die sich im Zuge der Debatten um die »Antisemiten«-Petition und den Antisemitismusstreit in Deutschland ereigneten. Darüber hinaus beschreibt er ganz allgemein die Wirkmächtigkeit diskursiver Strategien, die hier in der engen Relation von erzähltem Raum und dem Agieren der Figuren sowie der anonym bleibenden städtischen Bevölkerung zum Ausdruck kommt.129 Mit der symbolischen Inbesitznahme von öffentlichen Plätzen der Stadt durch antisemitische Versammlungen versucht Stropp, diese Räume einseitig und seinen persönlichen Vorstellungen entsprechend zu organisieren. Es entsteht eine unsichtbare (rassistisch motivierte) Blockade, wodurch der Raum für Juden nicht mehr gefahrlos begehbar ist. Das erfährt Heinrich, als er, zurück in Berlin, verschiedene Lokale aufsucht  : »Und Mittags und Abends besuchte Heinrich wenig bekannte Gasthäuser aller Stadttheile und trank sein Bier inmitten von Gruppen, die über die Existenzberechtigung der Juden stritten.«130 Der öffentliche Raum wird zuerst diskursiv belegt und in der Folge berufen sich all jene, die sich auf der Seite der (nicht konkret benennbaren) Macht wähnen, auf diese Markierung  : »Am nächsten Tage geriet Heinrich in ein Bierhaus, in welchem ein wilder Haufe von Menschen durcheinander schrie […]. Es waren ›Führer‹ darunter […].«131 Die Verfügungsgewalt über die Mittel und Strategien innerhalb dieses sich formierenden Machtgefüges bleibt in Mauthners Roman ausnahmslos den Vertretern des Antisemitismus vorbehalten. So gewinnt im eigentlichen Sinne des Worts die »Antisemiten-Bewegung überall Boden«  ;132 Restaurants, Caféhäuser, Buchläden, Hotels, Plätze und Straßen erweisen sich als besetzt. Ein Vergleich mit zeitgenössischen Zitaten zeigt, wie nah sich der Autor in der literarischen Darstellung der antisemitischen Bewegung an der Realität orientierte – und wie sensibel er die Entwicklung späterer Jahre vorwegnahm. So vermerkt Leopold Auerbach acht Jahre nach Erscheinen des Romans  : Harmlos die Straße entlang gehenden Personen jüdischen Aussehens wurden von gut und schlecht gekleideten Leuten ohne irgendeine Veranlassung die Worte ›Jude‹, ›verfluchter Jude‹, ›frecher Jude‹, auch der bezeichnende Ausruf ›Hep-Hep‹ zugerufen. 129 Bourdieu würde davon sprechen, dass der Habitus das Habitat formt. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in  : Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen. Frankfurt am Main, New York 1991, S. 25–34, bes. S. 32. 130 Mauthner, Ahasver, S. 296. 131 Mauthner, Ahasver, S. 297. 132 Mauthner, Ahasver, S. 249.

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Antisemiten in besserer Lebensstellung zogen es vor, statt dieser direkten Beschimpfung unter einander in öffentlichen Lokalen und Kommunicationsmitteln oder auf der Straße, wenn ein Jude sich in Hörweite befand, die Juden zu schmähen, um so indirekt denselben zu kränken.133

Mauthner hebt die Anonymität der Straßenszenen jedoch immer wieder auf. Die handelnden Figuren sind alle in irgendeiner Weise miteinander bekannt, befreundet oder verfeindet. Heinrich kennt beispielsweise den Journalisten Stropp und dessen Finanzier, der wiederum Heinrichs Konkurrent in Liebesangelegenheiten ist. Durch die Beziehungen der Figuren untereinander erscheinen die Folgen der geschilderten Massenhysterie für das Individuum besonders plastisch. Dass es von der verbalen Propaganda zur tätlichen Gewalt nur ein kleiner Schritt ist, wird zuerst am Beispiel des Schuljungen Paul, Sohn des Arztes Dr. Friedmann, evident. Paul, der immer »Primus« in seiner Klasse gewesen ist, wird unvermutet vom Lehrer »abgesetzt« mit der Begründung, »ein ›Mauschel‹ dürfte in einer christlichen Klasse nicht regieren.« Der Junge wird daraufhin von seinen Mitschülern »jämmerlich verprügelt« und läuft dann aus Angst »vom Schulgebäude bis zum Wasser [und springt] von der Mitte der Brücke« hinein.134 Eine ähnliche Ausschlusserfahrung machte Heinrich Wolff als Kind mit einem katholischen Ordenslehrer in Prag.135 Dass nun auch Berlin Schauplatz solcher Übergriffe wird, kann Heinrich Wolff nicht begreifen  ; die einst vertraute Stadt entzieht sich ihm  : »Viele Tage lang irrte Heinrich in der Stadt umher, als wäre er ein Fremder im Orte, besäße keinen Freund da, keinen Beruf und keine Heimat. Die Stadt schien ihm verwandelt.«136 Der Stadtraum erweist sich also als nicht neutral, er ist offen für unterschiedlichste Zuweisungen. Das zeigt sich auch in der immanenten Wertung der mit Prag und Berlin ursprünglich assoziierten räumlichen Attribute von Enge und Weite und  – damit verbunden – mit Grenze und Grenzenlosigkeit, die keineswegs so eindeutig ist, wie es zu Beginn des Romans aus Heinrichs Perspektive suggeriert wird. Denn wie Heinrichs erster Eindruck der Bedrohung durch das »fünfte Stadtviertel« Prags 133 Leopold Auerbach  : Das Judentum und seine Bekenner. [o. O.] 1890. Zitiert in  : Rürup, Jüdische Geschichte in Berlin, S. 127. Hep-Hep galt als antijüdischer Hetzruf bei den Unruhen von 1819. Er wurde u. a. als Anagramm interpretiert für »Hierosolyma est perdita«. Die ursprüngliche Bedeutung ist ungeklärt, siehe dazu auch  : Krieger, Antisemitismusstreit, S. 10, Anm. 69. 134 Mauthner, Ahasver, S. 296. 135 Mauthner, Ahasver, S. 37 ff. Die Passage bezieht sich auf das Prager Piaristengymnasium  ; laut Stefan Hock wurden die meisten Gymnasien in Österreich im 19. Jahrhundert über mehrere Jahrzehnte von Piaristen geleitet. Vgl. dazu Stefan Hock, Einleitung, in  : Komperts Werke, Bd. I, S. XI. 136 Mauthner, Ahasver, S. 291.



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allmählich einer Vertrautheit weicht, so entpuppt sich im Gegenzug das fiktive Berlin, prototypischer Ort der Moderne, als Ort der Unbeständigkeit. Tempo und Schnelllebigkeit, geläufige Kategorien moderner Urbanisierungstendenzen, beziehen sich hier jedoch nicht auf technische Innovationen, sondern auf politische, soziologische und weltanschauliche Entwicklungen. Die Moderne präsentiert sich als ein Wechsel von Moden  ; und dies allerdings unter gefährlichem Vorzeichen  : Sie sind unseren kultivierten Ländern ein wenig entfremdet und werden einige Zeit brauchen, um sich in den Gewohnheiten unserer Zivilisation wieder zurechtzufinden. Was Sie so in Zorn versetzt hat, ist bei uns die sogenannte Tagesfrage. […] Aber die große Masse, welche heute von der Tagesfrage spricht, wie sie gestern von der vierten Dimension gesprochen hat und morgen vom großen Kometen sprechen wird, die weiß nicht, was sie will. […] So ist es Mode geworden, auf die Juden zu schimpfen. Aber glauben Sie einem alten Manne, bester Herr, auch diese Mode wird vorübergehen, wie alle Moden vorübergegangen sind, nachdem die nötigen Opfer gefallen  ; die Krinoline, die Guillotine, alles hat seine Zeit.137

Die ursprüngliche Offenheit Berlins verkehrt sich mit fortschreitender Handlung in ihr Gegenteil. Der städtische Lebensraum verengt sich mit dem Auftreten der neuen »Bewegung« für den Protagonisten schlagartig  ; an nahezu allen Örtlichkeiten der Stadt stößt er auf neu errichtete, imaginäre Schranken. Er wird permanent darauf hingewiesen, unerlaubt Grenzen überschritten bzw. durchbrochen zu haben. Dabei hatte sich der Stadtraum Berlin aus der Wahrnehmungsperspektive der jüdischen Figuren zunächst als durchweg positiv semantisierter Raum präsentiert, der in der urbanen Anonymität jenseits von Jüdischem oder Nichtjüdischem gruppenunabhängige individuelle Identität(sfindung) zuzulassen schien. Topologisch greifbar wird das in einem Kontext, der schon aus Ghettogeschichten bekannt ist. Die in die Stadt zugewanderten Figuren können vergessen  : ihre Herkunft, ihre Familie, ihre alten Namen, ihr Judentum.138 Doch die Erinnerung an die ›vor-städtische‹ Zeit wird gewissermaßen gegenläufig wiederum durch ein räumlich konnotiertes Bild aufgerufen. Als sich Heinrich anlässlich eines Besuchs bei David Fränkel plötzlich 137 Mauthner, S.268 f. 138 Über die Implikationen, die dem Namen und dem Vergessen oder Ablegen des Namens eingeschrieben sind, siehe Heidrun Friese, Identität  : Begehren, Name und Differenz, in  : Assmann, Friese, Identitäten, S. 24–44, v. a. S. 27  : »[…] Und dort, wo der Name herkömmlicherweise eine Genealogie, also eine Herkunft, festlegt und deklamiert, wird ›Nicht-Sein‹ nun zum Garanten der Errettung im namenlosen Namen […]«.

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vor einem koscheren Speisehaus wiederfindet, »stand die Gestalt des ewigen Juden vor ihm, wieder starrten ihn die großen müden rätselvollen Augen an. Spielte ein Kobold mit seinem Leben, daß es ihn immer wieder mitten in diese enge Welt trieb  ?«139 Der Erzähler knüpft mit dieser Passage nicht nur an den Romantitel und eine dem Eingangskapitel vorangestellte Vorrede an,140 sondern auch an die topologischen Dimensionen des Wandel(n)s, die sowohl im Ahasver-Mythos wie auch in dessen vielgestaltigen und lange zurückreichenden literarischen Traditionen eingeschlossen sind.141 Damit aktualisiert der Erzähler gleichsam die mythologischen und tradierten intertextuellen Implikationen, ohne dass er auf der Ebene der histoire das Motiv explizit weiterführt. So trägt er in gewisser Weise der Unmöglichkeit der konzeptionellen Erweiterung dieser Figur Rechnung, denn nicht ihre verschiedenen Gestalt(ung)en,142 ihre Orientierungen oder die Haltung zu ihrer Umgebung, sondern die ihr zugewiesene Fremdheit143, ihr unaufhörliches Voranschreiten als »Weltwanderer«,144 ihr Nicht-Ankommen-können und ihre existenzielle Unbehaustheit definieren den Ahasver. Unabhängig von dessen unterschiedlichen textimmanenten (sinnbildlichen) Deutungen und Wertungen, würde poetologisch betrachtet mit der Ankunft des Ahasver der Stoff aufgelöst, die Erzählung über ihn an ihr Ende kommen. Darauf bezieht sich der extradiegetische Erzähler in der Vorrede zu der eigentlichen Romanhandlung, wenn er davon spricht, dass nach der Französischen Revolution Ahasver »glaubte, er wäre tot. Und wir alle hielten ihn für

139 Mauthner, Ahasver, S. 144. 140 In der Vorrede installiert der extradiegetische Erzähler Wotan als Doppelgänger des Ahasver  : »Zwei Weltwanderer ziehen durch die Lande, heute wie vor tausend Jahren, in ihren Gesichtern den Bruderzug der milden Trauer. Wuotan heißt der eine Wanderer, Ahasver der andere.« (S. 11). 141 Aus der mittlerweile kaum zu überblickenden Forschungsliteratur zu diesem in den europäischen Literaturen vorkommenden Motivkomplex sei hier v. a. verwiesen auf Alfred Bodenheimer, Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002. Primärtexte (in Auszügen) versammelt der Band  : Körte, Stockhammer, Ahasvers Spur. Fritz Mauthner hatte schon 1879 in seiner bekannten parodistischen Sammlung Nach berühmten Mustern unter dem Titel »Der unbewußte Ahasverus oder das Ding an sich als Wille und Vorstellung. Bühnen-Weh-Festspiel in drei Handlungen« eine kurze, als Satire auf Richard Wagner angelegte Ahasver-Szene publiziert. 142 Mauthner, Ahasver, S. 12  : »Er hat seinen alten Mantel und Hut abgelegt, und auch den langen Bart trägt er nicht. Er geht gekleidet wie alle Welt.« 143 Vgl. dazu z. B. Günther A. Höfler, Unsterblich fremd. Uneigentliche Aspekte des Ahasvermotivs, in  : Klaus Hödl (Hg.), Der Umgang mit dem »Anderen«  : Juden, Frauen, Fremde. Wien, Köln, Weimar, S. 11–22. 144 Mauthner, Ahasver, S. 11.



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tot.«145 Mit der Ausrufung der »allgemeinen Menschenrechte« hätte sich die Erlösung Ahasvers abgezeichnet. Doch die Tatsache, dass »die alte Bosheit […] wieder gegen ihn« aufsteht, löst nun den erzählerischen Impuls aus  : Darum will ich die Geschichte eines schlichten Mannes erzählen, der die Züge des neuen Ahasver trägt, der sein Schicksal erduldet, und für den ich Teilnahme und Achtung gewinnen möchte. Denn auch der neue Ahasver stirbt nicht mit dem Tode des einzelnen Juden.146

Das bedeutet vom Ende der Erzählung her gesehen, dass mit dem Tod des Heinrich Wolff dessen Geschichte als »neuer Ahsaver« gleichwohl noch zu keinem Ende gekommen ist. 4. Georg Hermann Jettchen Gebert (1906) Georg Hermann, eigentlich Georg Borchardt147 (1871–1943), Mitbegründer und von 1910–1913 erster Vorsitzender des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, galt bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten als Erfolgsschriftsteller. Bis in die 1930er-Jahre hatte er eine große Leserschaft, einige seiner Romane erreichten zahlreiche Auflagen mit weit über 100.000 Exemplaren.148 Wie viele andere jüdische Autoren wurde auch Georg Hermann in mehrfacher Hinsicht Opfer der Nationalsozialisten. Auf die 1933 einsetzende Ausgrenzung seiner Person und die Bücherverbrennung hatte er schon im selben Jahr mit der Emigration in die Niederlande reagiert.149 Dort konnte er noch unter prekären 145 Mauthner, Ahasver, S. 12. 146 Mauthner, Ahasver, S. 13. 147 Georg Borchardt nahm den Vornamen des Vaters als Künstlernamen an. Sein Bruder Ludwig Borchardt war Ägyptologe und Archäologe, der Schriftsteller Rudolf Borchardt stammte ebenfalls aus der Familie. Über die Biographie Georg Hermanns informieren die einschlägigen Lexika und Nachschlagewerke zu deutsch-jüdischer Literatur. Siehe u. a. Hermann, Georg, in  : Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 10, red. Leitung  : Renate Heuer, unter Mitarbeit von  : Gudrun Jäger, Manfred Pabst, Birgit Seemann, Siegbert Wolf, [Archiv Bibliographia Judaica], sowie Gert und Gundel Mattenklott, Georg Hermann. Ein Porträt, auf  : https://web.archive. org/web/20141209075508/http://www.kuenstlerkolonie-berlin.de/bewohner/hermann.htm (letzter Zugriff  : 05.03.2017). 148 Eine Gesammelte Werkausgabe in fünf Bänden war 1922 erschienen (Berlin, Leipzig). 149 Vgl. dazu ausführlich Kerstin Schoor, »Was sollen wir Juden tun  ?«. Der Schriftsteller Georg Hermann zur Situation und den Perspektiven deutsch-jüdischer Existenz nach 1933, in  : Godela Weiss-Sussex (Hg.), Georg Hermann, deutsch-jüdischer Schriftsteller und Journalist 1871–1943, [= Conditio Judaica  ; 48]. Tübingen 2004, [S. 115]–S. 132.

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finanziellen Verhältnissen u. a. zwei Bände des fünfteiligen autobiographischen Romanzyklus Die Kette, Eine Zeit stirbt (1934) und Ruths schwere Stunde (1934), fertigstellen. Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1943 wurde Georg Hermann nach Auschwitz deportiert und ermordet.150 Seine Werke wurden nicht wieder aufgelegt und so geriet er in Vergessenheit. Insofern wirkte die nationalsozialistische (auch) kulturelle Kahlschlagmentalität über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus. Denn in der Nachkriegszeit erfolgte zunächst keine »Wiederentdeckung« dieses produktiven und sensiblen Schriftstellers,151 den Arpe Caspary nicht von ungefähr als einen Nachfolger Fontanes erkennt.152 Erst seit Mitte der 1990er-Jahre erinnerte man sich wieder an den Schriftsteller, Journalisten und Essayisten. Den wesentlichen Beitrag dazu leisteten Gert und Gundel Mattenklott. Ihre ambitionierte Unternehmung, eine auf 21 Bände angelegte Werkausgabe auch mit bislang unveröffentlichten Texten zu veranstalten, kann nicht hoch genug geschätzt werden.153 Als Kind einer alteingesessenen jüdischen Familie, der Vater war Kaufmann, hörte Hermann während seiner Studien an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität u. a. auch Vorlesungen bei Georg Simmel. Ob der Schriftsteller sich auch späterhin mit den Arbeiten des Soziologen – speziell jenen über das moderne Großstadtleben, die seit den ausgehenden 1890er-Jahren publiziert wurden,  – beschäftigte, ist ungewiss. Unabhängig davon sind von seinen über zwanzig Romanen und Erzählungen die meisten in Berlin angesiedelt. Berlin liefert auch in Hermanns teils verfilmten, teils dramatisierten Erfolgsromanen Jettchen Gebert (1906),154 dessen Fortsetzung Henriette Jacoby (1908) oder Kubinke (1910) sowie in seinem autobiographisch gefärbten Erstlingsroman Spielkinder (1896) aber 150 Als Todesdatum gilt der 19. November 1943. Ob der schwer kranke Hermann auf dem Transport aus dem niederländischen Internierungslager Westerbork nach Auschwitz gestorben ist oder direkt nach seiner Ankunft vergast wurde, ist nicht geklärt. 151 Ausnahmen bildeten Cornelis Geeraard van Liere, Georg Hermann. Materialien zur Kenntnis seines Lebens und seines Werkes, [Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur  ; 17], Amsterdam 1974, sowie Hans Otto Horch, Über Georg Hermann. Plädoyer zur Wiederentdeckung eines bedeutenden deutsch-jüdischen Schriftstellers, in  : Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, hg. v. Hans Otto Horch. Tübingen 1988, S. 233–253. 152 Arpe Caspary, Georg Hermann, in  : Kilcher, Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S. 220. 153 Gert Mattenklott, Gundel Mattenklott (Hg.), Georg Hermann. Werke und Briefe, Berlin 1996 ff. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhielt Hermann weiterhin durch Kerstin Schoor (Hg.), »… Aber ihr Ruf verhallt ins Leere hinein.« Der Schriftsteller Georg Hermann (1871 Berlin – 1943 Auschwitz). Aufsätze und Materialien, Berlin 1999, sowie Weiss-Sussex, Georg Hermann. 154 Georg Hermann, Jettchen Gebert. Berlin 1906. Im Folgenden wird zitiert nach der Ausgabe  : Georg Hermann, Jettchen Gebert, Berlin 1931 [1.–30.  Tausend der Volksausgabe, 129.– 129. Tausend der Gesamtauflage].



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weit mehr als nur den Schauplatz einer Handlung. Der Schriftsteller selbst deutete diesen Berlin-Bezug in dem Essay Weltabschied (1935) als die eigentliche Besonderheit in seinem Schaffen, da die Romane seiner Ansicht nach »so etwas wie berlinisch-märkische Heimatkunst waren und eine Geschichte der Berliner Juden in hundert Jahren umfassen.«155 Das Judentum sah der »jüdischer Religiosität entfremdet[e]«156 Hermann als eigentliche Dominante in seinen schriftstellerischen Werken, in denen »wohl 90 % jüdische Großstadtmenschen agierten«.157 Die Trias ›Berlin  – Heimat  – jüdische Großstadtmenschen‹ umreißt also aus der Sicht des Schriftstellers jene dominant räumliche Rahmung, die in seinen Texten als handlungsrelevant anzusehen ist.158 Gleichwohl ist mit dem Hinweis auf die Großstadt nicht automatisch die Jahrhundertwende-Metropole angesprochen. Vielmehr eröffnen die Romane Hermanns ein historisches und kulturelles Panorama seit der Biedermeierzeit,159 das die Entwicklung der preußischen Provinz- zur Weltstadt aus unterschiedlichen (jüdischen) Perspektiven nachvollziehbar werden lässt. Das eigentliche Interesse des Romanciers gilt aber nicht der Stadt als historischem oder (wahrnehmungs)ästhetischem Phänomen, sondern vor allem dem Alltagsleben der Menschen, die sie bewohnen und gestalten, die von ihr geprägt sind und die dort ihre Spuren hinterlassen – und sei es nur als verblichener biographischer Eintrag auf einem verwitterten Grabstein. Tatsächlich bilden ein paar Gräber auf einem nicht näher bezeichneten Berliner Friedhof den Ausgangspunkt für die Geschichte von Jettchen Gebert, der, wie Hermann in seinem Vorwort betont, als »Nichte und nicht als Gattin gedacht wird«  : »daß un[s]ere teure Nichte, Henriette Jacoby geb. Gebert, am 15. May 1812 das Licht sah und sich am 3. Oktober 1840 allhier zur Ruhe begab«.160 Die von ihrem Ende her auch räumlich konnotierte Rollenfestlegung der Protago155 Georg Hermann, Weltabschied, zitiert nach Caspary, Hermann, S. 220. 156 Gert Mattenklott, Jettchen Gebert und das Schtetl. Jüdische Lebenswelten in der deutschen Literatur, in  : Jüdische Lebenswelten. Essays, hg. v. Andreas Nachama, Julius H. Schoeps, Edward van Voolen. Frankfurt am Main 1991, S. 221–238, S. 224. Vgl. dazu auch Georg Hermann, Zur Frage der Westjuden, in  : Neue Jüdische Monatshefte 3 (1919) 19/20, S. 399–405, v. a. S. 400  : »Wie viele meinesgleichen habe ich mich, solange ich denken kann, von religiösen Formalien völlig fern gehalten, habe mich trotzdem stets der Rasse nach als Jude, als typischer Westjude gefühlt.« Zitiert bei Ritchie Robertson, Cultural Stereotypes and Social Anxiety in Georg Hermann’s Jettchen Gebert, in  : Weiss-Sussex, Georg Hermann, S. [S. 5]–21, hier S. 5. 157 Hermann, Weltabschied, zitiert nach Caspary, Hermann, S. 220. 158 Zum Heimat-Begriff und Berlin siehe Erhard Schütz, Berlin. Jüdische Heimat um Neunzehnhundert  ?, in  : Zeitschrift für Germanistik (1997) NF 7, S. 74–90. 159 Hermann gab auch ein umfassendes Werk über diese Epoche heraus  : Georg Hermann (Hg.), Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Volksszenen und ähnliche Dokumente gesammelt von G. B. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1913. 160 Hermann, Jettchen Gebert, S. 6 f.

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nistin ist solchermaßen von Beginn an in einen kritischen Geschlechterdiskurs eingebunden, dessen pessimistischer Grundton unüberhörbar ist. Vollständig erschließt sich die Inschrift auf Jettchens Grabstein allerdings erst am Ende des Romans Henriette Jacoby, denn dort erfährt der Leser, dass sie eigentlich ihren alten Onkel Jason liebte. An diesem Ort, dem ›guten Ort‹, sind auch die Namen und Lebensdaten anderer Mitglieder der Familie Gebert bewahrt. Durch deren Benennung werden bereits vor dem Einsetzen der eigentlichen Romanhandlung ein erstes Beziehungsgeflecht und die Handlungszeit angedeutet. Georg Hermann führt sich selbst außerdem als der in der Gegenwart um 1900 lebende Erzähler ein. Die Frage, ob er das Vorwort, das ja allein durch seine Namensnennung qua Unterschrift als nicht-fiktional markiert ist, als immanenten Teil der nachfolgenden fiktionalen Erzählung versteht oder ob er mit dem Hinweis auf die Grabsteine vor allem die Authentizität des Erzählten bestätigen will, lässt sich nicht beantworten. Jedenfalls weist Hermann sich indirekt zwei Modi des Sprechens zu  : als Chronist und als Geschichtenerzähler.161 Getragen ist das von einer jenseits der Literatur liegenden Intention  : Indem er von jenen Menschen, die in den Gräbern liegen, »sprechen« und »erzählen« will, lehnt er sich gegen das universale Vergessen auf  : Denn es ist eine Ungerechtigkeit, eine schreiende Ungerechtigkeit, daß etwas, das einmal gewesen ist, so glatt wieder in das Nichts zurücktauchen soll, daß nach uns […] nach unserer Anwesenheit an dieser zweifelhaften Stelle […] keine Seele mehr fragen soll.162

Insofern könnte man den Roman sogar als fiktionales Memorbuch interpretieren. Doch unabhängig von der Absicht des Verfassers, Erinnerung an eine vergangene Zeit zu bewahren respektive herzustellen, wird der Roman mit dem Wissen um die Shoah und um Georg Hermanns eigenes Schicksal aus heutiger Perspektive im doppelten Sinn zu einem Gedächtnisort.

161 Hermann, Jettchen Gebert, S. 7  : »Georg Hermann« will »erzählen«, was er über diese »Menschenleben«, die er als »Gottesgabe« achtet, »weiß«. 162 Hermann, Jettchen Gebert, S. 5. Ein ähnlicher Gestus dominiert auch die »Einleitung« in Georg Hermanns Biedermeier-Textsammlung, siehe dazu Hermann, Biedermeier, S. 3–4  : »Aber alle diese Menschen haben nunmehr fast ohne Ausnahme eins gemeinsam  : daß ihr Leben und Sein längst zur Sage geworden ist. […] Und jedesmal, wenn in Bibliotheken sich die Blätter auftun, die sie mit den krausen Zeichen ihres Lebens und des Lebens um sie gefüllt haben, dann taucht auch all ihr Dasein greifbar und wesenhaft wieder aus der Versenkung empor.«



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4.1 Bürgerliche Identität und räumliche Gebundenheit

Obwohl an keiner Stelle explizit die Rede davon ist, dass die Personen, von denen der Verfasser spricht bzw. erzählen wird, Jüdinnen und Juden sind, erschließt sich das dem aufmerksamen Leser schon im Vorwort durch eine räumliche Konstellation  : die Situierung der Grabstätten von Salomon, Jettchen, Jason und Ferdinand Gebert als Einzelgräber.163 Der sich ebenfalls im Vorwort bereits abzeichnende Plot des Romans ist aus vielen deutschsprachig-jüdischen literarischen Texten des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts bekannt  : Der arrangierten Hochzeit einer jüdischen Frau steht ihre unerwünschte und unerfüllte Liebe zu einem christlichen Mann entgegen. Nichtsdestoweniger unterscheidet sich der Roman in wesentlichen Momenten von anderen Texten. So erkennt Florian Krobb in Jettchen Gebert zwar noch gewisse Relikte »des früheren Erzählens von ›Schönen Jüdinnen‹«, wie zum Beispiel »die Zwangslage der Heldin zwischen unglücklicher Liebe und vorgeschriebenem Heiratskandidaten, die nicht zuletzt als Generationenkonflikt mit unterliegender Assimilationsproblematik zu verstehen ist«164. Trotz ihrer positiven Darstellung durch den Erzähler sieht Krobb in Jettchen aber »eine unerotische Jüdin«,165 was er auf die fehlende Außenperspektive und Fremdheitswahrnehmung durch die nichtjüdischen Figuren im Roman zurückführt. Kößling, der christliche Verehrer Jettchens, sieht zwar Differenzen zwischen sich und der Familie Gebert, doch sie liegen für ihn weniger in ihrem Judentum als vielmehr in ihrer bürgerlichen Saturiertheit, mithin in ihrer sozialen Herkunft, begründet  : »Kößling fühlte sich in seiner Umgebung nicht recht wohl, denn er erkannte sofort, daß es zwei Welten seien, seine und jene, und daß es nichts gäbe, worin sie sich berührten. […] Sie waren so beleidigend zufrieden alle.«166 Nachdem sich Jettchen und Kößling ihre Zuneigung gestanden haben, bemüht sich Kößling um die Fürsprache von Jettchens Onkel Jason bei dessen Bruder Salomon,167 ohne allerdings sofort und dezidiert 163 Dem seit dem Mittelalter üblichen jüdischen Begräbnisritus entsprechend, erhielt jeder Verstorbene ein eigenes Grab. Die späteren Gemeindefriedhöfe (hebr. Bet Olam = Haus der Ewigkeit) waren als unzerstörbar gedacht. Die Familienbestattung mit ihrer teils aufwendigen Grabgestaltung wurde im Judentum in Deutschland und in der Habsburgermonarchie erst im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts eingeführt und vorwiegend von wohlhabenden Bürgerfamilien übernommen. Vgl. u. a. Stichwort  : Grab, in  : Philo-Lexikon, S. 253 f. 164 Florian Krobb, Die schöne Jüdin  : jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [= Conditio Judaica  ; 4]. Tübingen 1993, S. 217. 165 Krobb, Schöne Jüdin, S. 218. 166 Hermann, Jettchen Gebert, S. 53. 167 Jettchen wächst nach dem Tode ihres Vaters bei ihrem Onkel, Salomon Gebert, und seiner Frau Rikchen, geb. Jacoby, auf.

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von Heirat zu sprechen. Die Reaktionen darauf und die Vorgehensweise der Verwandtschaft, Jettchen ihrer eigentlichen Bestimmung und damit einem jüdischen Mann zuzuführen, werden aber nicht etwa von den traditionellen Kräften in einer Judengasse vertreten, die als abgeschlossene Lebensgemeinschaft jede Übertretung ihrer Gesetze als Gefährdung des Zusammenhalts abzuwehren suchen, sondern von bürgerlichen Familienmitgliedern, die in repräsentativen Wohnstuben über den Lokalen florierender Geschäfte ihre kleinen Intrigen spinnen.168

Der damit verbundenen Diskretion auf der Handlungsebene entspricht im gesamten Text eine Zurückhaltung in der Codierung dessen, was als jüdisch wahrgenommen werden kann. Meist sind es unauffällige und beiläufig gemachte Anmerkungen der heterodiegetischen Erzählerinstanz, die das für die Romanhandlung relevante Umfeld als jüdisch ausweisen. So trägt der Jettchen zärtlich zugetane Großonkel Eli auf der Straße eine etwas altmodische staubige Perücke, »im Hause« jedoch immer ein Käppchen, was allerdings nur mit seiner Angst vor einer Erkältung begründet wird.169 Gespräche über ein zeitgemäßes Judentum werden hingegen an der – wie der Leser weiß – historisch wichtigen Epochenschwelle des Vormärz kaum geführt. In der freundlichen und friedlichen Umgebung rund um den Alexanderplatz beschäftigen weder den demokratisch gesinnten Jason Gebert, viel weniger noch die anderen handelnden Figuren die ›großen‹ Fragen über mögliche oder gewünschte Entwicklungen im deutschen Judentum oder gar über jüdische Identität. Die Reden der Protagonisten sind vielmehr dominiert von der Sorge um die richtige Speisenfolge anlässlich einer Einladung, um die Annehmlichkeiten des Sommerquartiers oder um die altersbedingten Einschränkungen im Tagesablauf. Dieses von Georg Hermann entworfene literarische Genrebild bestätigen die Ausführungen Simone Lässigs über das Berliner Bürgertum dieser Zeit  : »Nach 1812, als die formalen Ziele – Aufklärung und Emanzipation – schon zu einem guten Teil realisiert schienen, verschob sich das Gewicht sukzessive auf den Bereich der Geselligkeit.«170 Florian Krobb interpretiert die Erzählweise des Autors dahingehend, dass das »Jüdische« in Hermanns Roman »alles Fremde« verloren habe und dass durch den Verzicht auf alles Folkloristische, der nicht zuletzt in der Situierung »innerhalb 168 Krobb, Die schöne Jüdin, S. 217 f. 169 Hermann, Jettchen Gebert, S. 30. 170 Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, [= Bürgertum Neue Folge – Studien zur Zivilgesellschaft  ; 1]. Göttingen 2004, S. 547.



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einer jüdischen, weitgehend assimilierten Großstadtgemeinde« auch räumlich grundgelegt sei, Hermann die weit verzweigte Familie Gebert »mit all ihren Schrulligkeiten, Regeln und Traditionen geradezu als Inbegriff deutscher Bürgerlichkeit« gestaltet habe.171 Tatsächlich scheint nichts diese Gediegenheit und Beschaulichkeit, die durch den zeitlichen Erzählmodus der »Allmählichkeit«172 noch strukturell verstärkt wird, zu stören. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden oder zwischen jüdischen Personengruppen, die sich in ihrer religiösen Ausrichtung unterscheiden, spielen keine substanzielle Rolle. Einzig in Witzen und Anekdoten wird manchmal jener gedacht, die sich zur Gänze vom Judentum abgewendet haben oder sich taufen ließen  : Gans wäre auch ein besonderer Mensch – trotzdem er sich hätte taufen lassen. Und Ferdinand erzählte, wie die Mutter zu Gans gesagt hätte, kurz nachdem er übergetreten wäre  : Eli, wackel nicht immer so mit’n Stuhl, du megst hinfallen, und du weißt, dein ›Kreuz‹ is noch schwach.173

Was die Geberts am besten unterhält, sind ihre kleinen, zum Teil schon ritualisierten Familienzwistigkeiten. Der unkonventionelle Onkel Jason sowie Großonkel Eli gelten im Rahmen dessen als uneingeschränkte Sympathieträger, da sie immer das Wohl des Einzelnen über die Familienräson oder überkommene Traditionen stellen. Gleichwohl versuchen beide, zwischen den Anliegen aller Beteiligten eines Streits zu vermitteln. Nur einmal droht der Familienfrieden nachhaltig in Gefahr zu geraten  : Jason und Eli setzen sich für die Verbindung von Kößling und Jettchen ein. In diesem Konflikt spielt nun erstmals und einmalig im gesamten Roman die persönliche Einstellung der handelnden Personen zum Judentum eine maßgebliche Rolle  : ›Na – und daß er Christ ist‹, meinte Ferdinand, weil Salomon die Lippen zusammen­ kniff und nichts antwortete. Man wußte nicht, war es aus Unwillen, oder schwankte er innerlich. ›Na und das  ?‹ [sic  !] ›Kann er was dafür, Ferdinand  ?  ! So was war fürs alte 171 Krobb, Schöne Jüdin, S. 217. 172 Gundel Mattenklott analysiert in einem Aufsatz die Zeitstrukturen in Hermanns Romanwerk Die Kette und widmet sich u. a. unter Bezugnahme auf Bachtins Figur des Chronotopos auch der Raum-Zeit-Gestaltung. Die von Mattenklott für Die Kette konstatierte »ästhetische Gestalt [der] Allmählichkeit«, die sie in der »Langsamkeit von Hermanns Erzählen« ausgedrückt findet, trifft ohne Einschränkung auch auf Jettchen Gebert zu. Gundel Mattenklott, Zeitstrukturen im Romanwerk Georg Hermanns  : Die Kette, in  : Weiss-Sussex, Georg Hermann, [S. 57]–71, hier S. 62. 173 Hermann, Jettchen Gebert, S. 59. Angespielt wird hier auf den Juristen und Rechtsphilosophen Eduard Gans (1798–1839), der nach seiner Taufe 1825 ordentlicher Professor in Berlin wurde.

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Jahrhundert gut. Heute soll man sich doch um solche Lächerlichkeiten nicht mehr kümmern, – das ist mein voller Ernst‹, kollerte rot wie ein Puter Eli, dem die Revolu­ tionsideen seiner Jugend in Fleisch und Blut übergegangen waren.174

Darauf antwortet Salomon etwas später  : »Und wenn ich auch selbst in meinem Herzen über die Religion genau so denke wie Eli. Mit unserer Einwilligung heiratet Jettchen keinen Christen.«175

Zuletzt setzen sich Salomon und Ferdinand durch und die Heirat Jettchens mit dem ihr verhassten Julius Jacoby wird beschlossen, obwohl Salomon schon bald an seiner Entscheidung zweifelt. Allein an der Verunsicherung Salomons zeigt der Erzähler aber den Übergangscharakter dieser historischen Periode an, die von einer verstärkten Individualisierung des aufstrebenden Bürgertums geprägt war. Der Roman ist in jenen »stillen Jahre[n]« des Biedermeier angesiedelt, die nach Georg Hermann »für die Entwickelung […] der modernen Staaten von […] unerhörter Wichtigkeit waren  !«176 In dieser Zeit, die der Schriftsteller zwischen 1815 und 1847 ansetzt, vollzog sich seiner Ansicht nach in »stillen Kämpfen, […] in denen Altes und Neues, Vergangenheit und Gegenwart immer wieder gegeneinander stießen und hart miteinander rangen« jene »Vorbereitung des modernen Lebens«,177 das in eine liberale bürgerliche Gesellschaft münden sollte. Dementsprechend lässt Hermann hier vor den Augen der Leserschaft die Gemächlichkeit eines wirtschaftlich abgesicherten bürgerlich-jüdischen Lebens in Berlin erstehen, das aus der Sicht der Figuren zwar durchaus noch wichtiger Verbesserungen im politischen Sinne bedarf,178 das aber weder durch Judenfeindlichkeit bedroht noch durch obligatorische Frömmigkeitsrituale als beschränkt erlebt wird. Durch seine dem Realismus verpflichteten Schilderungen alltäglicher Handlungen wie dem Einkauf auf dem Markt, der aufwendigen Vorbereitung der Familientafel, der Tischgesellschaften etc. evoziert der Autor das  – sowohl für eine jüdische wie für eine nichtjüdische Leserschaft nachzuempfindende – Bild einer ungetrübten Normalität im biedermeierlichen Ber174 Hermann, Jettchen Gebert, S. 272. 175 Hermann, Jettchen Gebert, S. 274. 176 Hermann, Das Biedermeier, S. 5. 177 Hermann, Biedermeier, S. 5. 178 Jason Gebert, Patriot und Kriegsversehrter, sympathisiert z. B. ganz offen mit republikanischen Ideen und erinnert sich an die Zeit der napoleonischen Besetzung, die den Juden jene Gleichberechtigung gebracht hatte, die von Preußen nach 1813 (»Völkerschlacht bei Leipzig«) wieder rückgängig gemacht wurde. Im Gespräch mit Kößling beklagt er offen  : »für uns Preußen und uns Juden hat es ja leider bis heute noch kein 1780 gegeben.«



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lin des Jahres 1839. Allerdings erinnert dieser Entwurf des erzählten Berlin nicht an eine Großstadt, sondern eher an ein »spießiges Provinzstädtchen«, wie es Bachtin in Zusammenhang mit Flaubert, Gogol und Turgenjew beschrieben hat  : Hier gibt es keine Ereignisse, sondern nur sich wiederholende ›Begebenheiten‹. Die Zeit kennt hier keinen fortschreitenden historischen Verlauf, sie bewegt sich in kleinen Kreisen  : in einem Tageskreis, einem Wochen-, einem Monatskreis, einem Kreis des ganzen Lebens. Der Tag ist nie ein Tag, das Jahr nie ein Jahr, das Leben nie ein Leben.179

Die den Männern und Frauen in diesem Arrangement zugewiesenen Rollen sind dabei vielfach räumlich konnotiert, wobei der Charakter und die Situierung der räumlichen Bezugspunkte der Figuren – außer für Jettchen und Kößling – den gesamten Text hindurch unverändert bleiben. So werden die Frauen im wörtlichen Sinne als »Hausfrauen« dargestellt, während sich die Männer allein aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit auch außerhalb der häuslichen Umgebung bewegen. Das heißt, dass sich die in stadtsoziologischer Hinsicht klassische Trennung von privatem Innen- und öffentlichem Außen-Raum hier weitgehend mit den Geschlechterrollen deckt. Der Grad an Objektivierung bzw. an Subjektivierung des Erzählten hängt in diesem Zusammenhang auch von der »Fokalisierung der Raumdarstellung« ab oder um es in Abwandlung einer These von Natascha Würzbach zu formulieren  : Es besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen einer heterodiegetisch ausgerichteten Nullfokalisierung »und einer dominant sozial-konsensuellen Semantisierung einerseits sowie zwischen einer internen Fokalisierung und subjektiver Semantisierung des Raumes andererseits.«180 In Jettchen Gebert werden diese erzählstrategischen Fokalisierungstendenzen dann wirksam, wenn sich parallel zur Emotionalisierung einer Figur die Grenzen jenes Raums, in dem sie sich befindet, verwischen, sich Räume auflösen oder durch traumhafte Zustände überlagert werden.181 Dies trifft in 179 Michail M. Bachtin, Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, in  : ders., Chronotopos, übers. v. Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt am Main 2008 [1937–38 und 1973/75], S. 7–196, hier S. 185 f. Die solchermaßen erzählte »zähe, klebrige Zeit«, die »fest verwachsen […] mit den Häuschen und Stübchen des Städtchens« ist, werde von den Autoren »als eine Nebenzeit« angesehen. Sie wird von den »nichtzyklischen Zeitreihen […] unterbrochen […], als eine Zeit, die häufig als kontrastierender Hintergrund der ereignisreichen und energiegeladenen Zeitreihen dient.« 180 Würzbach, Erzählter Raum, S. 115. 181 Vgl. z. B. Hermann, Jettchen Gebert, S. 362  : »Und eben wollte sich Jettchen erheben – denn

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besonderem Maße auf Jettchen, in wenigen Passagen auch auf Kößling zu  ; ihre Unsicherheiten und Gefährdungen werden immer wieder mit räumlichen Wahrnehmungsstörungen in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu bleiben die meisten anderen Personen in einem unerschütterlich stabil erscheinenden Subjekt-Raum-Verhältnis, das vor allem ihrem bürgerlichen Selbstverständnis geschuldet ist, geborgen.182 Die Werte aufgeklärter Bürgerlichkeit, verbunden mit materiellem Wohlstand und Bildungsnähe lassen in dem selbstgenügsamen Ambiente der Geberts die traditionell religiösen Abläufe nicht nur in den Hintergrund treten, sondern zur Gänze aus dem Text verschwinden. Weder ein Sabbat noch irgendein Feiertag wird in der von April bis Oktober reichenden Handlungszeit von der Erzählerinstanz erwähnt. Nur indirekt, z. B. an der Wahl der mitunter ausführlich gelisteten Speisen, wie Geflügel, Schaffleisch oder Hecht, lässt sich erahnen, dass bestimmte religiöse Vorschriften noch eingehalten werden. Jedenfalls erscheint es dem für Jettchen vorgesehenen Bräutigam Julius Jacoby in diesem Umfeld notwendig, darauf hinzuweisen, dass sein Onkel Naphtali aus Benschen noch »fromm« zu essen wünscht  : Und es gab gleich Streitereien über das Essen, denn Julius sagte  : es müßte fromm sein […] Aber die Tante bedeutete ihm, daß Reden Silber und Schweigen Gold wäre, und hier vor allem, und daß sie ihren Mann besser kenne und deswegen Julius nur rate, zu allem ›ja‹ zu sagen, sie würde das nachher schon so einrichten, daß alle, die es haben müßten, auch frommes Essen bekämen. Und wenn es ihnen dann noch nicht fromm genug wäre, würde sie es sogar vom Oberrabbiner selbst kochen lassen.183

An dieser eigentlich nebensächlichen Passage im Text deutet sich aber eine Sollbruchstelle im Familiengefüge an. Die Lebensentwürfe des aus der Provinz Posen stammenden Familienzweigs der Jacobys fungieren als Gegenmodell zum Berliner Bürgertum. Ihnen wird sowohl aus der Perspektive der Geberts als auch von der Erzählerinstanz wenig Sympathie entgegengebracht.184 So altmodisch so der Blick auf eine leere, nächtliche Straße macht müde –, als noch einmal mit patschenden Schritten jenes breite, weiße, verdämmernde Etwas hereinkam, das der Stimme nach Tante Rikchen zum Verwechseln ähnlich war.« 182 Eine Ausnahme bildet der kleine Cousin Jettchens, Wolfgang Gebert. Er wird herumgestoßen und kann dauerhaft keinen Platz – auch nicht im Text – behaupten. Siehe dazu die Ausführungen weiter unten. 183 Hermann, Jettchen Gebert, S. 383. Kritikern fiel auf, dass Hermann auf den Begriff »koscher« verzichtete. Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Illig, Der Erzähler Leopold Hichler. Eine literarische Studie. Wien, Leipzig 1932, S. 15. 184 Vgl. z. B. Hermann, Jettchen Gebert, S. 383 ff. Die Brüder Salomon und Ferdinand Gebert sind



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die Toilette der weiblichen Jacobys, so unzeitgemäß wirkt die traditionelle Lebensführung des Familienoberhaupts Naphtali auf die Geberts. Diese Gegensätze sind aus der Figurenperspektive wiederum räumlich semantisiert. Der Ausruf Salomon Geberts  : »Gott soll hüten vor kleinen Städten  !«185 bezieht sich zwar auf den ersten Blick nur auf das Oppositionspaar rückständige, altmodische Kleinstadt (Benschen) versus Großstadt (Berlin), doch verdeckt wird damit auf den in der Großstadtliteratur fast schon stereotypen Ost-West-Gegensatz angespielt sowie auf die aus Berliner Sicht bedrückende und unzivilisierte Lebenswelt, die die Kleinstadt mit dem osteuropäischen Schtetl oder der Judengasse des 18. Jahrhunderts identifiziert  : Du mußt es dir ungefähr so vorstellen  : der ganze Ort ist eine Straße, und wenn du hier ’rein kommst, bist du schon wieder beim anderen Ende draußen. Nur eine Gefahr hat’s damit  : du mußt nämlich in Benschen de Augen zumachen, wenn du durch die Hauptstraße gehst, ganz feste zu, – sonst stehlen sie dir sicher das Weiße aus den Augen.186

Darüber hinaus irritiert Salomon Gebert auch die Geschäftspraxis von Julius/ Joel Jacoby, die halblegale, auf schnellen Gewinn ausgerichtete Methoden einer umsichtigen Planung vorzieht.187 Anhand dieser Konfrontation und weiterer Anspielungen zeigt sich, dass dem scheinbar nur auf persönlicher Ebene ausgetragenen Konflikt zwischen Jettchen und ihrer Umgebung eine Stellvertreterfunktion zukommt  : Zum einen wird anhand dessen der Stand der Umsetzung »der Judenemanzipation in einer nichtjüdischen Gesellschaft«, zum anderen die »innerjüdische[…] Auseinandersetzung zwischen den alteingesessenen westjüdischen Familien Deutschlands und den hinzuziehenden aus dem Osten«188 verhandelt. Das Ende des Romans verweist letztlich auf einen Zwischenzustand – einen dritten Raum, der aber nicht durch ein Sowohl-als-auch, sondern in diesem Fall durch ein Weder-noch gekennzeichnet ist. Jettchen flieht unbemit zwei aus der Familie Jacoby stammenden Schwestern verheiratet. Auch diese beiden Frauen, Rikchen und Hannchen, werden vom Erzähler im Vergleich zu ihren Gebert’schen Ehemännern wenig freundlich charakterisiert. 185 Hermann, Jettchen Gebert, S. 386. 186 Hermann, Jettchen Gebert, S. 160, [Hervorhebung im Original]. 187 Hermann, Jettchen Gebert, S. 385. 188 Mattenklott, Jettchen Gebert, S.  222. In der Beschreibung einzelner Familienmitglieder der Jacobys aus Ben(t)schen [wechselnde Schreibweise im Text] scheut Hermann auch nicht vor bekannten Stereotypen zurück, wie schon ein zeitgenössischer Kritiker Hermanns, Felix Theilhaber, anmerkte. Vgl. Felix Theilhaber, Offener Brief an Georg Hermann, in  : Neue Jüdische Monatshefte, Nr. 22 vom 25.4.1919, S. 483 f. Zitiert bei Mattenklott, Jettchen Gebert, S. 238, Anm. 2.

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merkt von der Hochzeitstafel, lässt ihren Ehemann und die Familien, die ihr zu »Feinden«189 geworden sind, im Festsaal zurück und findet sich nachts auf der Königstraße wieder. In dieser auch räumlich angezeigten Unentschiedenheit liegt zu einem Gutteil das Scheitern der Figuren begründet. Die Positionen der Geberts und der Jacobys, der Emanzipierten und der Unaufgeklärten, der Westlichen und der Östlichen, der Städter und der ›Provinzler‹ bleiben unversöhnt nebeneinander bestehen, ohne allerdings in letzter Konsequenz als gegensätzlich ausgesprochen worden zu sein. Die Differenzen bleiben vielfach im Inneren der Personen verborgen und nur der Leser weiß davon. Selbst über das Offenkundige, wie den körperlichen und seelischen Verfall Jettchens anlässlich ihres Kummers, wird nicht oder nur heimlich gesprochen. So steht das Bild des wohlgeordneten bürgerlichen (Wohn-)Raums der Biedermeierzeit in einer merkwürdigen Korrespondenz zur Psyche der Figuren  : Jedes offensive Rühren an gewohnte Positionen wird als Gefährdung der Stabilität und des Gleichmaßes empfunden. Der dramatische Konflikt hat zwar wie in anderen Texten auch in diesem Roman in der Zuneigung zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann seinen Ursprung, doch die zu erwartende und teils auch demonstrierte Härte von Jettchens Verwandtschaft ist – wie nur der Leser erfährt – sehr relativ. Würde die junge Frau, deren Vater im Befreiungskrieg fiel, die für sie arrangierte Heirat mit dem ungeliebten Mann dezidiert verweigern, hielte ihr Onkel Salomon nicht daran fest, möglicherweise stimmte er sogar einer Verbindung mit dem Schöngeist Kößling zu. Doch letzten Endes führt erst die Verweigerung der Aussprache zum Desaster. So erzählt der Roman von einer drei Generationen umfassenden Familie, die auf einer kollektiv-gesellschaftlichen Ebene die bürgerliche Emanzipation schon längst vollzogen hat, die in individuellen Entscheidungssituationen aber vor der ihr zugestandenen Selbstbestimmung zurückschreckt. Insofern wirkt es nur konsequent, dass für Jettchen nicht in ihrem Judentum, das sie an keiner Stelle in Zweifel zieht, der primäre Grund ihrer persönlichen Tragik liegt, sondern in ihrer Stellung als Frau, die sich ihrer Verwandtschaft gegenüber schuldhaft verpflichtet fühlt. Als Jüdin ist Jettchen emanzipiert, als Frau ist sie es nicht. Sie geht – schließt man sich der immanenten Bewertung des Erzählers an – eigentlich an ihrem weiblichen Gehorsam zugrunde.190 Damit reiht sich der Roman in eine literarische Traditions189 Hermann, Jettchen Gebert, S. 423. 190 Diese Hypothese bestätigt sich in der Fortsetzung der Geschichte, im Roman Henriette Jacoby. Jettchen flüchtet zunächst zu ihrem Onkel Jason. Die Liebe zu Kößling erfüllt sich aber auch dann nicht. Als sich die Umstände klären und die Familie schließlich einer zukünftigen Ehe mit Kößling zustimmt, erkennt Jettchen plötzlich, dass ihre Liebe eigentlich ihrem Onkel Jason gilt. Sie nimmt sich das Leben und als Kößling sie entdeckt, geht er ins Wasser.



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linie ein mit vorwiegend dem Realismus verpflichteten Texten, die das Scheitern selbstemanzipatorischer Weiblichkeit an gesellschaftlichen, gleichwohl als Wert konstituierend anerkannten und internalisierten Umständen thematisieren und kritisieren. Wenn Georg Hermann im Vorwort den Vergleich zieht, die Geschichte sei ein Kokon, in den er sich »einspinnen [will] wie der Seidenwurm in seine eigenen Fäden,«191 so fühlt man sich im Laufe des Romans immer wieder an dieses Bild erinnert, wenn es um das Verhältnis der Figuren, vor allem Jettchens, zu den sie umgebenden Räumen geht. Die narrative räumliche Anordnung schmiegt sich gewissermaßen in Schichten um die Figuren. Für Jettchen weitet sie sich mit dem Fortgang der Handlung aus, um sich letztlich – zumindest aus ihrer Perspektive – in nichts aufzulösen und sie ungeschützt sich selbst zu überlassen. Zunächst werden den Protagonisten unterschiedlich codierte Innenräume zugewiesen  : Sie fungieren als Rückzugsorte, Schutzzonen, Repräsentationsräume. Neben den üppig ausgestatteten Wohnungen von Jason sowie von Salomon und Rikchen Gebert wirkt die anthropomorph geschilderte Untermietsstube Kößlings hingegen lieblos, kümmerlich und abstoßend  : Bett, Lehnstuhl und Tisch teilten sich allein und unumschränkt in die Herrschaft in dem weißen Zimmer mit den morschen Dielen und den dünnen, flatternden Mullvorhängen. Kößling liebte diese Stücke nicht, denn sie hatten unangenehme Umgangsformen. Sie taten, als bemerkten sie ihn gar nicht, oder behandelten ihn nur so ganz von oben herab.192

Das Zimmer, das Kößling nicht einmal mit Kleinigkeiten behübscht, spiegelt nicht nur seine einfache Herkunft wider, sondern es verweist im eigentlichen Sinne auf seine Unbehaustheit. Dieses Los teilt er mit Wolfgang, dem kleinen Cousin Jettchens. Er entbehrt in der Gebert’schen Idylle jeder Wärme und Fürsorge, wird von seiner Mutter trotz des relativen Wohlstands der Familie vernachlässigt und von anderen Kindern und Lehrern »gedrückt und verprügelt«. So verwundert es nicht, dass er sich »nicht zugehörig [fühlt] zum Haus, zur Familie, zur Schule, zu den Stallungen,  – einfach zu nichts fühlte er sich zugehörig. Nirgends glaubte er sich bodenständig oder heimatsberechtigt.«193 Als Ersatz trägt er sich aus Büchern, die er »heimlich« liest »wie alle, die sich in dieser Welt nicht zurechtfinden können […] Bausteine zu [einer] zweiten Welt zusammen, in der er Kulissen und Soffitten nach Wunsch und Willen verstellen 191 Hermann, Jettchen Gebert, S. 5. 192 Hermann, Jettchen Gebert, S. 226 f. 193 Hermann, Jettchen Gebert, S. 47 f.

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konnte.«194 Außer Jettchen bleibt der Junge den anderen Familienmitgliedern seltsam entrückt. Jettchen selbst sind mehrere Räume, darunter ihre so bezeichneten »Mädchenzimmer«195 in Berlin und Charlottenburg, zugeordnet. Die mit diesem Begriff verbundene Markierung verweist zwar auf eine weibliche Konnotation des Raums  ; primär bezieht er sich aber auf den Status des Unverheiratetseins der jungen Frau. Diese Auslegung suggeriert auch der Namenswechsel im Titel des Fortsetzungsromans, der ja dieselbe Protagonistin bezeichnet  : Der grammatikalisch als Neutrum zu verstehende Name Jettchen (Gebert) wird im nachfolgenden Roman in seine weibliche Form Henriette ( Jacoby) transformiert. Obwohl der Name Jettchen auf das Kindliche, Unschuldige und Mädchenhafte der Protagonistin verweisen soll, lässt sich die Verwendung ihres Kosenamens nicht zuletzt in seiner Funktion als ›Neutralisierung‹ ihrer Weiblichkeit deuten. Ihr Umfeld reduziert die ledige Frau damit zu einem weiblichen Wesen ohne Sexus. Bezögen sich der Erzähler und die Figuren auf ihr Lebensalter, gälte Jettchen mit 27 Jahren schwerlich als Mädchen. Nach der Heirat soll Jettchen aber ihre »Mädchenzimmer« verlassen. Ihr neues Heim liegt nur zwei Parallelstraßen weit entfernt, wie ein Blick auf einen zeitgenössischen Stadtplan von Berlin zeigt. Um für den neuen Lebensabschnitt Jettchens einen würdigen Rahmen zu schaffen, stürzt sich Tante Rikchen nachgerade in ein rauschhaftes Anschaffen von Möbeln, Gardinen, Geschirr, Haushaltsutensilien und Kleidern. Die vorzügliche Lage und prunkvolle Ausstattung der neuen Wohnung soll kompensatorisch all das an Bindungskraft für Jettchen und Julius aufbieten, was ihnen an Zuneigung füreinander fehlt. Und die Tante zeigt Jettchen einmal die Wohnung in der Neuen Friedrichstraße, nicht weit von der ›Gesellschaft der Freunde‹, und schickte dann Julius den Mietskontrakt zum Unterschreiben, mit dem Bemerken, daß sie jetzt überall herumgelaufen wäre, aber eine bessere Wohnung, eine Wohnung mit so vielen Vorzügen hätte sie in ganz Berlin nicht gesehen. Und Jettchen ließ die Tante in allem gewähren.196

An dem scheinbar unbedeutenden topographischen Detail bezüglich der Nähe der für das junge Paar ausgesuchten Wohnung zu besagter »Gesellschaft der Freunde« erweist sich ein weiteres Mal, dass Georg Hermann in seinem Roman 194 Hermann, Jettchen Gebert, S. 55. 195 Eine ausführliche Beschreibung des »Mädchenzimmers« siehe Hermann, Jettchen Gebert, S. 37 ff. Wenn sich Jettchen in diesem Zimmer aufhält, befällt sie gelegentlich ein Gefühl der »Fremdheit zu Haus und Menschen.« 196 Hermann, Jettchen Gebert, S. 374 f.



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der Semantik des Raums besondere Aufmerksamkeit widmete. Denn die wertschätzende Erwähnung der »Gesellschaft« verweist auf das Selbstverständnis der Familie Gebert als aufgeklärte moderne Juden. Die 1792 gegründete »Gesellschaft« galt nämlich als Zentrum der Kommunikation, der Bildung und Vergnügung, des Spiels, des Lesens und der erbaulichen Unterhaltung und damit [wurde sie] zu einem Magnet nicht nur für junge Bürger, die […] ihren ökonomischen Aufstieg in Angriff nahmen, sondern auch für andere jüdische Vereine. Auf diese Weise entstand, in symbolischer Ablösung von der Synagoge als ehemals zentralem Ort der jüdischen Sozialtopografie und Mentalität, ein neuer, säkularer und doch zugleich jüdischer Knotenpunkt, der gleichberechtigt neben das Gotteshaus trat und damit die Aufspaltung, aber auch die Individualisierung der Lebenssphären zeigte.197

Ludwig Geiger erwähnt die »Gesellschaft der Freunde«, die die ersten Jahre ihres Bestehens von einem »Sohne Mendelssohns« geleitet worden war und sich nach einem Motto Mendelssohns ausrichtete, in seiner Geschichte der Juden in Berlin als einen Verein, dem es in »Programm [und] allen Thaten […] um eine Verbrüderung der Edeldenkenden und Freigesinnten gegen Orthodoxie und Immoralität« gehe.198 Jettchen steht aber sowohl den mit dem neuen Heim verbundenen gesellschaftlichen Möglichkeiten, den Aktivitäten der Tante wie auch der Wohnung überhaupt gleichgültig gegenüber. In ihrem Verhalten deutet sich schon die Auflösung der Beziehung zu dem sie umgebenden Raum – und den sich dort befindenden Personen – an. Mit ihrer Flucht verlässt Jettchen dementsprechend nicht nur die familiäre Hochzeitstafel, sondern die Schutzzone der Bürgerlichkeit, die vom Erzähler in einer nach außen und innen organisierten Wohlgeordnetheit narrativ entworfen wurde. In manchen der illustrativ geschilderten Räume, z. B. in Salomon Geberts bürgerlich ausgestattetem Wohn- und Ladenhaus in der Königstraße und der bescheidenen Unterkunft Onkel Elis im Hohensteinweg »hinten nach dem Turm der Marienkirche«,199 werden durch oft wiederholte und quasi ritualisierte Handlungen, wie die gemeinsamen Essen, Kartenspiele und Gesprächsrunden, teils unsichtbare Markierungen familiärer Privatheit gesetzt. Im Raum der Repräsentation, wie ihn etwa der Salon 197 Lässig, Bürgertum, S. 547. 198 Ludwig Geiger, Geschichte der Juden in Berlin. Festschrift zur zweiten Säkular-Feier. Anmerkungen, Ausführungen, urkundliche Beilagen, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1871, mit einem Vorwort von Hermann Simon und zwei Nachträgen (1871–1890). Berlin (DDR)1989, S. 115. Das nach Mendelssohn gewählte Motto lautete  : »Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste thun.« 199 Hermann, Jettchen Gebert, S. 13.

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Salomon Geberts darstellt,200 werden hingegen gesellschaftliche Erfahrungen gemacht, die den Anschein des Privaten haben, die aber im Rahmen konsensual bestehender, wenngleich unausgesprochener Hierarchien jene Reste von Intimität im Verborgenen halten, die die einzelnen, sich im Raum aufhaltenden Personen angreifbar machen könnten. Durch das unvorhergesehene Aufbrechen einer emotionalen Regung zeigt sich dann, wie es am Beispiel Jettchens am deutlichsten nachzuvollziehen ist, dass die oberflächliche Konzeption eines Repräsentationsraums äußerst fragil ist.201 Denn die »konzipierten Repräsentationsräume«202 behaupten letztlich nur den Zusammenhalt und die Kohärenz einer Gruppe, während das Hinwegsetzen über die Konvention, mithin über die immanente Konzeption des Repräsentationsraums dessen Funktion unterminiert und das Auseinanderfallen einer Gruppe befördert. 4.2 Wege im Freien

Im Vergleich zu den schützenden, letztlich aber restriktiven Innenräumen verheißen verschiedene Gärten und Parks, aber auch die Straßen Berlins mehr oder weniger große Freiräume für Jettchen und Kößling. Diese fungieren aber nicht per se und für alle Figuren als alternative Ausweichmöglichkeiten zu den Innenräumen, sondern sie eröffnen sich nur denjenigen, die sich auf eine unverstellte Wahrnehmung einlassen können. Sowohl Jettchen als auch Kößling besitzen abseits eines auf die Materialität des Raums ausgerichteten bürgerlichen Wertespektrums ein Sensorium für die sie umgebende Natur, die sie über manches Missliche ihres Alltags hinwegkommen lässt.203 Andererseits erobern sich die 200 Z. B. Hermann, Jettchen Gebert, S. 50  : »Früher wären alle möglichen Literaten und Theaterleute gern in sein Haus gekommen. Saphir und Glasbrenner, drüben sein Nachbar der Angeli, die Wolffs, Rellstab und Liber.« 201 Z. B. Hermann, Jettchen Gebert S. 355 f.: »So waren Jettchens Gedanken, und sie wußte gar nicht, wie lange sie schon so am Fenster saß  ; denn ihre Gedanken liefen ununterbrochen und antworteten einander wie die Dorfhunde in der Nacht, während doch der Wanderer, der sie aufgestört, weiß Gott wo in der Welt schon ist. Jettchen wußte nicht, ob die drinnen immer noch sprachen, und was sie sprachen  ; sie hörte es nicht. Aber da fühlte Jettchen, daß irgend jemand im Zimmer war, sie fühlte das wie einen kalten Hauch […].« 202 Lefebvre, Die Produktion des Raums, S. 339, [Kursivstellung im Original]. 203 Vgl. z. B. Hermann, Jettchen Gebert, S. 227  : »Und, – wenn nicht draußen die grünen Bäume gewesen wären und unten das verwilderte Gärtchen, Kößling wäre schon längst hier fortgezogen, aber die versöhnten ihn immer wieder, wenn es einmal mit Tisch, Bett und Lehnstuhl Meinungsverschiedenheiten gegeben hatte.« Von Jettchen und ihrer Beziehung zum Charlottenburger Garten heißt es  : »Da, in diesem Garten, war Jettchen Alleinherrscherin. Dort konnte sie stundenlang auf den Wegen gehen oder in der Holzlaube sitzen […] Jettchen wich den Menschen nicht aus, aber sie brauchte sie nicht und befand sich ganz gut ohne sie. Hier war



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beiden durch einen performativen Akt, ihren Spaziergang durch den Charlottenburger Garten und Park, jenes Terrain, das ihnen in der nicht nur symbolischen Enge ihrer Wohnräume unzugänglich ist.204 Dort gestehen sie sich ihre Liebe und träumen von einem Häuschen im Grünen, in dem sie fernab gesellschaftlicher Konventionen »das ganze Jahr« verbringen können.205 Die erste Begegnung zwischen Jettchen und Kößling ereignet sich ebenfalls im Freien, gleich zu Beginn des Romans treffen sie auf der Königstraße aufeinander, als Jettchen auf dem Weg zum Markt ist. Gemeinsam schreiten sie in Begleitung ihres Onkels Jason das für Jettchen und ihre Familie wichtige Viertel ab. In diesem Abschnitt entwirft der Erzähler eine kleine Karte des Alltags, die zugleich den ganzen Bewegungsspielraum der Figuren markiert. Königstraße, Spandauer Straße, Klosterstraße, Neue Friedrichstraße, Molkenmarkt und Alexanderplatz umreißen jenes verhältnismäßig überschaubare Planquadrat, das im Roman als Berlin bezeichnet wird.206 Diese nur ausschnitthafte Bezugnahme auf den wesentlich größeren Stadtraum Berlin findet sich auch in anderen Texten Georg Hermanns. Sie verweist aber weniger auf eine vielleicht aus dem Blickwinkel der vorletzten Jahrhundertwende zu vermutende verstörende Fragmentiertheit der (erzählten) Raumwahrnehmung, als vielmehr auf die Grundhaltung des Erzählers, die Kleinteiligkeit und damit die für die Figuren notwendige Sicherheit und Überschaubarkeit des Handlungsraums zu betonen. Andererseits lässt sich durch diese Fokussierung auch ein Subtext, der die Komplexität Berlins in der Vorstellung seiner Vielheit insinuiert, vermuten  : Oh, Berlin ist groß und schillert in tausend Farben. […] Und jedes Berlin ist weltfern und verschieden vom anderen. Wenn ich hier von Berlin spreche, so meine ich nicht das Berlin der Arbeit, nicht das des Elends und des Lasters, nicht das des Reichtums und des Überflusses, […] das Berlin, von dem ich hier spreche, ist ja gar nicht recht und eigentlich mehr Berlin, es ist Schöneberg, es ist Wilmersdorf, es ist Charlottenburg, es ist weit draußen, es ist das Berlin der reichen Leute, die kein Geld haben.207

sie völlig ungestört von ihnen, ja selbst vor ihren Lauten sicher.« (Hermann, Jettchen Gebert, S. 174). 204 Hermann, Jettchen Gebert, S.  184–214. Als Jettchen in ihrer Bedrängnis einmal mit ihrem Onkel Salomon ein klärendes Gespräch im Garten führen will, verweigert ihr der Onkel den gemeinsamen Spaziergang. Vgl. dazu Hermann, Jettchen Gebert, S. 246–248. 205 Hermann, Jettchen Gebert, S. 209. 206 Siehe Hermann, Jettchen Gebert, S. 5–25. 207 Georg Hermann, Kubinke, in  : ders., Werke und Briefe, hg. v. Gert und Gundel Mattenklott, Bd. 4, Berlin 1997, S. 14 f.

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Während die Karte bzw. der Kartenausschnitt Berlins aber nur eine »totalisierende Planierung der Beobachtungen«208 zulässt – diese entspricht dem räumlichen Erzählmodus der Horizontale209  –, wird durch die Personen, die sich auf den dort vorgezeichneten Wegstrecken bewegen, deren diskursives Handlungspotenzial vorgeführt. Im Gehen und Sprechen wird der Raum erst diskursiv formiert  : als Raum der Begegnung, der Wahrnehmung, der Repräsentation, der Befreiung. Obwohl seine topographischen Orientierungspunkte die Türme der Parochialkirche und der Marienkirche bilden, erschließt er sich als in einem jüdischen Kontext historisch bedeutsamer Raum nur jenen, die einzelne Straßennamen mit ihren (ehemaligen) Bewohnern in Verbindung zu bringen wissen. Insofern bezeichnen die Adressen nicht nur geographische Punkte oder Orte, sondern sie integrieren die sich dort permanent ereignende Geschichte. So verweist die Situierung des Wohnhauses Salomon Geberts unabhängig davon, ob Georg Hermann mit der letzten Endes doch ungenauen Adressenangabe – Spandauer Straße/Ecke Königstraße »Da drüben wohnen wir«210 – auf den historischen Firmensitz des 1815 von Nathan Israel gegründeten Stoffhandelsunternehmens und späteren Kaufhauses anspielt,211 nichtsdestoweniger auf ein im Zuge der jüdischen Emanzipationsgeschichte wichtiges soziologisches Umfeld. In der Königstraße  33 wiederum hatte der Großvater von Giacomo Meyerbeer (urspr. Meyer Beer), der Bankier und Pächter der preußischen Staatslotterie Liepmann Meyer Wulff, gewohnt. Meyerbeers Vater hatte später in seinem Haus in der Spandauer Straße 78 den so genannten Beerschen Tempel für die ersten Gottesdienste mit deutscher Predigt und deutschem Gesang eingerichtet.212 In der Spandauer Straße wurde Rahel Levin geboren, in der Neuen Friedrichstraße befand sich der Salon der Henriette Herz, an der Spandauer Brücke wohnte Abraham Abramson, der als erster Jude Mitglied der Preußischen Aka208 De Certeau, Die Kunst des Handelns, Dritter Teil  : Praktiken im Raum, hier zitiert aus  : Dünne, Günzel, Raumtheorie, M. d. C., Praktiken im Raum, S. 343–353, hier S. 348. 209 Vgl. dazu auch Mattenklott, Zeitstrukturen, S. 63. 210 Hermann, Jettchen Gebert, S. 25. 211 Ob Hermann an den im 19. Jahrhundert erfolgreichen Unternehmer Nathan Israel als ›Vorlage‹ für die Figur Salomon Geberts dachte – auch Salomon führt einen Stoffhandel –, lässt sich nicht eruieren. Der Band Jüdische Orte in Berlin verzeichnet jedenfalls in der Spandauerstraße 26/32/ Ecke Königstraße (was mit der fiktiven Ortsangabe des Gebert’schen Hauses im Roman ungefähr korrespondiert) das »Stammhaus mit dem berühmten, verschwenderisch ausgestattetem, glasüberdachtem, hallenartigen Treppenhaus.« Siehe  : Jüdische Orte in Berlin, hg. v. Ulrich Eckhardt und Andreas Nachama, mit Feuilletons von Heinz Knobloch und Fotografien von Elke Nord. Berlin 2005, S. 51–53. 212 Vgl. dazu Jüdische Lebenswelten. Katalog, hg. v. Andreas Nachama und Gereon Sievernich. Frankfurt am Main 1992, S. 188 ff. Siehe weiterhin Eckhardt, Nachama, Jüdische Orte in Berlin, S. 50 f.



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demie der Künste wurde, und neben Rahel Varnhagen unterhielten auch Amalia Beer und die Familie Abramson Salons in diesem Viertel. Mit Ausnahme von Jettchen, Jason und Eli Gebert verstehen die anderen Familienmitglieder ihre Gänge und Promenaden durch die Stadt tendenziell als Teil ihres bürgerlichen Alltags, der von den Aufgaben der Repräsentation,213 der Geschäfts- und der Haushaltsführung bestimmt ist. Die öffentlichen Wege gelten ihnen  – sofern sie in ihrem Umfeld überhaupt Erwähnung finden  – gewissermaßen als Erweiterung ihres privaten Bereichs. Narrativ stellt der Erzähler keinen bemerkenswerten Bezug zwischen diesen Figuren und den sie umgebenden Außenräumen her. Selbst der Garten der kleinen Charlottenburger Sommerwohnung wird von Salomon und Rikchen nur als jahreszeitlich bedingter Teil ihrer urbanen Wohnverhältnisse angesehen. Jason hingegen gilt das Repräsentieren wenig. Wenn er durch die Stadt flaniert, geschieht das nicht selten planlos, gedankenverloren, aber offen dafür, wer und was ihm begegnen wird. Seine visuellen und akustischen Sinneseindrücke erscheinen allerdings ausschnitthaft und vorwiegend durch Details inspiriert. Seine Beobachtungen sind nicht auf ein Ganzes ausgerichtet. Die Darstellungsweise eines solchen Spaziergangs suggeriert zwar einen einheitlichen Raum, in dem sich der Flaneur bewegt, doch die Erzählung über die absichtslose und punktuelle Wahrnehmung löst das Kontinuum in seiner zeitlichen Linearität auf  : Aber ebensowenig wollte er die nächsten Stunden innerhalb der vier Wände irgendeiner Kneipe oder Konditorei zubringen, und deshalb lief er ein paarmal die Königstraße auf und nieder, schlenderte, flanierte langsam und ziellos, ging jetzt gemächlich allein und für sich und zog dann wieder eine Weile hinter irgendeinem Liebespaar her und lauschte ihrem Geplauder, soviel er gerade davon erhaschen konnte.214

Trifft er bei seinen Ausflügen Bekannte, schließt er sich ihnen an oder lädt sie zum gemeinsamen Weitergehen ein. Dass Jason dabei keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden macht, erschließt sich aus einer Bemerkung Elis  : »Siehste Jettchen, kommt er nicht daher, wie ’ne lahme Sandkrake, dein Onkel 213 Hermann, Jettchen, S. 40  : »Zu der blauen Robe hatte Tante Rikchen einen gelben Türkenschal um die feisten Schultern gelegt […] In jungen Tagen hatte ihr diese Mode wohl angestanden, aber heute schien es nur mehr eine Art Maskenscherz von ihr zu sein, sich so zu kleiden und wie die Madame Staël mit hohem Turban als echte Haremstürkin die Spandauer Straße und Königstraße zu durchziehen.« 214 Hermann, Jettchen, S. 164 f. Über die raumzeitliche Ästhetik der Flanerie siehe z. B. Hildegard Kernmayer, Juden im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne [= Conditio Judaica  ; 24]. Tübingen 1998, S. 60 f.

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Jason  ? Und was hat er da schon wieder vor ’n lateinischen Schnorrer aufgegabelt  ? Wo er se nur immer herkriegt  ?«215 Auch Kößling wird von Jason mehrfach zu Spaziergängen aufgefordert  ; ebenso selbstverständlich bittet er ihn in das Haus seines Bruders und in seine eigene Wohnung in der Klosterstraße. Jasons Verhältnis zu den Menschen ist stets auf Austausch angelegt  : in der Unterhaltung, in seinen intellektuellen Interessen, in seiner Zuneigung. Die räumliche Nähe, die Jason dabei zulässt, kann dabei als Gradmesser seiner emotionalen Verbundenheit mit seinen Mitmenschen gelten. Das drückt sich nicht nur in der Beziehung zu seinem Bruder Salomon, seiner Nichte Jettchen und seinem Onkel Eli aus, sondern auch zu Kößling, mit dem sich Jason auf andere Art verwandt fühlt  : »ich habe ihn gern, weil ich so viel an ihm sehe und wieder finde, was mal in mir war, ja, weil eigentlich mehr in ihm ist, als je in mir war.«216 Allerdings lässt Jason seine Eigenart als Flaneur, Dinge und Menschen nur ausschnitthaft wahrzunehmen, zuweilen falsche Schlüsse ziehen. Das wirkt sich v. a. im Roman Henriette Jacoby fatal aus. Jason erkennt die Gefühlsverwirrung Jettchens nicht und kann deshalb auch nicht angemessen darauf reagieren. Die im Text nicht nur benannten, sondern teils auch ausführlich geschilderten Straßenzüge lassen sich durch erzählte und imaginierte Verbindungslinien zu einem Wegenetz verknüpfen, das zunächst zwar nur auf eine zufällige Anordnung alltäglicher (Vor-)Gänge im (sozialen) Raum zu verweisen scheint, bei näherer Betrachtung aber eine semiotische Grundstruktur erkennen lässt, die unauflösbar mit den Figuren und ihren Handlungen verbunden ist. Nicht zuletzt deshalb geben Überlegungen Michel de Certeaus über »Praktiken im Raum«, die den Bereich des Performativen betonen, eine geeignete theoretische Folie ab, um einzelne Aspekte der Raumkonstruktion in Georg Hermanns Roman zu betrachten. Dass den ›Routen‹,217 die in dem erzählten Stadtraum begangen werden, eine hervorgehobene Bedeutung zukommt, lässt schon der erste Satz erahnen  : »Es kann sich wohl kaum noch einer erinnern, wie damals Jettchen Gebert die Königstraße entlang ging.«218 Dieser Satz ruft nicht nur einen auch zur Entstehungszeit des Romans existierenden und damit auch ontologisch begehbaren Raum auf.219 Er setzt gleichzeitig die Geschichte in Gang und stellt eine Beziehung her zwischen dem heterodiegetischen Erzähler, dem Erzählten 215 Hermann, Jettchen, S. 14. 216 Hermann, Jettchen, S. 158. Diese Dualitätsbeziehung spielt dann v. a. in Henriette Jacoby bezüglich Jettchens Zuneigung zu Jason eine wichtige Rolle. 217 Den Begriffen ›Route‹, ›parcours‹ (übersetzt mit Wegstrecke) und ›Karte‹ räumt de Certeau in seiner Theorie des Handelns einen besonderen Stellenwert ein. 218 Hermann, Jettchen, S. 9. 219 Vgl. dazu auch Kirsten Wagner, »Wanderung« und »Karte« als epistemologische Begriffe der Aneignung und Repräsentation von Räumen, in  : Böhme, Topographien, S. 177–206.



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und dem Leser. Raum entsteht in dem Roman also nicht nur durch dessen performative Erschließung der Figuren im Gehen oder die Aktivitäten der Figuren als erzählte soziale Handlung, sondern potenziell auch durch die Imagination und Erinnerung des Lesers und des Erzählers.220 Da allerdings die Erinnerung an die im Roman erzählte historische Epoche selbst im Erscheinungsjahr des Romans 1906 wahrscheinlich nur noch wenigen Personen möglich gewesen sein dürfte, übernimmt der Erzähler stellvertretend diese Position des Erinnernden. Auf einer Metaebene wird in der Folge die »Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes  – bildet.«221 Der Akt des Lesens fungiert dann in zweifacher Hinsicht als Spaziergang durch den Raum des Textes, denn der Leser kann den Figuren nicht nur auf ihren geographischen Routen folgen, sondern er kann sie auch im metaphorischen Sinn auf ihren Abwegen und letztlich auf ihrem »Lebensweg«222 begleiten. Doch im Gegensatz zu den Figuren werden dem Leser selbst dort Einblicke gewährt, wo den Figuren die Übersicht abhanden kommt  : [S]ie gingen hinüber, mischten sich in das Gewühl und ließen sich von Stand zu Stand schieben. […] Es war eine wilde Orgie in Rot, die sich in das dunkle Innere der lichtlosen Buden verlor. […] und dazu der Lärm – der Lärm, das Durcheinander von Frauenstimmen – und der Staub von den vielen Schuhen und Röcken.223

In dieser animalischen, akustisch und optisch fragmentarisierten Atmosphäre des pulsierenden Marktes am Marienplatz verliert Kößling Jettchen gegenüber das erste Mal die Façon. Auf seine Feststellung, dass dieser Ort »nicht nur lustig, [sondern] geradezu schön [sei], weil es Leben ist, heiß und zuckend«, reagiert Jettchen aber noch ganz der Konvention entsprechend. Ihre Erwartung an einen 220 Diese Anmerkung bezieht sich zunächst natürlich auf die zeitgenössischen Leser des Romans. Andererseits wird mit der direkten Anrede des Erzählers an den impliziten Leser, der jeder zeitlichen Gebundenheit enthoben ist, eine Unmittelbarkeit erzeugt, die den Erinnerungsprozess von vorneherein vom Status der begrenzten historischen Möglichkeit auf den imaginierten Vorgang im Rahmen eines jeden stattfindenden Leseakts verlagert. 221 De Certeau, Praktiken im Raum, S. 345. 222 Auf der Figurenebene wird ein analoger Vorgang sogar explizit gemacht, siehe dazu Hermann, Jettchen, S.  24  : »Sie schlenderten wieder die Spandauerstraße herauf, streckenweise mußte Onkel Jason hinterherhinken, da nicht drei nebeneinander gehen konnten auf dem schmalen höckerigen Streifen von Bürgersteig. Jason tat das fluchend und räsonierend, daß eigentlich Kößling hinterherlaufen müßte, da besagte Dame seine Nichte wäre und jenen gar nichts anginge. Aber Kößling meinte, daß der andere so lange Jahre schon den Vorzug genossen habe, neben ihr diesen Lebensweg zu gehen, daß man es ihm nicht verargen könne, wenn er nun auch der gleichen Vergünstigung teilhaftig werden möchte.« 223 Hermann, Jettchen, S. 125 f.

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Ort scheint ebenso wie ihre Rolle als Frau an alltagspraktischen Funktionen ausgerichtet  : »Möglich, – aber darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich habe nur immer gedacht, wo ich das beste Fleisch herbekomme.«224 Diesen Gestus behält Jettchen bei bis zu Kößlings Besuch in Charlottenburg. Da jedoch, beim gemeinsamen Spaziergang durch den Garten, erscheint Kößling die junge Frau »erst ganz sie selbst«.225 Er übernimmt in dieser räumlich gänzlich flexiblen Situation mehrfach die Rolle eines Binnenerzählers und berichtet Jettchen von der Einsamkeit in seinem »stillen Zimmer«, in der sich »alle möglichen Geschichten« einstellen würden. Wie jene, in der sich ein Mann selbst als kopfloses Monstrum begegnet. Doch diese Szene totaler Dissoziation,226 ausgelöst durch die Atmosphäre seines Untermietzimmers, unterbricht Kößling abrupt, um Jettchen als Gegenentwurf eine raum-zeitlich paradox anmutende »Liebesgeschichte« vorzustellen, die sich dem Leser unschwer als jene zwischen Kößling und Jettchen erschließt. Angesiedelt ist sie »in einem großen Garten« und sie handelt »von zwei Menschen, die einen ganzen Sommer verträumen und gar nicht merken, daß sie alt werden, daß dieser Sommer ihr ganzes Leben gewesen ist.«227 Die Liebe, von der Kößling erzählt, bleibt aber eine vor der Öffentlichkeit verborgene  : [M]an meint immer, die Liebe muß solche Winkel suchen, wo sie ganz sich selbst überlassen sein kann, wo alles nur für sie Spiegel und Echo ist, wo jeder Blick und der Schatten jedes Baumes vor dem Fenster, der breite Gang zwischen den Linden und die verschwiegenen Wege durch die Büsche für sie geschaffen sind.228

Und so ist Jettchen am Ende ihres Spaziergangs durch den Park zwar »frei und froh darüber, daß es zwischen ihnen so zu einer stummen Aussprache gekommen war«,229 aber der Weg im Freien bedeutet für beide letztlich keine Befreiung, sondern nur ein vorübergehendes Ausweichen vor den ihnen von der Gesellschaft zugewiesenen Aufgaben. Jettchen und Kößling bleiben einem Kollektiv verhaftet und verzichten – jeder für sich – auf ihr Recht, ihr Leben selbst zu bestimmen. Wirksam werden die gesellschaftlichen Zwänge scheinbar nur deshalb, weil die Betroffenen die Kraft zum Widerspruch nicht aufbringen. In224 Hermann, Jettchen, S. 127. 225 Hermann, Jettchen, S. 188. 226 Hermann, Jettchen, S.  190  : »Und er bekommt furchtbare Angst, daß es aufkommen könnte, daß er sich den Kopf abgeschnitten habe, und er nimmt seinen Kopf bei den Haaren und trägt ihn in einen Winkel seines Schrankes.« 227 Hermann, Jettchen, S. 190. 228 Hermann, Jettchen, S. 203. 229 Hermann, Jettchen, S. 207.



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sofern bestätigt eine Figurenrede aus dem zeitgleich mit Jettchen Gebert erschienenen Roman Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie das Dilemma von Jettchen und Kößling  : Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins Freie sich gemeinsam unternehmen lassen … denn die Straßen dorthin laufen ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden.230

Ihren »inneren Weg« findet die Protagonistin aber nicht. Schlußendlich befindet sie sich wieder am Ausgangspunkt der Geschichte  : auf der Königstraße. Doch während am Anfang eine frühlingshafte Atmosphäre der Leichtigkeit und des Aufbruchs herrschte und »die Passanten« dem »hübschen Mädchen« nachsahen,231 endet dessen verzweifelte Suche nach einem eigenen und geeigneten Weg nicht im Freien, sondern lediglich ›draußen‹  – in der Einsamkeit einer Herbstnacht  : Sie greift die Schleppe und zieht sie um die Füße, und dann läuft sie, läuft sie nach den Lichtern, nach der Königstraße, ohne einem Menschen zu begegnen. Sie hält, horcht auf, wendet sich, kein Lärmen, keine Schritte, kein Stimmengewirr, – alles still und schwarz.232 4.3 Der ›gute Ort‹

In seinen Nachbemerkungen bezieht sich der Autor dann noch einmal auf das räumliche Eingangsszenario des Vorworts, einen Friedhof in Berlin  : den ›guten Ort‹, wie er im jüdischen Kontext bezeichnet wird. Dabei erfährt der Leser, dass der kleine unbeheimatete Wolfgang in seinem kurzen Leben keinen Ort und keinen Platz mehr gefunden hat. Er hatte sich »scheu beiseite« geschlichen, bevor ihm noch das Verständnis für das wunderfeine Uhrwerk der griechischen Sprache erblüht war, und der keine Lücke hinterließ, nirgends – nicht einmal in seiner Klasse, denn keiner seiner Mitschüler brauchte auch nur um einen Platz heraufzurücken, als es hieß, daß Wolfgang nun andauernd und in alle Ewigkeit dem Unterricht fernbleiben würde.233 230 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, hier zitiert nach der TB-Ausgabe, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Das erzählerische Werk, Band 4. Frankfurt am Main 1982, S. 205. 231 Hermann, Jettchen, S. 10. 232 Hermann, Jettchen, S. 425 f. 233 Hermann, Jettchen Gebert, S. 426.

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Im letzten Satz schließlich erinnert der Erzähler, ohne dessen Namen zu nennen, an Kößling. Doch im Gegensatz zu dem Jungen Wolfgang, dem wenigstens nach seinem Tod ein benennbarer Ort zugestanden wurde, hat er als Christ keinen Grabplatz auf diesem Friedhof. Aber, wie der Leser erfährt, man setzte ihm auch sonst »keinen Stein« und er ruht »auf keinem begrenzten Friedhof«.234 Ohne es explizit auszusprechen, wird hier schon angedeutet, dass Kößling sein Leben als Selbstmörder beschließen wird. Hatten alle Figuren zu Lebzeiten (im Text) ihren Raum, so haben sie  – bis auf Kößling  – am Ende ihres erzählten Lebens einen Ort. Davon künden die Grabsteine. Kößling allerdings bleibt als einziger ausgeschlossen, selbst im Tod wird ihm ein ›eigener‹ Ort vorenthalten. In dieser Anordnung manifestiert sich ein besonderes Verhältnis von (erzähltem) Ort und Raum, das wiederum an Michel de Certeau denken lässt. Der französische Poststrukturalist unterscheidet Raum und Ort u. a. nach ihrem Stabilitätsmodus. Gilt ihm ein Ort als »eine momentane Konstellation von festen Punkten«, die »einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität« enthält, so gibt es ihm zufolge im Raum »weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ›Eigenem‹.« Schließlich gelangt de Certeau zu der Einsicht  : »der Raum [ist] ein Ort, mit dem man etwas macht.«235 Für den Bereich der Erzählungen führt er den Gegensatz von Ort und Raum im Weiteren auf »das Dasein von etwas Totem« respektive auf »Handlungen, die […] die ›Räume‹ durch die Aktionen von historischen Subjekten abstecken«, zurück. Zwischen diesen Anordnungen vermutet de Certeau Übergänge, wie zum Beispiel die Tötung (oder Verbannung) von Helden, die Grenzen überschreiten und die, da sie schuldig sind, gegen das Gesetz des Ortes verstoßen zu haben, durch ihr Grab zur Wiederherstellung des Gesetzes beitragen  ; oder auch, im Gegensatz dazu […], die durch ihr Aufgeben ihrer Stabilität den Ort verändern, an dem sie in der Fremdheit ihres eigenen Raumes geruht haben.236

In einem solchen Übergangsszenario bewegen sich Jettchen Gebert und Kößling. Doch während Jettchen narratologisch betrachtet trotz ihrer Grenzüberschreitung ihren Ort zumindest im Text behaupten kann, wird Kößling, der in einem See ertrinkt, am Ende dem Blick des Lesers zur Gänze entzogen.237 Von ihm kündet kein Ort, keine Spur. 234 Hermann, Jettchen Gebert, S. 427. 235 De Certeau, Praktiken im Raum, S. 345, [Kursivstellung im Original]. 236 De Certeau, Praktiken im Raum, S. 346. 237 Georg Hermann, Henriette Jacoby. Berlin 31916, S. 366  : »Dann aber sah er Sterne, viele Sterne, immer in Mustern zwischen den Kiefernkronen stehen. Und wieder wurde es hell – ein Wind



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5. Hugo Bettauer Stadt ohne Juden (1922) – Artur Landsberger Berlin ohne Juden (1925) Eine wesentliche Forschungsperspektive des bis 2004 bestehenden Grazer Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, die vor allem von Moritz Csáky mit Nachdruck immer wieder betont wurde, bezog sich auf die Neubewertung der plurikulturellen Verfasstheit der Habsburgermonarchie.238 Die zentraleuropäische Region der Habsburgermonarchie, die aufgrund ihres hybriden Charakters als exemplarischer Schauplatz der Krisenerscheinungen der Moderne angesehen wird, wird infolgedessen auch als »Laboratorium der Postmoderne« interpretiert.239 Die sprachliche, kulturelle und religiöse Pluralität der Bevölkerung führte seit den 1870er-Jahren im Zuge der Nationalisierungsbestrebungen, der Industrialisierung sowie der Politisierung vor allem in den urbanen Zentren zu brisanten Konstellationen, die – zunächst im übertragenen Sinne – ein »Schlachtfeld der nationalen Chauvinismen, der ethnischen und sozialen Gegensätze und schlußendlich der Rassismen aller Art und des Antisemitismus«240 eröffneten. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich zwar mitunter eine nostalgisch-verklärte Rückschau auf das Habsburgerreich, andererseits verstärkten sich aber im Zuge der als notwendig erachteten Positionierung vieler gesellschaftlicher und politischer Gruppen in der neuen Republik die Abgrenzungstendenzen untereinander. Der Antisemitismus, der seit den 1880er-Jahren nicht nur als antiliberale, sondern auch als nationalistische Bewegung angesehen werden muss,241 erlebte in diesem Umfeld Jahrzehnte nach dem Berliner Antisemitismusstreit eine für viele Juden unerwartete Aktualisierung, die in Österreich und Deutschland in

kam von weit herüber über eine große Wasserfläche. Ein seltsames und unheimliches Schreien hörte er aus dem Schilf – Wolken trieben auf ihn zu und der Regen, der Regen, der ihm so ins Gesicht peitschte […].« Danach erfährt der Leser nur noch, dass Kößling »nicht in seine Wohnung zurückgekehrt war.« (S. 367.) 238 Siehe z. B. Moritz Csáky, Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in  : Catherine Bosshart-Pfluger, Joseph Jung, Franziska Metzger (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten [= Festschrift für Urs Altermatt]. Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2000, S. 27. 239 Vgl. dazu Heidemarie Uhl, Pluralität  – Eindeutigkeit. Denkfiguren der (Post-)Moderne als transdisziplinäre Forschungsperspektiven im SFB Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, in  : newsletter Moderne 1 (2003) Sonderheft 2  : Pluralität – Eindeutigkeit, S. 2–7. 240 Jacques Le Rider, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs. Essay. Wien 1994, S. 78. 241 Vgl. dazu Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus  : Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, [=  Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft  ; 15]. Göttingen 1975, S. 106 ff.

