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German Pages 661 Year 2014
Schriften zur Rechtsgeschichte Ausgewählte Aufsätze
Von Georg May
Duncker & Humblot . Berlin
GEORG MAY
Schriften zur Rechtsgeschichte
Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . K o e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. G e o r g M a y Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz herausgegeben von Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin i. R. am FB 01 Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Mainz und Dr. W i l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Band 64 GEORG MAY
Schriften zur Rechtsgeschichte
Schriften zur Rechtsgeschichte Ausgewählte Aufsätze
Von Georg May
Herausgegeben von Anna Egler und Wilhelm Rees
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 978-3-428-14503-4 (Print) ISBN 978-3-428-54503-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84503-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort der Herausgeber Die in diesem Band publizierten Aufsätze sind eine begrenzte Auswahl aus den umfangreichen Forschungen und Veröffentlichungen von Georg May zur Rechtsgeschichte. Er umfasst Publikationen vom Jahre 1958 bis zum Jahre 2008 und bietet vor allem Titel aus Zeitschriften und Festschriften, von denen manche nicht leicht erreichbar sind. Mit dem Dissertationsthema „Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt“ hatte sein akademischer Lehrer Professor Dr. Dr. Klaus Mörsdorf, München, die Aufmerksamkeit des Doktoranden May auf die Rechtsgeschichte gelenkt; diese sollte künftig in seinem wissenschaftlichen Arbeiten einen bedeutenden Platz einnehmen. Die von Professor Dr. Georg May 1965 anlässlich der Berufung an die neu gegründete Universität Bochum erwirkte Erweiterung der Umschreibung seines Lehrstuhles für Kirchenrecht an der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, um die Fachgebiete „Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht“, verweist einerseits auf die bis dahin zahlreichen Bearbeitungen rechtsgeschichtlicher Themen, andererseits war sie dem Gelehrten Programm für jahrzehntelange Beschäftigung mit einer Materie, die er in einem breiten Themenspektrum immer wieder anging. Die hier vorgelegte Auswahl reicht z. B. von „Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000“ über das dogmengeschichtlich interessante Thema „Das Lehrverfahren gegen Eutyches im November des Jahres 448. Zur Vorgeschichte des Konzils von Chalkedon“ bis zur Behandlung des „ius emigrandi“ auf dem Westfälischen Friedenskongress und Fragen des Religionsrechtes im 17. und 19. Jahrhundert. Auf der Spur seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit setzte Georg May seine Forschungen über die Erzdiözese Mainz fort, z. B. mit der erstmals grundlegenden Bearbeitung „Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis“. Die Aufsätze „Die Anfänge des Gerichtes des Heiligen Stuhles zu Mainz“ und „Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz“ deuten mit ihrem Titel bereits auf Forschungen in Neuland. Interessant dürfte für einen weiteren Kreis „Der Kanonisationsprozeß Hildegards im 13. Jahrhundert“ sein. Was Mays Erstlingswerk auszeichnete, intensive Quellenstudien, blieb das Signum seiner Veröffentlichungen: Sie basieren – ohne Vernachlässigung der Literatur – auf umfangreicher Heranziehung der Quellen, wobei sich der Autor nicht auf bereits ediertes Material beschränkt. Vielmehr recherchiert er auch unter erheblichem Zeitaufwand nach in Archiven lagernden ungedruckten Quellen, die er mit Akribie meisterlich auswertet und so echten Erkenntnisgewinn erzielt.
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Vorwort der Herausgeber
Die Publikation war nur durch Hilfe und Unterstützung realisierbar. Dem Mainzer Bischof, Herrn Prof. Dr. Dr. Karl Kardinal Lehmann, danken die Herausgeber verbindlich für den erneut großzügigen Druckkostenzuschuss. Herr Dr. Florian R. Simon (LL.M.) und Frau Birgit Müller vom Verlag Duncker und Humblot, Berlin, haben wir für die wohlwollende, geduldige und stets sachkundige Begleitung der Druckvorbereitungen sehr zu danken. Schließlich sind wir den Verlagen dankbar, die durch Gewährung der Abdruckerlaubnis die Edition dieses Sammelbandes ermöglicht haben. So wünschen die Herausgeber, dass dieser Sammelband nicht nur den Fachvertretern der Rechtsgeschichte, der säkularen wir jener der Kirche, und wegen des breiten Themenspektrums auch einem weiteren Kreis einen leichteren Zugang zu den rechtshistorischen Forschungen Georg Mays eröffnet und mit Interesse auf- und angenommen wird. Mainz/Innsbruck, am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel 2014
Anna Egler Wilhelm Rees
Inhaltsverzeichnis Allgemeines Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000 . . . . . . . . . . . . .
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Kirchenverfassung Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis . . . . . . . . . . . . . .
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Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Der Provikar vornehmlich in der Erzdiözese Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die Anfänge des Gerichtes des Heiligen Stuhles zu Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Lehrrecht Das Lehrverfahren gegen Eutyches im November des Jahres 448 . . . . . . . . . . . . . . 221
Eherecht Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert . . . . . 279
Strafrecht Die Infamie im Decretum Gratiani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Prozeßrecht Der Instanzenzug in der Erzdiözese Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Der Kanonisationsprozeß Hildegards im 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz während des hohen und späten Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Konservatoren, Konservatoren der Universitäten und Konservatoren der Universität Erfurt im hohen und späten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
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Inhaltsverzeichnis
Das Mainzer Metropolitangericht als Berufungsinstanz der Mainzer Kirchenprovinz im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30 – 43 IPO) auf dem Westfälischen Friedenskongreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Das ius emigrandi nach dem Westfälischen Friedensinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Die §§ 37 und 65 des Reichsdeputationshauptschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Erstveröffentlichung der Beiträge in chronologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . 659
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Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000* I. Die Notwendigkeit der Rechtskenntnis und das Bedürfnis nach Rechtssammlungen 1. In den Bischofskirchen Das Kirchenrecht ist so alt wie die Kirche. Eine rechtsfreie Zeit hat es nie gegeben; sie wäre nach allen Erfahrungen, die wir haben, eine rechtlose Zeit gewesen. Die Erscheinungsformen des Rechtes freilich entwickelten und wandelten sich. Mochte im Anfang und für geraume Zeit das Gewohnheitsrecht die erste Stelle einnehmen, so traten doch bald Entscheidungen und Anordnungen von Synoden an seine Seite1. Auch die entscheidende und weisunggebende Tätigkeit der Bischöfe ist früh anzusetzen. Mit der Zunahme des Rechtsstoffes entstand das Bedürfnis nach seiner Aufzeichnung2. Die Praxis der wachsenden Kirche rief nach der Ordnung und Sicherheit, die das geschriebene Recht gewährt. Es ist daher schon im zweiten Jahrhundert mit der Existenz von Rechtssammlungen zu rechnen3. Die Notwendigkeit des Besitzes einer solchen Zusammenstellung des kirchlichen Rechts machte sich mit der Zunahme der Zahl der Gläubigen und infolge des Ausbaues der kirchlichen Organisation gebieterisch geltend. Jede Diözese hatte normalerweise ihren Mittelpunkt in der Bischofsstadt4. Dort waltete der Bischof seines Amtes, dort stand die Kathedralkirche5, an der ein Kollegium von Klerikern Dienst tat, regelmäßig eine Schule unterhalten wurde und eine Bibliothek vorhanden war. Der Bischof benötigte begreiflicherweise vor allen Klerikern seines Sprengels Kenntnis * In einem Beitrag für die Festschrift „Tausend Jahre St. Stephan/Mainz“ habe ich mich mit einigen Aspekten der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000 befaßt. Der mir dort gezogene Rahmen gestattete es nicht, alle Gesichtspunkte zur Sprache zu bringen. Deswegen soll an dieser Stelle eine Reihe weiterer Gegenstände vorgestellt werden. 1 Alphons Van Hove, Prolegomena (= Commentarium Lovaniense in CIC Vol. I Tom. I), Mecheln-Rom 21945, 120 – 122; Alphons M. Stickler, Historia luris Canonici Latini. Institutiones Academicae I. Historia Fontium, Turin 1950, 22 – 24. 2 Gérard Fransen, Les collections canoniques (= Typologie des sources du moyen âge occidental Fasc. 10), Turnhout 1973. 3 André Tuilier, Didache: Theologische Realenzyklopädie (TRE) VIII (1981) 731 – 736 (erstes Jahrhundert!). 4 Reinhold Kaiser, Bischofsstadt: Lexikon des Mittelalters (LMA) II (1983) 239 – 245. 5 Raoul Naz, Églises cathédrales: Dictionnaire de Droit canonique (DDC) V (1953) 228 – 233.
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des Kirchenrechts. Die Aufrechterhaltung der Disziplin unter Geistlichen und Laien und die Entscheidung von Streitigkeiten waren nur unter Heranziehung des Rechts möglich. Entweder verschaffte er sich selbst das notwendige kirchenrechtliche Wissen oder er zog Kleriker heran, die es besaßen. In jedem Falle war eine unentbehrliche Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit im Kirchenrecht eine Bibliothek6. Tatsächlich bargen die Dom- und Klosterbibliotheken regelmäßig einschlägige Werke. Normalerweise besaß ,,jede bedeutendere Kirche“ eine Kirchenrechtssammlung der historischen Ordnung7. Bald traten daneben die systematisch geordneten Sammlungen, die leichter zu befragen waren. Man muß davon ausgehen, daß um 1000 in der Kirche fast überall historisch und systematisch geordnete Kirchenrechtssammlungen nebeneinander vorhanden waren. Um einige Beispiele zu erwähnen: In der Bibliothek der Domschule von Laon zwischen 850 und 930 fand sich mannigfaches kanonistisches Material. So gab es dort die Collectio Dionysiana und die Collectio Laudunensis, die Collectio Hispana Gallica und die Sammlung von St. Maur sowie weitere Sammlungen von Konzilien und Papstbriefen8. Die Bibliothek der Kathedrale zu Lyon enthielt im 9. Jahrhundert auch Kirchenrechtssammlungen9. Die Dombibliothek zu Konstanz umfaßte in karolingischer Zeit ,,eine beträchtliche Zahl kanonistischer Texte“10. Für die Mainzer Dombibliothek läßt sich aus den lückenhaften Unterlagen, über die wir verfügen, bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts eine beträchtliche Zahl kanonistischer Werke nachweisen. So fanden sich dort u. a. die Collectio Dionysiana, die Collectio Dionysio-Hadriana, die Collectio Hispana, die Concordia Canonum des Cresconius, die Collectio Anselmo dedicata, die Collectio XII Partium, das Dekret Burchards von Worms, die Collectio Dacheriana und die Collectio Vetus Gallica11. Das wichtigste kirchenrechtliche Werk war seit Beginn des 11. Jahrhunderts das Dekret Burchards; 6 Theo Kölzer, Mönchtum und Kirchenrecht. Bemerkungen zu monastischen Kanonessammlungen der vorgratianischen Zeit: ZSavRG.Kan 69 (1983) 121 – 142, hier 131. Vgl. Albert Derolez/Günter Bernt, Bibliothek A. Allgemein. West-, Mittel-, Ostmittel-, Süd- und Nordeuropa. I. Allgemein. Frankenreich, Deutschland, Frankreich, Italien: LMA II (1983) 113 – 117. 7 Friedrich Maassen, Geschichte der Quellen und der Literatur des canonischen Rechts im Abendlande. 1. Band. Die Rechtssammlungen bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts, Graz 1870 (Nachdruck: Graz 1956), 420. 8 John J. Contreni, The Cathedral School of Laon from 850 to 930. Its Manuscripts and Masters (= Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 29), München 1978, 73 f. 9 Egon Boshof, Erzbischof Agobard von Lyon (= Kölner Historische Abhandlungen 17), Köln 1969, 166. 10 Johanne Autenrieth, Die kanonistischen Handschriften der Dombibliothek Konstanz, in: dies./Raymund Kottje, Kirchenrechtliche Texte im Bodenseegebiet. Mittelalterliche Überlieferung in Konstanz, auf der Reichenau und in St. Gallen (= Vorträge und Forschungen Sonderband 18), Sigmaringen 1975, 5 – 21, hier 8. 11 Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, 3 Tle. (=Schriften der Monumenta Germaniae Historica 24, I-III), Stuttgart 1972 – 1974, hier II, 312 Anm. 46.
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es diente allgemein an Bischofssitzen als Handbuch für die kirchliche Verwaltung12. ,,Sein Verbreitungsgebiet ist gleichzeitig sein Geltungsbereich, in dem nach seinen Normen regiert wird.“13 Dazu stimmt, daß sich Handschriften des Dekrets Burchards mehr in Dom- als in Klosterbibliotheken fanden14. 2. Im Seelsorgsklerus Die Kirche hat die Bildung ihres Klerus15 stets geschätzt und gefordert16. Der Seelsorgsklerus konnte der Kenntnis des Kirchenrechts ebensowenig entraten wie der Diözesanbischof. Er hatte seinen Lebenswandel und seinen Dienst nach den Normen des Rechts zu führen bzw. auszuüben; an ihnen wurde er gemessen, nach ihnen gegebenenfalls bestraft. Selbstverständlich wurde kein umfassendes Wissen des kanonischen Rechts verlangt, sondern lediglich die Vertrautheit mit den Vorschriften, die sein Leben und seine Tätigkeit betrafen. Päpste und Konzile forderten immer wieder die Kenntnis der Kanones für die Priester17. Ich erwähne folgende Päpste. Siricius (384 – 399), dessen Worte unzählige Male wiederholt wurden, schrieb: ,,Statuta sedis apostolicae vel canonum venerabilia definita nulli sacerdotum Domini ignorare sit liberum.“18 Innozenz I. (401 – 417), dessen Weisung ebensowenig vergessen wurde, führte aus: ,,Ecclesiasticorum canonum norma nulli esse debet ignota sacerdotum, quia nesciri haec a pontifice satis est indecorum, maxime cum a laicis religiosis viris sciatur et custodienda ducatur.“19 Coelestin I. (422 – 432) wiederholte und schärfte ein: ,,Nulli sacerdotum suos licet canones ignorare, nec quidquam facere quod Patrum possit regulis obviare. Quae enim a nobis res digna servabitur, si decretalium norma constitutorum pro aliquorum libitu, licentia populis permissa, frangatur?“20 Hadrian I. (772 – 795) hielt dem Klerus vor: ,,Quapropter … oportet vestram industriam sollertissime vigilare et, sicut decet Domini sacerdotes, nulli vos liceat canones ignorare nec quicquam facere, quod 12 Otto Meyer, Überlieferung und Verbreitung des Dekrets des Bischofs Burchard von Worms: ZSavRG.Kan 24 (1935) 141 – 183, hier 167; Gerhard Theuerkauf, Burchard von Worms und die Rechtskunde seiner Zeit: Frühmittelalterliche Studien 2 (1968) 144 – 161 (mit Lit.); Reinhold Kaiser/Max Kerner, Burchard 1., Bf. v. Worms: LMA II (1983) 946 – 951. 13 Meyer, Überlieferung und Verbreitung des Dekrets des Bischofs Burchard von Worms 168. 14 Meyer, Überlieferung und Verbreitung des Dekrets des Bischofs Burchard von Worms 166 – 168. 15 F. Claeys-Bouuaert, Clerc: DDC III (1942) 827 – 872. 16 Friedrich Merzbacher, ,,Scientia“ und ,,ignorantia“ im alten kanonischen Recht: Mittellateinisches Jahrbuch 2 (1965) 215 – 223. 17 Vgl. Alfons Stickler, Il diritto nella storia della chiesa. Visione d’insieme: Seminarium 27 (1975) 749 – 766. 18 Patrologiae cursus completus. Series latina (PL) 13, 1146. 19 PL 20, 605. 20 PL 50, 436.
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patrum possit regulis obviare.“21 Von den Konzilien22 seien die folgenden genannt. Das dritte Konzil von Karthago (397) setzte in can. 3 fest: ,,Item placuit, ut ordinandis episcopis vel clericis prius ab ordinatoribus suis decreta conciliorum auribus eorum inculcentur, ne se aliquid contra statuta concilii fecisse asserant.“23 Das vierte Konzil von Orléans (541) ordnete in can. 6 an: ,,Parochiani clerici a pontificibus suis necessaria sibi statuta canonum legenda percipiant, ne se ipsi vel populi quae pro salute eorum decreta sunt, excusent postmodum ignorasse.“24 Das vierte Konzil von Toledo (633) gebot in can. 25: ,,Ignorantia mater cunctorum errorum maxime in sacerdotibus Dei vitanda est, qui docendi officium in populis susceperunt … Sciant igitur sacerdotes scripturas sacras et canones, ut omne opus eorum in praedicatione et doctrina consistat, atque aedificent cunctos tam fidei scientia quam operum disciplina.“25 Die Synode von Oria (Brindisi) ordnete an: ,,Tertio statutum est, ut omnes presbyteri in suis ecclesiis habeant canones et memoriter eos teneant, quae in sinodicis libris ita defixum est. Nam et beatus celestinus papa dicit: nulli sacerdoti suos liceat canones ignorare“26. Mittel der Unterweisung und der Bildung des Klerus waren vor allem die Diözesansynoden27. Dort lernten die Priester, wie sie sich in ihrem privaten und dienstlichen Leben zu verhalten hatten, dort wurden ihre Kenntnisse geprüft28. Vielleicht verfügten manche Geistliche schon früh über bescheidene Aufzeichnungen wichtiger rechtlicher Bestimmungen. Selbstverständlich war es in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte nicht möglich, daß jeder Kleriker oder auch nur jede Gemeindekirche eine Kirchenrechtssammlung zu eigen besaß. Seit dem Aufkommen der Capitula Episcoporum29 21 Monumenta Germaniae Historica (MGH) Ep. III, Berlin 21957, p. 643, I. 9 – 11; ebenso p. 647, I. 6 – 8. 22 Canones Apostolorum et Conciliorum Saeculorum IV. V. VI. VII. Hrsg. von Hermann Theodor Bruns (= Bibliotheca Ecclesiastica Vol. I, 2Tle.), Berlin 1839; Concilia Galliae A. 314 – A. 506. Hrsg. von Charles Munier (= Corpus Christianorum. Series Latina [CChr.SL] CXLVIII), Turnhout 1963; Concilia Galliae A. 511 – A. 695. Hrsg. von Carolus de Clercq (= CChr.SL CXLVIII A), Turnhout 1963; Concilia Africae A. 345 – A. 525. Hrsg. von Charles Munier (= CChr.SL CCLIX), Turnhout 1974. 23 Bruns I, 123. Abweichend der Text bei Munier, Concilia Africae 33. 24 Bruns II, 202. Etwas abweichend de Clercq, Concilia Galliae 133. 25 Bruns I, 231; Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Hrsg. von Joannes Dominicus Mansi (Mansi) 10, 626 – 627. 26 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 458 Anm. 92. 27 Franz Xaver Seppelt, Die Breslauer Diözesansynode vom Jahre 1446, Breslau 1912; Max Bierbaum, Diözesansynoden des Bistums Münster, Freiburg i. Br. 1928; Alexander Szentirmai, Die ungarische Diözesansynode im Spätmittelalter: ZSavRG.Kan 47 (1961) 266 – 292; Van Hove 183 – 186; Odette Pontal, Les Statuts Synodaux (= Typologie des sources du moyen âge occidental Fasc. 11), Turnhout 1975. 28 Pontal, Les Statuts Synodaux 26 f. 29 Peter Brommer, Die bischöfliche Gesetzgebung Theodulfs von Orleans: ZSavRG.Kan 60 (1974) 1 – 120; ders., Capitula episcoporum: Bemerkungen zu den bischöflichen Kapitularien: Zeitschrift für Kirchengeschichte 91(1980) 207 – 236; ders., Capitula episcoporum:
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bot sich diese literarische Gattung als Kompendium für den Seelsorgsklerus an. Man erwartete jetzt von ihm, daß er die Capitula seines Bischofs kannte, sie also studiert hatte, und womöglich ein Exemplar derselben besaß30. Besonders wichtig für den Seelsorgsklerus war die verantwortungsbewußte Verwaltung des Bußsakramentes31. Sie bedingte spezifische Kenntnisse, vor allem ein gutes iudicium. Nicht jeder Priester war von sich aus in der Lage, den seelischen Zustand des Pönitenten zu beurteilen, eine angemessene Buße aufzuerlegen und dem Erfordernis der Genugtuung gerecht zu werden; außerdem mußte zumindest im Rahmen einer Diözese ein gewisses Minimum von Gleichbehandlung gewährleistet werden. Das Bedürfnis der Priester und der Befehl von Bischöfen riefen daher nach geeigneten Hilfsmitteln. So entstanden für die Beurteilung der Sünden und die Zumessung der Buße die zahlreichen Pönitentialien32. Wenn sie auch vielfach unvollkommen waren, so boten sie doch den Klerikern einen Anhalt und verbürgten im regionalen Rahmen eine gewisse Einheitlichkeit der Praxis. Die Autoritäten schärften ihre Verwendung ein33. Um 800 erwartete man von einem Priester, daß er ein Bußbuch kannte und benutzte34. Auch die weltliche Macht legte Wert auf Kirchenrechtskenntnisse des Klerus. Das von ihr geforderte Leben nach den Vorschriften setzte das Wissen um sie voraus. So trug Karl der Große den Missi auf, darüber nachzuforschen, ob die Bischöfe und die übrigen Priester die Kanones wohl verständen35 ; dasselbe galt für die Klosterinsassen36. 3. In Klöstern Die Klosterleute bedurften ebenfalls des Rechtes. Die Disziplin im Kloster konnte nur mit seiner Hilfe aufrechterhalten werden. Das Verhältnis zum Bischof war rechtlich geordnet; seine Aufsichts- und Eingriffsbefugnisse waren festgelegt, LMA II (1983) 1479 f.; ders., „Capitula episcoporum“: Die bischöflichen Kapitularien des 9. und 10. Jahrhunderts (= Typologie des sources du moyen âge occidental Fasc. 43), Turnhout 1985. 30 Brommer, ,,Capitula Episcoporum“ 13 f.; ders., Die bischöfliche Gesetzgebung Theodulfs von Orléans 39. 31 É. Jombart, Pénitence en droit occidental (Sacrement de): DDC VI (1957) 1321–1324; Franz Nikolasch/Cyril Vogel/Ludwig Hödl, Buße D. Westkirche: LMA II (1983) 1130 – 1141. 32 Raymund Kottje/Allen J. Frantzen, Bußbücher: LMA II (1983) 1118 – 1123. 33 Ca. 803: ,,Benitentialem quomodo scitis vel intellegitis“ (MGH Cap. I, Hannover 1883, 2 1960, p. 234, I. 30); ,,Paenitentialem“ (MGH Cap. I, p. 235, I. 19); ,,ut … suum penitentiale bene sciat“ (MGH Cap. I, p. 237, I. 1). 34 Raymund Kottje, Überlieferung und Rezeption der irischen Bußbücher auf dem Kontinent, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, 2 Bde. Hrsg. von Heinz Löwe (= Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen. Kulturwissenschaftliche Reihe), Stuttgart 1982, I, 511 – 524, hier 521. 35 MGH Cap. I, p. 100, I. 16 – 17; p. 234, I. 29; p. 235, I. 24; p. 237, I. 1. 36 MGH Cap. I, p. 100, I. 18 – 19; p. 235, I. 25.
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sollten gewahrt, aber nicht überschritten werden. Soweit die Klosterinsassen mit der Seelsorge, im besonderen mit der Verwaltung des Bußsakramentes befaßt waren, benötigten sie Kenntnisse des Sakramentenrechts, vor allem des Bußverfahrens. Die Klöster beschafften sich im Laufe der Zeit zahlreiche Privilegien. Privilegien sind Ausnahmerecht, das dem gemeinen Recht vorgeht. Für die Erwirkung, die Auslegung, die Geltendmachung und das Erlöschen der Privilegien war kanonistisches Wissen erforderlich. Solange Klöster existieren, gibt es Übergriffe gegen sie. Um sie abzuwehren, boten sich verschiedene Mittel an. Eines davon war die Anrufung des Rechts. Aus all diesen Gründen bedurften die Klosterinsassen oder wenigstens die Klostervorsteher der Kenntnis des kirchlichen (und des weltlichen) Rechts. Zeugnis dieses Erfordernisses sind die kanonistischen Werke der Klosterbibliotheken. Das Kloster St. Emmeram in Regensburg beispielsweise besaß ,,schon im 10. Jahrhundert einen außerordentlich reichen Handschriftenbestand“37. Von den 513 Codices, die sich im 10. Jahrhundert dort befanden, waren 18 Kirchenrechtssammlungen und 2 Bußbücher38. Für den Bodenseeraum wurde darauf aufmerksam gemacht, daß in den Klosterbibliotheken viel mehr Bußbücher vorhanden waren als in der Dombibliothek zu Konstanz39. 4. Auf Synoden Synoden sind Versammlungen von Bischöfen zur Beratung und Beschlußfassung über kirchliche Angelegenheiten40. Das synodale Geschehen bedurfte einer rechtlichen Ordnung. Einberufung, Teilnahmerecht und -pflicht, Abstimmung und Berufung mußten normativ geregelt sein. Man benötigte also einen Ordo de celebrando concilio41. Die Zusammenkünfte von Bischöfen beschäftigten sich zum erheblichen Teil mit Angelegenheiten rechtlichen Charakters. In den Synodalverhandlungen suchte man daher bei auftauchenden Rechtsfragen nach Belehrung in einer Kirchenrechtssammlung. So heißt es in can. 1 des Concilium Agathense (506): ,,In primo id placuit, ut canones et statuta per ordinem legerentur.“42 Auf dem Konzil von Ingelheim vom Jahre 948 verfuhr man so: „Igitur recitato primitus evangelio, oramineque finito, et sanctorum canonum quamplurimis institutionibus 37 Peter Landau, Kanonistische Aktivität in Regensburg im frühen Mittelalter, in: Zwei Jahrtausende Regensburg. Vortragsreihe der Universität Regensburg zum Stadtjubiläum 1979. Hrsg. von Dieter Albrecht (= Schriftenreihe der Universität Regensburg Bd. 1) Regensburg 1979, 55 – 74, hier 55. 38 Landau, Kanonistische Aktivität in Regensburg im frühen Mittelalter 57. 39 Raymund Kottje, Kirchenrechtliche Interessen im Bodenseeraum vom 9. bis 12. Jahrhundert, in: Autenrieth/Kottje, Kirchenrechtliche Texte im Bodenseegebiet 23 – 41, hier 31 – 41. 40 Raoul Naz, Synode: DDC VII (1965) 1134 – 1140. 41 Charles Munier, L’Ordo de celebrando concilio wisigothique. Ses remaniements jusqu’au Xe siècle: Revue des sciences religieuses 37 (1963) 250 – 271. 42 Munier, Concilia Galliae 193.
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linguarum clavibus coram reclusis …“43 Von der Synode zu Mailand im Jahre 969 heißt es: ,,Hee dum in conspectu omnium recitate essent litere, requisitum est et inventum beatum Gregorium Romane sedis apostolicum huic simile fecisse … Hac itaque fultus auctoritate …“44 Über die römische Synode von 981 wird berichtet: ,,Et ibidem perlecta sunt capitula de sacris canonibus.“45 Das Konzil von S. Bâle bei Reims im Jahre 991 meldet: ,,In horum absentia multa ex canonum capitulis in Synodo prolata sunt, multa inter assidentes collata.“46 Das letzte Wort deutet darauf hin, daß mehr als eine Kirchenrechtssammlung zur Verfügung stand. Von der Synode zu Rom im Jahre 998 heißt es: ,,Tunc nos deinceps hec audientes et eius verbis magis quam aliorum testimoniis credentes cepimus perquirere sanctos canones ac recitando invenimus capitulos a sancto niceno concilio constitutos non debere usurpari alicui episcopatum episcopo vivente. nec ab alio metropolitano nisi a diocesano ordinari. etiamsi talem clerus et plebs aeligerent. set huius rei fautorem secundum suam professionem et canonicam et apostolicam auctoritatem debere deponi. Non denique obhedientes preceptis canonum …“47 Über die Synode zu Rom im Jahre 1039 lautet die einschlägige Stelle: ,,Continuo sacer conventus ceIebratur, canones recitantur, sacre scripture scrutantur.“48 Die Unentbehrlichkeit des Kirchenrechts für die synodalen Verhandlungen ist einsichtig. Bei der Eröffnung von Konzilen wurde daher eine Kirchenrechtssammlung in feierlicher Weise bereitgestellt, damit man sie bei Bedarf heranziehen konnte49. Wie es scheint, kam man aus praktischen Gründen bald dazu, je eine Sammlung der historischen und der systematischen Ordnung nebeneinander zu benutzen. Den Vorgang der gleichzeitigen Verwendung von Sammlungen der systematischen und der historischen Ordnung denkt sich Hubert Mordek so: ,,Man bediente sich der systematischen Rechtssammlung als praktisches Hilfsmittel zum raschen und vollständigen Auffinden bestimmter Rechtsinhalte und, damit verbunden, der sie behandelnden Quellenstellen. Durch die Inskription über die Herkunft der Normen belehrt, versicherte man sich dann leicht des Textes der Autoritäten aus einer historisch geordneten Sammlung als derjenigen Quelle, die dem gesuchten authentischen Text nach menschlichem Ermessen näher kommen mußte,
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Mansi 18 A, 420. I placiti del ,,Regnum Italiae“, 2 Bde. Hrsg. von Cesare Manaresi (= Fonti per la storia d’ltalia 96), Rom 1955 – 1958, hier II, 244. 45 PL 137, 337 A. 46 Mansi 19, 140 (cap. 31). 47 Paul Fridolin Kehr, Die ältesten Papsturkunden Spaniens erläutert und reproduziert (= Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften Jgg. 1926 Philosophischhistorische Klasse Nr. 2), Berlin 1926, p. 51, I. 29 – 32. 48 Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag. Hrsg. von Bertold Bretholz (= MGH Scriptores rerum germanicarum Nova series Tomus II), Berlin 21955, p. 91, I. 14 – 15. 49 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 313 f. 44
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ein einfaches, aber durchaus überzeugendes Verfahren.“50 Diese Weise des Vorgehens, bei dem sich Sammlungen der historischen und der systematischen Ordnung ergänzten, erklärt, daß auch in einer Zeit, wo die Überlegenheit der systematischen Sammlungen klar erwiesen war, die historischen Sammlungen noch geschätzt und benötigt wurden. So zogen Synoden des 10. und 11. Jahrhunderts Sammlungen der historischen Ordnung noch in starkem Maße heran51. Bei dem Colloquium in Gerstungen (1085) scheint die kaiserliche Seite aus einer Sammlung der historischen Ordnung, die päpstliche Seite aus einer solchen der systematischen Ordnung argumentiert zu haben52. 5. An der Römischen Kurie In Rom sammelte sich mehr als anderswo der Rechtsstoff an. Hierher wurden von überall Anfragen gerichtet und gelangten durch Appellation zahlreiche Rechtsstreitigkeiten. Vom Apostolischen Stuhl wurde erwartet, daß er das Recht kannte und damit umzugehen verstand. So darf man annehmen, daß das Kirchenrecht, seine Kenntnis und seine Aufzeichnung in Rom regelmäßig besonders geschätzt waren. Allerdings hielt sich die Beschlagenheit im Recht nicht immer auf derselben Höhe. Auf Perioden der Blüte folgten Zeiten des Niedergangs. So ist wohl „in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts“ in Rom ,,ein allgemeiner Rückgang kirchenrechtlicher Kenntnis eingetreten“53. Ungenügende Kenntnis des Rechts pflegt praktische Mißachtung des Rechts nach sich zu ziehen. So erhob Rather von Verona (890 – 974) die Klage, daß sich niemand, auch nicht der Papst, an das Kirchenrecht halte54. Der Papst, der um die Jahrtausendwende den Stuhl Petri innehatte, war Silvester II. (999 – 1003). Von ihm ist bekannt, daß er die Concordia Canonum des Cresconius und die Summa Perusina bei einer Rechtsfrage heranzog, was der damaligen Rechtskenntnis am römischen Hofe kein gutes Zeugnis ausstellt55. Denn zu dieser Zeit lagen schon weit bessere Sammlungen vor. Horst Fuhrmann beschreibt die Arbeitsweise Papst Silvesters bei der Entscheidung eines Rechtsfalles so:
50 Hubert Mordek, Kirchenrechtliche Autoritäten im Frühmittelalter, in: Recht und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Peter Classen, Sigmaringen 1977, 237 – 255, hier 250. 51 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 409. 52 Horst Fuhrmann, Pseudoisidor, Otto von Ostia (Urban II.) und der Zitatenkampf von Gerstungen (1085): ZSavRG.Kan 68 (1982) 52 – 69, hier 68 f. 53 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 605. 54 Coepi intra secreta cordis conari, si forte invenire valerem, generalis unde contigerit canonum iste divinitus promulgatorum adeo solis istis contemptus, ut neminem invenire eorum valeam curatorem, a vilissimo utique Ecclesiae usque ad praestantissimum, a stultissimo usque ad illum qui sapientissimus affectat vocari, a laico usque ad pontificem, proh nefas! summum (De contemptu canonum I, 6: PL 136, 494). 55 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 329 – 331, 349.
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,,Papst Silvester II. ging hier vom Angebot aus; es wurden zufällig greifbare Werke benutzt und passend Erscheinendes ausgeschrieben.“56
II. Lehre und Studium des Kirchenrechts 1. Die Beurteilung der Zeit vor dem Jahre 1000 Notwendigkeit des Rechts und Benutzung des Rechts, erst recht Kenntnis des Rechts und Betreiben der Rechtswissenschaft sind zwei verschiedene Dinge. Rechtswissenschaft ist der methodisch geordnete Umgang mit dem Recht, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen57. Die Vertrautheit mit dem Recht war um der Ordnung und des Friedens in der Kirche willen stets erforderlich. Es fragt sich, wann das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Recht sich meldet, die erforderlichen Fähigkeiten bzw. Hilfsmittel vorliegen und dementsprechend die Kirchenrechtswissenschaft entsteht. Die meisten Autoren setzen diesen Zeitpunkt spät an. Nach Horst Fuhrmann ,,hat es so etwas wie eine kirchliche Rechtswissenschaft in der Karolingerzeit nicht gegeben. Wohl finden sich Ansätze zu einer Lehre von den Rechtsquellen, aber es fehlte an theoretischen und systematischen Untersuchungen ebenso wie an schulmäßigen Einrichtungen“58. Immerhin war die Periode nicht völlig unfruchtbar, wie auch Fuhrmann einräumt: ,,Die Leistung dieser karolingischen Kanonisten bestand darin, die Rechtstradition der alten Kirche wieder gehoben zu haben.“59 Nach Hubert Mordek lassen sich für eine kirchliche Rechtswissenschaft ,,noch in der Karolingerzeit nur ganz bescheidene Anfänge erkennen“60. Zwischen 751 und 911 ist also nach diesen Autoren höchstens das Morgengrauen der Kirchenrechtswissenschaft zu beobachten. Das folgende 10. Jahrhundert wird kaum günstiger beurteilt. Joseph de Ghellinck überschreibt es als ,,das eiserne Jahrhundert“61. Paul Fournier bemerkt, daß die Verhältnisse im 10. Jahrhundert geistiger Entwicklung nicht günstig waren62. Martin Grabmann sagt: ,,Das 10. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Niederganges 56 Horst Fuhrmann, Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Investiturstreit und Reichsverfassung. Hrsg. von Josef Fleckenstein (= Vorträge und Forschungen 17), Sigmaringen 1973, 175 – 203, hier 185. 57 Georg May/Anna Eg1er, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, 13 – 16. 58 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 143 f. 59 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 144. 60 Mordek, Kirchenrechtliche Autoritäten im Frühmittelalter 250. 61 Joseph de Ghellinck, Le mouvement théologique du Xlle siècle. Sa préparation lointaine avant et autour de Pierre Lombard, ses rapports avec les initiatives des canonistes. Études, recherches et documents (= Museum Lessianum 5. Section historique 10), Brügge/Brüssel/ Paris 21948, 37. 62 Paul Fournier, Un tournant de l‘histoire du droit. (1060 – 1140): Revue historique de droit français et étranger 41 (1917) 129 – 180, hier 156.
