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German Pages 712 Year 1984
ULRICH SCHEUNER
Schriften zum Völkerrecht
ULRICH SCHEUNER
Schriften zum Völkerrecht
Herausgegeben von
Christian Tomuschat
DUNCKER
&
HUMBLOT I
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Sehenner, Ulrieh: Schriften zum Völkerrecht / Ulrich Scheuner. Hrsg. von Christian Tomuschat. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. ISBN 3-428-05608-6 NE: Scheuner, Ulrich: [Sammlung]
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1984 Duncker
ISBN 3-428-05608-6
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk. Von Christian
Tomuschat ........................................................ XI
I. Völkerrechtliche Grundfragen - Rechtsquellen 1. Staat und Staatengemeinschaft (1931) ..............................
3
2. L'influence du droit interne sur la formation du droit international (1939) ........................... " ...... " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 19 3. Naturrechtliche Strömungen im heutigen Völkerrecht (1950/51) ...... 4. Völkerrecht (1961)
99 159
5. Ius gentium and the Present Development of International Law (1962) 169 6. Die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert (1962) ........ 185 7. Fünfzig Jahre Völkerrecht (1965) .................................. 213 8. Internationale Verträge als Elemente der Bildung von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht (1977) .................................... 247 9. Die internationalen Probleme der Gegenwart und die nationale Entscheidungsstruktur (1977) .......................................... 277
11. Geschichte des Völkerrechts 10. Zur Geschichte der Kolonialfrage im Völkerrecht (1938) ............ 317 11. Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815 (1964) ............................ 349 12. Solidarität unter den Nationen als Grundsatz in der gegenwärtigen internationalen Gemeinschaft (1975) ................................ 379 111. Zwischenstaatliche Konfliktlösungen 13. Krieg und Bürgerkrieg in der Staatenwelt der Gegenwart (1977) .... 409 14. Entwicklungen im Seekriegsrecht seit dem zweiten Weltkrieg (1979) 429 15. Intervention und Interventionsverbot. Das Gebot der Achtung der wirtschaftlichen und politischen Selbständigkeit der Staaten (1980) .. 455
Inhaltsverzeichnis
VI
IV. Internationale Organisationen 16. Die Vereinten Nationen und die Stellung der Nichtmitglieder (1954) 477 17. Nichtstaatliche Organisationen und Gruppen im soziologischen und rechtlichen Aufbau der heutigen internationalen Ordnung (1967) .... 507 18. Aufgaben- und Strukturwandlungen im Aufbau der Vereinten Nationen (1975) ........................................................ 533
v.
Europäische Regionalorganisationen und Menscllenrecllte
19. Grundlage und Sicherung der Menschenrechte (1959) ................ 583 20. Vergleich der Rechtsprechung der nationalen Gerichte mit der Rechtsprechung der Konventionsorgane bezüglich der nicht verfahrensmäßigen Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (1967) 599 21. Die Fortbildung der Grundrechte in internationalen Konventionen durch die Rechtsprechung. Zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (1981) .............................. 625
* Völkerrechtliche Gesamtbibliographie Ulrich Scheuner ....... . . . . . . . . . .. 657 Ergänzender Nachtrag zur Gesamtbibliographie Ulrich Scheuner ........ 672 Sachwortregister
675
* Die Fundstelle der Erstveröffentlichung jedes Beitrages ist am Fuße der einzelnen Titelseiten und in der Völkerrechtlichen Gesamtbibliographie des Verfassers am Ende dieses Bandes (S. 657 ff.) angegeben. - In den Fußnoten verweisen kursiv gesetzte Zahlen in Klammern auf die entsprechenden Seiten in diesem Band.
Abkürzungsverzeichnis Abg. Abs. AJIL Anm. AöR ArchVR Art. A.S.I.L. AufI. Ausg.