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verschiedenen Lebensbereichen wirksam wurde.242 Jüdische Schriftsteller reagierten in ihren publizistischen und literarischen Arbeiten sehr sensibel auf diese Entwicklungen. Doch Hugo Bettauer und Artur Landsberger nehmen in diesem Kontext mit ihren beiden – aus damaliger Sicht – überzeichnet wirkenden Romanen eine absolute Ausnahmestellung ein.243 Zwischen dem Erscheinen ihrer Romane Die Stadt ohne Juden und Berlin ohne Juden und des Romans von Fritz Mauthner Der neue Ahasver liegen über 40 Jahre. In dieser Zeit prägte der Antisemitismus sowohl in Deutschland als auch in den Ländern der Habsburgermonarchie bzw. in deren Nachfolgestaaten nicht nur verschiedene Varianten aus,244 sondern er radikalisierte sich in unvermuteter Weise. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs unterscheidet ein wesentliches Faktum die deutsche von der österreichischen Situation  : Der vor allem im Alltag zum Tragen kommenden antisemitischen Einstellung vieler Bevölkerungsgruppen stellte sich Kaiser Franz Joseph unbeirrt bis zu seinem Tode im Jahre 1916 entgegen.245 Am deutlichsten manifestierte sich diese Haltung nach den Wahlen des offen antisemitisch agierenden Karl Lueger zum Wiener Bürgermeister Mitte der 1890er-Jahre, deren Ergebnisse der Kaiser mehrmals ignorierte und Lueger die Ernennung zunächst verweigerte. Der im Zuge des Ersten Weltkriegs von Kaiser Wilhelm II. ausgerufene »Burgfrieden« schien Jahre später – nicht nur aus der Sicht vieler deutscher Juden – dem Antisemitismus eine offizielle und nachhaltige Absage zu erteilen, bis sich anlässlich der so genannten »Judenzählung« im deutschen Heer 1916 der während der ersten beiden Kriegsjahre offenkundig nur verdeckte Antisemitismus nun um so stärker zu artikulieren begann. Das Selbstverständnis der Juden als gleichberechtigte deutsche und österreichische

242 Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland. Frankfurt am Main 1988. Vgl. z. B. die Kapitel II.1.: Der politische Antisemitismus, und Kapitel I.2.: Der Antisemitismus in den gesellschaftlichen Organisationen. 243 Hugo Bettauer, Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen, 1922, hier zitiert nach der Neuausgabe Hamburg, Bremen 1996. Artur Landsberger, Berlin ohne Juden. Hannover 1925, hier zitiert nach der Neuausgabe, hg. v. Werner Fuld. Bonn 1998. 244 Vgl. z. B. Rürup, Kap.  IV. Antisemitismus  – Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs (gemeinsam mit Thomas Nipperdey), S. 95–114. Trotz der unüberschaubaren Zahl von Publikationen und Forschungsarbeiten der letzten 20 Jahre zum Thema gilt in diesem Zusammenhang noch immer die mehrbändige Darstellung Leon Poliakovs als wegweisend. Vgl. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, 6 Bde. Worms 1977–1987. Vgl. weiterhin Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914. Gütersloh 1966, sowie die zahlreichen Publikationen des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin. 245 Auch sein Nachfolger Kaiser Karl nahm die kaiserliche Schutzfunktion bis zu seiner Abdankung wahr.



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Staatsbürger wurde dadurch nachhaltig erschüttert.246 Schon in den letzten beiden Kriegsjahren wurden vermeintliche »Drückeberger« und »Kriegsgewinnler« zu bevorzugten Zielen antisemitischer Propaganda.247 Die Ermordung Walther Rathenaus, des »deutschesten aller Juden, der im Geiste der Bergpredigt dachte und schrieb«,248 im Jahre 1922 markierte schließlich unmissverständlich die Radikalisierung der zunehmend rassistisch ausgerichteten Form des Antisemitismus. In diesem Kontext sind auch die zunächst ›nur‹ verbalen und medialen Angriffe gegen die osteuropäischen jüdischen Flüchtlinge, die in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren nach Berlin und Wien gekommen waren, zu erklären. Nicht selten sahen sich Flüchtlinge auch mit der Ablehnung des ortsansässigen jüdischen Mittelstands konfrontiert. Die ambivalente Haltung der bürgerlichen Bevölkerung den Flüchtlingen gegenüber, die auch immer wieder in literarischen und publizistischen Texten Erwähnung findet, zeigte sich andererseits aber in der Unterstützung der Flüchtlinge z. B. durch diverse Hilfsvereine. 5.1 Schtetl und Stadt

Charakteristisch für diese Ambivalenz ist einerseits die vielfach mit Metaphern der kulturellen Fremdheit argumentierende Ablehnung der osteuropäischen Juden, andererseits die Idealisierung des osteuropäischen Judentums. Die generell destabilisierenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs in kultureller, sozialer, politischer, aber auch in religiöser Hinsicht verstärkten in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und in Deutschland auch die innerjüdischen Auseinandersetzungen um ein neues Selbstverständnis. Für Österreich gilt diese Feststellung in besonderem Maße  ; denn unabhängig von der religiösen, politischen oder nationalen Ausrichtung fanden sich die ehemals habsburgischen Juden nun völlig unvorbereitet und unvermittelt in einem als katholisch und deutschnational wahrzunehmenden Kleinstaat, der Österreich nach dem Ende der Verhandlungen in St. Germain und Trianon geworden war, wieder. In Deutschland provozierten vor allem die politischen Unruhen, die »Dolchstoßlegende« und die Neuordnung der Parteienlandschaft individuelle und kollektive Positionierungen. Auf der Suche nach einer kulturellen Neuorientierung rückte unter anderem auch das vage Bild eines als ursprünglich verstandenen jüdischen 246 Siehe dazu John Weiss, Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich, Kap. Die antisemitische Welle nach dem Krieg. Hamburg 1997, S. 301 ff. 247 Vgl. dazu u. a. Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, welt­anschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 2001. 248 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 6.

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Lebens in den Blick, das zunächst recht unspezifisch »im Osten« Europas verortet wurde, das aber augenscheinlich mit dem Strom jüdischer Kriegsflüchtlinge in die westlichen Städte gekommen war. Da konkrete Zusammentreffen zwischen Ortsansässigen und Zugewanderten nicht zuletzt aufgrund der sozialen Differenzen jedoch nur sehr eingeschränkt zustande kamen, deckten sich Vorstellung und Realität der Verhältnisse nur sehr bedingt. In dieser Situation avancierten literarische und publizistische Texte gewissermaßen stellvertretend zu Medien der Begegnung, indem sie in unterschiedlicher Weise ›ostjüdische‹ Lebenswelten darstellten und verhandelten. Die in diesem Kontext relevante Literatur – bereits vor dem Krieg durch Martin Bubers Sammlungen chassidischer Erzählungen Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des Baalschem (1907) eingeleitet249 – übernahm hier allerdings weniger eine objektiv vermittelnde Funktion. Es etablierte sich in deren Umfeld vielmehr eine romantisierende Vorstellung des so genannten ›Ostjuden‹. Ghettogeschichten alter Prägung entstanden zumindest in deutscher Sprache in den Kriegs- und Nachkriegsjahren nur noch vereinzelt.250 Artur Landsberger gab zwar 1914 und 1916 zwei Anthologien mit Geschichten weitgehend unbekannter vorwiegend osteuropäischer Autoren heraus,251 doch das Schtetl oder das jüdische Dorf werden darin nicht mehr wie in den deutschsprachigen Texten des 19. Jahrhunderts als Austragungsort von Generationskonflikten oder von Auseinandersetzungen zwischen religiösen Kontrahenten dargestellt. Vielmehr fungierten sie einerseits als Schauplatz harmloser Idyllen im Kontrast zu der komplexen, den zunehmenden Antisemitismus inkludierenden Erfahrungswelt des städtischen Lesepublikums, andererseits bildeten sie einen Anknüpfungspunkt für die Erinnerungen jener jüdischer Soldaten, die während des Krieges erstmals mit osteuropäischem jüdischem Leben in Berührung gekommen waren. Auch deutsche und österreichische Schriftsteller und Publizisten nahmen in ihren Kriegserinnerungen und Reisebeschreibungen Bezug auf ihre nicht selten als Besatzer (z. B. in ›Oberost‹) gemachten Beobachtungen und Erfahrungen. Eine Folge davon bildete »eine massive Glorifizierung ostjüdischen Lebens«.252 Prominent wären in diesem Zusammenhang etwa Arnold Zweig (Das ostjüdische Antlitz 1919), Alfred Döblin (Reise in Polen 1925) oder Sammy Gronemann (Hawdoloh und 249 Vgl. dazu auch Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, a. d. Engl. übersetzt v. Holger Fliesbach. München 2000, S. 158 f. 250 Vgl. z. B. Grünfeld, Mährische Dorfjuden, oder Hermann J. Blumenthal, Polnische Judengeschichten. Wien, Brünn 1919. 251 Artur Landsberger, Das Ghettobuch, sowie ders., Das Volk des Ghetto. Hermann Blumenthal hat die Erzählungen von Ben Jakob, David Pinski, Marek Scherlag, Abraham Reisen, Jehudah Steinberg, Schalom Asch, Scholem Aleichem u. a. großteils übersetzt. 252 Brenner, Jüdische Kultur, S. 159.



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Zapfenstreich 1924) zu nennen. Weniger bekannt sind beispielsweise Arthur Silbergleits Gedichtband Die Balaleika (1921) oder die Romane von Isaac Breuer, einem Enkel des Begründers der Neo-Orthodoxie Samson Raphael Hirsch, Ein Kampf um Gott (1920) und Falk Nefts Heimkehr (1923), auf die Michael Brenner wieder aufmerksam gemacht hat.253 Bei aller Unterschiedlichkeit der inhaltlichen und formalen Gestaltung dieser Texte bündelt sich die positive Deutung der neu entdeckten ostjüdischen Lebenswelt in der Betonung der Spiritualität, Glaubensintensität und geistigen Tiefe. Diese bleiben aufgrund ihrer Ursprungskraft den westlichen Zeitgenossen, die ihrem Judentum mehr oder weniger entfremdet sind, trotz aller Bewunderung letztlich aber doch verschlossen. Das Bild des ›Ostjuden‹ firmiert also zur Projektionsfläche einer gleichermaßen verlorenen wie ersehnten Welt. Aus einer urbanen säkularen Sicht symbolisiert es gewissermaßen eine uneinholbare Vergangenheit der Vätergeneration. Oder, um es pointiert auszudrücken  : Das literarische Bild des ›Ostjuden‹ ist ohne die Großstadt, ohne die urbane Folie, vor der es sich kontrastreich entfalten konnte, nicht denkbar. Im Gegensatz zu den genannten Autoren Zweig, Gronemann oder Döblin kennt der im galizischen Brody geborene Joseph Roth die jüdische Welt Osteuropas seit seinen Kindertagen. In seiner 1927 erschienenen Textsammlung Juden auf Wanderschaft254 beschreibt Roth die religiösen Traditionen und die Lebensweise im Schtetl ebenso wie die bedrückenden Verhältnisse, denen die osteuropäische jüdische Bevölkerung in Ost- wie in Westeuropa ausgesetzt ist. Wie schon in seinen ab den frühen 1920er-Jahren entstandenen Berliner Reportagen schildert Roth das entbehrungsreiche Leben der nach Wien und Berlin gekommenen Flüchtlinge, die nach dem Krieg das Schtetl durch ihre körperliche Präsenz gewissermaßen in die Metropolen verlagert haben. Damit verbindet Roth gleichzeitig seine Kritik an der vielfach überheblichen Haltung der Westeuropäer, die mit einem billigen und sauren Wohlwollen von den schwanken Türmen westlicher Zivilisation auf den nahen Osten hinabschielen […]  ; aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation bedauern und aus Furcht vor Ansteckung arme Emigranten in Baracken einsperren, wo die Lösung eines sozialen Problems dem Massentod überlassen bleibt.255

253 Michael Brenner, East and West in Orthodox German-Jewish Novels (1912–1934), in  : LBI Year Book 37 (1992), S. 309–323, bes. S. 318–323. 254 Im Folgenden zitiert nach der Neuausgabe  : Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft. Amsterdam, Köln 1976, 1985. 255 Roth, Juden auf Wanderschaft, S. 9.

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Die in die westlichen Städte geflüchteten Juden werden in »ihrer biblischen Leidenskraft«256 nun zum traurigen Sinnbild der Gemordeten, Verlorenen und Bedrohten  : »Im ganzen sind 50.000 Menschen aus dem Osten nach dem Kriege nach Deutschland gekommen. Es sieht freilich aus, als wären es Millionen. Denn das Elend sieht man doppelt, dreifach, zehnfach«.257 Gleichzeitig macht Joseph Roth darauf aufmerksam, dass diese Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem massiven Antisemitismus gesehen werden müssen. Ihm sind »Hunderttausende […] aus der Ukraine, Galizien, Ungarn« in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Opfer gefallen, was heute kaum noch im öffentlichen Bewusstsein verankert ist.258 Dass die Bedrohung aber nicht nur in der aus westlicher Sicht vermeintlichen Ferne virulent ist, sondern zunehmend auch in Deutschland, macht Roth nicht zuletzt in seinem Romanerstling Das Spinnennetz (1923) am Beispiel von Berlin und München deutlich. Er thematisiert darin als einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller den deutschen Nachkriegs-Antisemitismus als urbanes Phänomen. Wie sich in diesem Kontext das Bedeutungsspektrum des erzählten Stadtraums im Vergleich zu den vor dem Krieg entstandenen Texten verändert, ließe sich an einer Reihe von in den 1920er-Jahren entstandenen – heute meist vergessenen – Romanen nachweisen. Hatte sich die Stadt in den Romanen vor dem Ersten Weltkrieg häufig als Ort des Aufstiegs, der bürgerlichen Akkulturation, als Ort vermeintlicher Sicherheit und Anerkennung, als Ort der Offenheit, aber auch des Vergessens – nämlich von Tradition und Herkunft  – präsentiert, so werden in deutschsprachig-jüdischen Nachkriegstexten diese Vorstellungen in der Eindeutigkeit ihrer Konnotationen auf- bzw. abgelöst. Es spiegeln sich darin sowohl die Erfahrungen des Krieges, aber vor allem der unmittelbaren Nachkriegszeit wider. In Deutschland, mehr noch in Österreich hatten die Menschen nach dem Zerfall der Monarchien »Verirrung, Gefühlsunsicherheit und nihilistische Verzweiflung« erfasst, wie Claudio Magris es ausdrückt.259 Die Diskussionen um Identitäten und Zugehörigkeiten mussten vor allem in den Nachfolgestaaten der Habsburgermon256 Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur (1963). Wien 2000, S. 304. 257 Joseph Roth, Flüchtlinge aus dem Osten, in  : Neue Berliner Zeitung, 12-Uhr-Blatt, 20.10.1920, GW I, S. 383 ff., hier zitiert nach  : Joseph Roth in Berlin, hg. v. Michael Bienert. Köln 1996, S. 78. 258 Siehe Roth, Flüchtlinge, S. 78. Das alte Schtetl ist unwiederbringlich zerstört, neue Staaten wie Polen oder die für kurze Zeit bestehende Ukraine bringen der jüdischen Bevölkerung im Zuge der radikalen Nationalisierung nicht nur massive wirtschaftliche Bedrückung, sondern auch den Tod. In der Ukraine werden unter der Ägide des Hetmans Symon Petljura in Bürgerkriegspogromen 1919 geschätzte 100.000 Juden ermordet. In Polen verlieren Juden ihre Arbeitsstellen. 259 Magris, Habsburgischer Mythos, S. 304.



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archie unter gänzlich neuen kulturellen Vorzeichen und veränderten politischen Prämissen geführt werden als vor dem Krieg. Die Krisenhaftigkeit dieser Entwicklungen wird in vielen Erzähltexten der Zeit mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen aufgegriffen. Auffallend ist, dass die fiktional vorgeführten Debatten stärker als je im Spannungsfeld zwischen nationalstaatlichen Positionen und Zionismus – und erst in zweiter Linie zwischen verschiedenen religiösen Strömungen (z. B. Orthodoxie versus Reformjudentum) und ideologisch ausgerichteten Weltanschauungen (Sozialismus und Kommunismus) angesiedelt sind. Unabhängig davon, lässt sich angesichts der historischen Umstände der Antisemitismus jedenfalls nicht mehr ausblenden. Hugo Bettauer und Artur Landsberger stellen ihn nun in sehr drastischer Weise sogar in den Mittelpunkt ihrer Romane. 5.2 Wien und Berlin als Orte des Antisemitismus

Allein die raumbezogene Titel-Gebung der beiden Texte, Stadt ohne Juden und Berlin ohne Juden, deutet auf den Konnex von städtischem Raum und einer potenziellen Bedrohung für Juden hin. Unnötig darauf hinzuweisen, dass man diese Texte heute nicht mehr lesen kann, ohne sie an der historischen »Realität zu messen, vor der [sie] warnen« wollten. Wie Florian Krobb anmerkt, konnte aber auch die »hellsichtigste dichterische Einbildungskraft die Katastrophe« der Shoah nicht voraussehen.260 Nichtsdestoweniger entwerfen diese beiden Romane ein Szenario, das in erschreckender Weise einen auf einer abstrusen rassen-antisemitischen Ideologie fußenden Staat vorzeichnet. Die Zentren dieses fiktiven deutschen bzw. österreichischen Staats werden einmal mit Berlin, einmal mit Wien identifiziert. Der Wiener Schriftsteller Hugo Bettauer legte seinen ästhetisch wenig anspruchsvollen, aber inhaltlich brisanten und satirischen Kolportageroman schon 1922 vor. Er erzählt darin die groteske Geschichte der Vertreibung der österreichischen bzw. Wiener Juden nach dem Ersten Weltkrieg und deren Folgen für die österreichische Gesellschaft und Wirtschaft. Als Hauptverantwortlicher fungiert der christlichsoziale Bundeskanzler Dr.  Schwertfeger, eine Figur mit deutlichen Anspielungen auf den früheren antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, aber auch auf Leopold Kunschak, einen »Führer der Christlichsozialen in den 1920er-Jahren, [der forderte] die Juden wieder in Ghettos oder in besondere Lager zu stecken.«261 Schwertfeger gelingt es aufgrund der 260 Florian Krobb, Hugo Bettauer, in  : Kilcher, Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S. 65. 261 Weiss, Der lange Weg zum Holocaust, S. 302 f. Der christlichsoziale Bürgermeister von Wien hatte auch schon die Ausweisung der »aus dem Osten eingewanderten Juden« gefordert. Gene-

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Schwäche der Sozialdemokraten, Kommunisten und Liberalen sowie unter Ausnutzung seiner Machtposition innerhalb kürzester Zeit, ein Verfassungsgesetz durchzusetzen, das die Ausweisung aller Juden aus Österreich und die Einziehung ihres Vermögens vorsieht. Bettauers Buch endet jedoch mit einem positiven Ausblick. Nachdem die jüdische Bevölkerung das Land und damit auch Wien verlassen hat, bricht das Gemeinwesen unter den wirtschaftlichen und kulturellen Folgen zusammen. Die Vertreibung führt zum Gegenteil dessen, was ihre Propagandisten den »österreichische[n] Arier[n]«262 versprochen hatten. Befördert durch eine Plakatkampagne, die der jüdische Protagonist Leo Strakosch verdeckt führen kann, holen die Wiener schließlich »ihre« Juden reumütig wieder zurück. »Mein lieber Jude«, dieser Willkommensgruß des Bürgermeisters Laberl, zu dem er »segnend seine Arme«263 ausbreitet, bildet den Schlusssatz des Romans. Ähnlich versöhnlich endet auch die drei Jahre später vorgelegte Version Artur Landsbergers, Berlin ohne Juden, mit der sich der Autor – vor allem durch die Sichtbarmachung und Kommentierung antisemitischer Vorgangsweisen und Mechanismen – von der Harmlosigkeit der Wiener Vorlage abheben wollte.264 Landsberger hatte die Stadt Berlin schon in seinen ersten Romanen Wie Hilde Simon mit Gott und dem Teufel kämpfte (1910) und Millionäre (1913) als narrativ wirksamen Schauplatz entfaltet. Die in diesen Texten um teilweise abenteuerlich anmutende Handlungen formulierte, nicht zu übersehende Kritik an Berliner jüdischen Aufsteigerfamilien  – teilweise waren deren reale Vorbilder bekannt265 – hatte ihm damals teilweise heftige Ablehnung eingetragen. Dazu äußert er sich noch einmal in seinem »Pro domo« betitelten Vorwort zu Berlin ohne Juden, damit aber gleichzeitig einen indirekten Appell an seine Leserschaft verbindend  : »… ich schrieb in meinen Anfängen (1910–1914) einmal Berliner Sittenromane, in denen ich moralische Minderwertigkeit gewisser Berliner Gesellschaftskreise Wissenden und Ahnungslosen ad oculos demonstrierte. Ich rell lässt sich konstatieren, dass in Deutschland und Österreich seit den 1870er-Jahren im Zuge mehrerer antisemitischer Wellen die Ghettoisierung oder Ausweisung der jüdischen Bevölkerung immer wieder formuliert wurde. Vgl. dazu sehr allgemein Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 213. 262 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 15. 263 Bettauer, Stadt ohne Juden , S. 194. 264 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 5  : »Irgendwer gab mir Bettauers Buch Die Stadt ohne Juden zu lesen. Eine Reihe harmloser Feuilletons, zusammenhanglos aneinandergereiht und doch für mich Stimulans genug […]«. 265 So erkannte man in »Hilde Simon« Landsbergers geschiedene Frau, eine Tochter der Familie des Berliner Warenhausbesitzers Wertheim. Vgl. dazu Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 215.



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hoffte, zu bessern.«266 In der »Tragi-Satire«267 Berlin ohne Juden wiederholt der Autor nun seine im Lichte der zeitgenössischen antisemitischen Propaganda allerdings noch schwerer wiegende Kritik, hier z. B. an der Figur eines Bankier expliziert  : Aber daneben gab es die vielen Neureichen, die mit ihrem Vermögen meist schon im Ausland festsaßen, als das Judengesetz vor den Reichstag kam. Diese Art Juden, die sich schon in der Heimat so laut vorgedrängt hatten, erregte auch hier [in London] durch ihr protziges Auftreten Ärgernis.268

Die Problematik solcher – hier durch die Erzählerinstanz vorgetragenen – Aussagen erschließt sich von selbst  ; ähnliche Argumentationen fanden sich auch in antisemitischen Kontexten bzw. sie konnten als Bestätigung antisemitischer Stereotype gewertet oder umgedeutet werden. Auf der Figurenebene werden derartige Ansichten ebenfalls formuliert. So wird beispielsweise aus der Sicht positiv besetzter jüdischer Figuren schon vor der Ausweisung »›zwischen guten und schlechten Juden‹«269 unterschieden. Diese Einstellung ändert sich auch nach der Vertreibung nicht, sie scheint sich vielmehr dahingehend durchzusetzen, dass im Zuge der Rückkehr der Juden nach Deutschland, die ein junger jüdischer Professor zusammen mit einem ehemaligen Parteigänger des antisemitischen »Nationalverbands« ins Werk setzt, eine regelrechte Separierung zwischen den sich wohl Verhaltenden und den »Neureichen« stattfindet. Der in England gegründete »Verband deutscher Juden«270 schließt die so genannten »Rischeßmacher« (Rischeß = hier  : Judenfeindschaft) sogar von den Rückkehrmaßnahmen aus. ›Rischeßmacher  !‹ Damit waren sie abgestempelt. […] Nicht nur die deutschen Juden nannten sie von nun ab so. Auch die Amerikaner, Engländer, Franzosen und alle anderen Völker sagten, wenn sie von ihnen sprachen, nur noch  : Rischeßmacher  ! – im Gegensatz zu den Juden. Und eine […] Zählung ergab, daß von 586.000  Juden 552.000 Verbandsmitglieder wurden, so daß es demnach 34.000 Rischeßmacher gab.271

Die solchermaßen im Exil vollzogene Trennung scheint bereits in Berlin – auch topographisch – vorgezeichnet. Ähnlich wie schon Fritz Mauthner setzt Lands266 Landsberger, Berlin ohne Juden S. 5. 267 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 7. 268 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 202. 269 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 116. 270 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 203. 271 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 203. [Kursivstellung im Text.] Landsberger vertritt hier – wenngleich auf der Ebene der Erzählung – eine durchaus unglückliche Position.

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berger den Stadtraum Berlin mit den vermeintlichen Eigenschaften seiner Bewohner ins Verhältnis. Besonders die im Tiergartenviertel und in der Nähe des Kurfürstendamms residierenden Personen werden in ihrem Verhalten tendenziell negativ dargestellt.272 Die damit einhergehende, textimmanent auf unterschiedliche Weise wirksam werdende Markierung von »guten und schlechten Juden« wird so in der räumlichen Platzierung der Figuren im Stadtraum verdoppelt. Trotzdem tritt die diesbezüglich kritische Haltung des Autors in Berlin ohne Juden im Vergleich zu früheren Texten Landsbergers in den Hintergrund. Der Roman, in dem der Autor u. a. der Frage nachgeht »Wie sähe es in Deutschland ohne Juden aus  ?«,273 verdankt sich schließlich der Erkenntnis über »das tragische Schicksal seines Vaterlandes«.274 Wenngleich er dennoch mit heftigen Reaktionen auch auf dieses Buch rechnet, so tritt er eventuellen Ressentiments mit dem argumentativ nicht zu überbietenden Hinweis auf seinen persönlichen Schmerz, den er als Deutscher über die politischen Entwicklungen empfinde, gegenüber.275 Werner Fuld, der Herausgeber der Neuauflage des Romans, bezeichnet Landsberger, der sich in seinem Roman teilweise sehr detailliert auf »damalige Tagesaktualität« bezieht,276 ob seiner ambivalenten Haltung allerdings als »blinden Propheten«.277 Denn obwohl der Schriftsteller den Aufstieg der Nationalsozialisten, im Roman als »Nationalverband der ausgebeuteten Klassen« benannt, und ihren Antisemitismus so hellsichtig beschreiben konnte, wählte auch er ein happy end für seinen Roman  : »Unter dem Namen ›Deutsche Partei‹ vereinigten [sich die] Deutschnationalen, Deutsche Volkspartei, Zentrum, Demokraten und der rechte Flügel der Sozialdemokraten.«278 Diese »bür272 Vgl. dazu allgemein Michael Günther-Kaminski, Michael Weiß, »… als wäre es nie gewesen«  : Juden am Ku’damm. Berlin 1990. 273 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 5. 274 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 7. 275 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 7  : »Schließlich  : ich bin zwar kein ζωον πολιτιχον – wohl aber Deutscher, den das tragische Schicksal seines Vaterlandes nicht nur zu einem armen – darauf pfeif ’ ich –, sondern auch zu einem einsamen und unglücklichen Menschen machte. Das Tragen dieses Schmerzes aber erscheint mir als Maßstab für den Patriotismus eines Menschen zuverlässiger als das Tragen von Hakenkreuzen und das Absingen patriotischer Lieder.« 276 Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 214. In Landsbergers Roman bildet die Reichstagswahl vom 7. Dezember 1924, die sowohl Kommunisten wie Rechten starke Verluste bescherte, den Ausgangspunkt der Handlung. Diesem Faktum Rechnung tragend, beschreibt Landsberger die Zusammenarbeit des (getarnten) Bolschewisten Pinski mit dem im Roman so genannten »Nationalverband«. »Wie weit diese Zusammenarbeit [tatsächlich, P. E.] gehen sollte, zeigten die Kommunisten bei der Landtagswahl in Preußen am 31. Juli 1932, als sie ihre Anhänger aufriefen, die NSDAP zu wählen.« 277 Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 211. 278 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 207.



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gerliche[n] Parteien«279 stellen eine neue Regierung – der Erzähler spricht von einer »Wiedergeburt« –, die die »Aufhebung des Judengesetzes« beschließt, der wiederum die »Aufhebung des Boykotts«280 durch das Ausland folgt. So wird ein Großteil der vertriebenen Juden zuletzt nach Deutschland zurückgeholt. Nicht nur aus der knappen Passage über die neuen Regierungsparteien lässt sich ablesen, dass der Erzähler eine patriotische bis deutschnationale Position als Identifikationsmuster für deutsche Juden favorisiert. Kulturell steht dafür Goethe als Symbol und letztlich als Garant für jenes aufgeklärte »Vaterland«, dem sich die jüdischen Protagonisten im Roman unbedingt zugehörig und verpflichtet fühlen.281 Prominent vertreten durch den alten Geheimrat Benno Oppenheim, der nicht nur Reichstagsabgeordneter für die »Deutsche Volkspartei«, sondern auch »Repräsentant für die jüdische Gemeinde«282 ist, verstehen sie sich als »deutsche[…] Staatsbürger jüdischen Glaubens« – und wissen sich dadurch einer, wie es im Text heißt, »Mehrzahl unter uns«283 verbunden. Religion als essenzielle Kategorie spielt nach dieser Vorstellung in einem Diskurs über jüdisches Selbstverständnis keine oder bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird durch den »wahrhaftige[n] Chronist[en]«284 der Ereignisse, wie die Rolle des Erzählers einmal charakterisiert wird, die Haltung orthodoxer Kreise am Beispiel des Bankiers Cahn als bigott und letztlich nur formal-observant desavouiert.285 Ähnlich wie Bettauer beschreibt auch Landsberger eine Welt des urbanen – in diesem Fall Berliner – bürgerlich-säkularen Judentums, deren Vertreter ihr Judentum erst in dem Augenblick wieder wahrzunehmen beginnen, als es ihnen durch Zuschreibung von außen und damit verbundener Ausgrenzung bewusst gemacht wird. Den Juden außerhalb Deutschlands fühlt sich Oppenheim eher im Sinne einer historischen Solidargemeinschaft verbunden, indem er beispielsweise »Hilfsaktionen für die russischen Juden«286 unterstützt. Andererseits wird nicht nur aus der Figurenperspektive, sondern auch aus der Position des Erzählers die kulturelle Distanz zu jenen »jüdischen Typen aus dem Osten [deutlich] die man nach dem Kriege zu Hunderten in den Straßen des östlichen

279 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 207. 280 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 207. 281 Verkörpert wird diese Position vor allem durch den jungen Hans Oppenheim, der als Universitätslehrer »den Deutschen […] den Geist Goethes […]« näherbringt. Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 120. 282 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 61. 283 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 59. 284 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 117. 285 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 117. 286 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 33.

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Berlin sah.«287 Ein »jüdisch-nationaler Gedanke«, der, wie Joseph Roth festhält, zu dieser Zeit »im Osten sehr lebendig«288 ist, wird von Landsberger und Bettauer ebenso wenig zur Diskussion gestellt wie zionistische Alternativen der Auswanderung. Obwohl in beiden Texten die Ausweisung deutscher und österreichischer »Juden […], getaufte[r] Juden [und] Judenstämmlinge«289 aus ihren Heimatländern fiktiv durchgespielt wird, werden die Vorbereitungen, die Durchführung und die Auswirkungen dieser Vertreibung beinahe ausschließlich mit den Städten Wien und Berlin in Verbindung gebracht. Vor allem in Bettauers Roman, der im Titel allerdings noch auf keinen bestimmten Ort verweist und damit einen ›Modellfall‹ suggeriert, erscheint die Stadt Wien für die betroffenen Juden als nahezu exklusiver Identifikationsort, der das künstliche Gebilde des nach dem Krieg neu erstandenen Staats eigentlich gar nicht benötigt. In diesem Sinne orientiert sich Bettauer an der historischen Logik der Nachkriegsgeschichte. Weder der jüdische Protagonist Leo Strakosch noch im Roman auftretende jüdische Nebenfiguren diskutieren über ihre nationale Zugehörigkeit zu Österreich oder der Ersten Republik. Sie versuchen vielmehr, ihr Leben aus der Vorkriegszeit beizubehalten. Und dessen Zentrum bildet weiterhin Wien mit seinen unzähligen Theatern, den Kaffeehäusern, den vornehmen Restaurants, aber auch mit dem Wienerwald und dem Kahlenberg sowie der Sommerfrische in Alt-Aussee – letztere kann in gewissem Sinne als transitorische Auslagerung der Stadt aufs Land interpretiert werden.290 Schwertfeger unterstellt den österreichischen Juden in seiner von antisemitischen Stereotypen strotzenden Rede mangelnden Patriotismus. Allerdings orientiert sich der Nationalismus Schwertfegers nicht an Österreich, sondern an Deutschland  : Die Juden aber seien »ja nie Deutsche im Herzen und im Blut« gewesen.291 Der Erzähler legt damit das Fundament für eine auch außerliterarisch wirken wollende Argumentation, die sich an eine nicht-deutschnational orientierte Leserschaft wendet. Ziel bildet die Herstellung einer Solidarisierung mit den (nicht nur im Text) attackierten Juden. Der Autor bezieht sich offenkundig auf die idealistische Vorannahme, dass es letztlich ein integratives Selbstverständnis aller Bewohner der Stadt gebe, das schlimmstenfalls kurzfristig gestört oder irritiert werden könne. Die kulturelle Kohäsionskraft Wiens bestünde demnach – wie es bestimmte images der Stadt bis heute insinuieren – unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Ent287 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 10. 288 Roth, Juden auf Wanderschaft, S. 13. 289 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 21. 290 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 35. 291 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 18.



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wicklungen des Staats. Dieses Konzept einer kulturell gleichsam eigenständigen sowie verschiedene Staatsformen und nationale Ideologien überbietenden Stadt, das u. a. mit den Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg begründet werden kann, unterscheidet Bettauers Wien von Landsbergers Berlin. Bettauers Wien-Bild suggeriert, dass der Staat untergehen, zerstört, neu formiert werden kann, die Stadt hingegen jene Konstante bildet, die den Bewohnern in eigentümlicher Weise identitäre Sicherheit garantiert – selbst wenn sie zunächst Schauplatz einer Vertreibung ist. Im Roman drückt sich diese vermeintliche urbane Kontinuität in den Geschichten einzelner Figuren und ihrer Familien aus. Ihre seit Generationen bestehende Bindung an Wien betrifft nahezu alle Lebensbereiche. »Mein Vater, ein berühmter Kliniker, der nicht wenig zum Ruhm der Wiener medizinischen Schule beitrug, mein Großvater, schon ein erbangesessener Kaufmann vom Mariahilfer Grund und ich selbst«, empört sich ein Schriftsteller, der deutliche Züge Arthur Schnitzlers trägt, über die Vorgänge im Parlament und darüber, dass er, obwohl er »in [s]einen Dramen und Romanen das Wiener Wesen tief erfaßt und wie kein anderer die Wiener Jugend, das süße Mädel erkannt und geschildert habe, […] wie irgend ein galizischer Flüchtling, den eine Spekulationswelle nach Wien verschlagen« hat, das Land verlassen müsse.292 Ein gleichfalls betroffener Lyriker, der dem erfolgreichen Roman- und Dramenschriftsteller die deutsche Hauptstadt als Asylort prophezeit – »Berlin wird sie mit offenen Armen aufnehmen«293  –, macht seine ganze Kreativität von Wien abhängig  : »ich kann nur leben und arbeiten, wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes schlendere […] ich muß um jede Zeile, jeden Vers ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.«294 Er wird das erste Todesopfer der Ausweisung, der er durch Selbstmord zuvorkommt, um seine »empfindsame Seele nicht in der Fremde frieren lassen zu müssen.«295 Der alleinstehende, aufstrebende Maler Leo Strakosch hängt in diesem Sinne weder einem idealisierenden Wien-Bild noch der untergegangenen Habsburgermonarchie nach. Er fühlt sich mit der Stadt verbunden, weil er ein Wiener Mädchen liebt. Dessen positiv gezeichnete Familie, die mental und kulturell dem Österreich der Vorkriegszeit verhaftet ist und damit auf die plurikulturelle Verfasstheit der Habsburgermonarchie referiert, ist mit der Beziehung einverstanden, will die Tochter aufgrund ihrer Jugend aber nicht mit dem Verlobten nach Paris gehen lassen. Die räumliche Trennung des Paars wird schließlich zum Movens für den jungen Mann, inkognito nach Wien zurückzukehren und aus dem Zent292 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 35 f. 293 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 36. 294 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 36. 295 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 39.

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rum der politischen Verfolgung deren Initiatoren und das Gesetz zu bekämpfen. Aus der Sicht der jüdischen Protagonisten fungiert das ›alte‹ Wien in Bettauers Roman ausschließlich als eigentümlicher und einmaliger Ort der individuellen Entfaltung und der kulturellen Identifikation, nicht als pars pro toto für das Land, dessen Hauptstadt es ist, noch weniger für eine nationale Orientierung. Auch wenn Wien nach dem Krieg nicht mehr die Hauptstadt eines Vielvölkerreichs ist, in dem die jüdische Bevölkerung eine, wenn auch minderheitliche Gruppe unter vielen anderen bildet, es politisch gesehen vielmehr zu einem Zentrum ohne entsprechendes Umfeld verkümmert ist, verkörpert es doch in nuce das alte Kaiserreich, dessen topographische Markierungen punktuell den ganzen Text durchziehen  : die ehemalige Hofoper, das Café Imperial, selbst das Haus des Hofrats Spineder in Grinzing. In Landsbergers Text hingegen steht Berlin als Synonym für den deutschen Staat und die deutsche Nation. Die handelnden jüdischen Personen sehen sich durch das »Judengesetz« deshalb weniger ihrer Identität als Berliner, sondern als Deutsche beraubt. Die Vertreibung bedeutet nicht nur den Verlust der Staatsbürgerschaft, sondern den Ausschluss aus der deutschen (Kultur)-Nation. Gleichzeitig entwickelt sich bei den meisten jüdischen Figuren ein in dieser Form nicht immer vorhanden gewesenes Bewusstsein der Solidarisierung untereinander. Diese bezieht sich einerseits auf sozial und religiös differente Gruppen, andererseits aber auch auf unbeteiligte christliche Figuren. In der an einigen Stellen im Roman durch die räumliche Gegenüberstellung von »Berlin W« und dem Berliner Osten aufgerufenen historischen Wohnverhältnisse wird aus einer akkulturiert-bürgerlichen jüdischen Sicht die Distanz zwischen den eingesessenen Berliner Juden und den überwiegend aus Osteuropa Zugewanderten ausgedrückt. Die damit verbundene symbolische Aufladung des Berliner Stadtraums wurde mit daran anknüpfenden, durchaus stereotypen Oppositionspaaren wie ›reich-arm‹, ›gebildet-ungebildet‹, ›fortschrittlich-rückständig‹, aber auch ›verdorben-gesetzestreu‹296 seit Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver in vielen literarischen Berlin-Texten immer wieder aktualisiert. In Landsbergers Roman werden mit der Auflösung dieser topographisch (zu)geordneten Wohnverhältnisse durch die Vertreibung – zumindest nach der Vorstellung von Benno Oppenheim  – auch die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen nivelliert. Denn obwohl die meisten Wohlhabenden die Armen bei der Ausreise aus Deutschland unabhängig von bestehenden religiösen, weltanschaulichen oder herkunftsbedingten Differenzen finan296 Vgl. z. B. Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 216  : Fuld spricht davon, dass Landsbergers frühere Romane »die Verdorbenheit der Sitten des alten und neuen Berliner Westens aufs Korn« genommen habe.



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ziell unterstützen, verlieren alle gleichermaßen ihr lebensweltliches Zentrum, ihre »Heimat«. Die radikalste Reaktion auf die Ausweisung, die tatsächlich alle Unterschiede aufhebt, bildet schließlich der kollektive Selbstmord von siebenundneunzig deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens […] im Alter von 65– 74 Jahren, die mit derselben Liebe wie ihre Eltern und Großeltern an ihrer deutschen Heimat hängen. [Sie] bestehen auf ihrem Rechte, in ihrer Heimat zu sterben und auf deutscher Erde bestattet zu werden.297

Der Begriff ›Heimat‹ ist in Landsbergers Text nicht primär mit Berlin konnotiert, sondern mit Deutschland. Deutschland entbehrt in dieser Lesart aber seiner Materialität als geographisch fixierbares Gebilde oder als politischer und sozialer Raum, bestenfalls kann es als undefinierter kultureller Bezugsraum gesehen werden. Insofern wirkt der Begriff ›Heimat‹ seltsam ›ortlos‹, er kann in der im Roman beschriebenen Extremsituation semantisch nicht mehr aufgefüllt werden. Der letzte mögliche Ausdruck bzw. die unantastbare Konkretisierung von Heimat manifestiert sich im Roman für die Betroffenen erst im Tod mit dem Akt des Begräbnisses, der eine unauflösbare Einheit zwischen Mensch und gestaltloser Materie herstellt. Wenn in dem Kapitel »Juden, die bleiben« der Selbstmord jener Menschen, die »auf deutscher Erde« bestattet werden wollen, ins Bild gesetzt wird, so wird damit gleichzeitig in nicht zu überbietender Weise eine räumliche Konzeption von Heterotopie imaginiert. Nach Foucault beginnt eine Heterotopie »erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.«298 Einen »hochgradig heterotope[n] Ort«299 erkennt Foucault im Friedhof. Im Roman Berlin ohne Juden bezieht sich der letzte Wille der Selbstmörder aber nicht einmal mehr auf einen Friedhof und damit auf einen bestimmten Ort, sondern nur noch auf eine symbolisch wirksame, letztlich ubiquitäre Heterotopie. Die in diesem Kontext beschworene »deutsche Erde« kann nicht nur materiell Erde in oder aus Deutschland meinen, zumal hier allein aufgrund der semantischen Ambivalenz der Wortverbindung eine bedeutungsrelevante Leerstelle zu konstatieren ist. Von den unmittelbar vor ihrem Tod stehenden Menschen wird damit vielmehr eine emotionale und von außen nicht mehr angreifbare Vorstellung von endgültiger ›Beheimatung‹ proklamiert.300 Spätestens zu diesem Zeitpunkt 297 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 146. 298 Foucault, Von anderen Räumen, S. 939. 299 Foucault, Von anderen Räumen, S. 939. 300 Die Wirkung dieses kollektiven Selbstmords, der Juden wie Christen in aller Welt bestürzt, markiert der Erzähler dann indirekt als Wendepunkt der Handlung. In den folgenden, letzten

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wird deutlich, dass die titelgebende Stadt Berlin lediglich Stellvertreterfunktion einnimmt. Da Berlin zwar als deutsche Hauptstadt und Metropole eindeutig als Ort benannt werden kann, andererseits aber überwiegend auf den konkreten gesellschaftlichen Raum eines einheitlichen, von Christen und Juden gemeinsam gestalteten und gelebten deutschen Staats abzielt, erscheint eine topographische Ausgestaltung der erzählten Stadt nur bedingt notwendig. Auffallend ist tatsächlich, dass der erzählte Stadtraum Berlin in Landsbergers Roman weit weniger topographische Referenz- und Orientierungspunkte aufweist als Wien in Bettauers Roman. In den meisten Kapiteln wird die Handlung entlang der Dialoge entwickelt, die kurzen narrativen Absätze dienen lediglich der Kommentierung des Geschehens.301 5.3 Geteilter Raum

In beiden Romanen sind die Städte Wien und Berlin aus einer heterodiegetischen Erzählerposition als einstige Orte bürgerlicher Stabilität und unverbrüchlicher Sicherheit gezeichnet  ; trotz eines in der Realität jahrzehntelang bestehenden Antisemitismus insinuieren die Texte das Miteinander von Juden und Nichtjuden im Alltag als Normalität. Doch wie schon in Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver wandeln sich das Szenario – und damit die Stadt selbst – für die Protagonisten unvermutet. In beiden Romanen gehen die antisemitischen Ausfälle von Parteienvertretern aus. In Bettauers Roman steht allerdings im Unterschied zu Landsbergers Text nicht eine durch individuelles Machtstreben motivierte Volksverhetzung am Beginn des Geschehens, sondern eine parlamentarische Abstimmung, die der Bundeskanzler ins Werk setzt, um – wie es einem christlichen Journalisten in den Mund gelegt wird  – die nach dem Krieg »in Unordnung« geratenen »Finanzen Österreichs« wieder zu sanieren.302 Landsberger hingegen erfindet mit Boris Pinski, einem glaubenslosen russischen Bolschewisten, der sich als bestechlicher Jude ausgibt, eine unrealistisch wirkende Außenseiter-Figur, die das Geschehen in Gang setzt. Der Ausländer Pinski agiert für den »Nationalverband« als spiritus rector und instrumentalisiert die antisemitische Partei für sein eigentliches Ziel, Deutschland unter den Einflussbereich Russlands zu bringen. Mit dieser schrägen Konstruktion entschuldigt der Autor zwei Kapiteln werden der Niedergang der Stadt Berlin und die Rückholung der jüdischen Bevölkerung dargestellt. 301 Das mag vielleicht auch mit Landsbergers Absicht, den Roman zu verfilmen, zusammenhängen. Landsbergers Roman wurde allerdings bekanntermaßen nicht verfilmt, Bettauers Text hingegen schon im Jahr des Erscheinens der Buchpublikation. In dem Stummfilm Stadt ohne Juden hatte Hans Moser sein Debüt als Film-Schauspieler. 302 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 11 f.



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die Vorgänge gewissermaßen als extern verursacht  ; außerdem weiß er sich mit der dadurch zum Ausdruck gebrachten Bolschewismuskritik im Einverständnis mit der Mehrheit der bürgerlichen Bevölkerung in Deutschland. Mit dem Beschluss des Ausweisungsgesetzes verliert die erzählte Stadt als Raum kultureller Vielfalt, individueller Freiheit und Toleranz, des Wohlstands, des Zusammenlebens ihr – auch in früheren Großstadtromanen vielfach – positiv besetztes Bedeutungsspektrum. Sie avanciert zum Ort der existenziellen Bedrohung und der Vertreibung. Die Stadt verkommt zum düsteren Un-Ort, zum Leerzeichen, in dessen Umfeld selbstbestimmte kulturelle Identität – nicht nur für die Vertriebenen, sondern auch für die Zurückgebliebenen – nicht mehr möglich ist. Bettauer und Landsberger versuchen aber beide, durch die Beschreibung der Rückholung der zuvor ausgewiesenen Juden einen status quo ante zu beschwören und damit ihre letztlich optimistische Einstellung auch außerliterarisch zu propagieren  : Als […] in einem der ersten Sonderzüge, die das Reich an der Grenze den Heimkehrenden stellte, Dr. Hans Oppenheim mit seiner Familie heimkehrte, erwarteten ihn Tausende von Berlinern. […] Der improvisierte Empfang gestaltete sich zur Feier. […] Irgendwer begrüßte auf dem Lehrter-Bahnhof die heimgekehrten deutschen Brüder und Schwestern und dankte vor allem dem Dr. Oppenheim für seine Treue. […] Und über den großen Platz rauschte das Deutschlandlied.303

Diese Worte des Erzählers, die wohl auch Artur Landsbergers eigene Zuversicht ausdrücken oder beschwören, führen abseits des Texts vor Augen, wie stark der Glaube vieler deutscher Juden an einen sie schützenden Staat und eine sie achtende Gesellschaft gewesen sein muss. Vielleicht verbalisieren Bettauer und Landsberger auch deshalb nicht die letzten Konsequenzen des von ihnen doch so detailliert beschriebenen Antisemitismus.304 Das versöhnliche Ende bezeugt vielmehr die Hoffnung beider Autoren, als Juden in Deutschland und Österreich in Frieden und endlich gleichberechtigt leben zu können. Hugo Bettauer wurde bekanntlich 1925 in Wien von einem Nationalsozialisten ermordet. Artur Landsberger beging am 4. Oktober 1933 Selbstmord, »als er erkannte, daß die politische Realität seine groteske Schreckensvision eingeholt hatte.« 305 303 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 208. 304 Obwohl es in beiden Texten heißt, das Gesetz erzwinge die Ausreise unter Androhung der Todesstrafe, wird im Laufe der Handlung darauf nicht mehr Bezug genommen. Siehe Landsberger, Berlin ohne Juden S. 88, sowie Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 20. 305 Fuld, Nachwort, in  : Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 215. Zur Biographie der beiden Autoren siehe u. a. die Einträge von Florian Krobb, in  : Kilcher, Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S. 64–66 (Hugo Bettauer), sowie S. 371 f. (Artur Landsberger). Florian Krobb bezeichnet Bettauer (1872–1925) als eine »der schillerndsten Figuren der österreichischen Zwischen-

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In Bettauers Roman nimmt die Vertreibung nicht vom kulturellen oder geographischen Mittelpunkt der Stadt, sondern dem politischen Zentrum des kleinen Nachkriegs-Österreich ihren Ausgang  : vom Parlament.306 Allerdings bedarf es dazu einer Ermächtigung durch das »Volke«, das, metonymisch als »[g]anz Wien«307 bezeichnet, sich vor dem Parlament versammelt hat. Schon in den ersten Sätzen des Romans wird eine symbolische Einheit zwischen repräsentativem öffentlichem Raum und einer sich dort aufhaltenden fanatischen Menschenmenge beschworen  : »Von der Universität bis zur Bellaria umlagerte das schöne, ruhige und vornehme Parlamentsgebäude eine einzige Menschenmauer«.308 In dieser Einheit wird die anschließende parlamentarisch beschlossene Aneignung des kommunalen, aber auch des privaten Raums durch alle nichtjüdischen Wiener schon vorweggenommen. In Gang gesetzt wird dieser Willkürakt durch »Doktor Karl Schwertfeger«,309 der sich den Weg ins Parlament erst durch die ihn bejubelnde Menschenmasse bahnen muss. Hier wird ein zweites Mal, gewissermaßen als Bestätigung, eine Verschmelzung von urbanem Raum, menschlichen Körpern und diskursiver Macht beschworen.310 Am Ende des Tages, nachdem das »Antijudengesetz« einstimmig angenommen und in drei Lesungen »durch den Ausschuß« gepeitscht worden ist, verlassen Schwertfeger und alle Abgeordneten das Parlament, um ein »festlich beleuchtetes Wien« zu sehen.311 Noch immer dränkriegszeit« (S. 64), was nicht zuletzt seinem aufregenden Lebenswandel geschuldet war. Nach Aufenthalten in der Schweiz, Amerika, Berlin, Hamburg und München kehrte Bettauer nach Wien zurück, wo er bei der Neuen Freien Presse eine Anstellung fand. Er veröffentlichte teils mit großem Erfolg Wiener Zeitromane, von denen einige verfilmt wurden. – Artur Landsberger (1876–1933) wuchs in Berlin auf, studierte in München, Heidelberg, Paris und Greifswald Jura sowie später Literatur- und Kunstgeschichte in Berlin. Mit Richard Strauss, Georg Brandes, Richard Muther und Hugo von Hofmannsthal gründete er 1907 die Kulturzeitschrift Der Morgen. (1907–1909). Mit über 30 Romanen, die zahlreiche Auflagen erlebten, galt er in den 1910er- und 20er-Jahren als äußerst erfolgreicher Unterhaltungsschriftsteller. 306 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 7. 307 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 7. 308 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 7. 309 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 8. 310 Vgl. dazu die Ausführungen Georg Simmels, der in seiner Schrift Soziologie des Raumes die Dynamik großer Menschenansammlungen im freien bzw. öffentlichen Raum analysiert hat. Das Gefahrenpotenzial solcher Kollektive wird seiner Meinung durch den »großen Luftraum« begünstigt  : »Die exzitierenden Suggestivwirkungen einer großen Masse und ihrer seelischen Gesamterscheinungen, in deren Form der einzelne seinen Beitrag nicht wiedererkennt, steigern sich in dem Maße ihrer Zusammengedrängtheit, und um so erheblicher, einen je größeren Raum diese erfüllt.« Georg Simmel, Soziologie des Raumes, in  : ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908/I, Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1995, S. 132–183, hier S. 145. 311 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 26 f.



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gen sich Menschen in den Straßen, die »weiß-roten Fahnen« wehen von allen öffentlichen Gebäuden, die Begeisterten preisen den »Befreier Österreichs«. In seiner Rede vor dem Parlament referiert Schwertweger bekannte antisemitische Stereotype von Juden als Geschäftemachern, als Beherrscher der Presse, als Intellektuelle etc., um dann eine Opposition zwischen Juden und »österreichischen Ariern«312 aufzumachen, die angeblich in einem räumlichen Gegensatz wurzelt. Wenn Schwertfeger davon spricht, dass »[u]nser Volk […] zum überwiegenden Teil aus den Bergen« kommt, dann bezieht er sich nur noch auf Deutsch-Österreich als kleinstem Nachfolgestaat der untergegangenen Habsburgermonarchie. Weiterhin macht der Kanzler mit dem Hinweis auf die vermeintliche Herkunft der Österreicher aus den Bergen eine Opposition zwischen Land- und Stadtbevölkerung auf, die letztlich auf den Stereotyp vom Juden als dekadenten Städter abzielt. Den christlichen Wienern genügt – wider besseres Wissen – die Behauptung ihrer ländlichen Ursprünglichkeit, an die sie unausgesprochen ein Spektrum positiver Charaktereigenschaften knüpfen. In den folgenden Kapiteln werden jedoch anhand verschiedener von der Vertreibung betroffener Figuren Bilder beschworen, die diese von Schwertfeger vorgebrachten Stereotype – für den Leser leicht nachvollziehbar – unterlaufen. Die vermeintliche älplerische Herkunft der »arischen« Wiener wird im Verlaufe der Handlung allein am Beispiel der Mode satirisch ad absurdum geführt, indem der Erzähler ein monotones Wien entwirft, in dem die Zurückgebliebenen nur noch derbe Stoffe kaufen können und die einst exklusiven Modegeschäfte auf Loden und Trachten umgestellt werden. Spricht man im Kontext der beiden Romane von geteiltem Raum, so zielt das in einem doppelten Sinn sowohl auf Partizipation wie auch auf Separierung. Vor der Vertreibung ist die Stadt als unhinterfragter Ort des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden gezeichnet. Am markantesten zeigt sich dieses aus der Position des Erzählers als ideal und letztlich unauflösbar beschriebenen Miteinanders in einer komisch anmutenden Passage, in der die ersten Auswirkungen des Gesetzes deutlich werden  : Eine Schwester des Fürsterzbischofs von Österreich […] ist mit einem Juden verheiratet, sein Bruder aber mit einer Jüdin, so daß seine Eminenz durch das Gesetz sämtlicher Neffen, Nichten und Geschwister beraubt wird.313

Bettauer stellt die interreligiöse Ehe oder Liebesbeziehung an keiner Stelle im Roman als problematisch dar – weder aus jüdischer noch aus christlicher Sicht  ; religiöses Selbstverständnis spielt in diesem Wien der 1920er-Jahre keine Rolle 312 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 15. 313 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 49.

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mehr. Vielmehr insinuiert der Text, dass Ehe und Liebesbeziehungen zwischen Jüdinnen und Christen, Christinnen und Juden als Normalität, gewissermaßen als letzte Konsequenz eines ohnehin gemeinschaftlichen sozialen Lebens gelten. Dass die auf eine (christlich-jüdische) Liebesbeziehung folgende Teilung des privaten Raums, des Hauses, der Wohnung sowie des Bettes Teilhabe bedeutet und nicht Einschränkung oder Verlust, wird von Bettauer ähnlich positiv dargestellt wie von Landsberger. Selbst der in manchen Fällen durch die Ausweisung des jüdischen Partners oder der Partnerin verursachten vorübergehenden Trennung folgt in den Romanen in keiner Beziehung die Scheidung eines Paars. Jenseits der privaten Beziehungen manifestiert sich das vor der Vertreibung gemeinsam gestaltete städtische Leben am augenscheinlichsten in der räumlichen Aufteilung der Stadt in bestimmte Funktionsbereiche, durch die das soziale und politische Leben geordnet wird. Der kulturelle Reichtum der Stadt basiert auf der Vielfalt und der Verschiedenheit ihrer Bewohner und auf der Teilung des Raums  – im Sinne der Partizipation. Dies betrifft z. B. die großen Warenhäuser, die Lokale inklusive der (vornehmen) Bordelle, die Theater, aber auch das Parlament. Der in beiden Romanen als Konsequenz der Vertreibung der Juden beschriebene, alle Lebensbereiche erfassende Niedergang der Stadt wird von Bettauer folgerichtig schon im ersten Kapitel mit einem raumbezogenen Vorgang eingeleitet  : In der Journalistenloge [des Parlaments] wurde nur im Flüsterton gesprochen. Und eine bemerkenswerte räumliche Spaltung [Hervorhebung P. E.] hatte sich eingestellt. Die kompakte jüdische Majorität der Berichterstatter drängte ihre Stühle zusammen, die Referenten der christlichsozialen und deutschnationalen Blätter bildeten ihrerseits eine Gruppe. Sonst mischten sich die jüdischen und christlichen Journalisten fröhlich durcheinander, im Berufskreis war man nicht Parteigänger, sondern nur der Herr Kollege […].314

Der Beschlussfassung des »Judengesetzes« folgt dann in einem mehrmonatigen Prozess die Emigration der Juden, die mit der Übernahme ihrer aufgegebenen Wohnungen, Geschäfte, Arbeitsplätze etc. durch die nichtjüdische Bevölkerung verbunden ist.315 Die zu Beginn der Romanhandlung durch das »Volk« lauthals formulierte Aufforderung  : »Hinaus mit den Juden  !«,316 die schon als symbolische Besetzung des öffentlichen Raums gelten kann, mündet schließlich in die materielle Inbesitznahme der gesamten Stadt. Diese erscheint aus der Sicht 314 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 9. 315 Diese fiktiven Vorgänge erinnern fatal an die ca. 10 Jahre später stattfindenden »Arisierungen«. 316 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 7.



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der »breiten Massen der Wiener Bevölkerung« nicht als Beraubung, sondern sie wird als Akt der Wiederaneignung gerechtfertigt und zu entschuldigen versucht  : [N]icht nur die Arbeiter, auch das mittlere Bürgertum, hatten zähneknirschend gesehen, [wie sich in den Jahren, die dem Kriegsende und dem Umsturz gefolgt waren], die fremden Elemente, vor allem die Juden aus Galizien, Rumänien und Ungarn als Herren Wiens aufspielten, […] in prachtvollen Luxusautomobilen durch die Straßen rasten, den bodenständigen Wienern die Wohnungen wegnahmen und mit ihrem lärmenden protzigen Gehabe die alte kultivierte Stadt erfüllten.317

Eine Folge der »Umgruppierung«318 dieses  – wider besseren Wissens  – ausschließlich bei Juden vermuteten Wohlstands äußert sich schließlich politisch in der, wenngleich nur vorübergehenden, zeichenhaften Besetzung Wiens durch die Nationalsozialisten  : »Nach der Ausweisung verwandelte sich ganz Wien in ein Heerlager von Hakenkreuzlern.«319 Doch die Separation, die die Ausweisung – wenngleich auf eine weite Distanz bezogen – letztlich für alle Bewohner der jeweiligen Stadt bedeutet, führt im erzählten Berlin und Wien in der Folge zu einer grotesk-monotonen Einheitskultur, die Bettauer und Landsberger in mehreren Kapiteln in ihrer Tragik, aber auch in ihrer Komik eindringlich darstellen.320 Wirtschaft, Kunst, Bildung, Unterhaltungskultur, Presse, Konsum, Verkehr und Tourismus etc. kommen völlig zum Erliegen  : Der ungeteilte Raum verödet. Zusammengefasst bedeutet das aus der Perspektive der Zurückge­ blie­benen  : »Wien versumpert ohne Juden  !«,321 oder wie es in einem George B. Shaw in den Mund gelegten Kommentar heißt  : »Wien sei ein internationales Dummheitsmuseum geworden.«322 Der infolgedessen wachsende Unmut der zurückgebliebenen Bevölkerung bildet schließlich das Fundament für den Umschwung, den in Bettauers Roman der jüdische Maler Strakosch – wiederum durch eine raumbezogene Aktion  – beschleunigen kann. Strakosch überzieht die ganze Stadt mit Plakaten  :

317 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 106 f. 318 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 107. 319 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 113. Auch in Landsbergers Roman steigen in einer Jubelparade schon »Große Ballons mit Hakenkreuzen« auf, die von »Heil  ! Heil  ! Krieg  !«-Rufen begleitet werden. Siehe Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 119. 320 Hier folgen beide Autoren einer bekannten rhetorischen Strategie, negative Visionen in allen Konsequenzen durchzuspielen, um so beim Leser eine Abwehrhaltung zu erzeugen. 321 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 81. 322 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 72. Siehe auch Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 159  : »Nach sieben Uhr abends ist [Berlin] tot und leer.«

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›Wien verdorft  ! Wiener, seht Ihr es denn nicht  ? Noch ein paar Jahre und aus der alten ehemaligen Kaiserstadt wird ein schäbiges, vergessenes Nest geworden sein.‹ Das ging den Leuten […] auf die Nerven, allenthalben wurde man unruhig. War nicht etwas Wahres an dieser neuen Behauptung […]  ?323

Durch diese zunächst nur punktuell gesetzten Markierungen wird die Rückkehr der Vertriebenen beschleunigt. Die Bevölkerung schließt sich nach kurzer Zeit den Appellen auf den Plakaten an, deren Urheber in einem ominösen »Bund wahrhaftiger Christen« vermutet werden. Am Ende wird in einer Art Zirkelschluss wiederum eine Einheit zwischen den jubelnden »Menschenmassen« und dem öffentlichen Raum beschworen – dieses Mal aber wird mit Leo Strakosch »der erste Jud, der wieder in Wien ist […]« integriert.324 Er »muß zum Rathaus  !«, schreit ein Gemeinderat in die Menge, und »unter dem Jauchzen und Johlen und Hurra-Geschrei der Massen [wird Leo] zum Rathaus getragen.«325 Das Rathaus, nur wenige hundert Meter vom Parlament entfernt, symbolisiert im Sinne der oben angestellten Überlegungen nicht den Staat Österreich, von dem aus im Roman die Vertreibung ihren Ausgang genommen hat, als vielmehr das eingangs aus Figurenperspektive beschworene ›alte‹ Wien, das ja, wie es ein scheinbar sinnloses und selbstreferenzielles Sprichwort ausdrückt, immer mit sich selbst identisch bleibt  : Wien bleibt Wien. Damit stellt die Diegese den ursprünglichen, vor der Erzählung liegenden Zustand der Stadt als gemeinsamen Ort von Juden und Nichtjuden wieder her. 5.4 ›Eigener‹ Innenraum – ›Fremder‹ Außenraum

In Landsbergers Roman erfolgt die Rückkehr der Ausgewiesenen durch eine Initiative von Nichtjuden. Das letzte, sehr lange Kapitel, in dem der Prozess der Rückholung mit all seinen Vorbereitungen dargestellt wird, ist bedeutungsvoll nur noch mit dem Wort »Berlin« überschrieben. Auch Landsberger greift die räumliche Ausgangssituation seines Romans am Ende wieder auf. Ein privates Wohnhaus, die Villa des verstorbenen Benno Oppenheim, in die die Witwe und ihr Sohn mit seiner christlichen Frau zurückkehren, wird am Ende zum räumlichen Sinnbild der ersehnten Einheit für das Zusammenleben von deutschen Juden und Christen erhoben. Diesem Palais der Familie Oppenheim widmet der Autor eine ausführliche Schilderung gleich zu Beginn des Romans. Kein anderer Ort wird in dem Roman genauer beschrieben, mit Ausnahme des Hotels Adlon. 323 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 130. 324 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 193. 325 Bettauer, Stadt ohne Juden, S. 193.



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Das berühmte Hotel wird aber als Gegenbild der Oppenheim’schen Villa, vor allem durch die Platzierung und Charakterisierung der unnoblen und unsympathischen Gäste, die nach der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung Berlin besuchen, als Ausdruck des Verfalls der Stadt inszeniert.326 Dadurch erzeugt der Autor eine emotionale Distanz zwischen dem Leser, dem erzählten Ort und den dort stattfindenden Vorgängen. Im I. Kapitel hingegen setzt der Erzähler noch auf ein Naheverhältnis von (implizitem) Leser und dem beschriebenen Ort  : »Kennen Sie weit unten auf der rechten Seite der Kaiserallee das palais­ artige Haus, das tief in einem Parke liegt  ?« Mittels interner Fokalisierung wird der Leser in das Geschehen hineingezogen, seine Aufmerksamkeit »vom hohen Deck des ›Aboag‹ in die Zimmer der ersten Etage« gelenkt. Das großbürgerliche Interieur vermittelt Behaglichkeit, die »alte[n] Familienporträts« erinnern an eine lange traditionsbewusste Generationenfolge der hier Wohnenden. Der Erzähler befindet sich auf diesen ersten Seiten in einer changierenden Position zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung, wobei sich die interne Fokalisierung auf den in die Diegese integrierten Blick des Lesers bezieht  : Aber wer gute Augen hat und über den breiten Rasen hinweg durch die gerade offenstehenden, durch Gitter gesichterten Fenster des Hauswartes schauen kann, […] der empfindet […] wohltuend Gleichmaß und Ruhe und denkt  : wie sorglos  ! So möchte ich auch leben. Er vergißt, hinzuzusetzen  : wie anspruchslos  ! So möchte ich auch sein.327

Bevor der Leser erfährt, wer in diesem Haus lebt, wird allein durch die räumliche (An)-Ordnung des Hauses und die Einrichtung eine Vertrautheit und Solidarität mit dessen noch unbekannten Bewohnern herbeigeführt. Den aus bürgerlicher Perspektive kaum steigerungsfähigen Höhepunkt dieses Szenarios bildet schließlich »ein Biedermeierzimmer mit einem großen, runden Tisch in der Mitte, auf dem die Kaffeemaschine dampft und ein großer Napfkuchen mit Rosinen wartet.«328 Dass es sich bei den Besitzern des Hauses in der Kaiserallee um eine jüdische Familie handeln könnte, wird durch keinen eindeutig konnotierbaren Gegenstand, wie z. B. eine Sabbatlampe, angedeutet. Auch die Familiengalerie  – eine in wohlhabenden jüdischen Familien erst im 19.  Jahrhundert aufkommende Form, Erinnerung visuell zu aktualisieren – lässt keine Rückschlüsse zu. Dass die Familie Oppenheim jüdisch ist, erfährt der Leser erst gegen Ende des Kapitels aus dem Mund der sympathisch gezeichneten nicht326 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 161 ff. 327 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 8. 328 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 9.

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jüdischen Hausverwalterstochter, für die das Judentum ihres »Herrn« allerdings keine Rolle spielt.329 Die Vertrautheit, die zu Beginn der Handlung zwischen den Gegenständen der Villa und dem Leser geschaffen wurde, wird durch die positive Einstellung des Mädchens auf die Hausbewohner übertragen. Und tatsächlich leben im Oppenheim’schen Haus die Menschen unabhängig von ihrer sozialen und religiösen Herkunft im besten Einvernehmen miteinander. Insofern überrascht es kaum, dass von den Figuren  – in beiden Texten  – ein zionistischer Weg nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Palästina wird zwar als Einwanderungsland genannt, bei Bettauer jedoch lediglich als vernachlässigbare Möglichkeit, bei Landsberger als letzte Option, nämlich für den Fall, dass andere Aufnahmeländer ihre Grenzen schließen.330 Entwickelt sich die zionistische Utopie in der »Erzählung zwischen Gegenbildern zweier Welten«,331 so bleibt in den Romanen von Landsberger und Bettauer die Welt außerhalb Deutschlands und Österreichs generell blass und unkonturiert  – und dadurch aus Figurenperspektive auch fremd. Weder Paris, in dem Leo Strakosch innerhalb kürzester Zeit eine Karriere als erfolgreicher Maler erlebt, noch London, wo sich viele Berliner Juden in Landsbergers Roman nach ihrer Vertreibung ansiedeln, werden in den Romanen näher beschrieben. Ihre Namen sind gewissermaßen nur als bedeutungslose Platzhalter für beliebige Großstädte, als elliptische Zeichen, als narrativ raumlose Orte in den Text eingestreut.332 Insofern können sie aus der Perspektive der jüdischen Figuren letztlich keine konkurrierenden Bilder zu Berlin oder Wien evozieren. Landsberger und Bettauer bzw. die Erzählerinstanzen der beiden Romane suggerieren also, dass für deutsche und österreichische Juden nur Berlin und Wien eine wirkliche Kohäsionskraft besitzen können. Beide Autoren favorisieren trotz der politischen Radikalisierung und des schon eliminatorische Tendenzen aufweisenden Antisemitismus der 1920er-Jahre in ihren Heimatländern ein Modell, das völlige Akkulturation mit einer patriotischen Gesinnung verbindet. Mit der Menschen verachtenden Einstellung der Nationalsozialisten konnten Hugo Bettauer und Artur Lands329 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 13. »Da geht ja doch alles durcheinander. Da weiß man ja gar nicht mehr, wer Jude oder Christ ist«, provoziert Boris Pinski das Mädchen Elsa, die darauf kontert  : »Braucht man auch nicht zu wissen. Als ob es darauf ankäme  ! Hauptsache sie sind anständige Menschen.« 330 Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 127  : »Wo also den Staaten unsere in Vorschlag gebrachten Zahlen zu hoch erscheinen, könnte Palästina einspringen.« 331 Leah Hadomi, Jüdische Identität und der zionistische Utopieroman, in  : Leo Baeck Institute Bulletin 86 (1990), [S. 23]–S. 66, hier S. 41. 332 Vgl. z. B. Landsberger, Berlin ohne Juden, S. 148  : »[N]ach dem Wegzug der Juden aus Deutschland [siedeln sich] in Brüssel, Paris, London und anderen Städten des internationalen Verkehrs« auch christliche Berliner an, um der Eintönigkeit Berlins zu entfliehen.



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berger auch wenige Jahre vor ihrer Machtübernahme nicht rechnen, mit ihren unvorstellbaren Taten noch weniger. 6. Leopold Hichler Der Sohn des Moses Mautner – Ein Wiener Roman (1927) Dass die Stadt keineswegs ausschließlich in ihrem Bedrohungspotenzial für Juden erzählt wird, sich daran auch nicht immer eine historisch begründbare Chronologie des Verfalls, der Ausgrenzung oder der Verfolgung ablesen lässt, wurde schon am Beispiel von Georg Hermanns Berliner Roman Jettchen Gebert gezeigt. Hermanns Roman ist jedoch in einer Zeit des hoffnungsvollen Aufschwungs jüdischer Bürgerlichkeit und vorrevolutionärer Aufbruchsstimmung in den 1830er- und 1840er-Jahren angesiedelt. Auch zeigten zur Entstehungszeit dieses Romans weder Nationalismus noch Antisemitismus annähernd jenes massenwirksame Potenzial immanenter Gewaltbereitschaft wie in der Zwischen­kriegszeit, in der Artur Landsberger und Hugo Bettauer ihre Romane verfassten. Diese Entwicklung hatte sich erst während des Ersten Weltkriegs im Zuge der berüchtigten »Judenzählung« im deutschen Heer angekündigt. Doch trotz der vielfach geäußerten Kritik und Enttäuschung über diese propagandistische Aktion wurde die Konzeption einer integrativ sich verstehenden Mehrfach-Identität in diesen Jahren auch weiterhin und nachdrücklich vertreten. So formulierte etwa Moritz Heimann 1917  : Es ist nichts Unnatürliches darin, seine Bahn mit zwei Mittelpunkten zu laufen  ; einige Kometen tun es und die Planeten alle. Unvereinbar Scheinendes zu vereinen, darin besteht im Grunde genommen das ganze geistige Geschäft  ; sind doch selbst das private, individuelle Leben und das der Gemeinschaft, auch der nationalen und auch sogar der religiösen, Gegensätze. Wie es keine Lage der Menschen gibt, die er sich nicht in Schande  ; keine, die er sich nicht in Ehre verwandeln könnte, so gibt es auch keine, die nicht Schwäche werden kann oder Kraft.333

Heimanns raumbezogene Metapher der »Bahn mit zwei Mittelpunkten« zielt darauf ab, dass die Grundkonstellation der Verschiedenheit eine menschliche Konstante darstelle, die durch entsprechende Bemühungen harmonisiert werden könne, ohne vermeintliche oder tatsächliche Gegensätze in einem gesellschaft333 Moritz Heimann, Zionismus und Politik (1917), in  : ders., »Was ist das  : ein Gedanke  ?« – Essays, hg. und mit einem Nachwort v. Gert Mattenklott. Frankfurt am Main 1986, S. 183, hier zitiert nach Schütz, Juden in der deutschen Literatur, S. 25 f.

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lichen Verband negieren oder aufheben zu müssen. Heimann bezieht sich also auf die Vorstellung einer transitorischen, auf jeden Fall multiplen (jüdischen) Identität, die ein breites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Innerhalb dessen ereignet sich jenseits der Reaktionen auf die wenn auch immer wieder feindlich gesinnte Umgebungsgesellschaft Selbstbestimmung. Selbst wenn Antisemitismus oder andere Formen der Ausgrenzung lebensweltliche Zusammenhänge von Juden berühren oder bedrohen, existieren nach dieser Auffassung Alternativen, neue Freiräume zu schaffen oder bestehende zu nutzen sowie oktroyierte Grenzen außer Kraft zu setzen. Eine damit verbundene und uneingeschränkte Zukunftshoffnung auf eine unvoreingenommene Akzeptanz seitens der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften formulieren in diesem Kontext nach dem Ersten Weltkrieg jedoch nur noch wenige Autoren. Der heute völlig vergessene Wiener Schriftsteller Leopold Hichler, der 1938 vor den Nationalsozialisten nach Palästina fliehen musste, 1945 aber umgehend wieder nach Wien zurückkehrte, war einer von ihnen.334 Der Handlungszeitraum seines im Wiener Löwit-Verlag erschienenen Erstlingsromans Der Sohn des Moses Mautner (1927) ist zwischen 1885 und 1910 angesiedelt.335 Erzählt wird die Lebensgeschichte des in Wien geborenen Gustav Mautner von seinem siebten bis zu seinem 31. Lebensjahr. Die Aufnahme durch die Kritik, vor allem in jüdischen Periodika, war sehr gespalten. Friedrich Wilhelm Illing, der 1932 versuchte, »alles zu sammeln, was über dieses seltsame Werk gesagt« worden war, hatte selbst in der Zeitschrift Literatur eine »überwiegend zustimmende Besprechung« verfasst. In seiner kleinen Studie über Leopold Hichler konstatiert er aber eine »bedeutende Divergenz der kritischen Stimmen« zu diesem Buch.336 Ungeachtet dessen gelangte der Roman zu temporärer Popularität, die u. a. der eher ungewöhnlichen Darstellung des Selcherhandwerks und der Wursterzeu334 Aussagekräftige biographische Nachweise über Leopold Ehrlich (geboren 1877 in Wien, gestorben 1972 in Wien), der sich auch Leopold Hichler-Ehrlich, Leopold Ehrlich-Hichler oder Leopold Hichler nannte, finden sich kaum. Siehe v. a. den Eintrag »Leopold Ehrlich« bei Renate Heuer (Hg.), Lexikon deutschsprachig-jüdischer Autoren, Bd. 6, Dore–Fein, unter Mitarb. v. Andrea Boelke-Fabian, Jürgen Eglinsky, Judith Lorenz-Wiesch, Birgit Seemann, Siegbert Wolf. München 1998, S.  134–136. Hichlers Erfahrungen während der Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und im Exil erfuhren ihren Niederschlag in dem unter dem Verfassernamen Leopold Ehrlich-Hichler erschienenen Roman Ein Wiener in Palästina (Fremde Heimat), Wien 1964. 335 Diese exakte Datierung erschließt sich erst aus der Zusammenschau mit Hichlers Exilroman Ein Wiener in Palästina, in dessen Mittelpunkt wiederum die Figur Gustav Mautner steht. 336 Illing, Der Erzähler Leopold Hichler, S.  1. Trotz des wohlwollenden Gestus und einer über weite Teile um Objektivität bemühten Auseinandersetzung wird immer wieder deutlich, wie sehr Illing schon durch einen rassenideologischen Sprachduktus beeinflusst ist. – Seine Kritik erschien in  : Literatur XXXIX, H. 11, S. 667.



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gung, mithin der Situierung des Geschehens im Wiener Arbeitermilieu sowie dem Umgang des Autors mit der gesprochenen Sprache geschuldet sind. Die Wiener Zeitung meinte gar, Der Sohn des Moses Mautner sei »recht dazu geeignet, so etwas wie ein Volksbuch zu sein.«337 Befördert wurde diese Ansicht weiterhin durch die sympathische Zeichnung des wenig heldenhaften Protagonisten, dessen gelungenen Leistungen meist ein Scheitern vorausgeht. Aufgrund seiner von Rückschlägen begleiteten Laufbahn zeigt er stets ein hohes Maß an Empathie für seine Mitmenschen, vor allem für die Arbeiterschaft – und daran ändert auch sein Aufstieg zum Unternehmer nichts. Diese Grundeinstellung spiegelt sich nicht zuletzt in der sozialräumlich eindeutig codierten Wohnsituation des Erwachsenen Gustav Mautner wider  : Trotz seines Erfolges zieht er seinen Betrieb und seine Wohnung nicht aus dem Arbeiterbezirk Hernals ab, mit dem prachtvollen Ringstraßen-Wien verbindet ihn nichts.338 6.1 Konstellationen des sozialen Raums

Im Gegensatz zu anderen Bildungsromanen wird die fiktive Biographie des Protagonisten ganz profan nur entlang seiner schulischen und beruflichen Laufbahn berichtet. Über seine innere Entwicklung, über seine psychische Verfassung, seine Ängste und Nöte erfährt der Leser relativ wenig bzw. immer nur in Form eines konkret fasslichen Resultats, das dann meist einen Fort- oder Rückschritt in seinem Werdegang markiert. Dabei korrespondiert im erzählten Geschehen nahezu mit jedem Lebensabschnitt ein anderer räumlicher Bezugsrahmen, wobei das elterliche Wohnhaus zugleich die einzige stabile Formation der Zugehörigkeit für den Protagonisten bedeutet. Alle anderen Orte gewähren dieses Gefühl der Zugehörigkeit nur für eine gewisse Zeitspanne. Das erste 337 Wiener Zeitung, 5. November 1929, zit. nach Illing, Hichler, S. 4, Anm. 1. Illing bezieht sich u. a. auf  : Jüdische Zeitung für Ostdeutschland (Breslau)  ; Jüdische Volksstimme (Brünn, 22. März 1928)  ; Neues Wiener Tagblatt (27. Januar 1928)  ; Benjamin Segel, Bücher die man lesen muß, in  : Die Wahrheit (Wien, 31.  Januar 1930)  ; S.  Krauß, Selbstwehr (Prag, 24.  Januar 1930)  ; Jüdisch-liberale Zeitung (Berlin, 19. Juni 1929)  ; Salo Perlstein, in  : Jüdische Presse (Wien-Bratislava, 29. Juli 1927)  ; Otto Abeles, Ein Wiener Judenroman, in  : Wiener Morgenzeitung (14.  August 1927)  ; Mitteilungen der B’nai B’rith (Wien, Oktober 1927). 338 Zur allgemeinen Bevölkerungsstruktur und -entwicklung in Wien unter besonderer Berücksichtigung der Segregationsindices entsprechend der zunehmenden Arbeitsteilung siehe Renate Banik-Schweitzer, Berlin  – Wien  – Budapest. Zur sozialräumlichen Entwicklung der drei Hauptstädte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in  : Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, hg. v. Wilhelm Rausch [= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas  ; VII]. Linz 1983, S.  139–154, hier v. a. S.  151 f. Vgl. weiterführend Albert Lichtblau, Michael John, Schmelztiegel Wien Einst und Jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, 2. verb. Auflage. Wien, Köln 1993.

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Mal verlässt das Kind mit sieben Jahren den schützenden Raum des Elternhauses auf Drängen der Mutter. Sie hat Gustav in der nächstgelegenen öffentlichen Schule, der »Erdbergerschul’«,339 angemeldet, obwohl er dort das »ahnzige Judenkind«340 unter vierzig Buben ist. Der Vater will ihn deswegen eigentlich zu Hause unterrichten lassen. Tatsächlich wird der verschüchterte Gustav am ersten Schultag von den anderen Kindern mit antisemitischen Spottversen empfangen.341 Die verbale Attacke der Mitschüler auf Gustav bleibt für ihn allerdings die einzige Negativerfahrung dieser Art. Nur einmal erfährt Gustav abweisende Reaktionen, aber nicht, weil er Jude ist, sondern weil er als »roter Wiener« identifiziert wird.342 Antisemitismus spielt im Verlauf der Handlung hingegen keine Rolle mehr, wiewohl der Erzähler mit kleinen Anspielungen darauf hinweist, dass Antisemitismus in Wien ein alltägliches Phänomen ist343 – auch in der unmittelbaren Nachbarschaft der Familie Mautner. Allerdings relativiert der Erzähler dessen Wirkmächtigkeit, indem er ihn in den medialen Raum einer Zeitschrift verschiebt  : [Gustav] schlich leise […] auf die Gasse und in den Greislerladen. Herr Wagerer, der Besitzer des Ladens, war Hausbesorger und – Greisler. Er las […] eine Zeitung. Aber er las nicht […] die Wochenschrift, sondern das Deutsche Volksblatt […]  : Dort waren die Juden die Schlechten und die Antisemiten die Reinen.344

Letztlich wird das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Hichlers Roman durchgängig als freundlich und unproblematisch dargestellt. Selbst die Episode in der Schule schwächt der Erzähler ab. Er bezieht sich dabei auf eine räumliche Konstellation, die in späteren Passagen noch mehrfach aufgerufen wird  : auf die Vorstellung des überschaubaren, gemeinsam bewohnten oder gestalteten Sozialraums, in dem allfällige Gegensätze ökonomischer, religiöser 339 Hichler, Mautner, S. 7. Der Stadtteil Erdberg gilt bis heute als Arbeiterbezirk. 340 Hichler, Mautner, S. 8 und S. 10. 341 Hichler, Mautner, S.  10 f. Diese Episode löst erstmals im Text einen Erzählerkommentar in der Ich-Perspektive aus, in dem die Distanz zwischen Figur und Erzählerposition solidarisch aufgehoben wird  : »Du lieber Herr Jesus  ! Warst Du ein Gott  ? Warst Du ein Mensch  ? Ich weiß es nicht. Ich glaub’ nicht an Dich, denn ich bin ein Jude. Aber ein wenig kenne ich Deine Lehre und die war gut und milde, denn sie kam aus einem warmen Herzen. Schau, was aus Deiner Lehre geworden ist  !« 342 Hichler, Mautner, S. 99. 343 Vgl. z. B. Hichler, Mautner, S. 303. Beim Wiener Heurigen entbrennt eine politische Debatte zwischen Sozialisten und Christlichsozialen, in der der Christlichsoziale von seinem politischen Gegner als »Lueger-Pülcha«, als Anhänger des bekanntlich antisemitisch agierenden Wiener Bürgermeister Karl Lueger, tituliert wird. 344 Hichler, Mautner, S. 18.



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oder kultureller Natur gewissermaßen neutralisiert werden. Aus der Perspektive einer narrativen räumlichen Hierarchie betrachtet, wird diese Auffassung auf einer übergeordneten Ebene im Bild der Stadt Wien idealisiert, in nuce findet sie ihren Ausdruck im Klassenzimmer der Erdbergerschule  : »Das tägliche Beisammensein in demselben Raume bringt Kinder einander näher.« So führt der zufällige Aufenthalt verschiedener Individuen in einem Raum über das Gespräch und das gemeinsame Tun zu einer Annäherung und schließlich zur Freundschaft  : »Zuerst sprachen sie nur das Nötigste und dieses kurz und gegenseitig mißtrauend  ; dann erweiterte sich der Rede Gebiet und schließlich spielten Judenkind und Christenkinder miteinander und wurden Freunde.«345 Da Gustav später die Erwartungen der Eltern nicht erfüllt und aufgrund seines schlechten Betragens als Vierzehnjähriger vorzeitig das Gymnasium verlassen muss, kommt er in die Lehre zu seinem Schwager, um Selcher zu werden. Wiewohl er sich zunächst freut, »in’s gelobte Land der Würste«346 zu gelangen, verliert er mit der Lehrzeit nicht nur sein schön eingerichtetes Zimmer zu Hause, sondern zunächst sogar seinen Schlafplatz. Im so genannten »Burschenzimmer« der Selcherei muss er sich mit einem anderen »Gehilfen« ein Bett teilen.347 Trotz oder vielleicht wegen dieser beengten Situation, in der Gustav als Schwager des Hausherrn nicht bevorzugt wird, entwickelt sich eine Vertrautheit und Solidarität zwischen dem älteren und jüngeren Lehrling. Erst nach einem halben Jahr bekommt Gustav wieder »ein eigenes Bett und zum Schlusse der Lehrzeit sogar ein eigenes Zimmer.«348 Der sich nach Gustavs Gesellenprüfung in mehreren Etappen vollziehende Aufstieg zum anerkannten Unternehmer – er gründet schließlich eine eigene Wurstfabrik349  – ist narrativ wiederum in ein räumlich konnotiertes Bild gefasst  : »[…] was einst einem jungen Garten mit eben gepflanzten Bäumchen glich, blüht heute als ein mächtiger Park. Wachstum braucht Platz und die Fülle der Geschäfte sprengte förmlich die Mauern der kleinen Werkstätte.«350 Als Fabrikant hat Gustav erstmals Gelegenheit, die Räumlichkeiten in seiner unmittelbaren Umgebung selbst zu gestalten. Aus dieser neuen Position agierend, entwirft er entsprechend seiner bisherigen Erfah345 Hichler, Mautner, S. 13. 346 Hichler, Mautner, S. 49. 347 Hichler, Mautner, S. 56. 348 Hichler, Mautner, S. 66. 349 Ob im Betrieb von Gustav Mautner koschere Ware erzeugt wird, wird an keiner Stelle im Text explizit gemacht. Die Tatsache, dass Gustav auf seiner Verkaufstour aber als erstes einen seiner »Khille« (S. 153) treu anhängenden Ladenbesitzer außerhalb Wiens besucht, darf als Signal dafür gewertet werden. Auch für die Selcherei des Schwagers, in der Gustav seine Lehre absolviert, lässt der Erzähler diese Frage offen. 350 Hichler, Mautner, S. 204.

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rungen und seiner sozialistischen Orientierung seine Wohn- und Arbeitsstätte als Orte des Zusammenlebens und -wirkens aller am Betrieb Beteiligten. In seiner luxuriös ausgestatteten, doch »kalt und fremd« erscheinenden Wohnung, fühlt er sich zunächst noch »einsam«.351 Das ändert sich erst mit dem großen Fest, zu dem er seine ganze Belegschaft einlädt  : »Das Fest war schön. Die Gäste blickten entzückt in den neuen Räumen umher und ein nicht geringer Teil der Bewunderung fiel auf den Urheber der Herrlichkeiten, den jungen Hausherrn, der [nun] zufrieden an der Spitze der gedeckten Tafel stand.«352 Das mit der gemeinsamen Feier ins Bild gesetzte positive Verhältnis zwischen Unternehmer, Arbeitern und Angestellten, Juden und Christen, kommt stellvertretend in einem Gespräch zwischen Moses Mautner, Gustav Mautner und dessen langjährigen Mitarbeiter Florian, von Vater Mautner etwas abschätzig als »Ôrl« bezeichnet, zum Ausdruck  : Herr Hermann wendete sich schon zu seinem Sohne und sprach leise  : ›Ich versteh’ dich nicht, Gusti  ! Was redst Du so lang mit ihm  ?‹ – ›Vater  !‹ erwiderte Gustav ebenso leise  : ›Ich hab’ ihn gern. Er ist treu und ehrlich und is mir sehr zugetan  !‹353

Der äußere Erfolg erfüllt Gustav aber nicht dauerhaft mit Zufriedenheit. Schließlich möchte er all das nachholen, was er durch den vorzeitigen Abbruch der Schule versäumt hat  ; sein Streben zielt nun auf ein Philosophie- bzw. Germanistikstudium, das nicht nur durch den Wunsch nach höherer Bildung motiviert ist, sondern, wie der Erzähler betont, durch die »Sehnsucht, einer Gemeinschaft anzugehören«.354 Während er zunächst nur als außerordentlicher Hörer aufgenommen werden will, löst schon das erste Betreten des Universitätsgebäudes eine völlig unerwartete Reaktion aus  : Langsam schritt er die breite Treppe zur Aula hinab. Einige Stufen vor der Aula blieb er stehen und blickte in das Studentengewimmel. – Es zog ihm das Herz zusammen. – Noch nie war ihm die Universität so schön, so traulich erschienen  ! Noch nie hatte er die bemützten Burschen so sehr beneidet  !355

Wie einst in den Kindertagen die Schule bietet Gustav von da an die Wiener Universität einen Raum des Lernens und der Gemeinschaft, den er sich al351 Hichler, Mautner, S. 208 f. 352 Hichler, Mautner, S. 210. 353 Hichler, Mautner, S. 214. 354 Hichler, Mautner, S. 225. 355 Hichler, Mautner, S. 225.