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auch auf wissenschaftlichem Gebiete. Nur einige wenige Männer führten unter ungünstigen äußeren Verhältnissen die wissenschaftlichen Bestrebungen fort.“63 Nach Losada Cosme brachte das 10. Jahrhundert im allgemeinen einen Rückschritt (retroceso)64. ,,Puede, pues, afirmarse, que todo el siglo X supone un estado de regresión en el movimiento de unificacicón disciplinaria.“65 Rom war nach allgemeiner Ansicht von dem Niedergang nicht ausgenommen. Der Heilige Stuhl spielte im 10. Jahrhundert bei der Entwicklung der Kirchenrechtswissenschaft kaum eine Rolle. Nach Ernst Sackur war sogar noch in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ,,das Studium des Kirchenrechts … in Italien, speciell in Rom, etwas Unerhörtes“66. Diese Urteile mögen genügen, um die herrschende Meinung dahin zu formulieren, daß die wissenschaftliche Bearbeitung des Kirchenrechts vor dem Jahre 1000 nicht hoch einzuschätzen sei. In der Tat: Wenn man unter Kirchenrechtswissenschaft die Errichtung von Schulen und Lehranstalten für dieses Fach sowie die Erstellung theoretischer und systematischer Abhandlungen über kirchenrechtliche Themen versteht, so hat eine solche zu jener Zeit nicht existiert. Es gab ,,keine Institution, die sich speziell der Pflege des Rechts oder des Kirchenrechts angenommen hätte; in dienender Funktion mochte das Recht allenfalls im Rhetorikunterricht des Trivium Berücksichtigung finden“67. Stephan Kuttner behauptet, daß das Bedürfnis, Texte des kanonischen Rechts den Regeln einer geordneten Interpretation zu unterwerfen, sich erst am Ende des 11. Jahrhunderts bemerkbar mache68. Die eigentliche Kirchenrechtswissenschaft beginnt mit dem Dekret Gratians, schreibt García y García69. Losada Cosme nennt die Epoche vor Gratian schlicht acientífica70. Paul Fournier stellte lapidar fest, vor der Periode 1050 – 1140 habe ein wissenschaftliches Studium des Rechts nicht bestanden. Die Tätigkeit der Kanonisten habe sich darauf beschränkt, die Texte zu sammeln, sie gelegentlich
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Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1909/11 (Nachdruck: Darmstadt 1956), I, 211. 64 Roque Losada Cosme, La unificación interna del Derecho y las colecciones anteriores a Graciano: Revista Espanola de Derecho Canónico 1 (1955) 353 – 382, hier 367. 65 Roque Losada Cosme, Las colecciones canónicas en función de autenticidad, universalidad y unificación del Derecho: Revista Espanola de Derecho Canónico 1 (1955) 61 – 111, hier 107. 66 Ernst Sackur, Der Dictatus papae und die Canonsammlung des Deusdedit: Neues Archiv 18 (1893) 135 – 153, hier 140. 67 Kölzer, Mönchtum und Kirchenrecht 130. 68 Stephan Kuttner, Quelques observations sur l‘autorité des collections canoniques dans le droit classique de l’Église, in: Actes du Congrès de Droit Canonique Paris, 22 – 26 Avril 1947, Paris 1950, 305 – 312, hier 305. 69 Antonie García y García, Historia del derecho canónico. 1. El Primer Milenio (= Instituto de Historia de la Teologia Espanola Subsidia 1), Salamanca 1967, 327. 70 Losada Cosme, La unificación interna 353.
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einzuordnen, zu erklären und anzuwenden71. Nach Martin Grabmann ist die Vorscholastik die Zeit der ,,Rezeptivität“, wo Sammeln und Exzerpieren, Reproduzieren und Kompilieren den wissenschaftlichen Betrieb kennzeichnen72. Immerhin nimmt er auch ,,Spuren einer selbständigen Gliederung, Systematisierung und dialektischen Verbreitung“ sowie Versuche selbständiger Forschung wahr73. Von dieser Fülle absprechender Urteile sticht höchst selten eine anerkennende Bemerkung ab. Nach Harald Zimmermann bezeugen die zeitgenössischen Kirchenrechtssammlungen ,,eine blühende kirchliche Rechtsgelehrsamkeit auch in den Jahrhunderten vor Gratian“, die sich ,,sowohl auf das kanonische als auch auf das klassische römische Recht erstreckte“74. Gemäß diesem Autor gab es also schon im ersten Jahrtausend eine Kirchenrechtswissenschaft. Ich teile diese Ansicht. Ihr scheint auch Alfons Stickler zuzuneigen75. Es kommt darauf an, ob sie plausibel gemacht werden kann. 2. Die Einzelzüge wissenschaftlicher Betätigung Anfänge und Einzelzüge wissenschaftlicher Betätigung auf dem Gebiete des Kirchenrechts sind seit frühester Zeit zu beobachten und entwickeln sich in der Folgezeit weiter. Dabei verläuft die Entwicklung nicht in jeder Hinsicht geradlinig. Es ist nicht so, daß jeder später lebende Autor ohne weiteres einem früheren an Erudition überlegen ist; vielmehr kommt es vor, daß hervorragendere Leistungen von Personen der älteren Zeit und weniger tüchtige von solchen der jüngeren Zeit vollbracht werden. Tatsächlich läßt sich ohne ein irgendwie geartetes überlegtes Vorgehen weder die Aufzeichnung noch das Sammeln des Rechts vorstellen. Man bedenke: Handelt es sich um Gewohnheitsrecht76, das schriftlich formuliert werden soll, wird eine hohe Leistung verlangt; denn die tatsächliche Übung soll in rechtliche Begriffe übersetzt und mit solchen beschrieben werden. Dieser Vorgang setzt die Fähigkeit voraus, das Verhalten einer Gemeinschaft über eine gewisse Zeit zu beobachten und die rechtlich erheblichen Merkmale darin zu erfassen, und verlangt die Kenntnis von Kategorien, die dem Sachverhalt angemessen sind und ihn adäquat ausdrücken. Bei der Tradierung von Gesetzesrecht werden die Probleme der Übersetzung und des Verstehens, der Worttreue und der Anpassung akut. Der Tradent sieht sich vor die Frage gestellt, welchen der oft in verschiedenen Versionen umlaufenden Texte 71
Fournier, Un tournant de l’histoire du droit 129. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode I, 179 f. 73 Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode I, 188 f. 74 Harald Zimmermann, Römische und kanonische Rechtskenntnis und Rechtsschulung im frühen Mittelalter, in: La scuola nell’occidente latino dell’alto medioevo. 15 – 21 aprile 1971. Tomo secondo (= Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alte medioevo XIX), Spoleto 1972, 767 – 794, hier 774. 75 A. M. Stickler, Kanonistik: LThK2 V (1960) 1289 – 1302. Vgl. May/Eg1er 36. 76 Die Collectio Hibernensis dürfte in beträchtlichem Umfang Gewohnheitsrecht formulieren (Maassen, Geschichte der Quellen 883). 72
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er übernehmen und ob er ihn verbatim oder mit (von seinem Auftraggeber oder von seinem Ziel geforderten) Veränderungen weitergeben solle. Schon die Zusammenstellung von Rechtsstoff ist mit wissenschaftlichem Bemühen notwendig verbunden, das selbstverständlich als mehr oder weniger gelungen beurteilt werden muß. Selbst die einfachste Tätigkeit des Sammelns kann nicht geschehen ohne Motivation und ohne Ziel, ohne Ordnung und ohne Unterscheidung. In diesem Sinne fallen die Anfänge der Kirchenrechtswissenschaft zusammen mit dem Beginn des Kirchenrechts überhaupt. Immer schon mußte auch das Recht, sei es Gewohnheitsrecht oder gesatztes Recht, verstanden, interpretiert und subsumiert werden. Mochten dafür auch noch keine Regeln aufgestellt oder aufgezeichnet werden, so wurden sie doch gesucht und angewendet. Gegen eine (stets mögliche) willkürliche Ausdeutung von Vorschriften konnten und mußten die Grundsätze einer gesunden Textbehandlung ins Feld geführt werden. Die Personen, die sich mit dem Kirchenrecht beschäftigten, waren bei diesen Aufgaben weder hilflos noch verlassen. In der Auslegung der Heiligen Schrift waren von den Kirchenvätern gewichtige methodische Prinzipien entwickelt worden, deren sie sich mit Nutzen in analoger Weise zu bedienen vermochten77. Sie konnten dieserhalb auch bei manchen profanen Schriftstellern in die Schule gehen. Die frühen Autoren mögen also gewöhnlich die Methoden kanonistischer Arbeit nicht reflektieren und thematisch behandeln; sie praktizieren sie jedoch bei ihrem Umgang mit dem Recht, so daß sie von daher abgelesen werden können. Ja, seit der Karolingerzeit erscheinen bei manchen Autoren bereits Interpretationsregeln, vor allem zur Lösung von Widersprüchen der Normen. Es sei an den Verfasser der Collectio Dacheriana, an Agobard und Florus von Lyon, an Hrabanus Maurus und an Hinkmar von Reims erinnert78. Die älteren Pönitentialien haben vielfach eine ungünstige Beurteilung gefunden. Ihre Schwächen sind bekannt. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß auch sie ihre Verdienste haben und häufig sogar wissenschaftliches Bemühen zeigen79. Das Bestreben, Wesen, Art und Schwere der Sünden zu erfassen, die Umstände ihrer Begehung zu berücksichtigen, Gesinnung und Absicht des Täters zu würdigen und nach Gerechtigkeit und Billigkeit die Bußen anzusetzen, ist rudimentäre, wenn auch oft wenig gelungene wissenschaftliche Arbeit. Die Tätigkeit des Sammelns von disziplinären Vorschriften setzte bereits am Ende des ersten Jahrhunderts ein. Seit dem zweiten Jahrhundert sind Sammlungen bekannt80. Der Rechtsstoff vermehrte sich fortwährend durch die Beschlüsse der partikulären und der allgemeinen Konzile, durch Erlasse der Bischöfe und durch Dekretalen der Päpste. Nicht jede Sammlung eignete sich für alle Zwecke. Die 77 Ich erwähne hier nur Sancti Augustini De doctrina christiana. De vera religione. Hrsg. von Joseph Martin (= CChr.SL XXXII), Turnhout 1962, 77 – 116. 78 Stickler, Kanonistik 1290. 79 Paul Fournier/Gabriel Le Bras, Histoire des collections canoniques en occident depuis les fausses décrétales jusqu’au Décret de Gratien, 2 Bde., Paris 1931/32 (Nachdruck: Aalen 1972), I, 51 – 62. 80 Van Hove l24 f.
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Gesichtspunkte, unter denen Sammlungen benötigt wurden, wechselten. So wurden immer neue Kompilationen oder vermehrte und verbesserte Auflagen früherer Sammlungen notwendig. Jeder Kompilator stand vor einer Reihe von Problemen, die es zu lösen galt. Er mußte sich einmal die in Frage kommenden Rechtstexte verschaffen. Dies setzte literarische und archivalische Tätigkeit voraus. Der Sammler mußte sodann in der Lage sein, aus seinen Vorlagen das einschlägige Material von nichtzugehörigem zu sondern. Wieweit auch der Rahmen des rechtlichen bzw. für rechtlich relevant gehaltenen Stoffes gespannt werden mochte, irgendeine Grenze mußte gezogen werden. Bei der Aufnahme eines Textes war zu entscheiden, wieviel aus der Vorlage herausgeschnitten werden sollte, d. h. wie lang ein Abschnitt sein sollte, was am Anfang, am Schluß oder in der Mitte weggelassen werden sollte. Der Umfang des solchermaßen hergestellten Fragmentes durfte nicht zu groß sein, weil dann seine praktische Verwendbarkeit gemindert wurde, er durfte aber auch nicht zu klein sein, weil darunter möglicherweise die Klarheit der Aussage litt. Dazu war die Thematik des Vorhabens zu bedenken. Der Sammler wollte entweder die Gesamtheit des Kirchenrechts erfassen, oder er legte seine Sammlung unter einer bestimmten Zielsetzung an81. Er hatte sich also darüber klarzuwerden, für welchen Zweck und für welchen Leserkreis er sein Werk konzipierte. Danach richtete sich die Auswahl, die er aus seinem Material traf. Hier waren unterschiedliche Sichtweisen möglich. Die Interessenlage eines Diözesanbischofs war von jener eines Klosters verschieden. Der Metropolit dachte anders über seine Rechte als manche Suffraganbischöfe. Dem Apostolischen Stuhl schwebten Gesichtspunkte vor, die bei den Teilkirchen möglicherweise als nachgeordnet angesehen wurden. Wenn der Kompilator den Stoff beisammen hatte, trat die Aufgabe an ihn heran, einen einwandfreien Text zu tradieren. Er mußte sich also bemühen, Lese- und Schreibfehler zu erkennen und zu verbessern. Jedermann weiß, daß dies ein heikles Unternehmen ist. Die Konjekturalkritik ist stets in Gefahr, das Genuine eines Textes auszutreiben. Der Sammler stand schließlich vor der Frage, ob er die gesammelten Stücke mit Rubriken und Inskriptionen versehen wollte. Die ersteren boten eine schlagwortartige Überschrift, die letzteren die Angabe der Herkunft der Fragmente. Es leuchtet ein, daß beides den Gebrauchswert einer Kirchenrechtssammlung beträchtlich erhöhte. Die Anfertigung von Rubriken setzte voraus, daß der Kompilator den wesentlichen Inhalt des Textes erfaßt hatte und imstande war, ihn mit wenigen Worten knapp zu umreißen. Die Anbringung von Inskriptionen war nur möglich, wenn die Quelle bekannt war, der ein Fragment entnommen war. Sofern jemand nicht auf die Ursprungsangabe verzichtete oder sich damit begnügte, eine überkommene Inskription unbesehen weiterzugeben, hatte er die schwierige Aufgabe vor sich, die Quellen nach dem in Frage kommenden Stück durchzusehen, was selbstverständlich nur möglich war, wenn eine entsprechend große Bibliothek zur Verfügung stand.
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Maassen, Geschichte der Quellen 4.
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War das einzelne Fragment in einen Zustand gebracht, in dem es in die Sammlung eingehen konnte, erhob sich die Frage, wie es anzuordnen und wo es einzureihen war. Die Sammlungen waren sehr verschiedener Art. Die wichtigste Einteilung ist die in solche der chronologischen und der systematischen Ordnung. Die ersteren reihen das Material nach der Zeit der Zusammenstellung oder dem Gebiet des Ursprungs, nach dem geschichtlichen Anlaß oder der Zugehörigkeit zu einer Quelle auf82. Die wichtigsten Einteilungsprinzipien sind dabei die Entstehungszeit und der Entstehungsort. Was geschichtlich oder geographisch zusammengehörte, das sollte beieinanderbleiben. Diese Weise der Anordnung zu verwirklichen, war keineswegs immer leicht. Die Zusammenhänge zu erkennen und das Material, das nicht selten ungeordnet, namenlos oder unter falscher Bezeichnung umlief, zu sortieren, stellte an den verantwortungsbewußten Kompilator hohe Anforderungen. Die Sammlungen der systematischen Ordnung bieten den Stoff ohne Rücksicht auf die Herkunft nach inhaltlichen Gesichtspunkten, so daß sachlich verwandte Vorschriften zu einer Gruppe verbunden werden. Diese Arbeit setzt das Verstehen dessen, worauf es bei einem Text ankommt, voraus. Auch muß der Kompilator über ein Prinzip der Gliederung verfügen, das seinem Ziel und dem Stoff angemessen ist. Nur wer einen Überblick über das kanonische Recht besaß, war imstande, eine einwandfreie Anordnung der Fragmente zu schaffen. Die hohe Zeit der Sammlungen der chronologischen Ordnung reicht vom 4. bis zum 11. Jahrhundert. Daneben treten seit dem 6. Jahrhundert auch Sammlungen der systematischen Ordnung auf und verdrängen allmählich die ersteren; ihre Blütezeit beginnt im 9. Jahrhundert. Der Überschritt von den Sammlungen der chronologischen zu jenen der systematischen Ordnung nimmt seinen Ausgang von den Titeln (Rubriken). Man hatte die Texte durch Überschriften gekennzeichnet. Jetzt ging man daran, die sachlich zusammengehörigen Titel (und Texte) zusammenzustellen83. Es kam vor, daß ein Kompilator eine Sammlung für den eigenen Gebrauch schuf. Die Regel war es jedoch nicht. Gewöhnlich arbeitete er in fremdem Auftrag. Eine hochgestellte Persönlichkeit forderte den Kompilator auf, eine Sammlung, die ihren Intentionen entsprach, zu verfertigen. Der Kleriker machte sich an die Arbeit. Wenn die Sammlung fertig war, wurde sie dem Auftraggeber abgeliefert. Dieser benutzte sie zu seinen Zwecken. Erwies sie sich als brauchbar, sprach sich das herum. Andere Personen und Instanzen bemühten sich, in den Besitz der Sammlung zu gelangen; sie wurde abgeschrieben. Bei diesem Vorgang wurde sie regelmäßig auch schon verändert. Neuer Rechtsstoff war in der Zwischenzeit entstanden, anderer obsolet geworden. Die Bedürfnisse hatten sich gewandelt. Die Zwecke, deretwegen jemand auf eine Sammlung zurückgriff, waren nicht völlig gleich. So erklärt sich,
82
Maassen, Geschichte der Quellen 3. Pablo Pinedo, Fragmentación, titulación y sistema en las primeras colecciones canónicas, in: Homenaje a Don Ramon Carande I, Madrid 1963, 285 – 297, hier 294. 83
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daß die Hersteller von Abschriften nicht selten insofern schöpferisch tätig waren, als sie neue Versionen der ursprünglichen Sammlung herstellten. Der Erfolg der Sammlungen war so verschieden wie ihr Charakter. Manche Kompilationen wurden über Jahrhunderte benutzt und in weitestem Umfang verbreitet, andere fanden lediglich in lokalem oder regionalem Bereich Beachtung und wurden rasch vergessen. Die Einschätzung einer Sammlung durch die Benutzer ergibt sich einmal aus der Zahl der Handschriften, die angefertigt wurden, zum anderen aus der Aufnahme, die spätere Sammlungen ihr bzw. ihrem Material zuteil werden ließen. Die Verbreitung einer Sammlung wird in der Regel erschlossen aus der Anzahl der erhaltenen Handschriften, die ihre Entstehung in einem bestimmten Lande haben. Im allgemeinen hatten handliche, nicht zu umfangreiche, überschaubare Sammlungen mehr Aussicht, Verbreitung zu finden, als umfassende Werke. Man denke etwa an den verschiedenen Erfolg, den Dekret und Panormia Ivos von Chartres hatten84. Wenn allerdings eine reiche Kompilation als so gut gelungen beurteilt wurde wie jene des Burchard von Worms, dann stand ihrem Erfolg selbst der große Umfang nicht entgegen. Um das Jahr 1000 waren bereits viele Rechtssammlungen erschienen, von denen eine beträchtliche Zahl noch in Verwendung war und einige hohes Ansehen genossen. Nur ein Bruchteil davon ist uns bekannt, noch weniger sind auf uns gekommen. Hubert Mordek stellt von der Zeit der Gregorianischen Reform richtig fest: ,,Zusammengenommen kursierten zahllose Aneinanderreihungen und Systematisierungen des alten Rechts“85. Die Kirchenrechtssammlungen des ersten Jahrtausends waren Rechtsbücher, keine Gesetzbücher. Das heißt: Alle diese Sammlungen waren privater Natur. Manche, vielleicht die meisten mögen allerdings auf Anregung einer Autoritätsperson entstanden sein. Die Herstellung einer Sammlung war ja ein langwieriges und kostspieliges Unternehmen. Wer es sich vornahm, mußte damit rechnen können, daß sein Werk abgenommen wurde. Der Absatz war gewährleistet, wenn die Kompilation auf Weisung und nach den Intentionen einer kirchlichen Autorität erfolgte. Um ein Beispiel zu erwähnen: Regino von Prüm verfaßte sein Sendhandbuch im Auftrag des Erzbischofs Ratbod von Trier für den Erzbischof Hatto von Mainz, um diesem bei seinen Dienstreisen ein Kompendium in die Hand zu geben86. Kompilationen, die sich auf hohe und bekannte Auftraggeber berufen konnten, nahmen offensichtlich leichter ihren Weg als andere, denen diese Protektion fehlte. So ist es begreiflich, daß selbst Benedikt Levita behauptet, er habe auf Weisung des Erzbischofs Otgar von Mainz (825 – 847) seine Sammlung zusammengestellt87. 84
Van Hove 33 l f. Hubert Mordek, Kanonistik und gregorianische Reform. Marginalien zu einem nichtmarginalen Thema, in: Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach. Hrsg. von Karl Schmid, Sigmaringen 1985, 65 – 82, hier 75. 86 Reginonis Abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis et ecclesiasticis disciplinis. Hrsg. von F. G. A. Wasserschleben, Leipzig 1840, 1 f. 87 PL 97, 699. 85
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Auch die Gewinnung des Materials war nicht möglich ohne Mitwirkung oder Duldung von Amtspersonen. Sie allein verfügten über Archive und Bibliotheken, zu denen sich der Kompilator Zutritt verschaffen mußte.
III. Die Benutzung früherer Sammlungen 1. Bis zum Ende des 9. Jahrhunderts entstandene Sammlungen Wer sich um das Jahr 1000 mit dem Kirchenrecht befassen wollte, der mußte sich zuerst einen Überblick verschaffen über die Quellen. Als solche kamen primäre, z. B. die Originalakten von Konzilien und die Originalbriefe von Päpsten bzw. deren Abschriften, und sekundäre, d. h. Rechtssammlungen und Florilegien, in Frage. Sehr selten war es einer Person möglich, Einblick in primäre Quellen erster Art zu nehmen, falls sie überhaupt noch vorhanden bzw. greifbar waren. In aller Regel stand ihr nur der Zugang zu primären Quellen zweiter Art und zu sekundären Quellen offen. Wer sich des Kirchenrechts bedienen wollte, hatte daher zu eruieren, welche Bücher und Kompilationen es gab, welche für ihn erreichbar waren und welche für seine Zwecke brauchbar waren. Von den übrigen Werken wie Schriften der Kirchenväter, Mönchsregeln, liturgischen und historischen Texten soll an dieser Stelle abgesehen und das Augenmerk allein auf die Kirchenrechtskompilationen gerichtet werden. Den Männern der Kirche um das Jahr 1000 stand nun eine beträchtliche Zahl früherer Sammlungen zur Verfügung. Es genügt hier, auf die (keineswegs vollständigen) Zusammenstellungen zu verweisen, wie sie in den Werken von Maassen, Fournier-Le Bras, Van Hove und Stickler vorliegen, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie reichhaltig das Repertoire an Kompilationen war. Die älteren Kirchenrechtssammlungen wurden benutzt, ausgebeutet und abgeschrieben. Der Drang, eine Kompilation oder deren mehrere zu eigen zu besitzen, war begreiflicherweise groß. In den Schreibstuben der Klöster, Stifte und Domkirchen herrschte dementsprechend um 1000 eine lebhafte Tätigkeit. Um ein Beispiel zu erwähnen: In Oberlothringen wurde im 10. Jahrhundert eine ansehnliche Zahl älterer Sammlungen abgeschrieben88. Wie bruchstückhaft unsere Kenntnisse auch sind, so läßt sich doch sagen: Die große Zahl der Handschriften früher entstandener Kirchenrechtssammlungen, die in den hundert Jahren von 950 bis 1050 hergestellt wurden, ist ein Zeichen für das kanonistische Interesse der Zeit. Die wichtigsten um 1000 vorhandenen Kirchenrechtssammlungen seien kurz vorgestellt.
88 Henning Hoesch, Die kanonischen Quellen im Werk Humberts von Moyenmoutier. Ein Beitrag zur Geschichte der vorgregorianischen Reform (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht Bd. 10), Köln/Wien 1970, 192 – 194.
Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000
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a) Statuta ecclesiae antiqua In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts verfaßte Gennadius von Marseille die Statuta ecclesiae antiqua89. Sie hatten einen bedeutenden Erfolg. Die meisten späteren Sammlungen in Gallien, aber auch in Spanien bedienten sich dieser praktischen Zusammenstellung disziplinärer Bestimmungen. b) Römische Sammlungen In der Zeit von 492 bis 523 entstanden in Rom zahlreiche Kirchenrechtssammlungen von großer, weil allgemeiner Bedeutung90. Es sei an die Collectio Quesnelliana, die Collectio Dionysiana, die Collectio Sancti Blasii, die Collectio Vaticana 1342 und die Collectio Frisingensis erinnert. Die Collectio Quesnelliana91 wurde, wie die zahlreichen Handschriften des 8. bis 10. Jahrhunderts auswiesen, zu dieser Zeit noch viel benutzt. Die bedeutendste Sammlung war freilich die des Dionysius Exiguus92. Sie erlebte schon durch ihren Verfasser drei (veränderte) Auflagen. Später traten dazu weitere Versionen wie die Dionysio-Hadriana93 und die Bobienser Dionysiana94. Die Vorzüge der Collectio Dionysiana sicherten ihr allgemeine und anhaltende Benutzung im Abendland. Die folgenden systematischen Sammlungen griffen allesamt auf sie oder die Dionysio-Hadriana zurück95. In Afrika verwertete sie die Concordia Canonum des Cresconius, in Gallien die Collectio Vetus Gallica, in Spanien die Collectio Hispana und auf den Inseln vielleicht die Collectio Hibernensis96. Der mittelrheinische Raum war an der Tradierung der Collectio Dionysiana stark beteiligt. Von den zwei Handschriften der ersten Ausgabe der Collectio Dionysiana, die erhalten sind, wurde die eine mit Sicherheit, die andere mit
89 Les Statuta ecclesiae antiqua. Édition ¢ Études critiques. Hrsg. von Charles Munier (= Bibliothèque de l’Institut de droit canonique de l’Université de Strasbourg 5), Paris 1960; Stickler 40; Van Hove 152 f. 90 Gabriel Le Bras, Quantam partem habuerint Romani in libris canonum ante decretum Gratiani confectis: Ius pontificium 13 (1933) 237 – 240, hier 237 f. 91 Maassen, Geschichte der Quellen 486 – 500. 92 Maassen, Geschichte der Quellen 422 – 440; Eduard Schwartz, Die Kanonessammlungen der alten Reichskirche: ZSavRG.Kan 25 (1936) 1 – 114; Michael Richter, Dionysius Exiguus: TRE IX (1982) 1 – 4; Hubert Mordek, Dionysius Exiguus: LMA III (1986) 1088 – 1092. 93 Maassen, Geschichte der Quellen 441 – 471; Hubert Mordek, Dionysio-Hadriana: LMA III (1986) 1074 f. 94 Maassen, Geschichte der Quellen 471 – 476; Van Hove 268; Stickler 50. 95 Hubert Mordek, II diritto canonico fra tardo antico e alto medioevo. La ,svolta dionisiana‘ nella canonistica, in: La cultura in Italia fra tardo antico e alto medioevo. Atti del Convegno tenuto a Roma, Consiglio Nazionale delle Ricerche, dal 12 al 16 Novembre 1979, 2 Bde., Rom 1981, I, 149 – 164, hier 162. 96 Jean Gaudemet, Les Sources du droit de l’Église en Occident du IIe au VIIe siècle, Paris 1985, 135 – 137.
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Wahrscheinlichkeit im endenden 8. und beginnenden 9. Jahrhundert in Mainz geschrieben97. Einen Riesenerfolg hatte die Collectio Dionysio-Hadriana98. Sie wurde bis ins 12. Jahrhundert abgeschrieben, vermehrt und exzerpiert. An dieser Sammlung, die Papst Nikolaus I. im Jahre 865 als „corpus codicis canonum“, „Codex canonum“ und „Codex ecclesiasticorum canonum“ bezeichnet hatte99, kam fortan niemand vorbei, der ernsthaft um das Kirchenrecht bemüht war. Doch ist sie niemals die alleinige und ausschließliche Kirchenrechtssammlung der fränkischen Kirche geworden. Auch die Päpste des 8./9. Jahrhunderts bedienten sich keineswegs lediglich der Collectio Dionysiana oder der Collectio Dionysio-Hadriana, sondern zogen andere Sammlungen ebenfalls heran100. c) Die Collectio Hispana und ihre Derivate Die Sammlungen des Dionysius Exiguus erhielten in gewisser Hinsicht ein Gegenstück in der Collectio Hispana101. An ihrem Beispiel läßt sich zeigen, welche Leistungen die frühe Kanonistik, lange vor dem 10. Jahrhundert, zu vollbringen imstande war. Die ursprüngliche, chronologische Sammlung (Isidoriana) verzweigte sich in die zwei Familien der Iuliana (bei der wieder die Gallica und die Toletana zu unterscheiden sind) und die Vulgata (ebenfalls in zwei Formen). Von der chronologischen Sammlung stammen mehrere systematische Sammlungen ab102. An erster Stelle stehen die Excerpta, die in 10 Büchern und 227 Titeln Zusammenfassungen der Texte der Hispana in systematischer Form geben. Unter Rückgriff auf den Plan der Excerpta entstand die systematische Hispana, die nicht mehr bloße Summarien, sondern die vollständigen Texte bringt. Schließlich sind die Tabulae zu erwähnen. Sie gehen auf die Excerpta zurück und bieten ein Inhalts97
Schwartz, Die Kanonessammlungen der alten Reichskirche 112 f. Maassen, Geschichte der Quellen 441 – 471; Van Hove 268; Stick1er 107 – 109. 99 Regesta Pontificum Romanorum. Hrsg. von Philippus Jaffé/S. Loewenfeld/F. Kaltenbrunner/P. Ewald, 2 Bde., Lipsiae 1885 (Nachdruck: Graz 1956), 2I, 356, n. 2785; Mansi 15, 695; PL 119, 901 – 902; MGH Ep. VI, Hannover 1912, Nr. 71 p. 394 – 395. 100 Horst Fuhrmann, Zu kirchenrechtlichen Vorlagen einiger Papstbriefe der Zeit Karls des Großen: Deutsches Archiv 35 (1979) 357 – 367 hier 367. 101 PL 84, 93 – 848; Carlos García Goldáraz, El Códice Lucense de la Colección Canónica Hispana, 3 Bde. (= Biblioteca de Escuela Española de Historia y Archeologia en Roma 10 – 12), Rom 1954; Wiener Hispana-Handschrift. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis 411. Einführung Otto Mazal (= Codices selecti phototypice impressi Vol. XLI), Graz 1974; Gonzalo Martínez Díez, La Colección Canónica Hispana I: Estudio (= Monumenta Hispaniae Sacra. Serie canónica I), Madrid 1966; ders., La Colección Canónica Hispana II: Colecciónes derivados (= Monumenta Hispaniae Sacra. Serie canónica I), Madrid 1976; ders./Felix Rodriguez, La Colección Canónica Hispana III. Concilios griegos y africanos (= Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Canónica III), Madrid 1982; Maassen, Geschichte der Quellen 667 – 716; Van Hove, 280 – 282, 293, 303; Stickler, 78 – 84, 109 f., 127 f. 102 Maassen, Geschichte der Quellen 813 – 821. 98
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verzeichnis der Überschriften der Kanones der Hispana. Im fränkischen Gallien entstand aus einem Exemplar der Iuliana-Version die Collectio Hispana Gallica. Sie wurde mit der Collectio Dionysio-Hadriana zur Collectio Hadriana Hispanica vereinigt. Die Collectio Dionysio-Hadriana und die Collectio Hispana bilden die Hauptquellen für die Collectio Dacheriana, die wieder von den Sammlungen der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts benutzt wurde. Die pseudoisidorischen Fälscher erarbeiteten ihrerseits aus der Collectio Hispana Gallica die Collectio Hispana Gallica Augustodunensis und nahmen einen beträchtlichen Teil der Collectio Hispana in ihre falschen Dekretalen auf103. Diese mannigfachen Änderungen, Umsetzungen und Zusammenfassungen sind Zeugnisse emsigen wissenschaftlichen Bemühens. Die Reichhaltigkeit und die Zuverlässigkeit sicherten der Collectio Hispana ein langes Leben. Ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich auch über Mitteleuropa. Eine Handschrift der Collectio Hispana Gallica (Cod. Vat. Pal. lat. 575) aus dem 9./10. Jahrhundert befand sich im 11. Jahrhundert in Mainz104. Der ebenfalls in Spanien am Ende des 6. Jahrhunderts hervortretende, nicht mit der Collectio Hispana zu verwechselnde Epitome Hispanico105 wurde noch im 11. Jahrhundert benutzt106. d) Die Breviatio Canonum des Fulgentius Ferrandus Die ca. 546 entstandene Breviatio Canonum des Fulgentius Ferrandus107 eröffnete eine neue Form der Sammlungen: die systematisch geordnete. Wenn auch die Gliederung noch zu wünschen läßt und vieles fehlt, so ist doch der Fortschritt nicht zu verkennen. Wie der Name erkennen läßt, bringt die Sammlung nicht die originalen Texte, sondern lediglich die summarische Angabe des Inhalts sowie Hinweise auf ihren Ursprung und ihre Fundstelle. In der Herausarbeitung des knapp angegebenen Inhalts, zu dessen Begründung dann die Kanones genannt werden, liegt eine achtenswerte Leistung.