Abgeordneter Absatz Ameriean Journal of International Law Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Artikel (Proeeedings of the) Ameriean Society of International Law Auflage Ausgabe
BBI Bd. BerDGVR bes. betr. BGBI. BGHSt BibI. BVerfGE BVerwG BYIL
Bundesblatt (Schweiz) Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht besonders betreffend, betrifft Bundesgesetzblatt (Bundesrepublik Deutschland) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bibliotheca Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht British Yearbook of International Law
eap. cf. chap. CIJ Cmd CMLR Comm. CPJI
eaput confer! chapter/chapitre Cour Internationale de Justiee Command Papers (Großbritannien) Common Market Law Reports Commission Cour Permanente de Justice Internationale
Dalloz ders. Diss. Doe. DÖV
Reeueil Dalloz de doetrine, de jurisprudenee et de legislation derselbe Dissertation Doeument Die öffentliche Verwaltung
EA ebda. ECHR ECOSOC ed.lEd.led. EG EMRK ete. EuGRZ EWG
Europa-Archiv ebenda European Court of Human Rights Eeonomic and Social Couneil edition/Editor/edition Europäische Gemeinschaften Europäische Menschenrechtskonvention et cetera Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
ff.
und folgende
VIII
Abkürzungsverzeichnis
GA GAOR GATT GB GG GmbH
General Assembly (United Nations) General Assembly Offieial Reeords General Agreement on Tariffs and Trade Great Britain Grundgesetz (Bundesrepublik Deutschland) Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Hrsg./hrsg.
Herausgeber/herausgegeben
ICJ ICLQ IGH ILM ILO ILR insbes. IPO
International Court of Justiee International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof International Legal Materials International Labour Organization International Law Reports insbesondere Instrumentum Paeis Osnabrugense
JIR
JZ
Jahrbuch für Internationales Recht Jahrbuch des öffentlichen Rechts Journal du droit international prive et de la jurisprudenee eomparee Juristenzeitung
Kap. KSZE
Kapitel Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
lib. LNTS
liber League of Nations Treaty Series
N.F. NJW No/no/Nr.
Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift number, numero, Nummer
OAU ObGH OJurZ OZöR
op. op. cit. op. diss. op. sep. OVG
Organization of Afriean Unity Oberster Gerichtshof Osterreichische Juristen-Zeitung Osterreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (und Völkerrecht) Oberlandesgericht Organisation des Nations Unies/Organizzazione delle Nazioni Unite opinion opere eitato dissenting opinion/opinion dissidente opinion separee Oberverwaltungsgericht
p. P.C.I.J.
page Permanent Court of International Justiee
qu.
quaestio
Ree. RdC Reeuen des Cours REDI Res. RDI RGDIP Riv. di diritto intern.
Reeuen Reeuen des Cours Reeuen des Cours de l'Aeademie de Droit International Revue Egyptienne de Droit International Resolution Revue de droit international et de legislation eomparee Revue Generale de Droit International Publie
JöR Journal Clunet
OLG O.N.U.
Rivista di diritto internazionale
Abkürzungsverzeichnis
IX
Rs. RsprGH
Rechtssache Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften
S.
SALT SC SCOR S.d.N. Seet. sep.op. seq. Sess. Slg. sog. Sp. StGB StIGH suiv. Suppl.
Seite Strategie Arms Limitations Talks Seeurity Couneil Seeurity Couneil Official Reeords SoeiE~te des Nations Seetion separate opinion sequentes Session Sammlung sogenannte(r) Spalte Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof suivantes Supplement
t.
tome
u.
und Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Uni ted Nations United Nations Conferenee on International Organization United Nations Conferenee on Trade and Development United Nations Edueational, Scientifie and Cultural Organization United Nations Foree in Cyprus United Nations Monthly Chronic1e United Nations Treaty Series Union des Republiques Socialistes Sovietiques Urteil Uni ted States Uni ted States Supreme Court Reports United States of America und so weiter unter Umständen
UdSSR UN UNCIO UNCTAD UNESCO
UNFICYP UNMC UNTS
URSS
Urt. US U.S. USA usw. u.U.