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lerdings zuerst durch das Nachholen der Matura erobern muss. Dabei wird er von verschiedenen Personen unterstützt  : von einem zuvorkommenden Beamten in der Dekanatskanzlei, einem Universitätsprofessor, der ihm eine Empfehlung schreibt, einem Lehrer, der ihn auf die Maturaprüfungen vorbereitet, und schließlich von seinen Kommilitonen, die Gustavs Sitzplatz im Hörsaal gegenüber einem »Eindringling« verteidigen.356 Von antisemitischen Zwischenfällen oder Attacken, die sich gegen Gustav richteten, wird in dem Roman nichts berichtet, was vor allem angesichts des historisch nachgewiesenen Antisemitismus an der Wiener Universität um 1900 erstaunt. Und so markiert die Universität im Gesamtgefüge jener räumlichen Konstellationen, die Gustav Mautner das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe vermitteln, den Höhepunkt seines Bildungsgangs. Mit dem Abschluss seines Doktoratsstudiums kommt ihm allerdings nicht nur die Universität als Ort der Identifikation abhanden. Denn kurz bevor er sein Studium beendet, stirbt der Vater, und damit verliert Gustav auch sein Elternhaus. 6.2 »Vom echt jüdischen Hause«

Nicht umsonst trägt der Roman den Titel Der Sohn des Moses Mautner, denn ein wesentlicher Part des Textes bezieht sich auf den Vater und das Verhältnis von Vater und Sohn. In den ersten Kapiteln beleuchtet der Erzähler schlaglichtartig den familiären Alltag der Familie Mautner. Gustavs Vater, der aus dem mährischen Nikolsburg zugewanderte Moses Mautner, ist als erfolgreicher »Produktenhändler«357 zu einigem Wohlstand gelangt und lebt mit seiner Frau Sali und ihren fünf Kindern in einem repräsentativen Viertel Wiens in der Nähe der Inneren Stadt.358 Ungeachtet der zeitweisen Distanzierung Gustavs von seinen Eltern wird das Haus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter über alle Fährnisse hinweg die wichtigste Anlaufstelle für ihn bleiben  ; heiraten wird Gustav trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Mutter nicht. Wenngleich sich die Familie als jüdisch begreift, nennt Frau Sali »ihren Mann immer Hermann, denn ›Moses‹ 356 Hichler, Mautner, S. 287 ff. 357 Hichler, Mautner, S. 7. Über die Zuwanderungsquoten aus den Kronländern nach Wien informiert Lichtblau, John, Schmelztiegel Wien, Kap. 1.4. Die Juden, S. 33. Die Volkszählung von 1857 zeigte u. a., dass »von den mährischen Orten […] Nikolsburg (Mikulov) besonders häufig genannt« wurde. 358 Ohne dass eine genaue Bezirksangabe im Text gemacht wird, scheint es sich um den IX. Bezirk, den Alsergrund, zu handeln. Über die jüdischen Bevölkerungszahlen und die soziale Struktur der Wiener Gemeindebezirke vgl. Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens  : 1867–1914. Assimilation und Identität, [Forschungen zur Geschichte des Donauraums  ; 11]. Wien, Köln, Graz 1988, S. 85–101  ; über den Alsergrund siehe v. a. S. 100 f.

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klang der etwas assimilierten Frau zu grell.«359 Dass sich dieser Hinweis auf die Assimilation der Elterngeneration tendenziell nur auf die äußerliche Übernahme eines urbanen bürgerlichen Habitus bezieht, der die »Jiddischkat«360 der Familie im Kern nicht gefährdet und daher auch keine drohende Abwendung vom Judentum bedeutet, wird durch diverse Erzählerkommentare, kurze Dialoge z. B. über die Wichtigkeit, den »Chumesch« und »Iwre« zu lernen,361 sowie die knapp gehaltene Darstellung einer Hochzeitsfeierlichkeit und zweier Begräbniszeremonien bestätigt. Die Religiosität der Familie wird allerdings nur durch wenige Handlungen und Dialoge konturiert und sichtbar gemacht. Dementsprechend gibt auch das Interieur der Wohnung keinen Hinweis auf das jüdische Selbstverständnis der Familie. (Zeremonial-)Gegenstände, die als jüdisch zu identifizieren wären, wie etwa die Sabbatlampe oder der Kidduschbecher, die in Ghettogeschichten oft noch zur narrativen Grundausstattung der Wohnstube gehörten, finden in der Beschreibung des Hauses Mautner keine Erwähnung. Sie haben ganz offenkundig keinen festen Platz mehr, denn nur so lässt sich die einzige Passage im Text, die auf einen Sabbat Bezug nimmt, deuten   : »Das Bssômim-Büchsel  ! Es war nie da, wenn man’s brauchte und wurde jeden Samstagabend gesucht.« Auf die vorwurfsvolle Frage Moses Mautners an seine Frau »Sag’ mr [sic  !] Sali  ! […] warum hast Du das nicht gegrachent  ?« erwidert diese ruhig  : »Was soll ich tun, Hermann, wenn es die Kinder verlegen  ?  – Ich wer’s gleich suchen  !«362 Hingegen ist es Frau Sali ein wichtiges Anliegen, ihr Domizil als Hort (groß)bürgerlicher Lebensart zu entwerfen  : z. B. mit einem Klavier im Speisezimmer, auf dem Tochter Berta täglich üben muss. Die Krönung bedeutete Frau Sali schließlich die Einrichtung eines Salons, die sie ihrem Mann abringen will  : »Andere senn weniger als Du und haben einen Salon.« Dem Vater sind solche Vorstellungen eines vorgeblich standesgemäßen Lebensstils fremd, ihm genügte »ahn Zimmer, in dem ich schlaf ’ und ess’ und schreib’ und alles«363. Diese väterliche Konzeption eines offenen und integrativen Wohnraums, in dem sich alle Funktionen des Lebens in einem einzigen Bereich verbinden lassen und in dem die jeweilige Handlung den Raum definiert, kann als positive Reminiszenz 359 Hichler, Mautner, S. 7. In dem Nachfolgeroman Heimweh nach Wien, in dem Berta Mautner, die Tochter des Moses Mautner, die Zentralfigur bildet, verwendet der Autor fast wortident dieselbe Phrase. Vgl. Hichler, Heimweh, S. 15. 360 Hichler, Mautner, S. 126 und S. 328. 361 Hichler, Mautner, S. 17 und S. 21 f. 362 Hichler, Mautner, S. 198 f. Das Wort »gegrachent« wird im Glossar in der Bedeutung »vorbereitet« angeführt. In dem späteren Roman Heimweh nach Wien betont der Erzähler explizit die Jüdischkeit des Haushalts der Familie Mautner. Der Autor widmet dort einer Sederfeier ein ganzes Kapitel  ; siehe dazu Hichler, Heimweh nach Wien, 11. Kapitel  : Der Seder, S. 110–138. 363 Hichler, Mautner, S. 15.



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an eine vormoderne Epoche interpretiert werden. In einer arbeitsteilig ausgerichteten, modernen Welt ist sie jedoch nicht mehr durchsetzbar. Nur das bürgerliche Haus mit seinen nach Funktionen gesonderten Zimmern und Nebenräumen scheint einen zeitgemäßen identity space zu eröffnen. Die Wohnung, die sich zwar wie einst die Wohnstube (im Schtetl) »für ganz unterschiedliche religiöse wie soziale, familiale wie gesellschaftliche Nutzungsformen anbietet,«364 fungiert in einer solchen Konstellation aber a priori als uneinheitlicher Raum, in dem die jeweiligen Handlungsoptionen entsprechend der Zimmeraufteilung festgelegt sind. Gleichzeitig ergeben sich dadurch bisher unbekannte Rückzugsmöglichkeiten, denn der Aufenthalt in verschiedenen Zimmern gestattet es den einzelnen Familienmitgliedern, auch unbeobachtet und unabhängig voneinander zu agieren – oder unbemerkt das Haus zu verlassen. Die Kontrollfunktionen sind im bürgerlichen Haus im Gegensatz zur dörflichen oder kleinstädtischen ›guten Stube‹ zu einem gewissen Grad aufgehoben. So nutzt Gustav mehrfach die Gelegenheit, sich aus der Wohnung zu schleichen, um – anstatt Geige zu üben – mit anderen Kindern im Hof zu spielen. Im Vergleich zu den Ghettogeschichten, die im kleinstädtischen oder dörflichen Milieu angesiedelt sind, zeigt die Situierung der Handlung in der Großstadt um 1900 nicht nur in Leopold Hichlers Roman im Zuge der veränderten räumlichen Konstellationen häufig auch eine Verschiebung der Geschlechterrollen an. Der Historiker Benjamin M. Baader interpretiert entsprechende außerliterarische Phänomene in einem weiter gefassten Kontext als »Feminization of Judaism«.365 Ein wichtiges Argument stellt dabei die Beobachtung dar, dass Frauen in Deutschland im frühen 19.  Jahrhundert »infolge der Geschlechternormen der Haskalah aus dem zuvor für sie durchaus selbstverständlichen Erwerbsleben ausgegrenzt«366 worden seien, dass aber dann im Zuge des »Cult of Jewish Domesticity«367 eine (ausgleichende) Aufwertung 364 Lezzi, Ein jüdischer Ort  ?, hier S.  173. Lezzi geht davon aus, dass im 19.  Jahrhundert »das bürgerliche Wohnhaus, insbesondere die Wohnstube, zum entscheidenden Ort für die Aushandlung bürgerlicher Identität« wird. 365 Benjamin Maria Baader, Gender, Judaism and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870. Bloomington, Ind. 2006, v. a. das Kapitel »Conclusion  : Women, Men, and the Feminization of Judaism«, S. 211–221. 366 Lezzi, Jüdischer Ort, S. 173. Lezzi bezieht sich dabei auf Baader. 367 Baader, Gender, Judaism and Bourgeois Culture, S.  212. Baader interpretiert entsprechende Ausdrucksformen als Resultat einer jüdischen Integrationsleistung in die deutsche Gesellschaft. Seine Argumentation bezieht sich dabei v. a. auf die Säkularisierung der westlichen christlichen Gesellschaften, die mit einer Säkularisierung des öffentlichen Raums (»public domains«) und einer daraus folgenden Verlagerung des religiösen Lebens in den Raum des Privaten einhergegangen sei  : »For Jews, who aimed at integrating into German society and who sought to achieve legal emancipation, relegating Judaism and expressions of Jewishness to the private realm had particular significance.«

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der jüdischen Frau stattgefunden habe. Angesichts der Analyse von literarischen Darstellungen jüdischer Häuslichkeit stellt sich allerdings die Frage, ob das zentrale Phänomen in diesem Zusammenhang weniger in einer Feminisierung des Judentums zu sehen ist als vielmehr in der zunehmenden Dominanz des Räumlichen, die seit dem ersten Drittel des 19.  Jahrhunderts in unterschiedlichen Kontexten wirksam wurde. Eine solche Sichtweise untermauert ein von Benjamin Baader angeführter Ausspruch des russischen Maskil Judah Leib Gordon, den Baader gar als »leitmotif of this epoch in the 1860s« deklariert  : »Be a man in the streets and a Jew at home.«368 Die sich verändernden Geschlechterrollen bildeten dann nur ein Symptom im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen, die wesentlich in ihrem engen Wechselverhältnis mit den modifizierten und instabilen Raum(an)ordnungen in postaufklärerischen Gesellschaften erörtert werden müssten. Dieser auch literaturwissenschaftlich relevante, bislang aber noch kaum diskutierte Konnex von (häuslichem) Raum und Gender kommt in vielen deutschsprachig-jüdischen Erzähltexten zum Ausdruck. So wird in der (erzählten) Großstadt der familialen religiösen Praxis im privaten Raum zwar noch eine wichtige Funktion zuerkannt, im Vergleich zu analogen Szenarien in der Sabbatstube des Schtetls – hier gilt die Frau als zentraler Faktor – tritt sie allerdings in den Hintergrund. Mit dem narrativen Wechsel der Figuren von der Sabbatstube in das bürgerliche Wohnzimmer, Speisezimmer oder den Salon geht also eine gewisse Neutralisierung der traditionellen Geschlechterrollen bzw. eine Annäherung von männlichen und weiblichen Positionen einher, was sich in veränderten Handlungsmustern der Figuren widerspiegelt. Gleichzeitig wird der enge narrative Konnex eines geglückten Familienlebens, religiöser Praxis und häuslicher Stube, wie er aus den Ghettogeschichten bekannt ist, gelockert oder sogar aufgelöst. Während in Ghettogeschichten der Weggang einer Frau aus einem traditionell geführten jüdischen Haus, wie beispielsweise in Franzos’ Erzählung Der Shylock von Barnow, letzten Endes zu dessen Verfall oder zum Verlust von Jüdischkeit innerhalb der Familie führt, wird die Abwesenheit einer Frau im städtischen Haushalt um 1900  – wie etwa im Hause des erwachsenen Gustav Mautner  – einfach durch die Einstellung von Personal ausgeglichen. Gustavs jüdische Identität bleibt davon in ihrer Substanz unberührt. Die eigentliche und primäre Bedeutung der Häuslichkeit, mithin der Familie, scheint sich in der Großstadtliteratur also tendenziell in den Bereich der säkularen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse zu verschieben. Dem entspricht unter anderem eine zunehmende Professionalisierung der weiblichen Tätigkeiten in den modernen sozialräumlichen Anordnungen, wobei der Grad an Professionalisierung mit der Größe des Hauses und dem Wohlstand der Familie zunimmt. Während bei368 Baader, Gender, Judaism and Bourgeois Culture, S. 212.



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spielsweise in Georg Hermanns Roman die Frauen ihre Einkäufe noch selbst erledigen, organisiert Frau Sali in Leopold Hichlers Text den Hausstand nur noch. Sie delegiert einen Großteil der haushaltlichen Aufgaben  : an die Gouvernante, die Köchin, das Dienstmädchen. Insofern ließe sich die vermeintliche Aufwertung der Frauenrolle funktional eher als Surrogat für die verloren gegangene Beteiligung am Erwerbsleben deuten. Gleichzeitig wird der Mann weitaus seltener als in Dorf- und Ghettogeschichten bei der Ausübung seiner religiösen Pflichten, z. B. in der Synagoge, gezeigt. Hingegen erscheint nach einem Befund von Lezzi »der jüdische Mann […] in den Zeugnissen deutsch-jüdischer Kultur des 19. Jahrhunderts verstärkt als Familienmitglied im häuslichen Alltag«.369 In Hichlers Roman wird dieses Phänomen beispielsweise im Lektüreverhalten des Vaters evident. Er selbst studiert nicht »im Chumesch«, wie er es seinem Sohn empfiehlt, sondern liest im Speisezimmer seiner Frau »fast alle Artikel der Wochenschrift […] vor. Er […] las mit bewegter Stimme von der Schlechtigkeit der Antisemiten und der Reinheit der Juden.«370 Selbst die als eindeutig ›jüdisch‹ markierte Lektüre wird also im räumlichen Kontext der urbanen Kultur als säkularisiert und verbürgerlicht umgedeutet.371 Das bedeutet aber keineswegs eine Abwendung vom Judentum, wie die Erzählerinstanz immer wieder betont, sondern lediglich eine Erweiterung der Interessen im Sinne einer kulturellen Ergänzung traditioneller Orthopraxis. Letztere bleibt jedoch dem Blick des Lesers – gewissermaßen in einer narrativen Entsprechung der Privatisierung des Religiösen im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungen – weitgehend entzogen. Obwohl also die Schilderungen religiösen Lebens allein quantitativ keine prominente Stellung im Text einnehmen, zieht man die in ihrer Selbstverständlichkeit vorgeführte Jüdischkeit im Hause Mautner als Fundament der Familie nicht in Zweifel. Um dies zu bekräftigen, schaltet sich der Erzähler sogar mehrfach gleichsam aus einer narratologischen Zwitterposition als Kommentator ein  : Unsere Religion hat eine gewaltige Kraft. Sie ruht in der Familie. Wie alte, vertraute Lieder klingen ihre Gebräuche im Herzen des gläubigen Juden und zerren ihn immer wieder zum Ursprung  : in die Familie, in’s Elternhaus – zurück.372 369 Lezzi, Jüdischer Ort, S. 173. 370 Hichler, Mautner, S. 16. Bei besagter Zeitschrift handelt es sich um die von dem orthodoxen Wiener bzw. Floridsdorfer Rabbiner Joseph Samuel Bloch gegründete und über Jahrzehnte herausgegebene Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift. Zentralorgan für die gesamten Interessen des Judentums. 371 In gewisser Hinsicht relativiert Hichler diese Passage in seinem späteren Roman Heimweh nach Wien. Dort betont der Erzähler, dass Moses Mautner, seit er »die sechzig überschritten, […] nur in der Thora« liest. Vgl. Hichler, Heimweh, S. 14 f. 372 Hichler, Mautner, S. 199. Obwohl die Erzählerinstanz im gesamten Roman überwiegend he-

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Hier wird das Bild des Elternhauses metonymisch aufgeladen und meint weit mehr als nur den konkreten Wohnort, den Raum des Privaten oder den Ort religiös motivierter Alltagspraxis. Wenn der Erzähler »vom echt jüdischen Hause« spricht, »wo Einfachheit und Strenge wohnen«,373 dann evoziert er damit die Vorstellung einer authentischen und stabilen Lebensweise, die, wenngleich nicht in ihren Ausdrucksformen, so doch in ihrem inneren Kern von den historischen Wandlungsprozessen unangefochten bleibt. Selbst für Gustav, der sich immer wieder – im konkreten wie im übertragenden Sinne – aus diesem Haus entfernt, steht sein Judentum nicht zur Disposition. Allerdings gerät es in Konkurrenz mit den weltanschaulichen Thesen des Sozialismus, denen er sporadisch anhängt,374 und es scheint sich vorübergehend im Trubel seines verschlungenen Bildungsganges und der beruflichen Turbulenzen zu verlieren. Bewusst ablegen aber will er es niemals, was der Erzähler wiederum in einer räumlich semantisierten Szenerie veranschaulicht  : Als Gustav einmal aufgrund eines finanziellen Engpasses vor dem wirtschaftlichen Ruin steht, läuft er in seiner Verzweiflung »planlos und ziellos [durch Wien], bis er müde wurde und in einer fremden Straße stehen« bleibt. Plötzlich eilt »eine Menge Menschen […] an ihm vorüber. Sie kamen aus dem Hause, vor dem er stand. Es war ein Tempel«. Ein alter Mann, den er anspricht, erinnert ihn an die bevorstehende Zeremonie zum Sabbatausgang  : Awdohle  ! Hawdahla  ! – ein Wort kann einem Menschen die Seele aufreißen. […] Und jetzt, während Gustav an die Mauer des Tempels gelehnt stand, flog dies’ alles durch seinen Sinn. – Wie schön war das gewesen  ! Wenn man nur wieder ein Kind sein könnte  ! Sorglos leben und bei der Awdohle stehen  ! – –375

Doch Gustav ist kein Kind mehr  ; in diesem Moment »fühlte er seine Verlassenheit und wollte zurück und – konnte es nicht.«376 Dieser unsichere bzw. uneinterodiegetisch auftritt, ›verbündet‹ sie sich immer wieder, wie auch in dieser Passage, auf der Ebene der Diegese sowohl mit dem Protagonisten als auch mit dem impliziten (jüdischen) Leser. Vgl. dazu auch Hichler, Mautner, S. 244, als die Familie anlässlich des Todes der Mutter »zur Schiwoh« zusammenkommt  : »Unsere Religion ist groß und weise  ! – Es ist alles durchdacht und die Schiwoh – ist keine Formalität  ! – – In dem engen Beisammenleben der sieben Tage erblühen oft verdorrte Wurzeln der Zusammengehörigkeit und die Erinnerung an den gemeinsamen Toten schmiedet entfremdete Geschwister wieder aneinander.« 373 Hichler, Mautner, S. 13. 374 Hichler, Mautner, S. 94  : »Eine neue Religion war um diese Zeit entstanden. Eine neue Heilsbotschaft für arme, gedrückte Menschen und Gustav wandte sich begeistert dem neuen Licht’, der Botschaft des Achtstunden-Tages zu. Es gab in Budapest eine Sektion der ungarländisch-deutschen Sozialisten, und dort fand Gustav Anschluß.« 375 Hichler, Mautner, S. 198 f. 376 Hichler, Mautner, S. 199.



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deutige Zustand des Wollens und nicht Könnens weist Gustav nicht nur sehr allgemein als Vertreter der jungen Generation aus, sondern als typische Figur an einer historisch markanten Schwelle, an der sich die ritualisierte Bedächtigkeit althergebrachter Lebensformen mit der Dynamik moderner Beschleunigungsprozesse kreuzt. Aber erst gegen Ende des Romans wird sich Gustav seiner ambiguen Position im Hinblick auf sein Judentum in seiner ganzen Tragweite bewusst. Orientiert man sich an der narrativen Logik der Raumkonstellationen im Text, überrascht das allerdings wenig  : Denn nach der Erreichung all seiner Ziele steht Gustav gewissermaßen ungebunden im Leben. Der Ort, dem er sich immer zugehörig gefühlt hatte, das »echt jüdische[…]« und trotzdem bürgerlich-liberale Haus der Eltern, ist nach deren Tod verschwunden  ; und damit auch der einzige Ort seiner Anbindung an das Judentum, der unabhängig von rationalen Zweifeln, politischen Anschauungen und menschlichen Krisen stets Zuflucht geboten hatte. Gustavs Wohnung, die er allein bzw. mit Dienstboten bewohnt, stellt trotz ihrer Eleganz im Gegensatz dazu lediglich eine auswechselbare Form der Behausung dar. Als Gustav schließlich aus der Universität, seiner letzten sozial prägenden Anlaufstelle, entlassen wird, zeigt sich plötzlich, dass der erfolgreiche Unternehmer und Akademiker in seinem Bildungsgang einen wesentlichen Bereich ausgespart hat  : die Auseinandersetzung mit seinem Judentum. Ausgesprochen wird das erst im vorletzten Kapitel, als Gustav – für den Leser völlig unvermittelt – in der Diskussion mit einem zionistischen Freund seine Entwurzelung und Zwitterhaftigkeit als »Westjude« beklagt  : Denn »wir Westjuden haben kein Volk […] Die Ostjuden  – ja, die haben ein Volk.«377 Gustav bezieht sich mit seinem Volks-Begriff allerdings nicht auf eine essentialistische Vorstellung und damit unverrückbar angenommene Entität, wie sie in den nationalen Diskursen der Zeit entworfen wird, sondern auf die Idee einer sich im gemeinsamen sozialen Handeln formierenden Gemeinschaft. Das zeigt allein die Distanz suggerierende sprachliche Formulierung an, wenn er davon spricht, »ein Volk [zu] haben« – und nicht »ein Volk [zu] sein«. Zentral erscheinen in diesem Zusammenhang die Rolle des Geburtsorts eines Menschen und die damit verbundene sozio-kulturelle Dimension. 6.3 Kulturelle Manifestationen der Stadt

Das Wesen eines Volkes vermutet Gustav in »seinen Liedern, in seinen Märchen, Sagen und sogar […] in seinen Gebräuchen.« Und diese findet er als gebürtiger Wiener, wie er glaubt, nur in Wien. Nicht ›das Österreichische‹, ›das Habsburgische‹ oder ›das (nationale) Deutsche‹, sondern der städtische Sozialraum 377 Hichler, Mautner, S. 311.

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Wien, nicht der Boden, die Scholle, das Territorium, sondern die eigenartigen kulturellen Manifestation der alten Stadt bilden Gustavs Bezugsgrößen. Die »polnischen Juden« hingegen sind Gustav »fremd«  : »Weil ich ihre Sprache nicht verstehe. Ich kenn’ ihr Leben nicht. Ich weiß nicht, was sie denken und fühlen […].«378 Der Untertitel des Buches, Ein Wiener Roman, verdankt sich infolgedessen nicht nur der Tatsache, dass Wien als überschaubarer topographischer Schauplatz etabliert ist, sondern vor allem der emotionalen Dichte des Orts, ausgedrückt durch die »Wiener Typen«,379 das Lokalkolorit und den Einsatz wienerischer und jiddischer mundartlicher Dialogpassagen. In seinem Vorwort erklärt »der Verfasser«, dass der Roman »dem Leben abgelauscht« sei. Deshalb lasse er »die Leute im Roman reden, so wie sie im Leben sprechen.« Um die »Wiener Lokalausdrücke, […] die Jargon- und hebräischen Worte« dem unkundigen Leser zu erklären, ist im Anhang ein 11-seitiges Glossar beigefügt. So verweist der Autor ganz nebenbei auf den hybriden Charakter des Wienerischen, das eben durch vielfältige »Lokalismen«380 der aus allen Teilen der Monarchie Zugewanderten geprägt ist. Gleichzeitig schwört er den Leser damit schon vorab auf die Authentizität des Erzählten ein. Die teilweise autobiographischen Elemente des Romans bleiben in diesem Kontext allerdings unerwähnt. Literaturhistorisch reihen sich Hichlers Romane – neben seinem Erstling auch der 1933 publizierte Text Heimweh nach Wien und selbst das 1949 erschienene Werk Einser- und Zweier-Menschen. Roman für Wiener und Juden  – in die Flut der nach 1918 erscheinenden populären, heute längst vergessenen Wien-Romane ein. Diese produzierten nicht nur vielfach Klischees »vom barocken oder biedermeierlichen Wien als der guten alten Stadt«,381 sondern sie wirkten darüber hinaus wesentlich an der Etablierung einer anachronistischen und wenig differenzierenden Sicht auf Kakanien mit. Gleichwohl lässt sich daran auch das ganze Ausmaß der allgemeinen Unsicherheit nach dem schockhaft erlebten Zerfall der Monarchie ablesen. Diese Romane boten der Leserschaft weit mehr als nur eine simple Projektionsfläche für ihre Sehnsucht nach einem gesicherten, gleichmäßig und ruhig ablaufenden Leben. Vielmehr wurde in den Erzählungen über Wien das durch den Krieg nicht nur in materieller Hinsicht Verlorene 378 Hichler, Mautner, S. 312. 379 Vgl. dazu u. a. Eva Maria Hois, Ernst Weber, »… doch die Zeiten sind dahin …« Alt-Wien im Wienerlied, in  : Alt-Wien. Die Stadt die niemals war, hg. v .Wolfgang Kos und Christian Rapp. Wien 2004, S. 134–41, v. a. S. 137 f., sowie Christian Rapp, Wiener Typen. Zur Erfindung und Karriere eines Soziotyps, in  : Kos, Rapp, Alt-Wien, S. 142–150. 380 Hichler, Mautner, [S. 5]. 381 Vgl. dazu Arnold Klaffenböck, Literarische Positionen zu Alt-Wien. Alt-Wien 1880–1930, in  : Alt-Wien, S.  217–227, hier S.  226. Klaffenböck erwähnt z. B. Erwin Riegers Die Zerrissenen (1921) oder Josef August Lux Beethovens unsterbliche Geliebte (1926).



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gleichsam wiederbelebt und zurückgeholt und den Lesern damit zumindest für die Zeit der Lektüre ein Gefühl der Vertrautheit vermittelt. In vielen dieser Romane erscheint Wien nun als »eine perfekte Illusion, aufrechterhalten durch massive Retuschen, die das (Ver-)Störende der Moderne ausblenden und die Widersprüche der Gegenwart herausfiltern.«382 Leopold Hichler bemüht sich in seinem Roman allerdings, trotz seiner in der Figur Gustavs greifbar werdenden überschwänglichen Beziehung zu Wien auch der Komplexität gesellschaftlicher Realität Rechnung zu tragen. So widmet der Autor zwei Kapitel den teils gewalttätigen Konflikten zwischen der habsburgischen Ordnungsmacht und der sozialistischen Bewegung, der der Protagonist zeitweise anhängt. Die affirmative Darstellung von Alt-Wien bleibt in diesem Zusammenhang jedoch unangetastet, denn die entsprechende Episode ist in der ungarischen Reichshälfte, in Budapest, angesiedelt. Auf diese Weise verfestigt sich aus der Gesamtperspektive des Romans der Eindruck, »die für Wien typische Stimmung sei genuin und ungeachtet der Zeitläufe stabil.«383 Auf der Figurenebene wird diese Stabilität durch die ungebrochene emotionale Beziehung Gustavs zu seiner Geburtsstadt beglaubigt. Dass Gustav alles Wienerische von Grund auf vertraut ist, illustriert der Autor besonders eindrücklich anhand einer Szene in einem Heurigenlokal, in dem Gustav »Alt-Weanerlieder« mit »so vül G’fühl« singt, dass er damit »alle rebelliert.«384 Jenseits des elterlichen Hauses, der Schule, der Universität und des Betriebes ist Gustavs Gefühl der Einbindung und identitären Zuordnung in all seinen Erlebnissen durch Wien geprägt. Wien überbietet als sein Geburtsort, gewissermaßen als übergeordnete räumliche Instanz seiner Herkunft, alle im Roman aufgeführten Örtlichkeiten, denn die Stadt repräsentiert den einzigen Ort der Dauerhaftigkeit in Gustavs Leben. Selbst im Zeichen des Todes bleibt Wien Bezugspunkt, denn die Eltern werden auf dem Zentralfriedhof, der nicht nur ob seiner Größe als Stadt in der Stadt bezeichnet wird, begraben.385 Der städtische Raum verschwindet niemals, und er verändert sich auch über den (erzählten) Zeitraum von 25 Jahren nur wenig. Im Gegensatz dazu illustriert 382 Klaffenböck, Literarische Positionen, S. 227. 383 Klaffenböck, Literarische Positionen, S. 227. Aus jüdischer Sicht ließ sich diese Position schon insofern vertreten, als Kaiser Franz Joseph während seiner gesamten Regierungszeit als ›Schutzherr‹ der jüdischen Bevölkerung angesehen wurde  ; davon zeugen nicht zuletzt viele literarische und publizistische Texte, u. a. auch diverse Beiträge in der von Hichler angeführten Oesterreichischen Wochenschrift. 384 Hichler, Mautner, S. 310. 385 Hichler, Mautner, S. 248  : »Im Osten der Stadt Wien ist eine große Stadt. – Eine stille und ruhige Stadt. Ein Ort ohne Sehnsucht und ohne Verlangen. Die Bewohner schlafen. – Wie lange  ? Wer wird sie erwecken  ? Der Gott der Juden  ? Der Gott der Christen  ? – Sie streiten nicht mehr darum. Sie schlafen. – –«

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der Erzähler in den Kapiteln über Budapest die Kehrseiten moderner Urbanität  : Hunger, Verelendung, Arbeitslosigkeit, staatliche Unterdrückung. Gustav, der nach einem Streit mit den Eltern nach Ungarn aufbricht, um als sozialistischer Aktivist Karriere zu machen, scheitert dort jedoch nicht nur politisch. Er verliert sein ganzes Geld in der ungarischen Metropole, die in einem modernekritischen Topos als »amüsante[s] Babel«386 apostrophiert wird. Tatsächlich verstärkt die ablehnende Wertung Budapests seitens der Erzählerinstanz noch einmal die Erfahrungen der Hauptfigur und damit gleichzeitig das positive Image von Wien. Mit den symbolisch aufgeladenen Begriffen »Heimat« und »Fremde« bezeichnet der Erzähler in diesem Zusammenhang aber nicht nur einen aus der Sicht des Protagonisten wirksam werdenden Gegensatz unterschiedlicher urbaner Manifestationen, sondern er ruft damit einen zeittypischen Diskurs auf, der üblicherweise in der Gegenüberstellung von positiv konnotierter ländlicher Region und negativ konnotierter Stadt seinen Ausdruck findet.387 Welche Bedeutung der Erzähler diesem Komplex beimisst, zeigt sich vor allem in einer direkten Ansprache an den Leser  : Eine gute Schule mag die Fremde sein, jedoch schön ist sie erst in der Erinnerung, wenn die Leiden der Fremde vergessen sind, und nur die Früchte jener Leiden genossen werden […] Darum rate ich  : Menschen bleibt zu Hause. Mehr lernen werdet Ihr vielleicht in der kalten Welt, aber behagen wird es Euch nur an dem schönen, traulichen Feuer der Heimat.388

Dieser Gestus der Traulichkeit, den der Erzähler hier beschwört, spiegelt sich auch in der erzählten Topographie Wiens wider. Der fast intime Charakter der Stadt wird durch verschiedene ländlich anmutende Schauplätze oder zumindest solche, die abseits des Zentrums liegen oder als Ausgangspunkt für Fahrten ins Grüne dienen, bekräftigt  : ein Heurigenviertel, ein Vorort Wiens,389 die Sommerfrische der Mautners. Die emotionale Aufgeladenheit dieser Orte zeigt sich 386 Hichler, Mautner, S. 99. 387 Vgl. dazu z. B. Mecklenburg, Erzählte Provinz. – Als Gustav zum Lernen aufs Land fährt, wird dieser Konnex noch einmal explizit verhandelt. Der Erzähler erörtert dabei den Gegensatz Stadt–Land allerdings aus einer dezidiert jüdischen Perspektive und bezieht sich auf den – andernorts auch immer wieder negativ (bis hin zum antisemitisch) konnotierten  – Topos vom jüdischen Stadtmenschen, der »von der Natur abgeirrt« sei. Hichler, Mautner, S. 258 f. 388 Hichler, Mautner, S. 93. 389 Hichler, Mautner, S. 254  : »[…] und führe rasch meine Leser in ein neues Land, in einen neuen Bezirk  ; in einen Vorort Wiens  ; heute hat ihn schon die Großstadt verschlungen. Er ist einverleibt  : Ein Nichts unter einundzwanzig Nullen. – In diesem Vororte stand einmal ein kleines, ebenerdiges Häuschen. Traulich und lieb.«



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nicht zuletzt in einer Passage über »die Station Rennweg der Wiener Verbindungsbahn«, in der das Holzhäuschen der Bahnstation sogar anthropomorphe Züge annimmt  : Das Holzhäuschen lebt und sehnt sich nach fühlenden Menschen. Jeden Sommer blickt es erwartungsvoll über die Ungargasse zur Rudolfsgasse hinüber nach den alten Freunden, nach der Familie Mautner. Bisher war sie jedes Jahr gekommen […]390

Es bedürfte also nicht einmal des Hinweises, dass »das ›Land‹ […] für Gustav immer die schönste Zeit des Jahres gewesen«,391 um zu verdeutlichen, dass es ist nicht die kaiserliche Stadt, das kulturelle oder ökonomische Zentrum ist, dem Gustav anhängt. Die phantastischen Sehnsuchtsorte seiner Kindheit, wie die als »alte Dame«392 apostrophierte Alserkaserne oder der »Freiheit« verheißende Prater, werden aus der Position der (kurzzeitig extradiegetischen) Erzählerinstanz allerdings schon als verlorene Orte der Vergangenheit markiert  : Im Prater, auf der Wasserwiese – es ist schon lange her  ; heute ist sie verbaut – gab’s jeden Tag viel Militär zu sehen. Die Deutschmeister oder die Vierundachtziger oder die Neunundvierziger, die ›Möhlstauber‹, wie sie wegen ihrer grauen Aufschläge genannt wurden.393

Gustav Mautners Wien manifestiert sich im Wesentlichen also abseits der Repräsentationsbauten und -straßen an den unscheinbaren Orten seiner Sozialisierung  : ›Da in Wien bin ich zu Haus’, da hab’ ich als Kind gelebt, in Erdberg bin ich in die Schule gegangen […] und später bin ich in die Tanzschule gegangen und dann bei den Volkssängern und wo immer ich gewesen bin, war ich unter Wienern und hab wienerisch gesprochen  ! […] Ich bin darin erwachsen, es wird mir so warm […] so wohl wird mir, wenn ich nur wienerisch reden hör’  !‹394

Gustavs zionistischer Freund Lederer kann diesem »Wienertum«395 allerdings nichts abgewinnen. Sein Einwand, dass Gustav doch nichts mit den »Saufbrü390 Hichler, Mautner, S. 110–113. 391 Hichler, Mautner, S. 110. 392 Hichler, Mautner, S. 36–38. Hier hört Gustav bekannte Regimentsmärsche  : »Aller Übermut und alle Leichtlebigkeit dieser schönen Stadt offenbarte sich in einem solchen Marsche.« 393 Hichler, Mautner, S. 34. 394 Hichler, Mautner, S. 312. 395 Hichler, Mautner, S. 313.

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dern« aus dem Heurigenlokal »gemein haben« könne, kontert Gustav mit dem Argument, dass Lederer das nicht verstehe  : »Weil Du ein Fremder bist  ! Weil Du kein Wiener bist  ! Weil Du nicht in Wien geboren bist.«396 Als Lederer mit der provokanten Aussage, dass Gustav als Jude überhaupt »kein Wiener« sein könne,397 den Freund aus der Reserve locken möchte, wehrt dieser heftig ab. Doch als ein nichtjüdischer Gast an ihren Tisch kommt, um Gustav ein unbeholfenes Kompliment über seine Sangeskunst zu machen, obwohl er doch Jude sei,398 erkennt Gustav mit aller Deutlichkeit seinen Zwiespalt, der aus der Diskrepanz von Selbst- und Fremdwahrnehmung erwächst. Nichtsdestoweniger wird die Differenz, die die nichtjüdischen Gäste zwischen sich und Gustav zu erkennen glauben, für Momente aufgehoben. Durch das gemeinsame Musizieren von Gustav und drei anwesenden Musikanten wird nicht nur die Separierung des sozialen Raums durch die getrennt voneinander aufgestellten Tische im Wirtshausgarten kurzfristig überbrückt  ; der Klang des Liedes eröffnet vielmehr einen im übertragenen Sinne umfassenden Raum idealer Einheit, im dem sich alle Anwesenden aufgehoben und ›behaust‹ fühlen können. Gustav versucht, dem zugewanderten Freund dieses Phänomen mit einer räumlichen Metapher zu verdeutlichen  : »Hast Du denn gar keine Ahnung, was Kunst ist  ! Wie kann man denn ein Lied singen, wenn man darin nicht zu Haus’ ist  ?«399 Letztlich gelingt es den beiden nicht, gegenseitiges Verständnis füreinander aufzubringen. Die jeweiligen Argumente überzeugen die Freunde nicht, da sie auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Der Emotionalität von Gustavs Wien-Bindung ist mit der zielorientierten Logik des Zionismus nicht beizukommen  : ›Keiner versteht mich  ! Keiner weiß, wie mir ist  ! Kein Mensch  ! – Sie wollen […] ich soll Zionist sein und ich will es ja sein  ; aber ich will auch Wiener sein  ! Denn ich könnt’ nicht weg von Wien. – Ich könnt’ nicht einmal eine Woche in Palästina leben  ! Ich hätt’ zu viel Heimweh nach Wien und müßt’ wieder zurück  !‹400

Gleichwohl begreift Gustav seine Zerrissenheit und beklagt, dass er »nicht ganz« sei wie jene Juden, »die in Tarnopol oder in Brody zur Welt gekommen« sind. Die schwierige, aus seiner Sicht fast tragische Situation liegt für Gustav darin begründet, dass »das Unhaltbare, das Zwitterhafte seines Nationalgefühls«, das 396 Hichler, Mautner, S. 313. 397 Hichler, Mautner, S. 313  : »Du bist ein Jude und ein Jude ist kein Wiener.« 398 Hichler, Mautner, S. 310  : »Wissen S’ Herr, alle Achtung  ! […] so schön die Alt-Weanerlieder singen und dabei – Seh entschuldigen scho – und dabei – Wiener – Kultusgemeinde  ! – Entschuldigen scho – Nahn – Alle Achtung  !« 399 Hichler, Mautner, S. 312. 400 Hichler, Mautner, S. 314.



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er als »Denker« zwar erkennt,401 nicht durch seine Erfahrungen und Gefühle gedeckt sind. Eine Lösung dieses Dilemmas wird dem Leser aber vorenthalten. Der Text bricht hier ab. Nur der extradiegetische Erzähler ergreift zum »Schluß« noch einmal das Wort, um den Protagonisten direkt anzusprechen  : »Und nun mein lieber Gustav, verlasse ich Dich. […] Einen kleinen Weg mußt Du noch gehen  : Dorthin, woher Du stammst  : Zum Volk zurück.  – Dann bist Du am Ziel’. – –«402 Der Roman, der durch ein dichtes Netz funktionaler räumlicher Bezüge strukturiert ist, schließt mit diesem Hinweis auf eine noch zu gehende symbolische Wegstrecke. Diese Wegstrecke definiert sich durch die Distanz des Protagonisten zu seinem Judentum, die nur – orientiert man sich an der immanenten Deixis der Aufforderung des Erzählers403 – in einer gleichermaßen rückwärts wie vorwärts gerichteten Bewegung zu überwinden ist. Die darin gefasste Aporie scheint allerdings auflösbar, denn der Erzähler zweifelt nicht daran, dass Gustav »am Ziel« anlangen kann. Aufgrund der bisherigen Befunde in den untersuchten Ghettogeschichten und Großstadtromanen lässt sich ein besonderes poetologisches Verhältnis von Narrativität, Identität und Raum feststellen. Die theoretische Kategorie Zeit tritt im Vergleich dazu tendenziell in den Hintergrund. Folgt man den Annahmen des New Historicism, wonach »Literatur […] als kontingentes Resultat sozialer und psychischer Faktoren gesehen [wird], das eng an die Realität seiner Zeit gebunden ist«,404 so ließe sich daran die Frage anschließen, ob man im 19. Jahrhundert nicht von einer zunehmenden Verräumlichung405 kultureller Systeme, mithin auch im Judentum sprechen könnte. Damit wäre nicht nur eine »Privatisierung der jüdisch-religiösen Kultur«406 im Sinne eines biedermeierlichen Rückzugs in die eigenen vier Wände theoretisch zu erörtern, sondern ein weitreichender Komplex an räumlich bedingten Transformationen, denen 401 Hichler, Mautner, S. 314, [Hervorhebung im Original]. 402 Hichler, Mautner, S. 320. Die Distanz zwischen Erzähler und Figur scheint an dieser Stelle sogar für einen Moment lang aufgehoben, wenn der Erzähler meint, er habe Gustav vom »ersten Schultage an« begleitet »und in der Schule – auch nichts gelernt.« 403 Nichts anderes kommt in der Verbindung der beiden Sätze »Zum Volk zurück« und »Dann bist Du am Ziel’« zum Ausdruck  : Nicht ein Voranschreiten, sondern die Zurückwendung verheißt das Ziel. 404 Tilmann Köppe, Simone Winko, Neuere Literaturtheorien. Stuttgart, Weimar 2008, S. 233. 405 Laura Kajetzke und Markus Schroer verstehen unter Verräumlichung einen »soziale[n] Prozess, in dem gleichermaßen die Wirkmacht räumlicher Strukturen, kollektive Vorstellungen über Räume, aber eben auch die schöpferische Kraft der Individuen berücksichtigt werden muss.« Siehe Laura Kajetzke, Markus Schroer, Sozialer Raum  : Verräumlichung, in  : Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Stephan Günzel unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling. Stuttgart, Weimar 2010, S. 192–203, hier S. 203. 406 Lezzi, Jüdischer Ort, S. 173. Lezzi bezieht sich hier auf Baader.

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das Judentum als kulturelles System infolge der sich neu herausbildenden Lebensformen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unterworfen war. Unter dieser Prämisse wären Makrophänomene im Umfeld von Urbanisierung und Migration ebenso zu fassen wie Umgestaltungen im Alltagsleben als Folge der Aufklärung und der Modernisierung des Wohnens, kulturelle Austauschprozesse in der Architektur ebenso wie die Gestaltung von identifikatorischen Räumen in der bildenden Kunst und Literatur. Die vielfältigen Auswirkungen dieser Spatialisierung auf lebensweltliche Konstellationen lassen sich gerade in der Literatur aufgrund der Komplexität narrativer Raumkonstruktionen besonders gut nachvollziehen, zum Teil werden sie dort aber auch erstmals sichtbar. Das zeigt sich noch einmal besonders eindrücklich in der zionistischen Erzählliteratur, die im Folgenden anhand einiger Beispiele exemplarisch untersucht wird.

IV. Der erzählte Staat – Zionistische Romane

1. Text – Nation – Zeichen – Territorium Der aus Bonn stammende Moses Hess (1812–1875) formulierte in seiner Schrift Rom und Jerusalem (1862) die Idee, dass »die Juden als Nation und Palästina als ihre zu kolonisierende Heimat angesehen« werden können.1 Die Forschung ist sich heute darüber einig, dass mit diesem Text neben der ebenfalls 1862 zuerst auf Hebräisch erschienenen Schrift von Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) Derischat Zion (Auf der Suche nach Zion) erstmals ein im Sinne der Moderne verstandenes nationaljüdisches Selbstverständnis artikuliert wurde, das jenseits messianischer Vorstellungen einen Zusammenhang zwischen einem ›Volk‹ der Gegenwart und dem Land, Erez Israel, herstellt.2 Einige Jahre später trat der Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek mit seinen Der jüdische Stamm betitelten Studien und Skizzen (1869) an die Öffentlichkeit. Vor allem in der cisleithanischen Reichshälfte und dort wiederum in den östlichen Kronländern setzte seit dieser Zeit eine nachhaltige nationaljüdisch orientierte publizistische Tätigkeit ein, die sich in Einzeltexten, aber auch in Zeitschriftengründungen nachweisen lässt.3 Als einer der bedeutendsten österreichischen Vertreter einer nationaljüdischen, aber gegen den politischen Zionismus gerichteten Ausprägung gilt wohl der aus Galizien stammende Rabbiner Joseph Samuel Bloch, der von 1884 bis in die 1920er-Jahre die Oesterreichische Wochenschrift herausgab und auf dessen Initiative 1886 in Wien die Oesterreichisch-Israelitische Union gegründet wurde. In seiner Broschüre Der nationale Zwist und die Juden (1886) verbanden sich »jüdisches Selbstbewußtsein und österreichischer Patriotismus.«4

1

Wolfdieter Bihl, Die Juden in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in  : Studia Judaica Aus­ triaca, Bd. VIII. Zur Geschichte der Juden in den östlichen Ländern der Habsburgermonarchie, hg. v. Institut für Judaistik der Universität Wien. Eisenstadt 1980, S. 60. Siehe außerdem Michael A. Meyer, Jüdische Identität in den Jahrzehnten nach 1848, in  : Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2, S. 326–355, v. a. S. 351 ff. 2 Zum Themenkomplex allgemein Vgl. z. B. Jacob Katz, Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 1993, besonders das Kap. Messianismus und Zionismus, S. 21–36. 3 Eine Auflistung siehe bei Bihl, Juden, S.  60–63. Bihl verweist dabei auch auf die graduellen Unterschiede hinsichtlich einer diasporischen oder zionistischen bzw. protozionistischen Ausrichtung der angeführten Schriften. 4 Bihl, Juden, S. 61.

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Als eigentlicher »Vater des österreichischen Zionismus«5 gilt hingegen Nathan Birnbaum mit seiner Schrift Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen (1893). Ab 1885 hatte Birnbaum bereits die Zeitschrift Selbst-Emancipation herausgegeben. Allerdings wandte sich Birnbaum 1898 vom politischen Zionismus ab und trat in der Folge für eine Stärkung des nationaljüdischen Bewusstseins in der Diaspora ein. Eine autonome jüdische Existenz in verschiedenen Ländern sollte seiner Ansicht nach eine Besiedelung Palästinas ergänzen.6 Dass sich schließlich die Wortführer des politischen Zionismus Herzl’scher Prägung von den sich oppositionell dazu verstehenden Kulturzionisten um Achad Ha’am in ihren Vorstellungen mitunter weniger voneinander unterschieden, als dies den Anschein hatte, verweist nur auf die Dynamik der Prozesse im Rahmen des vorerst hauptsächlich diskursiv verlaufenden nation building und einer daraus resultierenden invention of tradition. In diesem Zusammenhang spielten auch die unter dem Sammelbegriff Jüdische Renaissance firmierenden Ideen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ihre Impulsgeber waren dabei weniger durch ein ausformuliertes Programm verbunden als vielmehr durch das gemeinsame Ziel, eine umfassende jüdische Erneuerungsbewegung herzustellen.7 Martin Buber als einer der Hauptvertreter dieser Strömung gebrauchte den Begriff Renaissance vor allem in ästhetisierender Weise, wobei eine nationale Konnotation zunächst nur als Subtext mitgeführt zu werden schien. Die ersehnte Wiedergeburt bezog sich im Rahmen dessen auf einen vermeintlich ursprünglichen Zustand in weit zurückliegender Vergangenheit, der noch durch einen engen Zusammenhang von Territorium und Volk geprägt gewesen war. Moderne Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb der sich im 19.  Jahrhundert etablierenden Nationalstaaten und -gesellschaften sind ebenso an räumliche Konzeptionen gebunden wie historische und religiös motivierte Vorstellungen von Exil, Diaspora oder Zion. Wie wesentlich und weitreichend diese »Dimension des Raums im Judentum« ist, fasst André Neher zusammen  :

5

Bihl, Juden, S. 61. Bihl bezieht sich in seinen Ausführungen u. a. auf Moses Landau, Geschichte des Zionismus in Österreich-Ungarn. phil. Diss. Wien 1932. Der Begriff Zionismus geht auf Nathan Birnbaum 1893 zurück  ; vgl. dazu u. a. Stichwort  : Zionismus, in  : Philo-Lexikon, S. 825. 6 Siehe weiterführend Alfred Gaisbauer, Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918. Wien, Köln, Graz 1988. Einen kompakten Überblick über die Diskussionen gibt John Bunzl. Siehe John Bunzl, Der Zionismus und die »jüdische Nation«, in  : Das Jüdische Echo 43 (1994), S. 131–133. 7 Vgl. dazu ausführlich Inka Bertz, Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914, in  : Rürup, Jüdische Geschichte in Berlin, S. 149–180, bes. S. 158 f.



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Es heißt, das höchste Verdienst des jüdischen Volks sei es, der Welt Gott gegeben zu haben. Man müsste hinzufügen  : Und ein Land. Denn der Einzigartigkeit der göttlichen Vorstellung, die durch das Judentum offenbart wurde, ist nur die vom Land, Erez, vergleichbar, die ihrerseits jüdischem Denken und der jüdischen Geschichte entstammt.8

Diasporismus und Zionismus erhalten gerade im Kontext sich herausbildender Nationenvorstellungen im 19. Jahrhundert eine signifikant politische, aber auch kulturelle Ausrichtung. Den heterogenen Raumvorstellungen der Diaspora stellt der Zionismus nun die Idee eines jüdischen Territoriums gegenüber, die andere und neue Möglichkeiten von Zuschreibungen, Sinnstiftungen und identitären Entwürfen zuließ.9 Unabhängig von den teils stark divergierenden weltanschaulichen Positionen der Proponenten eines nationaljüdischen Selbstverständnisses lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen, die für die hier zur Diskussion stehenden Fragen von Belang sind  : Die Entwicklung des Zionismus ist erstens nicht losgelöst von den in den europäischen Ländern statthabenden Debatten über Nation und Nationenbildung zu sehen. Verhandelt werden dabei in letzter Konsequenz immer Rahmenbedingungen, die die Exklusivität einer Gruppe festlegen und damit ein ›Eigenes‹ und ein ›Anderes‹ oder ›Fremdes‹ und den dazugehörigen Beziehungsraum definieren. Damit ist jedoch noch nichts über die Grenzen zwischen diesen Bereichen ausgesagt, die sehr eng oder sehr weit gesteckt sein können. Am engsten sind sie jedoch dort gezogen, wo unhintergehbare, weil letztlich undefinierbare Kriterien, wie Blut, Abstammung, Wesen, Gefühl etc. ins Feld geführt werden. Zweitens sind alle nationalen Bestrebungen dieser Zeit an Texte unterschiedlichster Genres, Machart und Qualität gebunden  : Theoretische Schriften haben hier ebenso ihren Platz wie politische Pamphlete, wissenschaftliche Einlassungen oder literarische Texte.10 Dabei sind diese alle in einen umfassenden systemischen Funktionszusammenhang eingebettet, in dem theoretische Schrift, gesellschaftliches Handeln und das Erzählen darüber unwillkürlich zusammenwirken. Während sich in der Habsburger  8 André Neher, Jüdische Identität. Einführung in den Judaismus, a. d. Frz. übersetzt von Holger Fock, mit einem Nachwort von Rudolf Pfisterer, [frz. 1989]. Hamburg 1995, S. 99.   9 Zu den hier und im Folgenden nur sehr pauschal angedeuteten Entwicklungen existiert eine umfangreiche geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur, die an dieser Stelle nicht referiert werden kann. 10 Siehe dazu ausführlicher Petra Ernst, Text und Eigen-Sinn – Anmerkungen zur »jüdischen Geschichtsschreibung« und zur »deutschen Geschichtsschreibung« im 19. Jahrhundert, in  : M ­ argit Franz, Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht et al. (Hg.), Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs. Wien, Köln, Weimar 2008, S.  159–182. Einige Passagen daraus wurden für das gegenständliche Kapitel übernommen.

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monarchie aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Konzeption als Nationenstaat der Kontext von Nation und Territorium nicht ohne Weiteres argumentativ herstellen ließ, waren die intellektuellen und politischen Prozesse im ungeeinigten Deutschland des 19. Jahrhunderts am Modell des Nationalstaats, das Land, Volk und Sprache in eins setzt, orientiert. Die Entwicklungen in Deutschland betrafen zumindest mittelbar auch die jüdischen Positionen. Denn in Deutschland formierte sich eine sich als exklusiv verstehende Gesellschaft, deren Ausschlussmechanismen besonders gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet waren. Sie zeigten sich zunächst vorwiegend in ihren diskursiven Ausprägungen. Ein damit verbundenes Narrativ bezog sich auf das Mittelalter, also auf eine weit zurückliegende historische Epoche, die deshalb besonders geeignet war, um ideell bzw. ideologisch aufgeladen zu werden. Die »Geschichte des Mittelalters« wurde im 19. Jahrhunderts »zur nationalen Leidenschaft.«11 Hagen Schulze beschreibt die ungeheuren Wirkungen eines popularisierten Mittelalter-Bildes auf das junge deutsche Nationalbewusstsein und fasst diese Entwicklungen mit dem pointierten Satz zusammen  : »Die deutsche Zukunft war das deutsche Mittelalter.«12 Die Monumenta Germaniae Historica, die von Freiherr vom Stein gegründete mittelalterliche Quellensammlung, trug ebenso zur Wirkmächtigkeit dieser Imagination bei wie unzählige Werke von Schriftstellern, Dramatikern und Komponisten. Vermittelt wurde ein heroisches Bild, »in dem strahlende Kaiserherrlichkeit und eine alle Klassen des Volks umfassende, christliche Frömmigkeit und Einfachheit herrschten, ohne Konflikte und Gegensätze  ; das Böse kam stets von außen, als römische Intrige oder französische Sittenverderbnis.«13 In Österreich bezog sich Albert Wiesinger, Herausgeber der Wiener Kirchenzeitung, in den 1870er-Jahren ebenso auf vorgeblich mittelalterliche Quellen wie auf rassistische Schriften aus Deutschland, um schließlich in antisemitischen Pamphleten »›die Juden‹ als die Verantwortlichen für die Krise des ungezügelten Kapitalismus« auszugeben.14 Auch der preußische Freiherr Karl von Vogelsang, Vorläufer und »geistiger Vater« der antisemitischen Partei Karl Luegers, soll sich an einem verklärten und ideologisch aufgeladenen Bild der mittelalterlichen Kirche orientiert haben, als er zum Katholizismus übertrat.15 Als Chefredakteur der Tageszeitung Das Vaterland zeichnete er dann für die Losung verantwortlich  : »Unser Kampf gilt dem Geist von 1789.«16 In einem durch vermeintlich 11 12 13 14 15 16

Hagen Schulze, Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte  ?. Stuttgart 2004, S. 42. Schulze, Deutsche Geschichte  ?, S. 42, sowie gleichlautend Schulze, Staat und Nation, S. 185. Schulze, Staat und Nation, S. 186. Weiss, Der lange Weg zum Holocaust, S. 222. Weiss, Holocaust, S. 222. Weiss, Holocaust, S. 223.



Text – Nation – Zeichen – Territorium 

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wissenschaftliche Fakten abgesicherten und auch in Kunstwerken immer wieder idealisierten Deutschlandbild, das sich auf eine solchermaßen monokulturelle Mittelaltervorstellung zu gründen schien, hatten Juden keinen Platz mehr, bzw. nicht mehr den Platz, den sie sich aufgrund der überwiegend positiven Entwicklungen als Folge der Aufklärung und der Emanzipation hatten erwarten dürfen. Deutlich wird dieser Konnex zwischen einem ideologisierten Mittelalterbild, das eine auf Homogenität und Kontinuität basierende Herkunftsgeschichte des ›deutschen Volkes‹ installieren will, und einem damit einhergehenden Exklusionswillen in der »nachweisbaren Revitalisierung [der] mittelalterlichen Legende« des Ritualmordes und des Hostienfrevels.17 Literarisch aktualisiert werden die damit verbundenen judenfeindlichen Stereotype vor allem durch die Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano.18 Wie wirkmächtig diese Stereotype waren, erwies sich 1840 in der sogenannten Damaskus-Affäre, in deren Umfeld die Juden von Damaskus eines Ritualmordes an einem christlichen Mönch beschuldigt wurden. Heinrich Heines Rabbi von Bacherach stellt die heute »bekannteste dichterische Reaktion auf die Vorfälle in Damaskus« dar.19 Eine im negativen Sinne herausragende Rolle spielte in diesem Ideologisierungsprozess alles Deutschen vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert – wie bereits angedeutet – die deutsche Geschichtsschreibung. Sie konstruierte und etablierte im Zuge der Nationalisierungsbemühungen und der verzweifelten Suche nach einheitsstiftenden Erinnerungsfiguren mit Bezug auf das Frühmittelalter genau jene essentialistischen Vorstellungen eines unvermischten ›deutschen Volkes‹, die ihre katastrophalen Folgen im Zusammenwirken mit einer pseudo-wissenschaftlich argumentierenden Rassentheorie endgültig erst in der Zeit des Nationalsozialismus zeitigen sollte. Prominent wurde zunächst Wilhelm Giesebrecht mit seiner 1855 publizierten Geschichte der deutschen Kaiserzeit, in der er die Epoche der mittelalterlichen Kaiser als eine Periode beschrieb, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern gebot, 17 Gabriele von Glasenapp, (Re-)Konstruktion der Geschichte im jüdisch-historischen Roman, in  : Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 9 (1999) 2, S. 389–404, hier S. 400. 18 Vgl. dazu Rainer Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen die Juden, Berlin 1993. Weiterhin Stefan Nienhaus, Die Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, [= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte  ; 115]. Tübingen 2003, S.  4  : »Evolutionäre Verfassungsgedanken […] verbinden sich mit Betonungen ›altdeutscher‹ Gesinnung und mit einer antisemitischen Haltung, die den ideologischen Kern des parteipolitisch organisierten Antisemitismus antizipiert.« 19 Glasenapp, (Re-)Konstruktion der Geschichte, S. 402.

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wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte.20

Hier wird schon überdeutlich ein Herrschaftsanspruch historisch zu legitimieren versucht, der die Exklusion vermeintlich ›Anderer‹ impliziert. Auch »Hermann, der Cherusker« spielt in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle, wird er doch spätestens mit der Errichtung des Hermann-Standbilds im Teutoburger Wald in den 1870er-Jahren auch offiziell als germanischer Ahnherr zelebriert. Die Popularität Hermanns vermerkte sogar der in der Wiener k. u. k. Hofbibliothek arbeitende Josef Meilen im Vorwort zur Autobiographie des »ehemaligen Chassiden« Josef R. Ehrlich, wenn er Bezug nehmend auf dessen dramatischen Versuch Hermann, der Cherusker-Fürst schreibt  : »Fast ist schon so viel Tinte aus der Feder deutscher Jünglinge bei der Bearbeitung dieses Stoffes geflossen, als den Römern im Teutoburger Walde Hermann Blut erpreßt haben mag.«21 Wenngleich die Suche nach den Ursprüngen nationaler Gemeinschaften im 19. Jahrhundert viele Staaten und staatenähnliche Verbände in Europa prägte, so verliefen die damit verbundenen Prozesse in Deutschland doch in besonderer Weise. Die Auflösung der ständischen Ordnungen sowie des Zunftwesens, die Umstrukturierung der jahrhundertelang religiös gebundenen Herrschaftshäuser, die scheinbar unüberbrückbare Spaltung in protestantische und katholische Länder, der Privilegienverlust des Adels im Zuge der Aufklärung sowie die Bemühungen um die Neuordnung Europas nach den napoleonischen Befreiungskriegen und dem Wiener Kongress führten vor allem mit der Perspektive auf einen zukünftig zu errichtenden Nationalstaat zu enormen Umwälzungen. Befördert durch die Philosophie der Aufklärung und die politischen Umbrüche seit Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich im Zuge dessen auch das seit Jahrhunderten mehr oder weniger statische, auf Abgrenzung basierende Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden zunächst zwar langsam, jedoch nachhaltig geändert. Die Ausdifferenzierung der europäischen Gesellschaften ließ symbolische Grenzen durchlässiger werden, Machtkompetenzen wurden neu arrangiert, bestehende Hierarchien ordnungsgebender Instanzen wurden aufgelöst. Der mit der Französischen Revolution in Europa in Gang gesetzte Zerfall der ständischen Gesellschaftsordnungen sowie die Modernisierungsprozesse in den Wis20 Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1. Leipzig 1855, S. 9, zitiert nach  : Schulze, Deutsche Geschichte  ?, S. 43. 21 Josef Meilen, Vorwort, in  : Josef R. Ehrlich, Der Weg meines Lebens. Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden. Wien 1874, S. VI. Fritz Mauthner spielt in seinem Roman Der neue Ahasver auf diese Phänomene an. So erscheint z. B. ein antisemitisches Kampfblatt in Berlin unter dem Namen »Arminius«.



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senschaften und der Technik lassen das 19. Jahrhundert zu einem Zeitalter des Übergangs werden. Hagen Schulze prägte dafür den Terminus »Achsenzeit«,22 Eric Hobsbawm verwendet für diese Epoche den Begriff des »langen Jahrhunderts«,23 das erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs seinen endgültigen und tragischen Abschluss finden sollte. Charakteristisch für diese Zeit ist die vielfach beschriebene Auflösung traditioneller Verbindlichkeiten und Normen. Die Episteme der Moderne, die kognitiven Ordnungs- und Erkenntnisschemata, in denen fortan nicht mehr die Zeichen als analytisches Instrumentarium fungieren und solchermaßen »als Markierungen der Identität und des Unterschiedes, als Prinzipien des Ordnens, als Schlüssel für eine Taxinomie«24 gelten, lösen nach Michel Foucault das klassische Zeitalter ab.25 Als eine Gegenreaktion auf die komplexen gesellschaftlichen Differenzierungstendenzen kann die Suche nach einheitsstiftenden Institutionen und kollektiven Identitätskonzeptionen in allen politischen, sozialen und religiösen Gruppierungen und Schichten gewertet werden, die im wesentlichen in kontingenten, unorganisierten Prozessen zu verlaufen schienen. Dieses bis dahin unbekannte Identitätsbegehren, das sich in der multinational, -lingual und -kulturell verfassten Habsburgermonarchie anders als in Deutschland in immer wieder aufflackernden Nationalitätenkonflikten artikulierte, kann als wesentliches Signum der Epoche gedeutet werden.26 Während sich im sprachlich homogenen, wenngleich politisch und konfessionell ungeeinigten Deutschland durch die Verbreitung teils imaginierter, teils erfundener (Herkunfts-)Erzählungen und Mythen sowie durch eine 22 Schulze, Staat und Nation, S. 150. 23 Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main, New York 1991. Vgl. weiterhin Franz J. Bauer, Das ›lange‹ Jahrhundert, Profil einer Epoche. Stuttgart 2004. 24 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974, S. 91. 25 Über unterschiedliche Ansätze betreffend einer Datierung des ›Projekts der Moderne‹ durch Michel Foucault, Zygmunt Bauman, Berthold Waldenfels, Stephen Toulmin oder Panajotis Kondylis vgl. Hildegard Kernmayer, Das Identitätsbegehren der Moderne, in  : Karl Acham, Katharina Scherke (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas, [=  Studien zur Moderne  ; 18]. Wien 2003, S. 299–313. 26 Vgl. dazu den Überblick über entsprechende theoretische Diskussionen bei  : Eva Maria Hois, Peter Karoshi, Volker Munz, Peter Stachel, Werner Suppanz und Heidemarie Uhl, Gedächtnis/ Erinnerung und Identität – Konstruktionen kollektiver Identität in einer pluriethnischen Region, in  : Moritz Csáky, Astrid Kury, Ulrich Tragatschnig (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne. Innsbruck, Wien, München, Bozen 2004, S. 215–255. Allgemein über die Krise der Identitäten siehe Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, v. a. Kap. 25  : Die Konflikte der Moderne. Frankfurt am Main ² 1996, S. 855–900.

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als evolutionär und linear propagierte gemeinsame Geschichte schon ab 1800 ein nationales Bewusstsein im Sinne einer einheitlichen »Wir-Gemeinschaft« herauszubilden beginnt, treten in der Habsburgermonarchie unterschiedliche Vorstellungen von Zugehörigkeit bezogen auf Nation, Volk, Sprache und Religion in ein Konkurrenzverhältnis zueinander, das einzig in der Idee des Gesamtstaats aufgehoben scheint. Die fehlenden und nicht vorhandenen Legitimationen der Gegenwart, die sich auf kontinuierliche historische Prozesse hätten stützen können, werden in Deutschland mit dem beginnenden 19. Jahrhundert nach und nach durch symbolische Setzungen auszugleichen versucht. In diesem Kontext wird nicht-vorhandene Tradition erfunden und in ein vermeintlich historisches Sinngefüge überführt. Die Deutsche Mythologie und die Kinder- und Hausmärchen, »mit denen die Brüder Grimm ›lauter urdeutschen Mythus, den man für verloren gehalten‹, der deutschen Nation zurückgeben wollten,«27 lieferten ebenso einen Beitrag zur Bildung eines nationalen Bewusstseins wie etwa Richard Wagner mit seinen krypto-mythologischen Opernstoffen. Die Wissenschaften und Künste übernahmen also mit unterschiedlichen Texten und Inszenierungen tragende Funktion in der Konstruktion eines nationalen, wenngleich vorerst national-kulturell motivierten Selbstverständnisses. Weiterhin sind hier die Bestrebungen bezüglich einer sich solchermaßen erst begreifenden deutschen Nationalliteratur zu nennen.28 Allerdings wirkten aus jüdischer Sicht die Schriften des Literaturhistorikers Georg Gottfried Gervinus – im Gegensatz zu jenen Wagners29 – aber nicht exkludierend, sondern vielmehr inkludierend, da jüdisches Schreiben als Teil der deutschen Literatur aufgefasst werden konnte. Alle in Deutsch schreibenden Autoren und Gelehrten hatten teil an der Konstituierung dessen, was sich künftig Nationalliteratur nennen sollte. Dies erklärt u. U. auch die hohe Zahl jüdischer Literaturforscher in der frühen Goethephilologie, die damit einen wesentlichen Anteil an der literarischen Kanonbildung

27 Schulze, Staat und Nation, S. 177. Bekanntermaßen bilden die Hausmärchen hochartifizielle Dichtung und keine »volkstümliche« Sammlung. 28 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 1. Teil. Leipzig 1833. 29 Vor allem sind in diesem Kontext natürlich zu nennen  : Richard Wagner, Das Judentum in der Musik. Zürich 1850, sowie ders., Was ist Deutsch  ?, veröff. n. dem Erstdruck in den Bayreuther Blättern, Februar 1878, in  : Richard Wagner, Ausgewählte Schriften, hg. v. Esther Drusche. Leipzig 1982, S. 231–248. Als eine Folge beeinflussten diese Schriften Wagners die Musikkritik in ihrer Negativwertung von Musik jüdischer Komponisten bis weit ins 20. Jahrhundert. Vgl. dazu z. B. Federico Celestini, Der Trivialitätsvorwurf an Gustav Mahler, in  : Archiv für Musikwissenschaft 62 (2005) 3, S. 165–176.



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in Deutschland hatten.30 Die deutsche Sprache31 und die damit verbundene Literatur und Kultur bildeten denn auch die eigentlichen identifikatorischen Anknüpfungspunkte für (nichtzionistische) deutsche und österreichische Juden in den Identitätsdebatten seit den 1880er-Jahren  – und das selbst in Zeiten heftigster polemischer und antisemitischer Auseinandersetzungen um ihre nationale Zugehörigkeit. Die Erfindung von Traditionen, Nationen und Ursprungsmythen im 19. Jahrhundert steht seit den Arbeiten von Benedict Anderson und Eric Hobsbawm immer wieder im Blickpunkt kulturwissenschaftlich ausgerichteter Fragestellungen. Ein zentraler Fokus liegt dabei auf der Untersuchung des vielgestaltigen Wechselspiels von Texten und kollektiven Identitäten, von Rhetoriken und Dramaturgien sowie von Zeichen und ihren je zugewiesenen Bedeutungen in Bezug auf ihre außertextlichen Wirkungsweisen und -absichten. An dieser Stelle lässt sich auch die Verbindung zu der wegweisenden Studie Philipp Theisohns Die Urbarkeit der Zeichen herstellen. Theisohn untersuchte allerdings keine historiographischen Texte, sondern er bezieht sich auf ein weit ausgreifendes Spektrum zionistischen Schreibens, das die Bereiche Politik, Theater, Philosophie, Literatur und Musik umfasst. Ausgehend von der »Einsicht, daß der zionistische Gesamtkomplex in erster Linie als ein semiologisches Modellsystem im Sinne de Saussures«32 aufzufassen sei, orientiert er sich über die Kultursemiotik hinausgehend mit seinen Fragestellungen in Richtung einer Kulturphilosophie, die den Zionismus als »einen spezifischen Kulturentwurf« mit entsprechenden Ausdrucksformen kultureller Reflexion erkennt bzw. die ihn »in einer Reflexion über die Räumlichkeit von Kultur« begründet sieht.33 Gleichzeitig grenzt sich Theisohn gegen literaturwissenschaftliche Ansätze ab, die seiner Ansicht nach den »Zionismus als eine ästhetisch meßbare Größe doch stets lediglich [als] Sozial- oder allenfalls als MotiVgeschichte« wahrnehmen.34 Ihn interessieren jedoch nicht die historischen, sozialhistorischen oder motiVgeschichtlichen Implikationen einer Literatur, die »an den Grenzläufen von Politik und Ästhetik«35 gelesen 30 Wilfried Barner, Jüdische Goetheverehrung vor 1933, in  : Stéphane Moses und Albrecht Schöne (Hg.), Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 1986, S. 127–151. Der erste Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit Michael Bernays, dem Sohn eines Hamburger Rabbiners, der bei Gervinus promoviert hatte, besetzt. 31 Über die Entstehung von Nationalsprachen im 19. Jahrhundert vgl. Schulze, Staat und Nation, S. 175 ff. 32 Theisohn, Urbarkeit, S. 19. 33 Theisohn, Urbarkeit, S. 19. 34 Theisohn, Urbarkeit, S. 19. 35 Theisohn, Urbarkeit, S. 305.

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werden müsse. Infolgedessen lehnt er einen kontextualisierenden Zugang, wie ihn Mark Gelber in seiner wichtigen Arbeit Melancholy Pride gewählt hat, ab.36 Aus der Grundannahme, die den Zionismus selbst als literarisches Phänomen mit einer ihm eigentümlichen und einzigartigen Poetizität begreift, entwickelt Theisohn seine Ausgangsthese, die auch in die Titelgebung seines Buches Eingang gefunden hat. Er spricht von der Urbarkeit, die er als »zentrales Anliegen zionistischen Agens« erkennt, von dem Gedanken »einer zirkulösen Selbstzeugung und Gemeinschaftsgründung«, die er in den Texten und Zeichensetzungen des Zionismus ausmacht. Im Gegensatz zu vielen in Europa entstandenen Schriften, die im Zeichen eines identitätspolitischen nationalen Gründungsprozesses stehen, erzählen die Texte des Zionismus keine Herkunftsgeschichte(n) mehr. Sie setzen diese vielmehr schon voraus, um dann in einem nächsten Schritt prospektiv jene Möglichkeiten eines neu verstandenen Judentums zu entwerfen, deren Verwirklichung einer Gemeinschaftsgründung ihnen gleichsam eingeschrieben sind. Diese Texte zielten dementsprechend auf ein raumbezogenes »kulturelle[s] Urgeschehen«. Denn der kulturelle Raum, der »dem jüdischen Volk seit der Zerstörung des zweiten Tempels nicht mehr eignet«,37 muss laut Theisohn erst von den sich darauf beziehenden Zeichen wieder hervorgebracht werden – überliefert wird die (erstrebte) Wirklichkeit und darin eingeschlossen ihre Erzählgemeinschaft in urbaren Zeichen. Sie bewahren das Werden jenes im Text evozierten Raums, den es erst zu schaffen gilt, in sich auf. Diese textuelle und zeichenhafte Konzeption des Zionismus setzt ihn damit in ein besonderes Verhältnis zur Wirklichkeit, das nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich disponiert erscheint, sind doch Vorgängigkeit und Zukunftserwartung gleichermaßen in die Schnittstellen der Schrift eingelagert.38 Fragen der Staatstheorie erscheinen nach diesem Ansatz ebenso wie die vielfältigen von Theisohn mehr oder weniger ausführlich formulierten Referenzen des Zionismus zu anderen ideengeschichtlichen, ästhetischen und philosophischen Phänomenen der Moderne in einem bisher unbekannten Licht. Gleichwohl besteht Theisohn darauf, den singulären Charakter der Poetik des Zionismus nicht aus den Augen [zu] verlieren und dessen eingedenk [zu sein], daß diese Singularität sich nicht aus einer wie auch immer gearteten Kombination von Bezüglichkeiten, sondern nur aus dem Innersten, dem Eigensten der Bewegung herleiten läßt.39 36 Nichtsdestoweniger bezieht sich Theisohn in seinen Ausführungen auch selbst immer wieder (sehr erhellend) auf tradierte Verstehensmuster und (kultur-)geschichtliche Verbindungslinien. 37 Theisohn, Urbarkeit, S. 22. 38 Theisohn, Urbarkeit, S. 23. 39 Theisohn, Urbarkeit, S. 40.



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Schließlich entwirft Theisohn das Bild einer »›große[n]‹ zionistische[n] Narration«, deren Aufgang er mit Herzls Der Judenstaat (1896) und deren Abgang er mit Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim (1932), dem »ersten historischen Roman über das moderne Palästina«,40 feststellt. Um diesem »Eigensten der Bewegung« nahezukommen, geht Theisohns Blick nicht nur entlang der Oberfläche der von ihm ausgewählten Texte, sondern er versucht, sie gleichsam von innen heraus zu lesen, die semiologischen Schichten freizulegen, die verborgenen Zeichen sichtbar werden zu lassen, dabei immer seine Ausgangsthese im Blick behaltend. Er stellt jedoch nicht den Anspruch, »paradigmatische Ausformungen eines geschlossenen ideologischen Systems« zu analysieren, vielmehr möchte er an ausgewählten Beispielen Probleme und Lösungsansätze nachzeichnen, die die Produktivität des kulturtheoretischen Zirkels hinsichtlich der Begründung einer Poetologie (Herzl), einer Dramaturgie (Beer-Hofmann), einer Kompositionstechnik (Schönberg), einer Praxis des Schreibens (Kafka) und einer Philosophie (Buber/Lévinas) unter Beweis stellen sollen.41

Der Punkt der Krisis des Zeichens scheint jedoch ab dem Moment auf, in dem die Verwirklichung des Politischen einsetzt. Darauf reagiert Theisohn in seinem letzten Kapitel »Epilog  : Jerusalem 1932«, in dessen Mittelpunkt Arnold Zweigs Roman über die Ermordung Jacob Israel de Haans, eines jüdischen Antizionisten, in Jerusalem steht. Der Schauplatz dieses Romans verlagert sich auf ein reales Territorium, dessen Staatlichkeit sich bereits abzuzeichnen beginnt. Damit »verläßt der Diskurs Europa«42 und gleichzeitig verschieben sich – allerdings nur auf den ersten Blick – die Prämissen der Ausgangsthese. Der Zionismus scheint sich im Status »vollzogener Territorialisierung von seinen Wurzeln im Ästhetischen abzulösen und sich gegen sie zu wenden«  ;43 auch könne hier ein neu aufkeimendes Konfliktpotenzial zwischen »einer Kultur des Exils und einer Kultur im Lichte Zions« vermutet werden. Zion selbst eröffne nun jedoch den Raum bzw. die »Heimstatt« für eine Ordnung der Zeichen oder »eines neuen Diskursregimes«, die sich von jener der Diaspora allerdings grundlegend unterscheide.44 Die »Spur der Schrift«, der Theisohn gefolgt ist, »verliert sich« hingegen in Jerusalem 1932  : 40 Klappentext der Ausgabe des Aufbau-Verlages von De Vriendt kehrt heim. Berlin 1962. Hier zit. nach Arnold Zweig 1887–1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, hg. v. Georg Wenzel. Berlin, Weimar 1978, S. 189. 41 Theisohn, Urbarkeit, S. 41. 42 Theisohn, Urbarkeit, S. 317. 43 Theisohn, Urbarkeit, S. 305. 44 Theisohn, Urbarkeit, S. 306.

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Bis zu diesem Punkt darf die Entdeckung der urbaren Zeichen und die sich um sie entspinnende Debatte als das einzigartige Phänomen einer Symbiose der theopolitischen Parameter des Judentums und der avantgardistischen Bemühungen um eine Wiedergeburt des europäischen Subjekts gedeutet werden.45

2. Der (erzählte) Staat – Raum der Erwartung Unabhängig davon, ob man sich im Rahmen einer Analyse von zionistischen Erzähltexten für einen motiVgeschichtlichen, einen diskursanalytischen, einen strukturalistischen, einen zeichenorientierten Zugang oder eine Mischform entscheidet, so ist es doch unzweifelhaft, dass die Räumlichkeit ein wichtiges Indiz für die Produktivität dieser Texte im Sinne einer zionistischen Poetizität darstellt. Dabei ist die Raumbezogenheit dieser Texte auf ein (in naher Zukunft) Erwartetes hin ausgerichtet. Doch im Zuge der zeitgenössischen Literaturdiskussionen ab den 1890er-Jahren, die sich zunächst im Spannungsfeld zwischen nationaljüdischen und assimilatorischen Positionen zu konturieren schienen,46 während im Ersten Weltkrieg zunehmend auch supranationale Ideen formuliert wurden,47 spielte dieser Ansatz kaum eine Rolle. Die Allgemeine Zeitung des Judentums, speziell ihr Herausgeber Ludwig Geiger, versuchte in mehreren Anläufen, »Definitionen dessen zu geben, was als moderner jüdischer Roman Anspruch auf Repräsentanz erheben könnte.«48 Dabei bildete die Allgemeine Zeitung des Judentums nur einen, wenngleich sehr wichtigen Schauplatz der Debatten, bei denen es in der Tendenz mehr um inhaltlich-wertende denn um ästhetisch-normative (oder gar strukturrelevante) Kriterien ging. Ludwig Geiger erkennt zwar, dass sich viele Romane der Zeit mit der Komplexität jüdischer Identitätsvorstellungen auseinandersetzen. Das neue Paradigma, das eine »umfassende Darstellung der jüdischen Existenz«49 erforderte, sah er darin jedoch nicht verwirklicht. Dass die Verortung der im Laufe der Jahrzehnte immer wieder literarisch verarbeiteten Themen einen Schlüssel zu der von ihm ersehn45 Theisohn, Urbarkeit, S. 317. 46 Vgl. dazu die kurze Überblicksdarstellung von Andreas Herzog, in der er die Positionen u. a. von Max Brod, Julius Bab, Moritz Goldstein und Ludwig Strauß nachzeichnet. Andreas Herzog, Zur Modernekritik und universalistischen Aspekten der »Jüdische Renaissance« in der deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und 1918, in  : Trans. Zeitschrift für Kulturwissenschaften (1997) 2, S. 1 f. http://www.inst.at/trans/2Nr/herzog.htm (letzter Zugriff  : 22.02.2017). 47 Vgl. z. B. Herzog, Modernekritik, S. 7. 48 Horch, Erzählliteratur, S. 203. 49 Horch, Erzählliteratur, S. 203.



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ten paradigmatischen Stellung jüdischer Belletristik bieten könnte, zog Geiger nur indirekt in Zusammenhang mit dem zionistischen Roman in Erwägung.50 In einer Rezension von Georg Hermanns Roman Jettchen Gebert (1906) reklamierte er als »ein Hauptthema der modernen jüdisch-belletristischen Literatur das jüdische Stammesbewußtsein, das jüdische Volk, die Sehnsucht nach einem jüdischen Staat.«51 Den jüdischen Staat, mithin den Raum der Erwartung, berücksichtigte Geiger in seiner praktischen Zeitungsarbeit vornehmlich durch – wenn auch häufig kritische – Rezensionen zionistischer Romane.52 Festzuhalten bleibt, dass ungeachtet der Diskussionen über vermeintliche Anforderungen an eine zeitgemäße jüdische Literatur und Kultur die Schriftsteller mit ihren Texten selbst einen Möglichkeitsraum entwarfen, der die theoretischen Proklamationen, welcher Provenienz auch immer, meist überbot. Was eine dezidiert zionistische Erzählliteratur betrifft, so setzte erst Theodor Herzl ein markantes Zeichen bzw. er eröffnete einen Raum, auf den hin sich Autoren künftig orientieren konnten oder sollten. Obwohl schon vor 1902 in der Literatur vereinzelt zionistische respektive protozionistische Fragen erörtert wurden, beispielsweise in Leopold Komperts Novelle Die Kinder des Randars (1848) oder in Romanen des Sozialökonomen Theodor Hertzka, Freiland (1890) und Reise nach Freiland (1893), schuf Theodor Herzl erst mit Altneuland »das Vorbild des zionistischen Romans«.53 Er etablierte darin bestimmte Erzählmuster und Topoi, die in seiner Nachfolge immer wieder aufgegriffen bzw. intertextuell anzitiert wurden. Andererseits wirkte offenbar gerade seine Darstellung Palästinas als zukünftige »Heimstätte« für Juden so nachhaltig, dass Schriftsteller, die sich literarisch mit den Aufgaben des Zionismus für deutsche und österreichische Juden befassten, zu Herzls Konzeption von Altneuland keine wesentlichen Alternativen entwickelten bzw. entwickeln konnten. Literarische Vorgänger Herzls, wie Menachem (Edmund) Eisler, der bereits 1885 in seinem Roman Ein Zukunftsbild die »Skizze des ›Judenstaates‹ nach dem Vorbild des Lebens zur Zeit des ersten Tempels«54 entworfen hatte, hatten ihre Vision noch ohne Herzls Vorgabe gestalten können. Staat, Nation und fremde, ferne Länder stehen als literarische Räume in einem anderen Traditionszusammenhang als das Dorf oder die Stadt. Thomas 50 Die Anerkennung der Allgemeinen Zeitung des Judentums der Dorf- und Ghettogeschichte als Paradigma jüdischer Erzählliteratur bezog sich ebenso wie die erst im Werden begriffene zionistische Erzählliteratur auf ein räumliches Narrativ. Doch dieser Zusammenhang und diese Koinzidenz wurden nicht weiter verfolgt. 51 Horch, Erzählliteratur, S. 204. 52 Horch, Erzählliteratur, S. 205. 53 Horch, Erzählliteratur, S. 218. Theodor Herzl, Altneuland. Leipzig 1902. 54 Hadomi, Jüdische Identität, S. 31.

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Morus’ Utopia, das noch irdisches Paradies in einem idealen Sinne darstellte, mag als frühes Vorbild für alle späteren literarischen Staatsmodelle gelten. Sie reichen von fiktiven exotischen über märchen- und sagenhafte Länder bis hin zu realen nationalen Entwürfen im 19. Jahrhundert.55 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezieht sich vor allem jene deutschsprachige Literatur, die die »Neue Welt«, von Karl Mays Romanen bis hin zu Kafkas Amerika, entdeckt, aber auf ein real existierendes Utopia – das allein aufgrund seiner ontologischen Qualität nun nicht mehr so genannt werden kann. Diese fiktionale »Neue Welt« unterscheidet sich wie das nun im politischen Diskurs gewandelte Zion von anderen, früheren Utopien, indem sie die Hoffnung auf ein besseres Leben aus einer zeitlich unermesslich großen Entfernung in greifbare Nähe rückt. Besaß Amerika für europäische Juden als Einwanderungsland zwar größte Bedeutung,56 so stellte sich dennoch nicht die Frage, ob dort ein jüdischer Staat hätte errichtet werden können. Die Utopie bzw. die Vision einer jüdischen Staatsgründung war relativ jung und blieb bis auf zeitweise in Erwägung gezogene Alternativen wie Uganda, Brasilien oder Argentinien im Wesentlichen auf Palästina bezogen. Die nichtfiktionalen Vorläuferschriften wie z. B. von Moses Hess, Leon Pinsker oder Nathan Birnbaum, über die eine umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt, werden jedoch selten mit dem Signum des Utopischen belegt. Diese Kategorisierung scheint auf eigentümliche Weise der zionistischen Erzählliteratur vorbehalten zu sein, sofern sich die Literaturforschung überhaupt mit diesem Genre auseinandersetzt. In den hier zu untersuchenden Erzähltexten werden Wege kollektiver Identitätsfindung häufig exemplarisch  – wie bereits in der Ghettogeschichte und im Großstadtroman – an der Entwicklung einer Figur oder mehrerer, miteinander konkurrierender Figuren dargestellt. Obwohl der Zionismus die Frage nach einer jüdischen kulturellen und/oder religiösen Identität pauschal gesprochen durch jene nach einem Staat bzw. Territorium ergänzte und damit eine ausgesprochen politische Dimension ins Spiel brachte,57 so lassen sich die literarischen Texte des Zionismus nicht nur simpel als Nach55 Leah Hadomi, Altneuland. Ein utopischer Roman, in  : Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium, hg. v. Stéphane Moses und Albrecht Schöne, Frankfurt am Main, 210–225, hier S. 224, Anm. 13  : In Theodor Herzls Bibliothek befanden sich »etwa zehn verschiedene Bücher der utopischen Gattung«. Wenn Herzl im Vorwort von Altneuland die Kategorisierung seines Romans als »utopisch« ablehnt, so scheint dies auch strategische Gründe gehabt zu haben. Die Utopie erachtet er per definitionem als zeitlich nicht greifbar, die Realisierung seines Altneulands hingegen schien ihm innerhalb von 50 Jahren machbar zu sein. 56 Vgl. dazu Klaus Hödl, Vom Shtetl an die Lower East Side  : galizische Juden in New York. Wien, Köln, Weimar 1991. 57 Vgl. dazu Michael Brenner, Yfaat Weiss, Zionistische Utopie – israelische Realität. München 1999, S. 9 ff.



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folgeinstitutionen, Illustrationen oder Erfüllungsschriften politischer Modelle begreifen. Im Gegenteil  : Die zionistischen Erzähltexte lassen die theoretisch vorgedachten Entwürfe hinter sich. Sie beziehen sich darauf meist nur in intertextuellen Anspielungen. Im Mittelpunkt dieser Literatur steht der handelnde Mensch mit seinen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten, Ängsten, aber auch Hoffnungen und Anstrengungen. Die Anlage und das Arrangement der Figuren, die den unterschiedlichsten Diskursen unterworfen sind, zeitigen eine auf den ersten Blick oft nicht erkennbare narrative Komplexität, die eher strukturell als auf der Ebene des Plot nachweisbar ist. Keiner dieser Texte kann deshalb schlicht als Ausdruck weltanschaulich motivierter Literatur abgetan werden, selbst wenn am Horizont immer (Herzls) Palästina aufleuchtet. Warum diese Literatur nicht als utopisch, sondern im Foucault’schen Sinne besser als heterotopisch bezeichnet werden sollte, wird nachfolgend vor allem am Beispiel von Theodor Herzls Roman Altneuland erläutert. Damit rückt zwar die zeitliche Komponente, die sich v. a. auf die Realisierung des Gewünschten oder Erwarteten in einer näher oder ferner liegenden Zukunft bezieht, in den Hintergrund. Tatsächlich entspricht im Gestus aber keinem der hier untersuchten und nach Herzl verfassten zionistischen Romane das Moment des Utopischen. Die Texte können hingegen unabhängig von ihrer unterschiedlichen inhaltlichen und formalen Gestaltung in einem poetologischen Sinne als heterotopisch aufgefasst werden, allein wenn man den intertextuellen Bezug, der den Texten im Hinblick auf Herzls Roman meist innewohnt, in Anschlag bringt. »Die messianische Prophetie« verschob einst »den Mythos des versprochenen Landes«, also »das, was sich im Raum verstand«,58 in die Zeit. »Die säkulare zionistische Bewegung« des 19. Jahrhunderts und mit ihr die Erzählliteratur holen den Raum wieder zurück, die Zeit hingegen ›verkleinert‹ sich, indem nun der Raum – wie Leah Hadomi konstatiert – »in den Bereich der bevorstehenden historischen Epoche«59 verlegt und die messianisch-eschatologische Dimension zurückgenommen wird. 3. Theodor Herzl Altneuland (1902) Mit seinem Text Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) legte Theodor Herzl (1860–1904), der sich »zuvor kaum mit jüdischen

58 Raymond Trousson, Utopie, Geschichte, Fortschritt, in  : Utopie-Forschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 18. Hier zit. nach Hadomi, Jüdische Identität, S. 59, Anm. 2. 59 Hadomi, Jüdische Identität, S. [23].