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Gaudemet, Les Sources du droit de l’Église en Occident 155 – 161. Joachim Richter, Stufen pseudoisidorischer Verfälschung. Untersuchungen zum Konzilsteil der pseudoisidorischen Dekretalien: ZSavRG.Kan 64 (1978) 1 – 72, hier 8. 105 Maassen, Geschichte der Quellen 646 – 666; Stickler 77 f.; Van Hove 279; Gonzalo Martínez Díez, El Epitome Hispánico, una colección canónica española del siglo VII, Comillas 1962. 106 Peter Landau, Die Collectio Veronensis: ZSavRG.Kan 67 (1981) 75 – 120, hier 81. 107 Maassen, Geschichte der Quellen 799 – 802; Hubert Mordek, Ferrandus: LMA IV (1978) 385. 104
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e) Die Concordia Canonum des Cresconius Die Concordia Canonum des Cresconius108 geht einen Schritt weiter. Unter Benutzung des Materials, das die dritte Version der Collectio Dionysiana bereitgestellt hatte, wird eine systematische Sammlung aufgebaut, bei der jedem Kapitel eine Rubrik vorangeht und der als ganzer ein Verzeichnis der Rubriken, die sogenannte capitulatio, vorangestellt ist. Im 9. Jahrhundert entstand die gallische Version der Sammlung, eine veränderte und vermehrte Fassung109. „Bekanntlich hat Cresconius Nichts mehr gethan, als die Sammlungen des Dionysius Exiguus systematisch verarbeitet“110, beschrieb Georg Phillips sein Werk. Aber damit hat er viel geleistet. Denn die Sammlung des Cresconius ist nicht eine bloße Zusammenstellung übereinstimmender Texte ohne ein Ordnungsprinzip oder einen leitenden Gesichtspunkt. Der Geist der Sammlung liegt vielmehr in der Versöhnung der Kirchen des Ostens und des Westens und in der Erhöhung des Ansehens des Apostolischen Stuhls. Die Texte sind so geordnet, daß man von dem wichtigeren zu dem weniger wichtigen in der Verfassung der Kirche schreitet111. Die Concordia Canonum des Cresconius hatte einen großen, andauernden Erfolg, der im 10. Jahrhundert noch anhielt; sie wurde (in Verona) sogar noch im 11. Jahrhundert herangezogen112. Zahlreiche Handschriften der Concordia Canonum des Cresconius gehören dem 10. und 11. Jahrhundert an113. f) Die Capitula Martini Die systematische Sammlung, die Capitula Martini114 genannt wird, ist nach 563 entstanden. Sie wurde in die Collectio Hispana aufgenommen und mit dieser entsprechend weit verbreitet. Der geringe Umfang (84 Kapitel) der Sammlung erleichterte ihren Erfolg. „Es gibt vom 10. Jahrhundert an wenige systematische Sammlungen, in denen sie nicht benutzt wären.“115
108 PL 88, 829 – 942. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 806 – 813; Van Hove 266; Stickler 75; Pablo Pinedo, Concordia canonum Cresconii: Ius canonicum 4 (1964) 35 – 64; Hubert Mordek, Cresconius: LMA III (1986) 345 f. 109 Maassen, Geschichte der Quellen 846 f.; Van Hove 294 f.; Stickler 117. 110 Georg Phillips, Der Codex Salisburgensis S. Petri IX. Ein Beitrag zur Geschichte der vorgratianischen Rechtsquellen, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 44. Bd., Jgg. 1863, Wien 1863, 437 – 510, hier 442. 111 Pinedo, Fragmentación 295. 112 Landau, Die Collectio Veronensis 81. 113 Maassen, Geschichte der Quellen 806 f. 114 Martini episcopi Bracarensis opera omnia. Hrsg. von Claude W. Barlow (= Papers and Monographs of the American Academy in Rome 12), New Haven 1950, 123 – 144. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 802 – 806; Van Hove 278 f.; Stickler 38. 115 Maassen, Geschichte der Quellen 806.
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g) Die Collectio Vetus Gallica Die um 600 in Lyon entstandene Collectio Vetus Gallica116, deren Verfasser bemüht war, lediglich echtes Material in möglichster Worttreue zu bieten, stellte das Kirchenrecht für Gallien in umfassender Weise vor. Ihr Erfolg war dementsprechend groß. Die Collectio Vetus Gallica fand weite geographische Verbreitung und wurde bis ins 12. Jahrhundert abgeschrieben. Zahlreiche folgende Sammlungen bedienten sich ihrer. Die karolingischen Reformer verbanden Teile der Collectio Vetus Gallica mit der Collectio Dionysio-Hadriana, und diese Kombination verbreitete sich rasch und weit117. Die chronologische Collectio Dionysio-Hadriana war nicht imstande, die systematische Collectio Vetus Gallica zu verdrängen118. h) Die Collectio Hibernensis Die systematische Collectio Hibernensis119, wohl um 700 in Irland entstanden, hat ihre Eigenart in der starken Heranziehung von Texten der Heiligen Schrift und der Kirchenväter. Sie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie römische, gallische, irische und walisische Konzile neben die orientalischen Synoden stellt. Die Sammlung häuft aber nicht bloß Fragmente von Gesetzen an, versucht vielmehr eine Art Traktat des Kirchenrechts und der Moraltheologie zu bieten. ,,The Irish collection of canons, as a single document, is probably the most ambitious endeavour to codify Christian life of all the medieval canonical compilations.“120 Die Sammlung hatte starken Einfluß auf die folgenden Sammlungen. Die Collectio Hibernensis und ihre Auszüge wurden im 10. Jahrhundert noch eifrig abgeschrieben und bis ins 11., ja 12. Jahrhundert als Steinbruch benutzt121.
116 Hubert Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich. Die Collectio Vetus Gallica, die älteste systematische Kanonessammlung des fränkischen Gallien. Studien und Edition (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters Bd. 1), Berlin/New York 1975. 117 Hubert Mordek, Dionysio-Hadriana und Vetus Gallica – historisch geordnetes und systematisches Kirchenrecht am Hofe Karls des Großen: ZSavRG. Kan 55 (1969) 39 – 63, hier 48, 58. 118 Gaudemet, Les Sources du droit de l’Église en Occident 146. 119 Die irische Kanonensammlung. Hrsg. von Hermann Wasserschleben, Leipzig 21885 (Nachdruck: Aalen 1966). Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 877 – 885; Stickler 93 f.; Van Hove 290 f. 120 Maurice P. Sheehy, The Collectio Canonum Hibernensis – a Celtic Phenomenon, in: Löwe, Die Iren und Europa im früheren Mittelalter I, 525 – 535, hier 527. 121 Paul Fournier, De l’influence de la collection irlandaise sur la formation des collections canoniques: Nouvelle Revue historique de droit français et étranger 23 (1899) 27 – 78, hier 75 f.; Wasserschleben, Die irische Kanonensammlung XXVII–XXIX; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 256 f.
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i) Die Collectio Herovalliana Die Collectio Herovalliana122 entstand in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Gallien. Indem sie die Collectio Vetus Gallica änderte und straffte, sicherte sie sich einen nachhaltigen Erfolg. Die Collectio Herovalliana war im frühen und hohen Mittelalter weit verbreitet123 und diente zahlreichen späteren Sammlungen als Vorlage. j) Die Collectio Dacheriana Aus der karolingischen Reform ging ca. 800 als bedeutsame Sammlung der systematischen Ordnung die Collectio Dacheriana hervor124. Sie schöpfte aus der Collectio Dionysio-Hadriana und der systematischen Collectio Hispana; diese Quellen sicherten ihr ein hohes Ansehen. Die Sammlung war im 9. und 10. Jahrhundert außerordentlich weit verbreitet. Ihre Wirkung hielt an bis zu der Gregorianischen Reform; sie wurde im 10. und 11. Jahrhundert noch relativ häufig abgeschrieben125 und auch im 11. Jahrhundert noch benutzt. k) Die pseudoisidorischen Fälschungen Um die Mitte des 9. Jahrhunderts entstanden die pseudoisidorischen Fälschungen126, also die Collectio Hispana Gallica Augustodunensis127, die Capitula Angilramni128, die Kapitularien des Benedikt Levita129 und die pseudoisidorischen Dekretalen130. Von diesen Erzeugnissen hatten die letzteren die größte Bedeutung und 122
Maassen, Geschichte der Quellen 828 – 833; Van Hove 277; Stickler 103; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich, Reg., vor allem 109 – 143; ders., Die historische Wirkung der Collectio Herovalliana: Zeitschrift für Kirchengeschichte 81 (1970) 220 – 243. 123 Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 114, 143. 124 Erste Edition: Luc d’Achery, Veterum aliquot scriptorum qui in Galliae Bibliothecis, maxime Benedictinorum latuerant, spicilegium Bd. 11, Paris 1672, S. 1 – 200; zweite Edition: Louis-Francois-Joseph de la Barre, Spicilegium sive collectio veterum aliquot scriptorum qui in Galliae Bibliothecis delituerant, Bd. 1, Paris 1723, S. 509 – 564. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 848 – 852; Van Hove 293 f.; Stickler 110 f.; Hubert Mordek, Zur handschriftlichen Überlieferung der Dacheriana: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47 (1967) 574 – 595; ders., Dacheriana: LMA III, 1986, 426. 125 Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 260 – 263. 126 Emil Seckel, Pseudoisidor: RE 16 (31905) 265 – 307. Die übrige Literatur bei Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, XV–LI. 127 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 151 – 161; Van Hove 303; Stickler 127 f. 128 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 161 – 163; Van Hove 237, 303 f.; Stickler 128. 129 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 163 – 167; Van Hove 304 f.; Stickler 128 – 131. 130 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen I, 167 – 191; Van Hove 305 – 311; Stickler 131 – 142.
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gewannen die weiteste Verbreitung. Die Masse der Abschriften der pseudoisidorischen Dekretalen liegt im 9. Jahrhundert. Sie waren aber auch im 10. Jahrhundert nicht vergessen. Auf den Synoden von Hohenaltheim (916) und Ingelheim (948) wurden pseudoisidorische Dekretalen angeführt131. Auf der Synode von S. Bâle bei Reims 991 wurde aus zwei Exemplaren Pseudoisidors zitiert132. Um 1000 ließ der Abt Odilo von Cluny eine Handschrift der pseudoisidorischen Dekretalen anfertigen133. Die pseudoisidorischen Dekretalen lebten weiter in zahlreichen systematischen Sammlungen, die teilweise erhebliche Massen daraus bezogen. l) Die Collectio Anselmo dedicata So enthielt die etwa in den Jahren 882 bis 896 in Oberitalien entstandene Collectio Anselmo dedicata134 u. a. zahlreiche pseudoisidorische (und römisch-rechtliche) Texte. Die Sammlung war in ihrem Ursprungsgebiet im ganzen 10. Jahrhundert herrschend und fand auch in Deutschland und im Rheintal zwischen der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 11. Jahrhunderts einige Verbreitung135. Um die Wende zum 10. Jahrhundert wurde auf der Reichenau eine Abschrift der Collectio Anselmo dedicata angefertigt136.
131 Horst Fuhrmann, Die pseudoisidorischen Fälschungen und die Synode von Hohenaltheim (916): Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 20 (1957) 136 – 151; ders., Die Synoden von Ingelheim, in: Ingelheim am Rhein. Hrsg. von Johanne Authenrieth, Stuttgart 1964, 147 – 173. 132 MGH Scriptorum Tomus III, Hannover 1838 (Nachdruck: Leipzig 1925), p. 666, I. 34 – 36: Facto igitur silentio, diversarum partium multiplicia librorum volumina subito apparuerunt. Multa denique in medium prolata, multa inter considentes collata, ingens spectaculum praebuerunt; p. 668, I. 64 – 66: Allatus est autem etiam tomus ab Lothariensi regno per manus Ratbodi episcopi Noviomensis, in quo haec continebantur: Ex decretis sancti Clementis papae … 133 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen III, 768. 134 Collectio Anselmo dedicata. Étude et Texte. Extraits. Hrsg. von Jean-Claude Besse, Paris 1960. Vgl. Van Hove 232, 314; Stickler 150; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 235 – 243. 135 Carlo Guido Mor, La recezione del diritto romano nelle collezioni canoniche dei secoli IX–XI in ltalia e oltr’Alpe, in: Acta congressus iuridici internationalis. VII saeculo a decretalibus Gregorii IX et XIV a Codice Iustiniano promulgatis. Romae 12 – 17 Novembris 1934, II, Rom 1935, 281 – 302, hier 297; Paul Fournier, L’origine de la collection ,,Anselmo dedicata“, in: Mélanges Paul Frédéric Girard. Études de droit romain dédiées à M. P. F. Girard à l’occasion du 60e anniversaire de sa naissance, Paris 1912 (Nachdruck: Aalen 1979), I, 475 – 498; Hubert Mordek, Analecta canonistica I: Bulletin of Medieval Canon Law N. S. 16 (1986) 1 – 16. 136 Kottje, Kirchenrechtliche Interessen im Bodenseeraum vom 9. bis 12. Jahrhundert 30.
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m) Die Bußbücher Eine zu der Zeit um 1000 noch hochwichtige Literaturgattung waren die Bußbücher137. Die älteren Werke reichen bis ins 6. Jahrhundert zurück. Zu ihnen traten im 7. und 8. Jahrhundert zahlreiche neue bzw. neu zusammengestellte Werke. Lange Zeit waren die irischen Bußbücher herrschend. Ihre andauernde Verwendung erklärt sich aus dem anhaltenden Bedürfnis. Etwa bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts wurden im Norden des westfränkischen Reiches noch Abschriften irischer Bußbücher angefertigt138. „Offensichtlich endete zumindest außerhalb von Nordfrankreich und England seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts das Interesse an den irischen Bußbüchern fast völlig“139. Die Anleihen bei ihnen hörten regelmäßig auf. „Seit dem 10. Jahrhundert sind Bestimmungen irischer Bußbücher auf dem Kontinent nur noch selten in ein neues Bußbuch oder eine Rechtssammlung übernommen worden.“140 Im 9. Jahrhundert traten relativ gediegene Werke dieser Literaturgattung ans Licht. Halitgar von Cambrai (817 – 831) schrieb ein umfangreiches Bußbuch141. Hrabanus Maurus, der Abt von Fulda und spätere Erzbischof von Mainz, verfaßte zwischen 830 und 837 zwei Bußbücher142. Im zweiten oder dritten Viertel des 9. Jahrhunderts entstand in der Kirchenprovinz Reims der Quadripartitus143, „ein der Kirchenreform des 9. Jahrhunderts verpflichtetes, insbesondere für die Verwaltung des Bußsakramentes bestimmtes Handbuch von besonderer Qualität, klarer Gliederung und eindrucksvollem Zitatbestand“144. Diese (und andere) Werke waren um 1000 greifbar und nach wie vor in Gebrauch. Es bestand die (begrenzte) Möglichkeit der Auswahl zwischen ihnen, die freilich ein gewisses Unterscheidungsvermögen voraussetzte.
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Raymund Kottje, Bußbücher: LMA II (1983) 1118 – 1122. Raymund Kottje, Überlieferung und Rezeption der irischen Bußbücher auf dem Kontinent, in: Löwe, Die Iren und Europa im früheren Mittelalter I, 511 – 524, hier 517. 139 Kottje, Überlieferung und Rezeption der irischen Bußbücher auf dem Kontinent 522. 140 Kottje, Überlieferung und Rezeption der irischen Bußbücher auf dem Kontinent 521. 141 PL 105, 651 – 710. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 863 – 869; Raymund Kottje, Die Bußbücher Halitgars von Cambrai und des Hrabanus Maurus. Ihre Überlieferung und ihre Quellen (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters Bd. 8), Berlin/New York 1980. 142 PL 110, 467 – 494; PL 112, 1397 – 1424. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 870 – 871; Van Hove 296; Stickler 113. 143 Maassen, Geschichte der Quellen 852 – 863; Franz Kerff, Der Quadripartitus. Ein Handbuch der karolingischen Kirchenreform. Überlieferung, Quellen und Rezeption (= Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter Bd. 1), Sigmaringen 1982. 144 Kerff, Der Quadripartitus 84. 138
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n) Bischöfliche Rechtssammlungen In der Zeit von 800 bis 950 entstanden die Capitula Episcoporum145, d. h. disziplinäre bischöfliche Anordnungen für Klerus und Volk, die in Kapitel eingeteilt waren. „Die bischöflichen Rechtssammlungen sind eine typisch karolingische Einrichtung.“146 Ihre Eigenart gegenüber Kirchenrechtssammlungen besteht darin, daß sie stets von einem Bischof ausgehen und daß ihr Geltungsbereich auf dessen Bistum beschränkt ist147. Wenn sie als eine geglückte Zusammenstellung praktischer Bestimmungen gewertet wurden, gewannen sie über die Grenzen des Sprengels jenes Bischofs, der sie erlassen hatte, Wirksamkeit. Einen gewaltigen, andauernden Erfolg hatte die ca. 821 anzusetzende erste Rechtssammlung des Theodulf von Orléans148. Sie wurde in Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und England von mindestens 80 Rechtssammlungen unmittelbar oder mittelbar rezipiert149. Noch in der Reformzeit des 11. Jahrhunderts griff man in hohem Maße auf die Rechtssammlungen Theodulfs von Orléans zurück150. Die Gründe für die starke Verbreitung des ersten bischöflichen Kapitulars Theodulfs von Orléans sind die Kürze und Prägnanz, die Eigenständigkeit und die Zeitgemäßheit der Bestimmungen151. 2. In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts entstand eine beträchtliche Zahl von Sammlungen, die jedoch meistens keine weite Verbreitung fanden. Es scheint tatsächlich, daß das 10. Jahrhundert weniger günstige Voraussetzungen für die Beschäftigung mit dem Kirchenrecht bot. Einige der Kompilationen aus jener Zeit seien vorgestellt. a) In Deutschland entstandene Sammlungen Zu Beginn des 10. Jahrhunderts verfertigte der Abt Regino von Prüm sein Sendhandbuch (Libri duo de synodalibus causis et ecclesiasticis disciplinis)152. Die 145 Peter Brommer, Capitula episcoporum. Bemerkungen zu den bischöflichen Kapitularien: Zeitschrift für Kirchengeschichte 91 (1980) 207 – 236; ders., Capitula episcoporum: LMA II (1983) 1479 f.; Van Hove 184 – 186; Stickler 114 – 116. 146 Brommer, Die bischöfliche Gesetzgebung Theodulfs von Orléans 36. 147 Brommer, ,,Capitula Episcoporum“ 13. 148 Van Hove 184; Stickler 114 f. 149 Peter Brommer, Die Rezeption der bischöflichen Kapitularien Theodulfs von Orléans: ZSavRG.Kan 61 (1975) 113 – 160, hier 145 f. 150 Brommer, Die Rezeption der bischöflichen Kapitularien Theodulfs von Orléans 159. 151 Brommer, Die Rezeption der bischöflichen Kapitularien Theodulfs von Orléans 159. 152 Reginonis Abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis. Hrsg. von Friedrich Wilhelm A. Wasserschleben, Leipzig 1840 (Nachdruck: Graz 1964). Vgl. Van Hove 238, 263, 317 f.; Stickler 146 f.; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 244 – 268; Gerhard Schmitz, Ansegis und Regino. Die Rezeption der Kapitularien in den Libri duo de synodalibus causis: ZSavRG.Kan 74 (1988) 95 – 132.
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Zahl der erhaltenen Handschriften spricht für den Erfolg des Werkes; es hat im 10. Jahrhundert in den Rheinlanden eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Weiterer Verbreitung stand der Gegenstand des Handbuchs, das Sendverfahren, aber auch seine Unbedenklichkeit gegenüber kaiserlichen Eingriffen in die Kirche entgegen. Die Sammlung in 4 Büchern des Cod. ms. Col. 124 und das Dekret Burchards von Worms schöpften aus ihm. In Deutschland erwuchsen im 10. Jahrhundert mehrere kleinere Sammlungen wie die Collectio 98 capitulorum (Capitula ex canonibus Sanctorum/Patrum)153, die erwähnte Sammlung in 4 Büchern Cod. ms. 124 Capituli Cathedralis Coloniensis154, die in der Gegend von Augsburg entstandene Collectio Wormatiensis155 und die ebenfalls aus Süddeutschland stammende Collectio 77 Capitulorum Clm 3853156. Im Regensburger Kloster St. Emmeram entstand zu Beginn des 10. Jahrhunderts eine Kirchenrechtssammlung (Clm 14628), die als Blütenlese kanonistisch relevanter Texte zu bezeichnen ist. Der Kompilator wählte aus seinen Quellen sorgfältig aus, was er aufnahm, besaß Kenntnis des jüngsten Rechts seiner Zeit und bearbeitete teilweise auch die übernommenen Texte157. In dem Ms. IX, 32 Monasterii Salisburgensis S. Petri finden sich weitere vier Sammlungen des Kirchenrechts, von denen wenigstens drei in Deutschland ihren Ursprung haben, eine wohl in Frankreich158. Auch Capitula episcoporum traten noch ans Licht. Ein Beispiel sei genannt. Erzbischof Ruotger von Trier (915 – 930) verkündete 927 auf einer Provinzialsynode eine solche Rechtssammlung für sein Bistum159. b) In Italien und Frankreich entstandene Sammlungen In der Gegend von Lyon dürften die beiden aus dem 10. Jahrhundert stammenden Sammlungen des Cod. ms. Trecensis 1406 und des Cod. Parisiensis 2449 ihren Ursprung haben160. In Süditalien entstanden zu Anfang des 10. Jahrhunderts die 153 Stickler 148; Van Hove 298, 319; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 290 – 292. 154 Stickler 148; Van Hove 263, 319; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 283 – 290. 155 Stickler 148; Van Hove 319; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 280 – 283. 156 Stickler 148; Van Hove 319; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 277 – 280. 157 Landau, Kanonistische Aktivität in Regensburg im frühen Mittelalter 64 – 67; Van Hove 319; Stickler 148. 158 Stickler 148; Van Hove 319; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 305 – 310. 159 Michael Blasen, Die Canonessammlung des Erzbischofs Ruotger von Trier vom Jahre 927. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Diözese Trier: Pastor bonus 52 (1941) 61 – 72. Vgl. Van Hove 185 f.; Stickler 115. 160 Stickler 149; Van Hove 317; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 217.
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Sammlung des Ms. T XVIII Bibl. Vallicell.161 und ca. 920 bis 930 die Sammlung in 9 Büchern des Cod. ms. Vat. lat. 1349 mit 1300 Kapiteln162. Zwischen 910 und 920 wurde in Mittel- oder Süditalien die kleine Sammlung „De episcoporum transmigratione et quod non temere iudicentur“ des Cod. ms. Vallicell. T. XVIII zusammengestellt; sie umfaßt 44 Kapitel163. Um die Mitte des 10. Jahrhunderts verfaßte Atto, Bischof von Vercelli, sein Capitulare164. c) Bußbücher Auch nach Pseudoisidor bis zur Gregorianischen Reform erschienen noch Pönitentialien165. Die Praxis verlangte eben nach dieser Literaturgattung. Vom Ende des 9. bis zum 11. Jahrhundert entstand eine Anzahl von Bußbüchern, von denen drei Gruppen Ursprünglichkeit beanspruchen können: die pseudorömische Reihe, die angelsächsische Reihe und das Bußwerk Burchards von Worms166. Zu der ersten Reihe gehören das Poenitentiale Pseudo-Gregorii III, das Poenitentiale Cassinense, das Poenitentiale Parisiense I, das Poenitentiale Vallicellianum I, das Poenitentiale Vallicellianum E. 62, das Poenitentiale Vallicellianum C. 6, das Poenitentiale von Arundel, das Poenitentiale Vallicellianum F. 92 und das Poenitentiale Vallicellianum B. 58167, zu der zweiten Reihe das Confessionale Pseudo-Egberti, das Altenglische Poenitentiale Pseudo-Egberti, die Theodorschen Canones und das Alte Englische Handbuch für den Gebrauch eines Beichtvaters168, zu der dritten Reihe das 19. Buch des Dekrets Burchards, der Corrector sive Medicus, und die Bußsammlungen, die auf Burchards Dekret zurückgehen, vor allem die Summa de iudiciis omnium peccatorum169. Seit dem 11. Jahrhundert nahm der Einfluß dieser Literaturgattung jedoch ab. An ihre Stelle traten andere Hilfsmittel. Diese (lückenhafte) Aufstellung der bis etwa 950 entstandenen Kirchenrechtssammlungen zeigt, daß um 1000 ein Kirchenrechtsbeflissener keinen Mangel an 161
Paul Fournier, Un groupe de recueils canoniques italiens des Xe et XIe siècles: Mémoires de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 40 (1915) 95 – 212, hier 96 – 123; Stickler 151; Van Hove 315; Fournier, Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 270. 162 Van Hove 3 l5; Stickler l5 l; Fournier, Un groupe de recueils canoniques italiens des Xe e et XI siècles 124 – 158. 163 Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 339 f.; Stickler 151; Van Hove 315. 164 PL 134, 27 – 52. Vgl. Stickler 115; Van Hove 186; S. F. Wemple, The Canonical Resources of Atto of Vercelli (926 – 960): Traditio 26 (1970) 343 f.; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 112, Anm. 64. 165 C. Vogel/A. J. Frantzen, Les ,,Libri Paenitentiales“ (= Typologie des sources du moyen âge occidental Fasc. 27), Turnhout 1985, 84 – 88. 166 Vogel/Frantzen, Les ,,Libri Paenitentiales“ 37. 167 Vogel/Frantzen, Les ,,Libri Paenitentiales“ 38 f. 168 Vogel/Frantzen, Les ,,Libri Paenitentiales“ 39 f. 169 Vogel/Frantzen, Les ,, Libri Paenitentiales“ 40 – 42.
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älteren Kompilationen, die er einsehen konnte, hatte. Gewiß war nicht jedes Werk einem jeden zugänglich oder auch nur zusagend; Sammlungen regionalen Zuschnitts hatten eben bloß einen begrenzten Anwendungsbereich. Doch war es bei Einsatz entsprechender Mittel möglich, nicht nur Kenntnis von Kollektionen zu erlangen, die in weit entfernten Gegenden entstanden waren, sondern auch ganze oder Teilabschriften von ihnen herstellen zu lassen. Wer um 1000 kirchenrechtlich arbeitete, war aber nicht allein auf Werke angewiesen, die mehr oder weniger lang zurückliegenden Zeiten entstammten; es wurden nicht nur frühere Kirchenrechtssammlungen weiterbenutzt und abgeschrieben, sondern es entstanden auch neue Sammlungen.
IV. Neu entstehende Sammlungen um 1000 1. In Italien In Italien gab es rechtsschöpferische Tätigkeit in den ersten 30 Jahren des 10. Jahrhunderts; danach brach sie ab, und es klaffte eine große Lücke. Die Gründe für den Rückgang waren vermutlich mehrere. Das 10. Jahrhundert trägt nicht zu Unrecht den Namen des Saeculum obscurum. Die Päpste waren vielfach schwach, ja ohnmächtig, teilweise ungeistlich und unwürdig. Auseinandersetzungen und Kämpfe in Italien waren kulturellen Bestrebungen nicht förderlich. Das Bildungswesen lag darnieder. Erst nach der Jahrhundertwende wurden wieder Kirchenrechtssammlungen in Italien hergestellt. In Süditalien waren die Sammlungen, die von jener in 9 Büchern abhängen, zahlreich. Größere Bedeutung erlangte jene in 5 Büchern des Cod. ms. Vat. lat. 1339, der Liber canonum ex multis sententiis patrumque dictis defloratus; sie entstand um 1014 wohl in Benevent oder Monte Cassino und erlebte mehrere Rezensionen170. Von ihr hängen wiederum 11 andere Sammlungen ab, die vor dem Ende des 11. Jahrhunderts entstanden171. Die kleineren Sammlungen Italiens seien wenigstens genannt: die Collectio Florentina monasterii S. Crucis172, die Collectio Cod. ms. F. 54. Bibl. Vallicell.173, die Collectio Cod. ms. F. 92. Bibl. Vallicell.174, die
170 Collectio canonum in V libris (lib. I–III). Hrsg. von Mario Fornasari (= Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis VI), Turnhout 1970. Vgl. Van Hove 316; Stickler 153; Mor, La recezione 299; Collectio canonum Regesto Farfensi inserta. Hrsg. von Theo Kölzer (= Monumenta Iuris Canonici Series B: Corpus Collectionum Vol. 5), Città del Vaticano 1982, 48 – 55; Fournier, De l’influence de la collection irlandaise sur la formation des collections canoniques 128 f.; ders., Un groupe de recueils canoniques italiens des Xe et IXe siècles 159 – 189. 171 Van Hove 316; Mor, La recezione 300. 172 Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 445 f. 173 Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 444 f.
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Collectio Cod. ms. F. 8. Bibl. Vallicell.175, die Collectio Cod. ms. E. 62. Bibl. Vallicell.176, die Collectio Cod. ms. F. 2. Bibl. Vallicell.177, die Collectio poenitentialis V librorum Bibl. Taurinensis178, die Collectio Cod. ms. Vat. lat. 3830179 und die Collectio Veronensis (Verona LXIV, früher: 62)180. 2. In Frankreich Das 10. Jahrhundert war auch für Frankreich keine günstige Zeit. Unruhen und Kämpfe erschütterten das Land, das Königtum war schwach. Der Klerus stand weithin nicht auf der Höhe seiner Berufung, das Klosterwesen lag darnieder. So war das kulturelle Leben schwach. Was die Herstellung von Kirchenrechtssammlungen betrifft, ist um das Jahr 1000 eine stärkere kompilatorische Tätigkeit nicht zu erkennen. Doch gibt es eine bedeutsame Ausnahme von der allgemeinen Unfruchtbarkeit. Abbo von Fleury verfaßte zwischen 988 und 996 seine Sammlung von 52 Kapiteln181. Diese Kompilation zeigt eine relativ beachtliche wissenschaftliche Methode. Noch ins 10. Jahrhundert fallen die zwei Sammlungen des Cod. ms. H. 137 Montispessulani182. Weit nach der Jahrhundertwende, nämlich im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts, entstand die Collectio Odoramni183.
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Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I,
177 Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 449 – 451. 178 Stickler 154; Van Hove 297; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 451 – 453. 179 Stickler 154; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 453 f. 180 Peter Landau, Die Collectio Veronensis: ZSavRG.Kan 67 (1981) 75 – 120; Stickler 160; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques II, 116 – 118. 181 PL 139, 471 – 508. Vgl. Stickler 148 f.; Van Hove 238 f., 317, 418, 420 f.; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 320 – 330; Gian Andri Bezzola, Das ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Bd. XVIII), Graz–Köln 1956, 146 – 163. 182 Stickler 149; Van Hove 317; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 311 f. 183 Stickler 149; Van Hove 317.
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3. In Deutschland In Deutschland war die politische und geistige Lage im 10. Jahrhundert etwas günstiger als in Italien und Frankreich. Um die Jahrtausendwende erschien hier ein Werk, das die meisten seiner Vorgänger in den Schatten stellte. a) Vor Burchards Dekret Um das Jahr 965 entstand wohl in St. Maximin zu Trier die Collectio Cod. ms. Helmsted. 454 Bibl. Guelferbytanae (Wolfenbüttel)184. Sie zählt 223 Kapitel, an die weitere 11 Fragmente angehängt sind, und ist mit einer Capitulatio ausgestattet. In den Jahren 950 bis 961 oder 963/964 wurde in Mainz das sogenannte römischgermanische Pontifikale redigiert185. Mehrere Redaktoren wirkten bei seiner Erstellung zusammen, selbstverständlich unter der Leitung oder mit der Gutheißung eines hohen kirchlichen Würdenträgers, vermutlich des Erzbischofs Wilhelm (954 – 968)186. Schon bei der Anfertigung weiterer Exemplare des Pontifikales in Mainz wurden vermutlich Veränderungen vorgenommen, so daß mehrere Rezensionen des Werkes entstanden187. Als man es abschrieb, wurden erneut Änderungen angebracht188. Jedenfalls vor 1100189 erschien der bedeutsame Traktat De immunitate et sacrilegio ac de clericalium graduum compositione et indutiis190. Hier werden nicht lediglich Kanones, Dekretalen und anderes Material gesammelt, sondern hier werden Themen systematisch abgehandelt, wobei die gesetzlichen Bestimmungen als Belege verwendet werden. Der Traktat ist ,,eine theoretische Abhandlung mit eleganten Begriffsbestimmungen und gekonnter Autoritätenauswahl als Beleg für die
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Stickler 148; Van Hove 319; Max Sdralek, Wolfenbüttler Fragmente. Analekten zur Kirchengeschichte des Mittelalters aus Wolfenbüttler Handschriften (= Kirchengeschichtliche Studien I, 2), Münster 1891, 86 – 100; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 300 – 305. 185 Le Pontifical romano-germanique du dixième siècle, 3 Bde. Hrsg. von Cyrille Vogel/ Reinhard E1ze (= Studi e Testi 226, 227, 269), Città del Vaticano, 1963 – 72, I, XVI–XVII. 186 Vogel/Elze, Le Pontifical romano-germanique III, 29. 187 Vogel/Elze, Le Pontifical romano-germanique III, 29. 188 Vogel/Elze, Le Pontifical romano-germanique III, 29. 189 Die jüngste Quelle ist das Konzil von Tribur (895). 190 Text bei Franz Xaver Kraus, Zur kirchenrechtlichen Literatur des elften Jahrhunderts: Österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie 8 (1869) 573 – 590, hier 579 – 590. Vgl. Hubert Mordek, Systematische Kanonessammlungen vor Gratian: Forschungsstand und neue Aufgaben, in: Proceedings of the Sixth International Congress of Medieval Canon Law, Berkeley, California, 28 July – 2 August 1980. Hrsg. von Stephan Kuttner/Kenneth Pennington (= Monumenta Iuris Canonici Series C: Subsidia Vol. 7), Città del Vaticano 1985, 185 – 201.