Verf. VerfGH vgl. VN Vol. VVDStRL
v.
von, vom, versus Verfassung Verfassungs gerichtshof vergleiche! Vereinte Nationen Volume Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
YB
Yearbook (Couneil of Europe)
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Schweizerisches Recht
z.B. ZSR
EINLEITUNG
Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk* Von Christi an Tomuschat, Bonn I. Ulrich Scheuner war wie auf allen seinen Arbeitsgebieten auch auf dem Gebiet des Völkerrechts ein außerordentlich fruchtbarer Denker und Autor. Für viele wird sich sein Name in erster Linie mit dem Staatsrecht und dem Kirchenrecht verbinden. Aber dem Völkerrecht stand er nicht weniger nahe. Das gilt zunächst für seine Wirkungsstätte innerhalb der Universität Bonn, wo er nach dem Kriege von 1950 bis zu seiner Emeritierung tätig war. Im Jahre 1958 übernahm er die Leitung des "Instituts für Internationales Recht und Politik", das auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wenig später (Dezember 1959) in "Institut für Völkerrecht" umbenannt wurde. Schon allein dieser äußere Umstand zeigt, daß das Völkerrecht für ihn keine Nebensache war. Insgesamt hat Scheuner über fünf Jahrzehnte hinweg die internationale Rechtsentwicklung durch Beiträge aus seiner Feder mitbestimmtl. Nie ist zwar unter einern Buchdeckel ein magnum opus entstanden, wie manche es sich von ihm für das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland erhofft hatten und wie es ihm auch auf dem Felde des Völkerrechts hätte gelingen müssen, doch zeigt die hier vorgelegte Sammlung seiner Aufsätze ein Werk, das in jeder Hinsicht geschlossen genannt werden kann. Beginnend mit den Grundfragen der Ursprünge des Völkerrechts und seiner geistesgeschichtlichen Verwurzelung, hat Scheuner bis hin zum Detail der jüngsten internationalen Entwicklungen fast die gesamte Palette der während seiner Lebenszeit aktuellen Rechtsprobleme untersucht. Alle Beiträge zeugen von gleicher Meisterschaft in der Behandlung des Stoffes, von unübertroffener Quellenkenntnis und einern sicheren Gespür für die sich im Gewande des Rechts äußernden politischen Interessenkonflikte.
* In den Fußnoten werden nachfolgend Scheuners Arbeiten mit abgekürzten Titeln angeführt. 1 Vgl. die Gesamtbibliographie der völkerrechtlichen Schriften. unten
S. 657 ff.
XII
Einleitung
Unter diesen Umständen erwies es sich als schwierig, unter den zahlreichen völkerrechtlichen Aufsätzen, wie sie das Schriftenverzeichnis ausweist, eine Auswahl zu treffen, die dem Gesamtbild der wissenschaftlichen Persönlichkeit gerecht wird. Vollständigkeit auch nur als Annäherungswert anzustreben, ließ die Fülle nicht zu. Versucht worden ist vor allem, Scheuners grundsätzliche Konzeption des Völkerrechts zutage treten zu lassen. Mit einem gewissen Vorrang sind deswegen Abhandlungen herangezogen worden, in denen Scheuner ausdrücklich zu erkennen gibt, von welchen Prämissen er bei seinen Erörterungen ausgeht. Andererseits hat es sich die Auswahl auch zum Ziel gesetzt, vor allem solche Schriften durch ihre Aufnahme in den vorliegenden Sammelband zu aktualisieren, die an eher abgelegener Stelle erschienen sind und die daher für den praktischen Rechtsalltag als verschüttet gelten müßten, würden sie hier nicht erneut in einer leichter zugänglichen Fassung publiziert. Schließlich beruht die Zusammenstellung auf der Überzeugung, daß Scheuners Kenntnis der historischen, philosophischen und politischen Dimensionen des Rechts ihn wie selten jemanden befähigt hat, das Völkerrecht in seiner Entwicklung unter dem Einfluß der Zeitumstände darzustellen. Niemals wird es von Scheuner lediglich als eine hic et nunc geltende Normenordnung beschrieben. Für ihn hat jede Regel nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft, sie ist nicht allein ein abstraktes Normgebilde, sondern sie erscheint stets in dem sie tragenden und prägenden sozialen Kontext. Wiewohl diese Absage an die Absolutierung der Gegenwart sämtlichen Schriften ihren Stempel aufdrückt, entfaltet sie sich vielleicht am eindringlichsten in den beiden der Umwandlung des "klassischen" Völkerrechts gewidmeten Aufsätzen "Die Entwicklung des Völkerrechts im 20. Jahrhundert" (Nr.6) und "Fünfzig Jahre Völkerrecht" (Nr.7), deren Lektüre selbst dem Kenner der Materie immer wieder neue Einsichten vermittelt. Aus dem Gesagten geht bereits hervor, daß das Gliederungsschema, das dem Abdruck zugrunde liegt, nicht als ein starrer Rahmen verstanden werden darf. Da insbesondere die historische Anknüpfung in Scheuners Schriften nie fehlt, sind in dem Abschnitt "Geschichte des Völkerrechts" (11.) lediglich diejenigen Aufsätze aufgeführt, deren Schwerpunkt auf der Behandlung völkerrechtlicher Probleme früherer Jahrhunderte liegt. Auch sonst wird der Leser vielfache Übergänge feststellen können. Im übrigen hält die Auswahl sich innerhalb der einzelnen Abschnitte an die chronologische Reihenfolge der Arbeiten, weil sie am besten die Entwicklung von Scheuners Denken sichtbar macht. Fast durchweg ist bei der Edition der Einzelstücke das Vollständigkeitsprinzip verfolgt worden. Die Texte sind nicht gekürzt, auch der
Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk
XIII
Anmerkungsapparat ist belassen worden. Lediglich aus der Abhandlung über die Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Nr. 20) ist der dritte Teil zur Auslegung der einzelnen materiellen Artikel der Konvention weggelassen worden, da er, wenngleich nicht überholt, doch in einzelnen Partien als durch die spätere Rechtsentwicklung in seiner Aussagekraft gemindert gelten kann. Was die sprachliche Dimension angeht, so ist, dem natürlichen Gewicht des wissenschaftlichen Oeuvres von Scheuner entsprechend, in erster Linie auf Aufsätze in deutscher Sprache zurückgegriffen worden. Wichtige Abhandlungen, unter denen namentlich die Haager Vorlesung von 1939 hervorragt, sind aber auch in fremder Sprache erschienen. Das Bild Scheuners als eines weit über die Grenzen Deutschlands hinaus wirkenden Mannes wäre lückenhaft, wenn dem Leser nicht auch Proben seiner Publikationen in französischer und englischer Sprache vorgeführt würden.
ß. 1. Völkerrecht. Als Universalgelehrter des öffentlichen Rechts ist Scheuner niemals der Versuchung erlegen, das Völkerrecht aus der engen Brille des Spezialisten zu betrachten. Völkerrecht war für ihn stets ein Teil jener überindividuellen, bei der Familie beginnenden Ordnungen, in denen menschliche Existenz sich entfaltet2 • Von daher hat Scheuner auch konsequent gegen ein Verständnis des vorherrschenden "Dualismus" von Völkerrecht und Landesrecht Stellung bezogen, das zwischen den beiden Rechtsordnungen eine strikte Trennmauer errichten wilP. Den Dualismus läßt er zwar als formales Ordnungsprinzip gelten, stellt aber fest, daß es im Sinne einer materiellen Rechtsquellentheorie dieselben politischen Strömungen und Wertvorstellungen sind, die sich - vom Geschehen innerhalb der Staaten ausgehend - bis in das Völkerrecht hinein fortpflanzen. Damit findet sich der Schauplatz des Völkerrechts erweitert und vertieft: da das internationale Recht im nationalen Recht gründet, läßt es sich nicht als eine Art rechtstechnisches Separatum abhandeln, das unter der Pflege des Spezialisten am besten aufgehoben wäre. Als konstituierendes Element jener zwischen- oder überstaatlichen Ordnung, welche von den Staaten geprägt wird, ihrerseits aber auf die Staaten zurückwirkt, erhält es einen unmittelbaren Bezug zu individueller menschlicher Existenz.