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Themen beschäftigt hatte«,60 die »Programmschrift der zionistischen Bewegung«61 vor. Seine darin formulierten »Ideen veränderten die geistige Situation des Judentums radikal«.62 Der Judenstaat wurde unabhängig von den Bewertungen der darin vorgestellten Ideen stets als theoretische Schrift und politischer Text wahrgenommen. Herzl entwickelte darin ein klar strukturiertes Konzept für ein staatlichen Gemeinwesen, wobei er z. B. auch mit den grundlegenden Einrichtungen wie der Jewish Company oder der Jewish Society weniger ein staats­politisches Gerüst als vielmehr eine zukünftige Gesellschaftsform entwirft. Nichtsdestoweniger spricht er in dieser Schrift dezidiert vom »uralte[n]« Gedanken der »Herstellung des Judenstaates«,63 von der »Staatsidee«64 oder davon, dass das (jüdische) Volk die Kraft habe, »einen Musterstaat zu bilden.«65 In Altneuland verkündet hingegen einer der Vertreter der »neuen Gesellschaft«  : »wir sind kein Staat, sondern eine große Genossenschaft.«66 Diese fundamentale Ab60 Ludger Heid, Der schönste Mann. Ein Portrait des Dandys und Kämpfers Theodor Herzl, in  : Die Zeit, Nr. 36, 29. August 1997, S. 50. In einem Brief an Ernst Mezei, am 10. März 1903, schreibt Herzl  : »Mein ›Judenstaat‹ ist längst überholt. Ich schrieb ihn in Paris […] u. wusste damals nicht viel vom Jüdischen. Ich war ein dem Judenthum Entfremdeter, ein Boulevardier. […] Ich war damals ein Isolirter u. meine Worte waren erfahrungslos und unverantwortlich.« Zitiert nach Barbara Schäfer, »Über einem Hypocaust erbaut«. Zu Herzls Roman Altneuland, in  : Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1993, hg. v. Julius H. Schoeps und Ludger Heid. München, Zürich 1993, S. 79–89, hier S. 83 f. Einen etwas anderen Eindruck vermittelt Alfred Bodenheimer, Theodor Herzl, in  : Kilcher, Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S. 231. Vgl. weiterhin die Biographien über Theodor Herzl  : Alex Bein, Theodor Herzl. Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1983 (Überarb. der Originalausgabe von 1934). Beins in viele Sprachen übersetzte Biographie bildete die Basis für alle nachfolgenden Biographien. Weitere Biographien (in Auswahl)  : Amos Elon, Theodor Herzl. Eine Biographie. Wien 1979  ; Klaus Dethloff, Theodor Herzl oder der Moses des Fin de siècle. Wien et al. 1986  ; Steven Beller, Herzl. Wien 1996 (engl. Originalausgabe 1991 u. d. T. Herzl) [= Jüdische Denker  ; 1]. 61 Julius Schoeps, Einleitung, in  : Theodor Herzl, Altneuland, in  : Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat, hg. und eingeleitet v. Julius Schoeps. Kronberg/Ts. 1978, S. 1. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe unter Verwendung der Kurztitel »Herzl, Judenstaat« und »Herzl, Altneuland« zitiert. 62 Bodenheimer, Herzl, S. 232. 63 Herzl, Judenstaat, S. 197 und S. 199. 64 Herzl, Judenstaat, S. 205. 65 Herzl, Judenstaat, S. 211. Michael Graetz setzt sich mit der »Macht der Rhetorik«, die dem von Herzl in dieser Weise erstmals eingesetzten Begriff Judenstaat innewohnt, auseinander. Herzl habe damit »ein Zeichen [gesetzt] für die Ausformung einer Sprache, deren Wortschatz in den zionistischen Kongressen erweitert und mit Leidenschaft in den Reden und Schriften der Delegierten eingebracht wurde.« Siehe Michael Graetz, Sprache und Politik – Herzls Judenstaat und die Macht der Rhetorik, in  : Trumah 4 (1995), S. 101–112, hier S. 103. 66 Herzl, Altneuland, S. 187, siehe dazu weiterhin S. 185  : »›Wir sind hier nicht, um ein Staatsoberhaupt zu wählen, denn wir sind kein Staat.‹« Vergleiche über politische Konzeptionen in



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wandlung seines Konzepts, die Herzl in seinem sechs Jahre später erschienenen Roman vorgenommen hat, wird allerdings »gewöhnlich übersehen.«67 Die zeitgenössischen Reaktionen von jüdischer Seite auf Herzls historisch bedeutsames Modell des Judenstaats fielen je nach weltanschaulicher Positionierung naturgemäß unterschiedlich aus.68 Sie sind ebenso wenig wie der Text selbst von den Diskussionen und Auslassungen der zionistisch orientierten Vorgänger Herzls, aber auch von nichtzionistischen Gesellschaftstheoretikern und Sozialreformern, loszulösen  ; daran ändern auch die sich auf Selbstaussagen Herzls beziehenden Hinweise, Herzl habe die Schriften von z. B. Moses Hess, Jehuda Löb (Leon) Pinsker oder Hirsch Kalischer nicht gekannt, kaum etwas.69 Herzl

Herzls Judenstaat und Altneuland stellt Joseph Adler an  : Joseph Adler, The Herzl Paradox. Political, Social and Economic Theories of a Realist. New York 1962. 67 Heid, Der schönste Mann, S.  50. Dass Herzl diese Entscheidung allein aus pragmatischen Motiven, z. B. aufgrund politischer Reaktionen der Briten und des türkischen Sultans auf den Judenstaat vorgenommen hat, ist unwahrscheinlich. Das Gesamtkonzept des im Roman vorgeführten Genossenschaftsmodells ist erzählerisch in sich so schlüssig gestaltet, dass es nicht den Eindruck der Austauschbarkeit vermittelt. Auch die Einführung der Figur des »Nationaljuden« und Rabbiners Dr. Geyer, der als politischer Gegner David Littwaks einen sich nach außen hin abschließenden jüdischen Staat errichten will, widerspräche einer solchen Annahme. 68 Vgl. z. B. verschiedene Schriften von Nathan Birnbaum, Juda Leon Magnes oder Max Nordau  ; siehe weiterhin Max Jaffé, Die nationale Wiedergeburt der Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie. Berlin 1897  ; verschiedene Beiträge in  : Jüdischer Volkskalender für das Jahr der Welt 5663, 1 (1902/03), Brünn 1902, sowie in den Volkskalendern der Folgejahre  ; Leonhard Bauer, Volksleben im Lande der Bibel. Leipzig 1903  ; Jean Fischer, Das heutige Palaestina. Antwerpen 1907  ; Alfred Nossig, Das jüdische Kolonisationsprogramm. Berlin 1904. Über Reaktionen von jüdischer und nichtjüdischer Seite siehe im Überblick Alex Bein, Theodor Herzl, S.  137–142. Alfred Bodenheimer fasst die Reaktionen der Orthodoxie, des liberalen Judentums und der Kulturzionisten um Achad Ha’am und Martin Buber kurz zusammen  ; siehe Bodenheimer, Herzl. S. 232. – Zum Zionismus bzw. seinen verschiedenen historischen Varianten sowie zu den Zionistenkongressen ab 1897 liegt eine umfangreiche internationale Forschungsliteratur vor. Siehe dazu stellvertretend Shlomo Avineri, The Making of Modern Zionism. The Intellectual Origins of the Jewish State. New York 1981, oder Michael Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry before the First World War. Cambridge u. a. 1993. 69 Alex Bein, Theodor Herzl, S. 138 f. Siehe außerdem Heid, Der schönste Mann, S. 50  : Herzl »selbst räumte ein, daß es gut gewesen sei, daß er die Bücher der Frühzionisten nicht gekannt hatte, er hätte sonst sein Werk unterlassen.« Generell müssen solche Aussagen mit Skepsis betrachtet werden, da sie im Prozess der Selbstinszenierung teilweise sogar widersprüchlich funktionalisiert werden (können). Tatsächlich dürften die Debatten um die vermeintliche Originalität Herzls eher im Zuge der Auseinandersetzungen innerhalb der zionistischen Strömungen und der Rezeption Herzls von Bedeutung gewesen zu sein. Objektiv gesehen schmälert die Kenntnis früherer Schriften die Leistungen Herzls nicht. Über weitere Einflüsse, wie z. B. »Bismarcks Staatssozialismus« oder die Schriften Ferdinand Lassalles, siehe Beller, Herzl, S. 106 f.

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erwähnt als Intertext einzig Theodor Hertzkas Buch Freiland,70 das er im Gegensatz zu seinem eigenen »Entwurf« mit einer Anspielung auf Thomas Morus allerdings als »Utopie« und »sinnreiche Phantasterei« abtut.71 Herzl führt als Vergleichstext, dessen Gestus er gleichwohl abzulehnen scheint, also keine theoretische Schrift, sondern den Roman eines anderen österreichischen Schriftstellers ins Feld. Tatsächlich dürften Hertzkas sozialutopische Romane Freiland (1887) und Reise nach Freiland (1891) Herzl aber für seinen sechs Jahre später veröffentlichten Roman Altneuland wichtige Impulse geliefert haben72  – dies signalisieren schon die Titelgebung und die Reise als wesentliches Handlungselement.73 Dass Herzl überhaupt einen Roman über ein (zukünftiges) jüdisches ›Land‹ verfasst hat, muss angesichts der Selbstauskunft in seiner »Vorrede« zum Judenstaat zunächst allerdings verwundern. Zum einen verkündet er darin nicht ohne Pathos, mit der Publikation des Judenstaats hielte er seine »Aufgabe […] für erledigt«. Zum anderen spricht er im Zusammenhang mit der Vision eines jüdischen Staats durchaus abschätzig von der Gattung Roman, die ihm gänzlich ungeeignet erscheine für »die Verwendung einer in der Wirklichkeit vorkommenden Treibkraft«  : Ich könnte mir auch einen leichteren literarischen Erfolg bereiten, wenn ich für Leser, die sich unterhalten wollen, diesen Plan in den gleichsam unverantwortlichen Vortrag eines Romans brächte.74

Andererseits kommt es nicht von ungefähr, dass sich Herzl mit der Gattungsfrage auseinandersetzt. Denn schon der »Anfang des modern-politischen Zionsgedankens, die romantische Wiedergeburt des jüdischen Staatsgedankens«,75 den 70 Moritz Güdemann hatte Herzl auf die Romane Hertzkas aufmerksam gemacht. Herzl habe – so Alex Bein  – den zweiten Roman im Herbst 1895 gelesen. Vgl. dazu Bein, Herzl, S.  118 f. Theodor Hertzka, Freiland. Ein sociales Zukunftsbild. Leipzig1890, sowie ders., Eine Reise nach Freiland. Leipzig 1893. Siehe dazu auch Hadomi, Altneuland, S. 224, Anm. 16. 71 Herzl, Judenstaat, S. 197. 72 Leah Hadomi hat schon 1986 auf diesen Umstand hingewiesen  : Sowohl die Werke Hertzkas, der zionistische Roman Ein Zukunftsbild Menachem (Edmund) Eislers (1885) sowie die »zionistische Utopie« Das Reich Judaea im Jahre 6000 (1883) von Max Osterberg-Verakoff hätten sich in Herzls Privatbibliothek befunden. Hadomi, Altneuland, S. 217–220. 73 In Altneuland bezieht sich Herzl in einer Passage noch einmal direkt auf Hertzka, wobei die Bewertung unverändert (negativ) bleibt. Siehe dazu Herzl, Altneuland, S. 101. Im selben Kontext wird im Roman der amerikanische Schriftsteller Bellamy mit seinem Rückblicke aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 angeführt. 74 Herzl, Vorrede, in  : Judenstaat, S. 197. 75 Dr. S. Bernstein, Der Zionismus. Sein Wesen und seine Organisation, dritte (Volks)auflage. Berlin 1919, S. 17. Über die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum siehe vor allem Mark H. Gelber,



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beispielsweise S. Bernstein mit Moses Hess’ Schrift Rom und Jerusalem (1862)76 annimmt, ist von der Produktion »jüdische[r] Staatsromane«77 begleitet  : Es war kein Zufall, daß gerade diese Epoche eine Reihe bedeutsamer jüdisch-politischer Schriften in die Weltliteratur brachte. Die Romane ›Daniel Deronda‹ von George Elliot, ›David Alroy‹ und ›Tancred‹ von Lord Beaconsfield-Disraeli. Waren es doch im Grunde genommen die ersten jüdischen Staatsromane.78

Dass erst die zwei Jahre nach der Publikation seiner politischen Schrift unternommene Palästinareise »mit einer Gruppe zionistischer Funktionäre«79 zu einem Umdenken Herzls geführt habe, wie Julius Schoeps meint, trifft deshalb wohl nur bedingt zu. Tatsächlich belegen Tagebuchaufzeichnungen Herzls, dass er schon ab 1895 verschiedene Handlungsskizzen für einen Roman entworfen hatte.80 Der Versuchung, dem Judenstaat eine weitere theoretische Schrift folgen zu lassen, hatte der Schriftsteller schon prophylaktisch vorgebeugt, indem er diesem Text a priori einen Einmaligkeitsstatus zusprach. Mit der Behauptung,

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Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism, [Conditio Judaica  ; 23]. Tübingen 2000. Introduction  : The Parameters of German Cultural Zionism  : The Possibility of a Jewish-National Literature in German  ?, und Kap.  1  : The Jewish Renaissance in Vienna and Berlin. A Literature and Art for the Sake of Zion, S. 1–54. Rom und Jerusalem las Herzl 1898 und 1901  ; siehe Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, hg. v. Alex Bein et al. Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1983–1991. Hier  : Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher. Dritter Band. Zionistisches Tagebuch 1899–1904, hg. v. Alex Bein et al., bearb. v. Johannes Wachten u. Chaya Harel in Zusammenarb. mit Daisy Ticho et al. Berlin, Frankfurt am Main, Wien 1985, S. 240 f. Moses Hess, Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. Briefe und Noten, in  : ders., Ausgewählte Schriften. Ausgewählt und eingeleitet v. Horst Lademacher. Wiesbaden [1975]. Über die Einflüsse vor allem von Karl Marx auf Moses Hess siehe z. B. Wolfgang Klimbacher, Die nationale Wiedergeburt des Judentums. Moses Hess’ Schrift Rom und Jerusalem, in  : Das Jüdische Echo 47 (1998), S. 258–163. Bernstein, Zionismus, S. 17. Bernstein, Zionismus, S. 17. Interessant ist dieser Umstand auch insofern, als die Verfasserin Mary Ann (oder Marian) Evans, die unter dem männlichen Pseudonym George Elliot schrieb, keine Jüdin war. Über »die zionistische Variante [jüdischer Kunstfiguren in diesem] bürgerlichen Roman« siehe z. B. Hans Mayer, Außenseiter. Frankfurt am Main 1981 [1975], S. 396–401, hier S. 400. Schoeps, Einleitung, in  : Altneuland, Judenstaat, S. 6. Ziel der Reise bildete eine Audienz bei Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem am 2. November 1898. Alex Bein widmet der Palästinareise ein ganzes Kapitel  : 9.  Kapitel, Dem Ziel nahe  : Die Palästinareise (September–November 1898), S. 202–222. Vgl. dazu auch Beller, Herzl, S. 93 ff. Einen ersten Plan für Altneuland – er ist im zionistischen Archiv Jerusalem einsehbar – entwarf Herzl während einer Bahnreise von Paris nach Frankfurt am 21.7.1899. Vgl. dazu Hadomi, Altneuland, S. 223, Anm. 11.

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der Judenstaat sei »ein Weltbedürfnis, folglich wird er erstehen«,81 stilisiert sich der Autor gewissermaßen zum Sprecher einer höheren Macht, der einzig einer universalen Notwendigkeit Ausdruck verleiht. Aufgrund seiner mittlerweile gestiegenen Popularität konnte Herzl nun aber auch bei einem nicht nur primär politisch interessierten Publikum auf »einen leichteren literarischen Erfolg« hoffen.82 Erzähltechnisch – das scheint von besonderer Relevanz und wird in der Regel zu wenig gewürdigt – wählte Herzl eine literarische Form, die den theoretischen und zukunftsorientierten Gestus seiner programmatischen Broschüre nicht (nur) illustrierte  – damit hätte er sich aufgrund seiner früheren Aussagen auch angreifbar gemacht  –, sondern die diesen überbot  : In seinem Roman bezieht er sich auf die bereits erfolgte Realisierung des Judenstaats – und zwar im Modus einer zeitnahen historischen Rückschau, einer Verbindung aus fiktiver Chronik, Augenzeugenberichten und Geschichtserzählung. Bezüglich des Problems einer adäquaten Darstellungsform seiner »Idee« kämpfte Herzl mit der narrativen Ausarbeitung von dem nun als Altneuland83 bezeichneten staatsähnlichen Organismus, der auf der Basis eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses und einer vertraglichen Vereinbarung mit der türkischen Regierung entsteht, aber ohne einen repräsentativen Staatsapparat auskommt, indirekt an die Überlegungen seiner Vorrede zum Judenstaat an  : In der Darstellung der Idee habe ich mit einer Gefahr zu kämpfen. Wenn ich all die in der Zukunft liegenden Dinge zurückhaltend sage, wird es scheinen, als glaubte ich selbst nicht an die Möglichkeit. Wenn ich dagegen die Verwirklichung vorbehaltlos ankündige, wird alles vielleicht wie ein Hirngespinst aussehen.84 81 Herzl, Judenstaat, S. 198. 82 Dass Herzl vor allem auch als Schriftsteller wahrgenommen werden wollte, hat Klaus Dethloff herausgearbeitet. Vgl. dazu weiterhin den Hinweis von Bodenheimer, Herzl habe »das Lob eines englischen Geistlichen über den Judenstaat, das Buch sei ›rather a business‹ mit der Bemerkung zurück[gewiesen]  : ›I don’t make any business. I am a literary man.‹« Bodenheimer, Herzl, S.  232. Schon Max Nordau, der enge Gefährte Herzls, bezieht sich darauf  : »Der Judenstaat ist der eigentliche Ausgangspunkt des politischen Zionismus geworden. Der Ausgangspunkt, nicht das Programm. Herzls Buch ist noch das subjektive Werk eines Einsamen, der im eigenen Namen spricht. Viele Einzelheiten darin sind Literatur. Es ist nicht leicht, überall eine scharfe Grenze zwischen dem nüchternen Ernst des Sozialpolitikers und der Phantasie des prophetischen Dichters zu ziehen.« Max Nordau, in  : Der Zionismus (1902), in  : ders., Zionistische Schriften, hg. v. zionistischen Aktionskomitee. Köln, Leipzig 1909, S. 18–38, hier S. 27. 83 Die Bezeichnung verwendet der nichtjüdische Freund und Reisegefährte des Protagonisten Friedrich Löwenberg als erster. Siehe Herzl, Altneuland, S. 45. Zur Etymologie des Wortes Altneuland, das Herzl bekanntlich in Anlehnung an die Alt-Neuschul in Prag wählte, siehe Schäfer, »Über einem Hypocaust erbaut«, S. 87, Anm. 2. 84 Herzl, Judenstaat, S. 198.



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Herzl kündigt in seinem Roman tatsächlich nichts an, er lässt seine Protagonisten auch keine prospektiven Pläne entwerfen. Alles ist bereits geschehen  : Der Entwicklungsprozess der »neuen Gesellschaft«85 in Palästina wird nicht in seinem Werden erzählt, sondern er wird in seinen Grundstrukturen bereits als weitgehend vollendet präsentiert. Dabei bindet die Erzählerinstanz nahezu alle Errungenschaften zeitlich an das Erscheinungsjahr des Romans, also an die Gegenwart der zeitgenössischen Leserschaft, zurück, was den vermeintlich utopischen Tenor tendenziell schon unterläuft. Und obwohl Altneuland aus der Sicht der Protagonisten teils paradiesische Züge trägt,86 ist sein Entstehen weniger einer wundersamen, übernatürlichen Kraft oder der fruchtbaren Beschaffenheit des Landes als vielmehr einer – auch aus der Perspektive der Entstehungszeit des Romans nachvollziehbaren – sozialen Planung und menschlichem Wollen und Tun geschuldet. Dass »Gott« als letztes Wort im Roman von dem durchgängig positiv gezeichneten »alten Rabbi Samuel«87 aufgerufen wird, ändert daran nichts. Es markiert aus der Sicht der Figuren vielmehr eine – wenngleich für den Sprecher die wichtigste – Instanz unter vielen, die am Entstehen und Gelingen der »neuen Gesellschaft« ihren Anteil hat. Das Werden der »neuen Gesellschaft« wird nichtsdestoweniger realitätsnah und als prinzipiell offen, dynamisch und unabgeschlossen dargestellt, sodass sich ein breites, in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht differenziertes Lesepublikum, sofern es mit den grundlegenden Ideen des Romans sympathisierte, in identifikatorischer Weise selbst als Teil dieser (möglichen) zukünftigen Entwicklung begreifen konnte. Diese Offenheit wurde allerdings vor allem aus kulturzionistischer Perspektive schlagwortartig als »Abwesenheit jüdischer Kultur« heftig kritisiert.88 Das vermeintlich utopische Moment des Romans89 bezieht sich also bestenfalls auf die zeitliche Dimension des erzählten Entwurfs und nicht  – was im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Studie von Bedeutung 85 Vgl. z. B. Herzl, Altneuland, S. 127  : »Unsere Gesellschaft war unter dem Titel ›Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina‹ gegründet worden.« 86 Z. B. Herzl, Altneuland, S. 110  : »›Es ist der Garten Eden  !‹ sagte Friedrich ganz leise vor sich hin […]« 87 Herzl, Altneuland, S. 192. Zur Charaktersierung Rabbi Samuels, der zu den ersten Einwanderern zählt, vgl. Herzl, Altneuland, S. 95. 88 Siehe Anm. 45 in diesem Kapitel. 89 Seit seinem Erscheinen wurde Herzls Roman immer wieder mit dem Begriff der »Utopie« belegt bzw. als »utopischer Roman« charakterisiert, ungeachtet dessen, dass Herzl selbst diese Kategorisierung beharrlich ablehnte. Vgl. dazu verschiedene Briefe, die Herzl anlässlich des Erscheinens seines Romans verschickte. In einem Brief im Oktober 1902 an Reichskanzler Bülow schreibt er  : »In der Form ist es eine Utopie, in der Sache nicht. Ich schrieb sogar die Utopie nur um zu zeigen, dass es keine ist.« Herzl, Briefe und Tagebücher, Dritter Band, S. 462.

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ist – auf die räumliche. Gerade die Lokalisierungen im Text und die Art und Weise der Strukturierung und Funktionalisierung des erzählten Raums sind aber alles andere als utopisch. Allein deshalb ist Leah Hadomis Argumentation, dass »Altneuland ein ›konkret-utopischer‹ Roman«90 sei, was sie aus »der Form des Werkes«91 schließt, nur eingeschränkt zuzustimmen, selbst wenn die Motivation des Autors auf eine aus der Perspektive seiner Gegenwart vielleicht utopische Zielvorstellung gerichtet ist. Wollte man eine Zuschreibung für Theodor Herzls Roman finden, entspräche dem wohl eher die schon von J. Wetzlar vorgeschlagene Genrebezeichnung »Zukunftsroman«,92 aus heutiger Sicht könnte man ihn als Social (Science) Fiction oder mit Bezugnahme auf Michel Foucaults Text Von anderen Räumen93 noch treffender als heterotopischen Roman bezeichnen.94 Mit dem Roman, der traditionelle Elemente des Bildungs- und Reiseromans mit jenen einer bürgerlichen Liebesromanze verbindet, in dem darüber hinaus aber auf weiten Strecken fiktive Augenzeugenberichte, historische Rückschauen und teilweise lange diskursive Dialogpassagen in explanatorischer Funktion eingeschoben sind, führt Herzl gewissermaßen den (fiktiven) Beweis für die 90 Hadomi, Altneuland, S. 216. Hadomi bezieht sich bei der Verwendung des Begriffs ›konkrete Utopie‹ auf Ernst Bloch, der damit den Aspekt der Verwirklichung einer Utopie angesprochen hat. 91 Hadomi, Altneuland, hier bes. S. 211 ff. sowie S. 222, Anm. 8. Hadomi referiert in ihrer Argumentation auf die 1920 von Hans Freyer formulierten »Prinzipien der ›utopischen Welt‹ […]  : Abgeschlossenheit, dynamisches Gleichgewicht der inneren Kräfte und Schutz gegen Störungen von außen.« [Hervorhebung im Original]. Auf die Kernthesen dieses Beitrags von Leah Hadomi beziehen sich LiteraturwissenschaftlerInnen bis heute. Allein die Merkmale Abgeschlossenheit sowie Schutz gegen Störungen von außen lassen sich m. E. in Herzls Roman nicht ohne Weiteres nachweisen. Vielmehr zeichnet sich Altneuland durch seine wenngleich europäisch geprägte kulturelle, religiöse und nationale Offenheit und Vielfalt aus – ein Umstand, der von einigen Kulturzionisten der Zeit aufgrund des vermeintlichen Fehlens spezifisch jüdischer kultureller Elemente zum Teil heftig kritisiert wurde. Rein räumlich gesehen spiegelt sich diese Offenheit in dem weitläufigen Verkehrsnetz, dem Ausbau der Hafenanlagen und der damit verbundenen (und erwünschten) Zugänglichkeit und leichten Erreichbarkeit des Landes von außen wider. Mehr als einmal im Text wird auf die Bedeutung des Landes als Schnittpunkt zwischen Asien und Europa verwiesen. »Störungen von außen« bedrohen die Gesellschaft von Altneuland zu keiner Zeit, infolgedessen sind im Roman auch keine Schutzmaßnahmen beschrieben  ; es heißt sogar explizit, dass ein Heer nicht vorgesehen sei. 92 J. Wetzlar, Der Staatsroman bei den Juden. Bamberg 1917, S. 109. 93 Foucault, Von anderen Räumen, [Des espaces autres, 1967/1984 zur Veröffentlichung frei gegeben]. Siehe dazu weiterhin die Ausführungen weiter unten in Kap. 3.3. 94 Hier vertrete ich einen grundsätzlich anderen Ansatz als Clemes Peck, der in seiner ‒ schon allein aufgrund der vielfältigen aufgedeckten historischen und literarischen Bezüge ‒ beeindruckenden Dissertation über Herzls Roman am Paradigma der Utopie festhält. Siehe Clemes Peck, Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das »Altneuland«-Projekt. Berlin 2012.



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Stimmigkeit und potenzielle Durchführbarkeit seines ›märchenhaften‹ Modells, das vor dem Hintergrund seiner Broschüre über den Judenstaat zwar nach wie vor territorial, aber nicht mehr staatlich ausgerichtet ist. Der immer wieder als »Schlüsselroman«95 bezeichnete, konventionell strukturierte Text ist in fünf Bücher gegliedert,96 das erste ist in Wien und Palästina im Jahre 1902, die anderen sind im Palästina des Jahres 1923 angesiedelt. Der heterodiegetische Erzähler schildert zunächst das Wien der Jahrhundertwende als mehr oder weniger komfortablen Aufenthaltsort für verschiedene jüdische Gesellschaftsschichten, wobei das Schicksal der osteuropäischen Familie Littwak als besonders bedrückend und trostlos dargestellt wird.97 Im Mittelpunkt steht der junge Dr. Friedrich Löwenberg, der, verzweifelt über die arrangierte Verlobung seiner Angebeteten mit einem reichen Geschäftsmann, mit dem deutschen Adeligen Königshoff, alias Kingscourt, seiner zunehmend als dekadent wahrgenommenen Heimatstadt entflieht und zwanzig Jahre auf einer Insel verbringt. Auf ihrer Hinreise wie auf einer zwei Jahrzehnte später unternommenen Fahrt nach Europa besuchen Löwenberg und Kingscourt Palästina, das sich in der Zeit ihrer Abwesenheit von einer ärmlichen, unkultivierten Sumpf- und Wüstenlandschaft in ein blühendes Land verwandelt hat. Der Protagonist ist also nicht von Beginn an Teilnehmer der »neuen Gesellschaft«. Er betritt die Szenerie in Palästina vielmehr als Reisender, als Beobachter, der nach und nach über die Geschehnisse, die im Laufe von 20 Jahren im Rahmen der Besiedelung stattgefunden haben, informiert wird. Insofern stellt der Erzähler den Protagonisten im Zustand seiner Wahrnehmung mit dem Leser auf eine Ebene. Löwenberg erlebt Altneuland nicht im kontinuierlichen Prozess seiner stetigen Entwicklung. Er trägt von seiner ersten Reise ein Bild in sich, das durch die Zeitraffung der erzählten Zeit eine – vor allem für den Leser unmittelbar abrufbare – Vergleichsfolie für die neuen Eindrücke liefert. Dieser formale Kniff verstärkt den ohnehin scharfen Kontrast zwischen dem alten und dem neuen Palästina und damit auch den vom Autor beabsichtigten positiven Effekt, Altneuland als Land der Sehnsucht jenseits der Figurenebene auch außerliterarisch zu etablieren. Löwenberg und 95 Z. B. Steven Beller, Herzl, S. 95  : Das Buch sei ein »Schlüsselroman, […] wo jeder Figur eine persönliche und symbolische Bedeutung zukommt.« So ist z. B. David Littwak, der eigentliche Anführer der »neuen Gesellschaft«, Herzls Vertrautem und späterem Nachfolger sowie Begründer des Jewish Colonial Trust David Wolfssohn nachempfunden. Über diesbezügliche Hintergrundinformationen zum Roman siehe auch Hadomi, Altneuland, S. 222, Anm. 2. 96 Mit der Zahl  5 wird bereits eine erste Assoziation zu Moses bzw. den Fünf Büchern Mose hergestellt. 97 Mit der Darstellung der Lebenssituation der Littwaks auf der einen Seite und der Schilderung »des satten jüdischen Bürgertums« (Hadomi, Altneuland, S. 213.) auf der anderen Seite wird im Text ein Ost-West-Gegensatz, der erst in Palästina überwunden wird, präsent gehalten.

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Kingscourt entscheiden sich schließlich, in Palästina zu bleiben. Doch obwohl gerade Löwenberg mehrfach davon spricht, »ein nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden«,98 ist für die beiden Männer letztlich die Liebe, also eine zutiefst subjektive Motivation, und nicht nur ihr positiver Eindruck von Altneuland oder gar politisches Engagement ausschlaggebend  : Kingscourt hat sein misanthropisches Herz an das Kind David Littwaks verloren, Löwenberg an Davids Schwester Mirjam. Der nach diesem Entschluss von Löwenberg formulierte Wunsch, noch einmal zu verreisen, um zu sehen, »ob dergleichen [eine neue Gesellschaft] jetzt auch schon in Europa vorhanden ist«,99 scheint nun allerdings – völlig überraschend – den über die gesamte Handlung narrativ ausgestalteten und durchgängig positiv bewerteten Zionsgedanken zu relativieren bzw. ihm eine Alternative zur Seite zu stellen. Löwenberg ist überzeugt, dass ›[d]iese neue Gesellschaft […] überall existieren könnte, in jedem Lande, ja, es kann in jedem Lande mehrere solcher Genossenschaftskartelle geben. […] dabei braucht der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr fort und schützt die Entwicklung der neuen Gesellschaft, die ihm ja zugute kommt, die ihn stärkt und erhält. Das ist die Koexistenz der Dinge, und daran glaube ich.‹100

Es lässt sich auf der Ebene des Textes nicht mehr auflösen, ob der Autor damit den Gedanken der Diaspora gegen Ende des Romans indirekt doch noch als Alternative zur Besiedelung Palästinas bewahrt wissen will. Die Diskussion, die Löwenberg mit Kingscourt darüber führt, wird unvermittelt abgebrochen und nicht wieder aufgenommen. Andererseits verweist genau diese Passage auf die grundsätzliche Machbarkeit des im Text dargestellten, allein aufgrund seiner Größenordnung aber aus zeitgenössischer Sicht (um 1900) noch als unwahrscheinlich anzunehmenden Unterfangens. Schließlich werden alle technischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Errungenschaften von Altneuland immer in Beziehung zu bereits während der Entstehungszeit des Romans real existierenden europäischen oder amerikanischen Vorläufermodellen gesetzt, wodurch es dem Autor gelingt, einen hohen Beglaubigungsfaktor hinsichtlich der möglichen Realisierung der dem Roman zugrunde liegenden Idee einzuziehen. Hier lässt sich auch an das Motto des Romans anknüpfen  : »wenn ihr wollt, ist es kein Märchen« bzw. »[w]enn ihr aber nicht wollt, so ist und bleibt es ein Märchen, was ich euch erzählt habe.«101 Durch die direkt an den Leser  98 Herzl, Altneuland, S. 187.  99 Herzl, Altneuland, S. 189. 100 Herzl, Altneuland, S. 189. 101 Herzl, Nachwort des Verfassers, in  : Altneuland, S. 193.



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gerichtete Rede überlässt der »Verfasser« nun die Umsetzung seiner »Lehrdichtung« dem Willen und Wollen all jener, die sich dadurch ›angesprochen‹ fühlen. Allein deshalb kann der Vermutung von Julius Schoeps, dass der Roman »in erster Linie eine Art Propagandaschrift für Nichtjuden«102 sei, widersprochen werden  ; ebenso durch die Tatsache, dass er noch in seinem Erscheinungsjahr von Nachum Sokolow ins Hebräische übersetzt wurde.103Auch die Rezensionen in jüdischen Periodika lassen andere Schlussfolgerungen zu,104 wenngleich der Roman sicherlich auch auf eine nichtjüdische Leserschaft zählen konnte. Die Reaktionen auf Theodor Herzls Roman fielen teils akklamierend, teilweise sehr ablehnend aus. Eines der bekanntesten kritischen Zeugnisse von jüdischer Seite bildet die Rezension Achad Ha’ams, einer der führenden Kulturzionisten der Zeit, in der Zeitschrift Ost und West.105 Doch es überrascht wenig, dass dabei weniger die ästhetische Qualität oder die Erzählstrategie des Textes als vielmehr die Konzeption des vorgeführten zionistischen Gesellschaftsmodells zur Diskussion steht.106 Die Rezeptionsgeschichte des Romans zeigt, dass die 102 Schoeps, Einleitung, in  : Altneuland/Judenstaat, S. 6. Schon von Herzls zeitgenössischen Kritikern wurden manche inhaltlichen Komponenten, zum Beispiel die europäisch geprägte Konzeption von Altneuland und die unentschlossene Haltung zur Sprachenfrage, als vorauseilendes Zugeständnis an Nichtjuden gewertet. 103 Diese Übersetzung Sokolows in ein literarisch noch unausgereiftes Hebräisch galt lange Zeit als einzige. Danach wurde der Roman noch drei Mal ins Hebräische übersetzt, wobei sich daran sowohl die jeweiligen politischen Implikationen der Entstehungszeit dieser Übersetzungen als auch der Sprachstand der sich rasch entwickelnden Sprache ablesen lassen. Im Juni 2010 präsentierte Nurit Pagi (Haifa) an der Universität Graz einen Vergleich der bisher ins Hebräische erfolgten Übersetzungen. Nurit Pagi, Altneuland – Altneue Sprache – Altneue Idee. Four translations to Hebrew of Herzl’s Novel Altneuland as a reflection of language development and political change, in  : Petra Ernst, Hans-Joachim Hahn, Daniel Hoffmann, Dorothea Salzer (Hg.), trans-lation – trans-national – transformation Übersetzen und jüdische Kulturen (=Schriften des Centrums für Jüdische Studien  ; 21). Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S.  193–208. Herzl setzte sich außerdem für Übersetzungen ins Jiddische, Russische, Englische und Italienische ein. Siehe auch Schäfer, »Über einem Hypocaust erbaut«, S. 79. 104 Vgl. dazu u. a. Hadomi, Altneuland, S. 223, Anm. 12. 105 Achad Haam, »Altneuland«, in  : Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum 3 (1903) 4, Sp. 227–244. Siehe auch Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. 1, mit einem Geleitwort von Ernst Simon, Heidelberg 1972. Alex Bein, der davon ausgeht, dass das Buch Herzl in »der zionistischen Bewegung seiner Zeit […] mehr geschadet als genützt habe«, (S. 274) widmet sich der Auseinandersetzung im Zuge der harschen Kritik durch Achad Ha’am ausführlich  ; siehe Bein, Herzl, S. 274–278. Siehe auch Eva Lezzi, Kolonialfantasien in der deutsch-jüdischen Literatur um 1900, in  : Lezzi, Salzer, Dialog der Disziplinen, S. 437–479, hier S. 447 f. 106 Das ist tendenziell bis heute so geblieben. Laut Stefanie Leuenberger liegt dies nicht zuletzt daran, dass der Roman »bis heute, je nach Lesart, entweder als ›Propagandaschrift‹ oder als ›Märchen‹ verstanden wird.« Vgl. dazu Stefanie Leuenberger, Schriftraum Jerusalem. Identi-

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Annahme dominiert, der Autor habe die  – einfache und »manchmal sogar etwas dünn[e]« – »Rahmenhandlung des Romans« nur dazu benutzt, um »seine mehr oder weniger theoretischen Anschauungen literarisch umzusetzen,«107 wie Julius Schoeps noch 1978 anlässlich der von ihm veranstalteten Ausgabe meint. Gerade angesichts seiner früheren Äußerungen darf aber bezweifelt werden, dass der stets (auch) nach schriftstellerischer Anerkennung strebende Theodor Herzl108 den Roman lediglich als Abziehfolie für die Vermittlung seines ohnehin schon weithin bekannten politischen Entwurfs verstand. Anzunehmen ist vielmehr, dass er in der Form des Romans, also der narrativen Gattung schlechthin, einen im Vergleich zu einer theoretischen Schrift nennenswerten (kommunikativen) Mehrwert vermutete. Exkurs  : Kolonisation und Nation

In Rezensionen und Kommentaren zu Herzls Roman ist zu beobachten, dass deren Verfasser mitunter von einer weltanschaulich präformierten (partiellen) Deckungsgleichheit von Staat, Nation, Volk, Territorium und Gesellschaft ausgehen, an der Herzls narratives Konstrukt von Altneuland je nach Position des Rezensenten gemessen wird. Die kritische Lektüre des Romans zeigt aber, dass, wie bereits angemerkt, dort ›nur‹ von einem Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsmodell die Rede ist. Der eigentliche Staatsgedanke bleibt vergleichsweise zurückgenommen, wenngleich ab dem »Zweiten Buch«, das 1923 in Haifa einsetzt, Palästina durch die Strukturmaßnahmen nach der jüdischen Besiedelung tätskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren. Köln, Weimar, Wien 2007 [= Jüdische Moderne  ; 7], S. 227. Selbst kultur- und literaturwissenschaftliche Arbeiten beschränken sich oft auf die politisch-historische oder biographische Einordnung von Herzls Altneuland und eine daran anschließende Bewertung inhaltlicher Positionen des Textes, verzichten aber meist auf differenzierte Analysen der Erzähltechniken und -strategien. Erzähltheoretische Fragestellungen spielen meist keine Rolle, unterschiedslos werden Figuren- und Erzählerpositionen miteinander vermischt, bekannte Theoreme der Rezeptionsästhetik, die z. B. zwischen abstraktem und realem Autor unterscheiden, werden vernachlässigt oder ausgeblendet. Einschränkend muss hier vermerkt werden, dass eine jüngst an der Universität Salzburg verfasste Dissertation über den Roman Altneuland für die vorliegende Version dieser Studie nicht mehr berücksichtigt werden konnte. 107 Schoeps, Einleitung, in  : Altneuland/Judenstaat, S.  7. Auch Beller nimmt an, dass Herzl mit dem Roman »eine Zusammenfassung aller Gedankenstränge, die bereits beschrieben wurden«, vorlegen wollte. Allerdings sieht er darin auch »eine sonderbare Mischung aus Herzls neuen Erkenntnissen und dem Beharren auf alten Ideen und Zielen«  ; siehe Beller, Herzl, S. 95. 108 Vgl. dazu auch Leuenberger, Jerusalem, S.  228  : »Man kann also vermuten, dass es sich im Grunde um zwei Texte handelte, die scheinbar vom selben sprechen, aber Ausdruck zweier verschiedener Zielrichtungen des Begehrens sind.«



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als neu geordnetes staatsähnliches Gebilde wahrgenommen werden könnte. Hingegen wird im Roman immer wieder von »Kolonisation«,109 von Kolonisten oder von Kolonien gesprochen, obschon der Raum, auf den die Kolonisation abzielt, nicht von Beginn an festzustehen scheint. Bereits auf der ersten Seite erfährt der Leser zum Beispiel, dass ein Freund des Protagonisten Friedrich Löwenberg »nach Brasilien gezogen [war], um für eine Ansiedlung jüdischer Proletarier tätig zu sein.«110 Die allgemein mit der Kolonisation verbundenen Problematiken werden in dem über weite Strecken dialogisch gestalteten Roman aber kaum diskutiert. Die heterodiegetische Erzählerinstanz bleibt in diesem Kontext völlig ausgeblendet, einzig aus der Figurenperspektive111 wird an manchen Stellen erörtert, inwiefern die bereits ansässige Bevölkerung durch die jüdische, in erster Linie europäisch geprägte Besiedelung beeinflusst würde.112 Nach Auskunft des mit David Littwak befreundeten Muslims Reschid Bey, der im Roman als Beglaubigungsfigur für die arabische Bevölkerung funktionalisiert ist, erleben die Bewohner, die ihr Land freiwillig verkaufen, die Kolonisation durchweg als Aufwertung ihrer Lebenssituation  : »Für uns alle war es ein Segen.«113 Auf der Ebene des Textes blendet der Autor also nicht nur die machtpolitischen Diskurse der europäischen Kolonialgeschichte, sondern auch die immanenten Widerständigkeiten, die Gewalt und das potenzielle Unrecht, die mit jeglicher Landnahme verbunden sind, aus.114 Dies mag zum einen ganz allgemein einem kolonialen Diskursmuster der vorvorigen Jahrhundertwende geschuldet sein, das grosso modo davon ausgeht, der Kolonisator verbessere die Lage der Kolonisierten. Gerade durch den Akt der freiwilligen Land-Übergabe, den Verkauf, seitens der Kolonisierten will der Autor ja die Gewaltfreiheit der Kolonisierung in Altneuland verdeutlichen.115 Die Besitzlosen hingegen erhal109 Ein armer Rabbiner aus einer mährischen Kleinstadt spricht z. B. von »großartige[r] Kolonisation«, die die zionistische Bewegung zur Lösung »der Judenfrage« in Palästina anstrebt. Vgl. Herzl, Altneuland, S. 24. 110 Herzl, Altneuland, S. 17. 111 Mit Genette würde man in diesen Passagen von einer variablen internen Fokalisierung sprechen. 112 Zum Eurozentrismus in Altneuland siehe Lezzi, Kolonialfantasien, S. 447–458. 113 Herzl, Altneuland, S. 87. Allerdings ist Reschid Bey den Zuwanderern allein durch sein früheres Studium in Berlin und die Beherrschung der deutschen Sprache verbunden. 114 Dieser Aspekt wird auch in den anderen hier untersuchten zionistischen Romanen gar nicht oder nur marginal erwähnt. Vgl. z. B. Sammy Gronemann, Tohuwabohu. Berlin 1920, S. 428 f.: »Aber vielleicht ist der Begriff Staat auch noch vieldeutig. Es muß nicht notwendig Absonderung, Völkereifersucht, Militarismus und Vergewaltigung damit verbunden sein.« 115 Die Idee der Kolonisation Palästinas bildete auch die Motivation zur Gründung diverser zionistischer Vereine in Österreich. So wurde schon 1892/93 in Wien ein gesamtösterreichischer zionistischer Dachverband Zion. Verband der österreichischen Vereine für die Kolonisation Palästinas und Syriens ins Leben gerufen  ; ihm waren in den 1880er-Jahren Palästina-Kolonisationsvereine

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ten Arbeit und partizipieren (dankbar) an den modernen Errungenschaften in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Religiöses Konfliktpotenzial wird durch eine kurze, aber prägnante Argumentation hinsichtlich der historisch bewährten und traditionell guten Beziehungen zwischen Islam und Judentum außer Diskussion gestellt.116 Darüber hinaus wird Religion zur Privatsache erklärt  : Ob einer im Tempel, in der Kirche, in der Moschee, im Kunstmuseum oder im philharmonischen Konzerte die Andacht suchte, die ihn mit dem Ewigen verbinden sollte, darum hatte sich die Gesellschaft nicht zu kümmern. Das machte jeder füglich mit sich selbst aus.117

Der Text vermittelt also ein durchweg positives Bild der Kolonisation, die in einem vorgeblichen Einverständnis von Kolonisatoren und Kolonisierten stattfindet. Dieses Einverständnis wird im Bild einer räumlichen Beziehungsordnung, die nicht nur die Menschen untereinander, sondern auch die Menschen und Gott in ein harmonisches Verhältnis zueinander setzt, geradezu metaphorisch verklärt. So meint der »Mohammedaner« Reschid Bey  : [David Littwak] betet in einem anderen Hause als ich zu demselben Gotte, der über uns allen ist. Aber diese Gotteshäuser stehen nebeneinander, und ich glaube immer, daß unsere Gebete, wenn sie erst einmal im Aufsteigen sind, sich irgendwo in der Höhe vereinigen und dann setzen sie den Weg zusammen fort, bis sie ganz oben sind bei unserem Vater.118

Die Ursprungslegitimation, die auf die biblische Einheit von Land und Volk abhebt, spielt im Text eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Eine mögliche Erklärung dafür ließe sich aus einer These Daniel Boyarins, die er anhand der Untersuchung von theoretischen Schriften und Tagebuchaufzeichnungen Herzls aufstellte, ableiten  : »The Jews, as Zionists, constitute themselves both as natives and as colonizers. Indeed, it is through mimicry of colonization that the Zionists seek to escape the stigma of Jewish difference.«119 Mit Blick auf vorausgegangen wie Ahawat Zion (1882) oder Admath Jeschurun (1885). Vgl. dazu Bihl, Zur Geschichte der Juden, S. 60 ff. 116 Herzl, Altneuland, S. 89. 117 Herzl, Altneuland, S. 168 f. 118 Herzl, Altneuland, S. 88. 119 Daniel Boyarin, Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley 1997, S. 303, hier zitiert nach Lezzi, Kolonialfantasien, S. 450. Boyarins Argumentation bezieht sich jedoch auf einen anderen Zusammenhang. Über Boyarins und Homi K. Bhabhas Ausführungen siehe auch Leuenberger, Jerusalem, S. 229 ff.



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das obige Zitat der Figur Reschid Beys ließe sich diesbezüglich folgern, dass das ›Stigma der jüdischen Differenz‹, – wie es im Wien des Romans noch virulent ist und dort als unüberwindbar angesehen wird – letztlich erst durch den Akt der Kolonisation aufgehoben werden kann. Denn nur die damit einhergehende neue Anordnung des Raums ermöglicht ein gemeinsames Aufsteigen und schließlich die Vereinigung der auf der Erde getrennt gesprochenen Gebete, wodurch die ›irdische‹ Trennung der Menschen bzw. ihrer Stimmen nachgerade transzendiert wird. An diese Interpretation ließe sich (zumindest partiell) auch eine Vermutung Ludger Heids anschließen  : Seine [Herzls] Idee vom Judenstaat war in Wirklichkeit nichts als der tiefe Wunsch nach Assimilation. Es ging darum, das Leben der Juden zu ›normalisieren‹, nicht gegen die bestehende Ordnung, sondern in Einklang mit ihr. Die Gründung eines Judenstaates war für Herzl ein Mittel, das scheinbar jüdische ›Anderssein‹ radikal und für immer abzuschaffen.120

Dass Herzl mit seiner idealisierenden Konzeption auch auf Unverständnis stoßen würde, verwundert kaum. So entgegnete ihm zum Beispiel der bekannte österreichische Staatsrechtler Ludwig von Gumplowicz, den Herzl für den Zionismus hatte einnehmen wollen  : »Sie wollen einen Staat ohne Blutvergießen gründen  ? Wo haben Sie das gesehen  ? Ohne Gewalt und ohne List  ? So ganz offen und ehrlich  – auf Aktien  ?«121 Hätte der Schriftsteller aber eine ›Staatsgründung mit Blutvergießen‹ ins Werk gesetzt, hätte das das Ende jeglicher Popularisierung und sicher auch der politischen Akzeptanz der zionistischen Idee bedeutet. Mit der Anspielung Herzls auf die Gattung Märchen, die ja in der Regel einen glücklichen Ausgang verheißt, kann der Autor außerdem rein erzähltechnisch die durchweg positiven ›Botschaften‹ des Romans legitimieren. Die Kontroversen, die der Roman seit seinem Erscheinen nichtsdestoweniger auslöste, lassen sich aber nicht nur auf gegensätzliche politisch, weltanschaulich oder wissenschaftlich motivierte Positionen – auch innerhalb des Zionismus – reduzieren, sondern sie scheinen auch den uneindeutigen und changierenden Annahmen bzw. der unterschiedlichen Verwendung von Schlüsselbegriffen wie Staat, Nation, Volk geschuldet zu sein. Eine solche, vielleicht auch intendierte Unschärfe zeigt sich schon im Vergleich der Herzl’schen Texte Der Judenstaat und Altneuland bezüglich der konzipierten Staats- bzw. Gesellschaftsordnung. 120 Heid, Der schönste Mann, S. 50. Das Assimilationsverständnis, auf das Heid abhebt, müsste gleichwohl diskutiert und diversifiziert werden. Er bezieht sich hier offenkundig auf eine Studie von Daniel Biale, Power and Powerlessness in Jewish History. New York 1986, S. 132. 121 Ludwig von Gumplowicz, hier zitiert nach Heid, Der schönste Mann, S. 50.

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Erkennbar ist zunächst nur, dass Herzl von der Souveränität eines Volkes, das sich seiner facettenreichen Identität bewusst ist, ausgeht. Insofern lässt sich die zionistische Grundidee des Romans ganz im Zeichen der europäischen Nationalisierungsprozesse im 19. Jahrhundert interpretieren. Deutlich wird aber auch, dass dieses Verständnis von ›Volk‹ nicht auf der Annahme einer ethnischen oder kulturellen Einheitlichkeit basiert, sondern eben auf einem konsensual sich formierenden, kollektiven Bewusstseinsprozess,122 der gleichwohl einheitsorientiert ist  : »Wir sind ein Volk, ein Volk«, heißt es im Judenstaat.123 Dabei definiert Herzl den Volksbegriff »als die Gesamtpersönlichkeit einer historischen Gruppe von Menschen«, um gleichzeitig festzustellen, dass die »Volkspersönlichkeit der Juden […] nicht untergehen [könne], weil äußere Feinde sie zusammenhalten.«124 Herzl bestimmt also nicht zuletzt den historischen Antijudaismus und politischen Antisemitismus seiner Zeit als ausschlaggebende Faktoren für die nationale Bewusstseinbildung.125 Weiterhin trägt dieses sich seit der Emanzipationszeit neu definierende Volk – folgt man den Ausführungen des abstrakten Autors im Roman, aber auch im Judenstaat – den Staat, den es erst zu schaffen gilt, schon in sich. Geht man allerdings davon aus, dass Kolonisation in der Regel einen bestehenden Staat mit einem begrenzten Territorium voraussetzt, von dem aus ein Gebiet außerhalb seiner Grenzen kolonisiert wird, so zeigt sich, dass Herzl den nicht vorhandenen jüdischen Staat zunächst durch die Annahme der Existenz dieses einheitlichen jüdischen Volkes substituiert hat  : Von 122 Mit dieser (nicht-essentialistischen) Vorstellung des Volksbegriffes liegt Herzl offenkundig quer zu Positionen, wie sie z. B. Martin Buber oder Achad Ha’am vertreten. Vgl. z. B. Martin Buber, Das Judentum und die Juden (1910), in  : ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln 1963, S. 9–18. Zu diesen auch jenseits der Schriften von Herzl immer wieder und bis heute kontrovers diskutierten Fragen vgl. aktuell Shlomo Sand, The Invention of the Jewish People. New York 2009. 123 Herzl, Judenstaat, S. 201. [Hervorhebung im Original]  : »Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale, noch für eine religiöse […] Sie ist eine nationale Frage […].« 124 Herzl, Judenstaat, S. 203. 125 Dass Herzl mit seiner Vorstellung eines wenngleich ausdifferenzierten jüdischen Volkes zum Teil auf heftigen Widerstand traf, wird zum Beispiel in der Reaktion des Wiener Oberrabbiners Moritz Güdemann deutlich, der kurz nach dem Erscheinen des Judenstaats eine antizionistische Broschüre unter dem Titel Nationaljudentum publizierte. Darin hält er z. B. fest, »dass die moderne Betonung des Nationalen dem Geiste der Thora, der Propheten und Psalmen […] durchaus widerstrebt.« (Güdemann, Nationaljudentum, S. 24  ; hier zitiert nach Nordau, Zionistische Schriften, S. 2) Max Nordau fühlte sich wiederum durch Güdemann provoziert und antwortete ihm in einem ausführlichen Artikel. Siehe Max Nordau, Ein Tempelstreit, in  : Die Welt (1897) 2. Der Beitrag ist aufgenommen in ders., Zionistische Schriften, S. 1–17  ; seine Ablehnung fasst er bissig zusammen  : »Mein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl leidet positiv unter der geistigen Minderwertigkeit dieser Arbeit […]« (S. 1). Zum Verhältnis Herzls und Güdemanns siehe Bein, Herzl, v. a. S. 117–120.



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diesem habe dann die Kolonisation auszugehen.126 Anders ausgedrückt, vertritt Herzl die Vorstellung, dass Druck von außen jene Gemeinschaft erzeugt, die als eine Konsequenz ihrer Bedrückung (ein) Land kolonisiert oder kolonisieren müsse, um in der Folge erst jenes Staatswesen (oder staatsähnliche Gebilde) zu etablieren, das dann schließlich die Bindungskraft der ursprünglich unter äußerem Druck erfolgten – und damit letztlich nicht nur freiwilligen – ›Nationalisierung‹ ersetzt. Die damit verbundene immanente Problematik und Ambivalenz gerade hinsichtlich all jener ( Juden und Nichtjuden), die sich nicht als Teil dieses sich als Einheit verstehenden Volkes begreifen, das kolonisierte Land aber gleichwohl bewohnen, wird von Herzl zwar nicht dezidiert thematisiert, aber doch in verschiedenen Episoden des Romans angesprochen. Betrachtet man die Gesamtanlage des Romans, so lässt sich im Hinblick auf diese Konzeption aber weniger ein ignoranter Gestus des Textes (bzw. des Autors) feststellen, als primär das Bestreben, die Überwindung vorhandener Gegensätze zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen mittels gemeinsamer Interessen als möglich zu demonstrieren. Letzteres scheinen auf der Ebene der Erzählung z. B. die dem alten Wiener Kreis um Löwenberg angehörenden Figuren zu bestätigen. Sie lehnen den Zionismus zwar ab, wandern aber schließlich doch nach Palästina aus – allerdings um dort ihr oberflächliches Leben in gewohnter Weise weiterzuführen. Auch die Behandlung der Sprachenfrage  – Herzl favorisierte einen Sprachenföderalismus127 – und der Religion weisen in diese Richtung.128 Insofern ist der Meinung Steven Bellers im Anschluss an David Sorkin und Alex Bein beizupflichten, das »Werk [sei] ein fünfaktiges Stück über das Thema der Toleranz.«129 Dass Altneuland »den Traum einer Re-Territorialisierung in einem neuen, vollkommeneren Europa, das seinen einst selbst aufgestellten Idealen endlich gerecht wird,«130 erzählt, trifft m. E. aber nur teilweise zu. Dass angesichts der hier angedeuteten Aspekte Herzls Roman in den letzten Jahren vor dem Hintergrund der Postcolonial Studies auch neuen Lektüren 126 Dass die Kolonisation dann von einer »diskriminierten und in zahlreiche Länder zerstreuten europäischen Minorität« (Lezzi, Kolonialfantasien, S. 446) ausgeht, spielt nach Eva Lezzi in den kontroversen Diskussionen um den Zionismus sicherlich eine Rolle. 127 Vgl. dazu auch Gelber, Melancholy Pride, S. 18 f. 128 Herzl, Altneuland, S. 168. Der im Text zitierte Spruch Friedrichs des Großen, jeder solle »nach seiner Fasson selig« werden, wird der positiv gezeichneten Figur eines Malers in den Mund gelegt. 129 Beller, Herzl, S. 95, und S. 153, Anm. 8. 130 Leuenberger, Jerusalem, S. 231. Herzl bezieht sich – wenn auch nur sehr knapp – auf die arabische Bevölkerung und den Islam, weiterhin auf die russisch-jüdische Tradition und amerikanisch geprägte Gesellschaftsvorstellungen. Die Staatsform der Monarchie stellt im Text keine Option dar.

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unterzogen wurde, überrascht nicht. Eva Lezzi vollzieht in einem erhellenden Beitrag über Kolonialfantasien in der deutsch-jüdischen Literatur um 1900 am Beispiel Herzls einige sich um die »›jüdische‹ Position« entwickelnden Kontroversen im Feld der Postcolonial Studies nach, wobei deren »zentraler Bezugspunkt« meist »die (einstige) Opposition von Kolonisatoren und Kolonisierten« bleibt.131 Dabei wird auch deutlich, dass Herzls Roman selbst in wissenschaftlichen Analysen nach wie vor sehr stark in seinem weltanschaulichen und damit außerliterarischem Potenzial wahrgenommen wird. Das hängt zum einen natürlich mit der Wirkungsgeschichte Herzls wie auch mit den Entwicklungslinien des Zionismus im 20. Jahrhundert und der Staatsgründung Israels zusammen. Doch dass dieser Roman primär als literarischer Text gelesen werden kann, obwohl, wie Julius Schoeps es formuliert, Herzl seinen Roman als »aktive[r] Politiker geschrieben« habe,132 muss m. E. nicht eigens argumentiert werden. Im Folgenden wird Herzls Roman deshalb im Lichte narratologischer und raumtheoretischer Fragestellungen untersucht. 3.1 Orte des Aufbruchs: Krakau – Wien

Der Roman zeichnet sich durch ein dichtes Netz von Raumbezügen aus. Dies betrifft zunächst das lokale Setting, das auf einer Makroebene  – Stadt, Insel, Land – und einer Mikroebene – Caféhaus, Bürgerhaus, Wohnung, Tempel etc. – ausdifferenziert wird, weiterhin den bewegten Raum, primär in Szene gesetzt durch Schiffe, aber auch Eisenbahnen, Schwebebahnen, motorisierte Fahrzeuge, und schließlich die Figuren des Romans, die all diese Räume besuchen, gestalten, besiedeln, nutzen, bewohnen und auch wieder verlassen. Dabei zeigt sich eine gewisse Hierarchie hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Konzentration in der Darstellung und Funktionalisierung der Räume. In ihrem semantischen und narratologischen Potenzial erschließen sich die Räume zum Teil aus ihren topographischen Besonderheiten, zum Teil aus den Aktionen der Figuren, die sich darin bewegen. Die Narration kann an einen konkret benannten Ort, wie das »Wiener Café […] auf dem Alsergrunde«,133 oder auch an einen unbestimmbaren Ort, wie die Südseeinsel Kingscourts, gebunden sein. Wenngleich Wien als Schauplatz der ersten Kapitel besonders für eine österreichische Leserschaft einen hohen Wiedererkennungswert besaß/besitzt, so sind die erzählten Örtlichkeiten und die damit verbundenen und eingeübten Handlungen doch austauschbar. Die entsprechenden Episoden könnten auch in Berlin oder Prag, 131 Lezzi, Kolonialfantasien, S. 437. 132 Julius Schoeps, Einleitung, in  : Herzl, Judenstaat/Altneuland, S. 7. 133 Herzl, Altneuland, S. 17.



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in München oder Brünn angesiedelt sein. Die verwendeten Straßennamen verstärken in diesem Zusammenhang lediglich den vermeintlichen Realitätsgehalt der erzählten Ausgangssituation. Sobald der Protagonist jedoch Wien verlässt, verschwinden mit ihm die bekannten Schauplätze und die damit verbundenen alltäglichen Rituale aus dem Text  : Löwenbergs ausgedehnte Zeitungslektüren und die Tändeleien mit dem Personal im Café Birkenreis, die mehr oder weniger belanglosen Gespräche mit Bekannten, die Abendgesellschaften in der Gonzagagasse. Eine ähnlich vertraute, wenngleich weniger auf konkreten Ortsbezügen basierende Atmosphäre stellt sich für den Leser erst wieder im Verlaufe der zweiten Reise Löwenbergs und Kingscourts durch Palästina ein. Dieser Effekt wird inhaltsseitig aber nicht durch die gleichwohl aus dem Text herauszulesende Kartographie – hier in erster Linie durch die Aufzählung von Ortsnamen – erreicht, sondern mittels der Gestaltung des (aus europäischer Sicht unbekannten) Raums durch die Figuren. Nahezu alle früheren Bekannten Löwenbergs aus Wien sind im Laufe von 20 Jahren nach Palästina übersiedelt, die meisten Bewohner sprechen oder verstehen deutsch und die kulturellen, wissenschaftlichen, sozialen, technischen und ökonomischen Errungenschaften des Landes knüpfen durchweg an europäische oder amerikanische Vorbilder an. Allerdings tragen sowohl das Land Palästina und die Stadt Wien, letztere kann als pars pro toto für das zurückgelassene Europa gelesen werden, Geschichte(n) in sich, die jedoch nicht (wieder-)erzählt zu werden brauchen, da sie als bekannt vorausgesetzt werden können. So genügen wenige Anspielungen, um den aus der Figurenperspektive wirksamen Bedeutungshorizont dieser Räume zu erkennen. Palästina wird schon im zweiten Kapitel von einem »arme[n] Rabbiner einer mährischen Kleinstadt […]› als unsere alte Heimat‹«134 bezeichnet, wohingegen die Stadt Wien z. B. aus der Sicht Löwenbergs trotz vieler Annehmlichkeiten letztlich als Ort der Ausgrenzung empfunden wird  : »Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel gehörten zum Unzugänglichsten in der Welt.«135 Dabei wird am Beginn des Romans noch kurz die vermeintliche Behaglichkeit des Wiener Großstadtlebens beschworen mit dem Hinweis, dass der dreiundzwanzigjährige Dr. Friedrich Löwenberg schon »seit Jahren […] mit der Regelmäßigkeit eines Bureaukraten […] um die fünfte Nachmittagsstunde« in eines der »alten gemütlichen Cafés auf dem Alsergrunde«136 einzutreten pflegte. Doch schon nach wenigen Zeilen wird dieser Eindruck erschüttert. Der Leser erfährt, dass ein enger Freund Löwenbergs nach seiner Auswanderung nach Brasilien,

134 Herzl, Altneuland, S. 24. 135 Herzl, Altneuland, S. 26. 136 Herzl, Altneuland, S. 17.

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»um für eine Ansiedelung jüdischer Proletarier tätig zu sein,«137 dem Gelbfieber erlegen sei und ein anderer Freund Selbstmord begangen habe. Die anderen Caféhausbesucher  – die »meisten waren Juden«  – sind »angehende Ärzte, neugebackene Doktoren der Rechte, absolvierte Techniker. Die höheren Studien hatten sie vollendet, und zu tun gab es nichts.«138 Der heterodiegetische Erzähler erläutert das Dilemma dieser jungen Menschen, die, besser ausgebildet als ihre Väter, aufgrund des »jammervolle[n] Überflu[sses] an studierten Leuten« keine Aussicht auf eine adäquate Arbeit haben, aber auch nicht »in Ämtern […] unterschlüpfen konnten, wie ihre christlichen Kollegen.«139 Die hier erstmals formulierte Ausschlusspraxis bezieht sich nicht auf einen ontologisch-vermessbaren, sondern auf den sozialen Raum der Arbeitswelt. Konkreten Formen der Zugangsverweigerung begegnet hingegen der Hausierer Littwak. Er ist mit seiner Familie aus Galizien aufgebrochen, um der bedrückenden Armut zu entfliehen. Über Galizien erfährt der Leser nicht viel mehr, als dass sich die Littwaks mit drei anderen Familien in Krakau ein Zimmer teilen mussten. Die daraus resultierende räumliche Enge bildet zugleich einen Indikator für die Dimension ihres Elends. »Wie haben gelebt von der Luft«, erinnert sich der Familienvater.140 Doch auch in Wien geht es der osteuropäischen Familie, die anders als die negativ gezeichnete Wiener jüdische Bourgeoisie ein den traditionellen Werten verpflichtetes Judentum verkörpert, »nit besser.«141 Im Gegensatz zu Löwenberg bietet Chaim Littwak das Caféhaus aber nicht die Illusion behaglicher Kontinuität und Gemütlichkeit. Er muss von einem Caféhaus zum anderen ziehen, in der Hoffnung, dort seine Kleinwaren zu verkaufen  : »Überall werfen sie mich heraus, wenn ich handeln will. Wenn man ein Jud is, soll man lieber gleich in 137 Herzl, Altneuland, S. 17. 138 Herzl, Altneuland, S. 17. 139 Herzl, Altneuland, S. 18. 140 Herzl, Altneuland, S. 28. Über die Entstehung, Wirkungen und Reichweiten des Topos ›Luftmensch‹ legte Nicolas Berg eine informative Studie vor, die laut Dan Diner »die im Diskurs über Juden eingezogene Separierung der Bilderwelten von Selbst- und Fremdzuschreibung« durchbricht. Siehe Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, [= Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur  ; 3]. Göttingen 2008. In seinem Vorwort konstatiert Diner, dass in der Metapher ein weitreichendes Verständnis »jüdischer Existenz in der Moderne« angezeigt werde  : Denn »die Juden, die in vormodernen Zeiten buchstäblich im sakralen Text ansässig gewesen waren, verlieren als diasporische und damit nichtterritoriale Bevölkerung mit der sich durchsetzenden Säkularisierung und Profanierung ihren durch das jüdische Gesetz gestifteten inneren wie äußeren Halt.« Dan Diner, Vorwort, in  : Berg, Luftmenschen, S. 8. 141 Herzl, Altneuland, S. 28. Der hier aufgerufene Ost-West-Gegensatz und die positive Darstellung der ›ostjüdischen‹ Familie kann ganz im Sinne zionistischer Vorstellungen als typologische Konfiguration gelesen werden, die sich in der zionistischen Erzählliteratur nahezu durchgängig findet.



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die Donau gehen.«142 Aber Littwak leidet in Wien nicht nur unter Hunger und unter den abweisenden Reaktionen der bürgerlichen (auch jüdischen) Gesellschaft, sondern zudem unter der ständigen Bedrohung, sein »einfenstriges Stübchen« aufgrund seines Mietrückstandes zu verlieren.143 Darüber hinaus verlangt der judenfeindliche Hausmeister seines Wohnhauses unerlaubterweise von ihm »Sperrgeld«, bevor er ihm in der Nacht das Haustor öffnet. Wenn Littwak nicht zahlen kann, lässt ihn der Hausmeister vor dem Haus stehen  : »Dann geh’ ich herum bis in der Früh, bis das Haustor offen ist.«144 Mit diesem besonders perfiden Beispiel räumlicher Ausschlusspraxis illustriert der Autor den alltäglichen Antisemitismus in der Wiener Gesellschaft um 1900. Wenn im Zusammenhang mit dem Roman Altneuland auf den geschilderten Antisemitismus hingewiesen wird,145 dann muss jedoch angemerkt werden, dass im Vergleich zu anderen zeitnah entstandenen Texten dessen Darstellung allein quantitativ sehr zurückgenommen ist. Und dies, obwohl der Roman in der Amtszeit des Wiener Bürgermeisters und deklarierten Antisemiten Karl Luegers entstand. Insofern fällt auch auf, dass Herzl in Altneuland den Antisemitismus nicht als (partei-)politisches Kampfinstrument erörtert wie z. B. im Judenstaat,146 sondern ausschließlich in seinen sozialen Erscheinungsformen. Auch der Zionismus wird kaum in seinem ideologisch-politischen Potenzial aufgerufen, sondern, um es markant zu formulieren, als Lebensform. Beide Ismen werden im Roman an ›Geschichten‹ über räumliche Phänomene gebunden  : Der Antisemitismus folgt dabei einem Prinzip der Separation, der Zionismus dem Prinzip der Partizipation – nicht zuletzt deshalb entfaltet der Zionismus im Rahmen des Texts eine so hohe Bindungskraft, die sich gleichermaßen auf Juden wie Nichtjuden erstreckt. Und insofern erlaubt die Logik des Romans auch nur eine, prinzipiell partizipatorische Auslegung und Darstellungsweise der Besiedelung  : Ginge diese mit einer räumlichen Verdrängung der angestammten Bewohner einher, bedeutete das eine Analogie zu der (aus Wien bekannten) antisemitischen Ausschlusspraxis. Der Protagonist Löwenberg lässt sich in seinem Handeln aber weder durch die (Raum-)Praktiken des Antisemitismus noch durch den aus der Figurenperspek142 Herzl, Altneuland, S. 28. 143 Herzl, Altneuland, S. 29. Selbst die Lokalisierung von Littwaks Wohnstube im fünften Stock unterstreicht die niedere soziale Position des Hausierers. Bis zur Ausstattung der bürgerlichen Wohnhäuser mit Aufzügen befanden sich in Mehrfamilienhäusern die qualitativ schlechtesten Räume immer unter dem Dach. Die Beletage, das »schöne Stockwerk«, hingegen lag über dem Erdgeschoss. 144 Herzl, Altneuland, S. 28 f. 145 Z. B. Hadomi, Altneuland, S. 213, oder Lezzi, Kolonialfantasien, S. 443. 146 Herzl, Judenstaat, S. 209  : »Wir sprechen nicht mehr von den Gemütsgründen, alten Vorurteilen und Borniertheiten, sondern von den politischen und wirtschaftlichen Gründen.«

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tive dazu als Alternative beschworenen Zionismus beeinflussen. Er richtet sein Leben – individuell und nicht kollektiv denkend – vor allem nach den Menschen seiner Umgebung aus, nach deren Zuneigung oder Ablehnung. So entfaltet für ihn auch ein Ort vorrangig durch die (ihm nahestehenden) Menschen, die sich dort aufhalten, seine Wirkung. Deshalb entschließt sich Löwenberg auch nicht aufgrund seiner Erkenntnis, dass ihm die christlich dominierte (und antisemitisch geprägte) Arbeitswelt als Jurist verschlossen bleibt, dazu, Wien zu verlassen, sondern aufgrund der ökonomisch motivierten Verlobung des von ihm verehrten Mädchens mit einem ihm absolut unsympathischen Geschäftsmann. Erst dann »kam [er] sich überflüssig vor in diesem Zimmer, in dieser Stadt, in dieser Welt überhaupt.«147 Durch eine Annonce lernt Löwenberg zur selben Zeit den reichen deutschen Adeligen Kingscourt kennen. Im Gegensatz zu Löwenberg fühlt dieser sich von den Menschen prinzipiell abgestoßen. Sein Ekel vor »ihren elenden Kämpfen, Unsauberkeiten, Treulosigkeiten«148 führt zu seinem Entschluss, sich auf eine Insel zurückzuziehen »in die wirkliche, echte, tiefe Einsamkeit ohne Wunsch und Ringen.«149 Dafür sucht er gleichwohl einen Begleiter, der bereit ist, alles aufzugeben. Der aus Liebeskummer verzweifelte Löwenberg kann Kingscourt nun mitteilen  : »Mich bindet nichts. Ich stehe ganz allein in der Welt […].«150 Im Laufe der folgenden Jahre, die Kingscourt und Löwenberg gemeinsam auf der Insel verbringen, entwickelt sich aber zwischen ihnen eine weit über das einst quasi vertraglich gegebene Versprechen hinausgehende tiefe Verbundenheit, der Löwenberg sogar den (am Ende des Romans aufkeimenden) Wunsch, in Altneuland zu bleiben, opfern würde. Hier bestätigt sich Löwenbergs Grundeinstellung ein letztes Mal, stets dem Menschen vor jeglicher Weltanschauung den Vorzug zu geben. Er wäre bereit, Altneuland wieder zu verlassen, um Kingscourt nicht zu verlieren. Obgleich diese menschliche Qualität der Treue vor der großen Idee des Zionismus als Schwäche und damit als Relativierung der Grundaussage des Romans gedeutet werden könnte, bewirkt gerade dieses Gestaltungsmoment in der Erzählung eine Form von Authentizität. Löwenberg fungiert ja an keiner Stelle des Textes als Proponent des Zionismus, sondern vielmehr als neutraler Beobachter  – mithin avanciert er eigentlich zu der Identifikationsfigur des Ro147 Herzl, Altneuland, S. 26. 148 Herzl, Altneuland, S. 33. 149 Herzl, Altneuland, S.  33. Seine Insel richtet sich Kingscourt trotzdem wohnlich ein  : »Aber ich kenne eine Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist. Da will ich leben. Es ist ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die habe ich mir gekauft und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables Haus bauen lassen. […] Braucht man sonst noch etwas, auf Rarotonga ist für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen Welt […]«. 150 Herzl, Altneuland, S. 34. Von möglichen familiären Bindungen Löwenbergs erfährt der Leser nichts.



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mans für alle (jüdischen) Nicht-Zionisten. Der Zionismus, wie er im Roman dargestellt ist, ist in seiner Verwirklichung eben nicht nur dem Einsatz seiner ohnehin überzeugten Anhänger geschuldet  – dann bildete der Roman tatsächlich nur die narrativierte Form einer weltanschaulichen Idee –, sondern er bietet auch Anknüpfungspunkte für Unentschlossene und Ideologieferne,151 ja, sogar für gänzlich Unbeteiligte.152 Das macht einen Teil der Attraktivität der literarischen Konzeption Herzls eines ›offenen Zionismus‹ aus  : Sie rechnet mit der Kontingenz und menschlichen Widersprüchlichkeit, versucht diese aber nicht auszugleichen oder auszuschließen, sondern bezieht sie produktiv mit ein. So findet auch der nichtjüdische, vermeintlich misanthropische Kingscourt ohne Weiteres Anschluss und Aufnahme in Palästina. Sein Altneuland verkörpert ein jüdisches Kind, dem sich der alte Mann uneingeschränkt hingeben kann. Vorläufig bedeutet die Abreise Kingscourts und Löwenbergs aus Wien jedoch einen »Abschied […] vom Leben.«153 Auch Chaim Littwak und seine Familie werden Wien verlassen, wie der zehnjährige David schon im dritten Kapitel des ersten Buchs ankündigt  : »Gott wird mir helfen, daß ich lernen kann. Dann werd’ ich mit meinen Eltern und Mirjam nach Erez Israel gehn. […] Das is unser Land. Dort können wir glücklich werden  !«154 Insofern ist vor dem Hintergrund einer symbolischen Chronologie an den Aufbruchsort Wien in einer Quasi-Umkehrung der (erzählten) Zeit ein Ende gekoppelt  : das Ende der alten Zeit. 3.2 Orte der Ankunft: Die Insel – Altneuland Die Insel

Den Beginn einer neuen Zeit verbinden Kingscourt und Löwenberg zunächst mit einer Insel. Diese unbewohnte Insel, auf die sich Kingscourt und Löwenberg für zwanzig Jahre zurückziehen, bildet den eigentlich utopischen Ort – den Nicht-Ort  – im Roman. Dafür spricht zunächst der intertextuelle Bezug auf Thomas Morus, dessen Insel den Namen Utopia trug. Obwohl die Lage der Insel zwar ungefähr benannt ist, ist sie für den Leser weder kartographisch zu fixieren,155 noch wird sie narrativ sichtbar gemacht. Tatsächlich wird sie nur im 151 In diesem Umfeld sind die Abendgesellschaften der Familie Löffler anzusiedeln. 152 Dieser Aspekt spielt v. a. in der merkwürdigen Binnenerzählung über das Schiff »Futuro« eine bedeutende Rolle, die noch eingehend erörtert wird. 153 Herzl, Altneuland, S. 34  : Kingscourt zu Löwenberg  : »Liebeskummer, Weltschmerz und Judengram – das ist zusammen genug, um auch einen jungen Mann für immer Abschied nehmen zu lassen vom Leben.« 154 Herzl, Altneuland, S. 30. 155 Man erfährt einzig, dass sich die Insel in der Südsee im Cooks-Archipel befindet. (Herzl, Altneuland, S. 33).

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ersten Buch prospektiv durch einige Sätze Kingscourts und im zweiten Buch durch wenige Dialogpassagen zwischen Löwenberg und Kingscourt retrospektiv aufgerufen. Einen Namen trägt lediglich die Nachbarinsel Rarotonga, von der aus die beiden täglich von ihren zwei Dienern  – »einem stummen Neger, den [Kingscourt] schon in Amerika hatte, und einem Tahitier«, dem er einmal das Leben gerettet hat – mit Lebensmitteln versorgt werden. Der Leser erfährt, dass die Männer während der zwanzig Jahre ihres Inselaufenthalts auf jegliche Zeitungslektüre verzichten und sich damit auch symbolisch völlig vom Weltgeschehen abschneiden. »Bücher, Waffen, physikalische Instrumente« 156 sind alles, was sie mitführen. In Analogie zu diesem Rückzug der zwei Protagonisten ist auf der Ebene der Narration die »selige Insel«157 dem Blick des Lesers zur Gänze entzogen. Für diesen Ort gelten tatsächlich die drei von Hans Freyer aufgestellten Prinzipien. Die Insel ist auch insofern als ou-tópos anzusehen, da sie jeglicher räumlicher Strukturierung und Hierarchisierung, die im Zuge menschlicher Besiedelung entsteht, entbehrt. Es existiert auf ihr keine wirksam werdende Trennung von öffentlichem und privatem Raum, von sakralen und profanen Orten, von funktionalen Orten oder funktionsoffenen Räumen.158 Sie ist der Ort der Absonderung, unterliegt also (auch) dem Prinzip der Separation, die in diesem Fall allerdings freiwillig gewählt ist. Die Insel ist aber im Gegensatz zu Wien sowohl Ankunfts- als auch Aufbruchsort. Denn obwohl die beiden Männer sie eigentlich »nie mehr« verlassen möchten,159 unternehmen sie doch noch einmal eine Reise nach Europa, deren Anlass von Kingscourt allerdings nur schwach argumentiert wird.160 Palästina, das – sowohl 1902 wie 1923 – nur als (geplante) Zwischenstation angefahren wird, bildet also nicht den Zielort, aber schließlich den eigentlichen Ankunftsort der beiden Männer. Palästina

Im letzten Kapitel des ersten Buches zeichnet der heterodiegetische Erzähler zunächst jene Negativfolie, vor der sich Altneuland in den folgenden vier Büchern dann in seiner ganzen Pracht abheben wird. 156 Herzl, Altneuland, S. 33. 157 Herzl, Altneuland, S. 37. 158 Vgl. dazu Foucault, Von anderen Räumen, S. 933. 159 Herzl, Altneuland, S. 48. Gerade diese Passage widerspricht der Deutung Hadomis, dass die Insel die »Enttäuschung der utopischen Wünsche der Weltflüchtigen« darstelle. Siehe Hadomi, Altneuland, S. 212. 160 Herzl, Altneuland, S. 47 f.: Kingscourt zu Löwenberg  : »Die ganze Reise hab’ ich doch nur Ihretwegen unternommen. Damit Sie dann wieder ein paar Jahre mit mir Geduld haben.«



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Von Jaffa hatten sie einen unangenehmen Eindruck. Die Lage am blauen Meer wohl herrlich [!], aber alles zum Erbarmen vernachlässigt. Die Gäßchen von den übelsten Gerüchen erfüllt, unsauber, verwahrlost, überall buntes orientalisches Elend. Arme Türken, schmutzige Araber, scheue Juden lungerten herum, alle träg, bettelhaft und hoffnungslos. Ein sonderbarer Moderduft, wie von Gräbern, beengte das Atmen.161

Dieser erste, synästhetisch vermittelte Eindruck, der nicht zuletzt auf die aus westeuropäischer Sicht eindeutig wertende Opposition Orient versus Okzident, Europa versus Asien referiert,162 bestätigt sich auf der Fahrt durch das Land und in Jerusalem, sodass Löwenberg resigniert feststellt  : »Wenn das unser Land ist, […] so ist es ebenso heruntergekommen wie unser Volk. […] Tiefer konnte das einst so königliche Jerusalem nicht sinken.«163 Die eigentlich raumbezogenen, hier in Zusammenhang mit dem jüdischen Volk und Palästina negativ semantisierten Vokabeln werden an späterer Stelle – dann allerdings in ihrer positiven Umkehrung  – wieder aufgerufen. Entsprechend einer metaphorisch aufgeladenen Oben-Unten-Deixis präsentiert sich Löwenberg das Land nach seiner zweiten Ankunft »von ganz oben auf der Nordspitze des Karmel« betrachtet nun in völlig anderem Licht  : »[…] es war eine andere Stimmung als in jener Nacht von Jerusalem, zwanzig Jahre früher. Damals hatte er den mondbeglänzten Tod vor sich und jetzt ein sonnenfreudiges Leben.«164 Was anhand dieses kurzen Beispiels deutlich wird, lässt sich am gesamten Text nachvollziehen  : Die Narrativierung des Raums (in) Altneuland ist formal und inhaltlich als textkonstituierend anzunehmen. Sie erfolgt auf mehreren Ebenen und aus verschiedenen Positionen der Erzählerinstanz, wobei man in Anlehnung an Überlegungen des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre über die Produktion des Raums zusammenfassend drei narrative Repräsentationsformen feststellen kann  : Die Erzählung über »den wahrgenommenen Raum [espace perçu]«,165 die Erzählung über

161 Herzl, Altneuland, S. 39. 162 Die Opposition Europa–Asien fand spätestens mit Karl Emil Franzos’ Texten über Halb-Asien Eingang in ein kulturelles Wertedenken, das von einem eurozentrischen Standpunkt aus Europa als ›kultiviert‹ und ›zivilisiert‹, Asien als ›primitiv‹ und ›unzivilisiert‹ annimmt. Zudem wurde daraus auch ein Ost-West-Gefälle abgeleitet, das in Zentraleuropa bzw. in der Habsburgermonarchie auch den Gegensatz slawisch versus deutsch meinte. 163 Herzl, Altneuland, S. 40 f. 164 Herzl, Altneuland, S. 57. 165 Lefebvre, Produktion, S. 335 f. Laut Lefebvre verknüpft »die räumliche Praxis […] im wahrgenommenen Raum« einen »Zeitplan« mit »Wegstrecke[n]« und »Verkehrsnetze[n]«, die wiederum bestimmte Plätze und Orte miteinander verbinden. Gleichzeitig halten diese Verbindungslinien die Orte scharf voneinander getrennt.

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den »konzipierte[n] Raum [espace conçu]«166 und die Erzählung über den »gelebte[n] Raum [espace vécu]«167. Lefebvre bezieht seine Thesen auf die soziale Praxis des Raums. Übertragen auf das Medium des Erzählens, ersteht durch die »dialektische Beziehung innerhalb dieser Dreiheit«168 zwar kein ontologischer Raum, sehr wohl aber ein literarisch imaginierter, der eine Konkretisierung zumindest als Anlage in sich trägt. Denn wenn der »(soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist«,169 dann kann die Erzählung darüber als Teil des Handlungs- und Symbolsystems Literatur zumindest in einen ontologisch greifbaren sozialen Raum hineinwirken. 1. Die Erzählung über den »wahrgenommenen Raum«

Sie ist in diesem Roman primär dialogisch strukturiert  – durchbrochen von kurzen auktorialen Einschüben – und gründet vorwiegend auf der subjektiven Figurenrede. In ihrem dynamischen Modus folgt sie der Bewegung der Körper durch den Raum. Tatsächlich wird die Erzählung vor allem im dritten Buch buchstäblich durch Löwenbergs und Kingscourts Reisetätigkeit durch »Das blühende Land« und die Städte mittels Eisenbahn, motorisiertem Wagen – das Wort ›Automobil‹ kennt der Autor noch nicht – oder zu Fuß in Gang gehalten. D. h. sowohl der (erzählte) Raum wie die Erzählung selbst werden durch die Performanz der Bewegung erzeugt  : »Die Straße, auf der sie fuhren, bot den beiden Fremden immer neue Gelegenheit zu staunenden Fragen.«170 Im Gespräch zwischen Löwenberg, Kingscourt und ihren Begleitern sowie Passanten und Funktionsträgern der »neuen Gesellschaft«, denen sie begegnen, werden die auf der Reise gewonnenen, fragmentierten Sinneseindrücke gebündelt, und das zunächst Unerklärliche wird diskursiv in einen Deutungszusammenhang gebracht – auf der Ebene der Figuren und der Erzählung selbst. Denn in diese Dialogstruktur ist auch der (implizite) Leser einbezogen, vor dessen geistigem Auge Altneuland allmählich ersteht. Aus der Zusammenschau der Wahrnehmungen bildet sich schließlich ein Ganzes heraus  : »›eine [!] mosaische Mosaik‹«,171 wie Kingscourt einmal scherzhaft meint. Dabei garantieren die Altneuland durchziehenden Routen, Straßen und Trassen für Eisenbahnen und Schwebebahnen, als infrastrukturell semantisierte Signifikanten sowohl auf der 166 Lefebvre, Produktion, S. 336. 167 Lefebvre, Produktion, S. 336. 168 Lefebvre, Produktion, S. 336. 169 Lefebvre, Produktion, S. 330 f., [Kursivstellung im Original]. 170 Herzl, Altneuland, S. 85. 171 Herzl, Altneuland, S. 177.



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inhaltlichen wie auf der narratologischen Ebene eine rasche Erschließung des Landes. Schlechte Straßen und eine dadurch notwendig reduzierte Geschwindigkeit gelten dementsprechend als Indiz für »die malerischen und primitiven Überbleibsel einer überwundenen Epoche.«172 Wenn die Reisenden ihre Fahrt an mehreren Orten unterbrechen, bedeutet das aber nichtsdestoweniger einen Stillstand (der Erzählung). Alle längeren Aufenthalte dienen der Reflexion des bereits Erfahrenen oder sie etablieren eine weitere Repräsentationsform des erzählten Raums. Im vierten Buch, »Passah« betitelt, finden sich Löwenberg und Kingscourt bei Chaim Littwak in Tiberias ein  – auch er ist längst in Palästina sesshaft geworden  –, um mit der Familie den Sederabend zu verbringen. Der seiner Religion völlig entfremdete Löwenberg ist sich zunächst gar nicht bewusst, dass »[die] Osterferien [!] begonnen haben.« Doch dann deutet er David Littwaks Worte, an diesem Tag »mehr von der Judenwanderung« zu hören, als Anspielung an »die Wanderung aus Mizraim«, der an Pessach gedacht wird.173 Keinen Sinn kann er allerdings in Mirjams Bemerkung erkennen, dass der Bruder »[v]ielleicht […] auch etwas anderes gemeint« habe.174 Dieser beziehungsreiche Hinweis erklärt sich erst im Verlauf der ausführlich geschilderten »Passahfeier«,175 die sowohl inhaltlich als auch narratologisch durch Davids Worte in ein Naheverhältnis zur Gründungsgeschichte Altneulands gesetzt wird  : »Altes will in Neues übergehen. Wir werden zuerst unseren Seder in der Weise unserer Vorfahren zu Ende führen. Dann möge sich die andere Zeit melden, wie sie gekommen ist. Wieder gab es ein Mizrajim und wieder einen glückhaften Auszug.«176 2. Die Erzählung über den »konzipierten Raum«177

Wiewohl über weite Strecken des Romans unterschiedliche Figuren aus ihrer jeweiligen sozialen Position Teilaspekte über das Werden des Landes formulieren, wird das Gesamtkonzept für Altneuland und dessen Realisierung erst in einer sonderbaren Binnenerzählung, die sich über drei Kapitel des Buches erstreckt, 172 Herzl, Altneuland, S. 85. 173 Herzl, Altneuland, S. 84. Mizraim (hebr. Ägypten)  ; die Schreibweisen im Text variieren. 174 Herzl, Altneuland, S. 84. 175 Herzl, Altneuland, S. 123 f. An diesem Sederabend kommt sich Löwenberg vor »wie der verlorene Sohn«. 176 Herzl, Altneuland, S. 126. 177 Lefebvre, Produktion, S. 336  : »[D]er konzipierte Raum […], der Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten, die ihn ›zerschneiden‹ und wieder ›zusammensetzen‹ [tendiert] offensichtlich […] zu einem System verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen.«

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sichtbar. Sie wird in Analogie zu der am Sederabend verlesenen Pessach-Haggadah als Bericht »über den neuen Auszug der Juden«178 den Gästen im Hause Littwak vorgetragen. Dieser Bericht ist auch medial der neuen Zeit geschuldet  : Er liegt nicht als Schrift vor, sondern als Tonaufnahme. Nachdem Löwenberg und Kingscourt – ebenso wie der Leser – bisher nur die Ergebnisse der Kolonisation wahrgenommen haben, soll die nachgelieferte, auf einem Phonographen aufgezeichnete Erzählung des hoch geschätzten »Generaldirektors des Industrieamtes«, Joseph Levy, den »Überjang«,179 den Prozess des Werdens, vermitteln. Was sich dem Leser als Schrift präsentiert, wird auf der Ebene der Erzählung als immer wieder abrufbare Stimme dargestellt, wodurch sich nicht zuletzt die Authentizität des Gesagten erhöht. Durch den Wiederholungsmodus des Geräts kann es zudem immer wieder aktualisiert und bestätigt werden. Levy erzählt kurz die politische Vorgeschichte, um dann nahezu chronologisch über die von London aus generalstabsmäßig geplante Erschließung Palästinas zu berichten. Die Konzeption des Raums ist von Beginn an gewissermaßen chronotopisch festgelegt, sie wird nach einem ausgeklügelten Ordnungssystem überwacht und Schritt für Schritt umgesetzt  : »Ich konnte Dank meinem Nachrichten- und Kartendienst Jahre hindurch jeden Tag den ganzen Stand unserer Bewegung deutlich bis in die letzten Einzelheiten überblicken.«180 Die vielfältigen Aktivitäten, technischen, baulichen und kulturellen Infrastrukturmaßnahmen überführt Levy nun in eine über weite Strecken linear anmutende mündliche Erzählung, die sowohl formal als auch inhaltlich völlig geschlossen und widerspruchsfrei wirkt.181 Die an sich unverbundenen Elemente des Erschließungskonzepts des Landes und die zeitlich und räumlich voneinander getrennten Realisierungsmaßnahmen werden in der und durch die eingeschobene Erzählung dahingehend modelliert, dass die (für Beteiligte und Außenstehende gleichermaßen) heterogene Erfahrungswirklichkeit, die ja auch in der fragmentierten Wahrnehmung von Löwenberg und Kingscourt deutlich zum Tragen kommt, nun in einer einheitlichen Ganzheit repräsentiert wird. Diese Form narrativer 178 Herzl, Altneuland, S. 126. Vgl. dazu auch S. 127  : »Die Nachtischfeier folgte, und als sie mit allen Vorschriften der Hagadah fertig waren, gingen sie in den Salon hinüber, wo schon der Phonograph mit Joes Erzählung auf einem Tischchen bereitstand.« 179 Herzl, Altneuland, S. 126. Kingscourt spricht dieses Wort aus, ohne zu wissen, dass auch an Pessach der »Übergang«, das »Vorüberschreiten« gefeiert wird. 180 Herzl, Altneuland, S. 134. Levy erläutert, wie z. B. verschiedenfarbige Stecknadelköpfe, die »auf großen Landkarten der einzelnen Staaten [angebracht werden,] den Vorbereitungszustand einer Ortsgruppe« kenntlich machen. 181 Diese Kohärenz wird durch die völlig herausgehobene Episode über das Schiff »Futuro« auf einer weiteren Ebene als eine auch in die Zukunft weisende Binnenerzählung noch einmal verstärkt. Siehe dazu weiter unten die Ausführungen über den »Bewegten Raum«.