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erörterten Fragen“191. Er ist in mancher Hinsicht der Reflexionsmethode Gratians ähnlich. Diese Arbeit ist von hoher Bedeutung. b) Das Dekret Burchards von Worms Etwa im Jahre 1014 entstand ein Großwerk, das mit einem Schlage die Lage der kirchenrechtlichen Literatur veränderte, das Dekret des Burchard, Bischofs von Worms192. Diese Sammlung ist ,,der vollständigste Ausdruck der Kenntnis der kanonischen Texte, die, wenig nach dem Jahr 1000, ein Geistlicher der Rheinlande besitzen konnte“193. Sie ist gekennzeichnet durch Zeitgemäßheit und Praxisbezug. Burchards Dekret gab die Gesetzgebung seiner Zeit wieder und war für den täglichen Gebrauch angelegt194. Wenige Sammlungen hatten einen Erfolg, der sich mit jenem dieses Werkes vergleichen läßt. Zahlreiche Sammlungen und Auszüge, die Material von ihm bezogen, bezeugen ihn195. Gewisse ältere Sammlungen wurden fortan obsolet, beispielsweise die Collectio Anselmo dedicata196. Das Dekret Burchards ist vermutlich neben der Panormia Ivos die am weitesten verbreitete vorgratianische Rechtssammlung der systematischen Ordnung gewesen197. Paul Fournier nennt das Dekret Burchards ,,le véritable code canonique du XI siècle“198. Selbst zur Zeit der Gregorianischen Reform behauptete es sich199. In den Schriften des Petrus Damiani wurden das Dekret Burchards und die Collectio Hadriana aucta an erster Stelle herangezogen200. 191 Hubert Mordek, Auf der Suche nach einem verschollenen Manuskript … Friedrich Maassen und der Traktat De immunitate et sacrilegio et singulorum clericalium ordinum compositione, in: Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag und fünfzigjährigen Doktorjubiläum. Hrsg. von Hubert Mordek, Sigmaringen 1983, 187 – 200, hier 189. 192 Max Kerner, Burchard I., Bf. v. Worms. II. Kirchenrechtliche Sammlung und Hofrecht: LMA II (1983) 947 – 951. 193 Paul Fournier, Yves de Chartres et le droit canonique: Revue des questions historiques 63 = N. S. 19, Année 32 (1898) 51 – 98, 384 – 405, hier 385. 194 Paul Fournier, Le Décret de Burchard de Worms. Ses caractères, son influence: Revue d’histoire ecclésiastique XII, 1 (1911) 451 – 473, 670 – 701, hier 688 f. 195 Fournier, Le Décret de Burchard de Worms 695 – 701. 196 Peter Brommer, Ein Koblenzer Fragment der Collectio Anselmo dedicata: Bulletin of Medieval Canon Law N. S. 9 (1979) 82 f. 197 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 450. 198 Fourner, Yves de Chartres et le droit canonique 387. 199 Hubert Mordek, Handschriftenforschungen in Italien. I. Zur Überlieferung des Dekrets Bischof Burchards von Worms: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 51 (1971) 626 – 651; ders., Kanonistik und gregorianische Reform 73; ders., Bemerkungen zum mittelalterlichen Schatzverzeichnis von Porto/Rom, in: Studia Gratiana XX (1976) 231 – 240, hier 240, Anm. 33. 200 John Joseph Ryan, Saint Peter Damiani and his canonical sources. A preliminary study in the antecedents of the gregorian reform (= Pontifical Institute of Mediaeval Studies. Studies and Texts 2), Toronto 1956, 134 f.
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c) Nach Burchards Dekret Im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts entstand in Deutschland die Sammlung in 77 Kapiteln des Codex Gud. 212 Wolf. f. 49a–51b201. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus Buch I bis XVI von Burchards Dekret. Weitere Sammlungen aus dem 11. Jahrhundert sind die Collectio Diessensis II (Clm 5541)202 und die Summa de corpore canonum excerpta de iudiciis omnium peccatorum203. Spätestens im 11. Jahrhundert entstand die Collectio de ecclesiasticis officiis204. Zwischen 1020 und 1050 wurde in Süddeutschland die Collectio XII partium hergestellt. Mit ihren 2874 Kapiteln übertrifft sie Burchards Dekret an Umfang, aus dem sie auch an erster Stelle geschöpft hat205. Sie liegt in drei Rezensionen vor. Man mag angesichts dieser (bruchstückhaften) Übersicht zu dem Urteil kommen, daß die kompilatorische Aktivität im Kirchenrecht um das Jahr 1000 ziemlich bescheiden war. Tatsächlich gibt es Perioden der Rechtsgeschichte, die fruchtbarer waren. Dennoch wurde auch in der genannten Zeit das Kirchenrecht mit den Mitteln, die von der Vergangenheit bereitgestellt worden waren, bearbeitet.
V. Die Veränderungen von Rechtssammlungen 1. Mehrfache Auflagen Man verstand sich um das Jahr 1000 nicht nur auf die Benutzung hergebrachter und die Anfertigung neuer Rechtssammlungen; man wußte auch überkommene Kompilationen auf den neuesten Stand zu bringen. Dies war notwendig; denn die Entwicklung des Rechts schritt voran, veränderte Bedürfnisse riefen nach kanonistischer Bewältigung. Zahlreiche Sammlungen wurden daher nicht allein abgeschrieben, sondern im Gang der Überlieferung verändert. Neues Material kam hinzu, bisher mitgeführter Stoff wurde ausgeschieden, beibehaltene Texte wurden entsprechend den Erfordernissen der Zeit den Intentionen des Auftraggebers und 201
Sdralek, Wolfenbüttler Fragmente 5, 6, 42 – 46; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 416 f. 202 Stickler 159; Van Hove 321; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 442 – 444; Max Sdralek, Handschriftlich-kritische Untersuchungen über eine Gruppe von Briefen Papst Nicolaus I.: AfkKR 47 (1882) 177 – 215; Victor Krause, Die Acten der Triburer Synode 895: Neues Archiv 17 (1892) 49 – 82, 281 – 326. 203 Stickler 159; Van Hove 299; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 432 – 434. 204 Landau, Die Collectio Veronensis 83 f. 205 Stickler 159; Van Hove 263, 321; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 434 – 442; Hermann Wasserschleben, Beiträge zur Geschichte der vorgratianischen Kirchenrechtsquellen, Leipzig 1839, 34 – 46; Viktor Krause, Die Handschriften der Collectio XII partium. Die münchener Handschriften 3851 und 3853: Neues Archiv 19 (1894) 87 – 139; Paul Fournier, La collection canonique dite Collectio XII partium: Revue d’histoire ecclésiastique 17 (1921) 31 – 62, 224 – 259.
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den Zielen des Bearbeiters modifiziert, die Rubriken wurden verändert, die lnskriptionen präzisiert. Man kann so von verschiedenen Auflagen ein und desselben Werkes sprechen. Diese konnten den (ursprünglichen) Kompilator oder spätere Benutzer zum Urheber haben. Schon Dionysius Exiguus veranstaltete drei Sammlungen oder besser drei Versionen seiner Sammlung von Konzilskanones206 was auf fortschreitendes wissenschaftliches Bemühen deutet. Die Collectio Hispana erfuhr ebenfalls zahlreiche Rezensionen, d. h. verbesserte und vermehrte Neuauflagen207, von denen bereits oben die Rede war. Von der Collectio Dacheriana wurde einige Jahrzehnte später eine interpolierte Rezension hergestellt208. Die Sammlung in 5 Büchern des Cod. ms. Vat. lat. 1339 erlebte mehrere Auflagen209. Ebenso existieren etliche Rezensionen von Burchards Dekret210. Diese Beispiele zeigen die unermüdliche Arbeit am Text im Dienste der sich wandelnden Bedürfnisse. 2. Die Erweiterung von Rechtssammlungen Häufig wurden einmal geschaffene Sammlungen vom Verfasser oder von anderen dadurch verändert, daß man sie erweiterte und vervollständigte, indem man Anhänge und Zusätze verfaßte. Die Urheber dieser Beigaben scheuten regelmäßig vor Eingriffen in den einmal vorliegenden Text zurück. Die Ergänzung erschien ihnen jedoch angebracht oder sogar unumgänglich. So fügten sie ihre abrundenden oder aktualisierenden Fragmente innerhalb der Sammlung oder an ihrem Ende ein. Einige Beispiele für dieses Verfahren. Die Sammlung der Handschrift von Corbie (Cod. ms. lat. Sangerman. 936) wurde in späterer Zeit mit Anhängen versehen211. Die Sammlung der Handschrift von Lorsch (Cod. ms. Vat. Pal. 574) bringt ebenfalls mehrere, vermutlich sukzessive entstandene Zusätze212. Die irische Kanonensammlung wurde erheblich erweitert und vervollständigt213. Die Collectio Vetus Gallica wurde durch Auszüge aus der Collectio Hibernensis und dem sogenannten Bußbuch Theodors von Canterbury angereichert214. Zu der Collectio Hispana wurden Zusätze beigefügt, vor allem zu ihrem ersten Teil, so daß die Collectio Hispana
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Stickler 46 – 48; Van Hove 157 – 160. Stickler 78 – 84; Van Hove 280 – 282, 293. 208 Gabriel Le Bras, Les deux formes de la Dacheriana, in: Mélanges Paul Fournier, Paris 1929, 395 – 415; Stickler 111; Van Hove 293 f.; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 103 – 107. 209 Augustin Theiner, Disquisitiones criticae in praecipuas canonum et decretalium collectiones, Rom 1836, 271 – 290; Stickler 153; Van Hove 316; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 421 – 431. 210 Stickler 159; Max Kerner, Burchard I., Bf. v. Worms: LMA 11 (1983) 946 – 950. 211 Maassen, Geschichte der Quellen 568 – 572. 212 Maassen, Geschichte der Quellen 590. 213 Wasserschleben, Die irische Kanonensammlung XXV–XXVII; Stickler 93. 214 Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 86. 207
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adaucta 36 spanische Konzile enthält215. Zu der Collectio Dionysio-Hadriana traten Adnotationes216. Dem Werk Reginos von Prüm wurden nach und nach drei Appendices beigegeben217, die allesamt nicht von Regino selbst stammen. Der Sammlung des Benedikt Levita sind vier Additiones angehängt218. Auf diese Weise gedachte man die Sammlungen zu verbessern und ihre Anwendbarkeit zu gewährleisten. 3. Auszüge aus Rechtssammlungen Die Herstellung von Handschriften war mühsam und kostspielig. Je umfangreicher der Text war, um so größer war die Mühe und um so höher waren die Kosten. Häufig fand nicht der gesamte Stoff einer Sammlung das Interesse ihrer Benutzer. So erklärt es sich, daß Sammlungen nicht mit ihrem vollen Inhalt weitergegeben wurden, sondern lediglich Teile derselben219 ; es entstanden die Breviarien und die Excerpta. Breviarien sind Werke, in denen die Quellen in abgekürzter, gestraffter Weise wiedergegeben, gewissermaßen Summarien hergestellt werden. Diese Gattung ist weniger häufig als die Excerpta. Einige Beispiele seien genannt. Das Breviarium Hipponense oder die Breviatio concilii Hipponensis enthielt die Inhaltsangaben des Konzils zu Hippo vom Jahre 393220. Berühmt ist die Breviatio Canonum des Fulgentius Ferrandus. Dieser Autor gab in seinem Werk die Bestimmung kurz an und verwies auf die begründenden Quellenstellen221. Von der Concordia Canonum des Cresconius existiert auch ein Breviarium222. Die Sammlung der Handschrift von Lorsch (Cod. ms. Vat. Pal. 574) enthält von zahlreichen Fragmenten lediglich Exzerpte223. Die Sammlung der Handschrift von Albi (Cod. ms. Albig. 2) bietet ebenfalls von vielen Texten nur Exzerpte224. Die Sammlung der burgundischen Handschrift (Cod. ms. Burgund. 8780 – 8793) enthält die Fragmente teils mit ihrem vollen Text, teils exzerpiert225. In der kleinen Sammlung der Hand215
Maassen, Geschichte der Quellen 704 – 710; Stickler 82; Van Hove 281 f. Maassen, Geschichte der Quellen 452 – 465; Van Hove 268. 217 Wasserschleben, Libri duo de synodalibus causis XIII f., 393 – 495; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 246. 218 MGH Leges II, pars 2, Hannover 1837, 17 – 158; PL 97, 699 – 912, hier 861 – 912. Vgl. Van Hove 304 f.; Stickler 130 f.; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 168 – 171, 190 – 192. 219 Gérard Fransen, Les abrégés de collections canoniques. Essai de typologie: Revue de droit canonique 28 (1978) 157 – 166. 220 Bruns I, 134 – 139; Munier, Concilia Africae 20 – 53; Maassen, Geschichte der Quellen 155; Van Hove 152. 221 Maassen, Geschichte der Quellen 799 – 802; Van Hove 265 f.; Stickler 74. 222 Maassen, Geschichte der Quellen 807, 812 f.; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 254 f. 223 Maassen, Geschichte der Quellen 590. 224 Maassen, Geschichte der Quellen 592. 225 Maassen, Geschichte der Quellen 636. 216
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schrift von Corbie (Cod. ms. lat. Sangerm. 936) werden die Canones lediglich mit den Anfangsworten zitiert226. Auch in der Zeit der Gregorianischen Reform wurde noch eine derartige Abkürzung hergestellt. Ich erwähne das Breviarium des Kardinals Atto227. Anders als um die Breviarien steht es um die Excerpta. Hier werden die Fragmente der Vorlage ganz, aber nur ein Teil der gesamten Menge der Texte aufgenommen. Die Auszüge gestatteten, die Materien, auf die es im konkreten Fall ankam, gesondert zusammenzustellen. Auf diese Weise war ihre Verbreitung eher und rascher möglich, als wenn die ganze Sammlung tradiert werden sollte. Daß von einem Werk Auszüge angefertigt wurden, war im Mittelalter ein sicheres Zeichen dafür, daß es als brauchbar empfunden und mit Eifer aufgenommen wurde228. Auch für dieses Vorgehen seien einige Beispiele genannt. Der Autor der Sammlung der Handschrift von Lorsch (Cod. ms. Vat. Pal. 574) erklärt ausdrücklich in der Vorrede, daß er Kapitel, quae praesenti tempore necessaria minime videbantur, weggelassen habe229. Dieses Verfahren kam namentlich bei umfangreichen Kompilationen in Betracht. So wurden von der reichhaltigen Collectio Hibernensis zahlreiche Auszüge hergestellt230. Frühzeitig wurde von der Collectio Dionysio-Hadriana ein Auszug angefertigt, der als Breviarium ad inquaerendum sententias infra bekannt ist231. Er gibt in geraffter Weise den Inhalt der einzelnen Fragmente seiner Vorlage an, deren Ordnung er folgt. Die Epitome Hadriani entnahm der Collectio DionysioHadriana die orientalischen und afrikanischen Konzilien232. Neben die Epitome Hadriani trat eine Reihe weiterer Auszüge aus der Collectio Dionysio-Hadriana233. Vor allem die reichhaltigen pseudoisidorischen Fälschungen mußten sich vielfältige Exzerpierungen gefallen lassen. Der gewaltige Umfang der falschen Kapitularien des Benedikt Levita erklärt, daß von ihnen mehr Abkürzungen und Exzerpte umliefen als vollständige Texte234. Zahlreiche Kurzfassungen, Exzerptsammlungen der pseudoisidorischen Dekretalen künden von deren Beliebtheit235. Ich erwähne bei226
Maassen, Geschichte der Quellen 871 – 873. Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques II, 20 – 25; Stickler 166 f.; Van Hove 323. 228 Fournier, Le Décret de Burchard de Worms 689. 229 Maassen, Geschichte der Quellen 590. 230 Maassen, Geschichte der Quellen 885; Stickler 94; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 257 – 259. 231 Maassen, Geschichte der Quellen 465 f.; Mordek, Kirchenrecht und Reform im Frankenreich 245, 248 f. 232 Mansi 12, 859 – 884. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen 466 f.; Van Hove 293. 233 Maassen, Geschichte der Quellen 467. 234 Emil Secke1, Benedictus Levita decurtatus et excerptus. Eine Studie zu den Handschriften der falschen Dekretalien, in: Festschrift für Heinrich Brunner zum fünfzigjährigen Doktorjubiläum am 8. April 1914 überreicht von der Juristenfakultät der Universität Berlin, München–Leipzig 1914, 377 – 464; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 202 – 209. 235 Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 411 – 422. 227
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Allgemeines
spielsweise den Pittaciolus des Hinkmar von Laon236. Eine der bedeutendsten pseudoisidorischen Exzerptsammlungen, die sogenannten Capitula Remedii Curiensis, dürfte im 10. Jahrhundert im ostfränkisch-deutschen Raum bekannt gewesen und benutzt worden sein237. Auch von dem Dekret Burchards wurden Auszüge hergestellt238. Das 19. Buch dieses Werkes, der Corrector, lief als eigene Sammlung um239. Um noch ein Beispiel aus späterer Zeit zu erwähnen: Die Panormia ist ein Auszug aus dem Dekret Ivos von Chartres240. Die Auszüge hielten sich gewöhnlich an den Plan und die Abfolge der Gegenstände in dem Gesamtwerk. So folgten beispielsweise die Verfasser der Exzerpte aus den pseudoisidorischen Dekretalen meist der Anordnung der Fragmente in ihrer Vorlage und gingen auch regelmäßig schonend mit dem Wortlaut um. Doch fehlte bei Auszügen die Bearbeitung der übernommenen Stücke nicht. Die Texte wurden häufig gestrafft, zusammengefaßt, um Wort oder Sätze oder Abschnitte verkürzt, die der Sammler für weniger wichtig hielt241. Es kam auch vor, daß die Hersteller von Auszügen den Exzerpten aus ihrer Hauptquelle andere, fremde Texte einfügten. Alle diese Aktionen waren ohne ein gewisses Quantum wissenschaftlicher Bemühung nicht zu bewältigen. Auch und gerade derjenige, der wegläßt, muß wissen, worauf es ankommt. Es stellt erst recht Anforderungen an das Verstehen und die Kunst der Formulierung, einen umfangreichen Text ohne Entstellung des Sinnes knapp zusammenzufassen. Die Männer, die sich bis zum Jahre 1000 dieser Aufgabe widmeten, waren ihr gewachsen.
236 PL 124, 1001 – 1026. Vgl. Georg Phillips, Der Codex Salisburgensis S. Petri IX. 32. Ein Beitrag zur Geschichte der vorgratianischen Rechtsquellen, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien, Phil.-hist. Classe 44, Wien 1863, 437 – 520; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 215 f.; Stickler 138. 237 Die Canonessammlung des Remedius von Chur. Hrsg. von Friedrich Kunstmann, Tübingen 1836; PL 102, 1093 – 1112. Vgl. Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 312 f.; Stickler 138; Van Hove 218, Anm. 4; Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen II, 415 – 419, 609. 238 Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 414 – 418; Stickler 158; Peter Brommer, Kurzformen des Dekrets Bischof Burchards von Worms: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 1 (1975) 19 – 45; Gérard Fransen, Collections canoniques dans le manuscrit 4283 de la Bibliothèque nationale de Paris, in: Liber Amicorum Monseigneur Onclin. Actuele thema’s van kerkelijk en burgerlijk Recht. Hrsg. von J. Lindemans/H. Demeester (= Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium XLII), Gembloux 1976, 169 – 197, hier 177 – 184. 239 Paul Fournier, Études critiques sur le ,,Décret“ de Burchard de Worms: Nouvelle Revue historique de droit français et étranger 34 (1910) 41 – 112, 213 – 221, 289 – 331, 564 – 484; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 414; Stickler 155, 158. 240 Paul Fournier, Yves de Chartres et le droit canonique: Revue des questions historiques 63 (1898) 51 – 98, 384 – 405; ders., Les collections canoniques attribuées à Yves de Chartres: Bibliothèque de l’École des chartes 57 (1896) 645 – 698; 58 (1897) 26 – 77, 293 – 326, 410 – 444, 624 – 676; Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques II, 106. 241 Fournier/Le Bras, Histoire des collections canoniques I, 416.
Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000
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Schluß Die vorstehenden fragmentarischen Ausführungen versuchen, eine Ahnung davon zu vermitteln, wie um das Jahr 1000 mit dem Kirchenrecht umgegangen wurde. Die Männer, die damals der Ordnung in der Kirche zu dienen gewillt waren, standen vor enormen Hindernissen. Ausfall der Gesetzgebung, Zersplitterung des Rechtes, Mangel an authentischen Ausgaben, mit diesen Worten seien einige angedeutet. Tastend und suchend bahnten sich die Autoren den Weg zu einer wissenschaftlichen Methode. Die Fülle der Gesichtspunkte, die sie zu beachten hatten, erklärt die Unzulänglichkeiten, die ihrer Arbeit aus heutiger Sicht anhaften. Sie wollten der Praxis die Normen zur Verfügung stellen, die sie benötigte, aber bei diesem Unternehmen stießen sie auf erhebliche Schwierigkeiten. Das Material, das sie vorfanden, war häufig sperrig, den Verhältnissen, in denen sie lebten, und den Zielen, für die sie arbeiteten, unangepaßt. So gingen sie daran, es zu gestalten und zu verändern. Dabei nahmen sie sich Freiheiten heraus, die uns befremden, die aber allein geeignet waren, den Stoff nach den Bedürfnissen zu formen. Allen Widrigkeiten zum Trotz wurden immer wieder neue Kompilationen geschaffen, die freilich inhaltlich ganz oder weitgehend auf früheren Sammlungen beruhten.
Kirchenverfassung
Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis Um die Erforschung und Darstellung der Verfassungsgeschichte des Erzbistums Mainz ist es nicht zum besten bestellt. Trotz teilweise bedeutender Einzeluntersuchungen1 klaffen noch große Lücken. Vor allem die Frühzeit ist nicht genügend erforscht. Nicht umsonst begegnet bei der Darstellung von Einrichtungen der mittelalterlichen Kirche sehr häufig die Einschränkung ,,im späten Mittelalter“ oder „am Ausgang des Mittelalters“. Über wichtige Fragen bestehen gegensätzliche Meinungen. Die zeitlichen Ansätze für die Entstehung bestimmter Rechtsinstitute differieren erheblich. Eine Gesamtdarstellung steht erst recht noch aus. Sie ist erst zu leisten, wenn genügend Einzelforschungen vorliegen. Auf der anderen Seite gilt, daß, so notwendig örtlich begrenzte Untersuchungen sind, so wenig angesichts des regelmäßig begrenzten Quellenmaterials zu hoffen ist, daß aus ihnen die gesamte Entwicklung einer Einrichtung erhoben werden kann. 1 C. v. Bennigsen, Beitrag zur Feststellung der Diöcesangrenzen des Mittelalters in Norddeutschland. I. Hildesheim: Zs. d. hist. V. für Niedersachsen Jg. 1863, Hannover 1864, 1 – 134; Fr. Vigener, Die Mainzer Dompropstei im 14. Jahrhundert. Aufzeichnungen über ihre Besitzungen, Rechte und Pflichten aus den Jahren 1364 – 1367 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte I), Darmstadt 1913; K. Bauermeister, Studien zur Geschichte der kirchlichen Verwaltung des Erzbistums Mainz im späteren Mittelalter: AfkKR 97, 1917, 501 – 535; derselbe, Die korporative Stellung des Domkapitels und der Kollegiatstifter der Erzdiözese Mainz während des späten Mittelalters. Ein Beitrag zur kirchlichen Verfassungsgeschichte Deutschlands: Arch. f. hess. Gesch. und Altertumskunde N. F. 13, 1920, 185 – 201; E. Klibansky, Die topographische Entwicklung der kurmainzischen Aemter in Hessen (= Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte. I. Reihe: Vorarbeiten zum gesch. Atlas von Hessen 1), Marburg 1925; W. Classen, Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter samt einem Umriß der neuzeitlichen Entwicklung (= Schriften des Inst. f. gesch. Landeskunde von Hessen und Nassau 8. Stück), Marburg 1929; H. Falk, Die Mainzer Behördenorganisation in Hessen und auf dem Eichsfelde bis zum Ende des 14. Jahrhunderts (= Marburger Studien zur älteren dt. Geschichte I. Reihe: Arbeiten zum gesch. Atlas von Hessen und Nassau 27), Marburg 1930; G. Kleinfeldt/H. Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation im oberhessisch-nassauischen Raum (= Schriften d. Instituts f. gesch. Landeskunde von Hessen und Nassau 16. Stück), Marburg 1937; K. Reischmann, Die kirchliche Organisation des Rheingaues unter Erzbischof Willigis und seinen Vorgängern, in: 1000 Jahre Binger Land, Bingen 1953, 38 – 43; B. Opfermann, Die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes in seiner Vergangenheit, Leipzig, Heiligenstadt 1958; W. Metz, Kirchenorganisation, Königtum und Adel. Betrachtungen vornehmlich im Marburger Land: Blätter für dt. LG. 100, 1964, 107 – 121; B. Demandt, Die mittelalterliche Kirchenorganisation in Hessen südlich des Mains (= Schriften d. Hess. Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 29. Stück), Marburg 1966; W. Küther, Die mittelalterliche Grenze der Bistümer Mainz und Würzburg im Raum Vacha zwischen den Flüssen Fulda und Werra: Mainfränkisches Jb. f. Gesch. und Kunst 20, 1968, 191 – 212.
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Kirchenverfassung
Wenn in diesem Beitrag der Versuch gemacht wird, die Organisation der Erzdiözese Mainz zur Zeit des Erzbischofs Willigis (975 – 1011)2 zu schildern, so geschieht dies mit den Vorbehalten, zu denen vor allem die Quellenlage zwingt. Vielfach ist der Gang der Entwicklung nicht mehr erkennbar. Wenn von einer Einrichtung nur ein einziges Mal in der langen Regierungszeit des Erzbischofs die Rede ist, diese Erwähnung nur beiläufig geschieht und auch nicht den Vergleich mit unmittelbar vorhergehendem oder folgendem urkundlichen Material gestattet, dann ergibt sich aus einer solchen Situation, daß Sicherheit über den Charakter dieser Institution nicht leicht zu gewinnen ist. Rückschlüsse aus sehr viel späterer Zeit sind meist gewagt, manchmal unmöglich. Dennoch muß die Linie nach vorn und rückwärts ausgezogen, d. h. die vorhergehende und die nachfolgende Entwicklung berücksichtigt werden. Nur so kann der Versuch einer sachlichen Einordnung einer Einrichtung unternommen und ein Standort für die Beurteilung des Wirkens des Willigis gewonnen werden. Der Vergleich mit den Verhältnissen in benachbarten Diözesen kann nur mit großer Vorsicht vorgenommen werden. Denn das Entstehen und die Entwicklung mittelalterlicher Rechtseinrichtungen sind mannigfaltig; aus einem gemeinsamen Ausgangspunkt lassen sie sich selten ableiten. Der Dekanat in der alten Erzdiözese Köln beispielsweise zeigt ein ganz anderes Gesicht als der Archipresbyterat in den süddeutschen Bistümern. Der Archidiakonat in der Diözese 2 A. G. Volusius, Officium vetustissimum beati Willigisi, Mainz 1675; Libellus de Willigisi consuetudinibus: MG Script. XV, 2 S. 743 – 745; Ex Officio S. Willigisi: MG Script. XV, 2 S. 746 – 748; C. von Stramberg, Denkwürdiger und nützlicher Rheinischer Antiquarius, II, Koblenz 1846, 417 – 507; J. J. Hirschel, Geschichte der Stadt und des Bisthums Mainz, Mainz 1855, 34 – 38; S. Hirsch, Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich II., 2 Bde., Berlin 1862/4; W. Guerrier (Hrsg.), Officium et miracula Sancti Willigisi. Nach einer Handschrift des XII. Jahrh. mit zwei chronolithographischen Tafeln und einem Facsimile der Neumen, Moskau/Leipzig 1869; J. Fr. Böhmer, Regesta Archiepiscoporum Maguntinensium. Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II. 742?–1288. Hrsg. von C. Will, 2 Bde., Innsbruck 1877/86, Neudruck Aalen 1966, I, 177 – 144; H. Böhmer, Willigis von Mainz. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Reichs und der Deutschen Kirche in der sächsischen Kaiserzeit (= Leipziger Studien a. d. Gebiet der Geschichte 1. Band, 3. Heft), Leipzig 1895; ADB 43, 282 – 289; K. Uhlirz, Jahrbücher des deutschen Reiches unter Otto II., Leipzig 1902; A. Börckel, Aus der Mainzer Vergangenheit. Historische Schilderungen, Mainz 1906, 1 – 7; J. Schmidt, St. Willigis, Erzbischof von Mainz. Ein Zeit- und Lebensbild, Mainz 1911; H. Büttner, Zur Geschichte des Mainzer Erzstiftes im 10. Jahrhundert: Jb. f. d. Bist. Mainz 2, 1947, 260 – 273; derselbe, Erzbischof Willigis, in: 1000 Jahre Binger Land 10 – 16; A. Ph. Brück, Willigis und die kirchliche Organisation an der unteren Nahe, ebenda 29 – 32; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 4 Bde., 6. Auflage, Berlin 1954, III, 268 – 270, 411 – 418, 443 – 449; W. Klenke, Die Gebeine aus dem Reliqular des Erzbischofs Willigis: Mz. Zs. 56/57, 1961/62, Mainz 1961, 137 – 145; A. Ph. Brück, Der heilige Willigis. Sein Leben und seine Verehrung, Mainz 1962; A. Bang-Kaup, Willigis: LThK 10, 2. Aufl., 1965, 1160 – 1167; H. Büttner, Erzbischof Willigis von Mainz und das Papsttum bei der Bistumserrichtung in Böhmen und Mähren im 10. Jahrhundert: Rhein. Vierteljahrsbl. 30, 1965, 1 – 22; W. Wattenbach/R. Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier. I. 1 – 2. Das Zeitalter des Ottonischen Staates (900 – 1050). Neuausgabe, besorgt von Fr.–J. Schmale, Darmstadt 1967, 200 – 202; H. Büttner, Erzbischof Willigis von Mainz (975 – 1011), in: Jahres- und Tagungsber. d. Görres-Gesellschaft 1967, o. O. 1968, 5 – 15; E. Brouette, Bibliotheca Sanctorum 12, 1969, 1122 – 1126.
Die Organisation der Erzdiözese Mainz
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Halberstadt ist von jenem in dem Bistum Augsburg sehr verschieden. Sogar innerhalb ein und derselben Diözese können Unterschiede in der Ausbildung und dem Schicksal eines Amtes bestehen, zumal wenn ein Sprengel einen solchen Umfang besitzt und aus so heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt ist wie der Mainzer. Im Laufe der Geschichte haben sich gegensätzliche Bewegungen abgelöst. Zäsuren wie der Kampf gegen die Laieninvestitur oder die Entstehung der Kanonistik haben tiefgreifende Auswirkungen gehabt und wollen beachtet sein. Die Schwierigkeit der Untersuchung und der Umfang der zu behandelnden Institutionen zwangen zu Einschränkungen hinsichtlich des Gegenstandes. Beiseite bleibt das Verhältnis von kirchlicher Organisation und weltlicher Landeseinteilung, also vor allem die Fragen, wieweit Gau und Grafschaft für kirchliche Gliederungen vorbildlich wurden und wieweit sich Gerichtsbezirke und Pfarr-, Archipresbyteratsoder Archidiakonatssprengel decken. Verhältnismäßig unproblematisch ist die Stellung des Willigis. Er war Oberhirt der Erzdiözese Mainz3, Metropolit der Mainzer Kirchenprovinz4 und, als Inhaber des päpstlichen Vikariats, Primas der deutschen Kirche5. Von den beiden letzten Ämtern, die Willigis in treuer Ergebenheit gegenüber dem Apostolischen Stuhl ausübte, ist hier nicht zu handeln. Es kommt nur seine Stellung als Diözesanbischof in Frage. Unter den Mainzer Erzbischöfen nimmt Willigis nun in mehrfacher Hinsicht eine besondere Stellung ein. Er war ein Bischof mit vortrefflicher Kenntnis des Kanzleiwesens und reicher Erfahrung in der Verwaltung. Er wußte um die Bedeutung von Organisation und Institution6. Seine lange Regierungszeit von 36 Jahren gab ihm die Gelegenheit, nicht nur Planungen für seine Diözese aufzustellen, sondern auch ihre Durchführung nachhaltig zu betreiben. Willigis war eine ausgesprochen realistische Natur. Er hatte einen klaren Blick für das Notwendige und für das Mögliche. Er arbeitete eng mit dem Königtum zusammen, was sich in mehrfacher Hinsicht auszahlte. Unter ihm erhielt das Mainzer Erzstift einen bedeutenden Zuwachs an Besitz, der für das spätere Territorium des Kurstaates grundlegend werden sollte7. Zugleich erwarb er 3 1124: episcopatus noster (M. Stimming [Hrsg.], Mainzer Urkundenbuch. 1. Band. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischofs Adalberts I. [1137], Darmstadt 1932, 434 – 436 Nr. 527). 4 J. Wenner, Die Rechtsbeziehungen der Mainzer Metropoliten zu ihren sächsischen Suffraganbistümern bis zum Tode Aribos (1031). Ein Beitrag zur Geschichte der Metropolitanverfassung in Deutschland (= Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wiss. im kath. Deutschland. Veröff. der Sektion f. Rechts- und Sozialwissenschaft 46. Heft), Paderborn 1926. 5 E. Klebel, Das apostolische Vikariat der Erzbischöfe von Mainz: Aschaffenburger Jb. f. Gesch., Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes 3, 1956, 63 – 70. 6 H. Grüneisen, Die Klostervogteipolitik der Erzbischöfe von Mainz bis ins 13. Jahrhundert. Phil. Diss. Marburg Masch., Marburg 1942, 10 – 12, 14, 16, 19 f., 22, 25 – 28. 7 M. Stimming, Die Entstehung des weltlichen Territoriums des Erzbistums Mainz (= Quellen und Forschungen zur hess. Geschichte III), Darmstadt 1915; A. Klein, Studien zur Territorienbildung am Unteren Main. Grundlagen und Anfänge des Mainzer Besitzes im Spessart, Würzburg 1938; E. Salden-Lunkenheimer, Die Besitzungen des Erzbistums Mainz im Naheraum. Bad Kreuznach 1968; W. Klötzer, Der Übergang des Rheingaus an das Erzstift Mainz, in: 1000 Jahre Binger Land 33 – 37.