Scheuner definiert Völkerrecht, der heutigen Auffassung folgend, als "das für die Beziehungen zwischen den Gliedern der Staatengemeinschaft, in erster Linie den Staaten, geltende Recht"4. Aber es ist dies Grundlage und Sicherung der Menschenrechte, S.583, 591, 597/598. Staat und Staatengemeinschaft, S.3, 14; L'influence du droit interne, S.19, 27-34; Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 213, 221. 4 Völkerrecht, S. 159. 2
3
XIV
Einleitung
eine widerstrebende Charakterisierung, gleichsam gegeben als eine Konzession an den Zeitgeist. überall, wo Scheuner auf den Begriff des Völkerrechts zu sprechen kommt, erklärt er dem Leser den heutigen Zustand als eine Momentaufnahme im Zuge eines historischen Prozesses, eine Verarmung gegenüber der Rechtsauffassung früherer Epochen. Als idealer Gegenpol zur heutigen Lage erscheint ihm der bis zur Schwelle der Gegenwart verwandte, vor allem von den spanischen Juristen Vitoria, Vasquez und Suarez erschlossene Begriff des ius gentium, als dessen Adressaten nicht nur die Völker, sondern auch die Individuen angesehen wurden5 • Zwar ein von Menschen durch Gebräuche und Anerkennung geschaffener Rechtskörper, ist das ius gentium bei den Klassikern des 17. Jahrhunderts doch nur die Ausgestaltung eines gottgeprägten Naturrechts, entzieht sich seinem Kernbestand nach also menschlichem Zugriff. Damit bildet das ius gentium, für dessen universalen Geltungsanspruch innerhalb der christlichen Welt mehrfach das Wort Suarez' von der auch politischen und moralischen Einheit des Menschengeschlechts 8 angeführt wird 7 , einen festen Rückhalt, einen Rahmen, der jeder einseitigen Willkürhandlung entzogene Leitprinzipien enthält. Die Verengung des Begriffs des ius gentium auf das Recht der zwischenstaatlichen Beziehungen, wie sie seit Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzt, nachdem der Westfälische Friede von 1648 die Souveränität des Staates anerkannt hatte, sieht Scheuner als den Beginn eines Niederganges, der dazu führt, daß das Völkerrecht von seinen ethischen Grundlagen abgeschnitten wird. Während er die Verbindung noch bis zum Ende der napoleonischen Umwälzungen erhalten sieht, diagnostiziert er für das 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der Historischen Rechtsschule und des Positivismus einen Zerfall der das Völkerrecht tragenden Wertvorstellungen, der als Endprodukt nur noch den souveränen Staat und dessen Willens entscheidung kennt8 • Mit Unbehagen betrachtet Scheuner diese historische Konstellation, wo es der herrschenden Rechtsvorstellung nach nur ein unverbundenes Nebeneinander von unabhängigen und souveränen Staaten gibt. Nicht, daß Scheuner diesen Zustand in ein System der Geschichtstheorie einzufügen ver5 Vgl. in erster Linie den Aufsatz "lus gentium", S. 169 ff.; der Gedanke scheint aber auch sonst beständig auf: L'influence du droit interne, S. 19, 85 ff.; Naturrechtliche Strömungen, S.99, 113 ff.; Völkerrecht, S. 159; Fünfzig Jahre Völkerrecht, S.213, 216; Die großen Friedensschlüsse, S.349, 352 ff.; Nichtstaatliche Organisationen, S. 507, 508. e De legibus ac Deo legislatore, 1612, Buch 2, Kap. 19, § 9 pr. 7 L'influence du droit interne, S. 19; Völkerrecht, S. 159; lus gentium, S. 169, 171; Solidarität, S.379, 391 Fn.42. 8 Dazu vor allem Staat und Staatengemeinschaft, S.3, 11/12; Naturrechtliche Strömungen, S. 99, 116 ff.; lus gentium, S. 169, 177.
Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk
xv
suchte. Insbesondere ist ihm jede materialistische Deutung und Kritik fremd. Aber er sieht sich durch die historischen Erfahrungen, vor allem durch die Katastrophe des zweiten Weltkrieges, darin bestätigt, daß ein staatlicher Individualismus, der keine aus einer Gemeinschaftszugehörigkeit resultierenden Verpflichtungen anerkennt, fast notwendig ins Verderben führen muß. So wird die Souveränität, verstanden als Ausdruck eines sich über das Recht erhebenden Machtgedankens, zu einem Feindbegriff, den es mit allen Mitteln unter die Herrschaft des Rechts zu stellen giW. Von seiner Grundanschauung aus, daß das ius gentium des Mittelalters die Idealvorstellung eines sittlich durchgeprägten, stabilen Rechts verkörpert, mußte Scheuner mit besonderer Aufmerksamkeit die modernen Tendenzen verfolgen, denen zufolge das Individuum wiederum einen unmittelbaren Rechtsstatus im Völkerrecht erhält. Dabei hält er sich von jeder übersteigerung fern. Er unterstreicht zwar auf der einen Seite die grundsätzlichen Aspekte, die sich mit der Aufhebung der mediatisierten Stellung des Individuums im Völkerrecht verbinden10• Als besonders signüikant gilt ihm die Einführung einer unmittelbaren strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Regierenden für Verletzungen völkerrechtlicher Pflichten11 • Andererseits bemerkt er aber durchaus nüchtern, nach wie vor könne der Einzelmensch nicht in vollem Umfang als Völkerrechtssubjekt angesehen werdenl2 • In den Europäischen Gemeinschaften sowie im Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist die Unterscheidung verschiedener Rechtsebenen weithin aufgehoben. In einer an den Grundgedanken des ius gentium gemahnenden Diktion hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in seinem Van Gend und Loos-Urteil vom 5. Februar 1963 festgestellt, daß die Gemeinschaft eine Rechtsordnung darstelle, "deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind" 13. Die Vormundschaft v So schon Staat und staatengemeinschaft, S.3: Souveränitätsbegriff als "Haupthindernis(ses) für eine gedeihliche Fortbildung des internationalen Rechts", S.14; ferner: Naturrechtliche Strömungen, S.99, 101, 123/124, 1501151, 154/155; Fünfzig Jahre Völkerrecht, S.213, 228; Die internationalen Probleme der Gegenwart, S.277, 294/295; Die großen Friedensschlüsse, S.349, 373. 10 Naturrechtliche Strömungen, S. 99, 109, 150, 155; Völkerrecht im 20. Jahrhundert, S. 185, 197/198; Fünfzig Jahre Völkerrecht, S.213, 218/219, 220; Nichtstaatliche Organisationen, S.507, 509; Rechtsprechung zur EMRK, S.599, 604. Grundsätzliche Ablehnung einer Völkerrechtssubjektivität des Individuums noch in: L'influence du droit interne, S.19, 35/36, angesichts der damaligen Gegebenheiten die allein zutreffende Zustandsbeschreibung. 11 Naturrechtliche Strömungen, S.99, 103, 142, 155, 157. 12 Völkerrecht, S.159, 163/164; Völkerrecht im 20. Jahrhundert, S.185, 197/ 198; Nichtstaatliche Organisationen, S. 507,509. 13 EuGHE 1963, S. 3, 25.