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Modellierung lässt sich mit Hayden White als emplotment bezeichnen. Deren Funktion liegt primär in der Sichtbarmachung eines ursprünglich nicht erkennbaren Sinns, der seine volle Wirkmächtigkeit aber erst im Hinblick auf Prozesse kollektiver Identitätsbildung entfaltet.182 Dass Levys Ausführungen textimmanent tatsächlich als kollektive Ursprungsgeschichte eingesetzt werden, zeigt sich sowohl in der ihr beigemessenen Aufgabe – »›Joe wird Ihnen den Anfang sagen, nachdem wir Ihnen das Ende gezeigt haben‹«183 – wie auch in ihrer gezielten Verbreitung  : David Littwak schenkt sie »zum Passahfeste den Schulen« auf vervielfältigten Wachsrollen in einigen hundert Exemplaren.184 Den Nachgeborenen soll auf diese Weise die Entstehungsgeschichte ihres Landes vermittelt werden. Die verwendete Technologie belegt in diesem Zusammenhang nicht nur eine für Altneuland adäquate Modernität sowie eine zeitgemäße Form der Kommunikation, sondern sie garantiert zudem – mehr als der Buchdruck – die Unangreifbarkeit des Dokuments. Denn die aufgenommene Stimme lässt sich im Gegensatz zur Schrift nicht manipulieren. Letztlich kann Levys Geschichte ihre Wirksamkeit aber nur in der Trias von »Wahrgenommenem, Konzipiertem und Gelebtem«185 entfalten. Der Erzählung über den »gelebten Raum« fällt im Roman schließlich die Funktion der Überprüfung zu. 3. Die Erzählung über den »gelebten Raum«

Wiewohl der gesamte Roman durchzogen ist von kurzen Schilderungen über das Leben an verschiedenen Orten in Altneuland, wie z. B. in Jaffa, Haifa oder Tiberias, so stechen doch die Passagen über zwei Orte, an denen sich die neue jüdische Lebenswirklichkeit in besonderer Weise offenbart, hervor  : Da ist einerseits die Ortschaft Neudorf, deren Name bereits die Assoziation zu Altneuland in sich birgt und gleichzeitig auf ihr relativ junges Bestehen anspielt, andererseits das ›neue‹ altehrwürdige Jerusalem, dem im Roman das gesamte fünfte Buch gewidmet ist. Während ihres Aufenthalts in Neudorf lernen Löwenberg und Kingscourt nicht nur zum wiederholten Male die »Schönheit«186 sowie die technischen, landwirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften des Landes kennen. In Neudorf werden sie zum ersten Mal Zeuge einer existenziellen Kon182 Vgl. dazu u. a. Hayden White, Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit, in  : ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, [amerik. Originalausg. 1987 u. d. T. The Content of the Form]. Frankfurt am Main 1990, S. 11–39, hier bes. S. 33 ff. 183 Herzl, Altneuland, S. 126. 184 Herzl, Altneuland, S. 126. 185 Lefebvre, Produktion, S. 336. 186 Herzl, Altneuland, S. 92.

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fliktsituation im Land – und dies an einem entscheidenden »Wendepunkt«,187 denn es stehen Delegierten- und Präsidentenwahlen für die »neue Gesellschaft« an. In Opposition zu den bisherigen Proponenten der »neuen Gesellschaft«, zu denen auch David Littwak zählt, hat ein ehemals antizionistischer orthodoxer Rabbiner in Neudorf seine Anhänger um sich geschart. Die Forderungen dieses Rabbiners, der nun als gewandelter »Nationaljude« die Position vertritt, dass »Nichtjude[n] […] in die neue Gesellschaft nicht aufgenommen werden« sollen,188 verstoßen nach Littwak und seinen Parteigängern gegen einen wesentlichen Grundsatz  : »daß wer sich zwei Jahre in den Dienst der neuen Gesellschaft gestellt hat, […] Mitglied werden kann, welcher Nation und Konfession er auch immer angehören mag.«189 Die Auseinandersetzung – sie geht zuungunsten des Rabbiners aus, er verlor »an diesem Tage […] die Stimmen der Wähler von Neudorf«190 – schmälert zwar aus Sicht des Lesers den Grad der Idealisierung, verstärkt aber gerade dadurch die Plausibilität der Erzählung. Quasi in Stellvertreterfunktion für den Leser wird dieser Aspekt von Kingscourt später explizit ausgesprochen  : Wissen Sie, offen jestanden hab’ ich an manches in eurer neuen Jesellschaft trotz Oojenschein nich jeglaubt. Die ganze Jeschichte war mir’n bißchen zu rosenrot und potemkinisch. Seh’ ich aber, daß ihr auch Halunken von allen Sorten auf Lager habt, dann fängt es an, mir einzuleuchten. Dann muß auch ich oller Wüstenpilger zujeben, daß die Jeschichte wahr ist.191

Dass Neudorf gleichsam als pars pro toto für das ganze Land gelesen werden kann, wird in den Reden des Architekten Steineck192 und David Littwaks an die Neudorfer deutlich. Darin beschwören sie Episoden aus der Vergangenheit, die sich einerseits auf die noch unorganisierte Besiedlung und Urbarmachung des Landes ab den 1890er-Jahren beziehen, andererseits auf zeitlich teils noch weiter zurückreichende, außerhalb des Landes erprobte Gesellschaftsmodelle  : »Ihr […] habt das neue Dorf und das ist nicht allein eurer Hände Werk […]. Neudorf [ist] gar nicht in Palästina gebaut worden, sondern anderswo. Es ist gebaut worden in England und Amerika, in Frankreich und in Deutschland.«193 Inhaltlich analoge Passagen durchziehen den gesamten Text sowohl in unter187 Herzl, Altneuland, S. 96. 188 Herzl, Altneuland, S. 97 f. 189 Herzl, Altneuland, S. 98. 190 Herzl, Altneuland, S. 105. 191 Herzl, Altneuland, S. 166 f. 192 Steineck ist Herzls Freund Oskar Marmorek nachempfunden. 193 Herzl, Altneuland, S. 100.



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schiedlichen Figurenreden wie in Einschüben der auktorialen Erzählerinstanz. Indem Littwak den Neudorfern ihre Anfänge wieder vor Augen führt, gelingt es ihm, die Auseinandersetzung mit dem nationaljüdischen Rabbiner Dr. Geyer für sich zu entscheiden. Mit seiner Rede verweist er indirekt auf eine imaginäre Leerstelle, die, an der Grenze von Erinnerung und Vergessen angesiedelt, das Konfliktpotenzial des »gelebten Raums« (Neudorf ) zu beinhalten scheint. Nur die Verbindung einer objektiv gehaltenen Erinnerungskultur mit einem offenen Gegenwartsbewusstsein erzeugt jene gerechte Gesellschaftsordnung,194 die die produktive Gestaltung des »gelebten Raums« dauerhaft gewährleistet  : Die älteren von euch wissen, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, wie öd und wüst. […] heute ist Neudorf ein Garten, ein weiter, herrlicher Garten, in dem es gut zu leben ist. Aber alle eure Pflanzungen sind nichts wert und sie werden verdorren, wenn bei Euch Freisinn, Großmut und Menschenliebe nicht gedeihen.195

Die Argumentation Littwaks bezieht sich auf ein Vorstadium von Altneuland, das aus der Gegenwartsperspektive des Sprechers nicht von der Erinnerung an die Diaspora gelöst werden kann. In der Konsequenz kann deshalb auch eine ›altneuländische‹ Kultur keine in sich abgeschlossene sein, sondern sie trägt die Spuren ihres Werdens zwangsläufig in sich.196 Dass die Schaffung Altneulands aber trotzdem nicht nur als De-Platzierung oder »Re-Territorialisierung der Juden in Europa«197 zu verstehen ist, wird im fünften Buch über »Jerusalem« 194 Herzl, Altneuland, S. 105  : »Je mehr Arbeiter kommen, um so mehr Brot gibt es, wenn die Gesellschaftsordnung so gerecht ist wie die unsrige. […] Die älteren von euch, die die Geschichte von Neudorf tätig miterlebt haben, wissen das aus eigener Erfahrung.« Mit diesen Worten weist David Littwak den Einwand eines Gemeindesprechers zurück, der davor warnt, dass »die Fremden unser Brot wegessen.« 195 Herzl, Altneuland, S. 105. Mit den Attributen »öd und wüst« spielt der Redner auf das »Tohuwabohu« in Gen 1,2 an. 196 Dieses durch die Figur Littwaks noch einmal zusammengefasste Konzept des kulturellen Transfers als Gründungsvoraussetzung von Altneuland ist insofern bemerkenswert, da es den Zionismus als pluralistische Alternative zu den einheitsorientierten Nationalisierungsideologien des 19. Jahrhunderts entwirft. Gerade dieser Aspekt wurde in zeitgenössischen Repliken aber häufig abgelehnt. Der im Text als »Nationaljude« bezeichnete Dr. Geyer verkörpert eine – aus der Perspektive des Erzählers und einiger Figuren – überkommene Position des vergangenen Jahrhunderts. Wenn man Herzl im Kontext der Nationalisierungstendenzen im Europa des 19.  Jahrhunderts rezipiert, verdient gerade diese Argumentation besondere Aufmerksamkeit. Sie macht jenseits seiner Vorstellungen der Kolonisation die Modernität seiner offenen Konzeption aus. Sicherlich spielt in diesem Zusammenhang auch Herzls Sozialisation in der Habsburgermonarchie eine Rolle, auf die auch Steven Beller nachdrücklich verweist. 197 Leuenberger, Schriftraum, S. 231.

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gerade in der Tempel-Episode, die Steven Beller als »emotionale[n] Höhepunkt des Buches«198 bezeichnet, deutlich. Hier ist es keine der Romanfiguren, sondern die heterodiegetische Erzählerinstanz, die  – nun allerdings Löwenbergs Empfindungen und Gedanken wiedergebend – die Erinnerung an die biblische Herkunft Israels ebenso wie die Geschichte der Diaspora aufruft  : Salomos Worte waren wieder lebendig  : ›Gott hat verheißen, in einer Wolke zu weilen, gebaut hab’ ich einen festen Wohnsitz Dir, o Gott  ! Eine Stätte für dein Bleiben für immer.‹ Gebetet hatten sie mit mehr oder weniger Andacht in vielen Tempeln auf dem Erdenrunde […] in allen Sprachen der Zerstreuung. […] Dennoch war nur hier allein der Tempel. Warum  ? Weil sie erst hier zu der freien Gemeinschaft gediehen waren, in der sie für die höchsten Zwecke der Menschheit wirken konnten. […] in der Judengasse waren sie ehrlos, wehrlos, rechtlos, und als sie die Gasse verließen, hörten sie auf, Juden zu sein. Beides mußte da sein  : Freiheit und Gemeingefühl. Da erst durften sie das Haus des Unsichtbaren und Allmächtigen errichten, welchen die Kinder sich anders vorstellen als die Weisen, der aber als der Wille zum Guten im All gegenwärtig ist.199

In diesem Kontext, in dem heilige und profane Raumkonstellationen beschworen werden, kommt dem Tempel eine singuläre Position zu. Diese Alleinstellung des in Altneuland wiedererrichteten Tempels, der zwar »präsent, aber nicht lokalisiert«200 ist, ist mit einem hohen Symbolgehalt verbunden  : An diesem Ort fallen Erinnerung, Gegenwart und Zukunft zusammen. Wenn es heißt, dass sich die Wiedererrichtung des Tempels der Erfüllung der Zeit verdanke,201 so scheint damit der messianische Gedanke, der das imaginierte Territorium im Text wie auch auf einer Metaebene den Schrift-Raum von Altneuland durchzieht, auf zweifache Weise eingelöst. Einerseits als religiöses Zeichen, das die »Anwesenheit Gottes in einem traditionellen theologischen Verständnis«202 markiert, andererseits als Sinnbild für die mögliche endgültige Beheimatung aller Juden  : »das väterliche Haus ist seinem Sohne dankbar, auch wenn er nichts bringt als sich selbst«203 Dieses zunächst auf den Tempel umgelegte Bild des bergenden Hauses, das hier metonymisch für Erez Israel gedeutet werden kann, wird auf den letzten Seiten des Romans noch zweimal aufgerufen  : Zunächst 198 Beller, Herzl, S. 99. 199 Herzl, Altneuland, S. 165 f. 200 Leuenberger, Jerusalem, S. 234. 201 Herzl, Altneuland, S. 163  : »Er war wieder aufgerichtet worden, weil die Zeiten sich erfüllten.« 202 Leuenberger, Jerusalem, S. 234. 203 Herzl, Altneuland, S. 165. Die Bezugnahme auf das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn ist offenkundig.



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von Löwenberg, wenn er in seiner Rede über die »Koexistenz aller Dinge« den Staat mit einem Gebäude vergleicht204 sowie metaphorisch aufgeladen in der Trauerrede David Littwaks auf seine Mutter  : »Sie war uns Haus und Heimat, als wir nicht Haus noch Heimat hatten.«205 Das Haus in seiner Semantisierung als kollektive und als individuelle »Heimat« wird so in einen unauflösbaren Zusammenhang mit der Tempelepisode gestellt, in der das Motiv der Heimkehr206 an der Figur des elternlosen, nichtreligiösen und nichtzionistischen Löwenberg in seinem ganzen Bedeutungsspektrum exemplifiziert wird. Ausgelöst durch die liturgischen Gesänge, im sinnlichen Erleben des »alte[n] Lied[es]« während des Gottesdienstes, erinnert sich Löwenberg der Geschichte des jüdischen Volkes im »Elend, Golus, Ghetto  !«207 Gleichzeitig offenbart sich ihm allerdings im Tempel die Entstehung von Altneuland in seiner ganzen Dimension  : »Alles, was Friedrich umgab, zeigte ihm, wie es gekommen war.«208 Anhand des Tempelbesuchs von Löwenberg wird also der Konnex von Vergessen, Erinnerung und (Raum-) Erfahrung gewissermaßen in einer Umkehrung des Neudorf-Phänomens noch einmal erzählerisch vergegenwärtigt. Der neu erstandene Raum – Jerusalem, die Stadt des Friedens, mit ihrer »jüdischen Akademie«,209 dem »Friedenspalast«210 und vor allem dem Tempel – überdeckt hier aber nicht die Erinnerung, sondern lässt sie erst hervortreten. Die »Örter-Schrift« im gesamten Text zielt im Sinne 204 Herzl, Altneuland, S. 188  : Friedrich Löwenberg  : »Das Haus bleibt als ganzes, was es war. So kann ich mir auch den Staat, den wir einst sahen, erhalten denken, auch wenn das Neue hinzukam.« Vgl. dazu auch David Littwaks Rede in Neudorf  : Herzl, Altneuland, S. 102  : »Und da wir ans Bauen gehen mußten, haben wir uns eben das Haus von 1900 und nicht etwa das Haus von 1800 oder von 1600 oder aus irgend einer früheren Epoche gebaut.« Siehe weiterhin Joe Levys Erzählung in  : Herzl, Altneuland, S. 149  : »Unser Haus ist unter Dach  ! Ich meinte damit die ganze neue Gesellschaft.« 205 Herzl, Altneuland, S. 191. 206 Herzl, Altneuland, S.  165  : »[…] auch die Starken, Freien, Erfolgreichen waren heimgekehrt […].« Vgl. dazu auch Herzl, Judenstaat, S. 250  : »Wir sollen endlich als freie Männer auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben.« 207 Herzl, Altneuland, S. 165. Das »Lecho Daudi Likras Kalle« erinnert Löwenberg an Heinrich Heines Gedichtzyklus Hebräische Melodien. 208 Herzl, Altneuland, S. 164 f. 209 Siehe dazu Herzl, Altneuland, S.  169 ff. Sowohl der Friedenspalast wie auch die Akademie können als dominante Zeichensetzungen im öffentlichen Raum als Ausdruck der interkulturellen Konzeption Altneulands gelesen werden. Die Mittel für die Akademie wurden von »einem reichen Amerikaner gestiftet […]. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen seine ersten Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und einigten sich auf dem Boden der Menschlichkeit.« (S. 169). 210 Herzl, Altneuland, S. 163  : »Dieser Prachtbau ist mit der Zeit ein merkwürdiger Mittelpunkt milder Bestrebungen geworden. Hier wirkt man keineswegs für das jüdische Land und seine Bewohner, sondern für andere Länder und Völker.«

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Bernhard Siegerts also weniger auf eine geographische Beschreibung des Landes und der Stadt Jerusalem als auf die Verräumlichung eines heilsgeschichtlichen Narrativs,211 das darüber hinaus im Lichte einer idealistischen Bewegung säkular aktualisiert wird. Löwenberg erkennt schließlich über das Erleben des Raums ihm bislang verborgen gebliebene Zusammenhänge, die nun auch für ihn eine Zukunftsverheißung in sich tragen. 3.3 Bewegter Raum: Das Schiff

Wenngleich die Repräsentation des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Raums den Roman rein quantitativ beherrscht, so sind die ›mobilen Räume‹ nichtsdestoweniger als absolut notwendige Ergänzung der narrativen Raumkonzeption zu lesen. Dabei sind die motorisierten Wagen und die Eisenbahn als geschlossene ›Behälter‹ vor allem im Kontext der erzählten Wahrnehmung von Bedeutung. Eine besondere Qualität in inhaltlicher wie auch in narratologischer Hinsicht muss allerdings dem ›bewegten Raum‹ des Schiffes beigemessen werden.212 Zunächst erscheint das Schiff in einer oberflächlichen Abbildfunktion nur als Verkehrs- und Transportmittel, das den Auswanderungswilligen das Verlassen des europäischen Festlands ermöglicht. Es stellt aber darüber hinaus auch eine symbolisch aufgeladene Verbindung zwischen dem Festland, Kingscourts Insel und Palästina sowie als poetologisch relevanter Raum den Konnex zwischen Text und (entworfenem) Territorium her. Drei Arten von Schiffen ›durchqueren‹ den Text  : Kingscourts Privatjacht, zahlreiche Handels- und Frachtschiffe und schließlich das einzigartige »Schiff der Weisen«,213 von dem Joe Levy in seiner überlieferten Entstehungsgeschichte Altneulands berichtet. Kingscourt dient seine Jacht, die mit ihrer luxuriösen Einrichtung 214 wesentlich komfortabler ist als Löwenbergs Zimmer oder gar Chaim Littwaks Stube in Wien, vorübergehend sogar als Wohnung, sie bildet gewissermaßen seine transitorische Heimstatt. Sie garantiert ihm – wie die Insel – die völlige Unabhängigkeit und gewünschte Isolierung von den Menschen  : »Viele Monate bin ich auf den Meeren herumgetrieben. Das ist ein herrliches Leben, müssen Sie wissen.« 215 Unabhängig davon, an welchem geographischen Punkt sich Kingscourt befindet, bedeutet ihm seine 211 Siegert, Einleitung, in  : Topographien, S. 6. 212 Vgl. dazu Stichwort  : Raum, in  : Brockhaus’ Kleines Konversationslexikon, Bd. 2, 1911, S. 496  : »Auf Handelsschiffen heißt R[aum] der zur Aufnahme der Ladung bestimmte, unter dem untersten Deck liegende Teil des Schiffes.« 213 Herzl, Altneuland, S. 144. 214 Herzl, Altneuland, S. 38 f. 215 Herzl, Altneuland, S. 33.



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Jacht, die zwar als (Schutz)-Hülle, aber auch als räumliche Begrenzung anzusehen ist, die »Freiheit« schlechthin.216 Diese Freiheit verspürt der deutsche Adelige primär dann, wenn das Schiff in Bewegung ist, wenn es zum fahrenden, nicht verortbaren Ort wird. Wo keine Schiffe (mehr) verkehren, bricht schließlich auch die Verbindung zu den Menschen ab. Daher erachtet es der Misan­throp Kingscourt als besonders wichtig, dass seine Insel nur selten von anderen Schiffen angesteuert wird. Die im Text bruchstückhaft beschriebenen Reiserouten der Jacht markieren in diesem Zusammenhang deshalb nicht nur die Unerreichbarkeit Löwenbergs und Kingscourts, sondern sie werden in und auf diesen Passagen auch dem Blick des Lesers entzogen. Erst als Kingscourt und Löwenberg bei ihrer Rückreise nach Europa Haifa anlaufen, werden sie im Text wieder sichtbar. Das Bild, das sich den beiden während ihrer Anfahrt vom Meer her bietet, kündigt bereits in der durch den Erzähler positiv geschilderten Anlage des Hafens die mittlerweile veränderte Situation auf dem Festland an  : »der bequemste und sicherste Hafen des mittelländischen Meeres. Schiffe aller Größen, aller Arten, aller Nationen hielten sich in dieser Geborgenheit auf.« 217 Im Laufe ihrer Reise durch Altneuland erfahren die beiden Männer, dass dieser moderne Hafen mittlerweile zu einem der wichtigsten Schnittpunkte des internationalen Handelsverkehrs geworden ist. In der Auf bauphase des Landes waren die Schiffe noch »als schwimmende Docks« eingesetzt worden, wobei die »Waren die wunderbarsten Reisen und Umwege mach[t]en.« 218 Die Schiffe bilden zu dieser Zeit gewissermaßen den vorgelagerten Ort der Kolonisation. Doch unter den in immer wieder neuen Zusammenhängen erzählten Episoden über die Schiffe als Transportmittel und als bewegliche Transferräume, die durch ihre Fahrten einen permanenten Austauschprozess zwischen dem ›alten‹ Europa, aber auch den anderen Kontinenten219 und Altneuland in Gang halten und dadurch die erfolgreiche Besiedelung überhaupt erst ermöglichen, sticht 216 Herzl, Altneuland, S. 33. Das Motiv der Freiheit wird in der Tempelepisode noch einmal aufgerufen. Dass der Autor hier einen Zusammenhang herstellt, zeigt sich in zwei völlig gegensätzlichen Konzeptionen des Begriffs. Während Kingscourt am Beginn des Romans vor allem in der Ungebundenheit und räumlichen Abgesondertheit von anderen Menschen sein Freiheitsverständnis verwirklicht sieht, so erkennt Löwenberg am Ende  : »Beides mußte da sein  : Freiheit und Gemeinschaftsgefühl.« (S. 166). 217 Herzl, Altneuland, S. 50. 218 Herzl, Altneuland, S. 136. 219 Herzl, Altneuland, S. 108  : So wird z. B. besonders die Einfuhr des Eukalyptus besonders hervorgehoben  : »Steineck […] sang ein begeistertes Loblied auf den Eukalyptus, diesen herrlichen australischen Baum, dessen hundert Arten in unzähligen Schiffsladungen lebend herbeigeschafft worden waren, als die große planmäßige Kulturarbeit in Palästina begann. Ohne den Eukalyptus […] hätte man vielleicht überhaupt nichts anfangen, gewiß aber keine solchen raschen Kulturerfolge erzielen können.«

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eine Erzählung besonders hervor. Was auf den ersten Blick wie ein einfaches Gleichnis für die Internationalität und Offenheit des Landes interpretiert werden kann,220 entpuppt sich bei näherer Betrachtung als inhaltliche und poetologische Schlüsselstelle im Roman. Es handelt sich um die seltsame Geschichte des Schiffes »Futuro«, dessen Einsatz Joseph Levy als seine persönliche Initiative besonders hervorhebt  : »Ich rüstete nämlich das Schiff der Weisen aus.« 221 Diese »Weisen« kreuzen als geladene Gäste während einiger Wochen vor der Küste Altneulands, unternehmen Ausflüge und Expeditionen ins Land und halten ihre Eindrücke in unterschiedlicher Form fest. Was vor dem Hintergrund emsiger Geschäftigkeit – der Anmietung des »eleganten modernen Dampfers ›Futuro‹«, der Einladung der 500 »Besten aus aller Welt« 222 und der Reiseorganisation – von Levy einerseits als Werbekampagne für Altneuland, andererseits als ›Evaluierungsmaßnahme‹ dargestellt wird,223 lässt sich aber als Metaerzählung Altneulands interpretieren. Der Schlüsselsatz wird »von einem geistreichen Schriftsteller«, der »das Schiff überhaupt keinen Augenblick verlassen« haben soll, ausgesprochen  : »›Dieses Schiff ist Zion  !‹« 224 Das Deutungsspektrum dieser Ineinssetzung aus dem Munde einer nur an dieser Stelle im Text auftauchenden Figur weist vor allem in zwei Richtungen  : Jenseits assoziativer Lesarten, die das biblische Motiv des Schiffes z. B. mit der Arche Noah oder dem Wal des Jona nahelegen, ließe sich die »Futuro« als profanisierte Anspielung auf die Bundeslade interpretieren.225 Wie die Bundeslade in biblischer Zeit das »Zeugnis« aufnehmen sollte, das Gott Mose gab,226 so nimmt das Schiff »Material in Hülle und Fülle, mit sachkundigen Augen gesehen, in meisterhafter Schilderung« 227 auf. Die geladenen Philosophen, Künstler etc. dokumentieren, archivieren und bewerten alles, was sie »im Lande« sehen. Ihre als »Tisch­ 220 Siehe z. B. Beller, Herzl, S. 112. Vielfach wird diese Passage (S. 144–151) aber überhaupt nicht wahrgenommen. Die im Roman der Figur Levy zugeordneten Zitate werden im Folgenden mit einfachen Anführungszeichen wiedergegeben. 221 Herzl, Altneuland, S. 144. 222 Herzl, Altneuland, S. 145. 223 Herzl, Altneuland, S.  151  : »Und alle fünfundzwanzig Jahre soll ein Dampfer Futuro einen solchen Aeropag, vor dessen Urteil wir uns beugen wollen, zu uns bringen. […] das ganze Land soll zur Besichtigung da sein, die Gäste vom Futuro unsere werte Jury.« 224 Herzl, Altneuland, S. 146. 225 Für diesen Hinweis danke ich Susanne Plietzsch. Nach der Darstellung der Thora enthält die Bundeslade die steinernen Gesetzestafeln  ; beim Auszug aus Ägypten unter der Führung Mose gilt sie als Garant für die Anwesenheit Gottes inmitten des Volkes. Zu den zwei Deutungsvarianten der Lade und der Ladeerzählung siehe z. B. kurz  : Koch et al., Bibellexikon, S. 300 f. 226 Ex 25,10–20 und Dt 10,1–2. 227 Herzl, Altneuland, S. 146. Auch wenn hier keine theologische Wendung im Roman zu vermuten ist, kann doch von einer diesbezüglichen semiotischen ›Anreicherung‹ ausgegangen werden.



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gespräche« 228 zusammengefassten »Ratschläge« erscheinen Levy, »als hätte vom Futuro her der Geist der Menschheit zum jüdischen Volk gesprochen, als es eben daran war, sich eine neue Existenz zu gründen.« Levy betont, dass er diese »Tischgespräche« »noch heute fast auswendig« wisse und dass »diese Lehren […] beherzigt werden [mussten].« 229 Dass der homodiegetische Erzähler dieser Episode ausgerechnet den Namen Levy trägt und die Entstehungsgeschichte von Altneuland erzählt, eröffnet zudem einen Bezug zu Dt 10,8, denn dort heißt es, dass die Bundeslade dem Stamm Levi übergeben werde, der sie fortan tragen solle.230 Levys Ausspruch, dass er »[d]ieses Schiff […] den rückkehrenden Juden vorausziehen lassen [wollte] nach dem alten und neuen Lande. Schon sein Erscheinen in den mittelländischen Gewässern sollte die andere Zeit bedeuten«,231 weist ebenso in diese Richtung. Unabhängig von weiterführenden, in diesem Umfeld möglichen Anspielungen232 soll hier ganz allgemein festgestellt werden, dass mit dieser wenngleich sehr konstruierten Bezugnahme auf die Bibel wiederum eine Verbindung zum Exodus und damit »zum Typos der Erlösung«,233 die im gesamten Roman virulent ist, hergestellt wird. In der durch den »geistreichen Schriftsteller« behaupteten Identität des Schiffes mit Zion zeigt sich aber nicht nur ein Rückgriff auf die (biblische) Vergangenheit des jüdischen Volkes, sondern auch eine Zukunftsorientierung. Sie wird schon durch den Namen des Schiffes, »Futuro«, angezeigt, weiterhin durch die von Levy gestellte Forderung, das Schiff solle »alle fünfundzwanzig Jahre« wiederkehren.234 Das Prädikat des Satzes »Dieses Schiff ist Zion  !« markiert wiederum eine Gegenwartsbezogenheit, die ebenso an die Erzählzeit und die erzählte Zeit des Romans wie an die erzählte Zeit der Binnenerzählung gekop228 Sie werden als eine »Kostbarkeit der Weltliteratur« (Herzl, Altneuland, S. 146) und als »neue Platonische Dialoge« (Herzls, Altneuland, S. 145) bezeichnet. 229 Herzl, Altneuland, S. 146. 230 Hier spielt der Autor auf die Deutung der Lade als eine Art Wanderheiligtum an. Vgl. weiterhin Jer 3,16–17  : Jeremias prophezeit, dass die Bundeslade keine Bedeutung mehr haben werde, sobald Jerusalem Mittelpunkt des jüdischen Volkes geworden sei. 231 Herzl, Altneuland, S. 144 f. Vgl. dazu auch Dt 10,11. 232 In diesem Kontext ließe sich z. B. auch die im Roman immer wieder betonte Forderung lesen, die »Fremden« zu achten und zu integrieren. So gelten David Littwak und seine Anhänger – aus Sicht der »Nationaljuden« keineswegs positiv gesehen – als »Fremdenfreunde«. (Herzl, Altneuland, S. 95) Der Bezug zu Dt 10,18–19, über die Liebe zu den Fremdlingen, ist hier unübersehbar. 233 Stichwort  : Exil, in  : Maier, Judentum, S. 141. 234 Das Schiff fungiert einerseits als Archiv, als Aufbewahrungsort für die Geschichte des Landes, als Gedächtnisspeicher, andererseits soll es aber »alle fünfundzwanzig Jahre« wiederkehren, damit Altneuland immer wieder von den »Besten der Kulturwelt« beurteilt werden kann. (Herzl, Altneuland, S. 151).

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pelt ist – und darüber hinaus an die aus der Sicht des (realen) Autors erwartete Zeit. In dem Augenblick, in dem der Satz ausgesprochen und gelesen wird, fallen alle im Text evidenten zeitlichen Perspektiven zusammen. Mit der durch die Figurenrede hergestellten Relation von Schiff und Land wird aber nicht nur ein sehr spezielles und metaphorisch aufgeladenes Raummodell als handlungsrelevant etabliert. Durch die damit gleichermaßen ins Bild gesetzte Bewegung, die in der Vergangenheit ihren Ausgangspunkt hat und in der gegenwärtigen wie auch zukünftigen Zeit abläuft, wird schließlich etwas »Neues hervor[gebracht], das eine Durchbrechung historisch und sozial gegebener Ordnungen bedeuten kann.«235 Die Denkfigur, die mit einem solchen Vorgang korrespondiert, hat Michail Bachtin als Chronotopos bezeichnet. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar  ; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.236

Davon bleiben auch die verschiedenen Positionen der Autorinstanz nicht unberührt. Wenn man überhaupt an irgendeiner Stelle im Roman eine Übereinstimmung von abstraktem, implizitem und realem Autor237 annehmen kann, bzw. eine Gleichsetzung von Theodor Herzl mit einer Stimme im Text, dann in dieser kurzen Passage.238 In der Figur des »geistreichen Schriftstellers«, die sonst nie wieder auftaucht, scheint sich Herzl in den Text eingeschrieben zu haben  : 235 Hallet, Neumann, Raum und Bewegung, S. 18. 236 Bachtin, Chronotopos, S. 7. Bachtin denkt die Instanz des Lesers mit, ohne ihn allerdings näher zu untersuchen, vgl. dazu Bachtin, Chronotopos, S. 195. 237 Über das heute vielfach vernachlässigte bzw. kritisierte Autorkonzept vgl. Hannelore Link, Rezeptionsästhetik. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart 1976. Seit der Problematisierung des Autorkonzepts v. a. durch Roland Barthes (Der Tod des Autors, 1977) und Michel Foucault (Was ist ein Autor  ?, 1979) erschienen vor allem in den letzten 10 Jahren einige Publikationen, die sich um eine Neuorientierung bemühen. Vgl. z. B. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999  ; Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002  ; oder Tom Kindt, Hans-Harald Müller, Der implizite Autor. Zur Karriere eines Begriffs zwischen Narratologie und Interpretationstheorie, in  : Archiv für Begriffsgeschichte 48 (2006) S. 163–190. 238 Bachtin nimmt an, dass »sich der Autor als Schöpfer nicht schlechthin außerhalb der Chronotopoi der von ihm darzustellenden Welt, sondern gewissermaßen auf einer Tangente zu diesen Chronotopoi befindet.« Bachtin, Chronotopos, S. 194.



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Von einem geistreichen Schriftsteller wird erzählt – ich [Levy] weiß nicht, ob es wahr ist –, daß er das Schiff keinen Augenblick verlassen habe. Er soll gesagt haben  : ›Dieses Schiff ist Zion  !‹ Er beschrieb aber nachher das Land und seine Leute.239

Wenn der »Schriftsteller«/Erzähler/Herzl jenes »Zion«, das er »nachher« beschrieben hat, nie gesehen hat, das Schiff aber auch Zion ist, muss der »Schriftsteller«/Erzähler/Herzl gleichzeitig als anwesend wie auch als abwesend, als in der Zeit und außerhalb der Zeit stehend angenommen werden. Und auch Zion – das den Raum der Erzählung und den erzählten Raum bildet – ist gleichermaßen gegenwärtig und nichtgegenwärtig. Setzt man dieses poetologische Paradox in Beziehung zu der von Michel Foucault entworfenen Denkfigur der Heterotopie,240 dessen ideale Gestalt er in einem Schiff erkennt, so ergeben sich daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen. Foucault unterscheidet jene Räume, »die in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen, […] in zwei Gruppen«  : in Utopien und in Heterotopien. Utopien gelten ihm – hier durchaus gängigen Interpretationen folgend – als »Orte ohne realen Ort.« Heterotopien hingegen beschreibt er so  : Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen re239 Herzl, Altneuland, S. 146. Narratologisch liegt hier ein kompliziertes Konstrukt vor, dass sich mit Genettes Terminologie (etwas verwirrend) so formulieren ließe  : Auf der Ebene des Ro­mans handelt es sich in der von Levy erzählten Geschichte über den Dampfer »Futuro« um eine intradiegetische Erzählung (= Binnenerzählung). Auf einer zweiten Ebene liegt in der kurzen Passage über den »geistreichen Schriftsteller« eine metadiegetische (Mini-)Erzählung vor. Levy fungiert in der gesamten Geschichte, die auf dem Phonographen aufgezeichnet ist, zunächst als Erzähler, der auf einer extradiegetischen (also der Rahmenhandlung entsprechenden) Ebene autodiegetisch erzählt. Er berichtet also eine Geschichte, in der er selbst als Protagonist fungiert. In diese Geschichte schiebt er die Passage über den »geistreichen Schriftsteller« ein. In diesem Einschub kommt Levy selbst aber nicht mehr vor – »von einem […] Schriftsteller wird erzählt« [Hervorhebung P. E.] –, d. h. hier agiert er für Momente als heterodiegetischer Erzähler. Sein Wissensstand als Erzählerinstanz wechselt von der internen Fokalisierung zur Nullfokalisierung. 240 Stefanie Leuenberger widmet in ihrem Buch im Zusammenhang mit Else Lasker-Schülers Werk ein Unterkapitel den »Heterotopien«, siehe Leuenberger, Jerusalem, S. 129–138. Sie erwähnt in diesem Kontext auch kurz das Schiff »Futuro« aus Herzls Roman als Heterotopie, verfolgt diesen Zusammenhang allerdings nicht weiter. Leuenbergers Studie untersucht generell nicht die narratologischen und poetologischen Implikationen von räumlichen Strukturen, sondern die motivischen Ausprägungen des Topos ›Jerusalem‹ im Werk von Leopold Kompert, Stefan Zweig, Lasker-Schüler, Franz Werfel und Arnold Zweig und deren Bedeutung in der »Auseinandersetzung mit der Frage der Identität«. (Umschlagseite 4).

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alen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.241

Im Weiteren führt Foucault sechs »Grundsätze der Beschreibung von Heterotopien« aus, um mit dem letzten Merkmal eine gerade im Hinblick auf Herzls Darstellung der Kolonisation bedeutsame Überlegung zu formulieren. Dann nämlich, wenn Heterotopien einen »anderen realen Raum [schaffen], der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raums eine vollkommene Ordnung aufweist,« nimmt die Heterotopie eine »dem übrigen Raum« gegenüber kompensatorische Funktion ein. Und daran knüpft Foucault die  – nicht nur aus Sicht der Postcolonial Studies erstaunliche  – Frage, »ob das nicht in Teilen die Funktion mancher Kolonien gewesen ist.«242 Gelten Foucault Kolonien als Extremform der Heterotopie, so erkennt er im Schiff schließlich »die Heterotopie par excellence«. Als »ein Stück schwimmenden Raumes, […] Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer ausgeliefert« verkörpert das Schiff in den Augen Foucaults nicht nur »das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung […], sondern auch das größte Reservoir für die Fantasie«243. Foucaults Konzeption der Heterotopie und des Schiffes als Heterotopie schlechthin lassen sich im Zusammenhang mit Herzls Roman erzähltheoretisch nahtlos weiterdenken. In der Struktur des gesamten Textes kann das Schiff »Futuro« mehrere narratologisch relevante Positionen einnehmen. Zunächst ist das Schiff – wie von Foucault dargestellt – die Heterotopie, der »Gegenort«, der nicht zuletzt durch seine 500 Passagiere aus der ganzen Welt »all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert.« Fixiert wird die vorübergehende physische Anwesenheit der Gäste auf dem Schiff und in Palästina durch ihre in literarischer Form verfassten »Tischgespräche«, »eine Reihe wunderbarer Dialoge über das, was sich in Palästina schaffen ließe.« Insofern ist das Schiff »Futuro« auch ein Ort, an dem Altneuland nicht nur beschrieben, sondern auch (heterotopisch) entworfen wird.244 In den später gedruckten 241 Foucault, Von anderen Räumen, S. 935. 242 Foucault, Von anderen Räumen, S. 941. 243 Foucault, Von anderen Räumen, S. 942. 244 Schon der Name des Schiffes »Futuro« verweist auf die von Herzl erwartete Machbarkeit seiner Konzeption. Hätte er den utopischen Charakter seines Entwurfs bekräftigen wollen, hätte sich das möglicherweise auch in der Namensgebung des Schiffes niedergeschlagen. Allerdings galt der Untergang eines riesigen Schiffes namens »Utopia« in den 1890er-Jahren als größte Schiffs-



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»Tischgesprächen« soll Altneuland schließlich für all jene, denen es wie Joe Levy »nicht vergönnt [war], sie mitanzuhören«,245 nachvollziehbar werden. Die dem Leser nicht zugänglichen »Tischgespräche« ergänzen zwar auf der Oberfläche des Textes die auf Wachsrollen gebannte Erzählung Levys, auf einer Metaebene müssten sie aber darüber hinaus als unsichtbarer Teil des Romans Altneuland verstanden werden. Wenn der »geistreiche Schriftsteller« nun behauptet, dass das Schiff Zion sei, das Schiff nach Foucault wiederum eine Heterotopie verkörpert, so ist folglich auch Zion als Heterotopie anzunehmen. Heterotopien bilden nach Foucault »verwirklichte Utopien«, Utopien aber »ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume«.246 Entsprechend der immanenten Logik der auf verschiedenen Ebenen geführten Erzählung wird Altneuland tatsächlich an keiner Stelle als utopisch markiert. Im Gegenteil  : Selbst die in der Vorrede zum Judenstaat dezidierte Abweisung Herzls, dass es sich bei seinem »Entwurf« um eine Utopie handeln könnte,247 wiederholt der Autor im Roman in der Figurenrede David Littwaks  : Nach Bellamy kam der Staatsromantiker Hertzka und entwarf seine Utopie ›Freiland‹, ein brillantes Zauberkunststück, vergleichbar dem unerschöpflichen Hute eines Taschenspielers. Es sind schöne Träume oder wenn ihr wollt Luftschiffe, aber lenkbar sind sie nicht.248

Bemerkenswert ist, dass in diesem Kontext wieder das Bild eines Schiffes bemüht wird, dieses Mal in Form des unlenkbaren Luftschiffes.249 Es ist daher keineswegs nur als ein Zugeständnis an Herzls Selbstaussage zu verstehen, den Roman nicht als utopischen Roman zu bezeichnen. Wenngleich Altneuland (noch) keine politisch-territoriale außerliterarische Referenz aufweisen kann, so ist es doch in seiner imaginierten Form und mehrdeutigen kulturellen Bezüglichkeit präsent und immer wieder aktualisierbar. In diesem Sinne kann der Text selbst als Heterotopie bzw. Altneuland als heterotopischer Roman verstanden katastrophe dieser Zeit, was den meisten Lesern des Romans bekannt gewesen sein dürfte und deshalb wohl eher negative Assoziationen ausgelöst hätte. 245 Herzl, Altneuland, S. 146. 246 Foucault, Von anderen Räumen, S. 935. 247 Herzl, Judenstaat, S. 197  : »Gegen die Behandlung als Utopie muß ich meinen Entwurf zuerst verteidigen.« Schon hier bezieht sich Herzl konkret auf Hertzka. 248 Herzl, Altneuland, S. 101. 249 1896 hatte Herzl ein Feuilleton über »Das lenkbare Luftschiff« verfasst. Dazu notierte er auch in seinem Tagebuch  : »Ich glaube, dahinaus wird auch irgendwo das lenkbare Luftschiff gefunden werden. Die Schwere überwunden durch die Bewegung  ; und nicht das Schiff, sondern dessen Bewegung ist zu lenken.« Zitiert nach Bein, Herzl, S. 143.

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werden. Nicht nur das Schiff namens »Futuro«/Zukunft ist Zion, auch der Entwurf/Text ist Zion  – oder zumindest  : Er birgt Zion in sich. Und so löst sich auch der scheinbare Widerspruch jener Passage, dass »der geistreiche Schriftsteller, [der] das Schiff überhaupt keinen Augenblick verlassen« und Zion/Palästina/Altneuland deshalb auch nicht gesehen hat, »ausführlich das Land und seine Leute« beschreiben kann. Wenn Foucault in seinen Ausführungen über das Schiff als Heterotopie zum Schluss festhält, dass in »den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, […] die Träume« versiegen,250 so lassen sich daran – wie als vorformulierte Bestätigung – die zwei letzten Sätze des »Verfassers« von Altneuland anschließen  : »Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume.«251 4. Ernst Sommer Gideons Auszug (1912) Auf den ersten Blick scheint es, als lägen in Ernst Sommers 1912 publiziertem Debütroman Gideons Auszug252 ähnliche Konstellationen v. a. hinsichtlich der im Text ausgestalteten Dualitätsbeziehungen wie in Karl Tellers Altneue Menschen (1926) vor, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich eine völlig andere diskursive Grundierung, die den Roman in dieser Form als singulär dastehen lässt. Sommer reflektiert studentische Formen des österreichischen Zionismus seiner Zeit im Lichte psychoanalytischer Vorstellungen. Damit trägt er in zweifacher Hinsicht historischen Umständen Rechnung  : Einerseits galt vor Herzl »die gesamte national-jüdische Bewegung [als] eine rein studentische Angelegenheit.«253 Die Bezugnahme auf die Psychoanalyse konnte andererseits als starkes kulturelles Modernitätssignal gewertet werden, was dem vorwiegend in seiner politischen Dimension wahrgenommenen Stoff eine in diesem Kontext unvermutete Aktualität verlieh. Obwohl an keiner Stelle die Schriften Sigmund 250 Foucault, Von anderen Räumen, S. 942. 251 Herzl, Nachwort des Verfassers, in  : Altneuland, S. 193. 252 Ernst Sommer, Gideons Auszug, Wien 1912. 253 Harald Seewann, Theodor Herzl und seine getreuen Mitstreiter. Jüdisch-nationale Korporationsstudenten in Wien, in  : Das jüdische Echo. Jüdische Zeitschrift für Kultur und Politik, (1994) vol. 43, S. 119–124, hier S. 120. Vorbild für die im Roman dargestellte Verbindung war offensichtlich die Wiener Kadimah. Vgl. dazu weiter unten Anm. 30. Die Mitglieder der Kadimah unterstützen Herzl bei der Vorbereitung des 1. Zionistenkongresses 1897 in Basel. Herzl war 1883 bekanntermaßen aus der zunehmend antisemitisch agierenden deutsch-nationalen Burschenschaft Albia Wien ausgetreten. Konkreter Anlass war ein Richard-Wagner-Gedenkkommers am 5. März 1883. Vgl. dazu auch Bein, Herzl, S. 141 und S. 157, sowie Rozenblit, Die Juden Wiens, S. 165–169.



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Freuds intertextuell benannt werden, evoziert der Roman vielfach Assoziationen zu Freuds Traumdeutung (1900),254 die dem Wiener Medizinstudenten Ernst Sommer zumindest in ihren Grundzügen bekannt gewesen sein dürfte.255 Darüber hinaus bildet vor allem das Beziehungsgeflecht der Familie des Protagonisten eine geradezu klischeehaft-klassische Konfiguration im Freud’schen Sinne  : ein übermächtiger, mitunter gewalttätiger und von seinem Sohn gehasster Vater, eine als liebevoll gezeichnete Mutter, in der Tendenz inzestuös anmutende Geschwisterverhältnisse.256 Trotzdem soll im Folgenden der nach seinem Erscheinen zwiespältig bzw. überwiegend negativ aufgenommene Roman257 keiner psychoanalytischen Lektüre unterzogen werden. Vielmehr wird versucht, das 254 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Sommer auch Freuds Studie Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹, in  : Schriften zur angewandten Seelenkunde (1907) 1, kannte. Freud hatte darin die Novelle des Schriftstellers W. Jensen Gradiva hinsichtlich der »artifiziellen Träume, die vollkommen korrekt gebildet waren und sich deuten ließen, als wären sie nicht erfunden«, untersucht und die Übereinstimmung zwischen seiner eigenen Forschungsarbeit und dem »Schaffen des Dichters als Beweis für die Richtigkeit [s]einer Traumanalyse verwertet.« Siehe dazu Sigmund Freud, Traumdeutung, in  : Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Zweiter und Dritter Band, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, hg. v. Anna Freud et al. London (1942) 1948, S. 101, Anm. 1. Auch die kurze Abhandlung Der Familienroman der Neurotiker, aufgenommen in  : Otto Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. Leipzig, Wien 1909, S.  64–68, benennt familiäre Konstellationen, die an Sommers Konstruktion erinnern. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Mona Körte. 255 Ernst Sommer wurde 1888 in Iglau ( Jihlava) in Böhmen als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. Das Angebot des Vaters, das elterliche Geschäft zu übernehmen, lehnte er ab und studierte ab 1907 zunächst kurz Medizin und dann Jura an der Wiener Universität. In Wien schloss er sich einer zionistischen Studentenverbindung an. Nach Auskunft seiner Biographin Věra Macháčková-Riegerová spielte für ihn die in seiner Familie noch gegenwärtige Religiosität bald keine Rolle mehr. Allerdings machte seine Einstellung zum Judentum »eine merkwürdige Wandlung« durch, wie Sommer in einem Brief aus seinem späteren Londoner Exil an Nelly Engel 1941 mitteilte. Vgl. dazu Ernst Sommer, Der Aufruhr und andere ausgewählte Prosa, mit einer Einführung u. einer Bibliographie von Věra Macháčková-Riegerová. Wiesbaden 1976, S. 8 f. Vgl. weiterhin Věra Macháčková-Riegerová, Ernst Sommer. Leben und Werk, Acta Universitatis Carolinae. Praha 1970. Sommer war nach seiner Promotion 1912 als Anwalt tätig, neben seinem Hauptberuf wirkte der überzeugte Sozialdemokrat darüber hinaus als Rezensent, Kritiker und Schriftsteller bis in die späten 1940er-Jahre. Mit seinem in mehrere Sprachen übersetzten Roman Revolte der Heiligen (1944), 1948 unter dem Titel Revolte der Wehrlosen erschienen, legte er »das erste Werk über die Shoah vor«  ; siehe dazu auch Andreas Herzog, Ernst Sommer, in  : Kilcher, Literaturlexikon, S. 537. Ernst Sommer starb 1955 in London. 256 Dass der Protagonist seine Schwester Ruth schwängert, wie es Leah Hadomi bemerkt, stimmt nicht. Der Vater von Ruths Sohn ist ein christlicher Bauernsohn. Eine sexuelle Beziehung zwischen Ruth und Gideon wird an keiner Stelle im Text angedeutet. Vgl. hingegen Hadomi, Der zionistische Utopieroman, S. 38. 257 Z. B. Hugo Hermann, in  : Selbstwehr. Unabh. jüdische Wochenschrift in Prag, 6 (1912) 33. Siehe dazu Macháčková-Riegerová, in  : Sommer, Aufruhr, S. 10.

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Verhältnis der erzählten räumlichen (Meta)-Konstellationen und Identitätsprozesse der Figuren unter Berücksichtigung der im Text zum Ausdruck kommenden diskursiven Formationen sichtbar zu machen. Der in drei Teile gegliederte Roman erzählt die Geschichte des aus einer mährischen Kleinstadt kommenden Wiener Medizinstudenten Gideon Medigo und seiner verzweifelten Suche nach einem lebbaren Ideal, das ihm nicht nur äußeren Halt gibt, sondern auch seine instabile Psyche festigt. Zunächst findet er Anschluss in einer schlagenden zionistischen Verbindung. Seine dortigen Freunde begeistern ihn für die Vorstellungen des Zionismus Herzl’scher Prägung, doch durch die Begegnung mit einem geheimnisvollen tunesischen Juden namens Marcou Baruch, der »wie ein Wanderprediger«258 immer nur für kurze Zeit an einem Ort verbringt, wendet er sich zunehmend von der demokratisch orientierten Ausrichtung des Zionismus, wie ihn seine Couleurbrüder vertreten, ab. Er verbündet sich mit Baruch und beide wollen nun einen unter der geistigen Führung weniger Auserwählter stehenden elitären »Bund der Adeligen unseres Volkes«259 gründen. Außer Baruch selbst und Gideon hat diese Vereinigung aber keine Mitglieder. Die Verwirklichung seiner neuen zionistischen Träume, die merkwürdig undeutlich bleiben, im Laufe der Handlung zudem immer verwirrender werden und für den Leser eigentlich nicht nachvollziehbar sind, sieht Gideon gleichwohl in der Auswanderung nach Palästina. Baruch, der schon einmal im »Heilige[n] Land«260 war, will vorausgehen und Gideon nach einjähriger Frist nachkommen lassen. Im Gegensatz zu den aus Gideons Sicht pragmatisch orientierten Grundsätzen der zionistischen Partei der Verbindungsstudenten wird das einende Moment zwischen Baruch und Gideon durch eine vermeintliche »Gemeinsamkeit […] ihre[r] Seelen«261 aufrechterhalten. In Konkurrenz zu dieser angenommenen Seelenverwandtschaft, die Marcou Baruch mitunter wie das Alter Ego des Protagonisten erscheinen lässt,262 treten mehrere Frauen, zu denen Gideon Liebesbeziehungen unterhält. Die intensivste Bindung erlebt er zu dem christlichen Mädchen Toni Nunnenmacher, von dem er glaubt, »so eins und innig« könne er mit keiner Jüdin sein.263 Die Liebe zu 258 Sommer, Gideons Auszug, S. 103. Vgl. z. B. auch S. 80, hier wird Marcou von einem Verbindungsstudenten als »Vagabund« bezeichnet. 259 Sommer, Gideons Auszug, S. 102 f. Der Ausspruch ist Gideon zugewiesen, Baruch bestätigt ihn nur. 260 Sommer, Gideons Auszug, S. 69. Vgl. auch S. 107. Immer wieder wird auf die Getriebenheit Marcou Baruchs verwiesen  ; Anspielungen an das Ahasver-Motiv sind offenkundig. 261 Sommer, Gideons Auszug, S. 115. 262 Hadomi erkennt in Baruch eine »Doppelgestalt, die Fragen stellt, aber auch aktiv handelt.« (Hadomi, Jüdische Identität, S. 51). 263 Sommer, Gideons Auszug, S. 191.



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Toni, die später von ihren Eltern gegen ihren Willen mit einem anderen Mann verheiratet wird, interpretiert Gideon im Lichte seiner »heiligen Pläne«264 zwar als Unrecht, bekennt aber gleichzeitig  : »ich kann nicht anders.«265 Erst durch die Bekanntschaft mit dem osteuropäischen Schneider Saul Rapaport gelingt es Gideon schließlich, seinen »Auszug« nach Palästina tatsächlich in Angriff zu nehmen. Er fährt nach Triest, um von dort aus aufzubrechen. Doch je näher die Abreise aus Europa rückt, desto bewusster wird ihm die Verbundenheit mit Wien  : »Er spürte es an dem schmerzhaften Riß und an dem plötzlichen Heimweh. Die Hügel und Türme Wiens […] und alle Laute seiner geliebten deutschen Sprache erwachten schluchzend in seinem Erinnern.«266 Kurz vor dem Auslaufen des Schiffes nach Jaffa, erkrankt Gideon. Rapaport, der auf dem Schiff vergeblich auf ihn wartet, deutet sein Fernbleiben als Unentschlossenheit und fährt alleine. Eine frühere Geliebte, der Gideon in Triest wiederbegegnet ist und die ihn nun bis zu seinem Tode pflegt, nimmt einen an Gideon gerichteten Brief Marcou Baruchs aus Jaffa entgegen. Darin beschwört Marcou den mittlerweile Verstorbenen, »den Traum von der Erlösung« wegzuwerfen und sein »eigenes Leben« jenseits ihrer einstigen zionistischen Pläne zu leben.267 Gerade diese vermeintlich deutliche Absage an den Zionismus am Ende des Buches durch die Figur Marcou Baruchs führte, wie Sommers Biographin feststellt, zu »entrüstete[n] Diskussionen […], Feindschaft gegen den Autor nicht nur im persönlichen Verkehr, sondern auch in abschätzigen Rezensionen in der Wiener, Prager und Iglauer Presse.«268 Leah Hadomi erkennt in dem Werk zwar eine »Neigung zum Zionismus […], doch auch […] Zweifel an der Möglichkeit einer Verwirklichung der zionistischen Idee.«269 Tatsächlich scheint der Roman vor allem in der Schlusspassage den Zionismus als idealistisch-utopisches Programm, wie es Baruch vertritt, in letzter Konsequenz abzulehnen, einem an pragmatischen Zielen orientierten Zionismus steht er jedoch keineswegs ablehnend gegenüber. Die gleichwohl spürbare Ambivalenz kommt aber weniger durch dezidierte Aussagen auf der inhaltlichen Ebene des Textes zum Tragen als vielmehr durch die strukturellen Unzulänglichkeiten des Textes.270 Sehr dezidiert formuliert der Autor seine Position hinsichtlich einer als notwendig erachteten Verfasstheit der Anhänger des Zionismus  : Sie müssen den Anforderungen ihrer Ideale gewachsen sein. Im Gegensatz zu Saul Rapaport, der aus 264 Sommer, Gideons Auszug, S. 241. 265 Sommer, Gideons Auszug, S. 191, [Hervorhebung im Original]. 266 Sommer, Gideons Auszug, S. 241. 267 Sommer, Gideons Auszug, S. 255 f. 268 Macháčková-Riegerová, in  : Sommer, Aufruhr, S. 10. 269 Hadomi, Jüdische Identität, S. 38. 270 Siehe dazu auch Macháčková-Riegerová, in  : Sommer, Aufruhr, S. 9 f.

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zionistischer Perspektive positiv konnotierten Gegenfigur zu Marcou und Gideon, sind die beiden Männer allein aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur, die Baruch in seinem Brief als Schwäche charakterisiert,271 nicht in der Lage, am Aufbau Palästinas mitzuwirken. Rapaport wird in der Rezeption jedoch kaum wahrgenommen, was an der vergleichsweise oberflächlichen Charakterisierung dieser Figur liegen mag. Doch trotz der formalen und stilistischen Mängel des Romans, der Überfülle an motivischen Anspielungen, die sich im Text teils wieder verlieren, der symbolisch befrachteten Einschübe sowie des Pathos einzelner Handlungsstränge wird am Ende des Romans eine ›Botschaft‹ greifbar. Sie konkretisiert sich weniger in der Abwägung der Oppositionen Aktivität (Rapaports) versus Passivität (Gideons und Baruchs)272 oder Idealismus versus Pragmatismus, sondern in der impliziten Aussage, dass der Zionismus unabhängig von seiner jeweiligen Ausformung keinen Lösungsansatz bzw. -ersatz für subjektive Problemlagen bieten kann. Berücksichtigt man die erst im Laufe des zweiten Teils des Romans sichtbar werdenden Konstellationen in der Familie Gideons, so zeigt sich, dass die Ursache der »Identitätsverwirrungen«273 des Studenten ja nicht primär in seiner politischen Unsicherheit liegt, sondern in einem massiven Vater-Sohn-Konflikt, der geradezu exemplarisch einem Freud’schen Neurosenschema entspricht. Hierin scheint der eigentliche duale »Ich-Welt-Konflikt« der Hauptfigur, den Leah Hadomi als ein wesentliches Spannungsmoment für manche zionistischen Romane ausmacht,274 begründet. Evident wird er in mehrfacher Hinsicht  : In Gideons unsteten sozialen Beziehungen und Liebesverhältnissen, in seinen überhöhten, aber unausgegorenen politischen Vorstellungen, in seinen Männlichkeitsphantasien, den wüsten Auseinandersetzungen mit dem Vater, vor allem aber in seinen permanenten Traumzuständen. Nahezu alle zwischenmenschlichen Begegnungen Gideons, seine Beobachtungen, Erinnerungen und politischen Zukunftspläne werden von unterschiedlich intensiven Traumszenarien umwölkt. Sie werden in atmosphärischen Schilderungen der Umwelt durch den Erzähler oder einzelne Figuren, in metaphorischen Umdeutungen innerer Zustände, manchmal nur in sprachlich formulierten Vergleichen oder schlichten Benennungen, manchmal in konkreten Traumerzählungen, die zudem oft räumlich semantisiert sind, aufgerufen. 271 Sommer, Gideons Auszug, S. 255  : »Wir sind beide zu schwach, ihn [den Traum] zu erfüllen.« 272 Diese Ansicht vertritt etwa Hadomi, allerdings ohne die Figur Saul Rapaports in ihre Überlegungen einzubeziehen. Vgl. Hadomi, Jüdische Identität, S.  47 und S.  52. Die Opposition Aktivität/Passivität bestimmt z. B. auch die Figurencharakteristik und die daraus resultierenden Konflikte in Karl Tellers Roman Altneue Menschen. 273 Hadomi, Jüdische Identität, S. 42. 274 Hadomi, Jüdische Identität, S. 27.



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[Gideon] erzählte […] seinen gestrigen Traum, als beschriebe er eine Landschaft, deren bunte Farben sich hinter seinen geschlossenen Lidern zu breiten, schachbrettartig geteilten Äckern gestalteten, zu grellweißen Häusern, tiefen, saftgesegneten Wiesen und einem umwölkten veilchenblauen Himmel, der die Sonne wie einen blitzenden Kronreif um die Schläfen trug.275

Die »Reflexfigur«276 Gideons, Marcou Baruch, hebt diese Traumversonnenheit des jungen Mannes nicht etwa auf, sondern überbietet sie sogar. Darin offenbart sich die aus der Sicht der studentischen Freunde vermittelte eigentliche ›Deformation‹ dieser Figur, die letztlich auch ihre Ideen fragwürdig erscheinen lassen  : »Marcou Baruch hat die Lues.«277 Er selbst spricht von einer »leicht vernachlässigte[n] sekundäre[n] Syphilis«278. Mit anderen Worten  : Baruch leidet an einer (zur Entstehungszeit des Romans) unheilbaren Krankheit, an der er auch sterben wird. In ihrem Endstadium, der Paralyse, kann sie sich in wahnhaften Zuständen und Allmachtsphantasien des Patienten ausdrücken. Allein deshalb entziehen sich die von Marcou Baruch formulierten Ideen einer objektiven Einschätzung, da ihnen a priori der Makel der Beschädigung anhaftet. Die zeitweise Verwirrung Gideons hingegen, seine geradezu zwanghaften heroisch anmutenden Ideen, die ihm in der Konsequenz immer wieder seine Unfähigkeit, zu handeln, vor Augen führen, seine traumhaften Wachzustände wie auch seine teils nächtlichen Albträume könnten zwar ebenfalls als pathologische Symptome gedeutet werden. Dem Leser ist aber klar, dass die Ursachen dafür in der gestörten Vaterbeziehung Gideons zu suchen sind. Insofern ist Gideon nicht zwangsläufig dem Verfall ausgeliefert wie Marcou, denn seine ›Krankheit‹, die eigentlich als neurotische Störung dargestellt wird, ist transitorischer Natur und heilbar. Gelänge es Gideon, seinen persönlichen Konflikt mit dem Vater beizulegen, bedeutete das auch eine Befreiung aus jenen Verstrickungen, die ihn immer wieder an der konkreten Umsetzung seiner Ideen hindern  ; so suggeriert es zumindest der Text. Deshalb wirkt es geradezu zynisch, wenn ausgerechnet der Vater Gideon im Streit als »hysterische[n] Narr[en]« bezeichnet, der nicht wisse, was er wolle.279 Der Vater stellt also – euphemistisch ausgedrückt – die Diagnose für einen Zustand seines Sohnes, dessen Verursacher er selber ist. Der Handlungskomplex, der sich im Umfeld der Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, erhält durch die den gesamten Text durchziehenden Traumzustände Gideons eine Gewichtung, die 275 Sommer, Gideons Auszug, S. 109. 276 Hadomi, Jüdische Identität, S. 50. 277 Sommer, Gideons Auszug, S. 78. 278 Sommer, Gideons Auszug, S. 80. 279 Sommer, Gideons Auszug, S. 211.

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die Hypothese befördern, Sommer habe sich in der literarischen Gestaltung der Figur Gideons an einer Passage aus Freuds Traumdeutung orientiert  : Ein gutes Beispiel eines solchen, durch Übereinanderlagerung mehrerer Phantasien entstandenen Traums habe ich im Bruchstück einer Hysterieanalyse 1905 analysiert. Übrigens habe ich die Bedeutung solcher Phantasien für die Traumbildung unterschätzt, solange ich vorwiegend meine eigenen Träume bearbeitete, denen seltener Tagträume, meist Diskussionen und Gedankenkonflikte, zugrunde liegen. Bei anderen Personen ist die volle Analogie des nächtlichen Traumes mit dem Tagtraume oft viel leichter zu erweisen. Es gelingt häufig bei Hysterischen eine Attacke durch einen Traum zu ersetzen  ; man kann sich dann leicht überzeugen, daß für beide psychische Bildungen die Tagtraumphantasie die nächste Vorstufe ist.280

Trotzdem scheint die Annahme abwegig, dass es sich bei Ernst Sommers Werk, das teils autobiographische Züge trägt, lediglich um die Narrativierung eines psychoanalytischen Fallbeispiels und damit um eine subjektorientierte Erzählung handelt. Vielmehr führt der Roman die Geschichte einer ganzen Generation vor Augen. Der Protagonist vertritt dabei pars pro toto eine zionistisch orientierte, habsburgisch-jüdische Jugend in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg,281 die sich – folgt man der Logik des Textes – von ihren Vätern, seien sie fromm oder nicht, gelehrt oder ungebildet, arm oder wohlhabend, urban oder ländlich sozialisiert, lösen zu müssen glaubt, um den komplexen Anforderungen ihrer Zeit entsprechen zu können. Das Identitätsbegehren und die idealistische, teils unausgegorene Zionssehnsucht dieser im Roman vorgeführten Jugendbewe280 Freud, Traumdeutung, Kap. VI. Die Traumarbeit, S. 498, Anm. 1, [Hervorhebung im Original]. 281 Die erzählte Zeit stimmt in etwa mit dem Erscheinungsjahr des Romans überein. Diese ungefähre Datierung lässt sich aus zwei Zitaten errechnen  : Zum einen erklärt ein Korporationsstudent, dass er 15 Jahre »nach unserem ersten Hervortreten« Marcou Baruch kennen gelernt habe (Sommer, Gideons Auszug, S. 78). Bezieht man diese Formulierung auf die historischen Fakten, wären als Ausgangspunkt drei Datierungen möglich  : Gegründet wurde die Kadimah 1882 zunächst als akademischer Verein (u. a. von Nathan Birnbaum, Reuben Bierer und Maurice Schnirer), 1888 wurde die Umwandlung in eine schlagende Verbindung vollzogen, 1896 schließlich sprach Theodor Herzl anlässlich des Farbenkommers der Kadimah »zum ersten Mal in der jüdischen Öffentlichkeit«. Im Anschluss daran wurden in Zürich, Brünn, Berlin, Prag, Paris und anderen Städten weitere Studentenverbindungen und Vereine gegründet, die mit der Kadimah »die ersten und tatkräftigsten Mitarbeiter Herzls [wurden,] bis Herzl auf dem ersten Basler Kongreß die zionistische Organisation geschaffen hatte.« Vgl. Seewann, Theodor Herzl, S. 119 ff. Zum Zweiten bezieht sich Saul Rapoport bei seiner Abreise auf das Schiff »Futuro« aus Herzls Roman Altneuland, der 1902 erschienen ist. Wahrscheinlich ist, dass das obige Zitat (Sommer, Gideons Auszug, S. 78) auf das Jahr 1896 abhebt, die Zeit der Handlung erstreckte sich dann auf die Jahre 1911/12.



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gung scheint eingespannt zwischen den Ansprüchen ihrer leiblichen und ihrer ideologischen Väter, die sie – zumindest aus der Sicht der Väter – beide nicht erfüllen können. So beklagt es zumindest ein alter Zionist aus der Gründungszeit der »Partei«  :282 Zu meiner Zeit. Da waren noch Menschen, die für ihre Hirngespinste zu hungern wußten. Die auch keinen Bindestrich von ihrer Überzeugung opferten […] Alles oder nichts  ! Das ist ein tapferes Wort, das heute keiner kennt. Unsre Idee ist ein Börsenartikel geworden. […] Nenne mir einen […] von jener Art, wie wir sie zu Dutzenden halten [sic  !]. Menschen, die Nächte über zerlesenen Büchern verbrachten, um unsre alte Sprache zu erlernen. Die unseretwegen [der Zionisten wegen] mit Eltern und Geliebten brachen. Die in zerlumpten Kleidern und barfuß nach Osten wanderten und in Palästina Knechtsdienste verrichteten.283

Der »alte Herr« spricht also aus, was er als Notwendigkeit für das Gelingen der zionistischen Idee erachtet  : den Bruch »mit Eltern und Geliebten«.284 Andererseits verkörpert er aber selbst gerade das Dilemma, das er anprangert. Denn auch er ist nur »von Brünn hieher« nach Wien »versetzt« 285 und eben nicht nach Palästina gegangen. In keinem der hier behandelten Romane spielt das Generationenverhältnis  – hier noch zugespitzt durch die Konfrontation zwischen der ersten und zweiten politischen Generation – eine so bedeutende Rolle wie in Ernst Sommers Roman. Nicht wenige zionistische Erzähltexte vernachlässigen diese Figurenkonstellation  : Die Protagonisten – wie beispielsweise Dr. Löwenberg in Altneuland – sind dann in keine erkennbare genealogische Struktur eingebunden sind, d. h. Eltern-Kind-Beziehungen kommen im Text gar nicht vor oder spielen im Handlungsverlauf keine besondere Rolle. Eine andere Variante präsentiert Karl Teller  : In seinem Roman Altneue Menschen werden zwar die 282 Sommer, Gideons Auszug, S. 75. 283 Sommer, Gideons Auszug, S. 76. Vgl. dazu auch Seewann, Theodor Herzl, S. 120  : »Junge ›Aktive‹ und ›Alte Herren‹ der Verbindungen führten die ganze Propaganda für die jüdisch-nationale Idee der jüdischen Kolonisation in Palästina. Die Kadimahner kämpften für ihr Ideal, aber dieser Kampf füllte sie nicht aus  ; sie sehnten sich nach einer großen, befreienden Tat.« Seewann erklärt diese Tat mit der Unterstützung Theodor Herzls für die Vorbereitungen des Ersten Zionistenkongresses. 284 Im Bruch mit dem Vater sieht auch Saul Rapaport die für Gideon notwendige Voraussetzung, sich ihm anzuschließen und nach Palästina mitzugehen, siehe dazu Sommer, Gideons Auszug, S. 231 ff.: »Vielleicht mußten Sie allein sein, vom Leben abgelöst und ohne Zusammenhang mit allen festen Dingen. Damit Sie unserem unsichtbaren Bunde dienen können.« [Hervorhebung im Original]. 285 Sommer, Gideons Auszug, S. 75.

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Herkunftsgeschichten der Protagonisten in ihrem elterlichen Umfeld mehr oder weniger ausführlich erzählt. Zum Zeitpunkt des zionistischen Engagements der Söhne sind die Eltern aber tot oder sie werden als für die Handlung irrelevant aus dem Text ausgeblendet. Sommer hingegen reagiert mit seinem Roman schon sehr früh und sensibel auf jene Entwicklungen innerhalb der österreichischen zionistischen Jugend. Denn erst 1918/19 schaffte sich die Jugendbewegung mit Siegfried Bernfeld286 als ihrem bedeutendsten Proponenten durch die Zeitschriften Jerubbaal und Esra ein publizistisches Forum, in dem auch die Frontstellung zwischen Vätern und Söhnen verstärkt thematisiert wurde. Die dort geführte Debatte reichte insofern über die historisch geläufigen Varianten eines Generationenkonflikts hinaus, als sie sich häufig »zu einem Widerstreit zwischen Assimilation und Zionismus zuspitzte«.287 Die zentrale Stellung der in diesem Sinne sozial wie politisch aufgeladenen Konfrontation zwischen Eltern und Kindern führt Ernst Sommer in seinem Roman schon einige Jahre früher vor. Doch die Komplexität dieser Thematik eignete sich nur sehr bedingt dafür, fiktional jene Homogenität herzustellen, wie es den Orientierungen des politischen oder auch kulturellen Zionismus idealerweise entsprochen hätte. Insofern verwundert es kaum, dass dieser Roman, der aktuelle Problematiken im Kontext einer kollektiven (jüdischen) Sinnsuche aufzeigt, ohne dafür aber konkrete, eindeutige und unzweifelhafte identifikatorische Lösungsvorschläge anzubieten, sowohl im Umfeld eines diaspora-nationalen als auch eines zionistischen Literaturprogramms Kritik provozieren musste. Dagegen erreicht er gerade in jenen Passagen, in denen das studentische Leben der Zionisten dargestellt wird, einen hohen Grad an Authentizität, was einer jungen jüdischen Leserschaft  – unabhängig von ihren jeweiligen weltanschaulichen Ideen  – sehr entgegengekommen sein dürfte.288 Das träumerische Potenzial, das jeder Jugend vor allem im Umfeld politischer 286 Auf Initiative Bernfelds wurde 1918 z. B. der »Zentralverband der jüdischen Jugendgruppen Deutsch-Österreichs« gegründet. Vgl. dazu Armin A. Wallas, Österreichische Literatur-, Kultur- und Theaterzeitschriften im Umfeld von Expressionismus, Aktivismus und Zionismus, hg. v. Andrea M. Lauritsch. Wuppertal 2008, Kap. IV, Kulturzionismus, Expressionismus und jüdische Identität. Die Zeitschriften »Jerubbaal« (1918/19) und »Esra« als Sprachrohr und Diskussionsforum der zionistischen Jugendbewegung in Österreich, S. 133–185, hier S. 155 ff. 287 Wallas, Österreichische Literaturzeitschriften, S. 158. Vgl. dazu auch den Artikel von Alfred Kupferberg, Deutsche und jüdische Jugendbewegung, in  : Jerubbaal 1 (1918) 2, S. 258–262, hier zit. nach Wallas, S. 158  : »Heute aber […] sind es geistige Differenzen, Gegensätze zweier durch die polaren Begriffe Materialismus und Idealismus zu klassifizierenden Weltanschauungen, die den Vater vom Sohn trennen.« 288 Die Authentizität wird durch die realitätsnahen Beschreibungen der studentischen Versammlungen der an die Wiener Kadimah angelehnten zionistischen Studentenverbindung sowie des studentischen Lebens an der Universität Wien verstärkt. Die im Text diskutierten zionistischen Positionen werden einzelnen Figuren, die zum Teil historische Vorbilder erkennen lassen, zu-



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Zielvorstellungen eignet und das in diesem Roman stellvertretend an die Figur Gideons gekoppelt ist, wird vom Autor ja in doppelter Weise funktionalisiert. Einerseits (ent)stehen alle Traumbilder, selbst die konkreten Zionsträume der Hauptfigur unter dem Eindruck der ungelösten subjektiven Konflikte und der durchgängig thematisierten Diskrepanz von Wunsch und Wunscherfüllung.289 Darin äußert sich gewissermaßen in einer Umkehrung von Bezeichnetem und Bedeutetem ein realistisches Prinzip  : Die Wirklichkeit dominiert den Traum. Andererseits trägt der Traum von Zion den Keim seiner Verwirklichung – auch jenseits des autokreativen Potenzials der Zeichen, wie es Philipp Theisohn in seiner Studie über die »Urbarkeit der Zeichen« dargelegt hat  – in sich. Denn schon die biblische Erzählung vom Auszug aus Ägypten belegt die Möglichkeit der Verschiebung dieses realistischen Prinzips in einer bestimmten historischen Phase, und dann konditioniert der Traum die (erzählte) Wirklichkeit  ; diese Konstellation ließe sich als imaginäres Prinzip bezeichnen. Die darin geborgene Aussicht auf die Umsetzung der zionistischen Vision bildet letztlich die conditio sine qua non für das Entstehen eines eigenständigen literarischen Genres, der zionistischen Erzählliteratur, das sich fortan unausgesprochen darauf beziehen kann  – und vielleicht sogar muss. Erleichtert wurde diese Bezugnahme durch die säkulare Umdeutung der Moses-Figur ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die in der Konsequenz eine Dienstbarmachung der Mosesgeschichte als anti-assimilatorisches politisches und literarisches »Paradigma nationaler Selbstfindung« jenseits traditionell religiöser Vorstellungen ermöglichte.290 Darauf kann sich auch Ernst Sommer berufen  : zunächst mit dem Titel des Romans, dann mit der von Gideon und Marcou vertretenen Vorstellung einer elitären zionistischen Bewegung,291 mit der Idee Gideons vom »Gral [, der] in den Träugeordnet. So sind z. B. die Ausführungen des aus Odessa stammenden Medizinstudenten Osias Hartmann an Leon Pinskers Ideen angelehnt. 289 Leah Hadomi zählt den Roman daher zu den »zionistisch-introvertierten Utopien«. Siehe Hadomi, Jüdische Identität, S. 47. Die Markierung als »introvertierte« Spielart des Genres ›zionistischer Roman‹ überzeugt hier weit mehr als der theoretische Zugriff auf den Text als Utopie. 290 Herlinde Aichner, Moses, »unser großer Lehrmeister«, in  : Das Jüdische Echo (1998) vol.  47, S.  235–243, hier S.  237. Herlinde Aichner zeichnet diesen Prozess der Umdeutung der Moses-Figur sehr eindrücklich nach. Sie identifiziert neben Leon Pinsker, der auch Ehrenmitglied der Kadimah war, den Schriftsteller Nathan Birnbaum als einen wichtigen Proponenten im Rahmen dieses Prozesses. 291 Vgl. dazu die von Aichner angeführte Passage eines Textes von Nathan Birnbaum, die sich wie ein Prätext zu Sommers Ausführungen über die grundsätzliche Ausrichtung des ›Programms‹ von Gideon und Marcou liest  : »Die Besten unseres Volkes müssen der Moses unserer Tage sein, sie müssen ihre Arbeit beginnen und dabei ausharren, auch wenn sie, gleich dem Manne Moses, sicher sind, daß sie die Früchte ihrer Arbeit selbst nicht mehr sehen werden.« Aus  : Anonym [d. i. Nathan Birnbaum], in  : Selbst-Emancipation  !, Wien 18.5.1885, S. 2, zitiert nach

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Der erzählte Staat – Zionistische Romane

men von Hunderttausenden [liegt und] von Gaza bis Damaskus«292 reicht und schließlich mit dem Ende bzw. dem Tod Gideons auf dem Weg nach Palästina. In all diesen meist assoziativen und letztlich nicht durchkomponierten Anspielungen auf Moses eröffnet der Text dennoch den Ausblick auf eine kollektive zionistische Zukunft, die allerdings nicht nur jenseits der Lebenszeit Gideons, sondern der ganzen von ihm vertretenen Generation zu liegen scheint.293 Bezieht man sich in einer Analyse des Textes unter dem Aspekt seiner räumlichen Narrationsstruktur nun auf die zwei oben kurz skizzierten Prinzipien, so lassen sich abseits der teils recht plastisch geschilderten Schauplätze zwei topologische Grundmuster feststellen, die die identitären Probleme (nicht nur) des Protagonisten rahmen  : 1) Die Räume des Realen sowie 2) Die Räume des Imaginären und Irrealen. 4.1 Räume des Realen

Wie Theodor Herzls und Karl Tellers Roman beginnt auch Gideons Auszug in einem Kaffeehaus. Jenseits dieser intertextuellen und kulturell-topographischen Übereinstimmung bietet das Kaffeehaus als ›Insel‹ vor den Widrigkeiten der Außenwelt Wärme und Geborgenheit. Dort bespricht Gideon mit einem armen galizischen Studenten das »hochwichtige Thema der Judenfrage«.294 Im Kaffeehaus sind auch die sozialen Unterschiede, die die beiden trennen und die in ihren unterschiedlichen Wohnsituationen sichtbar werden, aufgehoben. Gleiches gilt für andere Gemeinschaftsräume, wie das Couleurcafé oder die Vergnügungslokale, die den Studenten als Treffpunkte dienen. Diese Lokalitäten öffnen buchstäblich den Raum für den Diskurs, der sich letztlich immer an der Frage nach einer ›jüdischen‹ (zionistischen) Zukunft entzündet. In einem Kaffeehaus hinter dem Universitätsgebäude trifft Gideon auch Marcou Baruch das erste Mal. Doch bei dieser Begegnung erweist sich die Zugänglichkeit und Ausgesetztheit der Gäste in der Öffentlichkeit als hinderlich. Das Gespräch kommt Aichner, Moses, S. 237. Vgl. dazu Sommer, Gideons Auszug, S. 102  : »Du wolltest einen Bund gründen […], einen Bund der Adeligen unseres Volkes […]«, oder Sommer, Gideons Auszug, S. 79  : »Unsere Bewegung muß von Einzelnen ausgehen  !« […] »Und dafür«, grollte Artmann, »verlangt ihr die Rechte einer bevorzugten Kaste  ? Eines privilegierten Adels  ?« »Gewiß  ! Oder sind Sie imstande, sich ein Heer ohne Führer vorzustellen  ?« 292 Sommer, Gideons Auszug, S. 149. 293 Damit insinuiert der Roman aber keineswegs ein Scheitern der zionistischen Bewegung. Denn selbst in den negativ gewendeten Varianten vorgeführter zionistischer Lebensentwürfe zeigt sich laut Aichner noch die Gebundenheit an das »Strukturschema der Mosesgeschichte«, die sich »wie Verfehlung zu Erfüllung« verhalte. Siehe Aichner, Moses, S. 238. 294 Sommer, Gideon, S. 7.



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nicht recht in Gang und erst in der geschützten Sphäre des Untermietzimmers von Gideon können sich die beiden schließlich verständigen. Gleichzeitig wird gerade in der Umgebung des Studentenzimmers der wesentliche Unterschied zwischen den Männern offenbar. Baruch ist willentlich ein Unbehauster, auf der ganzen Welt Umherziehender, während Gideon immer verortet und gebunden ist  : zuerst im Hause der Eltern, dann bei seinen Vermietern, einer wohlhabenden Wiener Familie, schließlich in einer eigenen Wohnung zusammen mit der Schwester Ruth. Die verweigerte Ortsbindung Marcou Baruchs manifestiert sich am deutlichsten in einem Requisit, das er immer mit sich führt  : Erde aus dem »Heiligen Land«. Durch ein Versehen verstreut Baruch diese Erde in Gideons Zimmer und hinterlässt damit konkrete Spuren des ersehnten Landes in der Studentenbude. Gleichzeitig tritt in dieser Unachtsamkeit aber auch die eigentlich disparate Haltung Marcou Baruchs im Hinblick auf seine Zionsvorstellung zutage. Wenn der Einzelgänger, der sich niemandem verpflichtet fühlt, Wien schließlich wieder verlässt, um seine Reise fortzusetzen, werden Gideon (und der Leser) noch in dem Glauben gelassen, er würde in Palästina seine eigenwilligen Ideen verwirklichen. Am Ende jedoch erfährt der Leser, dass Marcou Baruch im Angesicht des Landes Palästina all seine zionistischen Pläne verwirft. Der territoriale, begehbare Raum stimmt nicht mit seinen Träumen überein, sodass er in seinem warnenden Brief an Gideon bekennt  : Wir haben unsre Kraft an Worte und Bilder verschwendet. Wir haben unseren Besitz an die blaue Zukunft fortgegeben. Und nun bleibt uns nichts, woraus wir uns die Gegenwart unsrer Pläne bilden könnten. […] Wir haben uns mit Worten das Tor zur Wirklichkeit verrammelt. Und nun stehen wir draußen, zwei Träumer, und weinen über unser Leben.295

Die nur andeutungsweise berichtete vorgefundene Realität hält aus der Perspektive Marcous dem Vergleich mit den Imaginationen von Erez Israel nicht stand. Marcous elitäres Konzept erscheint damit als obsolet und so behält in diesem Fall das imaginäre Prinzip die Oberhand über das realistische. Der Diskurs, die Rede, hat ihm den Zugang »zur Wirklichkeit« verstellt. Die Erzählerinstanz hat aber an keiner Stelle im Text mit Marcous versponnenem Ansatz sympathisiert und insofern stellt auch dessen Scheitern nur eine letzte Konsequenz im Handlungsschema dieser Figur und der daran gebundenen Spielart des Zionismus dar. Marcou Baruch war und ist in keinem Raum des Realen beheimatet, weder am Ort seiner Herkunft, noch in Wien und am Ende auch nicht in Palästina. Er befindet sich, wie er schreibt, »draußen«. 295 Sommer, Gideons Auszug, S. 255.

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Gideon hingegen ist – mehr als ihm lieb ist und als es den Anschein hat – dem Realen verhaftet. Sein »Auszug« bedeutet deshalb nicht nur die Aufgabe der materiell abgesicherten Wohnsituation, sondern auch den Abbruch aller sein Leben bestimmenden sozialen Beziehungen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Stadt Wien. Sie ist in zahllosen Straßennamen und Quartiersbezeichnungen präsent. Ließe sich mit einem kulturwissenschaftlichen Terminus von einer mental map sprechen, die im Roman durch den Protagonisten und die Erzählerinstanz entworfen wird, so wird diese narrative Strategie auf einer zweiten Ebene und in einer entsprechenden Abwandlung mit einer emotional map unterlegt. Die Routen und Wegstrecken, die Gideon in der Inneren Stadt, der Leopoldstadt, »der alten Judenstadt«,296 aber auch in den Vorstadtbezirken begeht, werden meist mit den häufig wechselnden und ambivalenten Gefühlszuständen des jungen Mannes in Verbindung gesetzt. Insofern markieren sie – ausgehend von ihrem außerliterarischen Verweischarakter – das Werk als Wiener Roman, was in der Konsequenz zu einer doppelten Lesart des gesamten Textes führt. Gideons Auszug lässt sich gleichzeitig als Wiener Großstadtroman und als zionistischer Roman lesen. Der emphatische Gestus der topographischen Passagen wird dabei erzähltechnisch durch die Verschmelzung der Räume mit den Menschen, die sich darin bewegen, verstärkt. Dann […] durchschritt [Gideon] die lichterhelle Kärtnerstraße. Zu beiden Seiten trieben dunkle Züge von Menschen, zogen vorüber, kreuzten einander und blieben stehen, als vergnügten sich unsichtbare Hände, ein blitzendes Netz um die regungslosen Schwärme zu schlagen und ihre Beute spielend nachzuschleifen. Hinter der Johannesgasse erfaßte ihn der Wirbel und riß ihn mit.297

Und obwohl Gideon beim Durchschreiten des städtischen Raums, der durch die vielen Kappellen und Kirchen als dominant christlich konnotiert ist,298 nicht nur positive, sondern teils sehr bedrohliche Gefühle durchlebt, wird er nach seinem späteren Aufbruch nach Palästina bzw. in Triest von einer Woge des Heimwehs übermannt  : Sein großes Heimweh hatte sich zurückgewandt und jagte nun hinter ihm her. […] Wie konnten diese Zwanzig [Chaluzim  ; Studenten aus Odessa] leichten Herzens aus 296 Sommer, Gideons Auszug, S. 48. 297 Sommer, Gideons Auszug, S 4 f. 298 Z. B. Sommer, Gideons Auszug, S. 44, oder S. 120. Ruths Schwester sucht einmal sogar eine Kirche auf, siehe dazu Sommer, Gideons Auszug S. 215  : »Vielleicht ist es noch Zeit, zur Kirche zu kommen, solang die Orgel spielt und sie den alten Chor singen.«



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den Ländern ihrer Heimat fort  ? War es möglich, daß einer von ihnen jemals um sich geschaut und irgendein Ding in seiner Nähe, eine Rasenbank, einen Baum, einen blassen Ausblick oder einen dämmerigen Winkel geliebt und in die Seele eingeschlossen hatte, wenn sich diese offen und voll Hingebung an das Neue, Drängende jener Länder darbrachte und ihr Verlangen an den Duft der nie betretenen Erde verlor  ? Nein. Sie alle hatten keine Heimat […] Er aber war zu schwach, zwei Leben in sich zu ertragen.299

Diese »zwei Leben« sind räumlich durch das erlebte Wien einerseits und das imaginierte, diskursiv entworfene und geträumte Zion andererseits repräsentiert. Der daraus resultierende Zwiespalt wird in einem Gespräch zwischen Saul Rapaport und Gideon noch einmal besonders deutlich  : ›Denn Ihr Blut wird sich Nacht um Nacht tiefer an die alte Erde erinnern und alle Täler und Bäche werden Sie als Herrn des Landes grüßen.‹ ›Wie aber‹, fragte Gideon angstvoll, ›wenn mein Blut verstockt ist und sich nicht erinnern will  ? Und meine vorige Heimat allmächtig in mir ist  ?‹ ›Dann haben Sie nie ernsthaft gewollt, wonach sie Ihre Seele unaufhörlich zu sehnen vorgab.‹300

Gleichwohl scheinen für Gideon beide – sich auch immer wieder konkurrierenden –Konzeptionen von Raum und Identität keine letzte Sicherheit zu bieten.301 Ein ›reines‹, unzweifelhaftes Gefühl der Einheit und Geborgenheit erlebt Gideon nur einmal in den Erinnerungsträumen der Agonie, in denen seine Kindheit in der böhmischen Kleinstadt wiederersteht. Bis zu seinem Tode bleiben aus der Figurenperspektive Gideons also die zwei Welten des Realen und des Imaginären unversöhnt nebeneinander bestehen  : Am anderen Morgen fielen ihm alle seine Pläne ein, seine Vollbringerstunden und die Bilder seiner großen hellen Schöpferphantasien. Er weinte über sie und gab in schwermütigem Hinbrüten seinen Freunden recht, von denen er sich abgewandt hatte. Zum Schluß segnete er die Berge und den Himmel seiner Heimat und alle Menschen, denen er auf seiner Pilgerschaft begegnet war.302

Doch selbst, wenn es scheint, dass auf der Textoberfläche zuletzt Gideons Herkunftswelt dominiert, so impliziert das verborgene Moses-Motiv die Möglichkeit des ›Ausgleichs‹ in einer unbestimmten Zukunft. 299 Sommer, Gideons Auszug, S. 246 f. oder S. 241. 300 Sommer, Gideons Auszug, S. 232 f. 301 Vgl. Sommer, Gideons Auszug, S. 252 f. 302 Sommer, Gideons Auszug, S. 253 f.