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Kirchenverfassung
durch königliche Verleihungen Hoheitsrechte, erweiterte und sicherte sie. Von der weitgebreiteten Tätigkeit, die Willigis auch als Diözesanbischof entfaltete, ist hier nur seine organisatorische Wirksamkeit zu betrachten. Aber auch von dieser bleiben die Diözesansynoden8 außerhalb der Darstellung. Die Diözesansynoden sind zweifellos ein wichtiges Element der Bistumsorganisation. Sie sollten zweimal im Jahr abgehalten werden. Auf ihnen wurden diözesanes Recht gesetzt und Gericht abgehalten. Für den Aufbau der Diözese hatten sie große Bedeutung. Aber die Diözesansynoden, die Willigis veranstaltete, besitzen eine besondere Problematik, die in diesem Zusammenhang nicht aufgerollt werden kann9. Sie werden besser gemeinsam mit seiner gesamten synodalen Tätigkeit dargestellt10. Das umfangreiche Wirken des Willigis im Dienst des Reiches und der Kirche, die häufige und langandauernde Abwesenheit von seinem Sprengel11, die Vielfalt seiner Aufgaben, die weite Ausdehnung der Diözese und die Übernahme der überkommenen Einrichtungen12 erklären es, daß er sich bei der Ausübung der verschiedenen Funktionen der Weihe- und Hirtengewalt in seiner Diözese gewisser Gehilfen bediente. An oberster Stelle unter ihnen steht der Chorbischof. Dieses Institut der Kirche des ersten Jahrtausends hat mehrfach Beachtung in der Forschung gefunden13, ohne daß damit alle Fragen gelöst wären. Dies gilt zumal für die
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1019: plena synodus (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260). Böhmer, Willigis von Mainz 158. 10 Vgl. vorläufig: H. Barion, Das fränkisch-deutsche Synodalrecht des Frühmittelalters (= Kanonist. Studien und Texte Bd. 5 u. 6), Bonn/Köln 1931; M. Hannappel, Die in Aschaffenburg tagenden Mainzer Provinzialsynoden: Aschaffenb. Jb. 4, Aschaffenburg 1957, 439 – 461; H. Fuhrmann, Die Synoden von Ingelheim, in: J. Autenrieth (Hrsg.), Ingelheim am Rhein. Forschungen und Studien zur Geschichte Ingelheims, Ingelheim a. Rh. 1964, 147 – 173. 11 Die regelmäßige Visitation und die ständige Aufsicht über seine Suffragane waren für Willigis undurchführbar (Wenner, Die Rechtsbeziehungen 201). 12 Auf der Mainzer Synode des Jahres 888 werden als zur nächsten Umgebung des Bischofs gehörig der economus, der archipresbiter und der archidiaconus (in dieser Reihenfolge) aufgezählt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 99 – 103 Nr. 167). 13 J. Weizsäcker, Der Kampf gegen den Chorepiskopat des fränkischen Reichs im neunten Jahrhundert. Eine hist. Untersuchung, Tübingen 1859; A. Schröder, Ueber die Chorbischöfe des 8. und 9. Jahrhunderts: Zs. f. kath. Theologie 15, 1891, 176 – 178; F. Gillmann, Das Institut der Chorbischöfe im Orient (= Veröff. a. d. Kirchenhist. Seminar München II. Reihe Nr. 1), München 1903; A. Pöschl, Der ,,vocatus episcopus“ der Karolingerzeit: AfkKR 97, 1917, 3 – 43, 185 – 219; Th. Gottlob, Der abendländische Chorepiskopat (= Kanonist. Studien und Texte Bd. 1), Bonn 1928; V. Fuchs, Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. Eine Untersuchung zur kirchlichen Rechtsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms (= Kanonist. Studien und Texte Bd. 4), Bonn 1930, 211 – 236; A. Schebler, Die Reordinationen in der ,,altkatholischen“ Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms (= Kanonist. Studien und Texte Bd. 10), Bonn 1936, 186 – 200; E. Kirsten, Chorbischof: Reallexikon für Antike und Christentum II, 1954, 1105 – 1114; W. M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts I, 2. Aufl., Wien/ München 1960, 330 – 334; R. Kottje, Isidor von Sevilla und der Chorepiskopat: Dt. Arch. f. Erforschung des Mittelalters 28, 1972, 533 – 537. 9
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einzelnen Diözesen. Für die Erzdiözese Mainz gibt es einzelne Vorarbeiten14. Es geht ihnen jedoch die scharfe begriffliche Erfassung des Gegenstandes ab. Eine geschlossene Darstellung der Geschichte der Chorbischöfe in der Erzdiözese Mainz fehlt. Neben dem Chorbischof findet sich bei Willigis der Archidiakon. Die Erforschung des Archidiakonats, die außerhalb der Mainzer Erzdiözese schon seit Jahrzehnten weit gediehen war15, hat innerhalb dieser in den letzten Jahrzehnten einige
14 J. Feldkamm, Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe: Mitt. d. V. f. d. Gesch. und Alterthumskunde von Erfurt 21, 1900, 1 – 93; F. Falk, Die Mainzer Weihbischöfe (Chorbischöfe) des 9. Jahrh.: Hist. Jb. 28, 1907, 570 – 577. 15 A. Schröder, Entwicklung des Archidiakonats bis zum elften Jahrhundert. Theol. Diss. München, Augsburg 1890; N. Hilling, Die bischöfliche Banngewalt, der Archipresbyterat und der Archidiakonat in den sächsischen Bistümern: AfkKR 80, 1900, 80 – 114, 323 – 345, 443 – 468, 645 – 664; derselbe, Beiträge zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung des Bistums Halberstadt im Mittelalter. Erster Teil: Die Halberstädter Archidiakonate, Lingen a. d. Ems 1902; derselbe, Die Entstehungsgeschichte der Münsterschen Archidiakonate, Münster 1902; Fr. X. Glasschröder, Das Archidiakonat der Diözese Speyer während des Mittelalters: Archival. Zs. N. F. 10, 1902, 114 – 154; W. v. Brünneck, Die Verbindung des Kirchenpatronats mit dem Archidiakonat im norddeutschen, insonderheit mecklenburgisch-pommerschen Kirchenrecht des Mittelalters, in: Festgabe der juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg für Hermann Fitting, Halle a. S. 1903, 1 – 55; P. A. Leder, Die Diakonen der Bischöfe und Presbyter und ihre urchristlichen Vorläufer (= Kirchenrechtl. Abh. Heft 23/24), Stuttgart 1905; H. Bastgen, Die Entstehungsgeschichte der Trierer Archidiakonate. Kath.-Theol. Diss. Breslau, Trier 1906; E. Baumgartner, Geschichte und Recht des Archidiakonates der oberrheinischen Bistümer mit Einschluß von Mainz und Würzburg (= Kirchenrechtl. Abh. 39. Heft), Stuttgart 1907; J. Löhr, Die Verwaltung des Kölnischen Großarchidiakonates Xanten am Ausgange des Mittelalters (= Kirchenrechtl. Abh. 59. und 60. Heft), Stuttgart 1909; J. Krieg, Der Kampf der Bischöfe gegen die Archidiakone im Bistum Würzburg unter Benutzung ungedruckter Urkunden und Akten dargestellt (= Kirchenrechtl. Abh. 82. Heft), Stuttgart 1914; J. Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter. Ein Beitrag zur Rechts- und Kulturgeschichte der mittelalterlichen Diözesen (= Beiträge f. d. Gesch. Niedersachsens und Westfalens, Ergänzungsheft zum 8. Bd.), Hildesheim/Leipzig 1920; A. Schröder, Der Archidiakonat im Bistum Augsburg, Dillingen a. D. 1921; G. Krüger, Der münsterische Archidiakonat Friesland in seinem Ursprung und seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung bis zum Ausgang des Mittelalters (= Geschichtl. Darst. und Quellen 6), Hildesheim 1925; J. Bauermann, Westfälische Archidiakonatstudien: Zs. f. vaterl. Gesch. und Altertumskunde 83 I, 1925, 265 – 296; A. Amanieu, Archidiacre: DDC I, 1935, 948 – 1004; P. Schöffel, Der Archidiakonat Rangau am Ausgang des Mittelalters: Jb. f. Fränk. Landesforschung 5, 1939, 132 – 171; H. Weigel, Grundlagen und Anfänge kirchlicher Organisation an der mittleren Rezat: Zs. f. bayrische (!) KG. 16, 1941, 1 – 25; A. Franzen, Die Kölner Archidiakonate in vor- und nachtridentinischer Zeit. Eine kirchen- und kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung über das Wesen der Archidiakonate und die Gründe ihres Fortbestandes nach dem Konzil von Trient (= Reformationsgesch. Studien und Texte Heft 78/79), Münster/Westf. 1953; F. Pauly, Klein-Archidiakonate und exemte kirchliche Jurisdiktionsbezirke im Archidiakonat Karden bis zum Ende des Mittelalters: Rhein. Vierteljahrsblätter 24, 1959, 157 – 194; F. Posch, Das Salzburger Archidiakonat des sogenannten Wienerneustädter Distriktes und seine Beziehungen zur Steiermark. Zur Kirdiengeschichte des südöstlichen Niederösterreich: Jb. für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 37/1965 – 1967, Wien 1967 (= Festschrift zum 70. Geburtstag von Karl Lechner), 198 – 214.
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Kirchenverfassung
Fortschritte gemacht16. Frühere Sammlungen und Darstellungen werden dadurch aber nicht überflüssig17. Eine zusammenfassende Behandlung steht auch hier noch aus18. Verhältnismäßig gut unterrichtet sind wir dagegen über eine Einrichtung, die in der Diözesanorganisation zur Zeit des Willigis eine bedeutende Rolle spielt, die Klöster und Stifte. Die großen Klöster der Erzdiözese Mainz sind Gegenstand zahlreicher Quellensammlungen und Untersuchungen geworden19. Die Kollegiat-
16 W. Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg. Grundzüge seiner Geschichte und Organisation (12. – 16. Jahrhundert), Sondershausen 1932; M. Hannappel, Das Gebiet des Archidiakonates Beatae Mariae Virginis Erfurt am Ausgang des Mittelalters. Ein Beitrag zur kirchlichen Topographie Thüringens, Jena 1941; H. Drawe, Der Klein-Archidiakonat Einbeck im Mittelalter: Einbecker Jb. 26, 1964, 11 – 66; A. Alfred, Der Archidiakonat Nörten (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 17 = Studien zur Germania Sacra 7), Göttingen 1967. 17 Z.B. Ph. Knieb, Zur Geschichte des Martinsstiftes zu Heiligenstadt nach gedruckten und archivalischen Quellen: Unser Eichsfeld 1, 1906, 3 – 7, 17 – 22, 37 – 42, 68 – 74, 85 – 90, 101 – 103, 118 – 122, 136 – 138, 165 – 169, 185 – 187; 2, 1907, 5 – 9, 23 – 26, 42 – 48, 74 – 80, 102 – 110, 135 – 145, 175 – 181; St. A. Würdtwein, Dioecesis Moguntina in Archidiaconatus distincta, 5 Bde., Mannheim 1768 – 90. 18 Vgl. Classen, Die kirchliche Organisation 15. 19 Z. B. Fr. X. Remling, Urkundliche Geschichte der ehemaligen Abteien und Klöster im jetzigen Rheinbayern, 2 Bde., Neustadt a. d. Haardt 1836; R. Hermann, Verzeichniß der in den Sachsen-Ernestinischen, Schwarzburgischen und Reußischen Landen, sowie den K. Preuß. Kreisen Schleusingen und Schmalkalden bis zur Reformation vorhanden gewesenen Stifter, Klöster und Ordenshäuser: Zs. d. V. f. thüring. Gesch. und Alterthumskunde 8, 1871, 1 – 75; derselbe, Verzeichniß der im Preußischen Thüringen bis zur Reformation vorhanden gewesenen Stifter, Klöster und Ordenshäuser: ebenda 77 – 176; G. W. J. Wagner, Die vormaligen geistlichen Stifte im Großherzogtum Hessen, I: Provinzen Starkenburg und Oberhessen, Darmstadt 1873; II: Provinz Rheinhessen. Unter Mitwirkung von Fr. A. Falk, bearbeitet und herausgegeben von Fr. Schneider, Darmstadt 1878; A. Huyskens, Die Klöster der Landschaft an der Werra. Regesten und Urkunden (= Veröff. der Hist. Kommission für Hessen und Waldeck IX. Klosterarchive, Regesten und Urkunden 1. Bd.), Marburg 1916; A. Overmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, 3 Tle. (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt N. R. Bd. 5, 7, 16), Magdeburg 1926 – 34; H. Büttner, Studien zur Geschichte von Disibodenberg. Frühgeschichte und Rechtslage des Klosters bis ins 12. Jahrh., Baugeschichte und Patrozinien: Stud. und Mitt. OSB 52, 1934, 1 – 46; K. Schrod, Das Kloster St. Alban bei Mainz. Ein Beitrag zu seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung vor 1200: Mz. Zs. 30, 1935, 49 – 55; K. E. Demandt, Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Fritzlar im Mittelalter (= Quellen zur Rechtsgeschichte der hessischen Städte. Veröffentlichungen der Hist. Kommission für Hessen und Waldeck XIII, 3), Marburg/Lahn 1939; H. Büttner, Das Erzstift Mainz und die Klosterreform im 11. Jahrhundert: AfmrhKG 1, 1949, 30 – 46; B. Opfermann, Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte, 2. Auflage, Leipzig, Heiligenstadt 1962; L. Falck, Die Erzbischöfe von Mainz und ihre Klöster in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Phil. Diss. Marburg Masch., Marburg 1952; derselbe, Klosterfreiheit und Klosterschutz. Die Klosterpolitik der Mainzer Erzbischöfe von Adalbert I. bis Heinrich I. (1100 – 1153): AfmrhKG 8, 1956, 21 – 75; P. Krienitz, Die bonifatianischen Klostergründungen als Rechtsproblem. Jur. Diss. Kiel, Kiel 1971; K. Hallinger, Neue Forschungen über Willigis von Mainz (975 – 1011): Stud. und Mitt. OSB 84, 1973, 7 – 51.
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stifte des Bistums haben ebenfalls häufig Beachtung in der Forschung gefunden20. Dennoch klaffen noch manche Lücken. Vor allem bleiben die Anfänge vieler Stifte dunkel. Im Zusammenhang mit dem Archidiakon erscheint der Archipresbyter21. Er
20 Fr. J. Mone, Organisation der Stiftskirchen. Vom 12. bis 16. Jahrhundert: Zs. f. d. Gesch. des Oberrheins 21, 1868, 1 – 34, 297 – 321; H. Gutbier, Zur Geschichte des Stifts St. Petri et Pauli in Oberdorla-Langensalza: Zs. d. V. f. Thüring. Geschichte und Altertumskunde 15, 1891, 39 – 66; E. Fr. Biskamp, Das Mainzer Domkapitel bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts. Phil. Diss. Marburg, Marburg 1909; G. J. Schorn, St. Peter extra muros, das erste und älteste Mainzer Kollegiatstift: Arch. f. hess. Gesch. und Altertumskunde N. F. 14, 1925, 496– 520; L. Clemm, Beiträge zur Geschichte des Stifts zu Flonheim in Rheinhessen: Arch. f. hess. Gesch. und Altertumskunde N. F. 14, 1925, 9 – 31; K. Lennarz, Propstei und Pröpste des St. Peterstifts in Fritzlar. Nebst einem Anhange: Vom Scholaster und der Stiftsschule zu Fritzlar (= Quellen und Abh. zur Gesch. der Abtei und der Diözese Fulda XV), Fulda 1936; H. Büttner, Zur Geschichte von Stift Selbold und seiner Beziehungen zu den Erzbischöfen von Mainz im 12. und 13. Jahrhundert: Arch. f. hess. Gesch. und Altertumskunde N. F. 20, 1938, 262 – 279; J. Herr (Hrsg.), Bilder aus dem katholischen Leben der Stadt Frankfurt a. M. im Lichte der Domweihe. Festschrift zur 700-Jahr-Feier der Einweihung des Kaiserdomes (St.-Bartholomäus-Kirche), Frankfurt a.M. 1939; Kl. Hansel, Das Stift St. Victor vor Mainz. Phil. Diss. Mainz Masch., Gernsheim/Rhein 1952; A. Gerlich, Die Besitzentwicklung des Mainzer St. Stephansstiftes: Hess. Jb. f. LG. 2, 1952, 24 – 38; derselbe, St. Peter zu Mainz und seine Urkunden für Eltville: Mz. Zs. 46/47, 1951/52, Mainz 1952, 57 – 64; M. Dörr, Das St. Mariengredenstift in Mainz (Geschichte, Recht und Besitz). Phil. Diss. Mainz Masch., Mainz 1953; H. Büttner, Die Statuten des Binger St.-Martin-Stiftes vom Jahre 1160: Hist. Jb. 72, 1953, 162 – 170; A. Gerlich, Das Stift St. Stephan zu Mainz. Beiträge zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Territorialgeschichte des Erzbistums Mainz (= Ergänzungsbände z. Jb. f. d. Bistum Mainz 4), Mainz 1954; derselbe, Studien zur Verfassung der Mainzer Stifte: Mz. Zs. 48/49, 1953/54, Mainz 1954, 4 – 18; H. Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista in Mainz (Geschichte, Verfassung, Besitz). Phil. Diss. Mainz Masch., 2 Tle., Mainz 1955; H. DeckerHauff, Die Anfänge des Kollegiatstifts St. Peter und Alexander zu Aschaffenburg, in: Aschaffenb. Jb. 4, 1957, 129 – 151; Fr. Merzbacher, Betrachtungen zur Rechtsstellung des Aschaffenburger Kollegiatstiftes St. Peter und Alexander im Mittelalter: ebenda 299 – 320; J. Siegwart, Die Chorherren- und Chorfrauengemeinschaften in der deutschsprachigen Schweiz vom 6. Jahrhundert bis 1160. Mit einem Überblick über die deutsche Kanonikerreform des 10. und 11. Jh. (= Studia Friburgensia N. F. 30), Freiburg/Schweiz 1962, Reg.; F. P. Sonntag, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117 – 1400. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (= Erfurter Theolog. Studien Bd. 13), Leipzig 1962; G. Kuntze, Das Stift St. Martin in Bingen. Geschichte, Verfassung, Besitz. Phil. Diss. Mainz, Mainz 1964; K. M. Reidel, Bingen zwischen 1450 und 1620. Phil. Diss. Mainz, Bingen 1965, 143 – 152; S. R. Schürmann, Das Stift S. Maria in campis oder Hl. Kreuz bei Mainz. Geschichte Verfassung, Besitz. Phil. Diss. Mainz, Mainz 1968. 21 J. B. Sägmüller, Die Entwicklung des Archipresbyterats und Dekanats bis zum Ende des Karolingerreichs (= Einladung zu der akademischen Feier des Geburtsfestes Seiner Majestät des Königs Wilhelm II. von Württemberg), Tübingen 1898; J. Krieg, Die Landkapitel im Bistum Würzburg bis zum Ende des 14. Jahrhunderts (= Veröff. der Görres-Ges., Sektion für Rechts- und Sozialwiss. Heft 28), Paderborn 1916; derselbe, Die Landkapitel im Bistum Würzburg von der zweiten Hälfte des 14. bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (= Kirchenrechtl. Abh. Heft 99), Stuttgart 1923; J. Ahlhaus, Die Landdekanate des Bistums Konstanz im Mittelalter. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Kirchenrechts- und Kulturgeschichte (= Kirchenrechtl. Abh. 109. und 110. Heft), Stuttgart 1929.
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hat vor allem in den Diözesen Köln und Trier einläßliche Behandlung erfahren22. Um die Erforschung des Archipresbyterats in der Erzdiözese Mainz steht es nicht schlecht. Namentlich für Hessen ist viel geschehen. Dennoch sind, zumal für die Entstehung und erste Entwicklung, noch viele Fragen ungelöst. Die Quellenlage ist ungünstig, die terminologischen Schwierigkeiten sind groß. Eng verknüpft mit dem Archipresbyterat ist die Pfarrei. Über ihre Entstehung und Entwicklung im allgemeinen liegen eine Reihe beachtlicher Abhandlungen vor23. Die Pfarreien in der Stadt sind naturgemäß besser erforscht als auf dem Lande24. Die Entstehung des Pfarrsystems der Erzdiözese Mainz harrt – trotz beachtlicher Ansätze25 – noch sy-
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Fr. Gescher, Der kölnische Dekanat und Archidiakonat in ihrer Entstehung und ersten Entwicklung. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter (= Kirchenrechtl. Abh. 95. Heft), Stuttgart 1919; derselbe, Um die Frühzeit des Landdekanats in der Erzdiözese Köln, in: Festschrift Ulrich Stutz zum siebzigsten Geburtstag (= Kirchenrechtl. Abh. 117. u. 118. Heft), Stuttgart 1938, 120 – 188; A. Heintz, Die Anfänge des Landdekanates im Rahmen der kirchlichen Verfassungsgeschichte des Erzbistums Trier (= Trierer Theolog. Studien Bd. 3), Trier 1951; H. Müller, Die wallonischen Dekanate des Erzbistums Trier. Untersuchungen zur Pfarr- und Siedlungsgeschichte. Phil. Diss. Saarbrücken, Marburg 1966. 23 St. Zorell, Die Entwicklung des Parochialsystems bis zum Ende der Karolingerzeit. Phil. Diss. Heidelberg, Mainz 1901; H. Schaefer, Pfarrkirche und Stift im deutschen Mittelalter. Eine kirchenrechtsgeschichtliche Untersuchung (= Kirchenrechtl. Abh. 3. Heft), Stuttgart 1903; Fr. X. Künstle, Die deutsche Pfarrei und ihr Recht zu Ausgang des Mittelalters. Auf Grund der Weistümer dargestellt (= Kirchenrechtl. Abh. 20. Heft), Stuttgart 1905; J. Marx, Die Entwicklung des Pfarrsystems im Bistum Trier: Trier. Arch. 24/25, 1916, 1 – 158; P. Schöffel, Die kirchliche Organisation Nordfrankens im Mittelalter: Arch. d. Hist. V. von Unterfranken und Aschaffenburg 69, 1931 – 1934, 133 bis 142; derselbe, Pfarreiorganisation und Siedlungsgeschichte im mittelalterlichen Mainfranken: Zs. f. bayrische Kirchengesch. 17, 1942, 1 – 18; K. Haff, Das Großkirchspiel im nord- und niederdeutschen Rechte des Mittelalters: ZSavRG, Kan. Abt. 32, 1943, 1 – 63; 33, 1944, 1 – 55; 34, 1947, 1 – 30, 253 – 270; A. Seiler, Studien zu den Anfängen der Pfarrei- und Landdekanatsorganisation in den rechtsrheinischen Archidiakonaten des Bistums Speyer. Phil. Diss. Mainz, Stuttgart 1959; A. K. Hömberg, Kirchliche und weltliche Landesorganisation (Pfarrsystem und Gerichtsverfassung) in den Urpfarrgebieten des südlichen Westfalen (= Geschichtl. Arbeiten zur westfäl. Landesforschung Bd. 10 = Veröffentlichungen der Hist. Kommission Westfalens XXII), Münster i. W. 1965; D. Kauß, Die mittelalterliche Pfarrorganisation in der Ortenau (= Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Nr. 29), Bühl/Baden 1970; M. Erbe (Hrsg.), Pfarrkirche und Dorf. Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Niederkirchenwesens in Nordwest- und Mitteldeutschland vom 8. bis zum 16. Jh. (= Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte Heft 19), Gütersloh 1973. 24 A. Schultze, Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter, in: Festgabe für Rudolph Sohm, München, Leipzig 1914, 103 – 142; A. Overmann, Die Entstehung der Erfurter Pfarreien: Sachsen und Anhalt 3, 1927, 135 – 148; K. Beyerle, Die Pfarrverbände der Stadt Köln im Mittelalter und ihre Funktionen im Dienste des weltlichen Rechts, in: Jahresbericht der Görres-Gesellschaft 1929/30, Köln 1931, 95 – 106; K. Fröhlich, Kirche und städtisches Verfassungswesen im Mittelalter: ZSavRG, Kan. Abt. 22, 1933, 220 – 287; P. Schöffel, Pfarrkirche und Stadt in Mainfranken: Fränk. Heimat 18, 1939, 54 – 57. 25 Vor allem in den Werken von Classen und Kleinfeldt/Weirich. Vgl. noch W. Metz, Gedanken zur frühmittelalterlichen Pfarrorganisation Althessens: Hess. Jb. f. LG. 7, 1957, 24 – 56; denselben, Die Anfänge der kirchlichen Organisation im hessischen Werratal (Archidiakonat
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stematischer Untersuchung. Das Erzbistum Mainz ist nicht in der glücklichen Lage der Erzdiözese Trier, deren Siedlung und Pfarrorganisation im größeren Teil des Sprengels untersucht sind26. Dieser knappe Überblick zeigt, wieviel bei der Erforschung der Organisation der Erzdiözese Mainz noch zu tun ist, wobei von späteren Einrichtungen wie den Weihbischöfen27 und den Kommissaren28 ganz abgesehen wurde. Es ist selbstverständlich nicht daran gedacht, im Rahmen dieses Sammelwerks eine zusammenfassende oder abschließende Darstellung der anstehenden Fragen zu bieten. Es kann sich vielmehr nur darum handeln, die Verhältnisse zur Zeit des Willigis zu schildern, soweit es die Quellenlage zuläßt. Denn das Material ist spärlich, die Überlieferung bruchstückhaft29. Es muß einerseits davor gewarnt werden, aus ihm zu Heiligenstadt): ebenda 16, 1966, 9 – 34; H. K. Schulze, Die Entwicklung der thüringischen Pfarrorganisation im Mittelalter: Blätter f. dt. LG. 103, 1967, 32 – 70. 26 F. Pauly, Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier, 9 Bde., Trier 1961 – 72. 27 W. M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, II, Wien/München 1955, 117–119 (Lit.). 28 Z. B. M. Hannappel, Mainzer Kommissare in Thüringen. Insbesondere die Erfurter Generalkommissare und die Siegler Simon Voltzke und Johannes Sömmering: Zs. d. V. f. Thüring. Gesch. und Altertumskunde 44, 1942, 146 – 209. 29 Es kommen vor allem in Frage die einschlägigen Materialien aus folgenden Quellenwerken: G. Ch. Joannis, Scriptores Rerum Moguntiacarum, 3 Bde., Frankfurt 1722 bis 1727; V. F. v. Gudenus, Codex diplomaticus anecdotorum res Moguntinas illustrantium, 5 Bde., Göttingen 1743 – 68; J. Fr. Boehmer (Hrsg.), Martyrium Arnoldi Archiepiscopi Moguntini und andere Geschichtsquellen Deutschlands im zwölften Jahrhundert (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands 3. Bd.), Stuttgart 1853; K. Fr. Stumpf (Hrsg.), Acta Maguntina Seculi XII. Urkunden zur Geschichte des Erzbisthums Mainz im zwölften Jahrhundert. Aus den Archiven und Bibliotheken Deutschlands zum erstenmal herausgegeben, Innsbruck 1863; P. Jaffé (Hrsg.), Bibliotheca rerum germanicarum, III: Monumenta Moguntine, Berlin 1866; C. Beyer (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt, 2 Tle., Halle 1869/97; M. G. H. Legum sectio II. Capitularia Regum Francorum. Tom. I: Capitularia Regum Francorum. Ed. A. Boretius. Tomus I, Hannover 1882; Tomus II. Ed. A. Boretius et V. Krause, Hannover 1897; W. Sauer (Hrsg.), Nassauisches Urkundenbuch. 1. Band, 1. Abtheilung bis 3. Abtheilung. Die Urkunden des ehemals kurmainzischen Gebiets, einschließlich der Herrschaften Eppenstein, Königstein und Falkenstein; der Niedergrafschaft Katzenelnbogen und des kurpfälzischen Amts Caub (= K. Menzel/W. Sauer [Hrsg.], Codex Diplomaticus Nassoicus), Wiesbaden 1885 – 87; O. Dobenecker (Hrsg.), Regesta diplomatica necnon epistolaria historiae Thuringiae, 4 Bde., Jena 1896 – 1939; M. G. H. Legum Sectio III. Concilia. Tomi II. pars II. Rec. A. Werminghoff, Hannover – Leipzig 1908; M. Stimming (Hrsg.), Mainzer Urkundenbuch. 1. Band. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), Darmstadt 1932, unveränderter Nachdruck 1972; M. G. H. Diplomatum Regum et Imperatorum Germaniae Tomus I. Conradi I. Heinrici I. et Ottonis I. Diplomata, 2. Aufl., Berlin 1956; Tomi II. pars 1. Ottonis II. Diplomata, 2. Aufl., Berlin 1956; Tomi II. pars 2. Ottonis III. Diplomata, 2. Aufl., Berlin 1957; Tomus III. Heinrici II. et Arduini Diplomata, 2. Aufl., Berlin 1957; J. F. Böhmer, Regesta Imperii. II. Sächsisches Haus: 919 – 1024, 2. Abteilung: Die Regesten des Kaiserreiches unter Otto II. 955 (973)–983. Nach J. F. Böhmer neubearbeitet von H. L. Mikoletzky, Graz 1950; 3. Abteilung: Die Regesten des Kaiserreiches unter Otto III. 980 (983)–1002. Nach J. F. Böhmer neubearbeitet von M. Uhlirz, Graz/Köln 1956/57; 4. Abteilung: Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich II. 1002 – 1024. Nach J. F. Böhmer,
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weitgehende Folgerungen zu ziehen, weil die Basis schmal ist. Andererseits sind Vermutungen dort berechtigt, wo sich Absichten und Grundsätze erkennen lassen.
I. Chorbischof Im Juli 995 urkundet als Zeuge in einer Urkunde oder Aktaufzeichnung, in der Erzbischof Willigis der Kapelle in Steinheim/Rheingau das Recht zur Vornahme von Taufen und Beerdigungen gewährt, ,,Emicho eiusdem provincie corepiscopus“30. Hier wird also ein Chorbischof erwähnt, und zwar das erste und einzige Mal in dem gesamten urkundlichen Material, das für die Erzdiözese Mainz während der Amtszeit des Erzbischofs Willigis überliefert ist. Es bestehen daher keine Vergleichsmöglichkeiten mit gleichzeitigen Urkunden. Nun ist der Name Chorbischof keineswegs eindeutig. Ohne die Geschichte der Chorbischöfe im Abendland hier aufrollen zu wollen, muß doch folgendes gesagt werden. Es gibt Chorbischöfe älterer und jüngerer Ordnung. Die ersteren waren der Weihe nach Bischöfe, die letzteren nicht. In der Erzdiözese Mainz haben sich die Chorbischöfe älterer Ordnung länger gehalten als in den westlich angrenzenden Diözesen. Im gleichen Jahr 888, in dem die Trierer Provinzialsynode die Chorbischöfe endgültig abschaffte31, ließ sich der Mainzer Erzbischof Liutbert (863 – 889) von Papst Stephan V. (885 – 891) die Erlaubnis geben, Chorbischöfe weiter zu behalten32. Zur Begründung werden die weite Ausdehnung der Erzdiözese – ein Grund, der seine Gültigkeit zur Zeit des Willigis nicht verloren hatte – und das alte Herkommen angegeben. Tatsächlich hatte schon Bonifatius sich von Chorbischöfen unterstützen lassen33. Es scheint auch, daß die Weiträumigkeit des Bistums die Erzbischöfe veranlaßt hat, gleichzeitig mehrere Chorbischöfe zu unterhalten und einen von ihnen für Thüringen mit dem Sitz in Erfurt, einen anderen für Hessen mit dem Sitz in Buraburg zu
neubearbeitet von Th. Graff, Wien/Köln/Graz 1971; P. Acht (Hrsg.), Mainzer Urkundenbuch. 2. Band. Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200), 2 Tle., Darmstadt 1968/71. 30 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332; Böhmer-Will, Regesten I, 130 Nr. 107. 31 Mansi 18, 80 (c. 8). 32 Ph. Jaffé, Regesta Pontificum Romanorum, 2 Bde., 2. Aufl., hrsg. von W. Wattenbach/ S. Loewenfeld/F. Kaltenbrunner/P. Ewald, Leipzig 1885, unveränderter Abdruck Graz 1956, I, 431 Nr. 3443. 33 Eoban: MG Ep. III, 285, 395; Liafwin: MG Ep. III, 721; Lul: MG Ep. III, 380; vielleicht auch Werberth: MG Ep. III, 340, 721. Vgl. M. Tangl, Das Todesjahr des Bonifatius: Zs. d. V. f. hess. Gesch. und Landeskunde 38, 1903, 223 – 250, hier 234; denselben, Das Bistum Erfurt, in: Geschichtliche Studien Albert Hauck zum 70. Geburtstage dargebracht, Leipzig 1916, 108 – 120, hier 108 A. 2; Th. Schieffer, Angelsachsen und Franken. Zwei Studien zur Kirchengeschichtie des 8. Jahrhunderts (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abh. der Geistes- und sozialwiss. Klasse Jg. 1950 Nr. 20), Wiesbaden 1951, 1427 – 1539, hier 1483 – 1486.
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bestellen34. ,,Es besteht die Möglichkeit – von Wahrscheinlichkeit wagen wir gar nicht zu sprechen – ,daß die Gebiete von Buraburg und Erfurt als eigene Bezirke im Verbande des Mainzer Bistums erhalten blieben und von Chorbischöfen verwaltet wurden, bis sie in den Archidiakonaten aufgingen“35. Diese Lösung war nach dem frühen Eingehen der beiden Bistümer und ihrem Aufgehen im Mainzer Erzbistum naheliegend. Daß die Chorbischöfe eine ihnen anvertraute Herde und damit auch einen bestimmten Sprengel besaßen, dürfte aus der Wendung hervorgehen, die in einem Brief des Erzbischofs Hrabanus Maurus an Reginbald steht: ,,Tu autem et commendatum tibi gregem diligenter instrue“36. Außer der Lehraufgabe dürften sie bestimmte Vollmachten der Hirtengewalt besessen, vor allem aber natürlich Weihegewalt ausgeübt haben. Aus Gründen, die hier nicht darzustellen sind, wurde den Chorbischöfen die Bischofskonsekration – von Westen nach Osten vorgehend – nicht mehr gespendet. Dieser Vorgang vollzog sich in den ostfränkischen Bistümern im 10. Jahrhundert37. Der letzte bekannte Chorbischof mit Bischofsweihe ist der Wormser Chorbischof Adelbertus im Jahr 96938. Burchard von Worms (965 – 1025) berücksichtigte in seinem Dekret die Chorbischöfe nicht mehr. Texte, in denen sie vorkamen, purgierte er im allgemeinen39. Im Laufe des 10. Jahrhunderts muß auch in der Erzdiözese Mainz den Chorbischöfen die Bischofsweihe vorenthalten worden sein. In dieses Stadium fällt die Erwähnung eines Chorbischofs zur Zeit des Willigis. Zunächst ist sicher, daß Emicho nicht geweihter Bischof war. Denn sonst hätte er selbst die Kapelle zu Steinheim konsekriert. Die Konsekration wurde aber durch Azzo, den Bischof von Oldenburg in Holstein, vorgenommen40. Auch wenn an einer 34
Zu dem Chorbischof Reginhar in Thüringen 847/853: Dobenecker, Regesta I, 46 f. Nr. 204 – 209; zu dem Chorbischof Reginbald in Hessen 848: J. Hartzheim, Concilia Germaniae, 12 Bde., Köln 1749 – 90, hier II, 214 – 218. Vgl. auch Petersberg. Ein Blick in seine Geschichte und seine Altertümer. Hrsg. von der Gemeinde Petersberg, Fulda 1961, 25. 35 Schieffer, Angelsachsen und Franken 1499. 36 Hartzheim, Concilia Germaniae II, 218. 37 Gescher, Der kölnische Dekanat 139 f., 143. 38 Codex Laureshamensis, ed. K. Glöckner, Darmstadt 1929, I, 357. 39 A. M. Koeniger, Burchard I. von Worms und die deutsche Kirche seiner Zeit (1000 – 1025). Ein kirchen- und sittengeschichtliches Zeitbild (= Veröffentlichungen a. d. Kirchenhist. Seminar München II. Reihe Nr. 6), München 1905, 86 (Verweis auf V, 44 und 45). Das Dekret ist gedruckt PL 140, 537 – 1058. 40 Über Bischof Azzo oder Ezico von Oldenburg: Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum ex Monumentis Germaniae historicis separatim editi. Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontificum. Ed. tertia. Hrsg. von B. Schmeidler, Hannover/Leipzig 1917, 86. Nach Schmeidler ist Ezico wahrscheinlich vor 984 geweiht worden (ebenda A. 5), nach H. Breßlau (Forschungen z. Brandenb. und Preuß. Gesch. I, Leipzig 1888, 403) schon 983 vertrieben worden. Willigis nahm, wenn immer möglich, die Konsekration von Kirchen in seiner Diözese selbst vor. Vgl. vor allem die Urkunde von 1128 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 461 – 465 Nr. 553); weiter: 1006 Mörschbach (ebenda I, 147 Nr. 242); 1009: Weihe der Pfarrkirche zu Dorfprozelten (ebenda I, 152 Nr. 249). Auch die Kirche in Dorla weihte Willigis selbst (MG Script. V, 555).