XVI
Einleitung
des Staates über den Bürger hat dort also ein Ende gefunden. Scheuner hat dies registriert und deutlich hervorgehoben14 • Ähnlich grundsätzliche Bedeutung erlangt für ihn die Gewährleistung individueller Rechtspositionen durch die EMRK15 . Nur so ist es auch zu erklären, daß er die entsagungsreiche Bürde auf sich genommen hat, für die vom Europarat veranstaltete Wiener Tagung des Jahres 1965 eine umfassende Bestandsaufnahme über die Auslegung der Konvention in der Rechtsprechung der Straßburger Instanzen wie auch der deutschen Gerichte zu erarbeiten (Nr.20), ein Werk, das eigentlich seinerzeit als Kommentar zur EMRK hätte erscheinen können. In einer seiner letzten Abhandlungen, dem posthum erschienenen Beitrag zum 70. Geburtstag von Hans-Jürgen Schlochauer (Nr. 21), untersucht Scheuner parallel die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs und stellt fest, daß sich beide Gerichte, weil eben das von ihnen gehandhabte Recht auch oder sogar in erster Linie an den Einzelnen gerichtet ist, weit von den klassischen Maximen völkerrechtlicher Auslegung entfernt haben. Ihre Methoden sind die eines Verfassungsgerichts, das sich bemüht, den seiner Jurisdiktion Unterworfenen einen optimalen Schutz zuteil werden zu lassen. Es ist die Grundfrage jeden rechtsphilosophischen Denkansatzes, woher das Recht seine verpflichtende Kraft bezieht. Scheuner wendet sich strikt gegen die Lehre des 19. Jahrhunderts, die aus der Reduzierung des Kreises der Völkerrechtssubjekte auf die Staaten einerseits, aus dem Fehlen einer übergreifenden Ordnung andererseits die Verbindlichkeit nur aus dem gegenseitigen Willensschluß der Staaten abzuleiten vermag. Der "Staatswille" sei weder im nationalen noch im internationalen Bereich geeignet, Recht mit dem ihm eigenen Befolgungsanspruch zu erzeugen. Vielmehr sieht er das Völkerrecht durch den Staat hindurch in seinen real faßbaren Trägern, den Menschen als Einzelnen oder als gesellschaftlichen Gruppen, und den die zwischenmenschlichen Beziehungen prägenden Wertanschauungen verankert. Es ist "das Vorhandensein einer die zivilisierte Menschheit umfassenden realen Verbundenheit der Lebensbeziehungen, der Gemeinsamkeit gewisser ethischer und rechtsgrundsätzlicher überzeugungen"18, die den Bestand der Staatengemeinschaft und damit die Existenz eines übergreifenden Völkerrechts ermöglicht. An all diesen bereits in der ersten völkerrechtlichen Schrift - einem kühnen, vor der Auseinandersetzung auch mit 14 Fortbildung der Grundrechte, S.625, 637; vgl. auch Völkerrecht im 20. Jahrhundert, S. 185, 210/211; Fünfzig Jahre Völkerrecht, S. 213,229. 15 Naturrechtliche Strömungen, S.99, 156; Völkerrecht im 20. Jahrhundert, S. 185, 198, 206; Nichtstaatliche Organisationen, S.507, 512/513; Rechtsprechung zur EMRK, S.599, 606/607. 18 Staat und Staatengemeinschaft, S. 3, 15.
Ulrich Scheuners völkerrechtliches Werk
XVII
großen Namen nicht zurückscheuenden Wurf - entwickelten Aussagen17 hält Scheuner auch in der Folgezeit fest und gibt ihnen in vielen Varianten immer wieder beredten Ausdruck. In der Haager Vorlesung von 1939 wird auf die "conscience commune" der Staatengemeinschaft hingewiesen, die gegründet sei auf die "conceptions juridiques vivantes dans chaque Etat'