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Am eindrücklichsten spiegelt sich die Gespaltenheit der lebensweltlichen Situation Gideons nicht im topographischen Gefüge der Stadt wider, sondern an einem spezifischen, der Öffentlichkeit nur bedingt zugänglichen Ort  : der Universität. Die sich dort versammelnden Studenten verkörpern in einem ähnlichen Bild, wie es Fritz Mauthner in seinem Roman Der neue Ahasver bei der Einfahrt eines Zuges in den Prager Bahnhof entwirft, die multiplen kollektiven Formationen der Habsburgermonarchie, die auch hier nicht als harmonisches Miteinander wahrgenommen werden, sondern chaotisch getrennt nach Nation, Herkunft, Sprache oder Weltanschauung  : Wirre Gesten hingen in der Luft, gleich dem Zucken vieler Arme. Dunkelbärtige Juden stritten mit vorgebeugten Schultern, die sich krümmten, wie wenn Gebirge auf sie drückten. Jargonworte durchkreuzten das ernsthafte Gemurmel slavischer Bauernstimmen […]. Zwischen den mittleren Säulenreihen wandelte eine andere Art von Studenten. Sie waren deutlich in einige Gruppen geschieden, die sich durch farbige Bänder als Verbindungen kenntlich machten. […] Gideon ließ sich ruhig bis in die Mitte der Aula vordrängen, zwischen hageren Italienern hindurch, deren leidenschaftliches Gespräch dunkel und ausgereift verklang, und maisfarbenen Serben mit lüsternen Augen, die jedes vorübergehende Weib entkleideten. Vor der schwarzen Tafel […] drängten sich hochragende kaukasische Juden. […] Eben zogen die Deutschen quer über die Aula ab. […] Eine kurze Bewegung. Die Leiber schoben sich vor, wie die straffgespannten Glieder einer Kette. Eine der üblichen Aulaausschreitungen begann.303

Auf die in dieser Passage ins Bild gesetzte Zersplitterung der habsburgischen Vorkriegsgesellschaft reagieren viele jüdische Studenten, unter ihnen auch Gideon, durch ihre Hinwendung zum Zionismus. Doch selbst die Versuche, zumindest untereinander Einheit zu stiften, gelingen nur unzureichend. So notiert Gideon in sein Tagebuch  : »Wahlen. Die Juden stehen in drei Lagern und bekämpfen sich wütend und voll Haß. Und in der Mitte unsre Partei. […] Sie haben Zion vergessen.«304 Die internen Auseinandersetzungen der jungen Zionisten finden ihren markantesten Ausdruck in einer räumlichen Ausnahmesituation. Während eines Sezierkurses im Anatomischen Institut der Wiener Universität diskutieren die Medizinstudenten nicht nur den Konnex von Eros 303 Sommer, Gideons Auszug, S. 11 f. Die in diesem Kontext teils sehr klischeehaften Schilderungen durch die Erzählerinstanz sind nicht frei von Stereotypen, was vor allem in Zusammenhang mit der Darstellung der im Text so bezeichneten »Ostjuden« auffällt. Aus der Figurenperspektive setzt der Erzähler Gideons Scham angesichts der Konfrontation mit jüdischen Kleinwarenhändlern ins Bild. Seine Freundin Annie relativiert jedoch Gideons negative Sichtweise. Vgl. dazu Sommer, Gideons Auszug, S. 48 f. 304 Sommer, Gideons Auszug, S. 193.



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und Thanatos, der als zeittypisches Motiv den gesamten Text durchzieht,305 sondern vermeintliche Erfolgsstrategien des studentischen Zionismus. Gleichzeitig deuten sich in diesem kurzen Kapitel bereits die verhängnisvolle Entwicklung des weiteren Handlungsverlaufs und Gideons Tod an. Wie in einer Parallelbewegung werden der Körper einer jungen Frau wie auch die allzu idealistischen Vorstellungen Gideons auseinandergenommen, seziert  : ›Darum will ich sie warnen, sich bodenlos tief in die Abgründe unseres Programms zu verlieren. Sie müßten verzweifeln, wenn Sie entdeckten, daß alle Wiedergeburt innerlich an der Verwesung leidet und daß Ihre Seele nach Starkem und Gesundem hungert, während Sie verbrauchte Worte um sie häufen, wie Heimweh, Mitleid, Demut.‹ Ein Windstoß kam durch die undicht schließende Tür. Der Arm der Toten schwankte hin und her und griff haltlos in die Luft. […] Die letzten Silben schienen an den unsichtbaren Wänden fortzuhallen. Als kämen sie aus dem Mund der Leiche oder zwischen den ovalen Steinplatten hervor.306

Diese Konfrontation mit dem Körper der jungen Selbstmörderin erlebt Gideon ausnahmsweise, ohne in einen Tagtraum abzugleiten. Doch nach der »Bangigkeit der Stunde im Seziersaal […] und [den] unbestimmten Träume[n], die ihn quälten«, verliert sich Gideon in einem Säbelduell gegen einen Verbindungsbruder. Er ficht wie ein »Besinnungslose[r]«.307 Im Fechtsaal erlebt er dann während des Kampfes seine eigentliche ›Initiation‹. Die dabei gefühlte Freiheit, die ihm wiederum seine zionistische Sendung bestätigt, währt allerdings nur kurz. Denn die Stärke, die der feminin gezeichnete Gideon308 vor allem in der Gesellschaft seiner Couleurbrüder und der »Genossen seiner Sehnsucht«309 verspürt, hält in seinem Zimmer, wo er neben dem Bild seiner Schwester auch Theodor Herzls Konterfei aufgestellt hat,310 ebenso wenig an wie in seiner späteren Wohnung oder gar im 305 Eine besonders markante Stelle in diesem Zusammenhang bildet eine Szene, in der der Knabe Gideon sich zu seiner älteren toten Schwester Lea legt. Siehe Sommer, Gideons Auszug, S. 100 ff. 306 Sommer, Gideons Auszug, S. 33 f. Schon in einer früheren Passage spielt der Autor auf die resignative Haltung älterer Studenten an, die ihre Ideale bereits relativiert oder aufgegeben haben. Vgl. z. B. Sommer, Gideons Auszug, S. 15  : »Leon Alkalay zuckte gleichmütig die Achseln und belächelte das Wort Ziele. Im Inneren aber begann er es zu hassen, weil es den Duft vergessener Wünsche in ihm wachrief und die Bitternis verlorener Jahre vor ihm aufsteigen ließ.« [Hervorhebung im Original]. 307 Sommer, Gideons Auszug, S. 34 f. 308 Vgl. z. B. Sommer, Gideons Auszug, S. 9 f.: »Der Spiegel […] zeigte ihm ein volles, ein wenig zu weibliches Gesicht. […] Der feuchte Glanz lief die frauenhaft gefügten Arme entlang, wölbte sich um die glatte Brust und schimmerte an den Hüften wie ein Gürtel.« 309 Sommer, Gideons Auszug, S. 15. Vgl. auch S. 57. 310 Sommer, Gideons Auszug, S. 9.

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Hause seines Vaters. Gideon ist also in hohem Maße von (sozialen) Raum-Wirkungen abhängig. Die Räume des Realen stärken oder schwächen ihn, ohne dass er diesen determinierenden Vorgängen viel entgegensetzen könnte. 4.2 Räume des Imaginären

Entziehen kann er sich den damit verbundenen Zuständen der Instabilität zumindest zeitweise in seinen Träumen, die in diesen Räumen aber auch immer wieder »wie ein Alpdrücken sind«.311 So bestätigt Gideon im Gespräch mit seiner blinden Freundin Stella einmal, dass er »fort [war]. Sehr weit fort. Obwohl [er sein] Zimmer kaum verlassen habe.«312 Tatsächlich besteht der Zusammenhang zwischen Raum und Traum aber nicht nur in der selbst gewählten Isolierung Gideons und seiner Vorliebe für intime Rückzugsorte. Auffallend ist jedoch, dass Gideons Träume und Imaginationen in vieldeutigen, semantisch aufgeladenen räumlichen Bildern erzählt werden. Dieser doppelte Konnex wird schon am Beginn des Romans eindrücklich dargelegt, wenn der Ursprung der Träume Gideons im Hause des Vaters verortet wird  : »In den hohen gewölbten Zimmern des alten Patrizierhauses wehte der Atem verwesender Jahrzehnte und die Stille waldtiefer Gräber. Sie legten sich um Gideons Stirn und lehrten ihn das Träumen.«313 Im räumlichen Bezugsrahmen des alten Hauses wird auch der psychoanalytische Diskurs, der u. a. im Vater-Sohn-Konflikt den ganzen Text maßgeblich prägt, eröffnet. Die damit verbundene zeitliche Dimension verweist in den Träumen und Grenzsituationen zwischen Wachen und Schlafen entweder auf Vergangenes oder Zukünftiges. Die Gegenwart bleibt meist ausgespart, ja, sie entzieht sich geradezu, was wiederum mit der Auflösung des erlebten Raums korrespondiert  : »Die Wände kamen näher und schlossen sich zusammen. Und die halbe Helle in den Winkeln spiegelte all sein Unbewußtes wieder [sic  !].«314 Überhaupt sind die Traumpassagen überwiegend an instabile räumliche Konstellationen gekoppelt  : Schiffe und Kähne durchkreuzen die Szenerien,315 »halbdunkle Korridore«316 tun sich auf oder ein »grundloser Brunnen«317 markiert die Unfassbarkeit des Gesehenen. Gleichzeitig sind nahezu alle Träume des Protagonisten, aber 311 Sommer, Gideons Auszug, S. 8. 312 Sommer, Gideons Auszug, S. 109. 313 Sommer, Gideons Auszug, S. 8. 314 Z. B. Sommer, Gideons Auszug, S. 4, S. 92. 315 Sommer, Gideons Auszug, S. 95 f., S. 228, S. 242 f. 316 Sommer, Gideons Auszug, S. 203. Die Passage bezieht sich auf Ruths halbbewusste Zustände, die sie in einer »Gebärklinik« durchlebt. 317 Sommer, Gideons Auszug, S. 110. Stella, die blinde Freundin Gideons, verwendet dieses Bild, wenn sie von ihren Träumen spricht.



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auch die mancher Nebenfiguren von einer mehr oder weniger verschlüsselten Verfallsmetaphorik dominiert. Marcou Baruchs »Jerucholajim«, das selbst auf der Ebene der Narration unentscheidbar zwischen Traum und Wirklichkeit hängen bleibt, wird als »Stadt der Verwesung« und als »Ort der Krüppel und Blinden« und keineswegs als verheißungsvoller Sehnsuchtsort evoziert.318 Andererseits verlangt gerade dieser Zustand der Dekadenz, der schon, wie die Bemerkung des Verbindungsbruders Gideons im Seziersaal suggeriert, auf manche Anhänger des Zionismus übergegangen zu sein scheint, neue Ansätze und Initiativen. Diese glaubt Gideon bei Marcou zu finden. Marcou wiederum erfährt in einem Traum von einem seltsamen »Grauhaarigen«, dass »das Volk selbst Messias sein und sich erneuern [müsse].«319 Daraus entwickelt Marcou dann sein elitäres zionistisches Erneuerungsprogramm. Über all diesen unzähligen Traum(an)deutungen, die den Text durchziehen, breitet sich eine dumpfe und resignative Atmosphäre aus. Hier werden keine zukunftsoptimistischen Visionen entworfen. Wenn Marcou Baruch gar davon spricht, dass ihn »unsre Königsstadt […] krank gemacht« habe, lässt sich das – ohne dass eine Auflösung dieser Ambivalenz im Text angedeutet würde – konkret auf seine physische Erkrankung, die Syphilis, aber auch auf seinen psychischen Zustand, die manische Fixierung auf sein elitäres Zionsprogramm, beziehen. Gleichzeitig kündigt sich darin aber auch schon Gideons Verfall und Tod an, denn, wie die Erzählerinstanz festhält, die »Gemeinsamkeit« der beiden Männer treibt auch »ihre Träume einander entgegen«.320 Dieses Zueinanderstreben manifestiert sich schließlich in Gideons konkretem Aufbruch nach Jaffa, wo er Marcou Baruch vermutet. Dort will er »sein Ziel« finden, das er etwa zur selben Zeit auch »in den Träumen von Hunderttausenden« erkannt haben will.321 Nichtsdestoweniger ängstigen Gideon schon vor seiner Abreise dunkle Todesahnungen. Während der Traum in der Regel geschlossene Augen voraussetzt, die dann außerdem einem Gegenüber den Blick verweigern, wird nach einer konventionellen Vorstellung mit dem Öffnen der Augen der Zugang zum Innersten einer Person, mithin zu einem subjektbezogenen Raum des Imaginären, ermöglicht. Die Augen bilden denn auch jene geradezu klischeehafte metonymische Figur, die der Autor in Zusammenhang mit der seelischen bzw. psychischen Verfasstheit der Protagonisten fast durchgängig einsetzt. Es existiert im gesamten Text keine handlungsrelevante 318 Sommer, Gideons Auszug, S. 96 ff. 319 Sommer, Gideons Auszug, S. 97 ff. 320 Sommer, Gideons Auszug, S. 115. Nur an einer Stelle erscheint Gideon ein verheißungsvolles und positives Bild »vom neuen Jerusalem«, das dem Marcou Baruchs völlig widerspricht (Vgl. dazu Sommer, Gideons Auszug, S. 195). 321 Sommer, Gideons Auszug, S. 149.

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Figur, die nicht durch die Beschreibung ihrer Augen und der damit zum Ausdruck kommenden wechselnden Gefühlszustände charakterisiert wird.322 Gleichzeitig markieren die Augen die Grenze zwischen Außen und Innen, zwischen dem Raum des Realen und dem Raum des Imaginären. Und sie ersetzen vielfach die Sprache  : Mit der Metapher der ›sprechenden Augen‹ wird selbst der Vater-Sohn-Konflikt immer wieder in eine Art Zwischenraum, in dem Realität und Imagination teils unentscheidbar erscheinen, verwiesen. So lange sich Vater und Sohn ad personam gegenüberstehen, lässt sich die verworrene Situation nicht lösen, denn der Vater beherrscht nicht zuletzt durch seinen Blick die Kinder. So klagt Ruth in einem verzweifelten Brief an ihren Bruder Gideon  : »Das Fürchterlichste sind Vaters Augen. Er weiß alles und sagt kein Wort. […] Ob Du freilich imstande bist, mir Kraft genug zu geben, dass ich Vaters Augen ertrage  ? […] Aber immer Vaters Augen um mich.«323 Als sich der Vater auf dem Höhepunkt der jahrelangen Auseinandersetzungen schließlich völlig entfremdet und endgültig von Gideon und seiner Schwester Ruth zurückzuziehen scheint, tut er dies nicht in der direkten Konfrontation, sondern in schriftlicher Form. In einem zweiten Brief allerdings bietet der Vater nach dem Tod seiner Tochter Gideon die vorbehaltlose Versöhnung an  : Es liegt vollauf bei Dir, Deinen Vorsätzen gemäß zu handeln. Auch will ich Dich nicht zu einer widerwilligen Rückkehr bereden. Doch hoffe ich, daß Du zuweilen eine Stunde unter meinem Dache rasten wirst. Du sollst nicht wie ein verlorener Sohn empfangen sein.324

Mit dieser unvermuteten Wendung gesteht der Vater Gideon einerseits die Freiheit zu, endlich seine zionistischen Pläne umzusetzen und damit den bislang nur imaginierten Raum tatsächlich zu erleben, andererseits hält er den realen Raum des väterlichen Hauses offen. Wenngleich sich Gideon zu diesem Zeitpunkt 322 Siehe z. B. Sommer, Gideons Auszug, S.  169  : »Wenn ihre beiden Körper träge am Geländer lehnten und die Augen plötzlich wie im Vorüberfluge ineinanderbrannten […], gelang es ihm flüchtig und auf Augenblicke, Tonis Wesen zu erfassen.« Weiterhin Sommer, Gideons Auszug, S. 9  : »Ihre [Ruths] großen, königlichen Augen lächelten vor sich hin, als hätte das Leben vor ihnen Sinn und Heimlichkeit eingebüßt […]«  ; Sommer, Gideons Auszug, S. 57  : »Er wandte sich hastig und begegnete drei erwartungsvollen Augenpaaren, deren zwei feindselig funkelten und eines ausdruckslos starrte.« Sommer, Gideons Auszug, S. 188  : »Der Maler Reisinger hatte fremde, zynische Augen, die mich beleidigten.« 323 Sommer, Gideons Auszug, S. 187 ff. Später verlieren die Augen des Vaters für kurze Zeit die »Macht« über Gideons Schwester, übrig bleiben dann nur noch nichtssagende Worte, siehe Sommer, Gideons Auszug, S.  198 f.: »Und seine Worte sind zum leeren Gezänk eines unverträglichen Alten geworden.« 324 Sommer, Gideons Auszug, S. 231.



Sammy Gronemann Tohuwabohu 

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zwar schon »verwaist« fühlt, bestärkt ihn der Brief des Vaters letztlich doch, sich Saul Rapaport anzuschließen. Und selbst wenn er sein Ziel nicht erreichen wird, hat er einen ersten Schritt gesetzt – und Wien verlassen. Damit referiert nicht nur der Protagonist, sondern der Roman selbst auf Theodor Herzls Nachwort zu Altneuland  : »Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum Traume.«325 Gerade deshalb ist die zeitgenössische Kritik, die dem Roman seine zionistische Grundhaltung absprechen wollte, letztlich nicht haltbar. Das individuelle Träumen Gideons geht im kollektiven Traum des Zionismus auf, unabhängig davon, ob sich für Gideon sein Traum, Palästina zu erreichen, erfüllen wird. 5. Sammy Gronemann Tohuwabohu (1920) Wenngleich Sammy Gronemanns326 und Lothar Brieger-Wasservogels327 Romane unter völlig unterschiedlichen historischen Voraussetzungen entstanden 325 Nachwort des Verfassers, in  : Herzl, Altneuland, S. 193. 326 Sammy Gronemann, Tohuwabohu. Berlin 1920 (Welt-Verlag). Im Folgenden wird zitiert nach der Ausgabe Berlin 1930 (Verlag Gustav Kiepenheuer). In den letzten Jahren hat sich ­Joachim Schlör um die Wiederentdeckung Sammy Gronemanns Verdienste erworben. Er gab u. a. den Roman Tohuwabohu (Leipzig 2000) und Schalet. Beiträge zur Philosophie des »Wenn schon  !«. Berlin 1927 (Leipzig 1998), neu heraus. Die Kriegserinnerungen Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916–18. Berlin 1924, erschienen 1984 erstmals wieder als Reprint ( Jüdischer Verlag Athenäum. Königstein/Ts.). Als Sohn eines Rabbiners in Hannover hatte Sammy Gronemann (1875 in Strasburg/Westpreußen geboren, 1952 in Tel-Aviv gestorben) zunächst Talmudstudien in Frankfurt am Main, Halberstadt und Berlin betrieben, später absolvierte er ein Jurastudium und arbeitete ab 1906 als Rechtsanwalt, Schriftsteller und Journalist in Berlin. Ab 1901 engagierte er sich publizistisch und durch verschiedene (teils ehrenamtliche) Tätigkeiten für den politischen Zionismus. Er war 1911–1933 Vorsitzender des Ehrengerichts der Zionistischen Organisation. 1933 emigrierte er zunächst nach Frankreich, dann nach Palästina, wo er auch als Theaterautor Karriere machen konnte. Über Gronemanns Biographie siehe ausführlich  : Gronemann, Sammy (Samuel), Dr. jur. Jurist, in  : Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 9, Glas–Grün, red. Leitung  : Renate Heuer, unter Mitarbeit von  : Gudrun Jäger, Manfred Pabst, Birgit Seemann, Siegbert Wolf [=Archiv Bibliographia Judaica]. München 2001, S.  315–323, sowie Hanni Mittelmann, Sammy Gronemann, in  : Kilcher, Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, S. 188 ff. Hanni Mittelmann verfasste außerdem eine Monographie über Gronemann, die zugleich einen wichtigen Beitrag zur Erschließung der heute weitgehend vergessenen deutschsprachigen zionistischen Literatur darstellt  : Hanni Mittelmann, Sammy Gronemann (1875–1952), Zionist, Schriftsteller und Satiriker in Deutschland und Palästina, [= Campus Judaica  ; 21]. Frankfurt am Main, New York 2004. 327 Lothar Brieger-Wasservogel, René Richter. Die Entwicklung eines modernen Juden. Berliner Roman in 3 Büchern. Berlin 1906. Vgl. dazu weiterhin die Ausführungen in Kap. IV. 7.

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sind und die darin zum Ausdruck kommende zionistische Ausrichtung außer ihrem übergeordneten Grundkonsens nur wenig miteinander gemein hat, beziehen sich die beiden Texte ungefähr auf denselben Zeitrahmen  : Der 6.  Zionistenkongress in Basel 1903 bildet dabei den Angelpunkt als vorläufiges Ziel und Motivation für die jeweiligen Protagonisten, ihren eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Die Pogrome von Kischinew spielen in diesem Kontext eine ebenso bedeutende Rolle. Denn ausgelöst durch die Gewaltexzesse in Russland diskutieren die Figuren, zum Teil höchst kontrovers, die Situation des Judentums in Europa. Den eigentlichen topographischen Bezugspunkt stellt in diesen beiden Werken allerdings Berlin dar. Die damit verbundene Spezifik lässt sich sowohl in der argumentativen wie in der räumlich-narrativen Struktur der Romane nachzeichnen. Die Texte referieren dabei auf jene Konfliktfelder, die sich angesichts der Entwicklungen in Deutschland zwischen den Verfechtern einer bedingungslosen Aufgabe religiöser Lebensformen, den Vertretern der jüdischen Orthodoxie, den Liberalen und den Anhängern verschiedener nationaljüdischer und zionistischer Strömungen auftaten.328 Die christlichen Figuren beziehen in diesem Umfeld unterschiedliche, mit wenigen Ausnahmen aber nahezu durchgängig negative Positionen gegenüber den jüdischen Protagonisten. Selbst in Situationen, wo sie vermeintlich wohlwollend agieren, bestimmen antisemitische Vorurteile oder stereotype Vorstellungen ihr Handeln. In den drei im Rahmen dieser Studie vorgestellten zionistischen Werken, die in der Habsburgermonarchie angesiedelt sind, spielt der Antisemitismus als direkter oder indirekter Auslöser für die Hinwendung der Figuren zum Zionismus keine so große Rolle wie in diesen zwei aus deutscher Perspektive verfassten Romanen  ; gleichwohl lässt sich daraus noch keine allgemeine Aussage ableiten. In beiden Texten kristallisieren sich schließlich aus der Gegenüberstellung verschiedener jüdischer und nichtjüdischer Gesellschaftsgruppen, jeweils repräsentiert durch einzelne Figuren, allmählich jene Ideen heraus, die von den Erzählerinstanzen offenkundig favorisiert werden. Dass sich daraus aber nur bedingt Schlussfolgerungen bezüglich der weltanschaulichen Ausrichtung von Gronemann und Brieger-Wasservogel ziehen lassen, versteht sich von selbst. Während das zionistische Engagement Brieger-Wasservogels im Wesentlichen auf seinen Roman beschränkt blieb, wurde es Sammy Gronemann, dem Sohn eines orthodoxen Rabbiners, zur Lebensaufgabe. Er verfasste schon sehr früh publizistische Beiträge, in denen er sich mit den ablehnenden Argumenten der deutschen Ortho-

328 Vgl. dazu aus zeitgenössischer Perspektive Moritz Friedländer, Politische Strömungen im heutigen Judentum, in  : Zeitschrift für Politik, 4 (1910) 1, hg. v. Richard Schmidt u. Adolf Grabowsky, S. 169–190. Unübersehbar ist in diesem Artikel allerdings der antizionistische Gestus.



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doxie auseinandersetzte329 »und versuchte die orthodoxen Positionen im Sinne des Zionismus neu zu interpretieren.«330 In seinen auf Hebräisch veröffentlichten Erinnerungen331 erkennt Hanni Mittelmann vor allem »die extreme Verunsicherung des deutschen Judentums durch den anwachsenden Antisemitismus«, der Gronemann »die Geborgenheit in der jüdisch-traditionellen Lebensführung sowie die Bewegung des politischen Zionismus als einzige[n] logisch und emotionell befriedigende[n] Weg aus der privaten wie kollektiven Krise des deutschen Judentums« entgegensetzen wollte.332 5.1 ›Klassifikationen‹ des Raums

Die Divergenz der diesbezüglich in mehrere Richtungen geführten außerliterarischen Debatten spiegelt sich auch in Sammy Gronemanns Roman, dessen Titel auf Gen 1,2 anspielt, wider.333 Auffällig wirkt auch in diesem Zusammenhang das narrative Arrangement von Raum, konkreter Örtlichkeit und Identität. Zunächst setzt der Autor die tendenziell auf Antagonismen basierenden Beziehungen zwischen den Figuren und den ihnen zugewiesenen Räumen ins Bild. 329 Vgl. z. B. Sammy Gronemann, Israelitische Rundschau, 10. Juni 1902, Nr. 24  : »Wir dürfen bei dem erbitterten Kampf, der unter der Flagge der Orthodoxie gegen uns geführt wird, nicht vergessen, daß ohne die Taten der Orthodoxie es heute bei uns kein Judentum gäbe,  – kein religiöses und kein nationales.« 330 Hanni Mittelmann, »Hoffen wir, daß er recht behält  !« Zionismus und Orthodoxie bei Sammy Gronemann, in  : Das Jüdische Echo (1998) vol. 47, S. 273–285, hier S. 274 f. Hanni Mittelmann erörtert dieses schriftstellerische und publizistische Engagement Gronemanns ausführlich anhand teils auch unveröffentlichter Quellen. Dass in Tohuwabohu mitunter auch Vertreter der Orthodoxie satirisch darstellt sind, widerspricht dieser These weniger, als es diese bestätigt. Vorgeführt werden Verhaltensweisen, die seitens der Erzählerinstanz und teils aus der Figurenperspektive kritisiert werden, um im Gegenzug eine angemessene zionistische Haltung zu propagieren. Vgl. z. B. Gronemann, Tohuwabohu, S. 144–147. 331 Vgl. dazu Mittelmann, Zionismus, S. 285, Anm. 1  : Teil 1 der Erinnerungen wurde unter dem Titel Sichronot schel Jekke 1946 in Tel Aviv publiziert (übersetzt ins Hebr. von Dov Sadan). Das deutsche Typoskript von Teil 1 und 2 liegt im Zionistischen Central-Archiv in Jerusalem und im Leo Baeck Institute in New York. Teile davon siehe in  : Monika Richarz (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd.  1. Stuttgart 1976, S.  431–435, sowie in Band  2, Stuttgart 1979, S. 391–419. 332 Mittelmann, Zionismus, S. 273. 333 Vgl. Gen 1,2  : »die Erde aber war wüst und wirr.« (Einheitsübersetzung) Buber und Rosenzweig übersetzten Tohuwabohu mit »Irrsal und Wirrsal«. In jedem Fall bezieht sich der Titel auf einen noch zu schaffenden (geordneten) Zustand, der aus dieser »Irrsal« hervorgehen werde. Schon in Altneuland wird auf dieses Tohuwabohu Bezug genommen, wenn es nämlich u. a. in der Rede Littwaks in Neudorf heißt  : »Die älteren von euch wissen, wie es hier vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, wie öd und wüst.« (Herzl, Altneuland, S. 105).

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Ins Fließen geraten diese scheinbar fixierten Verhältnisse vor allem durch die Reisebewegungen einzelner Figuren. Die darin zum Ausdruck kommende Dynamik bleibt aber nicht allein auf die geographischen Ortswechsel beschränkt, sondern sie berührt die Identitätskonzeptionen der Figuren. Die verschiedenen Räume und Lokalitäten werden von den handelnden Personen in unterschiedlicher Weise sowohl physisch als auch argumentativ ›besetzt‹. Ändert sich die narrativ einmal eingeführte Relation zwischen einer Figur und einem bestimmten Raum, wird in der Konsequenz hinsichtlich der identitären Kohärenz und Stabilität der Figur oft auch eine Relativierung ihrer Anschauungen angezeigt. Die Differenzen zwischen den Figuren können dabei ebenso räumlich konnotiert sein wie deren (temporäre) Aufhebung. Die Deutungshoheit, die über die vermeintliche Richtigkeit eines Standpunkts oder der Argumentation einer Figur bestimmt, unterliegt dabei keineswegs nur einem neutral organisierten Prozess der Ausverhandlung, der in der immer selben Weise ablaufen würde. Denn den (erzählten) Räumen und Orten sind teils Machtstrukturen eingeschrieben, die sich stärkend oder schwächend auf die Positionierung der sich dort bewegenden Personen auswirken (können). Das wird z. B. in einem Gespräch zwischen dem deutschen Pastor Bode und einem russischen Gouverneur in dessen Amtssitz anschaulich  : ›Ich vermag an die Ernsthaftigkeit dieser Deduktion nicht zu glauben.‹ ›Sie werden wohl oder übel daran glauben müssen, lieber Herr Pastor‹, sagte der Gouverneur mit Nachdruck. Er erhob sich plötzlich und sah bedeutungsvoll auf den Pastor herab, der sich aus seinem Sessel nicht erheben konnte, so dicht vor ihm stand die Riesengestalt des Gouverneurs. ›Sie werden lernen müssen, das große Ganze im Auge zu behalten. Alles in Rußland hat sich dem großen russischen Gedanken unterzuordnen, – auch die Juden, – auch die Deutschen.‹334

Die materiellen Besitzverhältnisse oder politischen Hierarchien stellen in diesem Zusammenhang signifikante Indikatoren dar, aber auch die fehlende oder vorhandene Anerkennung funktionaler oder symbolischer Ordnungen, wie sie zum Beispiel in Gemeinschaftsräumen, etwa der Synagoge, gegeben sind. Durch »die Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre socialen Gestaltungen und Energien erfahren«,335 kommt es auch immer wieder zu Umschlägen im Handlungsverlauf. Damit gehen aber nicht nur Veränderungen auf der Ebene der histoire, sondern auch des discours einher. Die immanente Bewertung kultureller, religiöser und/oder politischer Standpunkte, die im Text 334 Gronemann, Tohuwabohu, S. 217–226, hier S. 224. 335 Simmel, Über räumliche Projektionen, S. 201.



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debattiert werden, verschiebt sich dann entsprechend. Generell lässt sich feststellen, dass in Gronemanns Roman einzelne Orte und Lokalitäten, aber auch die geographischen und politischen Großräume Russland und Deutschland, einem Klassifizierungsschema unterliegen  : Graduell abgestufte, aber letztlich doch dichotome Vorstellungen wie arm–reich, jüdisch–nichtjüdisch, alt–jung, Ost–West, zionistisch–nichtzionistisch bestimmen die narrative räumliche (Zu-)Ordnung. Dementsprechend verlaufen die von Gronemann überdeutlich gezeichneten Trennlinien zwischen dem »satirisch geschilderten unauthentischen [Leben] deutscher Juden aller religiösen und ideologischen Ausrichtungen [und] dem Zionismus, der als logische Konsequenz dieses unhaltbaren Zustands allein zu einer authentischen Existenz zu führen« verspricht.336 Schon auf dem Stadtplan Berlins lassen sich die Gegensätze verorten  : Pauschal gesprochen, findet authentisches Leben, was hier zunächst traditionell religiöses meint, in den unter dem Signum Scheunenviertel337 bekannten ärmlichen Straßenzügen rund um die Dragoner-, August- und Grenadierstraße statt, auch die zionistischen Debatten werden vorwiegend hier geführt. Das dem Judentum in jeder Hinsicht entfremdete, traditionsvergessene Leben wohlhabender Familien spielt sich hingegen im Westen der Stadt in der Nähe des Tiergartens ab  ; repräsentiert wird es vor allem durch die Familie Lehnsen, vormals Levysohn. Der getaufte Herr Lehnsen leugnet allerdings, dass Religiosität im aufgeklärten Berlin überhaupt noch eine Rolle spielt und so rechtfertigt er seinen Übertritt zum 336 Mittelmann, Zionismus, S. 273. 337 Über das Scheunenviertel vgl. u. a. Texte bzw. Textauszüge aus Artur Landsbergers Berlin-Romanen  ; Kurt Münzer, Jude ans Kreuz (1928)  ; Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Kap. Berlin, (1927), in  : Werke, hg. v. Hermann Kesten, 3. Bd. Köln 1976  ; Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger, hg. v. Michael Bienert. Köln 1996  ; Alexander Granach, Da geht ein Mensch (1945). München 1973  ; Alfred Eloesser, Die Straße meiner Jugend. Berliner Skizzen. Berlin 1987  ; Sling (Paul Schlesinger), Richter und Gerichtete. Berlin 1929  ; Martin Beradt, Die Straße der kleinen Ewigkeit. Frankfurt am Main 1965. Einblicke in das Berlin der 1920erund 1930er-Jahre gibt die Anthologie von Elke Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, mit einem Vorwort von Günter Kunert. Berlin 1981. Siehe außerdem Peter Sprengel, Scheunenviertel-Theater. Jüdische Schauspieltruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900–1918). Berlin 1995, sowie ders., Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877–1933. Berlin 1997  ; Joachim Schlör, Berlin  II  – »Traum- und Notstadt der Juden«, in  : Willi Jasper, Julius Schoeps (Hg.), Deutsch-jüdische Passagen. Europäische Stadtlandschaften von Berlin bis Prag. Hamburg 1996, S. 63–81  ; Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Lebens, hg. v. Verein Stiftung Scheunenviertel. Berlin 1994, sowie verschiedene Publikationen der »Edition Scheunenviertel«. Nicht nur auf das Scheunenviertel beziehen sich Texte in  : Jüdisches Städtebild Berlin, hg. v. Gert Mattenklott, mit einer stadtgeschichtlichen Einführung von Inka Bertz u. 27 Fotografien v. Wolfgang Feyerabend. Frankfurt am Main 1997, sowie in dem Sammelband  : Juden in Berlin 1671–1945. Ein Lesebuch. Berlin 1988.

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Christentum gegenüber dem Rabbiner als letzten Schritt in eine Gesellschaft, die seiner Ansicht nach ohnehin keine Differenzen mehr kennt  : In allen Anschauungen der Ethik und Moral existiert zwischen einem aufgeklärten Juden und einem eben solchen Christen keinerlei Unterschied. An das Zeremonialgesetz habe ich seit langem mich nicht gehalten. […] Da also doch schlechterdings jeder Unterschied zwischen mir und meinen nichtjüdischen Mitbürgern weggefallen war – oder ist das Judentum nach Ihrer Ansicht noch etwas anderes als eine religiöse Angelegenheit  ? – Haben sich etwa Ihre Ansichten so grundlegend geändert, Herr Dr. Magnus, daß Sie eine jüdische Nation anerkennen  ? […] Da habe ich eben die Konsequenz gezogen […]. Ich glaube nicht mehr und nicht weniger als hier in Berlin Hunderttausende von Christen und Juden.338

Trotzdem bemüht sich die Familie Lehnsen, alles, was innerhalb ihres Wohnund Arbeitsbereichs noch auf ihre jüdische Abkunft und damit auf ihre – aus christlicher Sicht nichtsdestoweniger bestehende – Differenz hindeuten könnte, räumlich zu eliminieren oder fernzuhalten  : »Im Hause [Lehnsen] wurde nichts Jüdisches gepflegt oder auch nur geduldet. Die Juden, die ins Haus kamen, wiesen in der Art ihres Auftretens keine erkennbaren Unterschiede auf.«339 Dass diese Form der Lebensführung aus der Perspektive der Erzählerinstanz aber zum Scheitern verurteilt ist, zeigt sich u. a. daran, dass die Familie letztlich weder von der jüdischen noch von der christlichen Gesellschaft unvoreingenommen akzeptiert wird.340 Der erzählten Stadt Berlin, der trotz ihrer lebensweltlichen Komplexität in ihren räumlichen Narrativen also immer wieder dichotomisch wirksame Strukturen unterstellt werden, ist in nicht wenigen Romanen und so auch hier eine mental map unterlegt, die hinsichtlich der Herkunft ihrer jüdischen Einwohnerschaft vor allem einen Ost-West-Gegensatz anzeigt. Seit Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver wird diese räumliche Konstellation in der jüdischen Großstadtliteratur geradezu topisch eingesetzt. In Gronemanns Roman werden die akkulturierten jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner aus »Berlin-W«, die sich in ihrem bürgerlichen und großteils areligiösen Leben eingerichtet haben, tendenziell kritisch bewertet. Obwohl sie sich ihrem Selbstverständnis 338 Gronemann, Tohuwabohu, S.  94 [Hervorhebung im Original]. Die Wohnung der Lehnsens befindet sich in der Mattäikirchstraße 8 (siehe Gronemann, Tohuwabohu, S. 67). 339 Gronemann, Tohuwabohu, S. 167. 340 Siehe z. B. Gronemann, Tohuwabohu, S. 102 ff. In dieser Passage schildert der Autor, wie Heinz Lehnsen von einem christlichen Berufskollegen mit einem Gerichtsakt befasst wird, in dem es um beschädigte Früchte, Etrogim für das Laubhüttenfest, geht. Und das, obwohl dieser weiß, dass der junge Lehnsen »so wenig wie er über die Materie informiert« ist.



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nach frei und unabhängig wähnen, scheinen sie sich aus ständiger Sorge um die Reaktionen ihrer christlichen Umgebung einzuschränken. Das zeigt sich auch in ihrer Zurückhaltung, den verfügbaren Raum (der Großstadt) auszuschreiten. Ihre potenzielle Bewegungsfreiheit nutzen sie kaum – weder im konkreten, noch im metaphorischen Sinn  – und so verharren sie im Wesentlichen an ›ihrem‹ Ort, in ›ihrem‹ Stadtteil, d. h. sie begrenzen sich selbst. Obwohl es zunächst den Anschein hat, als gelte Analoges für die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel, vermittelt der Text, dass die aus den russischen Schtetlach Zugewanderten – wenngleich nicht immer freiwillig  – mobiler, flexibler und letztlich unabhängiger sind. Sie transferieren zunächst ihren Herkunftsraum in die Metropole, indem sie an ihren sozialen und religiösen Praktiken festhalten. Allerdings bleibt auch ihnen ein Großteil der Stadt verschlossen  : Denn sie verstehen die Stadt und ihre Bewohner nicht immer. Der westeuropäische städtische Raum entzieht sich ihnen weniger in seiner ontologischen Dimension als vielmehr konnotativ und mental. Dass ihnen auch der ersehnte bescheidene Wohlstand meistens verwehrt bleibt, bringt Joseph Roth einige Jahre nach dem Erscheinen von Tohuwabohu ebenfalls mit einem räumlichen Phänomen in Zusammenhang. Gilt ihm Berlin zwar einerseits als bloße »Durchgangsstation«, das heißt als Ort der Durchlässigkeit, der wenig Bindungskraft besitzt, so erscheint andererseits das »jüdische Viertel« als ›dichter‹ Ort, der Bewegung und Durchkommen erschwert, der Stagnation erzeugt  : Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin  ? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen verweilt. Berlin hat kein Ghetto. Es hat ein jüdisches Viertel. Hierher kommen die Emigranten, […] hier bleiben sie oft stecken. Sie haben nicht genug Geld. Oder ihre Papiere sind nicht in Ordnung.341

Einige Kapitel in Gronemanns Roman lesen sich wie Bestätigungen zu diesem Zitat Joseph Roths. Um ein bisschen Geld zu verdienen, reist zum Beispiel Wolf Klatzke aus Borytschew nicht ganz freiwillig über viele Umwege nach Berlin  : Und deshalb hat man auch in Deutschland ganz besondere Einrichtungen erfunden, um aus jedem russischen Juden einen Schnorrer zu machen und um zu machen, daß an jedem Schorrer möglichst viel Gemeinden und Menschen ihre Freude haben. – Ich bin damals nach Thorn gekommen  ; ich bin gleich zur jüdischen Gemeinde gegangen und habe ganz ehrlich gesagt, was mit mir ist, – daß ich nach Berlin möchte und sehen, daß ich dort was verdiene. […] Nach Berlin, haben sie gesagt, können sie mich nicht 341 Roth, Juden auf Wanderschaft, hier zitiert nach der Ausgabe Köln 1976, 1985, S. 47.

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schicken, – das ist zu weit, – und sie haben mich mit der Bahn ein paar Stationen weit zu einer anderen Stadt geschickt. […] und dann wieder irgendwohin geschickt. Und so ist es immer weiter gegangen […] Durch ganz Deutschland hat man mich geschleppt, – hin und her.342

Endlich in der Hauptstadt angekommen, verfasst Klatzke schließlich gegen Bezahlung Schnorrer-Briefe an begüterte jüdische Familien. Doch letztlich findet er auch in Berlin kein sicheres Auskommen. Nicht nur Klatzke sieht sich deshalb immer wieder dazu gezwungen, sich zu bewegen  – in jeder Hinsicht.343 Das äußert sich in seinen Reisen sowie innerhalb der Stadt im Überschreiten der sozialen und kulturellen Grenzen, die topographisch zwischen dem Scheunenviertel und dem Berliner Westen eingezogen sind. Aus der Sicht der gut situierten Städter wird diese soziale Grenzübertretung allerdings als unerlaubtes Eindringen in ihre Sphäre interpretiert. Wenn es vereinzelt zu Begegnungen zwischen den akkulturierten Berliner Familien und den osteuropäischen Einwanderern kommt, zeigt sich die zwischen den beiden Gruppen kaum zu überbrückende Fremdheit überdeutlich. So reagiert Frau Lehnsen »entsetzt […] mit einem kleinen Schreckensruf, als im Türrahmen neben Heinz die Gestalt eines russischen Juden erschien.«344 Als Heinz Lehnsen wiederum zum ersten Mal das Scheunenviertel aufsucht und […] in diese ihm bisher völlig fremde Straße [die Dragonerstraße] einbog, machte er große Augen und fragte sich, ob man nicht auch hier schon sein Paßvisum fordern würde. Er befand sich augenscheinlich nicht mehr in Berlin oder Deutschland, sondern auf irgendeine zauberhafte Weise in eine russische oder galizische Judenstadt versetzt. […] ›Jetzt kommen die feinen Damen und Herren vom Tiergarten schon zu den russischen Juden, um Geld zu holen  ! – Das ist doch gar eine verkehrte Welt  !‹345

Analog zu Berlin mit seiner osteuropäisch-jüdischen Enklave führt der Erzähler einen Schauplatz in Russland ein, das Schtetl Borytschew, das ebenfalls zweigeteilt erscheint  : Unter der dort überwiegend jüdischen Bevölkerung lebt eine deutsch-christliche Minderheit. Das ›jüdische‹ Russland wird in diesem Kontext  – durchaus auf die real-historische Situation referierend  – in doppel342 Gronemann, Tohuwabohu, S. 61. 343 Erhard Schütz bezeichnet die Stadt Berlin um 1900 aus jüdischer Perspektive deshalb nicht von ungefähr einmal als »Heimat der Beweglichen«. Schütz, Berlin, S. 75. 344 Gronemann, Tohuwabohu, S. 184. Dieser russische Jude entpuppt sich wenig später als Frau Lehnsens Cousin. 345 Gronemann, Tohuwabohu, S. 260 ff.



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ter Weise funktionalisiert  : Zunächst als Raum, in dem traditionelles jüdisches Leben stattfindet, andererseits aber als Raum der Unterdrückung. In Berlin entfällt zwar die politische Verfolgung, die Armut, eine soziale Form der Suppression, bleibt für die Einwanderer gleichwohl bestehen und unüberwindbar. In Borytschew fällt die Rolle der Zuwanderer, am augenfälligsten vertreten durch einen antisemitischen Lehrer und den evangelischen Pastor Bode, deutschen Protestanten zu. Obwohl es auf den ersten Blick wirkt, als lebten Juden und Nichtjuden, Russen und Deutsche friedlich mit- oder zumindest nebeneinander, so spitzt sich um die Zeit des Osterfestes die Lage dramatisch zu. Unter der christlichen Bevölkerung wird die Ritualmordlegende aktualisiert, wodurch die mit Zustimmung des russischen Gouverneurs ohnehin angeheizte Stimmung eskaliert. Hier bezieht sich der Autor auf die Pogrome von Kischinew vom 6. bis 8.  April 1903,346 in deren Gefolge weitere Ausschreitungen in Russland stattfanden. In Tohuwabohu fungiert Russland jedoch nicht nur als Raum kollektiver Bedrohung sowie als letzter Hort authentischen jüdischen Lebens, sondern auch als jene Region, in der sich trotz oder wegen der gefestigten Lebensweise ihrer jüdischen Bewohner vor allem bei der Jugend eine selbstbewusste, ja, kämpferische (zionistische) Haltung,347 wie sie im Westen nicht vorhanden ist, herausgebildet hat. Das vereinte Nebeneinander von Altem und Neuem demonstriert der Erzähler wiederum im Bild einer räumlichen Anordnung, wie sie »im neuen Lehrhaus« von Borytschew ihren Ausdruck findet. Obwohl »das Betreten der Lehr- und Betstuben für Frauen im Allgemeinen streng verpönt« ist, beteiligen sich auch junge Frauen an den dort stattfindenden politischen Versammlungen.348 So wird mit einer eigentlich unspektakulären Schauplatzwahl die westliche Vorstellung über die vermeintlich erstarrten Formen orthodoxen Lebens in Osteuropa desavouiert. Während in einem »halbdunklen Stübchen« die jungen Leute über die »Ernteaussichten in Palästina«, über ideologische Vorstellungen von »Heimat« und die Chancen des Zionismus diskutieren, beschäftigt im »großen Betsaal« einige »ältere Männer« eine Talmudstelle. Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Interessen teilen sich die zwei Generationen den Raum (des Lehrhauses). Dass sie aber nicht nur räumlich miteinander verbunden sind – nur 346 Gronemann, Tohuwabohu, S. 198. Im April 1903 wurden bei Pogromen 45 Menschen ermordet und Hunderte verletzt, 700 Häuser und 600 Läden wurden zerstört. Kischinew besaß mit rund 80.000 Juden einen jüdischen Bevölkerungsanteil von über 68 %. Siehe Stichwort  : Kischinew, in  : Philo-Lexikon, S. 382. 347 Gronemann, Tohuwabohu, S  : 198  : »Nach Goethe der Browning  ! Europäische Kultur und europäische Barbarei drangen über die Mauer des großen Ghetto im Osten. Die jüdische Jugend in Borytschew war nicht gewillt, sich ohne Widerstand hinschlachten zu lassen, wenn es zu einem Pogrom kommen sollte  ; und es sah sehr danach aus.« 348 Gronemann, Tohuwabohu, S. 200.

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eine Tür, die sie öffnen und schließen, trennt sie –, wird allein durch ihre analoge Wortwahl im Sprechen übereinander signalisiert  : ›Drin debattieren sie über Zeugenvernehmungen vor dem Synhedrion in Jerusalem. Eine Wichtigkeit  ! – diese Alten  !‹349 […] ›Wißt ihr, worüber die da drinnen sprechen  ? Über Pogrome, – über Selbstwehr  ! Eine Wichtigkeit  ! Diese Jungen  !‹350

Mit der Darstellung der jungen russischen Jüdinnen und Juden als entschlossene zionistische Kämpfer reagiert der Autor vor allem auf die Ablehnung des Zionismus seitens der deutschen Orthodoxie. Obwohl Gronemann dabei das osteuropäische Judentum mitunter in ähnlicher Weise wie z. B. Arnold Zweig idealisiert, wird  – im Gegensatz zu seinen Kriegserinnerungen Hawdoloh und Zapfenstreich – im Roman diese Tendenz allein durch den Verlauf der vielschichtig angelegten Handlung und die satirischen Einschübe immer wieder gebrochen. Die räumlichen Strukturen in Tohuwabohu beziehen sich auf der Makroebene also auf die deutsche Hauptstadt Berlin und das russische Schtetl Borytschew, mithin auf den Gegensatz zwischen West und Ost, der aber nicht nur geographisch gemeint, sondern kulturell, politisch und weltanschaulich aufgeladen ist. Auf der Mikroebene, die vor allem durch die Verortung der Geschehnisse in unterschiedlichen sozialen Wohnsituationen, in der Synagoge, der Betstube oder im Lehrhaus etc. gegliedert ist, werden Bewertungen der vorgetragenen ideellen Positionen wiederum durch räumlich codierte Signale vorgenommen. Das lässt sich am deutlichsten an den Debatten über ein zeitgemäßes Judentum und jüdische Identität ablesen, die sowohl diskursiv als auch performativ durch religiöse Rituale und die Alltagspraxis der Figuren im Text vorgeführt werden. Im Kern geht es den konkurrierenden Gruppen oder Personen um die Suche nach einer Lebensform, die gleichermaßen ihre religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Ansprüche abdeckt. Die (Verhandlungs-)Räume sind dabei selbst in diesen Prozess einbezogen, indem sie sowohl zeichenhaft durch Symbole und Rituale als auch durch die Körper, die sich darin bewegen, in ihrem ursprünglichen Bedeutungsspektrum gestärkt oder erschüttert werden können. In einer Art Wechselspiel wirken die Räume dann wieder auf die Menschen zurück. Welche Figuren sich im Laufe der Handlung in bestimmten räumlichen Umgebungen durchsetzen können, hängt jedoch nicht nur von materiellen Besitzverhältnissen oder hierarchischen Zuordnungen ab, sondern auch von der (räumlichen) Präsenz und der argumentativen Schlagfertigkeit der Agierenden. 349 Gronemann, Tohuwabohu, S. 206. 350 Gronemann, Tohuwabohu, S. 211.



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Überraschenderweise setzt der Roman mit einer Szene ein, die räumlich-narrativ und intertextuell auf eine Erzählung von Karl Emil Franzos aus seiner Textsammlung Aus Halbasien (1877) verweist  : Das russische Schtetl Borytschew bildet damit den topographischen und poetologischen Ausgangspunkt des Romans. Das Einleitungskapitel, unterteilt in fünf Unterkapitel, ist in offenkundiger Anlehnung an Franzos’ Erzählung Schiller in Barnow mit Goethe in Borytschew überschrieben.351 Doch die beiden Texte weisen nur oberflächliche Analogien auf  : nämlich in der Schilderung der Leseszenen im Schtetl. In beiden Texten setzt die für orthodoxe Jüdinnen und Juden eigentlich unerlaubte bzw. unerwünschte Lektüre profaner deutscher Literatur, bei Franzos Werke von Schiller, bei Gronemann Goethes Faust, die Handlung in Gang.352 Die immanente Bewertung des Dargestellten fällt hingegen recht konträr aus. Beschwört Franzos in der Schlusspassage seiner kurzen Erzählung eine aus einer gemeinschaftlichen Schiller-Lektüre resultierende, utopisch anmutende interkulturelle Einheit zwischen jüdischen und christlichen Lesern, so suggeriert Gronemann allein in der Schilderung des Leseverhaltens der Jüdin Chane Weinstein und ihres Freundes Jossel Schlenker einerseits sowie des lutherischen Pastors Bode und seiner Frau andererseits die Unüberbrückbarkeit der Differenzen zwischen Juden und Christen sowie zwischen Russen und Deutschen – dies allerdings in diametral entgegengesetzten Konstellationen, wie sie aus den Ghettogeschichten bekannt sind. Denn die Opposition von Offenheit und Geschlossenheit und damit von Zirkulation und Blockierung, ist nicht mehr eindeutig an einem Diesseits und Jenseits der Schtetl-Grenze und des Eruv, den Chane und Jossel überschritten haben, festzumachen. Die unsichtbaren Grenzverläufe, die für die Durchlässigkeit und den wechselseitigen kulturellen Austausch, aber auch für die Trennung bestimmter Bereiche verantwortlich sind, werden nun weniger bzw. nur noch teilweise durch religiöse Gesetze und jüdische Traditionen markiert, als vielmehr einseitig durch die antisemitischen Vorurteile der christlichen Umgebung  ; und dies unabhängig davon, ob es sich dabei um eine minderheitliche christliche Umgebungsgesellschaft im Schtetl (Borytschew) oder später um eine mehrheitliche in der Großstadt (Berlin) handelt. Als markanter Vertreter 351 Auch an einer anderen Stelle im Text, wenn Heinz Lehnsen, alias Levysohn, über Jossel Schlenker spricht, wird – diesmal allerdings aus der Figurenperspektive – auf Franzos angespielt  : »Im Grunde genommen natürlich fühle ich nicht das geringste Bedürfnis nach halbasiatischer Vetterschaft  !« (Gronemann, Tohuwabohu, S. 252). Hier schwingt im Gegensatz zum ersten Kapitel, das aus Sicht der heterodiegetischen Erzählerinstanz das Leben in Borytschew schildert, jene negative Haltung mit, mit der man in Deutschland vielfach den so genannten ›Ostjuden‹ begegnete. 352 Über das Motiv der »verbotenen Lektüre« in deutschsprachig-jüdischen Erzähltexten, siehe u. a. Ernst, Goethe und Schiller im Schtetl  ; Passagen aus diesem Artikel wurden auf den folgenden Seiten übernommen.

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der Antisemiten im Schtetl tritt »Oberlehrer Strößer« auf, der alle vermeintlichen Eigenschaften und Fähigkeiten von Juden stets ins Negative umdeutet und in ihren eigentlich auch von ihm selbst positiv bewerteten Eigenschaften eine potenziell »furchtbare Macht« erkennt. Seine von Gewaltbereitschaft getragenen Überzeugungen teilt er ungeniert dem sich liberal und tolerant wähnenden, aber missionarisch agierenden Pastor mit  : »Und man muß sie totschlagen, ehe sie sich dieser Macht bewusst werden und sich ihrer bedienen.«353 Strößer, der, wie sich später herausstellt, vor allem ein verbaler Polterer ist und als einziger Deutscher zumindest ansatzweise den drohenden Pogrom zu verhindern versucht, befürchtet – ein geläufiges antisemitisches Klischee der Zeit aufgreifend – einen möglichen kulturellen Wandel durch den Einfluss der Juden in Deutschland, den er unter allen Umständen verhindert wissen will  : Es geht den Juden hier im heiligen Rußland miserabel. […] Wir Deutsche haben uns zu hüten, dass sie sich nicht zu uns flüchten, wie sie sich Anno dazumal vor uns nach Polen geflüchtet haben. – Sie sind imstande, unser ganzes bißchen Kultur umzustülpen und haben das schon zum Teil fertiggebracht  !354

Im ganzen ersten Kapitel teilt und klassifiziert der Autor den Raum ähnlich wie in den später folgenden Berlin-Kapiteln. Sicht- und unsichtbare Trennlinien verlaufen zwischen ›jüdischen‹ und ›nichtjüdischen‹ Räumen, und diese sind ebenfalls wieder in sich geteilt, ihre Bedeutungshorizonte erweisen sich mithin als verschiebbar – mit positiven und negativen Folgen. 5.2 Eruv – ›Vermischung‹ des Raums

Vor diesem Hintergrund ist Chanes und Jossels Auftritt zu verstehen, deren erste Begegnung noch auf den alten Topos vom ›geschlossenen‹ Schtetl anspielt. Chane wird von Jossel entdeckt, als sie sich am Sabbat intensiv der Lektüre des Goethe’schen Faust widmet. Wie sich herausstellt, hat Chane bewusst die Sabbatgrenze355 überschritten und damit gegen das Trageverbot verstoßen, was den 353 Gronemann, Tohuwabohu, S. 29. 354 Gronemann, Tohuwabohu, S. 28. 355 Vgl. z. B. Philo-Lexikon, Stichwort »Eruw«, S. 181  : Der Eruw (dt. Vermischung, Vereinigung) ist »eine Konstruktion zur Erleichterung d. strengen Sabbatbestimmungen  ; z. B. theoret. Verbindung d. privaten mit d. öffentl. Bereiche[  !], um innerhalb eines ganzen Stadtgebietes d. Tragen von Gegenständen – sonst nur im Hause erlaubt – zu ermöglichen.« Siehe dazu ausführlicher »Eruw«, in  : Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, begr. v. Dr. Georg Herlitz und Dr. Bruno Kirschner, Bd. II D–H. Berlin 1928, Sp. 486–489.



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frommen Jossel, der »als besondere Leuchte talmudischer Gelehrsamkeit« gilt,356 zwar nachhaltig irritiert, im Weiteren aber nicht zu einer Bestrafung Chanes führt  – wie das z. B. noch in früheren Ghettogeschichten zu erwarten gewesen wäre.357 Im Gegenteil  : Chane kann Jossel von der Bedeutsamkeit des Faust, zum Beispiel aufgrund des Faust-Vorspiels,358 überzeugen und fortan lesen und diskutieren die beiden gemeinsam.359 Dabei orientiert sich Jossel in seiner Lesetechnik an der ihm gewohnten Art des Lernens  : Jossel ›lernte‹ Faust […] wie man den Talmud ›lernt‹, – jeden Satz, jedes Wort prüfend und wieder prüfend, – der gefundenen Deutung ständig mißtrauend und sich selbst nachkontrollierend, – jede Seite wiederholend und abermals wiederholend, – nach neuen noch verborgenen Entdeckungen tastend, – nirgends mehr mißtrauisch, als wenn eine Stelle leicht verständlich erscheint, – leicht verstehen heißt falsch verstehen, – immer wieder auf scheinbar abgetane Stellen zurückgreifend, – Widersprüche feststellend und auflösend […].360

In diesem autonomen Leseakt, dessen Technik im Kontext transkultureller Praxis als Übersetzungsakt bezeichnet werden könnte, offenbart sich ein hermeneutischer Ansatz, der die Überlegenheit Jossels gegenüber seinem späteren Gesprächspartner Pastor Bode begründet. Letzterer verfügt zwar über einen seinem Beruf angemessenen bildungsbürgerlichen Hintergrund, sodass er sich deshalb mit einem literaturhistorischen Kommentar auf die Diskussion mit Jossel über den Faust vorbereitet. In der Auseinandersetzung muss Bode jedoch erkennen, dass seine eindimensionale Lesart und sein lediglich durch Schulwissen erworbenes Verständnis weder dem Werk gerecht werden noch Jossel – und die Leser des Romans Tohuwabohu – überzeugen können. Die gängige Interpretation des Ost-West-Gegensatzes, der, wie bereits angeführt, in nichtzionistischen 356 Gronemann, Tohuwabohu, S. 8. 357 Z. B. Karl Emil Franzos, Esterka Regina, in  : Die Juden von Barnow. Vgl. dazu auch Kłanska, Schtetl, S. 175  : Der aus Russland kommende Mark Lidzbarski berichtet, dass ihm seine Eltern am Sabbat das Lesen »gojischer« Bücher verboten hätten, »als Arbeit und als Beschäftigung mit einem unheiligen Gegenstand«. 358 Vgl. z. B. Stichwort  : Goethe, in  : Philo-Lexikon, S.  250  : »Vertiefend wirkt [Goethes] ungewöhnlich innige Beziehung zum AT (berühmtestes Beispiel  : Faustvorspiel im Himmel nach Buch Hiob) u. zu Spinoza.« 359 Diese Passagen erinnern an die Form des »Lernens in der Zweiergruppe, der ›Chawrute‹«, die sich auf zwei Männer (in der Talmudschule) bezieht. Siehe dazu Mittelmann, Gronemann (1875–1952), S. 98 f. – Die Übertretung des Eruv unterstützt hier offenkundig den emanzipatorischen Gestus der weiblichen Figur, der von der Erzählerinstanz uneingeschränkt affirmiert wird. 360 Gronemann, Tohuwabohu, S. 16.

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publizistischen und literarischen Texten der Zeit häufig mit einer Negativwertung alles Östlichen verbunden ist, wird hier also schon zu Beginn des Romans zurückgewiesen. Die in letzter Konsequenz überlegene Position wird dem nach bürgerlichen Kriterien schlechter gestellten russischen Talmudschüler zugesprochen. Während sich Jossels Beschäftigung mit dem Text auf jedes Detail bezieht, konzentriert sich Chane auf »das große Ganze«.361 Hinsichtlich eines männlichen und weiblichen Lektüreverhaltens scheint sich der Autor an der historisch belegten Bildungssozialisation von Jungen und Mädchen orientiert zu haben.362 Der Raum, der im Zusammenhang damit von Chane als jüdischer Frau besetzt wird, korrespondiert allerdings nicht mit traditionellen Vorstellungen über Weiblichkeit und deren räumlicher Situierung. Denn Chanes Positionierung ist sowohl in religiöser wie in sozialer Hinsicht jenseits der vorgegebenen Grenzen angesiedelt. Sie lotet das ihr zur Verfügung stehende Terrain aus und widersetzt sich damit auch der ihr zugewiesenen Rolle, die im Wesentlichen auf die Erfüllung ihrer Pflichten als Frau in einem Haus – als Hausfrau – definiert ist. Gleichzeitig eröffnet sie durch das Überschreiten des Eruv auch Jossel eine neue räumlich-kulturelle Dimension, die schließlich für beide weitreichende Folgen haben wird. Darüber hinaus wird durch diesen Akt der Übertretung die eigentliche Aufbruchs-Geschichte überhaupt erst in Gang gesetzt und insofern initiiert der Eruv den Plot.363 Denn das junge Paar ergänzt sich nicht nur in der Lektüre. Chane und Jossel heiraten und gehen, beseelt von der Faust-Lektüre, nach Berlin, um dort »Alles« zu studieren, wie es Jossel formuliert.364 In ihrer eng an die Leseerfahrung gekoppelten Aufbruchsstimmung verkörpern Chane und Jossel zunächst noch vermeintlich jene aus der Ghettonovellistik bekannten prototypischen Figuren, die, von einem idealistischen Bild geleitet, in das aufgeklärte Deutschland aufbrechen. In den Ghettogeschichten hat dieser Weggang dann meist das Vergessen der Herkunft und der traditionellen Lebensweise zur Folge. In Gronemanns Roman führt die Überschreitung des Eruv durch Chane und Jossel, die zugleich als Vorstufe zum Verlassen des Schtetls interpretiert werden kann, aber zu anderen Konsequenzen als in den früheren Ghettogeschichten. Für letztere wies Philipp Theisohn am Beispiel des Romans Der Pojaz von Karl Emil Franzos »eine ›innerjüdische‹ Erzähllogik«365 nach, die an bestimmte Theoreme jüdischer Herkunftsvorstellungen rückgebunden ist. Erst durch den 361 Gronemann, Tohuwabohu, S. 16. 362 Vgl. dazu z. B. Kłanska, Schtetl, S. 176  : »Da Mädchen nicht zum Cheder-Besuch verpflichtet waren, hatten sie größere Freiheit und bekamen früher als die Jungen die Gelegenheit, in öffentliche Schulen geschickt zu werden.« 363 Vgl. auch Hallet, Neumann, Raum und Bewegung, S. 17. 364 Gronemann, Tohuwabohu, S. 124. 365 Theisohn, Eruv, S. 176.



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Eruv, der letzten Endes »ein dem Genre der ›Ghettoliteratur‹ inhärentes, konstitutives Element«366 darstelle, können die Texte zum einen ihre gegenläufigen Strukturen […] etablieren, finden sie zum anderen überhaupt erst ›ihren Ort‹, wird aus dem Schtetl erst das ›Ghetto‹, welches dem Wechselspiel von Präsentation jüdischer Identität und ihrer Aufhebung im Reich der Kultur überantwortet werden kann.367

Theisohn erläutert zwei unterschiedliche Ausdeutungen des Eruv, die – wie in Franzos’ Roman – im Widerstreit miteinander liegen und doch aufeinander bezogen bleiben.368 Beide Interpretationen spielten für die innerjüdischen Debatten um Herkunft und jüdisches Selbstverständnis seit dem 18. Jahrhundert eine wesentliche Rolle. Die eine – chassidische – Lesart gehe davon aus, dass der Eruv prinzipiell einzuhalten sei, die andere, dass der Eruv als bedeutungstragendes Zeichen nur am Sabbat und an den Feiertagen »sein semiotisches Potenzial wirklich ausspielen kann.« Dadurch werde gleichzeitig eine Differenz [bezeichnet] zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die auch dann besteht, wenn sie nicht ›praktiziert‹ wird […] Just an diesem Punkt entfaltet die Idee des Eruv ihre Attraktivität für die jüdische Aufklärung und ihr Projekt der ›Kulturisation‹ des Judentums, verbindet sich mit ihr doch die Vorstellung einer unsichtbaren Demarkation, die den Juden sowohl an einem universal emanzipatorischen Prozeß […] teilhaben läßt, wie sie auch gleichzeitig die räumliche Besonderung anzuzeigen vermag, mit der sich das Volk Israel zu dem ihm eigenen Gesetz […] und dessen noch ausstehender Verwirklichung in Zion bekennt.369

Die »räumliche Besonderung«, von der Theisohn hier im Zusammenhang mit dem Eruv spricht, wird in Gronemanns Roman im Vergleich mit dem rund zwanzig Jahre früher verfassten Roman Der Pojaz370 mit Blick auf die zionistische Vision auch narratologisch aufgebrochen. Mit der bewussten Übertretung des Eruv markieren die Protagonisten in Tohuwabohu zwar einerseits noch das Wissen um ihre Herkunft und die daraus resultierenden Verpflichtungen, gleichzeitig erfahren sie jedoch, dass sie ungestraft neue Wege beschreiten kön366 Theisohn, Eruv, S. 180. 367 Theisohn, Eruv, S. 180. 368 Theisohn, Eruv, S. 181–183. 369 Theisohn, Eruv, S. 183. 370 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Karl Emil Franzos Roman vgl. ausführlich Anna Ludewig, Zwischen Czernowitz und Berlin. Deutsch-jüdische Identitätskonstruktionen im Leben und Werk von Karl Emil Franzos. Hildesheim, Zürich, New York 2008, S. 152 ff.

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nen – und dies als Konsequenz wohl auch müssen. Wie in anderen zionistischen Romanen wird hier das in Ghettogeschichten und Großstadtromanen häufig thematisierte Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden ersetzt bzw. überlagert durch die diskursive Entfaltung innerjüdischer Problemkonstellationen um ein alle Lebensbereiche erfassendes zukunftsträchtiges Selbstverständnis. Die Übertretung des Eruv wird in dieser veränderten narrativen Formatierung nun anders funktionalisiert. Sie erscheint beinahe notwendig, um den einmal in Gang gesetzten Prozess der Emanzipation im Durchschreiten des ›Fremden‹ zu ›transzendieren‹ und dann zu einem neuen ›Eigenen‹ zu gelangen. Dabei wird Herkunft weder als Hemmnis (wie in Großstadtromanen) noch als starrer Fixationspunkt (wie in Ghettogeschichten), sondern schlicht als Ausgangspunkt erkannt, der es erlaubt, die Idee des Eruv nicht als Trennungslinie zwischen Profanem und Heiligem, zwischen Privatem und Öffentlichen, sondern als Horizont umzudeuten. Dieser Horizont wird nicht willkürlich versetzt, sondern er verschiebt sich allmählich, von den handelnden Figuren zunächst noch unbemerkt, aus dem Schtetl in die Großstadt und von dort aus erlaubt er den visionären Blick auf Palästina und Altneuland. Doch vorerst möchten sich Chane und Jossel beim 6. Zionistenkongress in Basel überzeugen, »ob wirklich ein neues jüdisches Leben Wahrheit wird.«371 In diesem Sinne fungiert die Schweizer Stadt gegen Ende des Romans als nahegelegener provisorischer Stellvertreter-Ort, der in einer ferner liegenden Zukunft von Jerusalem abgelöst zu werden verspricht. 5.3 Paradoxien des Raums

Doch zunächst müssen Chane und Jossel erkennen, dass sich ihre Erwartungen in Berlin nicht erfüllen, und dass sie »den deutschen Juden lästig sind.«372 Sie zeigen sich nachhaltig irritiert, dass viele deutsche Juden sich nicht mehr oder nur noch lose an ihr Judentum gebunden fühlen und diesen Verlust durch kulturelle, aus der Umgebungsgesellschaft adaptierte Handlungspraktiken ersetzt haben. Besonders deutlich kommt dies zum Ausdruck, als Jossel in die Berliner Synagoge in der Oranienburgerstraße zu einer Hochzeit mitgenommen wird und aufgrund der Orgelmusik, der Kleidung des Brautpaares und des Rabbiners, der Sprechweise des Rabbiners, der Architektur des Gebäudes etc. glaubt, einer evangelischen Messe beizuwohnen. Diese Form der Aufnahme kultureller Elemente aus der Umgebungsgesellschaft hat zumindest aus der Perspektive Jossels zu einem massiven Verlust jüdischer Identität geführt, da die neuartigen Riten von ihm, mithin nicht mehr von allen Juden verstanden werden und da371 Gronemann, Tohuwabohu, S. 410. 372 Gronemann, Tohuwabohu, S. 410.



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mit nur eingeschränkt (im doppelten Wortsinn) Bedeutung haben können. Die Erzählerinstanz schildert anhand dieser Episode ein Phänomen, dem der Leser noch mehrfach begegnet und das als ›Paradoxie des Raums‹ bezeichnet werden soll. Die feiernden Menschen, die Jossel in der Synagoge beobachtet, haben den Bezug zu dem Ort, an dem sie sich aufhalten, völlig verloren. Der Synagogenraum bildet für sie nur noch die äußere, wenngleich prächtige Hülle für einen formelhaft verlaufenden Akt  ; die einzelnen Schritte der Hochzeitszeremonie können sie ihrem Sinn nach aber nicht mehr ermessen. Den Begleiter Jossels, einen Berliner Studenten, wundert das allerdings nicht, denn er weiß, dass das Haus der Braut »ganz unjüdisch« ist.373 Auch in anderen, teils sehr kurzen Episoden vermittelt die Erzählerinstanz aus unterschiedlichen Perspektiven, dass dieses Auseinanderfallen von Form und Inhalt,374 von funktionaler Raumbezogenheit, Lehre, Orthopraxis und Minhag zur Normalität vieler bürgerlich-jüdischer Familien in Deutschland geworden ist. Vorgänge, wie sie Jossel zunächst im öffentlichen Raum der Synagoge beobachtet, bergen aus orthodoxer Perspektive die Gefahr der Entfremdung oder gar der völligen Distanzierung vom Judentum in sich. Auch im privaten Kontext äußert sich das gewandelte jüdische Selbstverständnis im modernen Berlin am sinnfälligsten in der (häuslichen) Raumgestaltung.375 Vorgeführt wird das am Beispiel der konvertierten Familie Lehnsen. Ihre Wohnung ist nicht nur durch eine Madonna und ein Bild, das die »Austreibung der Wechsler« vorstellt, schon im Eingangsbereich als christlich markiert, sondern auch durch die Umwandlung des Namens Levysohn in Lehnsen und die Verbannung aller als möglicherweise jüdisch interpretierbarer Zeichen und Worte  : »nichts Jüdisches kommt mir mehr über die Schwelle  !«, fordert der Familienvater.376 Selbst ihre Zeitungslektüre stellt die Familie um  : Sie liest nun »deutschnational«.377 Am Beispiel dieser eigentlich banalen Tä373 Vgl. dazu die ganze Passage über die Hochzeit, in  : Gronemann, Tohuwabohu, S. 116–118. 374 Vgl. dazu auch Gronemann, Erinnerungen, S. 56, hier zitiert nach Heuer, Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, S. 315 f.: »Gerade durch die Form wird die Tradition aufrecht erhalten, mehr sogar als durch den Inhalt. Eine leere Flasche kann immer noch mit Wein gefüllt werden, aber Wein ohne Gefäß läßt sich nicht aufbewahren. Nur das Festhalten der alten, oft scheinbar sinnlosen Form hat das Judentum erhalten und es auch über leere Zeiten hinweggebracht, bis dann neuer Wein in die alten Schläuche gefüllt werden konnte.« 375 Gronemann, Tohuwabohu, S. 82. Ein orthodoxer Professor kritisiert im Gespräch mit einem liberalen Rabbiner dieses Phänomen  : »Da gehen Sie also ruhig in solche Häuser, setzen sich unter Heiligenbildern an die Tafel, an der Sie nicht mitspeisen können, rauchen die guten Zigarren und halten Lobreden auf das jüdische Haus  ; […] Nur den Leuten das Judentum hübsch bequem machen […]. Bis die Leutchen es dann selbst vergessen und bis sie dann schließlich den letzten Schritt tun  !« 376 Gronemann, Tohuwabohu, S. 107. 377 Gronemann, Tohuwabohu, S. 71. Gemeint ist die »Deutsche Tageszeitung«, die der Hausherr

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tigkeit und des Gesprächs der Familienmitglieder darüber zeigt sich allerdings, dass die Lehnsens in all ihrem Tun nicht unbedingt ihren eigenen Bedürfnissen folgen, sondern dass es sich dabei im Wesentlichen um eine Inszenierung handelt  – mit dem Ziel, von der christlichen Mehrheitsgesellschaft endgültig anerkannt zu werden.378 Heinz Lehnsen, der Sohn des Hauses, stellt schließlich fest, dass »früher«, also vor der Konversion, in der Familie »nie Gespräche über Juden und Judentum geführt« wurden.379 Als anlässlich der bevorstehenden Verlobung mit einem christlichen Adeligen Else Lehnsen, Heinz’ Schwester, von einer zukünftigen Anverwandten ein Kruzifix, »das Zeichen der Demut«, als Anhänger geschenkt bekommt, bricht die Diskrepanz dieses ›uneigentlichen‹ Verhaltens ansatzweise durch.380 Heinz beschäftigen die Folgen der Taufe, die bei ihm zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Judentum führt, jedoch am meisten. Als er bei einem Ausflug in das Scheunenviertel unvermutet als »Minjanmann« angesprochen wird,381 wird ihm seine Deplatziertheit besonders deutlich vor Augen geführt  : Heinz folgte erstaunt und interessiert den Vorgängen, die ihm ziemlich unbegreiflich erschienen. Dieser Gottesdienst in seiner unglaublichen Formlosigkeit, veranstaltet in einem von Zigarettenqualm erfüllten Zimmer, zwischen Reklameplakaten und Plüsch­ möbeln, hatte keine noch so entfernte Ähnlichkeit mit dem, was er sonst unter einer kirchlichen Feier verstand.382

Doch die in Tohuwabohu immer wieder ins Bild gesetzte Entfremdung zwischen Mensch, religiöser Praxis und Raum betrifft nicht nur das akkulturierte Berliner Bürgertum, sondern auch jene Personen, die sich aus anderen Motiven von ihrem Judentum distanziert haben. Wenn die Anforderungen der jeweils als maßgeblich erachteten gesellschaftlichen oder politischen Gruppe in Widerspruch zu traditionellen, religiös motivierten Wertvorstellungen geraten, verfallen die Figuren in merkwürdig paradoxe Verhaltensweisen, wie sie der Erzähler besonders eindrücklich am Beispiel des Marxisten Doktor Pinkus schildert  :

nach eigener Auskunft jedoch nur seiner beruflichen Stellung wegen liest. 378 Die negative Wertung des Autors über diese Form der Selbstverleugnung kommt dabei ziemlich unverhohlen zum Ausdruck. 379 Gronemann, Tohuwabohu, S. 106. 380 Gronemann, Tohuwabohu, S. 100 und S. 282. 381 Gronemann, Tohuwabohu, S.  273 ff.: »Heinz Lehnsen bedeckte mechanisch den Kopf nach dem Beispiel der anderen und suchte sich in seine neue Würde als Minjanmann zu finden, dessen Funktionen ihm freilich noch nicht klar waren.« 382 Gronemann, Tohuwabohu, S. 275.



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›Sie können auch ruhig sein, wenn ich das Kaddisch für meinen seligen Vater spreche. Und wie Akademiker, gebildete Menschen, an Unsterblichkeit [!] der Seele und solch einen Unsinn glauben können, ist mir schleierhaft.‹ Er riß zornig seinen Gebetmantel von der Schulter. ›Mit diesem Wust von altem Aberglauben muß aufgeräumt werden  ! Nieder mit der Religion  !  !‹ Er knautschte das Tuch zornig zusammen und schob es in den Beutel. Dann nahm er das Gebetbuch in die Hand und schwang es erregt  : ›Mit Stumpf und Stil muß die sogenannte Religion ausgerottet werden.‹ Mit grimmiger Miene führte er das Buch zum Munde und küßte es. ›Diese Rückständigkeit ist die Schande unserer Zeit  ! […]‹. Damit warf er das Buch auf den Tisch und ging hinaus.383

Berlin mutiert in Tohuwabohu zu einem Ort, an dem das (aus der Perspektive des Erzählers und der Figuren Chane und Jossel) als authentisch erachtete Judentum zunehmend aus dem öffentlichen Raum verdrängt wird, wohingegen die Debatten über Fragen jüdischer Identität ubiquitär erscheinen und den Raum erobern. Dieser Zustand gleichzeitiger Anwesenheit von Judentum im Diskurs und Abwesenheit in der Praxis wird von Chane prägnant zusammengefasst  : »Merkwürdig, was man für Ansichten bei deutschen Juden trifft  ! […] In den paar Tagen, die ich in Deutschland bin, höre ich mehr von Religion und Judentum reden als in meinem ganzen Leben.«384 Jossel wundert sich hingegen, dass im Gegensatz zu Borytschew die Leute in Berlin beten, obwohl sie nicht gläubig sind.385 Solche Widersprüche führen bei Heinz Lehnsen schließlich zu Reaktionen, die sein Vater als »paradoxe Art«,386 die seiner Karriere hinderlich sei, apostrophiert. Er verordnet dem Sohn daher einen Auslandsaufenthalt, eine Reise nach St. Petersburg, um dort an einem Kongress teilzunehmen. Heinz nutzt diese Reise aber vor allem, um die Angehörigen von Jossel Schlenker in Borytschew zu besuchen.387 Der junge Großstädter wird dort herzlich aufgenommen. Bei Heinz’ Spaziergängen durch den Ort und in den Gesprächen mit seiner orthodoxen Verwandtschaft offenbaren sich die lebensweltlichen Unterschiede in einer für beide Seiten unerwarteten Weise. Am Sederabend, der im Zeichen eines drohenden Pogroms steht, wird Heinz das ganze Ausmaß seiner Entfremdung und die Schieflage seiner bisherigen Lebensweise bewusst  :

383 Gronemann, Tohuwabohu, S. 277. 384 Gronemann, Tohuwabohu, S. 279. 385 Gronemann, Tohuwabohu, S. 281 f. 386 Gronemann, Tohuwabohu, S. 329. 387 Gronemann, Tohuwabohu, S. 294–329. Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift »Die Erstgeborenen«.

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Draußen lauerten Mord und Raub, – jeden Augenblick konnte der Pogrom losbrechen  ; hier im Hause aber herrschte ein Frieden, wie er ihn eigentlich nie kennengelernt hatte. Diese absolute Selbstsicherheit fehlte bestimmt in seinem elterlichen Hause  ; irgendeine verborgene Unruhe, eine innere Hast, ließ sie in Berlin alle nie zum vollen Genuß der Gegenwart, des Momentes, kommen. Immer hetzte sie irgend etwas Unbekanntes, keine Freude und kein Leid wurde ganz ausgekostet, – nie füllte sie ein einziges Gefühl ganz aus. – Diese Leute hier hatten eine innere Heimat, – er gehörte zu den Ruhelosen, den ewig Flüchtigen.388

Heinz spürt eine Kohärenz zwischen den Menschen und dem Raum, dessen atmosphärischer Schutz aber erst durch die Haltung, die »Selbstsicherheit«, seiner Bewohner wirksam wird. Denn objektiv gesehen, leben diese Menschen unter einer permanenten Bedrohung ihrer Existenz. Heinz ist, wie er selber fühlt, allerdings aus diesem emphatischen Raum ausgeschlossen. Das zeigt sich besonders deutlich in der Anspielung auf das Ahasver-Motiv, das Heinz wiederum in paradoxer Weise umdeutet  : Nicht die tatsächlich Verfolgten, die sich vermeintlich nur durch Flucht ihrem Schicksal entziehen können, assoziiert er mit der Figur des zur »Heimatlosigkeit [V]erdammten«,389 sondern sich selbst, den in abgesicherten Verhältnissen lebenden deutschen Konvertiten. Der sesshafte und wohlhabende Berliner Bildungsbürger, der sich in Deutschland als getaufter Jude in der christlichen Gesellschaft angekommen wähnt, fühlt sich in der Begegnung mit seinen traditionell lebenden jüdischen Verwandten plötzlich als ortloser Mensch. Dass Borytschew gleichwohl kein dauerhafter Ort für Juden zu sein verspricht, verweist einerseits auf eine weitere Ausprägung einer Paradoxie und andererseits darauf, dass das Verhältnis Mensch und Raum instabil, verhandel- und wandelbar ist. Die Überheblichkeit, die die Berliner Bourgeoisie gegenüber der armen osteuropäischen Bevölkerung im Scheunenviertel üblicherweise an den Tag legt, hält den Erfahrungen, die Heinz im vermeintlich rückständigen russischen Schtetl macht, nicht stand. Mithin erweist sie sich nicht nur als völlig unbegründbar, sondern letztlich auch als wirkungslos. Die narrative Ausfaltung der Unterschiede zwischen authentischem und entfremdetem Judentum, die dem Leser schon aus der Perspektive von Chane und Jossel vermittelt wurden, wird in diesem Kapitel aus der Figurenperspektive von Heinz gewissermaßen spiegelverkehrt wiederholt. Die Zuordnung der jeweiligen Lebenswelten ist dabei in ein topographisches Ost-West-Schema gespannt, das 388 Gronemann, Tohuwabohu, S. 323. Dass diese im Handlungsverlauf des Romans markante Situation an eine Seder-Feier gebunden ist, kann durchaus als intertextuelle Anspielung Gronemanns an Herzls Altneuland gelesen werden. 389 Stichwort  : Ahasver, in  : Philo-Lexikon, S. 11.



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nicht nur lokal, sondern auch großräumig Geltung beansprucht. Diese bekannte Raumanordnung entwickelt nun aber ein rhetorisches Potenzial, das innerhalb der verschiedenen Handlungsstränge erst in Zusammenhang mit dem zionistischen Diskurs seine argumentative Zielrichtung entfaltet. Die Differenzwahrnehmung, die Johannes Paulmann einmal als kennzeichnendes Merkmal im Kontext kultureller Transferprozesse konstatiert,390 wirkt auf Jossel und Chane nicht in der Konfrontation mit der säkularen christlichen Gesellschaft in Berlin überraschend, denn hier erfüllt sich lediglich eine Vorerwartung, sondern in der Begegnung mit alteingesessenen Berliner Juden. Diesen erscheinen wiederum die Juden aus Russland merkwürdig. Die im urbanen Umfeld sich wandelnden Identitätskonzeptionen, die im Roman aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen dargestellt werden, werden im Zuge dessen zwar als zwangsläufige Entwicklungen im Rahmen eines Ost-Westgefälles gewertet. Aus der Sicht eines zionistischen Studenten deuten sie aber den drohenden Verfall des europäischen Judentums an. Dabei vollzieht sich dieser »Übergang […] in wenigen Generationen  : Ostjude, orthodox, konservativ, gemäßigt, liberal, Reform, Taufe […].« Im Rahmen dieses Prozesses kämpften die Vertreter der deutschen liberalen Juden sowohl gegen ihre »Vergangenheit«, verkörpert durch die »russische[n] Jude[n]«, als auch gegen ihre Zukunft, verkörpert durch die Getauften.391 Die russischen Juden seien wiederum gezwungen, den vielfältigen Formen ihrer Unterdrückung auszuweichen. Als weitreichendes negatives Resultat dieser durch einen permanent stattfindenden, letztlich von außen in Gang gesetzten Wandel wird schließlich eine völlige Entfremdung von Juden untereinander konstatiert – eben ein Tohuwabohu. Eine positive Bewertung der Austauschprozesse zwischen ost- und westeuropäischen Juden wird seitens der Erzählerinstanz nur dann in Betracht gezogen, wenn anstelle der alten, überkommenen eine kollektiv wirksame neue kulturelle Ordnung tritt – nur sie hätte eine Aufhebung der (im Roman vorgeführten) Paradoxien zur Folge. Sie muss über das Potenzial verfügen, der Religion bzw. dem Gesetz wieder einen angemessenen Stellenwert einzuräumen und gleichzeitig neue Formen des Zusammenlebens zu initiieren und zu prägen. Eine solche Wirkmächtigkeit besitzt aus der Gesamtperspektive des Textes nur der Zionismus. Er verspricht nicht nur, Gegensätze und Paradoxien zu überwinden,392 sondern der jüdischen 390 Johannes Paulmann, Grenzräume. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Geschichte der internationalen Beziehungen, in  : Lutter, Szöllösi-Janze, Uhl, Kulturgeschichte, S. 191–205, hier S. 196. 391 Gronemann, Tohuwabohu, S. 411. 392 Vgl. z. B. die Schilderung einer zionistischen Versammlung, in  : Gronemann, Tohuwabohu, S.  285  : »Heinz sah, als er sich bemühte, durch den dichtgefüllten Saal näher an die Rednerbühne zu gelangen, daß die Zuhörerschaft aus Leuten aller möglichen Berufsstände und Ver-

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Entfremdung Einhalt zu gebieten. Dem Mädchen Chane bleibt es vorbehalten, den damit verbundenen hybriden Entwicklungsgang zusammenzufassen  : ich glaube, […], daß in Westeuropa ungeheure jüdische Möglichkeiten liegen […] Alles ist nichts als ein ungeheures Mißverständnis. Die Juden kennen einander nicht und kennen sich selbst nicht. […] Der Schnorrer repräsentiert nicht den Ostjuden und der Dr. Magnus [ein liberaler Berliner Rabbiner] nicht die Westjuden. Vor allem wächst eine andere Generation heran. Beide Typen waren notwendige Folgeerscheinungen der seltsamen Lage des Judentums überhaupt. […] Aber der Dr. Herzl, von dem jetzt die neue Bewegung ausgeht, ist durch und durch Westeuropäer. Er hat von den Juden nichts gewußt, bis die Not des Volkes zu ihm schrie. Nur weil er außen stand, konnte er den Weg in die Freiheit finden. Er steckte selbst nicht im Gewühl, das Luft und Ausblick hemmt  : aber er hat den Weg zu seinen Brüdern gefunden.393

Theodor Herzl hatte in Altneuland die Verwirklichung einer neuen jüdischen Gesellschaft fiktional ungefähr in jener Zeit angesiedelt, in der Gronemanns Roman veröffentlicht wurde. Gronemann erinnert nun in Tohuwabohu nicht nur an die Entstehungszeit von Herzls Roman, sondern, ohne es konkret zu benennen, auch an jene Phase des politischen Zionismus, die von heftigen Auseinandersetzungen zwischen ost- und westeuropäischen Zionisten geprägt war.394 Ihren Höhepunkt fanden diese Debatten auf dem Baseler Zionistenkongress 1903. In Basel stand ernsthaft die Gefahr einer Spaltung der zionistischen Bewegung im Raum, da sich die osteuropäischen Juden dem Uganda-Plan nicht anschließen wollten.395 Dass Herzl aufgrund des heftigen Widerstands seinen Plan recht bald aufgab, ist bekannt. In Gronemanns Roman ist Basel auch das von Chane, Jossel und vielen anderen Zionisten anvisierte Ziel, das als Zwimögensschichten zusammengesetzt war.« Diese im Roman angedachte Konzeption, die auf die Überwindung von Gegensätzen abzielt, vertrat Gronemann auch als politischer Mensch. Siehe dazu Schlör, Das Ich der Stadt, S. 269  : »Nur die zionistische Bewegung versuchte, zwischen diesen sozial weit auseinanderstrebenden Teilen der Berliner Judenschaft zu vermitteln und sie alle für ihre Ziele zu gewinnen  ; ihre politische Vertretung, die Jüdische Volkspartei, der Gronemann angehörte […], war die einzige, die Mitglieder aus den unterschiedlichen Milieus hatte.« 393 Gronemann, Tohuwabohu, S. 411 f. 394 Über die historischen Fakten und Hintergründe informiert z. B. Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel. Die Geschichte des Zionismus. Wien 1972, S.  142–144. Wenige Monate nach den Pogromen in Kischinew, im August 1903, hatte Theodor Herzl eine (nicht unumstrittene) Russlandreise unternommen, um danach beim Zionistenkongress in Basel zu verkünden, dass die russische Regierung »der zionistischen Bewegung kein Hindernis in den Weg legen [wolle], wenn deren Tätigkeiten im Rahmen der Gesetze bleibe.« (Laqueur, S. 144). 395 Im Gegensatz zu Gronemann bezieht Brieger-Wasservogel den Baseler Kongress noch in die Handlung seines Romans mit ein. Vgl. dazu Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 361–364.