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anderen Stelle in der Erzdiözese Mainz Willigis eine Kirche nicht selbst weihte, trat ein fremder Bischof, kein Chorbischof, in Tätigkeit. So ließ er die Kirche in Schloßborn bei Königstein durch den dänischen Bischof Staggo konsekrieren41. Die beiden Bischöfe waren aus ihren Bistümern vertrieben und von Willigis aufgenommen worden. Während sie an seinem Hof auf günstigere Zeiten warteten, wollten sie sich für den gewährten Unterhalt erkenntlich zeigen und unterstützten den Erzbischof bei seinen Weiheaufgaben. Anders verfuhr er mit dem vertriebenen Bischof Folkold von Meißen. Ihn behielt er nicht in der Metropole, sondern wies ihm 984 den Außenposten Erfurt als Wohnsitz an42. Auf diese Weise erhielt Thüringen (wieder), wenn auch nur für eine gewisse Zeit, einen konsekrierten Bischof für die fälligen Pontifikalhandlungen wie Firmungen, Ordinationen und Konsekrationen. Gerade in der Zeit, in der Willigis am längsten von seiner Diözese durch Aufgaben am Hof ferngehalten war, in den achtziger Jahren, mußten ihm die Anwesenheit von Bischöfen und die Unterstützung durch sie besonders willkommen sein. Von seinen Nachfolgern wissen wir, daß sie die Vorteile solcher Hilfe ebenfalls zu schätzen wußten. Als Erzbischof Bardo (1031 – 1051) auf der Reise nach Mainz schwer erkrankte, ließ er ,,suffraganeum suum Abbelinum episcopum“, der gerade in Fulda zur Feier des Bonifatiusfestes weilte, nach Dorneloh rufen43. Speziell für Konsekrationen wurden in der Folgezeit immer wieder auswärtige Bischöfe bemüht44. In jedem Falle ist sicher, daß die Chorbischöfe zur Zeit des Willigis nicht mehr die Weihe, sondern nur noch den Namen von Bischöfen besaßen. Sodann ist klar, daß der Chorbischof Emicho einem bestimmten Gebiet zugewiesen ist. Die Wendung eiusdem provincie corepiscopus weist auf einen geographischen Begriff, aber auf welchen? Provincia kann den Sprengel eines (Diözesan-) Bischofs45 wie das Gesamtgebiet, über das ein Metropolit Aufsichtsrechte besitzt,
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Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 179 Nr. 284; Böhmer-Will, Regesten I,172 f. Nr. 44. M. G. H. Scriptores Rerum Germanicarum. N. S. Tomus IX. Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon. Ed. secunda = Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Hrsg. von R. Holtzmann, 2. Aufl., Berlin 1955, 136 und 138, 137 und 139 (lib. IV cap. 6). Folkold war zweiter Bischof von Meißen (969 – 992). Er starb am 28. August 992 (P. B. Gams, Series Episcoporum Ecclesiae Catholicae, Regensburg 1873–86, Nachdruck Graz 1957, 290). Vgl. E. Machatschek, Geschichte der Bischöfe des Hochstiftes Meißen in chronologischer Reihenfolge. Zugleich ein Beitrag zur Culturgeschichte der Mark Meißen und des Herzog- und Kurfürstenthums Sachsen, Dresden 1884, 19 – 23, hier 22. 43 Böhmer, Fontes III, 243; MG Script. XI, 330 f.; Jaffé, Monumenta Moguntina 558 f.; Böhmer-Will, Regesten I, 175 Nr. 59. 44 Z. B. die Kirche in Eisenhausen wurde 1103 von dem Bischof von Paderborn konsekriert (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412). Der Abt Dietrich von St. Alban ließ die Kirche in Medenbach mit Zustimmung des Erzbischofs Ruthard durch den Bischof Hartbert von Brandenburg konsekrieren (1107: ebenda I, 340 f. Nr. 434). Die Kapelle in Bickenbach weihte 1130 der Bischof von Straßburg (ebenda I, 473 f. Nr. 561). 45 Syn. Franconofurt. 794 n. 12 (MG Cap. I, 75): episcopus provintiae; Cap. Miss. gen. 802 (MG Cap. I, 94): ab episcopo provinciae. 42
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bedeuten46. Provincia kann aber auch ein außerkirchlicher geographischer Begriff sein47. Als solcher kann er für den pagus verwendet werden48. Im vorliegenden Falle scheidet die zweite Bedeutung aus. Ein Chorbischof kann nicht für eine Kirchenprovinz, d. h. für mehrere Diözesen, bestellt werden. Es bleiben die erste und die dritte. Läge die erste vor, dann würde Emicho als Chorbischof der Mainzer Diözese bezeichnet. Dies wäre denkbar, auch wenn er nicht der einzige Chorbischof gewesen wäre, sondern neben ihm noch ein anderer oder mehrere andere gewirkt hätten. Aber es wäre eine ungenaue Sprechweise und trüge der Tatsache nicht Rechnung, daß für die Erzdiözese Mainz eine geographische Abgrenzung der Amtsbezirke der Chorbischöfe anzunehmen ist. So ist es wohl am wahrscheinlichsten, daß die dritte Bedeutung von provincia vorliegt. Das Wort eiusdem scheint auf eine Örtlichkeit, von der schon vorher die Rede war, zu verweisen49, und das kann nur Steinheim bzw. ibidem, ibi, eodem loco sein. Emicho wird dann als Chorbischof des Gebietes, in dem Steinheim liegt, angesprochen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich seine Zuständigkeit allein auf diesen Distrikt erstreckt, sondern nur, daß dieser ihm (auch) untersteht. In Emicho ist also ein erzbischöflicher Beauftragter zu erblicken, der für ein bestimmtes Gebiet der Erzdiözese bestellt war. Wie ausgedehnt dieses war, hängt davon ab, ob er der einzige chorepiscopus seiner Zeit war. Vermutlich hatte er einen Kollegen. Sonst wäre die Beifügung ,,eiusdem provincie“ überflüssig. Auf der Synode zu Mainz im Oktober 101950 war allerdings nur ein Chorbischof anwesend, Hugizo, der die überlieferte Urkunde ausstellte. Zwar ist anzunehmen, daß die Chorbischöfe die Pflicht hatten, an der Diözesansynode teilzunehmen. Von daher könnte der Schluß gezogen werden, es habe damals nur einen Chorbischof gegeben. Dennoch halte ich diese Folgerung nicht für zwingend. Einmal spricht dagegen die erwähnte Wendung ,,eiusdem provincie“ bei Emicho, zum anderen sind mancherlei 46 Cap. Eccl. 818. 819 (MG Cap. I, 277): archiepiscopi per singulas provincias constituti; Cap. exc. de can. 806 (MG Cap. I, 133); Elect. Kar. Cap. in regno Hloth. factae 869 (MG Cap. II, 339, 340); Walafr., De exord. (MG Cap. I, 515); Ep. Syn. Car. 858 (MG Cap. I, 427). 47 Provintia Bawoariorum 1000 (MG Diplom. Reg. et. Imp. Germ. II, 798); provincia que dicitur orientalis 1000 (ebd. II, 795); provintiam Gera dictam 999 (ebd. II, 748) u. o. Regino schenkt dem Kl. Fulda außer gen. Gütern in Sachsen 20 Hufen u. 38 Mancipien „in provincia Thuringorum in pago Engleheim in villa Bichelingen“ (ca. 900: Dobenecker, Regesta I, 67 Nr. 288). In einer gemeinsamen Urkunde Erzbischofs Anno II. von Köln und Erzbischof Siegfrieds von Mainz aus dem Jahre 1071 wird das Gebiet, über das dem Abt des Benediktinerklosters Saalfeld bestimmte Rechte eingeräumt werden, als „provincia“ bezeichnet (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 223 – 226 Nr. 331). Vgl. noch 1152: provincia illa (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 324 – 326 Nr. 174). 48 O. Curs, Deutschlands Gaue im zehnten Jahrhundert. Nach den Königsurkunden. Phil. Diss. Göttingen, Göttingen 1908, 27. 49 Für diese Rückbeziehung von eiusdem auf einen früher in der Urkunde genannten, nicht auf den unmittelbar vorhergehenden Ortsnamen bietet ein Beispiel eine Urkunde aus dem Jahre 1119 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 386 – 388 Nr. 482). Ähnlich ist vermutlich die Wendung „Stepphanoque eiusdem ville chorepiscopo“ in der Urkunde vom 30. Juni 1047 zu verstehen, wo mit eadem villa auf das vorhergehende „in superiori villa Angelica sedes dicta“ (= Oberingelheim) gezielt ist (ebenda I, 180 Nr. 285). 50 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260.
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Umstände denkbar, die die Teilnahme des einen oder anderen Pflichtigen an der Synode verhinderten. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erfahren wir jedenfalls von der Existenz zweier Chorbischöfe. In einer Urkunde Erzbischof Liutpolds von Mainz über eine Einigung mit dem Abt von Hersfeld in einem Zehntstreit vom 27. August 1057 treten als Zeugen „Bernhardus corepiscopus, Arnoldus corepiscopus“ auf51. Auch im Text der Urkunde ist an drei Stellen von Chorbischöfen in der Mehrzahl die Rede. Für die Zeit vor Willigis wurde bereits oben darauf hingewiesen, daß mit der gleichzeitigen Existenz von zwei Chorbischöfen zu rechnen ist. Falls von daher zurückzuschließen gestattet ist, dürfte Emicho wohl mindestens einen Kollegen gehabt haben. Die Abteilung ihrer Sprengel könnte zu der Zeit des Willigis durchaus durch eine nordsüdliche Linie geschehen sein, die den westlichen Teil des Erzbistums dem einen, den östlichen Teil dem anderen Chorbischof zuwies. In Emicho wäre dann der Chorbischof der westlichen Bistumshälfte zu sehen. In ihrem Sprengel sollten die Chorbischöfe jeweils ihre Tätigkeit ausüben, und dafür wurden sie entschädigt. In der Urkunde Erzbischofs Liutpolds zur Errichtung der Stiftskirche in Nörten aus dem Jahre 105552 wird der Propst des St.-PetersStiftes in Nörten verpflichtet, dem Chorbischof aus den Zehnten der Mutterkirche von Geismar das servitium zu zahlen. Unter letzterem ist eine pflichtmäßige Abgabe zu verstehen. Es ist klar, daß dem Chorbischof diese Abgabe als Entschädigung für Leistungen eingeräumt wird. Wenn er einen Sprengel hatte, in dem er seine Tätigkeit ausüben sollte, dann müssen ihm auch bestimmte Vollmachten zugestanden haben. Da er nicht (mehr) die Bischofsweihe besaß, kann es sich nicht um Befugnisse der Weihegewalt, sondern nur um solche der Hirtengewalt handeln. Worin sie im einzelnen bestanden, darüber sind nur Vermutungen möglich. Die Chorbischöfe waren einmal in der Ausbildung der Geistlichen tätig. Sie hatten die Kandidaten zu lehren und zu erziehen53. Diese Aufgabe war nicht mit der Weihegewalt verbunden und bestand weiter, als die mit der Bischofsweihe ausgestatteten Chorbischöfe zu existieren aufhörten. Die Chorbischöfe mögen sodann in der Aufsichtsverwaltung, in der Kirchenzucht und in der Disziplinargerichtsbarkeit tätig gewesen sein, also in Visitation und Send. Die Tätigkeit in Visitation und Send war ihre vorzüglichste; für sie in erster Linie hatten sie Anspruch auf das servitium54. Das servitium war die Leistung, die dem Chorbischof gelegentlich der Abhaltung des Sends zu erbringen war55. Der Erzbischof hatte es ihm abgetreten, weil 51
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299. Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 185 – 187 Nr. 296. 53 Vgl. die Ermahnung Hrabans an den Chorbischof Reginbald (MG Ep. V, 479). 54 Vgl. 1157: omnes proclamationes synodales, quas corepiscopi et advocati nostri habebant; quicquid nos et corepiscopi et advocati nostri synodaliter habebamus proclamare (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299). 55 Für die Sendtätigkeit der Chorbischöfe vgl. Gescher, Der kölnische Dekanat 166. Zur Visitation vgl. G. Flade, Die Erziehung des Klerus durch die Visitationen bis zum 10. Jahrhundert, Berlin 1933. S. auch V. Krause, Die Münchener Handschriften 3851. 3853 mit einer 52
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und insoweit er den Send nicht selbst hegte. Die Chorbischöfe hielten den Send in Vertretung des Erzbischofs; sie waren seine Gehilfen. Das Verhältnis zwischen ihnen und dem Erzbischof beruhte auf einem Mandat. Insofern werden sie zu Recht anderen Mandatsträgern der Bischöfe an die Seite gestellt56. Emicho war kein Chorbischof älterer Ordnung; dazu fehlte ihm die Bischofsweihe. Er war aber auch kein Archidiakon jüngerer Ordnung, der, wie aus zahlreichen Beispielen bekannt ist, den Titel Chorbischof führte57; denn dieser hatte als Amtsbezirk eine praepositura58, nicht eine provincia, und war kein Mandatsträger mehr, sondern Inhaber einer iurisdictio ordinaria propria. Emicho war vielmehr ein Chorbischof mittlerer Ordnung, der einen ähnlich ausgedehnten Sprengel wie der Chorbischof älterer Ordnung zu betreuen hatte, aber eben nicht mehr hinsichtlich der Aufgaben der Weihegewalt, sondern nur noch hinsichtlich solcher der Hirtengewalt. Diese Spielart des Chorbischofs dürfte von der zweiten Hälfte des 10. bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts in der Erzdiözese Mainz Bestand gehabt Compilation von 181 Wormser Schlüssen: Neues Arch. d. Ges. f. ältere dt. Geschichtskunde 19, 1894, 85 – 139 (S. 118 – 121: Qualiter synodus per villas celebrari debet). 56 Das Kapitular für die Königsboten von 829 (Cap. II, 8) bezeichnet als adiutores ministerii der Bischöfe corepiscopi, archidiaconi et vicedomini. Die Relatio episcoporum von 829 an Kaiser Ludwig den Frommen I, c. 7 (Cap. II, 32 f.) faßt chorepiscopi, archipresbiteri und archidiaconi als episcoporum ministri zusammen. 57 Als Erzbischof Ruthard 1090 Bestimmungen über das in Höchst zu errichtende Benediktinerkloster traf, ordnete er an, „ut nullus corepiscopus aliquam potestatem habeat vel exerceat, nisi ab abbate fuerit congregatus; tunc quinque solidi in eius sumptus dentur“ (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 272 – 274 Nr. 374). Der Konsekration und Ausstattung der Kirche zu Medenbach hat, wie der Abt von St. Alban im Jahr 1107 bekennt, der Chorbischof Asmarus zugestimmt: „benigne consencientibus domno corepiscopo Asmaro ac Gundolfo, tunc ipsius matris ecclesie presbitero“ (ebenda I, 340 f. Nr. 434). In einer Urkunde für das Kloster Disibodenberg aus dem Jahr 1112 steht an der Spitze der Zeugenreihe Anshelmus chorepiscopus (ebenda I, 362 f. Nr. 455). Mit dem Propst Richard von St. Maria ad gradus in Mainz, für dessen Schenkung an das Kloster auf dem Disibodenberg Anselm als Zeuge eintritt, erscheint er mehrfach zusammen (ebenda I, 353 f. Nr. 446; 359 – 361 Nr. 452; 363 f. Nr. 456; 364 – 366 Nr. 457; 366 Nr. 458; 389 Nr. 484; 400 Nr. 498). Daß ein sonst völlig unbekannter Chorbischof Anselm hier in einer Zeugenreihe auftaucht, ist weniger wahrscheinlich, als daß der vorher und nachher erwähnte Mainzer Dompropst in seiner Eigenschaft als Archidiakon sich diesen Titel zulegt. Anselmus, der Propst der Mainzer Domkirche, wird von 1112 bis 1122 erwähnt. Er bezeichnet sich 1109 in einer gefälschten Urkunde als maioris ecclesie prepositus (ebenda I, 354 Nr. 446), 1112 schlicht als prepositus (ebenda I, 361 Nr. 452) und als prepositus sancti Martini (ebenda I, 364 – 366 Nr. 457), 1119 als archipraepositus (ebenda I, 389 Nr. 484), 1122 als prepositus de domo (ebenda I, 400 Nr. 498). Er war wohl eine Persönlichkeit, die nicht nur die Abwechslung, sondern auch den Schmuck der Titel liebte. Als Bischof Sigfrid von Brandenburg 1178 die Einweihung der Kirche in Altenburg vornahm, geschah dies u. a. „de consensu chorepiscopi domini Burcardi ecclesie sancti Petri prepositi, in cuius archidiaconatu locus ipse situs est“ (Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 196 – 198 Nr. 267). Der Propst von St. Peter in Mainz wird auch in der Urkunde vom Jahr 1196, in der Erzbischof Konrad I. der Kirche zu Oberjosbach Pfarrechte verleiht, Chorbischof genannt: „corepiscopo etiam ipsarum ecclesiarum (sc. Burne et Gosbach) Sigefrido videlicet sancti Petri preposito annuente“ (ebenda I, 219 – 221 Nr. 301). 58 Z. B. 1102 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 312 Nr. 406).
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Kirchenverfassung
haben. Ihr Auslaufen ist nicht völlig eindeutig zu bestimmen. Ein solcher chorepiscopus wird wohl in der Urkunde von 105559 erwähnt, die die Gründung der Stiftskirche zu Nörten durch Erzbischof Liutpold festhält. Er sollte die ihm zustehenden Abgaben von den Zehnten der Mutterkirche zu Geismar erhalten: ,,servitio corepiscopi ab eiusdem matris ecclesie decimas dando“. Wer dieser Chorbischof war, ist unsicher. Man hat ihn in dem Propst des St.-Marien-Stiftes zu Erfurt oder des St.-Peter-Stiftes zu Fritzlar zu finden gesucht60. Vermutlich dieselbe Art von Chorbischöfen begegnet in den Urkunden von 104761 und 105762. In der erstgenannten Urkunde wird bei der Datierung ,,Stephanoque eiusdem ville chorepiscopo“ aufgeführt. Daß ein Chorbischof nicht nur über eine Stadt gesetzt war, ist ohne weiteres klar. Ihm unterstand ein Gebiet. Wenn Stephanus als eiusdem ville chorepiscopus bezeichnet wird, dann bedeutet dies, daß er in Ingelheim chorbischöfliche Rechte ausübt. Wie weit sein Sprengel reichte, muß unbestimmt bleiben. Vielleicht sind um diese Zeit bereits mehr als zwei Chorbischöfe anzunehmen. Das hätte Auswirkungen auf das Gebiet, für das sie zuständig waren. Eine nähere Bestimmung der Persönlichkeit Stephans ist leider nicht möglich. Am 27. August 105763 willigte Erzbischof Liutpold ein, daß der Abt Meginher von Hersfeld seine Besitzungen in Eichloch, Leitenhofen, Schornsheim und Bodenheim an die Kirche St. Martin zu Mainz abtrat, wofür er, seine Chorbischöfe und Vögte auf ihre Ansprüche auf die Zehnten in Laubach, Ottrau, Grebenau, Grüssen und in Franken verzichteten. Mit Rücksicht darauf, daß die erwähnten Orte so weit auseinanderliegen wie Oberhessen und Franken, wird das Auftreten einer Mehrzahl von Chorbischöfen, die hier in den Verzicht einwilligen, verständlich. Daß die Zahl der damals vorhandenen Chorbischöfe mit den zwei in der Zeugenreihe erwähnten erschöpft ist, ist nicht sicher. Aus der Tatsache, daß der Chorbischof in der Zeugenreihe an zwei Stellen unmittelbar vor dem Archipresbyter64 steht und an einer Stelle auf den Propst der Mainzer Kathedralkirche und den Kämmerer folgt65, ist zu schließen, daß er einen Rang über dem Archipresbyter hatte und daß es sich bei ihm um eine angesehene Persönlichkeit handelte, die vermutlich einem Stift zugehörte. Der Arnold, der sich 1057 August 27 als corepiscopus bezeichnet, ist vermutlich mit dem Arnold identisch, der 1056 als custos ecclesie66 und 1069 als custos et 59
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 185 – 187 Nr. 296. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 56. 61 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 180 Nr. 285. 62 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299. 63 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299. Zu dieser Urkunde: H. Knies, Ursprung und Rechtsnatur der ältesten bischöflichen Abgaben in der mittelalterlichen Diözese Mainz: ZSavRG, Kan. Abt. 19, 1930, 51 – 138, hier 99 f., 110 f., 112 – 114; E. Hölk, Zehnten und Zehntkämpfe der Reichsabtei Hersfeld im frühen Mittelalter (= Marburger Studien zur älteren dt. Gesch. II. Reihe 4. Stück), Marburg 1933, 39 – 45; Classen, Die kirchliche Organisation 12. 64 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 180 Nr. 285; 226 f. Nr. 332. 65 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299. 66 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 188 Nr. 297. 60
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prepositus67 auftritt. Wegen der bekannten Verbindung von Domkustodie und Propstei von St. Johann ist anzunehmen, daß Arnold diese beiden Pfründen innehatte. Die Chorbischöfe waren also schon zu dieser Zeit vermutlich Pröpste von Mainzer Stiften. Trifft dies zu, dann ist es nicht verwunderlich, daß die beiden Chorbischöfe ihren Platz in der Zeugenliste hinter dem ersten der Pröpste, dem Dompropst, finden68. Ob dieser das Amt des Chorbischofs innehatte und nur den Namen nicht gebrauchte, weil ihm der Titel archiprepositus, den es nur einmal in der Diözese gab, vielsagender schien, muß dahingestellt bleiben. Die beiden Urkunden, die beweisen, daß der Domkustos Arnold Chorbischof war, sind nun aber für die Entstehung des Archidiakonats jüngerer Ordnung von größter Bedeutung. Denn der Domkustos ist als Inhaber des Archidiakonatssprengels des Propstes von St. Johann in Mainz bekannt69. Die Kontinuität der Person bzw. der Dignität legt die Kontinuität des Amtes nahe. Anders ausgedrückt: Der Archidiakon jüngerer Ordnung ist aus dem Chorbischof herausgewachsen. Dieser Schluß wird durch die Beobachtung gestützt, daß ein Teil der Orte, die in der Urkunde eine Rolle spielen, in dem bekannten Archidiakonatssprengel des Domkustos bzw. des Propstes von St. Johann liegen, nämlich Laubach und Grebenau70, während Ottrau zu dem Archidiakonatssprengel von St. Peter in Fritzlar71, Grüssen zu jenem von St. Stephan gehörte72. Der Sprengel des Bezirks von St. Johann war ja umschlossen durch die Sprengel von St. Stephan und St. Mariengreden in Mainz sowie von St. Peter in Fritzlar. Da alle diese Orte in Hessen bzw. Oberhessen liegen, ist es denkbar, daß sie einmal in einem chorbischöflichen Sprengel zusammengefaßt waren, der mehrere spätere Archidiakonatsbezirke umfaßte und aus dem letztere durch Teilung entstanden sind. Der Domkustos Arnold wäre dann noch ein Chorbischof, der den ungeteilten Sprengel verwaltete. Classen möchte die Abgrenzung der Sprengel der beiden (späteren) Archidiakonate St. Stephan und Fritzlar in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts setzen. Damals sei das neue Chorbistum (= der spätere Archidiakonatsbezirk St. Stephan) durch Abspaltung von einem größeren, das auch Fritzlar mitumfaßte, entstanden73. Die Pfarreien Eltville und Steinheim, auf die sich die Urkunde bezieht, in der der Chorbischof Emicho auftaucht, gehörten später zu dem Archidiakonatssprengel des Propstes von St. Moritz in Mainz74. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Emicho dem St.-Moritz-Stift angehört hat bzw. dessen Propst gewesen ist, falls das Stift damals schon bestanden hat. Denn auch zu Chorbischöfen älterer Ordnung werden die 67
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 212 Nr. 323. Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 189 – 191 Nr. 299. 69 Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 51. 70 Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 56 f., 59. 71 Classen, Die kirchliche Organisation 219 – 221. 72 Classen, Die kirchliche Organisation 137 – 139. 73 Classen, Die kirchliche Organisation 13. 74 Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 85, 91. 68
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Kirchenverfassung
Mainzer Erzbischöfe vielfach Dignitäre der Stifte herangezogen haben. Gerade die Kontinuität der Träger des Amtes des Chorbischofs wie jenes des Archidiakons jüngerer Ordnung ist einer der Gründe, weshalb der letztere ersterem nachfolgen konnte und der Übergang sich reibungslos vollzog. Daß ein Propst von St. Moritz erst 114675 als Zeuge bei einem hoheitlichen Akt des Erzbischofs für einen Ort des Archidiakonatssprengels St. Moritz, Geisenheim, genannt ist, besagt demgegenüber wenig. Im Text der Urkunde ist davon die Rede, daß der Pfarrer von Geisenheim die cura animarum von dem Archidiakon empfange. Dieser wird kein anderer als der Propst des Stiftes St. Moritz in Mainz sein, der später als im Besitz des Archidiakonats befindlich erscheint.
II. Archidiakon Der Chorbischof war nicht der einzige bischöfliche Beamte zur Zeit des Willigis. Neben ihm stand der Archidiakon. Von ihm ist die Rede in einer Urkunde für das Kloster Bleidenstadt76. Willigis erneuerte die Kirche des Klosters, die im Laufe der Zeit weitgehend schadhaft geworden war (pene consumpta). Die Kirche des hl. Ferrutius in Bleidenstadt war von Erzbischof Richulf (787 – 813) konsekriert worden. Richulf hatte auch, wie es üblich war77, bei der Konsekration der Kirche die Grenzen des Pfarrsprengels bestimmt (quam … publice et canonice terminando firmavit). Da die Bleidenstädter Kirche trotz der Schäden, die sie im Laufe der Jahre erlitten hatte, nicht entweiht worden war, was z. B. durch die Entfernung des Hauptaltars geschah78, war eine neue Konsekration nicht erforderlich. Deswegen wird am Schluß der Urkunde noch einmal hervorgehoben, die Kirche sei von Bischof Richulf konsekriert worden und habe, so ist zu ergänzen, ihre Konsekration behalten. In zeitlichen Zusammenhang mit der Erneuerung der Bleidenstädter Kirche fällt nun die Bestätigung der Rechtslage der Pfarrei. Der Pfarrbezirk wurde beschrieben, d. h. seine Grenzen wurden aufgezeichnet. Die geographischen Einzelheiten der terminatio, des Gebiets der Pfarrei Bleidenstadt, können hier beiseite gelassen werden. Auch ist für den Zusammenhang dieses Beitrags nicht erheblich, ob die Grenzbeschreibung aus der Zeit des Erzbischofs Richulf oder aus jener des Erzbischofs Willigis stammt. Nach der Beschreibung der Termini des Klosters Bleidenstadt und der Erwähnung der Wiederherstellung der Kirche begegnet aber „Hermannus archidiaconus Wiligisi episcopi tunc etiam archiepiscopi“. Er habe „marcam et terminationem“, wie sie vorher beschrieben wurden, bestätigt, „banni vinculo sicut a principio confirmavit“. Hier begegnet also ein Archidiakon und damit ein neues Glied der Diözesanorganisation zur Zeit des Willigis. Leider ist 75
Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 176 – 178 Nr. 91. Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 152 – 154 Nr. 250; Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 14 – 17 Nr. 46. 77 Reginonis Abbatis Prumensis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis, ed. F. G. A. Wasserschleben, Leipzig 1840, I, 25 (S. 37). 78 Dekret Burchards III, 11 – 14. 76
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dieses erste Vorkommen eines Archidiakons im Zusammenhang mit Willigis auch das letzte, so daß die Erklärung und die Einordnung dieser Persönlichkeit vor nicht geringen Schwierigkeiten stehen. Denn auch der Begriff archidiaconus ist alles andere als eindeutig. Sein rechtlicher Inhalt hat im Laufe der Geschichte mehrfach gewechselt. Die Entwicklung des Archidiakons nimmt ihren Ausgang von dem Bischofsdiakon. Der Bischofsdiakon war der Gehilfe des Bischofs in der Regierung der Diözese, vor allem in der Verwaltung des Vermögens. Als er die Vorsteherschaft über die Diakone und den niederen Klerus erlangte, wurde er Archidiakon, von der Wissenschaft Archidiakon älterer Ordnung genannt79. Der Archidiakon älterer Ordnung ist Vertreter des Bischofs in der Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Er übt sein Amt als widerrufliches Mandat des Diözesanbischofs aus. Jede Diözese hatte ursprünglich nur einen solchen Archidiakon. Er war somit – in Unterordnung und im Auftrag des Ortsoberhirten – für die gesamte Diözese zuständig. In manchen Bistümern wurden jedoch etwa seit dem 9. Jahrhundert mehrere solche Archidiakone ernannt. Ihre rechtliche Stellung änderte sich durch die zahlenmäßige Vermehrung nicht. Sie blieben Mandatare des Diözesanbischofs und waren grundsätzlich im ganzen Bistum tätig, wenn sich auch allmählich die Praxis herausgebildet haben mag, sie mit Aufträgen regelmäßig in denselben Teil des Bistums zu entsenden. Im nächsten Stadium der Entwicklung erhielten diese mehreren Archidiakone einen bestimmten Sprengel zugewiesen, den sie aber zunächst als Mandatare verwalteten. Auf der letzten Stufe leiteten sie diesen Sprengel als Träger eines selbständigen Amtes (= Archidiakone jüngerer Ordnung). Nicht in jedem Bistum durchlief der Archidiakonat alle erwähnten Phasen. Seine Entwicklung ist nicht nur von Diözese zu Diözese, sondern häufig auch innerhalb ein und derselben Diözese verschieden. Es handelt sich hier um gewohnheitsrechtliche Bildungen, die eine große Mannigfaltigkeit aufweisen. In der Erzdiözese Mainz gab es mit Sicherheit den Einzelarchidiakon, den Archidiakon älterer Ordnung als den Hauptstellvertreter des Bischofs in der Aufsicht über den Diözesanklerus. Er begegnet zur Zeit des hl. Bonifatius um 75080 und in zwei Urkunden für die Abtei Hersfeld aus den Jahren 771 und 82081. Weder die 79
Über ihn: Gescher, Der kölnische Dekanat 155 f. Lul war 746/7 Archidiakon des Bonifatius: S. Bonifatii et Lulli epistolae n. 85 (MG Ep. III, 367); M. G. H. Epistolae selectae Tomus I. S. Bonifatii et Lulli Epistolae. Ed. secunda = Die Briefe des hl. Bonifatius und Lullus. Hrsg. von M. Tangl, 2. Aufl., Berlin 1955, 189 – 191, hier 190: ,,Lullum benedictum archidiaconum vestrum“. 81 In der Urkunde Karls des Großen für das Kloster Hersfeld von 771/2 wird die Befreiung desselben von der Gewalt des Bischofs oder Archidiakons ausgesprochen (nec ullus episcoporum vel archydiaconus ipsorum commonachos ad ipsam sanctam casam dei pertinentes per legem canonicam confingere presumat) (H. Weirich [Hsrg.], Urkundenbuch der Reichsabtei Hersfeld I. Bd. [= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck XIX, 1], Marburg 1936, 1 – 4 Nr. 1). In der Urkunde Karls des Großen für das Kloster Hersfeld vom 5. Januar 775 wird erwähnt, Erzbischof Lullus habe den König gebeten, das Kloster von der Gewalt der Bischöfe und der Archidiakone zu befreien (ut nullus archi80
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Urkunde Karls des Großen von 771 noch die 49 Jahre später liegende Bestätigung Ludwigs des Frommen läßt erkennen, daß hier eine Mehrheit von Archidiakonen in der Diözese Mainz vorausgesetzt ist; das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Es ist überall nur von einem Archidiakon eines Bischofs bzw., numerisch zusammengefaßt, von mehreren Archidiakonen mehrerer Bischöfe die Rede. Das Dekret der Synode zu Mainz von 88882 kennt ebenfalls nur einen Archidiakon, wie es nur von einem Archipresbyter und einem Ökonomen weiß. Dieser Zustand hatte sich zur Zeit des Willigis noch nicht geändert. Der erwähnte Hermann wird als „archidiaconus Wiligisi episcopi tunc etiam archiepiscopi“ bezeichnet. Die Beziehung des Archidiakons auf die Person des Erzbischofs läßt es als naheliegend erscheinen, daß er der einzige Archidiakon im Erzbistum ist. Er ist nicht ein, sondern der Archidiakon des Willigis. Einen Kollegen besitzt er nicht. Weiter ist damit die enge Beziehung des Archidiakons Hermann zu Willigis ausgesprochen. Er ist von Willigis bestellt und steht in seinem Dienst. Eine selbständige Stellung hat er nicht. M.a.W.: Er ist Mandatsträger des Bischofs. Er wird im Auftrag und im Namen des Bischofs tätig. Er ist sein Stellvertreter. Mit der Bezeichnung als Archidiakon des Erzbischofs Willigis verträgt sich nicht der Besitz von iurisdictio ordinaria propria. Letztere aber macht das Wesen des Archidiakons jüngerer Ordnung aus. Der Archidiakon Hermann kann mithin nur ein Archidiakon älterer Ordnung sein. Während Willigis die Anordnung zur Wiederherstellung der Bleidenstädter Kirche persönlich getroffen hat, hat er die Bestätigung der Grenzen des Sprengels der Kirche83 durch seinen Archidiakon vornehmen lassen. Dieser bestätigte die Grenzen des Pfarrsprengels, wie sie soeben angegeben wurden (ut supra notatum videtur), in dem Umfang, den ihm Erzbischof Richulf gegeben hatte. Er bestätigte sie als Archidiakon des Bischofs und Erzbischofs Willigis, d. h. in dessen Auftrag und mit dessen Autorität, nicht aus eigener Macht. Die Bestätigung ist eine rechtsbekräftigende Erneuerung, eine Willensäußerung, die auf den Fortbestand des diaconus aut missus episcoporum Mogoncie, Austriae, Toringiae ipsum monastirium nec abbatem … episcopus aut archidiaconus … se presumant aliquid contingere … aliquis episcopus aut archidiaconus eorum … eos contangere non presumat) (ebenda 9 – 14 Nr. 5/6). Vgl. die Bestätigung Ludwigs d. Fr. 820 Mai 8 (ebenda 49 – 51 Nr. 29); Ludwigs d. D. 843 Oktober 31 (ebenda 55 – 57 Nr. 32). 82 Auf der Synode zu Mainz im Jahre 888 erkannten die anwesenden Bischöfe in einer von dem Mainzer Erzbischof Liudbert ausgestellten Urkunde die Unabhängigkeit des Klosters Korvei von den Diözesanbischöfen und ihren Gehilfen an. Vgl. H. A. Erhard (Hrsg.), Regesta Historiae Westfaliae. Accedit Codex diplomaticus. Die Quellen der Geschichte Westfalens, in chronologisch geordneten Nachweisungen und Auszügen, begleitet von einem Urkundenbuche, I: Münster 1847, Neudruck: Osnabrück 1972, 27 – 30 Nr. 34; Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 99 – 103 Nr. 167; F. Philippi (Hrsg.), Osnabrücker Urkundenbuch, I: Die Urkunden der Jahre 772 – 1200, Osnabrück 1892, Neudruck Osnabrück 1969, 40 – 42 Nr. 53, hier 41: Nec ad ipsa monasteria vel cellas eorundem vel ipse per se episcopus vel economus ejus vel archipresbiter aut archidiaconus illius seu quelibet ex ejus agentibus persona potestatem habeat accedendi, nisi forte necessitatis causa vel dilectionis gratia vocatus advenerit. 83 Vgl. eine andere Bestätigung der terminatio 1043 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 179 f. Nr. 284).
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bisherigen Rechtszustandes (sicut a principio) gerichtet ist. Diese Bestätigung ist eine hoheitliche Tätigkeit, die in den Bereich der freiwilligen Verwaltung fällt. Der Archidiakon war also mit hoheitlicher Gewalt ausgestattet und mit Verwaltungsaufgaben betraut, die er auf Weisung und in Stellvertretung des Bischofs erledigte. Zu diesem Zweck wurde er wohl regelmäßig an Ort und Stelle gesandt. Der Archidiakon Hermann nahm die Bestätigung des Bleidenstädter Pfarrsprengels „banni vinculo“84 vor. Damit gab er die Machtbefugnis an, die er besaß und bei der Bestätigung ausübte85. Er war demnach im Besitz des bannus, d. h. der Gewalt, unter Androhung von Strafen zu gebieten, oder, mit einem Wort ausgedrückt, das später üblich werden sollte, im Besitz von Jurisdiktion. Da er der archidiaconus des Erzbischofs Willigis war, konnte ihm der Bann nur von Willigis übertragen worden sein. Er besaß also nicht einen eigenen Bann, sondern den des Bischofs. Der Bann, kraft dessen er gebot bzw., hier, bestätigte, war aus der Hoheitsgewalt des Bischofs abgeleitet. Ähnlich wie das weltliche Recht die Regierungsgewalt des Königs als Königsbann bezeichnete, nannte ja das kirchliche Recht die Hoheitsgewalt des Bischofs Bischofsbann. Weshalb Hermann als Archidiakon des Willigs „episcopi tunc etiam archiepiscopi“ bezeichnet wird, erscheint rätselhaft. Man könnte vermuten, die Wendung wolle besagen, Hermann habe dem Willigis in seiner doppelten Funktion – als Bischof des Bistums Mainz und als Metropolit der Mainzer Kirchenprovinz – Dienste als Archidiakon geleistet. Es ist ja denkbar, daß Willigis auch in seiner Tätigkeit als Vorsteher der Kirchenprovinz Geschäfte zu erledigen hatte, die er nicht persönlich vornehmen konnte oder wollte, die er vielmehr seinem Vertrauensmann, als der der Archidiakon in der damaligen Zeit anzusehen ist, übertrug. Aber diese Deutung ist nicht wahrscheinlich; sie wird von dem urkundlichen Befund nicht gedeckt. Begründeter ist die Annahme, daß damit ausgedrückt werden sollte, Hermann habe die Bestätigung des Bleidenstädter Sprengels als Archidiakon des Willigis in dessen 84 Die Errichtung der Pfarrkirche zu Mörschbach bei Simmern im Jahre 1006 wurde durch den Bann des Erzbischofs Willigis befestigt (sancitum est … banno Willigisi archiepiscopi) (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242). Vgl. 1019: Hoc utique terrae spacium, quod his terminis circumscribitur, ad predictam aecclesiam episcopali … potentia mea trado decimandum bannoque meo pacem affirmo (ebenda I, 164 f. Nr. 260); 1071: nostre auctoritatis banno (ebenda I, 223 – 226 Nr. 331); 1073: archiepiscopus banno suo … pacem confirmans (ebenda I, 232 Nr. 336); 1090: omnem inimicam personam banni mei interminatione ferio (ebenda I, 272 – 274 Nr. 374); 1108: banni vinculis (Beyer, Erfurter Urkundenbuch I, 3 f. Nr. 9); 1152: banno nostro confirmavimus (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 324 – 326 Nr. 174). 85 In der (gefälschten?) Urkunde vom 11. November 1105 für das Kloster Katlenburg bittet der Graf Theoderich den Propst Edelerus, „bannum confirmationis“ über die Schenkung zu machen, d. h. die Besitzübertragung mit dem Bann zu bestätigen (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 329 – 332 Nr. 424, hier 332). Zur Sache: Bruns, Der Archidiakonat Nörten 54 f. Als Erzbischof Poppo von Trier zwischen 1021 und 1031 die neugebaute Kirche in Neisen weihte, bestätigte er von neuem die terminatio (Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 56 f. Nr. 112). Vgl. 1142 – 1153: banni adtestatione confirmo (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 342 f. Nr. 184).
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Eigenschaft als Oberhirt der Diözese Mainz, nicht als Vorsteher der Mainzer Kirchenprovinz vorgenommen86. Zugleich aber wollte man hinzufügen, der hoheitliche Akt sei zu einer Zeit (tunc) erfolgt, als sein Herr durch den Empfang des Palliums das Amt des Metropoliten übertragen bekommen hatte und dadurch berechtigt worden war, sich als archiepiscopus zu bezeichnen. Erst mit der Entgegennahme des Palliums erhält ja der Bischof die Metropolitenrechte und erwirbt er das Recht, den Titel Erzbischof zu führen87. Das Pallium wurde Willigis im März 975 von Papst Benedikt VII. übersandt88. Die in Frage stehende Bestätigung des Archidiakons Hermann liegt also einige, vielleicht aber nur kurze Zeit nach diesem Vorgang. Nun hat eine Reihe von Autoren behauptet, zur Zeit des Willigis habe bereits der Archidiakonat jüngerer Ordnung in der Erzdiözese Mainz bestanden, ja er sei von ihm geschaffen worden, indem er das Bistum in Archidiakonatssprengel einteilte und an ihre Spitze Archidiakone setzte89. Soweit die Autoren Quellen angeben, auf die sie sich für diese Behauptung stützen, sind es die erwähnte Urkunde für Bleidenstadt und eine weitere für Aschaffenburg. Daß die erste weder eine Mehrheit von Archidiakonen noch eine Einteilung der Erzdiözese in Archidiakonatssprengel erkennen läßt, sondern ein Zeugnis für das Weiterbestehen des Archidiakonats älterer Ordnung ist, wurde soeben dargetan. Die zweite ist nun zu prüfen. Es handelt sich um eine Erzbischof Willigis zugeschriebene Urkunde vom 28. April 97690, deren 86 Diese Bezeichnung findet sich auch an anderen Stellen. 1103 wurde den Einwohnern einer neuerrichteten Pfarrei auferlegt, im Schaltjahr einen solidus denariorum zu zahlen ad servitium episcopi (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412). In der (gefälschten?) Urkunde vom 11. November 1105 für Katlenburg wird der Propst Edelerus gebeten, den Bestätigungsbann anzubringen „vice episcopi“, womit Erzbischof Ruthard gemeint ist (ebenda I, 329 – 332 Nr. 424, hier 332). 87 Auf einer von Bonifatius abgehaltenen Synode wurde beschlossen, „ut metropolitanus, qui sit pallio sublimatus, hortetur caeteros et admoneat; et investiget, quis sit inter eos curiosus de salute populi quisve negligens“ (Jaffé, Monumenta Moguntina 202). Über die Erhebung Luls zum Erzbischof vgl. Schieffer, Angelsachsen und Franken 1523. Papst Johannes VIII. schrieb 878 an den Bischof von Arles, vor Empfang des Palliums dürften die Metropoliten keine Konsekration vornehmen (Jaffé, in: Wattenbach I (Hrsg.), 399 Nr. 3148). Papst Benedikt VII. erklärte 975 gegenüber Willigis: „Pallii interea usum … concessimus, atque illud tibi transmittimus, quo … in tota Germania et Gallia … in omnibus negotiis, id est in rege consecrando et synodo habenda … praemineas“ (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 133 f. Nr. 217). Vgl. C.-B. Graf von Hacke, Die Palliumverleihungen bis 1143. Eine diplomatisch-historische Untersuchung. Phil. Diss. Göttingen, Göttingen 1898, 111 – 116. 88 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 133 f. Nr. 217; J. F. Böhmer, Regesta Imperii. II. Sächsische Zeit. 5. Abteilung. Papstregesten 911–1024. Bearbeitet von H. Zimmermann, Wien/ Köln/Graz 1969, 217 f. Nr. 542. 89 Böhmer, Willigis 155 f.; A. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, IV, 6. Aufl., Berlin, Leipzig 1953, 12; Baumgartner, Geschichte und Recht des Archidiakonates 97, 98; Schröder, Der Archidiakonat im Bistum Konstanz 20 A. 2; Büttner, Zur Geschichte des Mainzer Erzstifts 269; A. Ph. Brück, Mainz: LThK VI, 2. Aufl., 1961, 1300 – 1305, hier 1301. 90 Gudenus, Codex diplomatitus I, 352 – 357; Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 134 – 136 Nr. 219; K. H. Rexroth, Der Stiftsscholaster Herward von Aschaffenburg und das Schulrecht von 976, in: Aschaffenb. Jb. 4, 1957, 203 – 230, hier 226 – 230.
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Original verloren ist und schon Gudenus nicht mehr zu Gesicht gekommen war. Es ist die einzige Urkunde, die von Erzbischof Willigis als Aussteller erhalten ist. Das spricht noch nicht gegen die Echtheit, macht aber den Vergleich mit anderen von Willigis ausgestellten Urkunden unmöglich. In formaler Hinsicht enthält die Urkunde indes eine Reihe von Merkwürdigkeiten, die sie außerhalb des Rahmens der Urkundentradition stellen, die zur Zeit des Willigis üblich war. Z. B. fehlt die sonst überall vorhandene Zeugenliste, Aufbau und Wortschatz sind nicht die üblichen. So bestehen schon in dieser Hinsicht Verdachtsmomente gegen die Echtheit der Urkunde91. Erst recht sprechen inhaltliche Gründe gegen ihre Authentizität. Sie brauchen hier nicht alle aufgezählt zu werden92. Nur auf jene auffälligen Stellen sei besonders hingewiesen, die dem dydascalus des Aschaffenburger Stifts das Recht einräumen, über seine Teilnahme an dem Gottesdienst zu bestimmen und ausgiebige Reisen mit Weiterbezug der Einkünfte zu unternehmen93. In dem Zusammenhang der außergewöhnlichen Begünstigung des Magisters wird diesem die Aufsicht über das Unterrichtswesen in dem ,,Archidiakonat Aschaffenburg“ übertragen. Niemand darf ohne seine Zustimmung Unterricht erteilen, auch nicht die Mönche, außer die Schüler legen deren Tracht an. Diese Bestimmungen der Urkunde räumen dem Magister eine Machtstellung ein, ,,die für diese Zeit ganz ungewöhnlich ist und zu der es offensichtlich keine Parallelen gibt. Ein Blick auf die allgemeine Entwicklung zeigt, daß die Stiftslehrer andernorts erst im 12. Jahrhundert dieselbe Stellung erhalten“94. Die Ungewöhnlichkeit der Bestimmungen läßt sich nur dadurch befriedigend erklären, daß sie ein späterer Eintrag sind. Die Urkunde ist verunechtet. Sie enthält einen echten Kern. Aber so, wie sie dasteht, ist sie eine im Interesse des Aschaffenburger Magisters angefertigte Fälschung. Der Fall Gozmar, der historisch sein mag, wird von dem Fälscher zum Anlaß genommen, Willigis zum Gesetzgeber des Schulwesens zu machen bzw. die dem Magister erwünschte Rechtsstellung durch die Autorität des Willigis zu sichern. Allzu kurzschlüssig kommt Rexroth gegen den zuvor mehrfach geäußerten Verdacht zu der Annahme der Echtheit der Urkunde95. Der Versuch, durch die Hervorhebung der Bedeutung der Hauptgestalt der Urkunde, des Notars und Magisters Herward, die Echtheit zu retten, kann nicht als gelungen bezeichnet werden. Denn die Absicht, eine verdiente Persönlichkeit auszuzeichnen, erklärt die grundsätzliche, für alle Zukunft bestimmte Regelung nicht genügend. Für die Unechtheit der Urkunde spricht aber auch die Wendung „in archidiaconatu Ascafaburgensi“. Diese Stelle ist die erste Erwähnung des Begriffs archidiaconatus im Sinne des territorialen Bereichs der Archidiakonalgewalt, des Sprengels eines Archidiakons jüngerer Ordnung, im Erzbistum Mainz. Sie ist für diese Zeit singulär. Es gibt keine einzige echte Urkunde 91
Rexroth, Der Stiftsscholaster Herward 207 – 209. Vgl. Rexroth, Der Stiftsscholaster Herward 209 – 221. 93 Für den Scholaster wie für den Dekan galten verschärfte Residenzbestimmungen (Dörr, Das St. Mariengredenstift 39; vgl. Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista 54). 94 Rexroth, Der Stiftsscholaster Herward 220. 95 Rexroth, Der Stiftsscholaster Herward 225. 92
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der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, in der von einem Archidiakonatsbezirk und damit von dem Archidiakon neuer Ordnung die Rede wäre. Das Wort archidiaconatus wird überhaupt erst im 11. Jahrhundert gebräuchlich96, in der Erzdiözese Mainz gar erst im 12. Jahrhundert, und bleibt auch dann außerordentlich selten97. Häufiger ist die Verwendung des Begriffs praepositura für die damit gemeinte Sache98. Es ist unwahrscheinlich, daß der Name archidiaconatus von 976 bis 1133 aus den Mainzer Urkunden verschwunden sein sollte, wenn er schon einmal 976 aufgetaucht war. Das Befremdliche dieses Befundes ist von mehreren Forschern empfunden worden99. Das verfrühte Vorkommen des Begriffs in der angezogenen Aschaffenburger Urkunde hat Edmund E. Stengel zu der Annahme geführt, er sei hier untechnisch gebraucht100. Im nächsten Umkreis des Willigis weiß man noch nichts von dem Archidiakon jüngerer Ordnung. Das Dekret Burchards kennt nur den Einzelarchidiakon101. Auch innere Gründe sprechen gegen die Ursprünglichkeit der Erwähnung des Aschaffenburger Archidiakonats in der angezogenen Urkunde. Vorher und nachher ist in dem Text von der inneren Ordnung der Schule die Rede. Dazwischen steht die Aufrichtung des Schulmonopols des Magisters. Dieser Satz fällt aus dem Zusammenhang heraus. Um das Jahr 1000 kann mithin von einer Einteilung des Gebiets der Erzdiözese Mainz in Archidiakonatssprengel keine Rede sein. Ebensowenig existierte ein Ar96
Amanieu, Archidiacre 963 f.; Franzen, Die Kölner Archidiakonate 5. 1133: in archidiaconatu Jeckeburgensi (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 500 f. Nr. 583); vgl. Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg 18; 1145: in archidiaconatu Lodewici beati Petri prepositi (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 151 f. Nr. 76); 1196: per universum pretaxate prepositure archidiaconatum (ebenda II, 2 S. 1028 bis 1030 Nr. 630). Für Würzburg (1154) vgl. Fr. X. Wegele (Hrsg.), Monumenta Eberacensia, Nördlingen 1863, 57 f. 98 In einer Urkunde Erzbischof Heinrichs I. aus dem Jahre 1149 ist die Rede von einem Zehnten „in termino prepositure Frideslariensis“ (Stumpf, Acta Maguntina 45 f. Nr. 41 = Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 236 f. Nr. 124). Nach einer Urkunde von 1150 schenkte Erzbischof Heinrich I. dem Altar des hl. Petrus in Jechaburg den Neubruchzehnten „per omnem Jechburgensem preposituram“ (Stumpf, Acta Maguntina 46 f. Nr. 42 = Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 251 f. Nr. 134). Vgl. noch 1102: praepositura de Northun (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 312 f. Nr. 406); 1171: ex iurisditione prememorate prepositure (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 569 – 571 Nr. 336); 1184: ex iurisditione ipsius prenominate prepositure (ebenda II, 2 S. 749 f. Nr. 460); 1193 (ebenda II, 2 S. 950 – 952 Nr. 576). Similiter Rothardus Moguntinus archiepiscopus in prepositura Heliginstad ordines celebrans (Saxo: MG Script. VI, 740); Classen, Die kirchliche Organisation 10 f. 99 Vgl. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 55 A. 36, 56 A. 39; Classen, Die kirchliche Organisation 11 A. 12. 100 Classen, Die kirchliche Organisation 11 A. 12. 101 Er ist der Vorsteher der Subdiakone und Leviten (III, 50). Wenn sich der Bischof auf die Sendreise begibt, geht ihm der Archidiakon oder der Archipresbyter voraus und erledigt die leichten Fälle (I, 90). Der Archidiakon visitiert die Pfarreien (III, 50). Er erscheint in richterlicher Funktion (XVI, 21). Im Verhinderungsfall wird der Bischof bei der Visitation von Priestern oder Diakonen vertreten (I, 87). Den Send hält der Bischof aut eius missus (I, 92; vgl. I, 94 Inskription und XI, 20). Dieser missus dürfte regelmäßig der Archidiakon oder der Archipresbyter gewesen sein. 97
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chidiakonatsbezirk Aschaffenburg. Der Einzelarchidiakon behauptete noch seine Stellung. Freilich fällt auf, daß unter den Zeugen einer Urkunde, die auf der Diözesansynode im Oktober 1019102 ausgestellt wurde, ein Archidiakon nicht genannt ist. Es ist indes denkbar, daß er unter den zahlreichen Pröpsten, die erwähnt werden, zu suchen ist. Vielleicht ist der zur Zeit des Willigis erwähnte Archidiakon Hermann mit dem Propst Hermann dieser Urkunde identisch. Jedenfalls ist aus der Tatsache, daß der (Einzel-)Archidiakon nicht erwähnt ist, nicht zu schließen, daß er nicht mehr existiert habe. Der Übergang von dem Archidiakon älterer Ordnung zu dem Archidiakon jüngerer Ordnung dürfte in der Erzdiözese Mainz um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts vonstatten gegangen sein. Dabei ist es wahrscheinlich, daß nicht uno actu eine Archidiakonatsverfassung für das ganze Bistum ins Leben gerufen wurde, sondern daß die Entwicklung in den einzelnen Teilen der Diözese zu verschiedenen Zeiten vor sich ging. Der Weg zu der späteren Archidiakonatseinteilung führte zumindest in bestimmten Gegenden des Bistums über die Entsendung von missi des Erzbischofs in diese Teile des Bistums. Diese übten zunächst als Stellvertreter des Diözesanoberhirten103 Befugnisse der Hirtengewalt aus. Ihre Existenz ist für die entlegenen Orte Sulza und Orlamünde noch in der Zeit Erzbischof Siegfrieds I. (1060 – 1084) bezeugt104. Das läßt vermuten, daß im allgemeinen das Prinzip gilt: Je näher an der Metropole Mainz ein Gebietsteil der Erzdiözese liegt, um so früher ist die Entstehung des Archidiakonats jüngerer Ordnung anzusetzen. Als missi kommen der Chorbischof105, der Archidiakon und der Archipresbyter106 in Frage. Es ist möglich und wahrscheinlich, daß der Erzbischof seinen Archidiakon (älterer Ordnung) hin und wieder und vielleicht in zu-
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Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260. Conc. Seligenstad. 1023 c. 13: ut nullus laicorum alicui presbytero ecclesiam suam commendet praeter consensum episcopi; sed eum prius mittat episcopo vel vicario, ut probetur, si scientia, aetate et moribus talis sit, quod sibi populus dei digne commendari possit (MG Const. I, 638). 104 Comes vero econtra meo successorumque meorum misso, sub cuius iusticia ecclesia illa episcopali defensione muniretur, servicium suum singulis annis denominari precepit (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 195 f. Nr. 306). Si vero missus meus vel successorum meorum propter iusticiam faciendam vocatus Orlamunde venerit, in servicium suum prebeantur (ebenda I, 264 f. Nr. 365). Zu Erzbischof Siegfried I.: M. Herrmann, Siegfried I., Erzbischof von Mainz. 1060 – 1084. Beitrag zur Geschichte König Heinrichs IV. Phil. Diss. Leipzig, Jena 1889. 105 Bruns, Der Archidiakonat Nörten 56 f. 106 Das Mainzer Provinzialkonzil von 888 eximierte das Kloster Korvei von der bischöflichen Jurisdiktion, indem es bestimmte: Nec ad ipsa monasteria vel cellas eorundem vel ipse per se episcopus vel economus ejus vel archipresbiter aut archidiaconus illius seu quelibet ex ejus agentibus persona potestatem habeat accedendi … neque in ecclesiis prefatis monasteriis subjectis vel in presbiteris eisdem ecclesiis ordinatis aliquam temptet facere perturbationem novam constituendo et antiquam constitutionem violando (E. Philippi/M. Bär, Osnabrücker Urkundenbuch, 4 Bde., Osnabrück 1892 – 1904, I, 41 Nr. 53). Das Kloster Korvei besaß Güter hauptsächlich in den Diözesen Paderborn, Osnabrück und Münster. 103
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nehmendem Maße mit Aufträgen an verschiedene Orte seiner Diözese schickte107. Der Umfang der Geschäfte bedingte es, daß einige oder alle drei Ämter mehrfach besetzt waren. Die Ähnlichkeit der Funktionen jedenfalls des Chorbischofs und des Archidiakons mag dazu geführt haben, daß die Bezeichnungen vertauschbar wurden. Die missi mögen regelmäßig in denselben Teil der Diözese entsandt worden sein. So bildete sich eine Gewohnheit, aus der dann ein Anspruch erwuchs. Mit dem Anspruch beginnt sich die iurisdictio ordinaria propria zu bilden, die das Wesen des Archidiakons jüngerer Ordnung ausmacht. Da in der Erzdiözese Mainz zu Archidiakonen jüngerer Ordnung regelmäßig die Pröpste bestimmter Stifter berufen wurden, um sie für die dem Erzbischof geleisteten Dienste zu entschädigen, ist auf das Vorkommen von Pröpsten in der Umgebung des Erzbischofs zu achten108, um ihr Hineinwachsen in die Stellung von Beratern und Gehilfen des Erzbischofs, die sich dann verselbständigten, zu beobachten. Dies ist zuerst der Fall unter Erzbischof Siegfried I. In einer Urkunde aus dem Jahre 1069109 treten zum erstenmal Pröpste in gehäufter Zahl als Zeugen auf, und zwar werden 13 Pröpste genannt. Nun waren diese Pröpste gewiß keineswegs allesamt Archidiakone; wissen wir doch, daß manche Stifte keinen Archidiakonatsbezirk übertragen erhielten. Aber unter ihnen sind die Archidiakone zu suchen110. Um diese Zeit war der Archidiakonat jüngerer Ordnung in der Erzdiözese Mainz vorhanden111. Daß dieser zeitliche Ansatz richtig ist, bestätigt eine Urkunde aus dem Jahre 1073112. Ein Kanoniker des St.-Viktor-Stiftes zu Mainz schenkte dem Kreuzaltar der Stiftskirche Güter in Bodenheim, Nordelsheim, Undenheim, Mommenheim und Bretzenheim. Er fügte die Bedingung bei, daß ein sich etwa über diese erhebender Streit auf der Synode des Archidiakons (eben dieser Kirche) verhandelt werde (in sinodo archidiaconi eiusdem ecclesie inde tractetur inibi). Könne er dort nicht entschieden werden, solle er auf die gewöhnliche Synode des Erzbischofs 107 Die Bischöfe hatten ebenso wie die weltlichen Großen ihre missi. In mehreren Urkunden kommen die Verbindungen episcopus et archidiaconus bzw. episcopus et missus (oder ecclesiasticus) vor, d. h. der archidiaconus steht in Parallele zum missus, diente dem Bischof als missus. Vgl. Weirich, Urkundenbuch der Reichsabtei Hersfeld I, 1 – 4 Nr. 1 (771/2); 9 – 14 Nr. 5/6 (775). 108 Die Urkunde von 1019 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260) ist hier nicht heranzuziehen, weil sie auf einer Synode entstanden ist, an der naturgemäß die Pröpste teilnehmen mußten. 109 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 212 Nr. 323. 110 In der Urkunde Erzbischof Adalberts für Bickenbach von 1130 wird die Stellung Heinrichs als Archidiakon und als Propst von St. Viktor sauber auseinandergehalten (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 473 f. Nr. 561). 111 Für spätere Zeiten: 1090 trifft Erzbischof Ruthard eine wichtige Entscheidung „cum consilio et consensu abbatum nostrorum, prepositorum, militum, qui tunc ex eventu plurimi affuerunt“ (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 272 – 274 Nr. 374). Vgl. noch 1095 – 1102 (ebenda I, 310 – 312 Nr. 405); 1102 (ebenda I, 312 f. Nr. 406). 112 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 232 Nr. 336.
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verschoben werden (nequeat diffiniri, in communem sinodum archiepiscopi differatur). Zur Zeit der Stiftung war der Archidiakonat eine feste Einrichtung. Mit der Kirche in der Wendung „archidiaconi eiusdem ecclesie“ kann nur die Kirche des St.-Viktor-Stiftes gemeint sein. Von einer anderen Kirche ist in der Urkunde nicht die Rede. Der Archidiakon war also schon fest mit dieser Kirche verbunden; sie war Sitz eines Archidiakons. Dieser war nicht mehr der Beamte des Erzbischofs, sondern selbständiger Amtsträger. Aus der iurisdictio mandata war eine iurisdictio propria geworden. Der Stifter wollte vermutlich die Synode des Erzpriesters ausgeschaltet wissen. Denn es ist aus einer Urkunde von 1090 bekannt, daß der Erzpriester (des Dekanats Eschborn) einmal im Jahre die Synode abhielt113. Wenn der Schenker sich ausbedang, daß Streitigkeiten über die von ihm übertragenen Güter auf der Synode des Archidiakons der Kirche des St.-Viktor-Stiftes verhandelt werden, dann setzt das voraus, daß der erwähnte Archidiakon regelmäßig die Synode abhielt und daß die genannten Orte in dem Gebiet lagen, in dem er seine synodale Tätigkeit ausübte. Er war also nicht mehr ein (womöglich wechselnder) missus, der im Auftrag des Bischofs die Synode hielt, sondern einer, der dies kraft seines Amtes tat, eben der Archidiakon des St.-Viktor-Stiftes. Die Abhaltung der Synode war das wichtigste Recht des Archidiakons114. Auf der Synode hob er die ihm zustehenden Abgaben ein115. Der Archidiakon des St.-Viktor-Stiftes besaß einen Sprengel, in dem er zur Abhaltung der Synode erschien. Es ist jenes Gebiet, das als Bezirk des Archidiakons von St. Viktor aus späteren Aufzeichnungen bekannt ist116. Der Archidiakon war im Besitz der Streitgerichtsbarkeit. Er übte sie regelmäßig auf der Synode117 aus. Ihm wollte der Stifter etwa sich erhebende Streitfragen vorgelegt wissen. Nur in dem Fall, daß es auf der Synode des Archidiakons nicht zu einer Entscheidung käme, sollte die Streitsache auf die gewöhnliche Synode des Erzbischofs gebracht werden. Die Urkunde stellt also einander gegenüber: die synodus archidiaconi und die communis synodus archiepiscopi. Unter letzterer ist vermut113 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 272 – 274 Nr. 374. Erzbischof Adalbert I. verfügte 1133, daß der Pfarrer von Oldisleben archipresbyterale Rechte in seiner Pfarrei erhielt. Außerdem (preterea) wurde ihm die Ehre erwiesen, daß er für seine Pfarrangehörigen in der Pfarrkirche den Send abhalten durfte (ebenda I, 500 f. Nr. 583). Im Dekanat Friedberg hielt nach einer Urkunde, die in die Zeit von 1142 bis 1153 fällt, der Erzpriester den Send (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 342 f. Nr. 184). 1170 wurde die Kirche von Ehlen „ab omni iure archidiaconi et archipresbyteri et ab omni synodo et ab omni synodali iusticia“ befreit (ebenda II, 1 S. 552 f. Nr. 324). 114 1133: archidiaconi sinodus (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 500 f. Nr. 583). Als Rechte des Archidiakons über die Kirche von Ehlen werden in einer Urkunde aus dem Jahre 1170 angegeben donum altaris, cura animarum und synodus (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 552 f. Nr. 324). Über die archidiakonale Gewalt: Classen, Die kirchliche Organisation 15 – 22. 115 1145 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 151 f. Nr. 76). 116 Würdtwein, Archidioecesis Moguntina III, 317 ff.; Baumgarten, Geschichte und Recht 98; Hansel, Das Stift St. Victor 234. 117 Vgl. 1059: sinodale concilium (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 194 f. Nr. 303); 1151: synodalibus querelis (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164).
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lich die Diözesansynode zu verstehen118. Erstere wird häufiger abgehalten als letztere. Denn wenn die Streitsache an diese gebracht werden soll, bedingt das einen Aufschub (differatur). Dagegen ist wohl nicht an den in jedem vierten Jahr zu haltenden erzbischöflichen Send gedacht, weil Streitsachen einen so langen Aufschub nicht vertragen. Das Schaltjahr hieß in der Erzdiözese Mainz mit Rücksicht auf die Sendfahrt des Erzbischofs (bzw. seiner Beauftragten) „,exitus noster“ bzw. „exitus domini archiepiscopi Moguntini“119. Wer der Archidiakon des St.-ViktorStiftes ist, wird nicht gesagt. Es liegt aber nahe, ihn in der Persönlichkeit zu finden, die an der Spitze der Zeugenreihe steht, dem Propst Gunzelin (Guncelino preposito eiusdem ecclesie). Denn es ist kein Grund einsichtig zu machen, weshalb der erste Dignitär des Stifts im Jahre 1073 das Amt nicht bekleidet haben soll, in dessen Besitz er später immer zu finden ist120. Mit der Urkunde von 1073 ist eine sichere Basis gefunden, von der aus an die Interpretation schwieriger Urkunden der Folgezeit herangegangen werden kann. Eine Urkunde, die in die Jahre 1089 bis 1095 zurückweist121, bezeichnet Anshelmus, den Propst des Mainzer Domstiftes, als „eiusdem loci prepositus“, wobei mit „eiusdem loci“ Mainz gemeint ist. Diese Angabe ist insofern beachtlich, als damit nicht eine bloße Ortsbezeichnung erfolgt, die zudem nicht genau wäre, da es ja in Mainz mehrere Pröpste gab, sondern als sich darin das geistliche Herrschaftsrecht des erwähnten Propstes kundtut. Es steht jenem des Erzbischofs nach, was sich darin ausdrückt, daß der Propst nach dem Erzbischof erwähnt wird. Aber es ist eine hoheitliche Macht über ein Teilgebiet der Diözese. Wegen dieser Ähnlichkeit kann die Amtszeit hinter der Regierungszeit des Erzbischofs zur zeitlichen Bestimmung des in der Urkunde beschriebenen Vorgangs herangezogen werden (tempore Ruthardi Maguntine sedis archiepiscopi, Anshelmi eiusdem loci prepositi). Nach der Jahrhundertwende tauchen zahlreichere Belege für die Existenz und die Tätigkeit von Archidiakonen jüngerer Ordnung auf122, die jetzt auch in ein und derselben 118 Zu der Synode des Erzbischofs vgl. die Wendungen in legitima sinodo nostra 1126 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 447 f. Nr. 540) und generalis synodus nostra 1159 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 441 – 443 Nr. 244). 119 Vgl. 1196 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1028 – 1030 Nr. 630); 1296 (Würdtwein, Dioecesis Moguntina II, 11). 120 Hansel, Das Stift St. Victor 234. 121 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 366 Nr. 458. 122 1103: preposito Anshelmo et Adelungo presbitero nuentibus = Archidiakonat von St. Stephan in Mainz (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412); 1123: ne alicui archipresbitero sive archidiacono quicquam debeat = Archidiakonat St. Peter in Fritzlar (ebenda I, 412 – 414 Nr. 510); 1123: cum consensu prepositi Richardi de Durlon eiusque archipresbiteri Hunoldi = Archidiakonat von St. Peter und Paul in Dorla (ebenda I, 415 Nr. 512); 1130: consilio archidiaconi Heinrici et sancti Victoris prepositi (ebenda I, 473 f. Nr. 561); 1130: tam a servitio nostro quam ab archidiaconi … consensu eiusdem archidiaconi libera permaneat = Archidiakonat von St. Martin in Mainz (ebenda I, 482 Nr. 567); 1130: in archidiaconatu Jeckeburgensi, de manu Jeckeburgensis archidiaconi (ebenda I, 500 f. Nr. 583).