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schenstation auf dem Weg nach Palästina gewissermaßen als symbolisch aufgeladener Stellvertreterort fungiert. In den letzten drei Kapiteln des Romans wird die Fahrt von Berlin zum Kongress nach Basel geschildert. Die Dynamik des Raums, die sich in der Bewegung des Zuges (bzw. mehrerer Züge) abzeichnet,396 korreliert mit den von den Passagieren geführten Diskussionen, in denen noch einmal die kontroversen Positionen von Unentschlossenen und Gegnern des Zionismus sowie von Zionisten unterschiedlicher Provenienz konzentriert zur Sprache kommen. Als Beglaubigungsfigur für alle Unschlüssigen wird schließlich ein alter Mann eingeführt, der sich nach eigenem Bekunden einst als »Germane« verstand, sich nach der Teilnahme an allen Zionistenkongressen aber dazu entschlossen hat, mit 70  Jahren nach Palästina auszuwandern, um dort noch etwas »Wachsen und Werden [zu] sehen«.397 Jossel und Chane sind noch nicht so weit  ; sie wollen zunächst nur in die Schweiz. Einst hatte Goethes Faust ihren Blick über die Grenzen des Schtetls gelenkt und sie zum Aufbruch nach Berlin veranlasst. Am Ende wird Faust noch einmal aufgerufen. Dieses Mal allerdings nur assoziativ in Verbindung mit Heinz Lehnsen, der ebenfalls im Zug sitzt und seit der Reise nach Borytschew seine Zerrissenheit stärker wahrnimmt als je zuvor. Die Begegnung mit Anhängern des Zionismus lässt ihn zwar erahnen, dass ihm deren Ideen einen ihm bisher unbekannten Halt geben könnten, gleichwohl bleibt er in seiner Resignation befangen. Seine Unentschiedenheit, einen Neuanfang zu wagen und seine paradoxe Situation zu lösen, ist auf der textlichen Ebene dadurch markiert, dass Faust für ihn lediglich als Name eines Rennpferds, auf das er wetten könnte, von Interesse ist. Und so endet der Roman metaphorisch aufgeladen in einer Art ambivalentem Zirkelschluss mit dem Satz  : »Wird Ice Wind oder wird Faust als Sieger durchs Ziel gehen, das ist die große Frage, welche alle bewegt.«398 6. Karl Teller Altneue Menschen. Ein Judenroman (1926) Fast 25 Jahre nach dem Erscheinen von Theodor Herzls Roman publizierte der heute völlig vergessene Schriftsteller Karl Teller399 seinen Roman Altneue Men396 Gronemann, Tohuwabohu, S. 413  : »Wie dieser Zug rollten in jener Nacht von allen Himmelsrichtungen Züge auf die Kongreßstadt zu, welche Juden aller Länder zusammenführten, die von gleicher Sehnsucht und gleichem Hoffen erfüllt, sich aufgemacht hatten, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, ob der Ruf, der sie erreicht hatte, wirklich der Ruf sei, auf den sie Geschlecht für Geschlecht seit zweitausend Jahren gewartet hatten.« 397 Gronemann, Tohuwabohu, S. 429 f. 398 Gronemann, Tohuwabohu, o. S. [S. 432]. 399 In gängigen Nachschlagewerken wie der NDB fehlt Tellers Name ebenso wie in jüdischen En-

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schen im Verlag Dr. R. Färber, der nach dem Ersten Weltkrieg im tschechoslowakisch gewordenen Mährisch-Ostrau seinen Sitz hatte.400 Wiewohl der Titel unübersehbar an Herzl angelehnt ist, werden Herzl und sein Roman an keiner einzigen Stelle im Text explizit angeführt. Teller widmet sein Werk auch nicht dem berühmten literarischen Vorgänger, sondern einem seiner Kritiker  : »Martin Buber, dem wahren Lehrer der Jugend, zu eigen«. Dass er darüber hinaus als Motto einen Satz von Karl Kraus wählt,401 der mit seinem Pamphlet Eine Krone für Zion einst eine ätzende Satire auf Herzl geschrieben hatte, verdankt sich möglicherweise einem Bedürfnis Tellers, selbst einen der schärfsten Gegner des Zionismus in einem fortgeschrittenen Stadium seiner historischen Entwicklung zumindest auf der virtuellen Ebene der Literatur zu integrieren. Dass damit eine indirekte Abwendung von Herzls Konzeption verbunden sein könnte, lässt sich aus dem Text nicht herauslesen. Allerdings entscheidet sich Teller für eine gänzlich andere, realistisch orientierte Schwerpunktsetzung. Schon der Titel lässt vermuten, dass in dem »Judenroman« die territoriale Komponente zugunsten der sozialen in den Hintergrund tritt. Das bestätigt sich im Laufe der Handlung  : Palästina als Ort jüdischer Besiedlung steht bereits außer Frage, allein, die in der Diaspora lebenden Menschen müssen erst für das Land gewonnen werden. Die inneren Kämpfe, denen sich die »altneuen Menschen« im Rahmen ihrer Entscheidung für oder gegen die Auswanderung ausgesetzt sehen, bilden den eigentlichen Fokus des Erzählers. Der seiner ästhetischen Qualität nach als Unterhaltungsroman zu wertende Text stellt den Zionismus schon als unhinterfragbare historische Größe dar. Dessen letztendliche Verwirklichung durch die Alija402 hängt – folgt man der Grundaussage des Textes – von jedem Einzelnen ab. Es ist Teller offenkundig nicht daran gelegen, Herzls Entwurf von zyklopädien und Lexika. Für die vorliegenden biographischen Informationen danke ich Renate Heuer, Archiv Bibliographia Judaica e. V., Frankfurt am Main. Karl Teller wurde am 10.5.1888 in Wratzow/Mähren geboren, das Sterbedatum ist unbekannt. Teller studierte in Wien, wo er 1911 mit »Untersuchungen von Machas Jugendgedichten nach ihren Motiven und ihrer Sprache« promovierte. Gesichert ist, dass er zwischen 1932 und 1934 in Brünn lebte. Weitere Werke  : Die beiden Lager (1930)  ; Ver Scarum. Roman einsamer Mädchen, Radolfzell 1929  ; Eva (1934)  ; Lerne mit Lachen. Tschechisch in 120 Lektionen. Brünn 1934 (insges. 5 Ausgaben bis 1939)  ; ein Beitrag im Jüdischen Almanach 5688 (1927/28). Prag. 400 Karl Teller, Altneue Menschen. Ein Judenroman. Mährisch-Ostrau 1926. 401 »Oh knieet, segnet, hört, wie die Erde schweigt. Sie allein weiß um Opfer und Thräne.« Das Zitat ist ohne Quellenangabe angeführt. 402 Der zeitliche Kontext der Handlung lässt sich nicht genau festlegen. Da der Autor von tschechischen und slowakischen Dörfern spricht, der Krieg im Roman aber überhaupt nicht erwähnt wird, andererseits Bubers Drei Reden über das Judentum (1911) zitiert werden, erstreckt sich die erzählte Zeit etwa auf die Jahre zwischen 1905 und 1914, also die Zeit der 2. Alija. In dieser zweiten Auswanderungswelle kamen vor allem Zionisten aus Osteuropa nach Palästina.



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Altneuland den historischen Entwicklungen seit 1902 folgend literarisch zu adaptieren oder gar Alternativen für die Art und Weise der Besiedelung Palästinas zu propagieren. Doch trotz der den Text strukturierenden, narrativ vielschichtigen Raumbezüge und der auch diesem Roman immanent zugrunde liegenden Zukunftsorientierung auf einen jüdischen Staat kann man Altneue Menschen schwerlich als heterotopischen Roman,403 wie es für Herzls Text vorgeschlagen wurde, bezeichnen. Doch auch ein utopisches Moment im Sinne Leah Hadomis lässt sich kaum ausmachen. Hadomi bezeichnet jene literarischen Werke, »die sich mit der Utopie [eines jüdischen Staats] befassen«, mit dem »Sammelnamen ›Zionistische Utopie‹«. Es sei »die Verbindung von nationalen Tendenzen mit dem Drang nach Erfüllung von universalen, utopischen Hoffnungen, die die Eigenart der literarischen Form« hervorbringe. Weiterhin unterscheidet Hadomi für die Gattung eine »jüdische utopisch-nationale Hoffnung in der Diaspora«, die mehr den Aspekt der »Wunschzeit«, und eine »säkulare zionistische Bewegung«, die den »Begriff des Raumes betont.«404 Den »zionistischen Utopieroman« bezeichnet sie schließlich mit Bezugnahme auf Hanni Mittelmann als »eine Gattung des zionistischen Romans«.405 Mittelmann, die den Begriff der Utopie hingegen vermeidet, konstatiert als »eine Ausprägung dieser Literatur [den] Zeitroman, der sich mit der jüdischen Zwischenstellung in der deutschen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts auseinandersetzte.« Als »Hauptziel« des deutschen Zionismus – es ist nicht klar, ob sich Mittelmann auch auf die Habsburgermonarchie bezieht – erkennt sie im Gegensatz zum osteuropäischen Zionismus aber nicht mehr die Auswanderung nach Palästina »und die Errichtung eines jüdischen Heimatlandes«, sondern den Kampf »gegen die innere Auflösung des Judentums durch die zunehmende Assimilation der letzten hundert Jahre.«406 Als Proponent dieser Richtung gilt Mittelmann in erster Linie Martin Buber mit seiner Erneuerungsbewegung der Jüdischen Renaissance. Lassen sich in Herzls um die Jahrhundertwende entstandenem Werk noch Signale ausmachen, die seine Wahrnehmung als utopischen Roman zumindest aufgrund seiner zeitlichen

403 Die Raumdarstellungen sind zwar in unterschiedlicher Weise semantisiert und funktionalisiert, können aber nicht als Text konstituierend oder als poetologisch relevante Größe angenommen werden, wie das in Herzls Roman der Fall ist. 404 Hadomi, Jüdische Identität, [S. 23]. Hadomi bezieht sich auf Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 405 Hadomi, Jüdische Identität, S. 58, Anm. 1. 406 Hanni Mittelmann, Das Problem der deutsch-jüdischen »Symbiose« im zionistischen Roman, in  : Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium, hg. v. Stéphane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1986, S. 226–236, hier S. 226 f.

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Perspektivierung rechtfertigen,407 so scheinen sich spätere zionistische literarische Texte dieser Zuschreibung m. E. tendenziell zu entziehen, sieht man einmal davon ab, dass eine wesentliche Zielrichtung des frühen Zionismus seit dem Baseler Programm, ganz allgemein gesprochen, immer auf die zukünftige Realisierung eines nationalen Plans ausgerichtet war. Obwohl in Karl Tellers Roman Altneue Menschen der Bezug zu Herzls Altneuland als außer Diskussion stehende Grundvoraussetzung offenkundig ist und einzelne Schriften Martin Bubers im gesamten Roman als Intertexte präsent gehalten werden, lässt sich dieser Text – möchte man ihn denn einordnen – aber weder als utopischer Roman noch als literarische »Neuinterpretation des deutsch-jüdischen Zusammenlebens«408 im Sinne Hanni Mittelmanns lesen. Tellers Zeitroman setzt sich vielmehr mit der individuellen Identitätsproblematik zionistisch gesinnter Menschen auseinander. Und diese Konstellation liegt nicht in der Polarität von neuem politischem Konzept und althergebrachtem kulturellem Selbstverständnis oder religiöser Tradition und nationaler Weltanschauung begründet. Vorgeführt werden vielmehr jene Konfliktsituationen, die sich an der Schnittstelle von Theorie, subjektivem Wunschdenken und deren praktischer Umsetzung entzünden. In diesem Zusammenhang erweist sich Leah Hadomis typologische Unterscheidung der zionistischen Erzählliteratur nach zwei inhaltsbezogenen Aspekten als produktiv – und dies unabhängig davon, ob man ihren definitorischen Annahmen hinsichtlich des Utopiecharakters einzelner zionistischer Romane zustimmt oder nicht. Einerseits verweist sie auf verschiedene, in zionistischen Romanen zum Tragen kommende »Dualitätsbeziehungen«, die sich auf das dargestellte »Verhältnis der alternativen Welten« beziehen, zum anderen auf die »Identitätsverwirrungen« der Romanfiguren.409 Beide Aspekte, die Dualitätsbeziehungen und die teils daraus resultierenden instabilen Identitäten der Figuren, prägen Tellers Text. Die Dualitätsbeziehungen liegen zunächst in der geographischen, aber auch kulturellen Distanz zwischen Europa und Palästina begründet, wobei Palästina dem Blick des Lesers völlig verborgen bleibt bzw. nur als gedachte Gegenwelt zum Handlungsraum, gewissermaßen als Horizontlinie, präsent ist. Diskutiert werden – vorwiegend aus der Perspektive der (noch) in einer europäischen Großstadt410 lebenden Jüdinnen und Juden – der 407 Darauf bezieht sich ein Ansatz Hadomis, siehe Hadomi, Jüdische Identität, [S. 23]  : »Die utopische Gattung befaßt sich mit dem Entwurf eines idealen Staatsgebildes in einem andern Wunschraum oder in einer andern Wunschzeit.« [Hervorhebung P. E.]. 408 Mittelmann, Das Problem der deutsch-jüdischen »Symbiose, S. 226, [Hervorhebung im Original]. 409 Hadomi, Jüdische Identität, S. 42. Betont ein Roman den Aspekt der »Identitätsverwirrung«, rechnet ihn Hadomi »introvertierten Utopien« zu. In diesem Zusammenhang nennt sie zum Beispiel Max Brods Das große Wagnis (1918) und Ernst Sommers Gideons Auszug (1912). 410 Der Name der Großstadt, in der ein Großteil der Handlung angesiedelt ist (Vgl. z. B. S. 58),



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Jishuw411 und die (vermeintlichen) Aufgaben der zionistischen Bewegung, die immer wieder den Widerspruch zum gewohnten bürgerlich-städtischen Leben der Figuren sichtbar werden lassen. Als narrativ wirksame topographische Kategorie kommt der Großstadt im Gegensatz zu anderen zionistischen Romanen allerdings keine Bedeutung zu. Eine weitere duale Spannung wird in den Geschlechterbeziehungen evident  : Den männlichen und weiblichen Anhängern des Zionismus geraten gerade durch die Lektüre zionistischer Schriften ihre vertrauten Rollenvorstellungen aus dem Lot. Ein drittes Spannungsverhältnis resultiert aus der Dualität zwischen Individuum und Gemeinschaft. All diesen bipolaren Verhältnissen sind bestimmte räumliche Komponenten zugeordnet, die die innere Struktur des Romans stützen. Keine Rolle spielen hingegen ideologische Positionsstreitigkeiten zwischen verschiedenen, sich seit dem ersten Zionistenkongress 1897 und Herzls Tod 1904 »vielfach gewandelt[en] und umgeprägt[en]«412 Strömungen des Zionismus. Tatsächlich werden historische Details, die den realistischen Charakter des Textes zusätzlich unterstreichen könnten, völlig ausgespart. So erfährt auch der Antisemitismus als politisches Phänomen keine Erwähnung. Nur aus der Figurenperspektive wird in wenigen Passagen daran erinnert, dass er, wenngleich nicht immer sichtbar, so doch eine permanente Bedrohung für die europäisch-jüdische Bevölkerung darstellt. Der Autor erzählt in einundzwanzig Kapiteln Episoden aus dem Leben von zehn Personen, darunter zwei älteren Ehepaaren und zwei jungen Paaren, die durch das Auftreten einer Frau zeitweise in ein Dreiecksverhältnis verstrickt sind. Alle sind miteinander bekannt, treffen sich, diskutieren, treiben wieder auseinander. Unabhängig von ihren Berufen und ihrer unterschiedlichen Herkunft verstehen sich die handelnden Personen mehr oder weniger als Zionisten, wobei das Ehepaar Dr.  Wiesenweiß meist anlassbezogen eine Art ›Kaffeehaus-Zionismus‹ lebt und das Ehepaar Dr. Eckener seinen Ideen – jenseits konkreter Vorbereitungen für die Auswanderung nach Palästina  – vor allem durch das Studium der hebräischen Sprache und zionistischer Lektüre in den eigenen vier Wänden frönt. Der aus einem »slowakischen Dorfe«413 stammende erfolglose Maler und Zeichenlehrer Hugo Eisinger wiederum zermartert sich im ständigen Wechsel von grenzenloser Selbstüberschätzung und gefühlter wird an keiner Stelle im Text genannt. Aufgrund verschiedener Indizien ist aber klar, dass es sich um Prag handelt. Einen Einblick in die lebensweltlichen Umstände nicht nur von Prager Juden vermittelt Wilma Iggers (Hg.), Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch. München 1986. 411 Jishuw bezeichnet die jüdische »Gesamt-Siedlung« bzw. »Gesamteinwohnerschaft« in Palästina. Siehe Stichwort  : Jischuw, in  : Philo-Lexikon, S. 331. 412 Stichwort  : Zionismus, in  : Philo-Lexikon, S. 825. 413 Teller, Altneue Menschen, S. 39.

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Unfähigkeit,414 sodass sich seine weltanschauliche und politische Energie in unfruchtbaren Grübeleien und dem gelangweilten Besuch zionistischer Veranstaltungen erschöpft. Seine Gefährtin und spätere Frau Agathe Walden, die den Part des »ältlichen Mädchens«,415 der späten Geliebten und schließlich der werdenden Mutter einnimmt, verkörpert nicht nur das pathetisch gezeichnete Bild der Muse des Künstlers. Sie versorgt Hugo auch mit geistiger Nahrung, liest ihm immer wieder vor und macht ihn mit den Werken Martin Bubers, zuerst mit der Legende des Baalschem (1907) bekannt.416 In die merkwürdig solipsistische Idylle dieses Paars bricht die siebzehnjährige Lisbeth ein, die in ihrem Selbstfindungsprozess als emanzipierte, selbstständige Frau und getaufte Tochter eines jüdischen Vaters jene Generation verkörpert, die sich über Umwege ihr verloren gegangenes Judentum  – allerdings jenseits der halachischen Bestimmungen  – zurückerobern will. Eine Rückkehr zur Religion ihrer Großeltern mittels Konversion steht für Lisbeth zwar nicht zur Disposition, sie forciert jedoch die intellektuelle Annäherung an ein säkulares, zionistisch orientiertes Judentum. Dabei helfen ihr vor allem »Martin Bubers ›Reden vom Judentum‹«, die in ihr den Eindruck erwecken, dass »die freie Wahl und Entscheidung über ihre Zugehörigkeit und ihr Blut ihr überlassen sei«. Hierbei findet es Lisbeth besonders faszinierend, »daß die letzte Entscheidung von ihr in unbestimmte Fernen gerückt werden dürfte.« Das, was sie infolgedessen als »unnennbares Freiheitsgefühl«417 wahrnimmt, rückt sie jedoch in die Nähe all der anderen Unentschlossenen im Roman. Der einzige, der seinen zionistischen Weg zielstrebig verfolgt, wiewohl auch er durch eine gescheiterte Liebesbeziehung mit dem flatterhaften Mädchen Gerti Gerber zeitweise tief verunsichert ist, ist der Ingenieur Heinrich Vog[e]l.418 Er muss als der uneingeschränkte Sympathieträger des Romans angesehen werden. Während sich Gerti »von ihrer Ueberlieferung« 414 Teller, Altneue Menschen, S. 64  : »›und wer ich bin, wüsste ich selbst noch nicht zu sagen. Ein Jude, der es erst werden will, ein Maler, der es manchmal ist, ein Mensch, der sich nach Schönheit sehnt.‹ Er war schon ins Prahlen gekommen.« 415 Teller, Altneue Menschen, S. 60. 416 Teller, Altneue Menschen, S. 77, S. 297. Über Agathes Buber-Lektüre siehe auch S. 267. 417 Teller, Altneue Menschen, S.  263 f. Gemeint sind Bubers Drei Reden über das Judentum. Vgl. weiterhin Lisbeths Monolog über ihr Leseverhalten in einer Krisensituation, S. 218. Mit seinen berühmten Reden über das Judentum wirkte Buber vor dem Ersten Weltkrieg, das entspricht der Handlungszeit des Romans, vor allem auf die »Kulturzionisten des Vereins jüdischer Hochschüler ›Bar Kochba‹ in Prag«. Siehe Andreas Herzog, Zur Modernitätskritik und universalistischen Aspekten der »Jüdische Renaissance« in der deutschsprachigen Literatur zwischen der Jahrhundertwende und 1918, in  : Trans. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, November 1997, Nr. 2, S. 3. Siehe http://www.inst.at/trans/2Nr/herzog.htm (letzter Zugriff  : 22.02.2017). 418 Der Roman ist nicht gut lektoriert  ; neben diversen Druckfehlern variiert auch die Schreibweise des Namens Heinrich Vogel mit Heinrich Vogl.



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entfernt hat, und dies obwohl ihre »Eltern aus dem Osten stammten«,419 andererseits aber auch »›nicht Zionistin sein‹« kann,420 gelingt Heinrich, wie es die Erzählerinstanz vermittelt, eine zeitgemäße Synthese  : Ohne traditionell religiös zu leben, ist er sich doch »des tiefen Sinnes des Gesetzes gewahr«.421 Diese identifikatorische Verbundenheit mit der Religion und Geschichte der Väter bestimmt ebenso sein Selbstverständnis als Jude wie die hebräische Sprache, seine zionistische Lektüre und eine Schmiedelehre als praktische Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina. In seinem Vorhaben sieht er sich von Martha Wille unterstützt, die ebenso wie er den Zionismus beim Wort nimmt. Sie besteigen am Ende den Zug nach Italien, um sich von dort aus nach Erez Israel einzuschiffen. Dass Gerti, die sich Heinrich und Martha zunächst anschließen will, »einstweilen […] nicht nach Palästina« mitkommt, sondern mit ihrem neuen christlichen Freund nur »bis nach Italien, auf eine Studienreise« fährt, wird – wie viele andere Situationen im Text – auch räumlich semantisiert. Die Wankelmütigkeit Gertis veranlasst Martha zu einer kurzen Bemerkung, die den endgültigen Bruch zwischen den Freunden verdeutlicht  : »Wir werden Euch nicht stören, Ihr braucht selbstverständlich ein separiertes Kupee  ?  !«422 Auffallend ist, dass die Kategorie des Raums in diesem Roman vor allem im Hinblick auf die sozialen Konstellationen den gesamten Handlungsverlauf strukturiert. Als wesentlich sind dabei zwei Projektionsformen anzunehmen  : 1. Orte/ Räume der Gemeinschaft, 2. Orte/Räume des Privaten. Eine dritte Ausprägung, die gewissermaßen zwischen diesen beiden changiert bzw. diese überbietet, stellen die virtuellen Räume des Buches und des Bildes, mithin des Ästhetischen, dar. 6.1 Orte/Räume der Gemeinschaft

Der Roman beginnt wie Theodor Herzls Altneuland (und andere zionistische Romane) in einem Kaffeehaus. Allerdings bildet es hier nicht die letzte vertraute Zufluchtsstätte für einen verzweifelten jungen Mann, bevor er sich auf eine einsame Insel zurückzieht, sondern vielmehr den Versammlungsort aufgeregter Studenten und Sprechsaal für einen »Arbeiter aus Palästina«. Die Rede des Arbeiters  – de facto eine kleine Binnenerzählung im Modus der ›Mauerschau‹ – verursacht die »vielfältigsten Gefühle, Wünsche und Vorstellungen […] in den Zuhörern«.423 Allerdings entwirft der Redner ein sehr desillusionieren419 Teller, Altneue Menschen, S. 30. 420 Teller, Altneue Menschen, S. 35. 421 Teller, Altneue Menschen, S. 31. 422 Teller, Altneue Menschen, S. 404. 423 Teller, Altneue Menschen, S. 5. Das Kaffeehaus wird nicht näher beschrieben  ; weder die Ein-

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des Bild von Palästina, das nur sehr entfernt an Herzls Ideal von Altneuland erinnert. Nicht einmal ansatzweise scheint die große Vision verwirklicht. In der vertrauten Umgebung des Kaffeehauses, das in letzter Konsequenz eine räumliche Miniatur des »jüdischen Prag«424 darstellt, büßt das durch die unmittelbare Erzählung greifbare Palästina sogar an Attraktivität ein, und die Anwesenden verspüren durch die Präsenz des Arbeiters vor allem die unangenehme Herausforderung, »nur zu handeln, wie jene gehandelt hatten, von denen er erzählt hatte.«425 Der Bericht des Mannes über jenes entfernte und scheinbar unzivilisierte Land verstärkt vor allem den Kontrast zum Ort seiner Rede, denn im Kaffeehaus bündeln sich all jene kulturellen Errungenschaften, die den Besuchern als Ausdruck eines uneingeschränkt positiven Lebensgefühls gelten und die sie nicht missen möchten. Im Kaffeehaus verblasst aber nicht nur die Faszination Palästinas, das Leben in der Diaspora wird hier sogar von eigentlich überzeugten Zionisten in einer Art Abwehrreaktion als notwendiges Opfer stilisiert  : ›Und ich sage Euch‹, sagte Professor Eckener, ›unser Leben ist hier schwerer, problemreicher als das der Arbeiter in Palästina. Dort heißt es nur arbeiten  ; hier musst du aber zu allem und zu jedem Stellung nehmen […] hingegen dort  : Arbeit und nichts weiter. Wer die Primitivität erträgt, ertrage sie  !‹426

Dr. Wiesenweiß, »ein von zionistischen Kaufleuten gesuchter Advokat«, stellt in Ergänzung dazu die These auf, dass nur unverheiratete Männer, »ohne Verantwortung für Weib und Kind« und »ohne fertigen Beruf« nach Palästina gingen. »Ohne die Galuth kein Erez Israel  !«427 Damit brüskiert der Anwalt all jene Studenten, die gerade ihre Auswanderung vorbereiten  : Ihre Entscheidung wäre so leicht  ? Es wäre so geringfügig, die europäische Zivilisation zu verlassen  ? Ohne gepflegte Kleidung, Tänze, Konzerte, Theater zu leben  ? Es wäre gar nichts, in Ansiedlungen, wo es keine Kinos gäbe, wo es nur Mädchen mit plumpem Gewande, verblühter Jugend und Werktagslangeweile gäbe, zu wohnen  ?428 richtung, noch das Personal spielen hier eine Rolle. Daraus lässt sich schließen, dass nur die Funktion dieses Orts  – eben als Versammlungsstätte und Raum der Gemeinschaft und des Diskurses – von Bedeutung ist. 424 Unter dem Titel »Das Jüdische Prag« wurde im Kriegsjahr 1917 eine bekannte Sondernummer der Prager zionistischen Zeitschrift Selbstwehr herausgegeben. 425 Teller, Altneue Menschen, S. 6. 426 Teller, Altneue Menschen, S. 6, [Hervorhebung im Original]. 427 Teller, Altneue Menschen, S. 6 f. 428 Teller, Altneue Menschen, S. 7. Hier zielt der Erzähler auf das eigentlich antizionistische Klischee der unattraktiven Pionierin als Gegenbild zum gut situierten Bürgermädchen ab.



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Als schließlich einige Zeit später »die erste Gruppe junger Zionisten […] als Chaluzgemeinschaft nach Palästina« aufbricht,429 finden sich die Kaffeehausgäste nichtsdestoweniger am Bahnhof ein, um die Abreisenden zu verabschieden. Der Bahnhof fungiert im topographischen Gefüge des Romans gewissermaßen als letzter Ort der ›alten‹ Gemeinschaft. Er ist aber nicht wie das Kaffeehaus ein neutraler Raum, in dem noch um Positionen gerungen werden kann.430 Auf der Handlungsebene ist hier alles bereits entschieden  – räumlich aber geschieden. Die Zurückbleibenden stehen am Perron, die Chaluzim besteigen den Zug. Und so spiegelt die räumliche Anordnung der Personen auch die inhaltliche Aussage wider. Das Gespräch kann in dieser Situation nur noch einseitig stattfinden  : Dr. Wiesenweiß [trat] vor und nahm im Namen der Zurückbleibenden Abschied. Die Worte, die er sprach, waren mehr an seine Bekannten als an die Jugend gerichtet  ; er, der nie beim Militär gewesen war, sprach in militärischen Ausdrücken von der Front, die ohne Hinterland sich nicht halten könne.431

Der Bahnhof ist ein Ort des Sowohl-als-auch, des Nicht-mehr und Nochnicht, er bildet einen Zwischenraum und Grenzbereich für die Gemeinschaft, an dem die Konfliktlinien deutlich wie an keinem anderen Ort im Text zutage treten. Hier trennt sich das Handeln vom Sprechen, die Praxis vom Diskurs. Tatsächlich wird dieser grundsätzliche Konflikt zwischen den mehr oder weniger überzeugten Anhängern des Zionismus in den immer wieder (vor)geführten Diskussionen nicht gelöst  ; letztlich bleibt er bis zum Ende des Romans als die alles überlagernde Dualität bestehen. Leah Hadomi erkennt in einer derartigen Konstellation einen vielfach in zionistischen Texten relevanten »Ich-WeltKonflikt, die subjektive Haltung gegenüber der historisch-objektiven Notwendigkeit«. Ausgelöst durch den Wunsch nach Verwirklichung der zionistischen Idee, steht die permanente Forderung im Raum, die individuellen »Bedürfnisse zugunsten der Allgemeinheit« aufzugeben.432 Eine prinzipielle, auf ein Kollektiv zu übertragende Entscheidung kann es, schließt man sich der immanenten Aussage des Autors an, in dieser Frage allerdings nicht geben. Es liegt allein in der Verantwortung des Einzelnen, den Schritt von der abstrakten Zustimmung zum Zionismus in die Praxis zu wagen. Der Autor formuliert in diesem 429 Teller, Altneue Menschen, S. 99 ff. 430 Vgl. z. B. Milorad Andrial, Heiko Haumann, Die Juden Prags auf der Suche nach ihrem Selbstverständnis und die »Prager Richtung« im Zionismus, in  : Heiko Haumann (Hg.), Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität, in Zusammenarbeit mit Peter Haber, Patrick Kury, Kathrin Ringger, Bettina Zeugin. Basel et al. 1997, S. 96–100. 431 Teller, Altneue Menschen, S. 99. 432 Hadomi, Jüdische Identität, S. 27.

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Kontext jedoch keine verbindlichen Handlungsanleitungen, sondern er delegiert die Bewertung der unterschiedlichen, an die Figuren gekoppelten Positionen an den (zionistisch orientierten) Leser. Das erreicht er nicht zuletzt dadurch, dass die Protagonisten trotz ihrer teils widersprüchlichen Charaktere – mit kleinen Einschränkungen – letztlich alle als sympathische Figuren gezeichnet sind. Verstärkt wird diese Strategie dadurch, dass die dargestellten Konflikte an keiner Stelle durch das Auftreten einer ›feindlichen‹ oder negativ besetzten Figur ausgelöst werden, sondern allein im Innenleben der Figuren angelegt sind. Der Autor zeigt die Protagonisten in verschiedenen Stadien ihrer persönlichen Reifeprozesse und gesteht ihnen bis zum Schluss Entwicklungspotenzial zu. Während sich beispielsweise Heinrich und Martha beruflich für ihre künftigen Aufgaben in Palästina ausbilden, gilt ihren Bekannten schon der Besuch einer Wohltätigkeitsveranstaltung als hinlänglicher Beweis ihrer tatkräftigen Unterstützung der Idee. Dass solche Aktivitäten, die textimmanent gleichwohl nicht prinzipiell in Frage gestellt werden, in letzter Konsequenz aber keine nachhaltigen Veränderungen zeitigen, erkennen die Beteiligten allerdings selbst  : Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Menschen nicht wissen, wie sie sich die lange Zeit ihres Lebens kürzer machen sollen. Auch wollen sie gerne zeigen, daß sie Geld haben. Das Komitee macht nun aus beiden Tatsachen einen Purimball  : man glaubt sich unterhalten, gibt viel Geld aus und der Nationalfond ist um einige tausend Kronen reicher. Und es kommt schließlich doch nur auf den Zweck an  ; der Zweck heiligt die Mittel auch in unserer Bewegung  !433

Zu Konsequenzen führen derartige Erkenntnisse, in diesem Fall von Dr. Wiesenweiß ausgesprochen, bei den Unschlüssigen jedoch nicht. Sie verstecken ihren Mangel an persönlicher Entscheidungskraft vielmehr weiterhin hinter einem regen Veranstaltungswesen und der Permanenz der Debatte. So werden die Diskussionen aus dem Kaffeehaus an anderen Orten, wie zum Beispiel in einem Tanzsaal und einem Nebenraum auf einem Purimball fortgesetzt. Hier wie dort dokumentiert allein die Anwesenheit der Personen deren zionistische Grundeinstellung. Die von ihrer Ausstattung und Offenheit her betrachteten 433 Teller, Altneue Menschen, S. 85. Zuvor heißt es über den Lehrer Dr. Eckener  : »er konnte nun von Unterhaltungen im allgemeinen und im besonderen sprechen, konnte auf Grund dieser Teilung eine Art Systematik der Feste aufbauen, ja, es gelang ihm, die ganze Propaganda und Erziehung mit dem Purimball in abhängige Beziehung zu bringen.« Vgl. weiterhin S. 123  : »Die Allgemeinheit der zionistischen Idee war damals in der Stadt schon ziemlich verbreitet und Zionist nannte sich jeder, der von Agitatoren oder Sammlern zur Zahlung des Schekels bewogen wurde. Zionist sein bedeutete damals nicht mehr, als äußerlich mit den Unternehmungen zu sympathisieren […].«



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neutralen Gemeinschaftsräume, in denen sich die »altneuen Menschen«434 treffen, ersetzen in den Augen der Beteiligten Altneuland gewissermaßen als lokale Provisorien. Solche neutralen Räume rechnet Georg Simmel in seiner Abhandlung Über räumliche Projektionen socialer Formen im Zusammenhang mit Konfliktsituationen zweier Parteien435 einem »bedeutsamen sociologischen Typus« zu. Denn diese Räume bieten die Möglichkeit der Begegnung, ohne daß […] einer von beiden seinen Standpunkt zu verlassen braucht, so ist damit jene Objektivation und Differenzierung eingeleitet, die das Streitobjekt im Bewußtsein der Parteien von denjenigen Interessen trennt, die jenseits jenes liegen, bezüglich deren eine Verständigung oder Gemeinsamkeit möglich ist […].436

Konkret zählt Simmel »Sphären der Geselligkeit […] bis zu den Lokalitäten, die ihnen geweiht sind«, zu diesen neutralen Räumen. Ein Charakteristikum dieser Räume liege darin, dass die Parteien sich dort begegnen können, sich aus den Grenzen, die sie voneinander trennen, lösen können, ohne sie aber zu übertreten.437 Als eine virtuelle Abstraktion solcher neutralen Räume lassen sich auch verschiedene Bücher der Protagonisten deuten. In ihrer Lektüre begegnen sie einerseits den Gedanken des Verfassers, andererseits verbindet sie die gemeinsame Erfahrung des Lesens auch untereinander. Der Ort der Gemeinschaft ist dann gleichsam verlagert vom Kaffeehaus oder Ballsaal in das Buch. Die Figuren bestimmen, wann sie welchen Kommunikationsraum betreten, d. h. welches Buch sie lesen. Sie sind aber niemals genötigt, sich endgültig für eine Option zu entscheiden  : »Wenn ich das eine Buch gelesen hatte, dessen ich gerade bedurfte, um eine wichtige Wand meines Gebäudes aufzurichten, geriet in den Bereich meiner Augen ein anderes. Fast halluzinatorisch las ich und mit einer selbstvergessenen Sicherheit.«438 Einen besonderen Stellenwert nehmen in diesem Kontext die Werke Bubers ein. Sie werden von verschiedenen Figuren in unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung rezipiert. Dieser Befund ist in zweifacher Hinsicht von Interesse  : Zum einen scheint die Person Martin Buber – wie 434 Der Titel wird an keiner Stelle im Text noch einmal aufgegriffen. Das könnte auch darauf hindeuten, dass der Erzähler die »altneuen Menschen« eigentlich gar nicht im Text-Raum dieses Romans verortet, sondern dass diese außerhalb des Textes und außerhalb des erzählten Raums, nämlich in Palästina, zu vermuten sind. 435 In diesem Fall wären das einerseits die auswanderungswilligen und andererseits die lediglich der Idee anhängenden Zionisten. 436 Simmel, Über räumliche Projektionen, S. 219. 437 Simmel, Über räumliche Projektionen, S. 219 f. 438 Vgl. z. B. Teller, Altneue Menschen, S. 218.

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Gershom Scholem feststellt – aus der zeitgenössischen Perspektive Karl Tellers trotz seiner Popularität eine vielen Figuren im Text vergleichbar unentschiedene Position zu besetzen  : Freilich könne man […] sagen, daß es zu den bittersten Erfahrungen jener Jugend gehörte, daß Buber nicht die von ihr erwarteten Konsequenzen aus seiner Botschaft zog. Buber […] hatte diese Jugend aufgerufen, ins Land Israel zu gehen und aus schöpferischem Antrieb die Gestaltung des neuen Lebens, das dort wachsen sollte, zu unternehmen. Sie hat ihm nie verziehen, daß er nicht mit ihr gegangen ist, als die Stunde schlug.439

Zum anderen fällt auf, dass Bubers Werke vor allem als Lektüre der weiblichen Figuren, Agathe, Lisbeth und Frau Eckener, Erwähnung finden. Sie ziehen daraus je nach ihrer charakterlichen Disposition unterschiedliche Schlüsse, so auch in ihrer Haltung zum Zionismus  : Zum Beispiel Agathe, die »Zionistin […] mehr aus dem Bedürfnis des Geistes und des Gefühls, als aus der Notwendigkeit einer Willensrichtung« ist, führt »Martin Buber […] nicht zurück, nicht fort, sondern zu sich und hinan. Die Elemente europäischer Kultur, die ihr Leben ausmachten, zeigte er ihr als wesentlich jüdisch.«440 Über das Lektüreverhalten der einzigen Frau, die sich für die Auswanderung entscheidet, erfährt man hingegen fast nichts, nicht einmal, ob sie außer Fachbüchern überhaupt etwas liest  : »Die Abende und den Frühmorgen verbrachte ich mit Lektüre. Entweder Anatomie und Kinderheilkunde oder Kinderpsychologie und Pädopathologie.«441 Martha Wille denkt und handelt pragmatisch und zielorientiert. Sie benötigt keine Bücher, um sich von der Richtigkeit der zionistischen Idee zu überzeugen. Wenn sie im Gegensatz zu Agathe nicht von der »europäischen Kultur«, sondern nur von der »Bequemlichkeit Europas«, die in Palästina durch »das Gemeinschaftsgefühl« ersetzt werde,442 spricht, wird in dieser anthropomorphen Charakterisierung der Territorien der eigentlich zu überwindende Gegensatz benannt. Doch selbst wenn die Frauen außer Martha den Schritt nach Palästina (noch) nicht wagen, verkörpern Agathe Walden, Lisbeth und Frau Eckener nichtsdestoweniger einen selbständigen Frauentypus, dessen Lektüreverhalten an eine eigentümliche Bemerkung Gustav Landauers erinnert. Er hatte in Buber 439 Gershom Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums (1966), in  : ders., Judaica  2, Frankfurt am Main 51995, S. 134. Scholem bezieht diese Feststellung auf die Zeit während des Ersten Weltkriegs und kurz danach, also jene Zeit, die zwischen der erzählten Zeit und dem Erscheinungsjahr des Romans liegt. 440 Scholem, Bubers Auffassung, S. 134  ; vgl. dazu z. B. Teller, Altneue Menschen, S. 124 f. 441 Teller, Altneue Menschen, S. 355. 442 Teller, Altneue Menschen, S. 170.



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einen »Erwecker und Fürsprecher des spezifisch frauenhaften Denkens, ohne das unsrer fertigen und gesunkenen Kultur keine Erneuerung und Erfrischung kommen« werde, erkannt.443 In diesem Sinne gibt Buber, der Gershom Scholem als »ein höchst facettenreicher und verwickelter Mensch«444 gilt, in Tellers Roman nicht den Gewährsmann als unhinterfragtes und widerspruchsfreies Idol ab, sondern er scheint hier in doppelter Weise zu wirken  : durch seine Werke »als wahre[r] Lehrer der Jugend«, wie es in der Widmung des Romans heißt, und durch sein Leben – gerade auch aufgrund seiner von Zeitgenossen konstatierten Widersprüchlichkeit – als authentische und (an)greifbare Beglaubigungsfigur. Der sensible Heinrich Vogel, der »blutjunge Ingenieur«,445 hält sich hingegen an »das Eine, das liebe Buch«,446 die Bibel, die ihm die Mutter einst als »einzigen Begleiter für das Leben mitgegeben« hatte.447 Welche weiteren Bücher er liest, erfährt man nicht. Gegen Ende des Romans heißt es nur in einem Nebensatz  : »Er erzählte […] von den Büchern, die er gelesen hatte  ; von Gordons Gedankenwelt.«448 Er empfindet es zwar als Pflicht, die zionistischen Veranstaltungen zu besuchen, aber gerade dort, an den Orten der Gemeinschaft, wird ihm die Unzulänglichkeit der aktuellen Lage besonders bewusst  : Noch nie war es ihm so furchtbar klar geworden, daß der Zionismus die meisten Zionisten nicht verändert hatte. Fast die gesamte Jugend, die die Ideale, die sie immer verkündete, zu den ihren gemacht hatte, war sich gleich geblieben. Aus den zionistischen Jünglingen wurden zionistische Verdiener, die wieder ihren Kindern zionistische Gefühle […] gönnten.449

Das Aufbegehren Heinrichs gegen das Verhalten seiner Bekannten äußert sich jedoch nicht in der Teilnahme an deren Diskussionen, sondern vielmehr in seinem räumlichen Rückzug. Er verlässt die Gesellschaften  – und damit die neutralen Zonen der Auseinandersetzung – meist recht schnell, so auch den Pu443 Gustav Landauer im »Buber-Heft« der Neuen Blätter. Hellerau 1913, S. 96  ; hier zitiert nach Scholem, Bubers Auffassung, S. 135. 444 Scholem, Bubers Auffassung, S. 134. 445 Teller, Altneue Menschen, S. 7. 446 Teller, Altneue Menschen, S. 23 f., [Hervorhebung im Original]. 447 Teller, Altneue Menschen, S. 21. 448 Teller, Altneue Menschen, S. 353. Gemeint ist Aaron David Gordon (1856–1922), der als »geistiger Führer« der Arbeiterschaft in Palästina in seinen Schriften die »Ideologie der Chaluzbewegung u. des Hapoel Hazair« begründete. Er geht von der »Erneuerung des einzelnen Menschen (Chiddusch ha-Adam) in d. Lebenshaltung u. sozialen Verbundenheit« aus. Siehe Stichwort  : Gordon, Aaron David, in  : Philo-Lexikon, S. 248. 449 Teller, Altneue Menschen, S. 91.

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rimball  : »Heinrich Vogl entschloß sich heimzugehen. Er durchschritt, wie um sich zum Abschiede seine Qual zu vergrößern, noch einmal alle Säle.«450 Doch diese vorläufig kurzfristigen Distanzierungen bilden nur die Vorwegnahme seines endgültigen Aufbruchs, wenn er sich mit seiner späteren Gefährtin Martha den Chaluzim, den Pionieren, anschließt und den Zug nach Triest besteigt. Als sich die beiden auf den Weg machen, kommen die alten Freunde noch einmal zusammen. In einem bereits an anderer Stelle im Text vorgeführten Abschiedszeremoniell, das »für den Fortziehenden überflüssig und für die Zurückbleibenden peinlich« wirkt,451 zeigen sich die Unterschiede zwischen den altneuen Menschen noch einmal überdeutlich  : Einige bekamen Tränen, als sie zum letztenmale die Hand reichen sollten, andere, im Taumel des Überschwanges und von Schuldgefühl überflutet, stammelten ein ›Wiedersehen‹ oder ein ›Chasak we’emaz‹ und sahen sich schon als Arbeitsgenossen neben ihnen, die Mehrzahl drückte rasch und leicht die Hand und wollte ungesehen verschwinden.452

Vor allem für eine tendenziell auswanderungsbereite zionistische Leserschaft werden die nicht mehr jugendliche Martha und Heinrich, die beide durch ihr Engagement gegen die behäbige »bürgerlich-jüdische Gesellschaft«453 Stellung beziehen, nicht zuletzt im Kontrast zu Hugo und Agathe sowie dem Ehepaar Eckener als uneingeschränkt positive Identifikationsfiguren bestätigt. 6.2 Orte/Räume des Privaten

Die Vorbereitung auf die Auswanderung des Paares ist in einen anderen narrativen räumlichen Kontext gestellt als das Alltagsleben der übrigen Figuren. Während Martha über weite Strecken aus dem Text verschwindet und erst am Ende wieder auftaucht und über ihre Ausbildung berichtet,454 erfährt der Leser, dass sich der beruflich erfolgreiche Ingenieur Heinrich455 in seinen Herkunftsort zurückzieht, um beim dortigen Schmied in die Lehre zu gehen. Ein ganzes Kapitel widmet der heterodiegetische Erzähler in diesem Zusammenhang einem Ausflug, den seine Freunde spontan in das tschechische »Heimatstädt450 Teller, Altneue Menschen, S. 92. 451 Teller, Altneue Menschen, S. 402. 452 Teller, Altneue Menschen, S. 403. 453 Teller, Altneue Menschen, S. 11  ; siehe z. B. auch S. 99 ff. 454 Teller, Altneue Menschen, S. 355. 455 Teller, Altneue Menschen, S. 28. Heinrich hat eine gute Stellung und ist ein »von Alterskollegen« und den »Juden seines Heimatstädtchens« bewunderter junger Mann.



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chen«456 Heinrichs unternehmen, um ihn zu besuchen. Das »Stübchen«, das er dort »am Ende der Judengasse«457 bewohnt, erinnert nicht im Entferntesten an die bürgerlichen Wohnverhältnisse in der Stadt. In dieser räumlich differenten Situation bestätigt sich eine frühere Bemerkung Marthas. Sie hatte auf dem Purimball zwischen Heinrich und jenen, denen »die Organisation […] Selbstzweck«458 sei, unterschieden  : »Es gibt zweierlei Menschen  : solche, die bei allem dabei sein wollen, und solche, die nur bei sich sein wollen.«459 Heinrich zählt sie zu den letzteren. Gleichzeitig definiert das »Bei-sich-sein« einen Zustand unverbrüchlicher Identität, den Heinrich in seiner Hinwendung zum Zionismus erreicht hat. Allein aufgrund der Abgeschiedenheit seiner Lage könnte Heinrichs Zimmer zunächst nur als Ort und Ausdruck absoluter Weltabgewandtheit gedeutet werden. Es verweist aber in seiner bewusst gehaltenen Kargheit und der ausschließlich zweckmäßigen Einrichtung gleichzeitig auf die als entbehrungsreich erwartete Zukunft in Palästina. Die in der Zurückgezogenheit sichtbar werdende Konzentration Heinrichs, die auf sein Leben in der Gemeinschaft der Chaluzim ausgerichtet ist, wird in dem leer wirkenden Raum noch einmal fokussiert.460 Dadurch kommt ihm eine paradoxe Zwischenstellung zu  : Er trägt die Zeichen des Individuellen und des Kollektiven in sich. In diesem Raum verstummen auch die Diskussionen der Ausflügler über ein Pro und Kontra der Auswanderung. Erst als sie Heinrich in die Werkstatt führt, brechen die alten Gegensätze wieder auf. Die Gäste wünschen sich eine Demonstration der Schmiedekünste des »jungen Zionisten«, doch plötzlich »schämte er sich für die Zuschauenden, er schämte sich vor sich selbst, er schämte sich für sein Volk. Den Hammer in die Hände zu nehmen und ihn zu schwingen  : dies war schon für die Juden ein Wunder  !«461 Heinrich lässt seine Bekannten stehen. Dr. Wiesenweiß, seine Frau und ein (christlicher) Architekt fahren empört »in die Hauptstadt zurück«, um »dort noch in die Bar zu gehen.«462 Die anderen verbringen in einem eigenartigen Schwebezustand die Nacht im Ort. Die Wohnräume der Eckeners, Hugos, Agathes und Lisbeths in der Stadt unterscheiden sich unabhängig von den materiellen Möglichkeiten ihrer Bewohner in ihrer Einrichtung, ihrer Funktion und in ihren Semantisierungen deutlich von Heinrichs Rückzugsort. In ihren privaten Räumen, die teils mit einfachen Mitteln gestaltet sind, verbergen die Menschen ihre Unsicherheiten und Ängste. 456 Teller, Altneue Menschen, S. 229. 457 Teller, Altneue Menschen, S. 230. 458 Teller, Altneue Menschen, S. 100. 459 Teller, Altneue Menschen, S. 96. 460 Teller, Altneue Menschen, S. 231. 461 Teller, Altneue Menschen, S. 234. 462 Teller, Altneue Menschen, S. 235.

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Dort leben sie ihre Sehnsüchte aus und erproben ihre Lebensentwürfe. Teilweise kapseln sie sich in ihren Zimmern ein wie in einen Kokon  : So weiß Agathe, die Hugo »für sein Luxusbedürfnis sein Zimmerchen umgestaltete«, den Geliebten »in der schönen Umgebung seines Ateliers geborgen«, während sie tagsüber als »gewissenhafte Sekretärin« ihr Brot verdient. Abends tritt sie Hugo als »heimgekehrte Mutter«463 und Muse entgegen. Dr. Eckener und seine Frau geben sich in ihrer Wohnung ganz dem Studium der zionistischen Lektüre hin, sprechen miteinander Hebräisch und schließen so unbeabsichtigt ihr eigenes Kind, das vom christlichen Hausmädchen mehr Zuwendung bekommt als von den Eltern, aus ihrem Kreis aus. Zuhause kompensiert Eckener auch das Gefühl der »gleichgültigen Nichtachtung«, die er seitens seiner Kollegen in der Schule zu verspüren glaubt. Den ständig »vermutete[n] […] Antisemitismus« deutet die Erzählerinstanz als Eckeners »Furcht der Einsamkeit, die das Ghetto selbst schon dem freien Kinde mitgab.«464 Nur einmal formuliert Eckener Zweifel gegenüber seiner Frau an der gemeinsamen Lebensgestaltung. Im Schutz der eigenen vier Wände spricht er aus, was ihm im Kaffeehaus unmöglich war  : Als ich die Chaluzim davonfahren sah, glaubt’ ich, ich allein verstünde sie  ; doch jetzt weiß ich  : kein einziger hat sie verstanden  ! Denn verstünde sie einer, würde er gleich heute anders zu leben beginnen  ! Er hätte es nicht ertragen, in die Gemütlichkeit seiner Schlafzimmer und in die Fauteuils seiner Wohnzimmer zurückgekehrt zu sein.465

Was Eckener die Philosophie, bedeutet Hugo seine Malerei. Doch obwohl ihn »Palästina […] als ein neues Stoffgebiet für die Malerei und besonders für die Graphik« anzieht, lassen seine Zeichnungen nicht darauf schließen, »daß er Zionist sei.«466 Hugo und Agathe beziehen nach einer kurzen Trennungsphase eine gemeinsame Wohnung, die Hugo gleichzeitig als Atelier dient. Anlässlich einer Einladung zu einem Seder-Abend begeht der Leser gewissermaßen in Begleitung der Gäste die neue Wohnung, die ausführlich beschrieben wird.467 Doch der Zweck dieses von einem Gast als »studentisch-bohemienhafte Zusammenkunft«468 bezeichneten und letztlich missglückten Abends, der mit einer traditionellen Sederfeier nur wenig gemein hat, liegt für die Gastgeber nur 463 Teller, Altneue Menschen, S. 66 ff. 464 Teller, Altneue Menschen, S. 127 f. 465 Teller, Altneue Menschen, S. 134. 466 Teller, Altneue Menschen, S. 124. Es heißt sogar, Hugo habe sich »der zionistischen Bewegung mehr aus Ruhebedürfnis angeschlossen.« 467 Teller, Altneue Menschen, S. 155 ff. 468 Teller, Altneue Menschen, S. 164. Diese Worte werden allerdings dem christlichen (und tendenziell antisemitischen) Architekten, dem Freund Gertis in den Mund gelegt.



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in seiner Alibifunktion begründet  : »Sie hofften damit ihre spätere Ungestörtheit sich erkaufen zu können. Einen Abend lang gönnte man Fremden freiwillig einen Einblick in sein Leben, wenn man dann wieder sich unbeobachtet treiben lassen konnte.«469 Allein diese auch räumlich dokumentierte Selbstbezogenheit Agathes und Hugos verweist auf ihre Unfähigkeit, sich einem gemeinschaftlichen Projekt, wie es die beim Seder-Abend ebenfalls anwesenden Chaluzim schon verwirklichen, tatsächlich anschließen zu können. Denn das bedeutete letztlich, privaten Raum aufzugeben. Zionismus zu leben, heißt aus der Perspektive der Arbeiter in Palästina, Raum zu teilen. Diese Vorstellung lässt selbst Martha kurzfristig an ihrer Entscheidung zweifeln  : Sie erschrak vor der Möglichkeit, daß sie einmal ein Zimmer, einen Raum werde mit einem anderen Menschen teilen müssen, daß sie in Augenblicken nicht allein sein könnte, daß sie darüber mißmutig würde und dem harmlosen Zimmergenossen Unrecht täte. Riesengroß dünkte ihr plötzlich das Opfer, das sie dem Lande bringen werde, indem sie auf ihre liebe Einsamkeit, die sie freiwillig wann immer mit Gemeinschaft vertauschen könnte, verzichten sollte.470

Das Oberflächliche, Stockende, Zögerliche in Hugos Wesen äußert sich allerdings nicht nur in seiner Einstellung zum Zionismus, sondern auch in seiner kreativen Arbeit. Diese scheint ihm mehr Fluchtpunkt vor der Realität als schöpferische Auseinandersetzung mit ihr zu sein  : »Die Geschichten Hugos hingen mit der Wirklichkeit nur so zusammen, wie etwa eine mit dem Wischer verwischte Zeichnung mit der Konturengenauigkeit der abgelauschten Skizze.«471 Vieles scheint im Leben des Malers lediglich von seinem Wollen bestimmt, und so bleiben auch nicht wenige Bilder im Stadium des Entwurfs oder der Idee hängen, was vor allem die junge Freundin Lisbeth kritisiert  : »Wie oft hatte sie schon von ihm gehört, daß er einen Zyklus  …  ? ›Schon wieder einen Zyklus  ? Wieviel haben Sie mit dem Munde schon gemacht  ?‹«472 Hugos innere Kämpfe, seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Versponnenheit spiegeln sich auch in seiner privaten Wohnsituation wider. Wie bei Heinrich besteht eine immanente Korrespondenz von Innen und Außen, von realem Raum und psychischer Befindlichkeit. Nichtsdestoweniger werden hier vom Autor zwei Gegenpole angezeigt. In Heinrichs Zimmer herrschen Klarheit, Leere, (innere) Sammlung, in Hugos Wohnung wirkt alles verstellt, verhängt, verziert, 469 Teller, Altneue Menschen, S. 155. 470 Teller, Altneue Menschen, S. 368 f. 471 Teller, Altneue Menschen, S. 58. 472 Teller, Altneue Menschen, S. 298.

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geschmückt, überladen. So verwundert es kaum, dass Hugo auch in der neuen Wohnung nicht zur Ruhe kommt. Seine Problematik verstärkt sich noch durch die Bekanntschaft mit Lisbeth, die zeitweise zu einer völligen Destabilisierung des jungen Mannes führt.473 Auch dieser Erzählstrang ist in ein aussagestarkes räumliches Gefüge eingebunden  : Hugo verlässt immer häufiger und für immer längere Zeiträume Wohnung und Atelier, er durchstreift die Straßen, in der Hoffnung, Lisbeth zu treffen, sucht sie in ihrem Zimmer auf, belauert sie vor ihrem Haus. Seine De-Platzierung sowohl in emotionaler wie in professioneller Hinsicht – er versteht sich als Künstler, muss seinen Lebensunterhalt aber als Zeichenlehrer verdienen – findet ihren Ausdruck schließlich in einem für ihn untypischen Bild, das er nicht vollenden kann. 6.3 Der ästhetische Raum

Das bevorzugte Sujet des Malers sind eigentlich »›Frauenbildnisse und Frauen­ akte‹«.474 Doch ausgelöst durch die Begegnungen mit Lisbeth, die neben ihrem Medizinstudium ebenfalls zeichnet und malt, arbeitet er über eine längere Zeit und konsequent wie selten an einem Werk, das in seiner Motivik und seiner räumlichen Anordnung von Häusern und Menschen Lisbeth zunächst als »›nichts Besonderes‹« erscheint. Doch die ästhetische Raumdarstellung strukturiert das Bild nicht nur formal, sondern sie re-präsentiert die persönliche Herkunftsgeschichte Hugos475 und dies in Stellvertreterfunktion für die unglückliche Situation des Disapora-Judentums. Im Zentrum des Bildes steht wiederum ein privater Raum, Hugos ursprüngliches »Heimatshaus«  : eine Dorfhütte, eine in sich sinkende Dorfhütte. Ringsum engen, schnüren das kleine Dörflein hohe stille Berge ein. Vor dem Hüttchen steht eine Frau, eine Mutter, und blickt in die Ferne, die Hand vor den Augen. Am Rande des Bildes ist im Dahinschreiten ein Knabe, dessen Blicke unverwandt vorwärts schauen […]476

Diese vom Einsturz bedrohte Hütte auf der Leinwand des Malers birgt gewissermaßen in einer medialen Transformation die Geschichte der von Hugo schmerzhaft gefühlten Erinnerung und »Heimatlosigkeit« als Jude in der 473 Das zwiespältige Liebesverhältnis zwischen den beiden, das sich letztendlich aber nicht erfüllt, dominiert den Roman über weite Strecken. 474 Teller, Altneue Menschen, S. 294. 475 Hugos Kindheit in einem slowakischen Dorf wird im vierten und fünften Kapitel erzählt (S. 39–60). Seine Eltern waren, wie es heißt, die einzigen Juden am Ort. 476 Teller, Altneue Menschen, S. 294.



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Galuth. Insofern firmiert das gemalte »Hüttchen« für einen Moment nicht nur als Ort und Visualisierung einer persönlichen Erfahrung, sondern trotz ihrer Bezugnahme auf Hugos eigenes (Er-)Leben als Meta-Narration im Text. Die Verlorenheit eines Aufbruchs ohne eigentliches Ziel, die Trennung von Eltern und Kindern, die hier als zwangsläufig und irreversibel dargestellt wird, versucht Hugo als allgemeinen und tragischen Zustand (zeitgenössischer) jüdischer Identität verständlich und sichtbar zu machen  : Das ist eine Mutter, die den Sohn nie mehr sehen wird  : alle Mütter gebären nur, um ihre Kinder für immer zu verlieren. Und da ist ein Sohn, der nur an seine Reise denkt und keinen Blick seiner Mutter gibt. Und die Hütte […] steht auch für sich allein, sie wird zusammenstürzen und niemand wird sie stützen. Selbst die schwache Frau wird sie früher verlassen haben. Wir Juden haben keine Heimat und fühlen keine Heimat. Aber wir fühlen schrecklich, tötlich [!] die Heimatlosigkeit.477

Die Benennung der »Trostlosigkeit [und der] Traurigkeit«478 und die Erkenntnis der mit dieser Situation verbundenen Tragik führt bei Hugo aber zu keinen Konsequenzen in der Lebensgestaltung oder der Hinwendung zu einer zionistisch geprägten Ästhetik. Es scheint vielmehr das Gegenteil der Fall  : Obwohl er zwar  – wie die Familien Eckener und Wiesenweiß  – diverse Veranstaltungen besucht, gelingt es ihm nicht, einen künstlerischen Ausdruck für seine zumindest verbal favorisierte Weltanschauung zu finden. Es erstaunt, dass der Autor diesbezüglich jegliche Anspielung an Künstler wie z. B. Ephraim Moses Lilien oder andere von Martin Buber favorisierte Maler unterlässt. Im Gegensatz zu den mehrfach funktionalisierten intertextuellen Verweisen auf im Sinne des Zionismus wichtige literarische Texte finden Bildkünstler, die z B. der Jüdischen Renaissance zuzurechnen wären, im Text keine Erwähnung. Die für Hugo Eisinger als Maler relevanten Traditionslinien verlaufen offenkundig anders  ; einem weltanschaulich motivierten ästhetischen Programm sieht er sich nicht verpflichtet. Er fühlt nur die Heimatlosigkeit und kann jenseits seines Herkunfts- und Aufenthaltsorts keinen anderen Ort der Zugehörigkeit erkennen – und so bleibt er auch in seiner Kunst befangen und den herkömmlichen Motiven bürgerlicher Ästhetik verhaftet. Entsprechend verlegen reagiert er, als ihn Lisbeth darauf anspricht, dass er doch einmal »gewaltsam unter dem Einfluß [der] zionistischen Freunde gerade etwas  – wie sagt man im Jargon der Oberflächlichkeit  ? – ›Jüdisches‹ schaffen« wollte.479 Aber Hugo Eisinger ist al477 Teller, Altneue Menschen, S. 294 f. 478 Teller, Altneue Menschen, S. 297. 479 Teller, Altneue Menschen, S. 296.

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les andere als ein »juedische[r] Künstler« im Sinne Martin Bubers.480 Das zeigt sich auch darin, dass es dem jungen Maler nicht gelingen will, einen geplanten »Zyklus von Radierungen zu [dessen] Baal-Schem Legenden [zu] zeichnen.«481 Doch was Hugo aufgrund seiner Sozialisation nicht umsetzen kann, könnte sich durch sein ungeborenes Kind, das auch einen hebräischen Namen tragen soll, 482 einmal verwirklichen  : und wenn sie [Agathe] gar […] sich ins Träumen von seiner Größe versetzte  : da war er ihr mit unter den edelsten, da zog er allen voran, dorthin, wohin sie aus eigenem Willen nicht gelangte …. und dieses Land war nicht ein Land der Wüste, es war ein Land der Herrlichkeit, wo Milch und Honig fließt, und er holte sie dahin ab und führte sie, die Mutter, im Triumph umher …483

Diese träumerischen Gedanken der schwangeren Agathe etablieren gewissermaßen als Gegenerzählung zu Hugos Bild, das gleichwohl durch seine persönliche Erfahrung gedeckt ist und deshalb auch nicht ›entwertet‹ werden kann, eine greifbare Zukunftsvision.484 Diese ist aber  – folgt man der Logik dieses Handlungsstrangs im Roman  – nur über den Umweg der Generationenfolge zu verwirklichen.485 Insofern endet der Roman nicht nur mit dem geschilderten Aufbruch Marthas und Heinrichs nach Palästina, sondern auf einer zwei480 Martin Buber (Hg.), Juedische Kuenstler. Berlin 1903. 481 Teller, Altneue Menschen, S. 297 und S. 343. Dieses Motiv ist vor allem deshalb bedeutsam, als Buber bekanntermaßen der »Chassidismus [als] die Geburt des neuen Judentums« gilt. Siehe Buber, Juedische Kuenstler, S. 5. 482 Teller, Altneue Menschen, S. 328. 483 Teller, Altneue Menschen, S. 382 f. 484 Die Gegenerzählung Agathes wird nicht nur durch die Situierung des Geschehens in Erez Israel geschaffen, sondern auch durch die angedeutete Familienkonzeption, in der die Kinder ihre Eltern nicht mehr verlassen müssen, wenn sie ein im Sinne des Zionismus geglücktes Leben führen wollen. 485 Jenseits politischer Konzeptionen würde dann auch die von Hugo so schmerzlich erlebte Trennung von seinen Eltern gewissermaßen wieder gut gemacht. Die Bezugnahme auf eine künftige zionistische Jugend korrespondiert mit den Entwicklungen zwischen den 1910er- und 1920er-Jahren, das heißt jenes Zeitraums zwischen der erzählten Zeit und dem Erscheinungsjahr des Romans. In dieser Periode wurde in Deutschland und in der Habsburgermonarchie bzw. in deren Nachfolgestaaten eine Vielzahl zionistischer Jugendverbände gegründet. Ab Ende der 1920er-Jahre setzte schließlich die so genannte Kinder- und Jugend-Alija ein. Vgl. dazu weiterführend, Jörg Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997, darin v. a. Zweites Kapitel, Jugendkultur und Zionismus, S. 53–77. Während Hackeschmidt vorwiegend die Entwicklungen in Deutschland untersucht, beschäftigt sich Alfred Gaisbauer mit der Situation in der Habsburgermonarchie  ; siehe Gaisbauer, Doppeladler und Davidstern.



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ten Ebene mit dem hoffnungsvollen Ausblick auf eine zukünftige Jugend, die dereinst nicht nur die Bedenken ihrer Eltern überwinden, sondern diesen dann auch eine Heimat in Erez Israel errichten würde. So reiht sich der Roman als ästhetischer Ort schließlich selbst in die Serie jener Bücher mit ein, die er als zionistische Intertexte immer wieder zitiert. Auch wenn der Roman für eine vom Autor anvisierte Leserschaft zunächst nur als Lektüre – ähnlich wie die Werke Bubers für Agathe und die anderen Figuren – fungiert, die noch keine konkrete Handlung nach sich zieht, so bildet sie vielleicht doch den ersten Schritt eines zukünftigen Aufbruchs. 7. Lothar Brieger-Wasservogel René Richter. Die Entwicklung eines modernen Juden. Berliner Roman in 3 Büchern (1906) – Selig Schachnowitz Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart (1912) – David Weinbaum Gerson Regensburger. Ein jüdischer Bauer (1920) Mit einem tatsächlichen Aufbruch enden hingegen Lothar Brieger-Wasservogels René Richter. Die Entwicklung eines modernen Juden. Berliner Roman in 3 Büchern (1906), der »Roman aus der Gegenwart« Luftmenschen (5672/1912) von Selig Schachnowitz und die Novelle Gerson Regensburger. Ein jüdischer Bauer (1920) von David Weinbaum.486 An diesen Beispielen zeigt sich noch einmal die Bandbreite literarischer Zugänge zum Zionismus, die verschiedene sozio-kulturelle Konstellationen in verschiedenen historischen Etappen betreffen. Die darin zum Ausdruck kommenden und in Abstufungen differenzierten Vorstellungen von Judentum als Religion oder als kulturellem System sowie im Gegensatz dazu von Juden als biologisch determinierten Einzelwesen orientieren sich zwar an außerliterarischen Diskursen, markieren letztlich aber hybride und 486 Lothar Brieger-Wasservogel, René Richter. Die Entwicklung eines modernen Juden. Berliner Roman in 3 Büchern. Berlin 1906  ; S[elig] Schachnowitz, Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart. Frankfurt am Main 1912 (5672)  ; D[avid] Weinbaum, Gerson Regensburger. Ein jüdischer Bauer. Novelle. Zürich 1920. Über den Kunsthistoriker Brieger-Wasservogel (1879–1949) finden sich in gängigen Literatur-Lexika keine Angaben. Die ausführlichsten biographischen Angaben siehe in  : Archiv Bibliographia Judaica. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 4, Brech–Carle, red. Ltg. Renate Heuer unter Mitarb. v. Andrea Boelke-Fabian, Rainer Brändle, Alois Hofman, Judith Lorenz-Wiesch, Siegbert Wolf. München, New Providence, London, Paris 1996, S. 48–59. 1933 emigrierte Brieger-Wasservogel nach Shanghai, kehrte nach 1945 zunächst nach Italien, dann wieder nach Deutschland zurück. Aus einem »fanatisch gläubigen« Elternhaus kommend, lehnte er jeglichen religiösen Zugang zum Judentum ab. – Über David Weinbaum konnten keine biobibliographischen Daten ermittelt werden, außer dass er bis 1921 als Herausgeber des Israelitischen Wochenblatts für die Schweiz tätig war.

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uneindeutige Positionen im Hinblick darauf, wie individuelle und kollektive jüdische Identität ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstanden wird. 7.1 Orte/Räume des Vertrauten

Die narrativen Raumkonstruktionen dieser Texte sind ebenso wie die anderen hier vorgestellten Beispiele durch Parameter der Diasporasituation dominiert. Die Leser begleiten die unterschiedlichen Figuren(-Typen) auf ihren verschlungenen (Lebens-)Wegen und werden dabei in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Figuren und der erzählten Geschichte(n), auf der Ebene der histoire und des discours, immer wieder mit dem textimmanent wirksamen Versprechen eines jüdischen Landes bzw. Staats konfrontiert. Aus der Zusammenschau der Texte lässt sich schließlich ein symbolisches Wegenetz nachzeichnen, das sich durch die Koordinaten bestimmter Räumlichkeiten und Orte, der Routen, die die handelnden Personen begehen, sowie durch die daran gebundenen Argumentationen bestimmen lässt. Die in urbanen, aber auch ländlichen Räumen gemachten Erfahrungen und Wahrnehmungen der Figuren generieren im Akt des Erzählens eine im eigentlichen Sinne zu verstehende mental map, die sich trotz der teils bekannten realen örtlichen Referenzen grundlegend von jenen Karten unterscheidet, wie sie aus Großstadtromanen nichtzionistischer Prägung oder Ghettogeschichten ablesbar sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass diese fiktionalen Texte über jene Theoretiker, auf die sich beziehen, hinausweisen. Selbst wenn »die beiden zionistischen Ausdrucksformen«, die in Buber und Herzl wohl ihre wichtigsten Proponenten haben, »unterschiedliche literarische Ausdrucksformen« fanden,487 so werden die Ideen, Thesen und Ziele des politischen Zionismus wie der Jüdischen Renaissance künstlerisch eigentlich von keinem Schriftsteller – auch nicht von Herzl oder Buber selbst – in idealtypischer oder ungebrochen affirmativer Weise transformiert. Vielmehr offenbaren sich in der Fiktion die den theoretischen Denkmodellen teils inhärenten Widersprüchlichkeiten und Probleme  ; die Literatur eröffnet als erstes jenen Raum, an dem sie in ihren potenziellen Auswirkungen facettenreich durchgespielt werden können. Insofern werden in den lebensweltlichen Anordnungen der literarischen Texte die außerliterarisch formulierten Ideen gewissermaßen einer Vorprüfung unterzogen. Dabei zeigt sich unter anderem, dass der Zionismus aus der Perspektive der Figuren keineswegs nur als zukunftsoptimistische Spielart des in Europa um sich greifenden Nationalismus, der in der Regel bereits vorhandene, wenngleich heterogene Strukturen zu einheitlichen politischen Gebilden auf bekanntem Territorium bündeln will, aufgefasst werden kann. Zum einen bele487 Willi Jaspers, Deutsch-jüdischer Parnaß, S. 315.



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gen das die textimmanent geführten Debatten um die Möglichkeit eines ›richtigen‹ (jüdischen) Lebens am ›richtigen‹ Ort. Zum anderen wird in den Texten nicht selten eine starke gefühlsbetonte Verbundenheit der Figuren mit dem Ort ihrer Herkunft suggeriert. In der Konsequenz bedeuten daher die Hinwendung zum Zionismus und gar die Umsetzung der kollektiv ausgerichteten zionistischen Vision gleichzeitig einen Verlust, der in den Texten sowohl durch die Erzählerinstanzen als auch von den betroffenen Figuren selbst mitgedacht oder expressis verbis formuliert wird. Dieser Verlust bezieht sich immer auf dasselbe Phänomen, wenngleich die Bezeichnungen dafür variieren  : auf die alte »Heimat«. Das schließt in der Regel die Familie, jüdische und nichtjüdische Freunde und Geliebte ein, darüber hinaus die Natur, bekannte Landschaften und kulturelle Gewohnheiten. Topographisch sind die darauf gerichteten Emotionen der Figuren an das Dorf, die Großstadt, Deutschland oder Österreich bzw. die Habsburgermonarchie gebunden, mithin an die Diaspora und sie richten sich im Kern – jenseits der theologischen Implikationen und bei aller empfundenen und beschriebenen Problematik der Diasporaexistenz – auf das historisch Vertraute. Selbst in Brieger-Wasservogels Roman, der mit großem Pathos immer wieder den Ekel des Protagonisten vor seiner Berliner Umwelt schildert, blicken der Protagonist und seine Frau beim Auslaufen aus dem Hamburger Hafen mit Wehmut auf das Festland zurück. Hinter ihnen versank das alte Europa. […] ›Sieh’ René,‹ sagte sie, ›da haben wir alles hinter uns gelassen, was unserer Kindheit teuer war.‹ ›Ja‹, sagte René und drückte sie zärtlich an sich, ›und wir können uns nicht ohne Schmerz losreißen. […] Und wie lange noch  : dann taucht es lockend und heimatlich süß vor uns aus den Fluten, der Ausgang unseres Stamms, das Ziel unserer Sehnsucht, das Land unserer Kinder, Palästina  !‹488

Dieser Romanschluss liest sich nicht nur wie eine fiktionale Fortsetzung von Karl Tellers Roman Altneue Menschen, Ernst Sommers Gideons Auszug oder Weinbaums Novelle über die Familie Regensburger. Er gleicht bei aller Unterschiedlichkeit des erzählten Geschehens auch Selig Schachnowitz’ Roman Luftmenschen, obschon die zeitlichen Koordinaten hinsichtlich des Erscheinungsdatums der Texte und des Handlungszeitraums nicht unwesentlich divergieren.489 Trotzdem oder gerade deshalb kann diese Übereinstimmung als Signal für eine motivische Kontinuität innerhalb der deutschsprachigen zionistischen Erzähl488 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 379. 489 Alle diese Romane erschienen mit teils deutlichem Abstand nach Brieger-Wasservogels Roman, der von seiner Entstehungszeit Altneuland am nächsten steht.

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literatur interpretiert werden. Die erträumte oder tatsächliche Abreise nach Palästina bildet in diesem Zusammenhang eine nahezu topologische Konstante, die im Wesentlichen die Funktion zu haben scheint, die Machbarkeit der Herzl’schen Visionen zu bekräftigen. Der damit für die Protagonisten verbundene schmerzliche Abschied von Europa verbürgt für die Leserschaft eher den Realitätsgehalt des Erzählten als dass es die Wirkmächtigkeit der idealistischen Aussage schmälern würde. Gleichzeitig wird auf der Ebene der Pragmatik die in den Texten stets präsent gehaltene Zusicherung eines jüdischen Staats bereits im erzählten Aufbruch ein Stück weit eingelöst. Die ›alte‹ Heimat ist, wie es die literarischen Texte immer wieder insinuieren, in der Regel nur mit Duldung seitens der nichtjüdischen Bevölkerung zu haben. Deshalb kann sie getrost zurückgelassen werden, weil in Palästina nicht nur eine »Heimstätte« – wie es im Baseler Programm formuliert ist490  –, wartet, sondern weil man sich dort eine ›eigene‹ Heimat schaffen kann. Durch die Betonung der im Land notwendigerweise zu verrichtenden Arbeit wird die Kolonisation gewissermaßen als Schöpfungsakt umgedeutet  : ›Die Heimat‹, keuchte Maslow, ›unsere Heimat.‹ ›Ja‹, erwiderte Hilda in tiefer Ergriffenheit, ›unsere Heimat, die wir uns durch die Arbeit erwerben …‹. Hand in Hand stiegen sie in das Landungsboot. Von oben herab tönte es aus hundert frohen Kehlen  : ›Die Heimat  !‹491

Der Verlust der vertrauten Umgebung wird durch das sich materialisierende Versprechen des noch unbekannten, aber schon vielfach erzählten Raums kompensiert. Nichtsdestoweniger führt selbst eine das gewohnte lebensweltliche Umfeld der Figuren bedrohende Krisensituation nicht automatisch zur Abreise aus Europa. Die in der Literatur dargestellten negativen oder beunruhigenden Erfahrungen der Protagonisten – häufig in Unterdrückungs- oder Ausschlussszenarien zum Ausdruck kommend – zeigen zwar in nuce die Instabilität und Unsicherheit der jüdischen Diasporaexistenz an. Trotzdem verweigern die Erzählungen in der Regel die Zusage, dass mit dem Verlassen Europas tatsächlich eine Überwindung aller Probleme einhergehen werde. In nahezu allen hier untersuchten Texten vertreten die zurückbleibenden Figuren implizit oder explizit die Haltung, dass das über Generationen eingeübte Verhalten im vertrauten Umfeld – selbst im Umgang mit der manchmal bedrohlich gezeichneten nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft – die Umstände kontrollierbar mache. Dass 490 Siehe dazu die Abbildung des handschriftlichen Entwurfs des Baseler Programms in  : Heiko Haumann, Einführung, in  : ders., Der Erste Zionistenkongress, S. 1–22, hier S. 22. 491 Schachnowitz, Luftmenschen, S. 212, [Hervorhebungen im Original].



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ein solcher Gestus den Ghettogeschichten und Großstadtromanen nichtzionistischer Provenienz immanent zugrunde liegt, überrascht nicht. Selbst im Zuge der Darstellung schwerwiegender Einschüchterungen und existenzieller Bedrohung werden in diesem Genre niemals Lösungsansätze favorisiert, die dauerhaft außerhalb des vertrauten Raums anzusiedeln wären. Aber auch in zionistisch orientierten Erzähltexten entscheiden sich nur wenige der handelnden Personen für den Weggang aus Europa. Und dies, obwohl sich der bekannte Raum der Galut, wie es in der Novelle Gerson Regensburger heißt, als »verdorben«492 erweist. Denn nicht nur die Bedrückung seitens der Umgebungsgesellschaft, sondern auch das für die jüdische Identität bedrohliche Gefahrenpotenzial der Liberalisierungstendenzen kennzeichnet den vertrauten Raum. Trotzdem entschließen sich die handelnden Figuren niemals aus einem spontanen Impuls oder als unmittelbare Konsequenz ihrer politischen Überzeugung zum Aufbruch nach Palästina. Er erfolgt meist über Umwege und mehrere Stationen, d. h. der vertraute Raum wird bis an seine Grenzen ausgelotet, bevor er endgültig verlassen wird  – oder er verliert seine Bindungskraft mit dem Weggang oder dem Tod geliebter Menschen. So kann sich beispielsweise Samuel Maslow, eine der Hauptfiguren in Selig Schachnowitz’ Roman Luftmenschen, erst nach dem Tode seiner Mutter für die neue »Heimat«, wo »wir nicht aller Welt im Wege sind«, entscheiden. Vorher gelingt ihm die völlige Ablösung weder von Berlin noch von dem russischen Schtetl, denn dort ist »die alte Mutter daheim«.493 Dieser Logik des Emotionalen, die dem vertrauten Raum inhärent ist, folgt die Erzählerinstanz indirekt auch dann, wenn sie die vergleichsweise beschränkte Wirkmächtigkeit ideologischer Formeln beschreibt. Maslows Impuls, nach Palästina aufzubrechen, ist schließlich nicht den kontinuierlichen zionistischen Parolen eines Freundes geschuldet, sondern seiner Hinwendung zu einer jungen Lehrerin, die »an einer neugegründeten Mädchenschule in einer jüdischen Kolonie in Palästina«494 arbeiten will. Erst nachdem die alten Bindungen (auf )gelöst und womöglich durch neue ersetzt sind, in diesem Fall nach der erfolgten Verlobung Maslows, kann der vertraute Raum verlassen werden. 7.2 Orte/Räume der Entfremdung

Insofern überrascht es nicht, wenn in der zionistischen Erzählung ein sich veränderndes Selbstverständnis der Protagonisten von räumlich semantisierten 492 Weinbaum, Regensburger, S. 153. 493 Schachnowitz, Luftmenschen, S. 184 f. 494 Schachnowitz, Luftmenschen, S. 209. In dieser Figurenkonstellation lässt sich auch eine intertextuelle Anspielung auf Herzls Altneuland erkennen.

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Entfremdungsprozessen begleitet wird. Ist das Vertraute im argumentativen Gefüge des erzählten Geschehens zunächst an bekannte räumliche Parameter geknüpft, verlieren diese im Laufe der Handlung zunehmend und im wörtlichen Sinne an Bedeutung. Die damit einhergehenden Wandlungen werden narrativ entweder als Umgestaltungen des Ausgangsorts oder als Veränderungen der Figuren durch den Raum dargestellt. Eine weitere Variante bildet die veränderte Wahrnehmung von Figuren, aus deren Sicht dann ein vermeintlich stabiler (und vertrauter Ort) oder Handlungsraum ins Fließen gerät. In jedem Fall setzt auf bekannten Territorien, sei es auf dem Lande oder in der Großstadt, eine Entwicklung ein, die die jüdischen Protagonisten in ein ›uneigentliches‹ Verhältnis zu ihrer Umgebung geraten lässt. Es ist dieses Moment der sich vor dem Hintergrund der Negativerfahrungen in der Galut herausbildenden, auf Palästina gerichteten Raumbezogenheit, die alle zionistischen Texte jenseits der weltanschaulichen oder religiösen Feinausrichtung ihrer Autoren verbindet. Dadurch unterscheidet sich die zionistische erzählende Literatur z. B. auch von zionistischen Denkern wie Martin Buber, denn ihr Horizont bildet immer das Land und nicht nur dessen Abstraktion als »Besinnung auf eine eigenständige Kultur«.495 Insofern ist Michael Brenner zu widersprechen, der in dem Roman Luftmenschen von Schachnowitz dezidiert keinen zionistischen Text erkennen will, weil  : »The author’s intention was to transfer German Neo-Orthodoxy to the Holy Land and was unconcerned with the ideology of Zionism.«496 Gerade in der über die ideologischen Grundlegungen zionistischer Denkansätze hinausreichenden Bandbreite zeigt sich ja ganz allgemein die Produktivität der Erzählliteratur. Sie ebnet im eigentlichen Sinne den Weg nach Erez Israel, indem sie die als ungenügend dargestellten lebensweltlichen Umstände von Juden in einen Kontext, in dem der politische und/oder kulturelle Zionismus schon definitive (Handlungs-)Optionen bereitstellt, einbettet. Die Aufbrechenden oder Aufbruchswilligen, die die zionistischen Erzählungen bevölkern, bilden in der Regel aber alles andere als idealtypische Verkörperungen von Zionisten, in deren Handlungen eine als einheitlich anzunehmende Ideologie manifest würde. Nicht aus einem weltanschaulich determinierten Einheitsbewusstsein, sondern aus ihrer Vielfalt, Komplexität und Ambivalenz speist sich die angelegte Vor495 Siehe Herzog, Modernekritik, S. 7. 496 Brenner, East and West in Orthodox German-Jewish Novels, S.  313. Brenner argumentiert als Historiker, der einerseits den realen Autor Selig Schachnowitz sowie andererseits (nur grobmaschig) den Inhalt des Textes im Blick hat. Dies ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht methodisch allein deshalb problematisch, weil aufgrund der fehlenden Bezugnahme auf erzähltheoretische Kategorien der gesamte Text einer analytischen Engführung unterliegt. Brenner interpretiert den Text v. a. aufgrund der intertextuellen Verweise auf Samson Raphael Hirschs Schrift 19 Briefe über Judentum (1836) als orthodoxen bzw. neo-orthodoxen Roman.



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bildwirkung dieser literarischen Figuren. Sie nehmen deshalb nicht nur für den zionistisch interessierten Leser eine nachvollziehbare und dadurch tendenziell glaubwürdige Position ein, sondern sie besitzen durch die Fähigkeit, unterschiedlichste, mitunter sogar immanent widersprüchliche Argumentationen anbinden zu können, auch eine gewisse poetologische Ankerfunktion. Was die ambivalente Figurenzeichnung angeht, so stellt der Protagonist René Richter in Brieger-Wasservogels Roman ein besonders eindringliches Beispiel dar.497 Erzählt wird die Entwicklungsgeschichte eines jungen Berliners aus wohlhabender jüdischer Familie, der, angeregt von den abstrusen Lehrsätzen der Rassenbiologie,498 die ihm ein antisemitischer Förderer nahebringt, vom unsteten Schöngeist zum kompromisslosen Zionisten mutiert. Argumentiert man mit Kategorien wie Sympathielenkung, Kohärenz der Figur, ideologische Grundierung, so darf man davon ausgehen, dass der Roman bzw. dessen Hauptfigur durchaus nicht mit der uneingeschränkten Zustimmung selbst einer zionistischen Leserschaft rechnen konnte. Dass sich in diesem, schon zwei Jahre nach Altneuland erschienenen Roman motivische und/oder formale und strukturelle Analogien auch zu späteren Texten herstellen lassen, z. B. die Situierung der Handlung in der Großstadt, die Darstellung der bedrückenden Lage osteuropäischer Juden, die Gespaltenheit innerhalb der großstädtischen jüdischen Bevölkerung hinsichtlich der zionistischen Ideen und der (in diesem Fall gelungene) Aufbruch, zeigt die Produktivität dieses Genres, das auch als eigene Form des Zeitromans Geltung beanspruchen kann.499 Trotz der artifiziellen Handlungskonstruktion, der mitunter sehr kruden Argumentationen und unabhängig vom (teils sehr eingeschränkten) Identifikationspotenzial einzelner Figuren vermittelt Brieger-Wasservogels Roman eine allgemeine Vorstellung des Zionismus, die darauf abhebt, dass trennende Unterschiede bezüglich der Herkunft, der weltanschaulichen oder religiösen Orientierungen angesichts der großen Herzl’schen Idee vernachlässigbar seien, dass der Zionismus daher eine (oder die einzige) Option sei für alle Juden, die mit dem Status quo in der Diaspora unzufrieden sind. In hohem Maße unzufrieden ist auch der Titelheld des Romans  : mit seinem Beruf, mit seiner mangelnden Kreativität, mit seinen Liebschaften. Diese innere Stimmungslage erfährt eine seltsame Steigerung, wenn René Richter durch die Straßen seiner Heimatstadt Berlin zieht. 497 Vgl. dazu ausführlich Ernst, Ambivalenzen jüdischer Identitätsbildung um 1900. Kurze Passagen daraus wurden für das vorliegende Kapitel übernommen. 498 Zum rassischen bzw. rassistischen Diskurs (»racialism« vs. »racism«) in der Literatur vgl. weiterführend Mark H. Gelber, The Melancholy Pride, S. 125–160. 499 Hanni Mittelmann benennt den »Zeitroman« als »[e]ine Ausprägung dieser [frühen zionistischen] Literatur«. In deren Zentrum stehe »die Neuinterpretation des deutsch-jüdischen Zusammenlebens.« Mittelmann, Das Problem, S. 226.

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Jeden Tag […] hatte er das gleiche Bild der lärmenden Großstadt vor sich, den glänzenden Schmutz, den berauschenden Kot, der all diesen Flanierenden wie junger Most in den hohlen Schädel stieg. Manchmal mußte er sich fragen, ob all diese Leute nicht wahnsinnig wären in ihrem tierischen Lebensdrange, in ihrem Lichthunger […], all diese Leute mit den wunden Herzen und den kulturbefleckten Clowngesichtern, lachende Seiltänzer, zum lustigen Daseinsfasching aufgeschminkt, mit einem Leichengeruch und der grinsenden Todesangst schlangengleich unter den Rosen des Lebens. […] Renés Qual und Leid war [sic  !] es grade, daß er sich hier so fremd fühlte.500

Berlin steigert sich dem jungen Mann zum Ort völliger Entfremdung, die sich zuletzt nicht nur auf seine christliche Geliebte, sondern auf weite Teile jener gesellschaftlichen Kreise bezieht, unter denen er sein Leben lang verkehrte. Was sich im stereotypen Darstellungsmuster jahrhundertweltlichen Dekadenzempfindens mühelos als Ausdruck eines modernekritischen Diskurses auffassen ließe, erhält im Kontext zionistischer Theoreme eine weiterführende Funktionalisierung. Denn die Überwindung der aus der Sicht des Protagonisten erbärmlichen Zustände verspricht nicht die Veränderung, sondern nur das Verlassen der Gesellschaft.501 Die in den Straßen Berlins empfundene Fremdheit, die sich im Laufe des Textes an konkreten Örtlichkeiten, wie im Bordell, in der Redaktionsstube, in Lokalen immer mehr verstärkt, korrespondiert mit René Richters Gefühl seiner inneren Fragmentiertheit, was zunächst ebenfalls als gängiger Topos der Modernekritik zu identifizieren ist. Scheint es zunächst, dass sich die damit verbundene Rastlosigkeit des Protagonisten durch seine Heirat beruhigt – das spiegelt sich wiederum in einer räumlichen Anordnung, der ehelichen Wohnung des Paares, die als privates Gegenmodell zur lärmenden Stadt fungiert502 –, so bricht seine Unzufriedenheit schon nach kurzer Zeit wieder auf. Doch nun erkennt René Richter mit »klügeren Blicken«, dass deren Ursache einzig in seiner Vorstellung über das ideale Wesen des »modernen Juden«503 sowie im »Zwiespalt der christlichen Majorität und der jüdischen Minorität« und der daraus resultierenden »Mischmaschkultur«, in der er lebt, begründet ist.504 Eine ähnliche, wenngleich in einem anderen sozialen Kontext anzusie500 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 4 f. 501 Das inhärente Protestpotenzial, das der nicht-resignative, sondern aktive Rückzug aus einer gesellschaftlichen Konstellation in sich birgt, beschreibt schon Georg Simmel. Er bezieht sich dabei auf ein tribales Ritual, in dem ein unzufriedener Stamm seinen Häuptling verlässt. Vgl. Simmel, Über die sociale Projektion, S. 208. 502 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 284. 503 »Die Entwicklung eines modernen Juden«, so lautet der Untertitel des Romans. 504 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 286 f. Die Ambivalenz der Hauptfigur resultiert schließlich aus dieser dann den ganzen Text durchziehenden Argumentation der Differenz von Juden



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delnde und weniger radikale Position wird in Weinbaums Novelle von einem jüdischen »Landmann und Gärtner« formuliert  : »Ein jüdischer Bauer kann nur Jude bleiben, wenn er unter jüdischen Bauern lebt.«505 An diesem Punkt ist schließlich auch die Schnittstelle anzusetzen, die René Richter für die Ideen des Zionismus empfänglich macht. Was Max Nordau einmal als »Halbheit« des Reformjudentums bezeichnet, die »den Keim des Unterganges in sich trägt«,506 will die Romanfigur überwinden. Seine wachsende Begeisterung für den Zionismus, auf der Ebene der Erzählung dokumentiert durch zahlreiche intertextuelle Verweise auf Herzl, Nordau und Buber, stärkt Richter in seinem Bestreben, endlich unentfremdet als »Vollmensch«,507 das heißt als Jude unter gleich gesinnten Jüdinnen und Juden zu leben. Der Begriff »Vollmensch« verweist dabei offenkundig auf Martin Bubers Vorwort zu seinem 1903 herausgegebenen Band Juedische Kuenstler,508 den Brieger-Wasservogel als Kunsthistoriker vermutlich gekannt haben dürfte. Eine Analyse von Martin Bubers Einlassungen verursacht dem heutigen Leser allerdings Unbehagen, weil sie ebenso wie manche Texte von Nordau und anderen jüdischen Autoren in ihrer Argumentation teils unter Heranziehung organologischer Motive von einem »jüdischen Rassewesen« ausgehen.509 In der Bewertung dessen muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Macht der um die Jahrhundertwende herrschenden Diskurse auf Juden und und Christen, die in analoger Weise von Richters antisemitischem Förderer Draeger formuliert wird. Dagegen gehalten wird ein Modell rassischer Einheit und Reinheit. Vgl. dazu ausführlicher Ernst, Ambivalenzen. 505 Weinbaum, Regensburger, S. 152. 506 Nordau, Der Zionismus (1902), in  : Zionistische Schriften, S.  20. Ähnlich argumentiert z. B. auch Bernstein, Der Zionismus, S. 24  : »Das Westjudentum verfiel in eine Wurzellosigkeit, in ein Zweiseelenleben, das eine Zwitterkultur zur Folge haben mußte.« 507 Z. B. Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 286  : »Er fühlte sich als Vollmensch und bemerkte mit Erstaunen, daß er mitten in einer Mischmaschkultur von mehr als zweifelhaftem Werte lebte.« 508 Siehe Buber, Juedische Kuenstler, [S. 2] sowie [S. 5]. Der Band erschien als einer der ersten im 1902 gegründeten Jüdischen Verlag. Über dessen Programmatik informiert Inka Bertz, Politischer Zionismus, S. 162. Hervorzuheben ist, dass Buber den fragmentarisierten jüdischen Menschen – »Die gleichmässige Ausbildung des Organismus bleibt ihm versagt, und damit auch die vollständige Weltansicht.« [S. 2] – nicht im Diskurs der Moderne verankert sieht, sondern ihn als Typus dem Altertum zuweist. Buber ordnet also eine Denkfigur der Moderne einer längst vergangenen Epoche zu. Im Gegenzug markiere das »Vollmenschentum […] eine neue Phase […] des jüdischen Rassenwesens«. [S. 5]. 509 Buber, Juedische Kuenstler, [S. 5]. Gleichzeitig betont Buber – was im Zusammenhang mit der hier diskutierten Thematik von Bedeutung ist –, dass »der Jude der Diaspora […] – weniger im Ghetto, als auf den Wanderschaften, in die er immer wieder hinausgeschleudert wird, von einer neuen Natur berührt« werde. »Ohne dass er’s merkt, erwacht ein Schauen in ihm  ; und der Raum […] wird seinen Sinnen immer machtvoller gegenwärtig.« [S. 4].

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Nichtjuden gleichermaßen wirkte, und dass gerade der rassische Diskurs – wissenschaftlich sanktioniert – als modern erachtet wurde.510 Wenn der Germanist, Journalist und Schriftsteller Moritz Goldstein in seinem 1912 in der Zeitschrift Kunstwart erschienenen und heftig diskutierten Artikel »Deutsch-Jüdischer Parnaß« über »Gegensätze« und »das Verbindende« zwischen »Germanen und Juden« schreibt  : »Denn wären wir auch nirgends sonst Genossen, so sind wir doch gewiß Zeitgenossen«511, so scheint er sich genau darauf zu beziehen. Allein die Referenz auf einen aktuellen wissenschaftlichen Diskurs, und zwar sowohl seitens der Figuren wie auch der Erzählerinstanz, impliziert im vorliegenden Roman unabhängig von seinen inhaltlichen Aussagen eine positive Bewertung von Modernität. Dem stehen andere ›Reden‹ von jüdischen und nichtjüdischen Figuren entgegen, die aus dem Blickwinkel des Protagonisten nur eine oberflächliche und damit falsche Modernität im Sinne einer vorübergehenden Mode repräsentieren. Konstellationen in diesem Umfeld wie die noblen Abendgesellschaften bürgerlicher assimilierter Kreise oder die Künstlervereinigung »Die Kommenden«512 werden in entsprechenden Szenarien als dekadent markiert. Die Erfahrungen, die René Richter in diesem Zusammenhang macht, bestärken ihn schließlich in seinem Entschluss, die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Nach seiner Teilnahme am VI. Zionistenkongress 1903 löst er den letzten Ort des Vertrauten, seine Berliner Wohnung, auf und verlässt mit seiner Frau Deutschland. Doch letztlich erklärt sich René Richters Unternehmen, auch sein unvermitteltes politisches Engagement, weniger aus einer gereiften weltanschaulichen Überzeugung als aus seiner romantischen Exzentrik. Sie bildete einst die Triebfeder für sein Bestreben, Schriftsteller und Journalist zu wer510 Über die in der Literatur der Zeit häufige Bezugnahme auf die Vererbungs- und Degenerationslehre bzw. generell auf naturwissenschaftliche und medizinische Diskurse vgl. Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900  : von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende, [=  Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart  ; Bd. IX/I]. München 1998, S. 77 ff. Die Akzeptanz einer Rassenlehre von jüdischer Seite als diskussionswürdigem wissenschaftlichen Gegenstand zu jener Zeit belegen nicht wenige Publikationen, z. B. Ignaz Zollschan, Das Rassenproblem unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der Jüdischen Rassenfrage. Wien, Leipzig 1910, sowie Artikel aus jüdischen Lexika bzw. Enzyklopädien zum Stichwort »Rasse« oder die Stellungnahme einzelner (auch jüdischer) Autoren wie z. B. Richard Huldschiner in  : Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage. Veranstaltet von Dr. Julius Moses. Berlin Leipzig 1907, S. 97. 511 Moritz Goldstein, Deutsch-Jüdischer Parnaß, in  : Der Kunstwart 25 (1912) 11, S. 281–294, hier zitiert nach dem Abdruck in  : Moritz Goldstein, Berliner Jahre 1880–1933 [=Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung  ; 25]. München 1977, S. 213–224, hier S. 223. 512 Brieger-Wasservogel bezieht sich hier kritisch auf den Kreis »Die Kommenden« um Rudolf Steiner, Stefan Zweig und Börries von Münchhausen. Vgl. dazu auch Bertz, Politischer Zionismus, S. 156.



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den, sie beeinflusst seine Entfremdungserfahrungen und synästhetischen Wahrnehmungen der Stadt, sie bestimmt seine Liebesbeziehungen und schließlich sein gesellschaftliches Handeln. Schon allein deshalb kann der Roman in Abwandlung einer These von Andreas Herzog auch als romantischer bzw. romantisierender Text gelesen werden  ; vor allem jedoch aufgrund der überdeutlichen Bezugnahme auf Argumente Martin Bubers und der Jüdischen Renaissance.513 Die Ausführungen von Andreas Herzog über die Jüdische Renaissance, die seiner Ansicht nach »im Grunde keine nationalpolitische, sondern eine romantische Bewegung« gewesen ist, lesen sich teils wie ein Kommentar zu den in Brieger-Wasservogels Roman auf Figurenebene geführten Diskussionen zwischen René Richter mit seinem antisemitischen Freund Draeger. Demzufolge richtete sich die Jüdische Renaissance gegen das ›analytische, zergliedernde und zerteilende Denken‹, welches ›die lebendigen Strukturen und ihre Zusammenhänge tötet‹. Ihr neues Judentum wandte sich gegen ›das kalkulierende Denken, die Rechenhaftigkeit, die Seelenlosigkeit, die Leb- und Lieblosigkeit‹, welche in diesen Jahren nicht nur von dezidierten Antisemiten, sondern eben auch von Juden mit den modernen bürgerlichen Juden identifiziert wurden.514

Gleichwohl wäre es fatal, sich durch solche Analogien dazu verleiten zu lassen, hierin ein Argument für den gelegentlich behaupteten Vorwurf einer Nahebeziehung zwischen Antisemitismus und Zionismus zu sehen. Selbst wenn ausdrucksseitig Ähnlichkeiten in den Diskursen nachweisbar sind, müssen deren unterschiedliche zugrunde liegenden semiotischen Grundlagen und Reichweiten sowie deren immanente Motivationen berücksichtigt werden. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, dass die Logik des Antisemitismus niemals darauf abzielt, einen als negativ erachteten Zustand zu verbessern, wie dies eben der Zionismus tut. Die Logik des Antisemitismus besteht vielmehr darin, dass sie nicht außer Kraft gesetzt, nicht überwunden werden will. Blindheit und Intentionslosigkeit kennzeichnen, wie Adorno und Horkheimer schon feststellten, den

513 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 379  : »Aber sind wir nicht ahnende Vorläufer der Renaissance des Judentums  ?« 514 Herzog, Modernitätskritik, S.  7. In den Zitateinschüben bezieht sich Herzog auf Cornelia Klinger, Flucht, Trost, Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München, Wien 1995, S. 84. Vgl. dazu auch Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 376  : »Sie haben ja so recht mit allem, was Sie mir da vom Zionismus erzählt haben  ! Es ist alles, was ich als Antisemit denke, nur in Grün.« So spricht der antisemitische Freund Renés kurz vor dessen Abreise. Im Gegensatz dazu bringen seine jüdischen Bekannten aus dem »Berliner Westen« für die Ideen des Zionismus »nicht einmal das allerprimitivste Verständnis auf.« (S. 370).

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Antisemitismus,515 und seine Totalität resultiert nicht zuletzt aus seiner Zwecklosigkeit. Im Roman René Richter zielt die gesamte Argumentation auf die Essenz einer jüdischen (nichtreligiösen) Gemeinschaft ab, die sich nach Meinung des Protagonisten in letzter Konsequenz in einem einheitlichen Staatsgebilde formieren müsse. Im Zuge dessen verliert der ursprünglich vertraute Stadtraum Berlin im Fortgang der Handlung und mit der zunehmenden Favorisierung zionistischer Ansichten für den Protagonisten auch die letzten Reste eines positiven Konnotationsspektrums. Angezeigt durch die teils rigide formulierte Abwertung nichtzionistischer bzw. liberaler Anschauungen offenbart sich infolgedessen eine prekäre Ambivalenz des ideologischen Potenzials, auf das René Richter sich bezieht. Diese Ambivalenz scheint einheitsstiftender (kultureller und nationaler) Identitätsforderung allerdings ganz allgemein eingeschrieben zu sein.516 Herzl bemühte sich in Altneuland, diese Gefahr durch einen tendenziell offenen Entwurf zu bannen. Die Figur René Richter aber, die sich wiederholt auf Herzl beruft, hebt sich gerade in ihren exklusiven Überlegungen hinsichtlich der Zusammenführung von Volk, Rasse und Land deutlich von Herzl ab. Andererseits stellt die Erzählerinstanz den Zionismus (noch) nicht als kollektiv wirksame Alternative zum Leben in der Diaspora dar. Denn obwohl für den Protagonisten nur die Einheit von Rasse und Territorium die Aufhebung der in Berlin so überdeutlich gemachten Erfahrung der Entfremdung zu garantieren verspricht, teilen die meisten anderen  – auch positiv gezeichneten  – Figuren im Roman diese Ansicht nicht. Für sie bleibt Berlin nach wie vor ihr primärer Bezugsort. René Richter hingegen erscheint in diesem narrativen räumlichen Arrangement der Jahrhundertwendenmetropole bis zuletzt als Einzelgänger, als Sonderling, dessen Anschauungen nur eine Stimme im vielstimmigen Diskurs jüdischer Identitätsdebatten verkörpert. In den Auseinandersetzungen zwischen den typisierten Stellvertreter-Figuren spiegeln sich in groben Zügen die zur Entste515 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1989 (9.–13.  Tausend), S.  180 f. Analoge Schlussfolgerungen zieht auch Beat Wyss in seiner vergleichenden Untersuchung über die Kulturtheorien von Max Nordau, Georg Lukács, Hans ­Sedlmayr und Oswald Spengler. Beat Wyss, Trauer der Vollendung, Zur Geburt der Kulturkritik. Köln 1997, S. 333 f.: »Das Festhalten am Begriff der Totalität ohne Idee des Guten führt zur Entropie des geschichtsphilosophischen Systems.« 516 Vgl. dazu z. B. Jacques Derrida, Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche, Ein Gespräch mit dem Philosophen über die Intellektuellen, den Kapitalismus und die Gesetze der Gastfreundschaft, von Thomas Assheuer, in  : DIE ZEIT, 5.  März 1998, Nr.  11, S.  48  : »Die Forderung nach kultureller Identität – das wären alle Kommunitarismen, von denen es nicht wenige gibt –, [kann] selbst wenn sie unter bestimmten Bedingungen und in gewissen Grenzen legitim ist, manchmal [rechte] Ideologien nationalistischer, fundamentalistischer oder gar rassistischer Art nähren.«



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hungszeit des Romans virulenten widersprüchlichen Positionen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen wider. Das Ende des Romans entwirft dementsprechend auch keine kollektive Lösung, sondern bleibt auf eine individuelle, realistisch gezeichnete, aber keinesfalls exemplarisch gedeutete beschränkt.517 René Richter verlässt Deutschland als zukünftiger Landwirt.518 Den vertrauten Raum weist er damit endgültig zurück, was bei seinen bürgerlichen Bekannten auf massives Unverständnis stößt. Ihr Bezugsraum bleibt weiterhin Berlin – angezeigt durch die Formulierung »hier bei uns« –, während sie Palästina in ein unbestimmtes »hinüber« verweisen.519 Anhänger oder Nachahmer findet René Richter bei den arrivierten bürgerlichen Juden Berlins nicht. 7.3 Orte/Räume der Transformation

Im Gegensatz zu Brieger-Wasservogels Protagonist, der erst als Folge seiner Bekanntschaft mit zionistischen Ideen sein bürgerliches Berufsumfeld verlässt, agiert der Titelheld in Weinbaums Novelle, Gerson Regensburger, unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben. Seine Handlungsmotivation gründet zum einen in der bedrückenden ökonomischen Lage der polnischen Juden in seinem Umfeld, zum anderen aber in seiner Interpretation des traditionellen jüdischen Schrifttums. Weil schon »im Pirkei«, in den »Sprüche[n] der Väter«, geschrieben steht, dass »die edelste« Arbeit die »mit der Mutter Erde«520 sei, verlässt er seinen Heimatort, um Bauer zu werden. Ausgehend von dieser räumlichen Dislozierung der Familie Regensburger, zeichnet die Novelle die Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder nach, wobei ihr Schicksal in einem unauflöslichen Wechselverhältnis mit den Orten ihres Aufenthalts und deren räumlich-sozialen Strukturen steht. Eine (proto)zionistische Haltung vertreten allerdings erst die Kinder von Regensburger. Der Text setzt mit der topographischen Schilderung eines schlesischen Landstrichs ein, wo sich Gerson Regensburger niederlassen will. Nach tagelangem Marsch auf »aufgeweichten Straßen«521 erreicht er sein Ziel, das er »mit Wohlgefallen« betrachtet  : »Städtchen, Schloß und Synagoge 517 Auch dies entspricht den politischen Gegebenheiten der Zeit. Für eine großangelegte Einwanderung nach Palästina waren noch keine völkerrechtlichen Grundlagen geschaffen. 518 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 367  : »es handelt sich darum, ein Landwirt unter Landwirten zu sein und nichts voraus haben zu wollen.« 519 Brieger-Wasservogel, René Richter, S. 370  : »›Warum gehen Sie denn hinüber, Frau Richter  ? Hat es Ihnen denn hier bei uns gar nicht gefallen  ?‹ ›Das wohl, gnädige Frau. Aber mein Mann meint, im Berliner Westen seien ihm zu viel Juden.‹ Und sie legte auf das Wort ›Juden‹ eine Betonung, daß der Sinn ihrer Antwort sehr unzweifelhaft schien.« 520 Weinbaum, Regensburger, S. 12. 521 Weinbaum, Regensburger, S. 5.

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machten einen freundlichen Eindruck.«522 Doch das Städtchen mit seiner jüdischen Gemeinde bildet nur den ersten Anlaufpunkt für den angehenden Bauern. Er wird im Text von vornherein als transitorischer Ort, der künftig nur in Krisensituationen, an Feiertagen und am Sabbat aufgesucht wird, installiert. Dies erstaunt zunächst, denn die Anziehungskraft des Orts resultiert aus der Sicht Regensburgers aus dem traditionsbewussten Leben seiner Bewohner  : In den großen Städten, so dachte er, fängt man schon an, von den alten Gewohnheiten abzugehen, hier in der kleinen Stadt ist noch alles beim Alten geblieben, und wenn es einen Aufgeklärten, einen Philosophen, auch hier und da gibt, so sind dies Philosophen für sich, aber die Tarjag Mizwoth, die 613 Ge- und Verbote halten sie getreulich.523

Die Intaktheit des Städtchens wird durch die Erzählerinstanz noch einmal mittels der topographischen Beschreibung der »sogenannten Judengasse« bekräftigt. Regensburger, der zuvor nahe der Grenze zu Polen lebte, beklagt das Schicksal der dort ansässigen »polnischen Juden«, die als »Schnorrer, […] Kleinhändler, Hausierer oder ähnliches«524 ihr Dasein fristen. Um seinen Kindern dieses Schicksal zu ersparen, schickt er zwei seiner Söhne zu Christen in eine Handwerkslehre und erwirbt schließlich Ackerland, um sich aus den Zwängen des Händlerdaseins zu befreien. Doch die positive wirtschaftliche Entwicklung, die der Ortswechsel und die Bestellung des eigenen Bodens mit sich bringen, wird durch die identitären Gefährdungen, denen Regensburgers Kinder in der christlich dominierten Umgebung zum Teil erliegen, relativiert. Es sind aber nicht einzelne Figuren, z. B. der Pfarrer des Städtchens oder ein Großbauer, die – wie etwa in Selig Schachnowitz’ Roman Merelaika  – als christliche Verführer auftreten, sondern es ist die soziale Gesamtstruktur des nichtjüdischen Raums, die Gerson Regensburgers Kinder beeinflusst. Die Bräuche, Vergnügungen, aber auch die körperliche Arbeit jenseits des Regelwerks jüdischer Rituale locken David und seine Schwester mit der Aussicht auf ein vermeintlich bequemes und autonomes Leben. Die »frommen Empfindungen« Gerson Regensburgers werden durch die Beschäftigung mit dem »Ackerbau« hingegen »noch mächtiger«.525 Im Unterschied zu Brieger-Wasservogels Roman verändert sich in dieser Novelle also nicht der Raum durch die Wahrnehmung des Protagonisten, sondern der Raum verändert die Menschen. In Schachnowitz’ Roman Luftmenschen hingegen kommen beide Konstellationen zum Tragen. Als Samuel Maslow 522 Weinbaum, Regensburger, S. 6. 523 Weinbaum, Regensburger, S.7. 524 Weinbaum, Regensburger, S. 11. 525 Weinbaum, Regensburger, S. 77.



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nach Jahren der Abwesenheit aus Berlin in sein russisches »Heimatstädtchen« zurückkehrt, nimmt er alles »verkleinert, verdüstert« wahr  : »das weiße Steinhaus, der Zauberpalast seiner Jugend  ; wie winzig und armselig auch dieser ihn jetzt anmutete.«526 Berlin wiederum bewirkte bei Maslow eine solch nachhaltige und sogar physiologisch wirksame Veränderung, dass ihn seine Mutter zunächst gar nicht mehr erkennt. Die geographische und kulturelle Entfernung zwischen dem russischen Schtetl und der deutschen Großstadt korrespondiert hier mit der inneren Distanz, die sich plötzlich zwischen Mutter und Sohn auftut  : Die Alte sah ihn […] hilflos, fremd und ganz verschüchtert an […] Da wurde es ihm klar  : er mußte, um den Weg zum Mutterherzen wieder zu finden, den hohen deutschen Ausdruck ablegen  ; dieser mutete sie fremd an und schnitt jede innere Verbindung zwischen ihm und ihr ab.527

Der Raum bildet also gleichsam das Gefäß oder den Rahmen für die erstrebten, aber auch gefürchteten sozialen und kulturellen Umformungen. In der Novelle Gerson Regensburger warnt der hoch angesehene Rabbiner des Städtchens gleich nach seiner Ankunft vor den lauernden Gefahren der Transformation  : allein unter lauter Gojim (Nichtjuden), das gibt nichts Gutes. […] Ihre Kinder […] werden ständig mit den anderen zusammen sein, zusammen arbeiten und leben, da ist der Uebergang ein leichter.528

Obwohl Gerson Regensburger um diese Bedrohung weiß, glaubt er, gerade durch die körperliche Arbeit die Ablösung seiner fünf Töchter vom Judentum verhindern zu können  : »Ich werde keine Zierpuppen aus ihnen werden lassen, wie es jetzt schon in den großen Städten von den jüdischen Frauen und Mädchen heißt.«529 Doch allein durch das geringe Abrücken aus dem Zentrum der jüdischen Gemeinde – Regensburger zieht eben nicht in die »Judengasse«, sondern auf einen außerhalb des Orts gelegenen, allein stehenden Hof – wird diese Deplatzierung in einem unvorhersehbaren Ausmaß wirksam. Die scheinbar unbedeutende geographische Veränderung führt in einer Art dialektischer Zwangsläufigkeit bei mehreren Kindern von Regensburger zum Abfall vom Judentum  :

526 Schachnowitz, Luftmenschen, S. 99. 527 Schachnowitz, Luftmenschen, S. 99 f. 528 Weinbaum, Regensburger, S. 16 f. 529 Weinbaum, Regensburger, S. 15.

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Deine Schwester hat einen Christen geheiratet, sie ist uns verloren. Dein Bruder hat eine Christin geheiratet. Sie ist Jüdin geworden. Noch schlimmer. Desto mehr kann sie verderben. Und wenn wir keine Aenderung schaffen, geht es mit Deinen anderen Schwestern ebenso.530

Die Bindungskraft der abseits liegenden jüdischen Gemeinde erweist sich unter den gegebenen räumlichen Konstellationen als zu schwach, um den nichtjüdischen Einfluss zu relativieren. Um den von Regensburger gewählten Platz in seiner negativen transformatorischen Wirkmächtigkeit zu schwächen, wäre es aus Sicht des Rabbiners notwendig, dass sich »10–15 […] zusammen an einem Orte ansiedeln, dann möchte er jüdisch werden.«531 Damit bezieht sich der Rabbiner auf das Modell einer »jüdischen Ackerbaukolonie«, das auch mehrfach von dem jungen russischen »Landmann«532 Levy als Existenzmöglichkeit erwogen wird. Doch als stabiler Raum der Dauerhaftigkeit erweist sich aus dessen Sicht zuletzt nur Palästina, da vor Ort »die Verhältnisse […] immer unerquicklicher« würden.533 Palästina fungiert in diesem Kontext also nicht als weltanschaulich aufgeladene Identifikationsfläche oder als Zielpunkt eschatologischer Hoffnung, sondern es verheißt zunächst vor allem eine ungefährdete Existenzweise  : Denn dort transformiert der Mensch den Raum (durch Kultivierung) und nicht der Raum den Menschen. Nach dieser Auffassung führt die Anwesenheit einer Vielzahl von Jüdinnen und Juden zu einem als jüdisch definierten Raum, der gleichzeitig beherrschbar zu sein verspricht. Deshalb entscheiden sich Levy und seine Frau zusammen mit anderen Familienmitgliedern »nach Erez Jisroel auszuwandern und dort auf dem geheiligten Boden der Väter wieder Ackerbau zu treiben.«534 Der Schluss der Novelle weist in eine nahe Zukunft »weit, weit 530 Weinbaum, Regensburger, S. 152 f. 531 Weinbaum, Regensburger, S. 17. 532 Weinbaum, Regensburger, S.  152. Dass dieses Modell der Ackerbaukolonie bzw. der kollektiven Landarbeit von einer aus Osteuropa stammenden Figur thematisiert wird, basiert auf historischen Gründen. Literaturhistorisch lässt sich hier dementsprechend eine Verbindung zu Ghettogeschichten Leopold Komperts (Am Pflug) oder Herzberg-Fränkels (Der Autodidact, Baschinka) sowie zu Texten der russisch oder jiddisch schreibenden Autoren Isaak Leib Peretz und Abraham Goldfaden herstellen. Vgl. dazu Gerhard Kurz, Widersprüchliche Lebensbilder aus Galizien. Zu Leo Herzberg-Fränkels Polnische Juden, in  : Hans Otto Horch, Hans Denkler (Hg.), Conditio Judaica  : Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1989, S. 247–257, besonders S. 255 f., sowie Günter Stemberger, Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977, S. 159 f. 533 Weinbaum, Regensburger, S. 155. 534 Weinbaum, Regensburger, S. 153.



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weg, im Lande Israel«.535 Von einem räumlichen Koordinatensystem ausgehend, definiert sich die Attraktivität des Landes Israel von dieser Warte aus also nicht nur durch seine zeichenhafte Dichte und Komplexität, sondern vor allem auch durch seine Distanz zu Europa  : »weit, weit weg«. Und nicht trotz, sondern gerade wegen der großen Entfernung besitzt das Land für die jungen Familien eine hohe Anziehungskraft. In gewisser Weise unterminiert dieser Ansatz damit sogar die Herzl’sche Vorstellung von einer nach westlichen Strukturen funktionierenden neuen Gesellschaftsordnung. Da die erzählte Zeit allerdings in die Periode des italienisch-österreichischen Krieges 1859 verlegt ist, kann sich der Text von einer intertextuellen Bezugnahme auf Altneuland völlig entbinden, ohne eine literaturhistorische Traditionslinie zu kappen oder eine genre-immanente Logik zu verletzen. Die fiktive Handlung von Weinbaums Novelle ist in einer Epoche angesiedelt ist, als noch nicht einmal der protozionistische Text Rom und Jerusalem (1862) von Moses Hess bekannt war. Implizit propagiert der Autor ein individuelles Handeln jenseits ideologischer Vorgaben, das gleichwohl einer historischen und womöglich generationellen Notwendigkeit geschuldet ist. Die textimmanente Bewertung der unterschiedlichen Identitätskonzeptionen der Kinder Gerson Regensburgers, die sich an der Darstellung ihrer religiösen Observanz, der Loyalität zu den Eltern und ihrer Liebesbeziehungen ablesen lässt, fällt eindeutig zugunsten des auswanderungswilligen Sally und seiner Schwester Riwke aus. Sie treffen ihre Entscheidungen aus freiem Willen im Gegensatz etwa zu ihrem Bruder David, der ein christliches Mädchen heiraten »muß«536 und der sich im Zuge dessen zunehmend von seiner Religion entfernt. Er gibt schließlich seinen erlernten Handwerksberuf auf und wendet sich des schnellen Verdienstes wegen »dem Geschäftelmachen«537 zu. Obwohl aber aus der Perspektive der positiv charakterisierten Figuren Sally, Riwke und ihrer Ehepartner der Entschluss, in Palästina als jüdische Bauern »unter jüdischen Bauern«538 zu leben, den letztlich schlechten Erfahrungen in der Galut geschuldet ist, bringt die Erzählerinstanz die Auswanderung doch nur als eine, wenngleich zukunftsträchtige Möglichkeit jüdischer Lebensführung ins Spiel. Parallel dazu zeichnet der Autor am Beispiel der Einwohnerschaft des jüdischen Städtchens auch andere Optionen der Lebensgestaltung nach. Sie reicht von der traditio535 Weinbaum, Regensburger, S. 156. Obwohl Michael Brenner in dieser Novelle ein starkes zionistisches Moment erkennt, bezeichnet er den Text als orthodoxe deutsch-jüdische Novelle. Vgl. dazu Michael Brenner, East and West in Orthodox German-Jewish Novels, S. 313, Anm. 11. 536 Weinbaum, Regensburger, S. 123. 537 Weinbaum, Regensburger, S.  139. Dieser eindeutig negativ konnotierte Ausdruck wird nicht einer Figur in den Mund gelegt, sondern wird vom heterodiegetischen Erzähler formuliert. 538 Weinbaum, Regensburger, S. 152.

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nell frommen Ausrichtung in der »Kehilloh (Gemeinde)«539 über die Gründung von »jüdischen Ackerbaukolonie[n]«540 in der Diaspora bis hin zu verschiedenen Abstufungen des Austauschs mit der christlichen Umwelt. Durchweg negativ wird nur die völlige Ablösung vom Judentum gewertet, und zwar sowohl aus der Figurenperspektive als auch seitens der Erzählerinstanz. Die Entwicklungsgänge der Figuren resultieren dabei im Wechselspiel der Umstände aus ihren rationalen Willensentscheidungen, ihrer Unbesonnenheit, Getriebenheit, aber auch Läuterung. Aufgrund ihrer zeitlichen Situierung kommt die Novelle ohne intertextuelle Bezüge auf zionistische Denker aus und erweitert auf diese Weise das Spektrum zionistischer Literatur. Diese muss nicht notwendigerweise durch explizit formulierte Bezugnahmen als zionistisch markiert sein, um als Medium sozialer Sinnverständigung gelten zu können. Entlang ästhetischer Grenzziehungen, die heteronome von autonomer Literatur trennen, verortet sich dieser Text gewissermaßen in einem Zwischenraum, der unterschiedliche Schlussfolgerungen zulässt. 7.4 Ausblick

Das narrative Reservoir hinsichtlich der in den Texten zum Tragen kommenden Raumkonstellationen und der damit verbundenen Semantisierungen im Zuge der vorgeführten Identitätsdebatten erschöpft sich in diesen drei (wie in anderen in diesem Kapitel) präsentierten Texten nicht in einer einfachen territorialen oder ideologischen Bezugnahme auf Palästina und deren intertextueller Ausprägung. Eine weiterführende Konzeption des jüdischen Staats ist allerdings auch in diesen Texten ganz offenkundig nicht intendiert. Es scheint sogar, dass im Verzicht darauf die Herzl’sche Vision von Altneuland kontinuierlich affirmiert wird. Altneuland wird als Horizontlinie im Gesamtgefüge aller auf sie Bezug nehmenden Narrationen präsent gehalten, selbst dann, wenn es nicht explizit aufgerufen wird. Gerade in der Abwesenheit alternativer Imaginationen zum Judenstaat oder zu Auslassungen kulturzionistischer (Vor-)Denker ergänzen und bereichern also zionistisch ausgerichtete literarische Texte den durch Herzl vorgelegten Entwurf. Während das eigentliche Land nach Herzls Roman bis in die 1930er-Jahre in der fiktionalen Literatur weitgehend unbeschrieben bleibt, 539 Weinbaum, Regensburger, S. 16. 540 Weinbaum, Regensburger, S. 152  ; vgl. dazu auch S. 153  : »Ich habe an meine früheren Freunde geschrieben und sie haben mir geantwortet. Sie nehmen mich dort mit Freuden auf. Dort ist eine jüdische Gemeinschaft. Wir leben abgesondert von den andern, wenn wir auch bei Versammlungen und Beratungen zusammenkommen. Dort wohnen, zwar verstreut, doch im Umkreise 68 jüdische Bauernfamilien. Am Schabbos und am Jomtow kommen wir zusammen, gehen zusammen beten und bilden eine jüdische Gemeinde.«



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sich also kein Zeichen mehr mit dem Territorium verbindet,541 und es damit letztlich auch den Augen der Leserschaft entzogen bleibt, konturiert sich der zukünftige Staat bzw. das staatsähnliche Gebilde einzig durch die in den Texten dargestellten Menschen, deren Sehnsucht darauf gerichtet ist und die sich auf den Weg dorthin machen. Dies sollte sich erst  – wie Philipp Theisohn dargelegt hat  – mit Arnolds Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim (1932) ändern. Mit diesem Roman, der die tatsächliche Begehbarkeit eines politisch kartierten Territoriums ins Bild setzt, verschiebt sich zugleich das semantische Potenzial des imaginierten Landes als Ziel- und Sehnsuchtsort, das bis dahin in seiner scheinbar unendlichen Wiederholbarkeit im Erzählvorgang alle Möglichkeiten des Anfangs offengehalten hatte. Nun aber setzt die Ein- bzw. Ablösung des zionistischen Romans ein.542 Durch die narrative Darstellung einer aktuellen und ontologisch überprüfbaren Realität werden die fiktionalen Entwürfe der frühen zionistischen Erzählliteratur nun aber nicht nur im historischen Sinne überholt, sondern letztlich auch überschrieben und in gewisser Weise ›unleserlich‹ gemacht. Das erklärt unabhängig von der ästhetischen Qualität der Texte, die vielfach als Unterhaltungsromane rezipiert wurden, womöglich auch das mangelnde Interesse seitens der Literaturwissenschaft an dieser Literatur.543 Bis zu Beginn der 1930er-Jahre bleibt die zionistische Erzählliteratur überwiegend und dezidiert ein Phänomen des unbekannten Vorgängigen, nicht des Utopischen. Ihr Fokus ist allem Anschein nach aber weniger auf ein vermessbares Territorium gerichtet als vielmehr auf einen idealen Raum, dessen Gestalt als 541 Selbst wenn es einzelne Texte gibt, die in diesem Kontext als Gegenbeispiel angeführt werden könnten, lässt sich diese Aussage doch als eine Tendenz quantifizieren. Anders ist die Situation im Hinblick auf Reiseliteratur bzw. nichtfiktionale Literatur zu beurteilen. Sie legt in unterschiedlicher Form Zeugnis ab von Palästinareisen ihrer Verfasser, vgl. dazu etwa Stefanie Leuenberger, Schriftraum Jerusalem, v. a. das Kap. »Weg der Verheissung [sic  !] – Jerusalem bei Franz Werfel«, S. 145–165, bes. S. 145–150. Außerdem ist in diesem Zusammenhang Leuenbergers Kapitel über Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim (1932) von Relevanz. Hier realisiert sich laut Leuenberger die konkrete Erfahrung der Palästinareise eines Autors in der Konfrontation mit den politischen Vorgängen im britischen Mandatsgebiet in einem entideali­ sierten Roman. Vgl. dazu ebenfalls Leuenberger, Schriftraum Jerusalem, Kap. »Heim Nach ­Dameschek – Jerusalem im Werk Arnold Zweigs«, S. 179–223. 542 Vgl. dazu Theisohn, Urbarkeit, Epilog. Jerusalem 1932, [S. 305]–S. 317, v. a. S. 312–317. 543 Die literarischen und die politischen bzw. kulturpolitischen Texte wurden zeitgenössisch anteilsmäßig sicher in einem anderen Verhältnis rezipiert, als dies die heutige Forschung vermittelt. Umfassende Studien über Auflagenzahlen, Medienpräsenz, öffentliche Lesungen, Leserverhalten, Ausstellungen etc. fehlen m. W. für die deutschsprachige zionistische Erzählliteratur nach wie vor. Aktuell werden die Vorstellungen über den (politischen) Zionismus von den Geschichtswissenschaften dominiert, seitens der Bild- und Literaturwissenschaften wird der frühe Zionismus (als kulturelles System) nach wie vor nur wenig beachtet.

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unendliche Schnittfläche aller bis dahin formulierten und späterhin noch zu formulierenden textlichen und zeichenhaften Entwürfe anzunehmen ist. Während politische zionistische Texte vielfach auf moderne Staatsgebilde und territoriale Raumvorstellungen abheben, deuten die hier untersuchten Erzähltexte ihre theoretischen Impulsgeber überwiegend dahingehend aus, dass sie die Relation Mensch-Territorium nachhaltig zugunsten des Menschen betonen, ohne damit allerdings das Zeichenpotenzial und die Einschreibungen Zions anzutasten. Darin ließe sich sogar eine latente Kontinuität, deren Präfigurationen im (erzählten) Schtetl grundgelegt sind, erkennen. Denn auch dort wirkte, wie eine unbekannte Stimme bei Herzog und Zborowski zitiert wird, die Bindungskraft des Sozialen stärker als die eines benennbaren Orts  : »›Mein Schtetl‹ das sind die Leute, die darin wohnen, nicht der Ort, die Gebäude oder die Straßen.«544 Allerdings war das Schtetl immer ein Ort der Galut, wohingegen die narrativen Raumkonzeptionen in zionistischen Texten durch ein grundlegend anderes Modell kultureller Räumlichkeit begründet sind. In Zion, das sich bei Herzl noch einmal symbolisch im Bild des wiedererrichteten Tempels verdichtet, treffen zudem die zeitlichen Koordinaten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, und dies – wie es scheint – unabhängig von jedweder Aktualisierung durch eine individuelle oder kollektive Landnahme oder die Erzählung darüber. Insofern zielt auch die raumpoietische Kraft früher zionistischer Erzähltexte – vielleicht mit Ausnahme von Herzls Roman – stärker auf in der Zeit sich abspielende, diskursive und performative Prozesse ab denn auf territoriale Referenzpunkte. Und das erklärt möglicherweise auch, warum der erwartete Raum eines jüdischen Staats nahezu ausschließlich in fiktional entworfenen sozialen Projektionen und in der Darstellung von Menschen, die ihn einmal bewohnen wollen, erzählt wird.

544 Zborowski, Herzog, Das Schtetl, S. 44.

V. Resümee

Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zu einer raumtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft. Den Untersuchungsgegenstand bildeten ausgewählte deutschsprachig-jüdische Erzähltexte des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts, deren topographische Bezugsrahmen auf einer Makroebene das Schtetl, das Dorf oder die »Gasse«, die Stadt sowie der imaginierte »Judenstaat« darstellen. Diese Texte mit ihren narrativ erzeugten Räumen zeichnen sich durch ihr poetologisches Potenzial aus, eigenständige Genres ausbilden zu können  : die Ghettogeschichte, den Großstadtroman und den zionistischen Roman. Auf einer Mikroebene sind alle diese Texte wiederum von spezifischen Raumkonstellationen und Orten geprägt, die jenseits ihres Schauplatzcharakters im weitesten Sinne bedeutungsgenerierende Funktion im Gesamtgang der erzählten Handlungen besitzen. Raumvorstellungen und Raumwahrnehmungen in der Literatur sind in der Regel disponiert durch menschliche Erfahrungen, in denen ontologisch vorgängige Orte und Räume mit ihren sich stetig verändernden sozialen Parametern, ihrer historischen Besetztheit und unterschiedlichsten kulturellen Bedeutungsmustern zusammenfließen. Andererseits beeinflussen erzählte Räume und Orte kulturelle Raumvorstellungen. Nicht zuletzt deshalb spielen Räume und Orte eine wesentliche Rolle in individuellen und kollektiven Identitätsbildungsprozessen. Das heißt, Raum wird einerseits sozial, emotional, kulturell, performativ, habituell oder ästhetisch konstruiert und erlebt, andererseits wirkt er selbst am sozialen, kulturellen, ästhetischen etc. Wandel mit. Auf damit in Zusammenhang stehende Phänomene referieren vor allem die raumtheoretischen Ansätze von Georg Simmel (1858–1918), Henri Lefebvre (1901–1991), Michel de Certeau (1925–1986) und Michel Foucault (1926–1984). Sie bildeten wichtige Anschlussstellen für die Textanalysen im Rahmen dieser Studie. Im Zentrum des Forschungsinteresses standen, pauschal formuliert, Zusammenhänge zwischen Raum, Ort und Identität, und wie diese in Erzähltexten (re)präsentiert und vermittelt werden. Um ein repräsentatives Textkorpus zusammenstellen zu können, war zunächst eine Skizzierung dessen notwendig, was hier unter deutschsprachig-jüdischer Literatur verstanden wird. Die Grundvoraussetzung stellte dabei der Ausschluss jedweden Essentialismus dar. Zugrunde gelegt wurde weiterhin ein Literaturbegriff, der es erlaubt, ästhetisch konstruierte Textwelten und außerliterarisch relevante Prozesse in einem diskursiven Wechselverhältnis zu begreifen. Die verhältnismäßig junge deutschsprachig-jüdische Literatur entwickelte sich erst

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Resümee

seit der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Im Zuge der gesellschaftlichen Identitätsdebatten seit dem Ausgang des 18.  Jahrhunderts kann sie nicht nur als selbstbewusster Ausdruck ästhetischer Produktion, sondern rezeptionsästhetisch auch als wichtiges Medium kultureller Sinnverständigung gelten. Dem Rechnung tragend, wurde für die Untersuchung ein heuristisches Konstrukt vorausgesetzt, das es erlaubt, die gesellschaftlich-soziale Dimension von Literatur zu berücksichtigen, ohne dabei deren ästhetisches, semantisch-diskursives und symbolisches Potenzial zu vernachlässigen. Am besten lässt sich eine Verbindung dieser beiden Erfordernisse, wie es scheint, aus systemtheoretischen Ansätzen ableiten. In diesem Zusammenhang bot sich als Ausgangspunkt ein auf Siegfried J. Schmidt und weiterhin ein auf die Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900 zurückgehender Systembegriff an, wie er seit den 1980er-Jahren entwickelt wurde. Danach konstituierte sich als eine Folge der Aufklärung um 1800 ein ›autonomes‹ Literatursystem, das zunächst als soziales Handlungssystem zu definieren ist. Damit sind »Kommunikationshandlungen gemeint, die zum Entstehen von solchen Texten führen, die als literarisch angesehen werden, oder von diesen Texten ausgehen. […] Die Handlungen der Erfahrungsverarbeitung und Sinnverständigung mit Hilfe von Literatur und das literaturbezogene Handeln sind [dabei] vielfach ineinander verschränkt.«1 Innerhalb dieses so verstandenen Systems bildeten sich einzelne Teil- oder Subsysteme heraus, und in diesem Sinne kann man mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch die Entwicklung und allmähliche Etablierung eines eigenständigen deutschsprachig-jüdischen Literatursystems konstatieren. Als Systembegriff verstanden, bezeichnet Literatur nach diesem Verständnis aber »keine Menge von Texten«, sondern das Phänomen, dass »um 1800 ein ›autonomer‹, kultureller Bereich in der Gesellschaft entsteht, der sich gegen andere kulturelle Teilsysteme wie Religion, Philosophie und Moral, Recht und Politik, Wissenschaft und Pädagogik abgrenzen lässt und verselbständigt. Es ist der Bereich der ›Literatur als Kunst‹, [der] gemeinsam mit einer neuen Ästhetikkonzeption, und zwar der ›Ästhetik der Autonomie‹ oder der ›Genieästhetik‹ [entsteht].«2 Natürlich erfordert eine literaturwissenschaftliche Textanalyse aber vor allem die Berücksichtigung des ästhetischen und poetologischen Potenzials von Literatur. Deshalb wurde der zugrunde gelegte Systembegriff u. a. mit 1 Von Heydebrand et al., Sozialgeschichte, S. 4. 2 Von Heydebrand, Winko, Einführung in die Wertung von Literatur, S.  25 ff. Der Autonomie-Begriff ist hier nicht im Sinne des New Historicism zu verstehen  ; demnach kann Literatur generell nur als kontextabhängiges, wenngleich kontingentes Resultat historischer Faktoren angesehen werden und deshalb per se nicht autonom sein. Der von Renate von Heydebrand et al. verwendete Autonomie-Begriff bezieht sich hingegen systemimmanent auf die Vorstellung einer autonomen Literatur, die als Gegenentwurf zu einer heteronomen Literatur konzipiert ist.



Resümee 

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Bezugnahme auf Claus-Michael Ort gewissermaßen um sein hermeneutisches Potenzial erweitert. Laut Ort ist auch das Symbolische empirisch beobachtbar und die textuelle, vornehmlich die semiotische Dimension kann damit ebenfalls in den Rang eines Systems erhoben werden, wenngleich auf andere Weise. Diese Öffnung des Literaturbegriffs unterstützt auch Argumentationen im Hinblick auf die Funktion literarischer Texte im Rahmen kollektiver Gedächtnisprozesse und Sinnverständigung. Um eine ›endgültige‹ Zuordnung jener ausgewählten Texte, die den eigentlichen Untersuchungsgegenstand dieser Studie bildeten, zu einer deutschsprachig-jüdischen Literatur vornehmen zu können, waren schließlich Überlegungen Andreas B. Kilchers hilfreich. Er schlägt vor, »literarische Selbstbestimmungsdiskurse zum Gegenstand« wissenschaftlicher Beschreibungen zu machen und »zu fragen, mit welchen argumentativen Verfahren in den historischen Debatten, letztlich aber in jedem Schreibakt […] der irreduzibel vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird«.3 Gershon Shaked verweist außerdem auf die Relevanz einer sozio-semiotischen Zugriffsweise. Er subsumiert unter »jüdische[r] Literatur all jene Literatur […], die in dem, was sie beschreibt, Verhaltens- und Lebensformen widerspiegelt, die aufgrund semiotischer Kriterien als aus der jüdischen Sozialgruppe abgeleitet bestimmt werden können.«4 Die vorliegende Arbeit sollte keine systematische Erschließung literarischer Raumkonzepte am Beispiel deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bieten  ; dazu wäre es notwendig, weitere Texte zu untersuchen. Ziel war es jedoch, exemplarische narrative Raumkonstellationen, deren Bedeutung für den Erzählvorgang sowie deren Funktionalisierung und Semantisierung im Zuge der Argumentationsstrategien in einem Text freizulegen und in Beziehung zu außerliterarischen gesellschaftlichen Debatten um ein jüdisches Selbstverständnis zwischen den 1840er- und 1920er-Jahren zu setzen. Es ging allerdings nicht darum, bekannte Forschungsergebnisse historischer Studien, z. B. über das Leben im galizischen Schtetl, literaturwissenschaftlich zu bestätigen – dann würde Literatur nur simpel als Abbild oder Widerspiegelung gesellschaftlicher Entwicklungen und die Literaturwissenschaft nur als Hilfswissenschaft für Historiker betrachtet. Als heuristischer Ausgangspunkt wurde vielmehr ein wechselseitiges, aber keinesfalls unilineares Verhältnis von Textwelten und außerhalb der Literatur liegenden Referenzwelten angenommen. Aus dieser Annahme folgt, dass außerliterarische Ereignisse oder Phänomene ebenso in literarische Vorgänge Eingang finden wie Literatur in außerliterarische Prozesse diskursiv einwirkt bzw. einwirken kann. Diesbezüglich gestellte 3 4

Kilcher, Lexikon deutsch-jüdischer Literatur, S. XV. Shaked, Die Macht der Identität, S. 192.

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Resümee

Fragen richteten sich primär auf die textimmanent verhandelten innerjüdischen Diskussionen und Entwicklungen, jedoch stets mit Blick auf die Wechselbeziehungen der dargestellten jüdischen und nichtjüdischen ›Milieus‹. In analytisch-methodischer Hinsicht wurde ein strukturalistischer Ansatz favorisiert, der die Funktionsweisen der Sinnstiftung »ausgehend vom Modell der Sprache als einem System differentieller Zeichen« erforscht und zwar mit der Zielrichtung, »die Strukturen der Sinnstiftung«5 anhand raumbezogener Motive, Topoi und narrativer Raumkonstruktionen sichtbar zu machen. Die seitens der Narratologie, vor allem von Gérard Genette vernachlässigte Instanz des Lesers in seinen unterschiedlichen Konzeptionen wurde im Zuge dieser Analyse immer mitgedacht, denn der auf der Seite der Narration angesiedelten Sinnvermittlung steht m. E. auf der Seite des Lesers ein entsprechendes Identitäts- oder zumindest Identifikationsbegehren gegenüber. Obwohl im Rahmen dieser Studie die Ghettogeschichte literaturhistorisch gesehen als ältestes Genre anzusehen ist, waren alle drei hier verhandelten Genres, die sich in der Zeit zwischen 1840 und 1900 etablieren konnten, um 1900 präsent  ; gewisse Einschränkungen gelten aufgrund ihrer besonderen historischen Entstehungsbedingungen für die zionistische Erzählliteratur. Aus der Zusammenschau der untersuchten Texte sollte schließlich eine Poetologie des Orts erkennbar werden. Poetologie wurde in diesem Kontext nicht im historischen Sinn als normative Dichtungslehre aufgefasst, sondern als deskriptiv-analytische Auseinandersetzung mit einer Literatur, die durch den (poetischen) Ort und Raum ihre wesentlichen narrativen Impulse erhält. Der Ort wird als konstitutives Element der Literatur wirksam, sobald er nicht nur vereinzelt als mehr oder weniger lokalisierbare Vorlage des Geschehens innerhalb eines Textes dient, sondern wenn er in einer Vielzahl von Texten erzählerische Topoi ausprägen kann bzw. Voraussetzung einer motivischen Typologie wird. Gleichzeitig wird der wieder und wieder fiktionalisierte Ort – selbst wenn er keine konkreten außerliterarischen Bezugspunkte aufweist – als Teil eines kulturellen Gedächtnisses festgeschrieben. Vom Begriff des Topos und der Topik, der von Aristoteles begründeten Lehre der Argumentationsfindung, lässt sich also eine Verbindungslinie zur literarischen Topographie herstellen. Beide Begriffe sind der Rhetorik zuzuordnen mit je unterschiedlicher Funktion. Die Topographie ist dabei als Mittel der Beschreibung, das ein Höchstmaß an (tatsächlicher oder vermeintlicher) Authentizität verbürgt, anzusehen. Gleichwohl erweist sich der Begriff aufgrund seiner von Bernhard Siegert identifizierten Bedeutungsvarianten – »als räumliche Metaphorik, als Verräumlichung narrativer Verfahren, […] als diagrammatische Anordnung von Daten oder als kartographische Aufzeichnung und Interpretation von Räumen und Geschich5

Klawitter, Ostheimer, Literaturtheorie, S. 124.



Resümee 

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te(n)«  – als tendenziell unscharf. Innerhalb dieses Spektrums meint Topographie »das Beschreiben von Orten, […] in oder mit Orten. Orte sind sowohl Gegenstand als auch Medium topographischen Schreibens und Beschreibens.«6 Die Topik hingegen will argumentative Kohärenz herstellen, wie Günter Butzer festhält.7 Die Erzählung wird durch die Verwendung topischer Elemente in argumentative Strategien eingebunden, die sich für die in dieser Studie untersuchten Texte vorwiegend auf Diskurse über Identitäten im Umfeld (der poetischen Funktion) des Schtetls, der Stadt und eines zukünftigen, imaginierten Staats beziehen. Als ein Resultat konnte u. a. festgestellt werden, dass die Topik vor allem in der Ghettogeschichte auch einem aus der antiken Rhetorik bekannten Ziel zu dienen scheint  : sie soll Erinnerung generieren. In diesem Zusammenhang zeigte sich auch die Notwendigkeit, die räumliche und die zeitliche Dimension der narrativen Konstruktionen in ein produktives Verhältnis zueinander zu setzen. In der Textanalyse wurden dementsprechend die zeitlichen Parameter vor allem auf einer Metaebene mitgedacht  : Ghettogeschichten wurden als Medien der Erinnerung, Großstadtromane als Medien der Erfahrung und zionistische Erzähltexte als Medien der Erwartung angenommen.8 Konkret untersucht wurden Konstruktionsformen narrativer Raumkonstellationen sowie weiterhin die Semantisierung und Funktionalisierung religiös konnotierter Orte, gendered spaces oder uneindeutig markierter Zwischenräume, in denen traditionelle Verstehensmuster verhandelt und (neue) Bedeutungen generiert werden. Der Horizont wurde dabei in allen drei Textgenres als unausgesprochenes Strukturelement gerade im Hinblick auf seine Produktivität, Identitätsräume (identity spaces) zu eröffnen, angenommen. Wesentlich für eine Analyse der Texte hinsichtlich ihrer topographischen Bezüge und topischen Potenziale war die Annahme, dass die literarischen Räume nicht nur in ihrer Abbildfunktion, also als Re-Konstrukt außerliterarischer Räume oder als referenzund bedeutungslose fiktive Schauplätze wahrzunehmen sind. Diesbezüglich boten Jurij Lotmans Überlegungen über die Struktur des künstlerischen Textes, in denen er die strukturierenden Qualitäten von Raum und Zeit für den literarischen Text in ein theoretisches Konzept fasst, die wichtigsten Anschlussstellen. Walter Koschmal führt Bezug nehmend auf Lotman aus, dass die »künstlerische Raumzeit […] auch Relationen ethischer, sozialer oder abstrakter Art, die weder räumlichen noch zeitlichen Charakter besitzen, ausdrückt. Raum und Zeit sind dabei […] Vehikel und dienen als solche der Vermittlung eines bestimm6 Siegert, Einleitung, in  : Topographien der Literatur, [S. 3]. 7 Butzer, Topographie und Topik, S. 51–77. 8 Vereinfacht ließe sich formulieren, dass das erzählte Schtetl erinnerungsgenerierend, die erzählte Stadt erfahrungsvertiefend und der erzählte Staat erwartungssteigernd aufgesetzt ist.

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Resümee

ten Weltmodells.«9 Schließlich bestimmen Lotman zufolge die Beziehungen zwischen räumlichen Elementen in einem Text und die Sprache darüber, die gleichzeitig »Material für den Aufbau von kulturellen Modellen mit keineswegs [nur] räumlichem Inhalt«10 bilden, den Grad der Semantisierung. Die verschiedenen möglichen Relationen werden laut Lotman durch Grenzen markiert, die den Raum wiederum in »disjunkte Unterräume«11 splitten. Als eine Konsequenz dessen werden in Texten, die solche disjunkten Räume präsentieren, Überschreitungen der Grenze(n) zum topischen Element, die Grenze selbst »zum wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes«.12 Dass die Grenze dabei nicht nur als vermessbare Größe, sondern weitaus häufiger als symbolische Markierung textrelevant wirksam wird, kann als ein Befund der Analysen – und zwar für alle drei Genres  – konstatiert werden. Eine besondere Position besetzt in diesem Zusammenhang der Eruv, die Sabbatgrenze, die im Rahmen der Erzählungen auch poetologisches Potenzial entfalten kann. Das erzählte Schtetl oder Dorf, die erzählte Stadt und der erzählte bzw. imaginierte Staat werden durch unterschiedliche topographische Settings  – z. B. bestimmte (An)-Ordnungen von Straßen, die Fokussierung auf signifikante Gebäude und Räumlichkeiten, architektonische Aufbau- und Verfallsszenarien  – sowie durch die Situierung und Bewegung von textrelevanten Gegenständen und vor allem der handelnden Figuren als relationale, dynamische und häufig instabile Räume entworfen. Gleichzeitig strukturieren teils hochgradig semantisierte Raumkonstellationen das Geschehen und den Erzählvorgang. Räume fungieren im Rahmen dessen als soziale, rituelle und/oder habituelle Größen. Aus dieser narrativen Eigenart speist sich auch ihr Potenzial, konstitutiver und wirkmächtiger Teil der erzählten Geschichte(n) zu sein. Innerhalb der Makroräume Schtetl, Stadt und Staat markieren benennbare Orte, wie die Synagoge, die Schenke oder der Friedhof, Bezugspunkte  – sowohl für die Figuren im Text als auch für den impliziten Leser. Sie sind allerdings niemals als starre lokale Fixationen zu verstehen. An die Erzählung ihrer Errichtung, ihres Umbaus, Verfalls oder ihrer Begehung etc. sind in der Regel die textimmanent geführten Diskussionen über Möglichkeiten und Reichweiten unterschiedlicher Identitätskonzeptionen angeschlossen. In den untersuchten Erzähltexten wurden als besonders markante narrative Konstruktionen z. B. ›jüdische‹ und ›christliche‹ Orte, Orte der Herkunft, des Aufbruchs, der Ankunft, Räume der Begegnung und der Konfrontation, Außen  9 10 11 12

Koschmal, Semantisierung von Raum und Zeit, S. 399. Lotman, Raum, S. 329. Lotman, Raum, S. 344. Lotman, Raum, S. 344.



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räume, geteilte Räume im Sinne von Separation und Partizipation, imaginäre Räume, Räume der Entfremdung, Räume des Vertrauten und der Transformation, private und gemeinschaftliche Räume sowie Klassifikationen und Paradoxien des Raums untersucht. In Ghettogeschichten werden Innenräume beispielsweise vorrangig in zweierlei Richtungen narrativ entfaltet  : Bedeutungs-offene Räume wie die Schenke oder das Gasthaus werden nicht nur unterschiedlich semantisiert, sondern auch diskursiv unterschiedlich besetzt. Entsprechend ändern sich die Funktionalisierungen dieser Räume in Bezug auf die Figurenkonstellationen sowie auf die in den einzelnen Texten zur Disposition stehenden Argumentationsstränge. Tendenziell eindeutig codierte Räume wie der Cheder oder die Sabbatstube weisen hingegen innerhalb eines abgegrenzten lebensweltlichen Bezugsrahmens spezifische, sich in den Erzählungen wiederholende (An-)Ordnungen auf. Die Innenräume wirken zwar auf die Figuren, diese können die Zeichen, die beispielsweise in der ›guten Stube‹, in der Synagoge oder im Cheder als Grenzmarkierungen festgeschrieben sind, aber durch ihre Handlungen affirmieren, umgehen, ignorieren, verschieben oder gar zerstören. Die damit einhergehenden räumlichen Veränderungen setzen wiederum personale Transformationsprozesse in Gang, die sich auf das gesamte Beziehungsgeflecht, das Selbstverständnis der Figuren sowie auf die textimmanent verhandelten Diskurse beziehen. Wenn diese Innenräume als motivähnliche Elemente eingesetzt werden, stärken oder schwächen sie je nach Positionierung die (argumentative) Durchsetzungskraft der Figuren, die sich darin befinden. Insofern übernehmen diese Räume eine wesentliche Funktion im topischen Gefüge der Sinnvermittlung. Inwieweit das für den Leser unmittelbar erkennbar wird, hängt im Wesentlichen von der Transparenz der zugrunde liegenden Erzählstrategien und den daran gebundenen Wertungen seitens der Erzählerinstanz sowie partiell vom Vorwissen des Lesers ab. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die als ›jüdisch‹ codierten Innenräume häufig aus einer heterodiegetischen Erzählerposition zunächst nur als vorgefundener (neutraler) Schauplatz dargestellt zu werden scheinen. Erst im Laufe der voranschreitenden Handlung konstituieren das Interieur, die sich an einem Ort oder in einem Raum bewegenden Figuren sowie die in einem Raum vollzogenen Rituale zusammenwirkend jene Spezifität des Raums, die immer wieder als Teil einer jüdischen Identität, die von außen nicht angreifbar und teils auch gar nicht wahrnehmbar ist, aufgerufen werden kann. ›Jüdische‹ Innenräume wie die ›gute Stube‹ bilden in Ghettogeschichten daher a priori weit mehr als nur eine Behausung und persönliche Schutzzone für materielles Eigentum oder körperliche Unversehrtheit. Sie schmiegen sich gewissermaßen wie eine zweite Haut um die darin befindlichen Körper, stellen vor allem in rituell hervorgehobenen Zeiten eine Art Gefäß bereit, in der eine Einheit von Körper, Handlung

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bzw. Ritus, Schrift und Geist hergestellt werden kann. Je exklusiver allerdings die erzählte Handlung an die als jüdisch ausgewiesenen Innenräume narrativ gebunden bleibt, desto beschränkter erweisen sich die Texte in poetologischer Hinsicht. Denn die Entwicklung der Ghettogeschichte als eigenständige Prosagattung scheint ganz wesentlich mit der topographischen Gesamtanlage des erzählten Schtetls, Ghettos oder Dorfes zu korrespondieren. Diese muss jedenfalls in einem spannungsvollen Wechselverhältnis von Innen- und Außenräumen jenseits ihrer jeweiligen lokalen Begrenzungen ihren adäquaten Ausdruck finden. Erst im Rahmen einer solchermaßen komplexen narrativen Raumkonstruktion, in der Jüdisches und Nichtjüdisches in Beziehung zueinander treten, kann sich topologisches Erzählen, wie es Norbert Mecklenburg dargelegt hat, wirkungsvoll ereignen. Um 1900 avanciert nun die Großstadt mit ihren offenen Plätzen und verborgenen Rückzugsorten, den funktional sich anpassenden Mikro-Räumen des privaten wie des öffentlichen Lebens, dem sich permanent ausdehnenden Straßen- und Wegenetz, der nie zum Stillstand kommenden Besiedelung und der damit verbundenen räumlichen und sozialen Dynamik zu dem zentralen Raum in der (deutschsprachig-jüdischen) Literatur. Der Stadtraum prägt die Narrationen, die Narrative und Topoi in nachdrücklicher und bislang nicht gekannter Weise. Doch was sich zunächst nur wie die Dominanz eines neuen populären Schauplatzes ausnimmt, dringt zunehmend in die Struktur der Texte ein. Die erzählte Stadt gewinnt in ihrer vielfältig ausgestalteten Räumlichkeit poetologische Qualität, nicht in dem Sinne, dass sie den Akt des Schreibens und die Schrift immanent mitreflektiert, als vielmehr in der Funktion, die Argumentationslinien erzählter Identitätsprozesse in einem hochgradig komplexen Konstruktionsgefüge anzubinden. In der jüdischen Erzählliteratur löst die Stadt – zunächst noch unmerklich – die Gasse, das Schtetl, das jüdische Dorf als Austragungsort identitärer Debatten ab. Im Gegensatz zur (erzählten) Gasse und zum Schtetl, die trotz der dort stattfindenden Veränderungen doch noch als Orte der Tradition und Permanenz wahrgenommen werden können, eröffnen sich in der Großstadt unterschiedlich konnotierbare Räume, die in ihrer Zusammenschau den Stadt-Raum als Umschlagplatz der Veränderung, der Instabilität, der Differenzierungen und der kurzfristigen Einschreibung ausweisen. Dieser Dynamik des (erzählten) städtischen Raums entspricht letztlich auch die unmittelbare Lebenswirklichkeit vieler Autoren in weitaus höherem Maße als jene des Schtetls oder Dorfes. Realitätsnäher, weil häufig gegenwartsbezogen und konkreter verortet als in der Ghettogeschichte, verhandeln nun Romane, die in Berlin, Wien oder Prag angesiedelt sind, aktuelle Fragen jüdischer Identitätsproblematik aus unterschiedlichen Perspektiven. Meist werden die daran anknüpfenden Debatten entlang der persönlichen Entwicklungs- oder Krisen-



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geschichte eines Protagonisten erzählt, und insofern schließen diese Romane zuweilen an die Tradition des klassischen Bildungsromans an. In diesen Texten werden Erinnerungen aus vor-urbaner Zeit (re-)konstruiert, Erfahrungen von Urbanität aktualisiert und Erwartungen auf ein besseres Leben entworfen. Die Beschreibungen der Stadt bzw. der Stadtteile (vor allem Berlins und Wiens) sind dabei von einem Gestus der Authentizität geprägt. Straßen, Stadtviertel, Hotels und Gasthäuser etc. werden konkret benannt und können ›buchstäblich‹ begangen werden. Die solchermaßen geographisch beglaubigten narrativen Karten werden in einem zweiten Schritt durch die Handlungen, Reden und performativen Inszenierungen der Figuren überblendet. Die auf diese Weise sichtbar werdende Topographie ist allerdings nicht mehr auf ihre plane Flächigkeit beschränkt. Sie zeichnet sich vielmehr durch eine Mehrdimensionalität und Tiefenstruktur aus, die auch der Komplexität der verhandelten Diskurse Rechnung trägt. Geschichten über eine Stadt und in einer Stadt demonstrieren die Wirkmächtigkeit des städtischen Raums auf deren Bewohnerinnen und Bewohner  : Dies gilt gleichermaßen für die fiktiven Figuren in einem Text wie auch für eine (urban geprägte) Leserschaft, die sich im Akt des Lesens durch einen mehr oder weniger vertrauten Raum bewegen kann. Durch die topographisch angebundenen Schilderungen und Lokalisierungen werden soziale Gefälle, aber auch hierarchische Verhältnisse und Machtpositionen evident, wobei die Orte und Räume selbst zu einem Teil dieser Hierarchien avancieren können. Andererseits finden in der erzählten Stadt Neutralisierungen von symbolischen oder vorgängig existierenden Kampfzonen statt. In der Fiktion können Konflikte selbst dann bereinigt werden, wenn ihre realen Referenzprobleme unlösbar scheinen. Andererseits können ›Kämpfe‹ um Raum sowie die Aneignung von Raum narrativ ausgetragen werden und diskursiv in außerliterarische Debatten eingreifen. Gerade jene Texte, die sich mit den Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus auseinandersetzen, sind in diesem Umfeld anzusiedeln. Weiterhin eröffnet die (erzählte) Stadt aufgrund ihrer Größe und mangelnden Kontrollmechanismen eine bislang unbekannte Freizügigkeit und Freiräume für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht wenige Texte spielen in diesem Kontext ›kleine‹ Wanderbewegungen ihrer Protagonisten durch, meist in Form von (narratologisch interessanten) Spazier- oder Erkundungsgängen durch die Stadt. Dabei korrelieren Umzüge innerhalb der Stadt, das Verlassen der elterlichen Wohnung, die mit der Verehelichung oder dem Beruf verbundenen Ortswechsel nahezu immer mit Wandlungsprozessen der Figuren, mit ihrer Annäherung an (z. B. aktuelle zionistische) jüdische Positionen oder ihre Distanzierung vom Judentum. So scheint in der erzählten Stadt – noch stärker als in der Ghettogeschichte – die Identitätssuche der Protagonisten narrativ an die physische Bewegung durch den Raum gebunden, wobei die Bewegungsfreiheit

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einer Figur gleichzeitig die Notwendigkeit permanenter Entscheidungen erfordert. Die erzählte Stadt avanciert also zum mehrdeutigen Erfahrungsraum  : Sie kann Ort der Orientierungslosigkeit, aber auch der (politischen) Bewusstseinsbildung, des Aufstiegs, aber auch des Verfalls und der Verelendung, der Vereinsamung, aber auch der Gruppenbildung, des Wissens, aber auch des Vergessens, der Freiheit, aber auch der Bedrohung werden. Der Komplexität der Lebenswelten entsprechend wird die Großstadt vorwiegend in Romanform erzählt, das übersichtlichere Format der Novelle oder Erzählung bleibt dem Schtetl und dem jüdischen Dorf vorbehalten. Analog dazu erschöpft sich auch das narrative Reservoir in zionistischen Texten hinsichtlich der in den Texten zum Tragen kommenden Raumkonstellationen und der damit verbundenen Semantisierungen längst nicht in einer einfachen territorialen oder ideologischen Bezugnahme auf Palästina oder dessen intertextueller Ausformung. Denn es zeigte sich, dass die untersuchten zionistischen Erzähltexte meist ebenfalls im städtischen Raum angesiedelt sind, darüber hinaus sind Teile der Handlungen aber auch immer wieder in ein Schtetl oder eine ländliche Region verlegt. So addieren und verdichten sich in diesen zionistischen Texten die Raumkonstellationen aller drei Genres. Eine umfassende Konzeption einer neuen Gesellschaft in Palästina entwirft in den hier untersuchten Romanen einzig Theodor Herzl. Die ausführliche Analyse der Raumstrukturen von Altneuland führte unter Bezugnahme auf Michel Foucaults Überlegungen Von anderen Räumen (1967) u. a. zu dem Ergebnis, dass Herzl keinen utopischen, sondern einen heterotopischen Roman verfasst hat. Unter Heterotopien versteht Foucault »tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.«13 Eine weiterführende Konzeption des jüdischen Staats findet sich in den hier diskutierten Romanen nicht einmal ansatzweise. Es scheint sogar, dass im Verzicht darauf die Herzl’sche Vision von Altneuland mit jedem Schreibakt kontinuierlich affirmiert wird. Altneuland wird als intertextuelle Horizontlinie im Gesamtgefüge aller auf sie Bezug nehmenden Narrationen präsent gehalten, selbst dann, wenn es nicht explizit aufgerufen wird. Gerade in der Abwesenheit alternativer Imaginationen zum Judenstaat, zu Altneuland oder zu Auslassungen kulturzionistischer (Vor-)Denker ergänzen und bereichern zionistisch ausgerichtete Texte den durch Herzl vorgelegten Entwurf. Während das eigentliche Land nach Herzls Roman bis in die 1930er-Jahre in der fiktionalen Literatur unbeschrieben bleibt, sich also kein Zeichen mehr mit dem Territo13 Foucault, Von anderen Räumen, S. 935.



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rium verbindet, und es damit letztlich auch den Augen der Leserschaft entzogen bleibt, konturiert sich der zukünftige Staat bzw. das staatsähnliche Gebilde einzig durch die in den Texten dargestellten Figuren, deren Sehnsucht darauf gerichtet ist und die sich auf den Weg dorthin machen (wollen). Dies sollte sich erst mit Arnolds Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim (1932) ändern. Mit diesem Roman, der die tatsächliche Begehbarkeit eines politisch ausgewiesenen Territoriums ins Bild setzt, verschiebt sich zugleich das semantische Potenzial des imaginierten Landes als Ziel- und Sehnsuchtsort, das bis dahin in seiner scheinbar unendlichen Wiederholbarkeit im Erzählvorgang alle Möglichkeiten des Anfangs offengehalten hatte. Der Fokus der frühen zionistischen Erzählliteratur scheint also insofern weniger auf ein vermessbares Territorium gerichtet als vielmehr auf einen idealen Raum, dessen Gestalt als unendliche Schnittfläche aller bis dahin formulierten und späterhin noch zu formulierenden textlichen und zeichenhaften Entwürfe anzunehmen ist. Während politische zionistische Texte vielfach auf moderne Staats- und territoriale Raumvorstellungen abheben, deuten die hier untersuchten Erzähltexte ihre theoretischen Impulsgeber überwiegend dahingehend aus, dass sie die Relation Mensch-Territorium nachhaltig zugunsten des Menschen betonen, ohne damit allerdings das Zeichenpotenzial und die Einschreibungen Zions anzutasten. In Zion fallen zudem die zeitlichen Koordinaten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, und dies – wie der Herzl’sche Roman suggeriert – unabhängig von jedweder Aktualisierung durch eine Landnahme oder die Erzählung darüber. Insofern wirkt es immanent logisch, dass auch die raumpoietische Kraft früher zionistischer Erzähltexte tendenziell stärker auf in der Zeit sich abspielende Prozesse abzielt denn auf territoriale Referenzpunkte. Und das erklärt möglicherweise auch, warum der erwartete Raum für eine »neue Gesellschaft« nahezu ausschließlich in fiktional entworfenen sozialen Projektionen und in der Darstellung von Menschen, die ihn einmal bewohnen wollen, erzählt wird. Bei der Analyse der textuellen Strategien, in die all diese Formationen eingebunden sind bzw. mittels derer sie entstehen, zeigte sich ein besonders enges Verhältnis von Narrativität, Identität, Raum und historisch verifizierbarer Vorgängigkeit sozialer Prozesse, wobei die Zeit als erzählrelevanter Faktor unterschiedlich stark funktionalisiert wird. Unter Berücksichtigung der vielfältigen textanalytischen Einzelergebnisse und in Bezugnahme auf Ansätze des New Historicism, wonach »Literatur […] als kontingentes Resultat sozialer und psychischer Faktoren gesehen [wird], das eng an die Realität seiner Zeit gebunden ist«,14 stellt sich deshalb die Frage, ob die in den Erzähltexten beobachteten Phänomene einer narrativen Verräumlichung auch Rückschlüsse auf soziale 14 Köppe, Winko, Neuere Literaturtheorien, S. 233.

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Entwicklungen zulassen bzw. ob man im 19. Jahrhundert nicht sogar von einer ›Epoche der Verräumlichung‹ – für das Judentum, aber auch allgemein – sprechen könnte.15 Würde man diese (vorsichtig) positiv beantworten, könnte man bislang bekannte historische Entwicklungen aus anderen Perspektiven als bisher beleuchten  : So ließe sich beispielsweise die in der Geschichtswissenschaft konstatierte »Privatisierung der jüdisch-religiösen Kultur«16 im Sinne eines Rückzugs in die eigenen vier Wände nicht nur als ein soziales Phänomen im Zuge der Akkulturation und Verbürgerlichung, mithin einer zeitlich bedingten Erscheinung, interpretieren, sondern als ein Symptom in einem weitreichenden Komplex an räumlich bedingten Transformationen, denen das Judentum als ein kulturelles System unter anderen kulturellen Systemen infolge der sich neu herausbildenden Lebensformen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unterworfen war. Unter dieser Prämisse wären Phänomene im Umfeld von Urbanisierung und Migration ebenso zu fassen wie Umgestaltungen im privaten Alltagsleben als Folge der Aufklärung und der Modernisierung des Wohnens, kulturelle Austauschprozesse in der Architektur ebenso wie die Gestaltung identifikatorischer Räume in Museen, in der bildenden Kunst und Literatur, arbeitsweltlich bedingte Veränderungen ebenso wie die Auflösung traditioneller und die Bildung neuer Gemeinschaftsstrukturen. Die vielfältigen Auswirkungen einer solchen Verräumlichung auf lebensweltliche Konstellationen sind in der Literatur gerade durch die Vielschichtigkeit und Komplexität narrativer Raumkonstruktionen nicht nur besonders gut nachzuvollziehen, es scheint fast, als werden sie in ihrer Prägnanz und Dichte dort überhaupt erst erkennbar. Als eine Konsequenz dessen stellt sich als weitere Frage, ob womöglich der literarische Text – und nicht etwa das Bild – in seiner Materialität und Zeichenhaftigkeit als der eigentliche Ort für eine angemessene Repräsentation von Raum und Raumbeziehungen angesehen werden muss. Aus der Zusammenschau einer Vielzahl von Texten ließe sich dann gewissermaßen eine (narrative) Karte erstellen, anhand derer sich »eine ganze Geschichte der Räume« ablesen ließe. Diese Geschichte aufzuschreiben, hat Michel Foucault einst in einem Gespräch gefordert  : Man müsste eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den klei15 Laura Kajetzke und Markus Schroer verstehen unter Verräumlichung einen »soziale[n] Prozess, in dem gleichermaßen die Wirkmacht räumlicher Strukturen, kollektive Vorstellungen über Räume, aber eben auch die schöpferische Kraft der Individuen berücksichtigt werden muss.« Siehe Kajetzke, Schroer, Sozialer Raum  : Verräumlichung, S. 203. 16 Lezzi, Jüdischer Ort, S. 173. Lezzi bezieht sich hier v. a. auf Benjamin M. Baaders Studie Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870.



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nen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen.17

Unabhängig davon, ob ein solcher Gedankengang zu weit ausgreift, lässt sich zumindest konstatieren, dass die temporale Meistererzählung, deren Dominanz Edward W. Soja beklagte,18 in der Literatur – und gerade in der hier zur Diskussion stehenden Literatur – schon ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgebrochen wurde. Doch selbst wenn der Raum als Paradigma für eine Vielzahl deutschsprachig-jüdischer Erzähltexte des 19. Jahrhunderts gelten kann,19 bannt allein die Komplexität und Differenziertheit der narrativ konstruierten Raumbeziehungen, wie zu zeigen versucht wurde, die Gefahr, eine neue Meistererzählung zu installieren oder damit gar einheitsstiftend zu wirken. Raum wird in den unterschiedlichsten Konstellationen manifest und impliziert wie keine andere Kategorie die Paradoxien, Widerständigkeiten und die unendlichen Möglichkeiten, aber auch und vor allem die Gefahrenpotenziale, die das »lange 19. Jahrhundert« mit sich brachte. Seit der Vernichtung jüdischen Lebens in Europa, seit der Auslöschung jüdischer Dörfer und des Schtetls müssen jedoch alle bis dahin erzählten Orte immer auch in anderen Zusammenhängen gedacht werden. Denn die erzählte Stadt, das Dorf und das Schtetl, die nicht mehr auf ihre vorgängigen Referenzorte verweisen können, weil die dort ansässigen Menschen ermordet wurden, sind nun gewissermaßen als Memoria aufgerichtet. Obwohl sie selbst nicht davon erzählen, bilden sie die sichtbaren und lesbaren Zeichen einer abgebrochenen Geschichte. Der erzählte Staat hingegen wurde im wörtlichen Sinne transformiert. In den bisher vier vorliegenden Über-Setzungen von Theodor Herzls Romans Altneuland ins Hebräische20 bildet sich nicht nur die Entwicklung der hebräischen Sprache in den letzten hundert Jahren ab, sondern auch der stetige Wandel eines hochgradig dynamischen Gesellschaftssystems, von dessen Hervorbringung der Roman eigentlich handelt. 17 Michel Foucault, Das Auge der Macht (Gespräch mit J.-P. Baron und M. Perrot), aus dem Frz. v. Hans-Dieter Gondek, in  : ders., Schriften in vier Bänden, Bd. 3 (1976–1979), hg. v. Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main 2003 [frz. 1977], S. 250–271, hier S. 253. 18 Soja, Postmodern Geographies, S. 11  : »The critical hermeneutic is still enveloped in a temporal master-narrative, in a historical but not yet comparably geographical imagination.« 19 Das dieser Literatur gleichzeitig innewohnende raumpoietische Potenzial, das jedoch wirkungsgeschichtlich noch genauer untersucht werden müsste, zeigt sich z. B. allein in den durch Ghettogeschichten geprägten Vorstellungen über den habsburgisch-galizischen Kulturraum, die im deutschsprachigen Raum bis heute wirksam, in der Ukraine aber völlig unbekannt sind. 20 Vgl. dazu ausführlich Pagi, Altneuland – Altneue Sprache – Altneue Idee.

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VII. Personenregister Abrahams, Israel  : 151 Achad Ha’am  : 296, 319 Adelung, Johann Christoph  : 40, 42, 45 Aristoteles  : 35, 36, 434 Arndt, Ernst Moritz  : 62 Arnim, Achim von  : 299 Auerbach, Berthold  : 92, 102, 204, 205 Auerbach, Jakob  : 204 Auerbach, Leopold  : 223 Bachelard, Gaston  : 9, 10 Bachtin, Michail M.  : 39, 75, 235, 346 Beer, Amalia  : 245 Beer, Peter  : 59 Benjamin, Walter  : 13, 96 Bernfeld, Siegfried  : 358, 313 Bernstein, Aron  : 175 Bettauer, Hugo  : 251, 252, 257, 258, 261 – 264, 266 – 271, 274, 275 Birnbaum, Nathan  : 296, 308 Bismarck, Otto von  : 66, 209 Bloch, Joseph Samuel  : 63, 295 Brentano, Clemens  : 299 Breuer, Isaac  : 255 Brieger-Wasservogel, Lothar  : 369, 370, 411, 413, 417, 419, 421, 423, 424 Buber, Martin  : 254, 296, 305, 392 – 394, 396, 401 – 403, 409 – 412, 416, 419, 421 Celan, Paul  : 13 Chamberlain, Houston Stewart  : 62 Coralnik, A.  : 80 Döblin, Alfred  : 210, 254, 255 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  : 76 Ehrlich, Josef R.  : 300 Eisler, Menachem (Edmund)  : 307 Feuchtwanger, Lion  : 13 Fichte, Johann Gottlieb  : 61, 62 Flaubert, Gustave  : 235 Franzos, Karl Emil  : 49, 87, 95, 114, 120, 121,

124, 126, 128, 133, 139, 146, 151, 153, 175, 178, 180, 181, 188, 210, 284, 379, 382, 383 Freud, Sigmund  : 351, 354, 356 Friedländer, David  : 70 Fromer, Jakob  : 179 Geiger, Abraham  : 60 Geiger, Ludwig  : 208, 241, 306, 307 Gervinus, Georg Gottfried  : 302 Giesebrecht, Wilhelm  : 299 Gobineau, Arthur de  : 62 Goethe, Johann Wolfgang von  : 61, 261, 379, 380, 391 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch  : 75, 235 Goldstein, Moritz  : 194, 420 Gordon, Judah Leib  : 284, 403 Gronemann, Sammy  : 254, 255, 369 – 371, 373 – 375, 378, 379, 382, 383, 390 Grünfeld, Max  : 141, 149, 152, 153, 155, 157 Gumplowicz, Ludwig von  : 323 Hart, Heinrich  : 190 Hart, Julius  : 190 Heine, Heinrich  : 13, 94, 299 Heimann, Moritz  : 275 Herder, Gottfried  : 24, 61 Hermann, Georg (eigentl. Georg Borchardt)  : 227 – 230, 232 – 234, 239, 240, 243, 244, 246, 275, 285, 307 Hertzka, Theodor  : 307, 312, 349 Herz, Henriette  : 244 Herzberg-Fränkel, Leo  : 120, 121, 140, 143, 145 – 147 Herz Homberg, Naftali  : 59, 143 Herzl, Theodor  : 10, 51, 198, 296, 305, 307, 309 – 316, 319, 320, 322 – 326, 329, 331, 346 – 350, 352, 360, 365, 365, 390 – 395, 397, 398, 412, 414, 417, 419, 422, 427, 428, 430, 440, 441, 443 Hess, Moses  : 295, 308, 311, 313, 427 Hichler, Leopold  : 275, 276, 278, 283, 285, 288, 289 Hirsch, Samson Raphael  : 255

Illing, Friedrich Wilhelm  : 276 Jellinek, Adolf  : 295 Jost, Isaak Markus  : 59, 60 Kafka, Franz  : 13, 210, 305, 308 Kahn, Arthur  : 93, 98, 109, 110, 126 Kaiser Franz Joseph I.  : 252 Kaiser Joseph II.  : 86, 96, 143 Kaiser Wilhelm II.  : 252 Kalischer, Zwi Hirsch  : 295, 311 Kant, Immanuel  : 61 Kaufmann, Jakob  : 92 Klapp, Michael  : 150 Kohn, Salomon  : 169 Kompert, Leopold  : 90, 92, 102, 114, 127, 129, 130, 163 – 169, 175, 181, 183, 188, 307 Kulke, Eduard  : 135, 186 Kunschak, Leopold  : 257 Landsberger, Artur  : 81 – 83, 88, 251, 252, 254, 257, 258, 260 – 267, 270 – 272, 274, 275 Lasker-Schüler, Else  : 13 Lessing, Gotthold Ephraim  : 61 Levin, Rahel  : 244 Levin, Shmarya  : 142 Levinas, Emmanuel  : 305 Lilien, Ephraim Moses  : 409 Lipschütz, Elieser Meir  : 142 Löwenthal, Leo  : 113 Lueger, Karl  : 252, 257, 298, 329 Maimon, Salomon  : 15, 112 – 117, 217 Manasse ben Israel  : 59 Mannheim, Karl  : 65 Mauthner, Fritz  : 193, 202, 206 – 211, 217, 223, 224, 252, 259, 264, 266, 364, 374 May, Karl  : 308 Meilen, Josef  : 300 Melville, Herman  : 74 Mendele Mocher Sforim (»Mendele der Buchhändler«; eigtl. Scholem Jankew Abramowitsch)  : 87 Mendelssohn, Moses  : 14, 68, 70, 114, 241 Meyerbeer, Giacomo  : 244 Mommsen, Theodor  : 205, 206 Moritz, Karl Philipp  : 15, 113, 168

Personenregister 

Morus, Thomas  : 308, 312, 331 Mosenthal, Salomon Hermann  : 155, 156, 158, 159 Moses Maimonides  : 59 Münzer, Kurt  : 200 Napoleon Bonaparte  : 85, 110 Natonek, Hans  : 105 Nordau, Max  : 419 Papst Paul IV.  : 84 Papst Pius IX.  : 85 Pinsker, Leon  : 58, 308, 311 Ranke, Leopold von  : 205 Rathenau, Walther  : 253 Roth, Joseph  : 13, 87, 195, 198, 255, 256, 262, 375 Ruppin, Arthur  : 192 Sacher-Masoch, Leopold  : 32 Samuely, Nathan  : 120, 121 Schachnowitz, Selig  : 120, 130, 139, 165, 166, 187, 411, 413, 415, 416, 424 Schiller, Friedrich  : 61, 136, 178 – 181, 379 Schnitzler, Arthur  : 31, 249, 263 Scholem, Gershom  : 402, 403 Silbergleit, Arthur  : 255 Simmel, Georg  : 228, 401, 431 Singer, Beshiva  : 10 Sommer, Ernst  : 350, 351, 353, 356 – 359, 413 Stauben, Daniel  : 110 Steinhardt, Moritz  : 103, 104 Steinschneider, Moritz  : 19 Stoecker, Adolf  : 207 Teller, Karl  : 350, 357, 360, 391, 392, 394, 402, 403, 413 Treitel, Leopold  : 86, 111 Treitschke, Heinrich von  : 204, 205 Tschechow, Anton Pawlowitsch  : 76 Tucholsky, Kurt  : 13 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch  : 235 Varnhagen, Rahel  : 245 Vogelsang, Freiherr Karl von  : 298

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474  |

Personenregister

Wagner, Richard  : 302 Weinbaum, David  : 411, 413, 419, 423, 427 Wiesinger, Albert  : 298 Wulff, Liepmann Meyer  : 244 Zweig, Arnold  : 254, 255, 305, 378, 429, 441 Zweig, Stefan  : 13

REIHE JÜDISCHE MODERNE HERAUSGEGEBEN VON ALFRED BODENHEIMER, JACQUES PICARD, MONIK A RÜTHERS UND DANIEL WILDMANN



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Dieses Buch widmet sich der Beteiligung von Jüdinnen und Juden an der Entwicklung des österreichischen Parlamentarismus sowie ihren Konfrontationen mit Antisemitismus als Strategie parlamentarischer Politik. Das vielfältige Wirken jüdischer ParlamentarierInnen in Abgeordnetenhaus und Herrenhaus des Reichsrats sowie im Nationalrat der Ersten Republik wird anhand einer Kollektivbiographie und einer Analyse von Parlamentsdebatten sichtbar gemacht. Die Untersuchung geht außerdem den Transformationen von Antisemitismus im Parlament sowie den dagegen entwickelten Widerständen nach. Damit stellt das Buch einen politikwissenschaftlichen Beitrag an der Schnittstelle von Judentums-, Antisemitismus- und Parlamentarismusforschung dar. . 2017. 336 S. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-20094-9

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ZUM JÜDISCHEN ERBE IN DER WIENER ARCHITEKTUR DER BEITRAG JÜDISCHER ARCHITEKTINNEN AM WIENER BAUGESCHEHEN 1868–1938

Während der Beitrag von jüdischen Künstlern und Intellektuellen am Wiener Kulturleben schon lange Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden hat, wurde dahingegen die Tätigkeit von jüdischen ArchitektInnen kaum beachtet. Diese Studie versucht in einer chronologischen Abfolge mit bestimmten Schwerpunktsetzungen von den ersten Anfängen in der Ringstraßen-Ära bis zum »Anschluss« von 1938 einen Überblick zu geben. Neben bedeutenden Persönlichkeiten und spezifischen Gruppierungen – u. a. die Karl KönigSchule oder der Kreis um Josef Frank – werden auch Bauaufgaben, wie Synagogen und Banken, aber auch die Wiener Werkbundsiedlung oder die Sozialbauten des »Roten Wien« untersucht. Ein eigenes Kapitel widmet sich der »Wiener Wohnraumkultur« an der insbesondere Frauen einen erheblichen Anteil hatten. Der letzte Abschnitt ist dem Schicksal der Vertriebenen und Ermordeten gewidmet. 2016. 274 S. 94 S/W- UND 32 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-20265-3

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ELMAR LENHART

ALBERT DRACH UND DAS 20. JAHRHUNDERT DER DISKURS UM MACHT, RAUM UND BIOPOLITIK (LITERATURGESCHICHTE IN STUDIEN UND QUELLEN, BAND 26)

Vor etwa 20 Jahren starb der österreichische Schriftsteller Albert Drach. Seine Literatur bleibt ein Einzelfall. Sein Werk, geprägt von einer literarisierten Form der Rechtssprache und von der philosophischen Position des Zynismus, eröffnet in exemplarischer Weise einen spezifischen Blick auf die Politik und Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zwei miteinander verflochtene Themen, der Raum und die Biopolitik, produzieren heute noch einen anwachsenden Diskurs und stehen deshalb im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Elmar Lenhart geht dem poetologischen Selbstverständnis Drachs in seinem Werk nach: »Der Autor, der etwas zu sagen vermag, (…) führt den Menschen dorthin, dass er die Dinge so sieht, wie sie sind.« 2016. 224 S. 6 S/W-ABB. FRANZ. BR. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-20237-0

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

BERND FISCHER

EIN ANDERER BLICK SAUL ASCHERS POLITISCHE SCHRIFTEN

Die erste Monographie zu dem Berliner Spätauf klärer Saul Ascher (1767– 1822) bietet eine detaillierte Lektüre seiner wichtigsten politischen Schriften. Ascher versucht, seinen aufgeklärt-revolutionären Kosmopolitismus (Geschichte der politischen Revolutionen, 1802) gegen den Volksbegriff der antinapoleonischen Bewegung zu behaupten, und schlägt damit eine eigenwillige Brücke zwischen der Haskala und dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Auf einen religionsphilosophischen Vorstoß (Leviathan, 1792) folgte mit Eisenmenger der Zweite 1794 die erste Auseinandersetzung mit neuartigen Ausgrenzungsideologien, deren Strukturen Ascher zeitlebens in den politischen Ablegern der idealistischen Periode aufzudecken versuchte (Germanomanie, 1815; Wartburgfeier, 1818; Geistesaristokratismus, 1819). 2016. 194 S. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-20263-9

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DEUTSCH-JÜDISCHE AUTOREN DES 19. JAHRHUNDERTS SCHRIFTEN ZU STAAT, NATION, GESELLSCHAFT. WERKAUSGABEN HERAUSGEGEBEN VON MICHAEL BROCKE, JOBST PAUL UND SIEGFRIED JÄGER BD. 5 | LUDWIG PHILIPPSON

BD. 2 | SAUL ASCHER

AUSGEWÄHLTE WERKE

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HERAUSGEGEBEN VON

HERAUSGEGEBEN VON RENATE BEST

ANDREAS BRÄMER

2010. 326 S. GB.

2015. 337 S. GB.

ISBN 978-3-412-20451-8

ISBN 978-3-412-22444-8 BD. 1 | ELIAS GRÜNEBAUM BD. 4 | DAVID FRIEDLÄNDER

DIE SITTENLEHRE DES JUDENTHUMS

AUSGEWÄHLTE WERKE

ANDERN BEKENNTNISSEN

HERAUSGEGEBEN VON UTA LOHMANN

GEGENÜBER

2013. 324 S. GB.

NEBST DEM GESCHICHTLICHEN

ISBN 978-3-412-20938-4

NACHWEISE ÜBER DIE ENTSTEHUNG UND BEDEUTUNG DES PHARISAISMUS

BD. 3,1 | GABRIEL RIESSER

UND DESSEN VERHÄLTNISS ZUM

AUSGEWÄHLTE WERKE

STIFTER DER CHRISTLICHEN RELIGION

TEILBAND 1

SYNOPTISCHE EDITION DER AUSGABEN

HERAUSGEGEBEN VON JOBST PAUL UND

VON 1867 UND 1878

URI R. KAUFMANN

HERAUSGEGEBEN VON CARSTEN WILKE

2012. 280 S. GB.

2010. 321 S. GB.

ISBN 978-3-412-20864-6

ISBN 978-3-412-20316-0

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