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Urkunde in der Mehrzahl erscheinen123. Es braucht ihnen in diesem Zusammenhang nicht weiter nachgegangen zu werden. Nun scheint sich eine Schwierigkeit gegen die vorgetragenen Überlegungen zu erheben. In zwei Urkunden Erzbischof Ruthards von Mainz für die Abtei St. Peter in Erfurt von 1104124 erscheint nämlich als Zeuge nach den Pröpsten Embricho (Embrico) und Otto (Orto) „Henricus Moguntine sedis archidyaconus“ bzw. „Heinricus Moguntine ecclesie archidiaconus“. Diese Urkunden werden von mehreren Autoren zum Anlaß genommen, zu behaupten, Heinrich sei der alte Einzelarchidiakon bzw. der Archidiakon älterer Ordnung, der also um diese Zeit noch bestehe und sogar noch 1123 begegne125. Die Bezeichnung „Moguntine sedis archidyaconus“ bzw. „Moguntine ecclesie archidiaconus“ ist indes sorgfältig zu unterscheiden von jener, die sich zur Zeit des Willigis der Archidiakon Hermann zulegt: „archidiaconus Wiligisi episcopi“. Während dieser Ausdruck das Mandatsverhältnis wiedergibt, in dem der Archidiakon zu der Person des Bischofs steht, hebt jener die Bindung an den Bischofsstuhl bzw. die Zugehörigkeit zu dem Bistum hervor. Welcher Art diese Beziehung ist, läßt sich aus ihr nicht erschließen. In jedem Fall ist die Abhängigkeit von dem Diözesanoberhirten bei dem Archidiakon, der sich dieser Titulaturen bedient, geringer als bei dem Archidiakon des Willigis. Wie wenig beweiskräftig für das Überleben des Archidiakons älterer Ordnung die erwähnten Wendungen sind, ergibt sich aus einer Urkunde des zu Ende gehenden 13. Jahrhunderts, also aus einer Zeit, in der niemand das Weiterexistieren des Archidiakons älterer Ordnung mehr annimmt. Am 20. Juli 1288 bestätigt Lambert, der Propst von St. Marien in Erfurt, als Archidiakon der Mainzer Kirche die Verfügung des Landgrafen Albert von Thüringen über die Pfarrkirche in Eckertsberga vom 13. Juli 1288 zu Gunsten des Moritzstiftes zu Naumburg126. Hier ist zweifellos der Archidiakon des Archidiakonats St. Marien/Erfurt gemeint. Er bezeichnet sich aber als Archidiakon der Mainzer Kirche, und zwar in einer Urkunde, in der über die Pfarrkirche an einem Ort, der zu seinem Archidiakonatssprengel gehörte, eine 123
In einer Urkunde Erzbischof Adalberts I. für das Kloster des hl. Nikolaus auf dem Bischofsberge im Rheingau aus dem Jahr 1130 heißt es, die Befreiung des erwähnten Klosters aus seiner Abhängigkeit von dem Kloster St. Alban in Mainz sei geschehen „auf Rat und mit Billigung unserer Archidiakonen, Äbte und anderer Personen“ (archidiaconorum, abbatum et aliarum nostrarum consilio et approbatione). Diese Wendung wiederholt sich in der Urkunde, der diese erste zugrunde liegt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 477 f. Nr. 564; I, 478 – 480 Nr. 565). Die Urkunde vom 21. Oktober 1133, die den Entscheid über den Zehntstreit zwischen dem Bistum Halberstadt und dem Kloster Hersfeld enthält, führt als erste Gruppe der Zeugen an „Archydiaconi sancte Moguntine ecclesie“ (ebenda I, 505 f. Nr. 588). 124 Overmann, Urkundenbuch I, 5 f. Nr. 5; I, 6 f. Nr. 6 = Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 321 f. Nr. 417; I, 323 – 325 Nr. 419. Die an zweiter Stelle genannte Urkunde ist nach Stimming eine Fälschung des 13. Jahrhunderts. 125 Classen, Die kirchliche Organisation 11 A. 12; Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg 14. 126 Overmann, Urkundenbuch I, 341 Nr. 591. Vgl. Dobenecker, Regesta IV, 416 Nr. 2915, Nr. 2916; IV, 417 Nr. 2921.
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Verfügung getroffen wurde127. Diese Bezeichnung soll seine amtliche Stellung in der Organisation der Erzdiözese Mainz angeben, nicht mehr und nicht weniger. Nicht anders ist es in den fraglichen Urkunden aus den Jahren 1104 und 1123. Die Tatsache, daß der Titel aber nur von Heinrich, nicht von den vorher genannten Pröpsten Embricho (wohl vom St.-Marien-Stift in Erfurt) und Otto (wohl vom St.-Marien-Stift in Heiligenstadt) geführt wird, ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß diese noch nicht das Amt des Archidiakons erlangt hatten. Unentschieden bleibt, wer Heinrich, der Archidiakon des Mainzer Stuhles, ist. Der Archidiakon des Erzbischofs Willigis, Hermann, war für Bleidenstadt tätig. Das Gebiet von Bleidenstadt gehörte später zu dem Archidiakonatssprengel von St. Peter in Mainz128. Dieser umfaßte die beiden Dekanate Eschborn und Kastel. Als 1107129 eine Kuratkapelle in Medenbach errichtet wurde, gab der Chorbischof Asmar seine Zustimmung. Der Chorbischof Asmar war Propst130 des Stiftes St. Peter131, d. h. der zuständige Archidiakon. Auch hier dürfte es als erwiesen anzusehen sein, daß die Archidiakone jüngerer Ordnung den Chorbischöfen nachfolgen.
III. Stifte Chorbischof und Archidiakon waren die wichtigsten und nächsten Gehilfen des Bischofs bei der Regierung der Diözese. Die ihnen übertragenen Aufgaben setzten voraus, daß sie theologisch gebildete und rechtskundige Persönlichkeiten waren. Solche aber waren in der damaligen Zeit vorzugsweise in den geistlichen Stiften zu finden. Die weitverbreitete Regel des Chrodegang von Metz (742 – 766) verlangte von dem Archidiakon und dem Primicerius, den beiden wichtigsten Vorgesetzten der Kanoniker, sie müßten sein ,,docti evangelica et sanctorum Patrum instituta canonum“132. Die Aachener Regel133, die als Vorsteher des Kapitels an Stelle des Archidiakons den Propst (praepositus) einführte (cc. 117 – 119), unterschied sich in dieser Hinsicht nicht. Soweit es uns bekannt ist, suchte man diesen Vorschriften Genüge zu tun. Auch unter den übrigen Dignitären und den Kanonikern waren regelmäßig Männer, die sich für die Heranziehung zu Verwaltungsaufgaben eigne127
Hannappel, Das Gebiet 140. Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 76 f. 129 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 340 f. Nr. 434. 130 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 359 – 361 Nr. 452 (1112); I, 363 f. Nr. 456 (1112); I, 364 – 366 Nr. 457 (1112); I, 388 f. Nr. 483 (1119). 131 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 415 – 417 Nr. 513 (1123). 132 W. Schmitz (Hrsg.), S. Chrodegangi Metensis Episcopi (742 – 766) Regula Canonicorum. Aus dem Leidener Codex Vossianus Latinus 94 mit Umschrift der tironischen Noten herausgegeben, Hannover 1889, 16. 133 Forma institutionis canonicorum et sanctimonialium canonice viventium Anno Christi 806 Ludovici Pii imp. hortatu in concilio Aquisgranensi edita, collectore Symphosio Amalario Metensi presbytero (PL 105, 815 – 976). 128
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ten. Die Kanoniker stellten einen Personenkreis dar, aus denen später die Offiziale der Archidiakone und deren rechtsgelehrte Assessoren genommen wurden. Geistliche Stifte haben denn auch in der Geschichte des Erzbistums Mainz und speziell in der Wirksamkeit des Erzbischofs Willigis eine große Rolle gespielt. Das Bistum war von Stiften regelrecht durchsetzt. Das 10. und das 11. Jahrhundert sind die Zeit der meisten Gründungen von Stiften in der Mainzer Erzdiözese und speziell in der Bischofsstadt. Die wichtigsten seien erwähnt. Außerhalb der Stadt Mainz bestanden schon vor dieser Zeit eine Reihe von Stiften. Die Errichtung des Stiftes an der Salvatorkirche zu Frankfurt am Main wird auf König Ludwig den Deutschen (843 – 876) zurückgeführt134. Einer frühen Zeit gehört auch das St.-Martin-Stift in Bingen135 an. Zur Zeit des Willigis ist es jedenfalls in voller Existenz und steht mit Propst, Dekan, Scholaster, Kustos und Kantor ausgebaut da136. Das St.-Marien-Stift zu Erfurt, das die wahrscheinlich von Bonifatius gegründete, ursprüngliche Hauptpfarrkirche der Stadt besaß, geht vermutlich in die bonifatianische Zeit zurück137. Das Stift St. Martin zu Heiligenstadt ist angeblich um 960 durch Erzbischof Wilhelm (954 – 968) gegründet worden138. Von den Stiften in der Stadt Mainz ist allein das St.-Moritz-Stift bereits um 880 entstanden. Als sein Gründer wird Erzbischof Liutbert angegeben139. Erzbischof Friedrich (937 – 954) errichtete ca. 944 – 948 nördlich der Stadtmauer von Mainz das Stift St. Peter140. Der Mainzer Dompropst und spätere Erzbischof von Trier, Gangolf (965 – 977), gründete wohl im Jahre 960 das Stift St. Gangolf in Mainz141. Mit einer Energie ohnegleichen nahm sich Erzbischof Willigis der Stifte in seiner Diözese an. Er gründete bzw. erwarb eine Reihe von Stiften und suchte sie entsprechend auszustatten. Vermutlich bald nach der Übernahme des Mainzer Erzstuhles begann er den Neubau des St.-Martin-Stiftes und der Kathedralkirche in Mainz142. Das Stift St. Peter und Alexander in Aschaffenburg, dessen Bau zwischen 947 und 957 begonnen worden und das 974 kirchenrechtlich 134
Schoenberger, Der Frankfurter Dom 5. Kuntze, Das Stift St. Martin in Bingen 4 – 6 (eine Gründung des Willigis); Wagner, Stifte II, 318 – 329. 136 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242 (1006). 137 A. Overmann, Erfurt in zwölf Jahrhunderten. Eine Stadtgeschichte in Bildern, Erfurt 1929, 106. 138 Opfermann, Die Klöster des Eichsfeldes 14. 139 Böhmer-Will, Regesten I, 82 Nr. 63; Wagner, Stifte II, 393 – 398. 140 Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 68 f. Nr. 127 = Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 213 – 215 Nr. 324. Vgl. Böhmer-Will, Regesten I, 103 Nr. 18; Wagner, Stifte II, 398 – 405. 141 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 128 f. Nr. 207; Wagner, Stifte II, 346 – 351. Vgl. E. Boshof, Das Erzstift Trier und seine Stellung zu Königtum und Papsttum im ausgehenden 10. Jahrhundert (= Studien und Vorarbeiten zur Germania Pontificia Bd. 4), Köln/Wien 1972, 10 f. 142 Annales Wirziburgenses a. 977: MG Script. II, 242; Ann. S. Disib. a. 975: MG Script. XVII, 6 = Böhmer, Fontes III, 178. Vgl. Böhmer-Will, Regesten I, 119 Nr. 9; Wagner, Stifte II, 377 – 393. 135
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bereits fest ausgebildet war, kam unter ihm noch vor 980 zu Mainz143. In bzw. vor der Bischofsstadt selbst schuf Willigis zwei Stifte, wobei er sich an schon vorhandene ältere Kirchen anlehnte. Zwischen 975 und 992 fällt die Errichtung des St.-Stephan-Stiftes im Westen der Stadt144. Im Jahre 994 oder 995 gründete Willigis das Stift St. Viktor außerhalb der Mauern der Stadt Mainz145. In dem weiten Sprengel seines Bistums rief Willigis vermutlich wenigstens drei Stifte ins Leben. Im Westen legte er auf dem Disibodenberg in der Nähe von Kreuznach das Fundament für den Neubau einer Kirche und gründete ein Stift mit 12 Kanonikern146. Im Osten, in Thüringen, entstanden mindestens zwei Stifte, ca. 1004 das St.-Peter-Stift zu Jechaburg147 und ca. 987 das St.-Peter-Paul-Stift zu Dorla148. In Erfurt bestand seit Anfang des 8. Jahrhunderts das Kloster St. Peter. Bald nach 1000, vielleicht unter Willigis, wurde es in ein Kanonikerstift umgewandelt149. Ebenso wurde das St.-Peter-Stift in Fritzlar vermutlich im 11. Jahrhundert in ein Kanonikerstift umgewandelt150. Im 11. Jahrhundert entstanden noch die Stifte St. Maria im Feld bei Mainz151 und das St.-Aureus- und Justinus-Stift zu Hei1igenstadt152 wohl im zweiten Jahrzehnt, St. Johann in Mainz vermutlich noch 1036153, St. Mariengreden in
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Klein, Studien 63 – 66. Ann. S. Disib.: MG Script. XVII, 6; Chron. Albrici mon. trium font.: MG Script. XXIII, 778; Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 140 f. Nr. 231; Böhmer-Will, Regesten I, 126 Nr. 71; Wagner, Stifte II, 405 – 416. 145 Vita Burchardi: MG Script. IV, 833; W. Levison (Hrsg.), Vitae Sancti Bonifatii Archiepiscopi Moguntini (= Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum ex M. G. H. separatim editi [57]), Hannover /Leipzig 1905, 105; Passio S. Bonifatii: Jaffé, Monumenta Moguntina 481; Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 229 f. Nr. 334; Böhmer-Will, Regesten I, 129 Nr. 106; Wagner, Stifte II, 416 – 425: Vgl. Hansel, Das Stift St. Viktor 6 f. 146 Ann. S. Disib. a. 975: MG Script. XVII, 6; Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 342 – 344 Nr. 436; I, 461 – 465 Nr. 553; Gudenus, Codex diplomaticus I, 183 – 185 Nr. 67; Remling, Urkundliche Geschichte I, 14 – 51; Böhmer-Will, Regesten I, 118 f. Nr. 8. 147 Guerrier, Officium et miracula 35; Böhmer-Will, Regesten I, 137 Nr. 147; I, 143 f. Nr. 173. 148 Mariani Scoti chron.: MG Script. V, 555; Ann. S. Disib. a. 987: Böhmer, Fontes III, 178; Böhmer-Will, Regesten I, 124 Nr. 56; Dobenecker, Regesta I, 119 Nr. 537. 149 Overmann, Urkundenbuch I, 3 f. Nr. 3; I, 4 f. Nr. 5; K. Krauth, Das Merowingische Alter des Petersklosters zu Erfurt, aus den Quellen nachgewiesen: Königliches Realgymnasium zu Erfurt. Beilage zum Jahresbericht 1911/12, Erfurt 1912, 35. 150 P. Acht, Fritzlar: LThK IV, 2. Aufl., 1960, 394. Anders Lennarz, Propstei 78 f. 151 Böhmer-Will, Regesten I, 145 Nr. 4; Wagner, Stifte II, 362 – 368. Willigis starb am 23. Februar 1011. Am 1. April 1011 wurde sein Nachfolger Erkenbald durch Bischof Bernward von Hildesheim geweiht. Wenn, wie es wahrscheinlich ist, noch in demselben Jahre das Benediktinerstift Maria im Feld bei Mainz errichtet wurde, dann darf vermutet werden, daß Plan und Absicht dieser Neugründung schon auf Willigis zurückgehen und vielleicht schon von ihm Vorbereitungen dafür getroffen worden waren. 152 MG Diplom. Reg. et Imp. Germ. III, 613 f. Nr. 481. 153 Böhmer-Will, Regesten I, 170 Nr. 28; Wagner, Stifte II, 351 – 362. Vgl. Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista I, 9. 144
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Mainz in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre154, das St.-Marien- und PetrusStift zu Nörten 1055155 und das St.-Alexander-Stift zu Einbeck ca. 1080156, die Stifte in Hasungen157 und Ravengiersburg158 im Jahre 1074. Auch das St.-Severi-Stift in Erfurt wurde wohl im 11. Jahrhundert gegründet159. Es zeigt sich in der Erzdiözese Mainz bezüglich dieser Gründungen von Stiften eine glückliche Kontinuität. Willigis setzte fort, was andere Erzbischöfe vor ihm begonnen hatten, und seine Nachfolger ergänzten, was Willigis noch nicht hatte vollenden können. Freilich muß zugegeben werden, daß ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine gegenläufige Bewegung einsetzte. Die Stifte St. Peter in Erfurt160, Hasungen161 und auf dem Disibodenberg162 wurden in Klöster zurückverwandelt. Willigis war indes keineswegs ein ausschließlicher Begünstiger der Kanonikerstifte mit einer frostigen Haltung gegenüber den Klöstern. Er hat vielmehr die Mönche wohlwollend gefördert, wofür seine zahlreichen Interventionen für Klöster ein Zeugnis sind163. Im 10. Jahrhundert bestanden in der Stadt Mainz nur die zwei Klöster Altmünster und St. Alban. Letzteres, eine Gründung des Erzbischofs Richulf (787 – 813), behauptete seine hervorragende Stellung auch unter Willigis. Dem Kloster Bleidenstadt, das von Erzbischof Lullus (755 bis 786) gegründet worden war, erneuerte Willigis die Kirche und bestätigte ihm den Pfarrsprengel164. Ebensowenig stand Willigis der klösterlichen Reformbewegung distanziert gegenüber. Vielmehr wandte er seine Förderung in erster Linie Klöstern zu, die von ihr erfaßt
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Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 200 f. Nr. 311; Mariani Scoti chron.: MG Script. V, 560; Böhmer-Will, Regesten I, 191 Nr. 54; Wagner, Stifte II, 368 – 377. 155 A. Schmidt (Hrsg.), Urkundenbuch des Eichsfeldes Teil 1 (Anfang saec. IX bis 1300). Mit Benutzung der Sammlungen von Julius Jaeger (= Geschichtsquellen der Prov. Sachsen und des Freist. Anhalt Neue Reihe Bd. 13), Magdeburg 1933, I, 16 – 19 Nr. 30 = Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 185 – 187 Nr. 296; Dobenecker, Regesta I, 167 f. Nr. 806; BöhmerWill, Regesten I, 187 Nr. 12. 156 Drawe, Der Klein-Archidiakonat Einbeck 20 – 30; H. Engfer, Einbeck: LThK III, 2. Aufl., 1959, 743. 157 W. Heinemeyer, Die Urkundenfälschungen des Klosters Hasungen: Arch. f. Diplomatik, Schriftgesch., Siegel- und Wappenkunde 4, 1958, 226 – 263; P. Acht, Hasungen: LThK V, 2. Aufl., 1960, 26. 158 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 236 – 238 Nr. 341. Erzbischof Siegfried I. förderte die Gründung des Stiftes Ravengiersburg (J. Wirges, Die Anfänge der Augustinerchorherren und die Gründung des Augustiner-Chorherrenstiftes Ravengiersburg. Phil. Diss. Freiburg/ Schw. 1928, 25 ff.). 159 Overmann, Erfurt in zwölf Jahrhunderten 106. 160 Overmann, Urkundenbuch I, 3 f. Nr. 3. 161 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 253 – 258 Nr. 358. 162 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 342 – 344 Nr. 436. 163 Hallinger, Neue Forschungen 13, 48 f. 164 Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 14 – 17 Nr. 46.
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waren. Aus dem Reformkloster St. Maximin in Trier holte er sich den Abt für das Kloster in Bleidenstadt165. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß Willigis nicht als Urheber von Klöstern, sondern von Kollegiatstiften in die Geschichte eingegangen ist. Die vier Gründungen Disibodenberg, Dorla, St. Stephan und St. Viktor waren Kanonikerstifte, keine Klöster. Das zunächst in Jechaburg gegründete Benediktinerkloster wurde bald in ein Kollegiatstift umgewandelt. Für die Bevorzugung der Kanonikerstifte vor den Klöstern muß Willigis seine Gründe gehabt haben, denen vermutungsweise nachgegangen werden kann. Die Kanonikerstifte wurden wohl in erster Linie als Zentren religiösen Lebens, seelsorglicher Arbeit und kirchlicher Bildung gegründet. Sie teilten zwar mit den Klöstern die Absicht, durch die Feier der Liturgie in Messe und Stundengebet Gott zu verherrlichen. Sie oblagen aber nicht, sich selbst genügend, allein dem Gottesdienst, wie es die Klöster grundsätzlich taten, sondern verbanden von vornherein die Gottesverehrung und Selbstheiligung mit dem apostolischen Dienst. Die Kanonikerstifte waren daher geeignet, in das Land hinein zu wirken, es zu ,,erleuchten“. Die Inschrift, die sich einst an dem alten Turm der Kirche zum hl. Stephan in Mainz befand, hält, eindeutiger in der Fassung von Volusius als in jener von Guerrier, fest, daß die Errichtung der Kirchen und der Stifte zu Dorla und Jechaburg nicht nur den Bewohnern dieses kleinen Ortes, sondern der Umgebung zugute kommen sollte: „Thuringis Derlam fecit, Jecheburque Valernam“ bzw. „Thuringis Ternam delubrum, Jechburque Valernam“166. Dies dürfte für alle Stifte, die Willigis gründete, gegolten haben. Vermutlich verfolgte er mit ihrer Errichtung die Absicht, ihnen die Seelsorge für ein bestimmtes Gebiet zu übertragen. Dafür bestanden gewichtige Gründe. Gerade in den Teilen der Erzdiözese, die von der Bischofsstadt weit entfernt lagen, mußte der Gefahr begegnet werden, daß sie religiös-kirchlich vernachlässigt wurden und sich evtl. nach kirchlichen Zentren außerhalb des Bistums orientierten. Die Rodung und die Siedlung schritten fort. Der Ausweitung und der Verdichtung des besiedelten Landes mußte die kirchliche Organisation folgen. Für die damit gestellten Aufgaben waren Klerikergemeinschaften weit geeigneter als Einzelpersonen. Von den Stiften konnten die Errichtung von Kirchen und die Gründung von Pfarreien ausgehen bzw. an sie konnten sich Kirchen und Pfarreien seelsorglich und wirtschaftlich anlehnen. Die Stifte mit ihrem Personal und ihren finanziellen Mitteln vermochten das flache Land religiös zu erfassen und die Seelsorge sicherzustellen. Sehr häufig waren die Stiftskirchen zugleich Pfarrkirchen167. Für die Seelsorge waren die Kanoniker grundsätzlich 165
Hallinger, Neue Forschungen 49 f. Böhmer-Will, Regesten I, 143 f.; F. Werner, Der Mainzer Dom und seine Denkmäler, nebst Darstellung der Schicksale der Stadt, und der Geschichte seiner Erzbischöfe, 1. Theil, Mainz 1826, 512 f. 167 Für Nörten: Bruns, Der Archidiakonat Nörten 42; für Bingen: Büttner, Die Statuten 167; für Aschaffenburg: H. Hoffmann, Die Pfarreiorganisation in den Dekanaten AschaffenburgStadt, Aschaffenburg-Ost und Aschaffenburg-West (1818 – 1956). Eine Studie zum Atlas ,,Bistum Würzburg“, in: Aschaffenb. Jb. 4, 1957, 945 – 994, hier 954; für St. Mariengreden: 166
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besser geeignet als die Mönche. Sie waren ja Weltpriester und auf Wirken in der Welt eingestellt. Das Leben der Mönche dagegen war ganz überwiegend den gottesdienstlichen Aufgaben gewidmet und von ihm absorbiert. Die Ausübung von Seelsorge durch die Benediktiner war jedenfalls nicht die Regel168. Auch eine disziplinäre Überlegung mag für Willigis mitgesprochen haben, wenn er die Gründung von Stiften betrieb. Die Seelsorger auf dem Land waren nicht selten isoliert, geistig und geistlich sich selbst überlassen. In dieser Vereinsamung lagen Gefahren für die Spiritualität und die zölibatäre Lebensform der Priester bzw. der Majoristen. In den Stiften mit ihrer Gemeinschaft und ihrer geschlossenen Lebensweise konnte das innere Leben der Geistlichen leichter Anregung und Förderung erfahren und war die Verpflichtung zur Ehelosigkeit leichter einzuhalten als auf dem Land. Auch die Beobachtung der kirchlichen Rechtsordnung, z. B. in Sachen der Liturgie, mußte durch die Anlehnung der Geistlichen an ein Stift leichter zu gewährleisten sein, als wenn sie ohne diesen Rückhalt sich zurechtfinden mußten. In dieser Überlegung mochte sich Willigis mit seinem vertrauten Freund Burchard, dem späteren Bischof von Worms, einig sein169. Burchard war, wie sich auch aus seinem Dekret ergibt170, ein eifriger Förderer des gemeinsamen Lebens der Geistlichen entweder als Mönche oder als Kanoniker. Auch die Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bildung und der Ausbildung mögen für die Gründung von Stiften durch Willigis mitbestimmend gewesen sein. Alle Stifte hatten einen Scholaster, dem regelmäßig noch ein oder mehrere Helfer zur Seite standen, und unterhielten eine Unterrichtsanstalt. Die Kanonikerstifte waren Zentren der Bildung, und zwar in stärkerem Maße als die Klöster auch einer nach außen gerichteten Bildung. Während die Klöster die innere Schule beibehielten und
Dörr, Das St. Mariengredenstift 94 – 98; für St. Viktor: Hansel, Das Stift St. Victor 80, 117; für St. Stephan: Gerlich, Das Stift St. Stephan 38; für St. Johannes Baptista: Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista 57; für St. Maria im Feld: Schürmann, Das Stift S. Maria in campis 112 – 115. Vgl. K. H. Schäfer, Die Pfarreigenschaft der regulierten Stiftskirchen: ZSavRG, Kan. Abt. 14, 1925, 161 – 173; Gerlich, Studien 15; Schaefer, Pfarrkirche und Stift 79 – 85. 168 G. Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert. (1099 – 1181) (= Kirchenrechtl. Abh. 65. und 66. Heft), Stuttgart 1910, II, 47 f. Zu der Seelsorge durch Mönche: Ph. Hofmeister, Mönchtum und Seelsorge bis zum 13. Jahrhundert: Studien und Mitt. OSB 65, 1953/54, München 1955, 209 – 273; A. Fehringer, Die Klosterpfarrei. Der Pfarrdienst der Ordensgeistlichen nach geltendem Recht mit einem geschichtlichen Rückblick, Paderborn 1958, 57 – 65, besonders 62. 1170 gestattete Erzbischof Christian dem Abt von Hasungen, in der Kirche zu Ehlen einen Mönch als Seelsorger zu bestellen (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 552 f. Nr. 324). 169 Koeniger, Burchard I. von Worms 33. Vgl. die Vita Burchardi (MG Script. IV, 829 – 846, hier 833); Wormatia sacra. Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Bistums Worms, Worms 1925, darin: K. Börschinger, Buchard I., Bischof von Worms 1000 bis 1025 (Einführung und Übersetzung der Vita von ca. 1030) 1 – 42; H. Schmitt, Bischof Burchard im Urteil der Zeitgenossen 43 – 51. 170 Dekret Burchards I, 228; II, 231; VIII, 5, 7, 58, 91.
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die äußere aufgaben, besaßen die Stifte beide171. Die Stifte waren vor allem Bildungsstätten für den geistlichen Nachwuchs. Eine Zeit, in der viele Pfarreien gegründet und die Pfarrorganisation ausgebaut wurden, hatte großen Bedarf an Geistlichen. Er konnte am leichtesten durch die Stifte gedeckt werden. Für die Stadt Mainz selbst ist der Hinweis auf die seelsorgliche Bedeutung der Gründung von Stiften nicht stichhaltig. Es ist richtig festgestellt worden, daß die in der Bischofsstadt vorhandenen Kirchen und Kapellen angesichts der geringen Bevölkerungszahl für die Bedürfnisse der Seelsorge ausreichten172. Aber in Mainz bestanden andere Gründe, die einen zahlreichen und gut ausgebildeten Klerus notwendig machten. Der Erzbischof hatte für die umfangreichen Aufgaben, die er im Dienst der Kirche und des Reiches bewältigen mußte, qualifizierte Helfer nötig. Solche hoffte er in den Stiften zu finden. Dies scheint in vollem Umfang gelungen zu sein. Vor allem die Dignitäre, unter diesen wieder an erster Stelle die Pröpste, traten weithin in den Dienst der Diözesanverwaltung. Auf der Synode, die Erzbischof Erkanbald (1011 – 1021) im Oktober 1019173 in Mainz abhielt, urkundeten mindestens neun, möglicherweise zehn oder elf Pröpste. Im 11. und 12. Jahrhundert waren manche Pröpste beinahe ständige Begleiter der Erzbischöfe174. Die Pröpste hatten nicht selten erzbischöfliche Ämter inne wie das des camerarius175. Auffallend häufig sind Urkunden, die der Mainzer Erzbischof ausstellt, von Pröpsten der Stifte der Mainzer Erzdiözese diktiert, geschrieben oder entworfen176. In den Stiften waren auch die Persönlichkeiten zu finden, deren sich der Erzbischof bedienen konnte, wenn er sich, z. B. für die Abhaltung des Sends, vertreten lassen wollte. Er konnte sich dann jeweils an einen der Pröpste wenden, je nach dem Teil des Bis171 Biskamp, Das Mainzer Domkapitel 31; Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista 55; H. Schmitt, Aus der Geschichte der Wormser Domschule, in: Wormatia sacra 52 – 60, hier 59; Siegwart, Die Chorherren- und Chorfrauengemeinschaften 202. 172 Schmidt, St. Willigis 11. 173 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260. 174 „Die Pröpste des Stiftes (sc. St. Victor) lassen sich aber schon seit der Gründung in der Umgebung der Erzbischöfe feststellen, und andere Prälaten, ja sogar einfache Stiftsherren, wurden von den Erzbischöfen zu Diensten herangezogen oder sind als erzbischöfliche Beamte feststellbar“ (Hansel, Das Stift St. Victor 8). Die Pröpste von St. Stephan sind vom ersten Augenblick an, da sie geschichtlich faßbar werden, nicht nur ihrem Stift verpflichtet, sondern stehen im Dienst des Erzbischofs (Gerlich, Das Stift St. Stephan 11, 13). Vgl. Dörr, Das St. Mariengredenstift 14 – 17; Böckmann, Das Stift St. Johannes Baptista 43. 175 Nach der Vita Burchardi macht Willigis den Burchard zu „suae camerae magistrum ac civitatis primatem“ (MG Script. IV, 833). Vgl. 1119 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 388 f. Nr. 483); 1131 (ebenda I, 488 f. Nr. 572); 1145 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 152 – 154 Nr. 77); 1146 (ebenda II, 1 S. 176 – 178 Nr. 91); 1149 (ebenda II, 1 S. 236 f. Nr. 124). 176 Z. B. Heinrich, Propst von Jechaburg: Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 407 f. Nr. 505; I, 409 f. Nr. 508; I, 412 – 414 Nr. 510; I, 414 Nr. 511; I, 415 f. Nr. 513; I, 421 f. Nr. 516; I, 424 f. Nr. 519; I, 429 f. Nr. 523; I, 436 f. Nr. 528; I, 458 – 460 Nr. 551; I, 460 f. Nr. 552; I, 472 f. Nr. 560; I, 473 f. Nr. 561. Mit I, 475 f. Nr. 563 tritt an seine Stelle der Dompropst Heinrich.
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tums, der bereist werden sollte177. Auf diese Weise dürfte die Verbindung des Archidiakonatsamtes mit der Würde des Propstes entstanden sein. Tatsächlich wurde dieses in der Erzdiözese Mainz regelmäßig den Pröpsten bestimmter (nicht aller) Stifte übertragen. Da die Propsteien vermutlich von Anfang an durch den Erzbischof besetzt wurden, hatte dieser in ihnen ein vorzügliches Mittel in der Hand, um die in seinen Diensten stehenden Geistlichen zu entschädigen178. Für kirchliche Aufträge und weltliche Geschäfte waren wiederum die Dignitäre und die Kanoniker179 der Stifte besser zu verwenden als die Mönche der Klöster, deren Leben durch die stabilitas loci eng an den Klosterbezirk gebunden war. Die Absichten, die Seelsorge zu intensivieren, den Klerus zu betreuen und auszubilden sowie Helfer für die vielfältigen Aufgaben des Bischofs zu gewinnen, erschöpften aber wohl noch nicht die Zwecke, deretwegen Willigis und andere Erzbischöfe von Mainz Stifte gründeten, ausstatteten und in jeder Hinsicht förderten. Die Zahl der Pfarreien und erst recht der Kirchen und Kapellen wuchs mit dem Landesausbau fortwährend. Die Gottesdienststätten und die an ihnen angestellten Geistlichen bedurften der Leitung und Aufsicht sowie der Kommunikation mit der bischöflichen Zentrale. Je länger desto weniger war der Erzbischof imstande, sie allein bzw. mit den bisherigen Helfern zu bewältigen. Das gelegentliche, wenn auch wohl regelmäßige Erscheinen eines bischöflichen Beauftragten vermochte eine ständige Überwachung und Verbindung durch Persönlichkeiten, denen bestimmte Gebietsteile der Diözese zur verantwortlichen Kontrolle übertragen waren, nicht zu ersetzen. Dafür boten sich die ersten Dignitäre der Stifte wie von selbst an. Sie waren regelmäßig Vertrauensmänner des Erzbischofs, qualifiziert und in der Verwaltung erfahren. Möglicherweise hat daher schon Willigis an die Stifte als Mittelpunkte kirchlicher Organisation gedacht. Sicherlich hat er den Pröpsten der Stifte nicht jurisdiktionelle Befugnisse über bestimmte, abgegrenzte Teile der Erzdiözese übertragen. Er ist nicht der Schöpfer der Archidiakonatsverfassung im Bistum Mainz. Er hat kein Organisationsstatut für seine Erzdiözese erlassen. Aber er hat den Weg dahin gewiesen und eine Entwicklung eingeleitet, die zu einem solchen führte. An der Errichtung der Stifte ist ,,die aufsteigende Entwicklung“ im Mainzer Erzbistum am deutlichsten abzulesen180. Schließlich dürfen auch die wirtschaftlichen und landesplanerischen Überlegungen nicht übersehen werden, die Willigis und andere Mainzer Erzbischöfe zu 177 1059 stattete der Dompropst – zweifellos in Vertretung des Erzbischofs – die Kirche in Elsoff mit Pfarrechten aus (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 194 f. Nr. 303). 178 Vgl. Gerlich, Studien 10. 179 Das Stift St. Viktor war wie das Stift St. Peter für 20 Kanoniker bestimmt (Hansel, Das Stift St. Victor 7). Die Zahl von 36 Stiftsherren in St. Stephan ist unglaubwürdig (H. Schrohe, Die Geistlichen von St. Stephan in Mainz, Mainz 1923, 9; Gerlich, Das Stift St. Stephan 10). Der Erzbischof hatte das Recht, in allen Stiften zwei Kanoniker als Kapläne auszuwählen, die von der Residenzpflicht befreit waren (Bauermeister, Die korporative Stellung 201). 180 Th. Schieffer, Mainz und der mittelrheinische Raum im Frühmittelalter: Mz. Zs. 58, 1963, 36 – 45, hier 43.
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der Gründung von Stiften bewogen haben mögen. Seelsorglichen Einwirkungsmöglichkeiten korrespondierten ja im Mittelalter vielfach Einflußberechtigungen infolge von weltlichen Gerechtsamen wie z. B. durch den Erwerb von Grundeigentum. Da die Mainzer Stifte fast überall auf Grund und Boden des Erzbischofs errichtet wurden, boten sie dem Erzbischof eine Stütze und eine Basis der Macht. Sie dürften daher auch in der Absicht gegründet worden sein, die Rechte und Güter der Mainzer Kirche wahrzunehmen und sicherzustellen. Die Stifte waren mit dem Erzbischof eng verbunden und boten jedenfalls ursprünglich seiner zentralen Leitung kein Hindernis. Der zerstreut liegende Besitz des Erzstiftes war von einem inmitten oder in der Nähe dieses Besitzes liegenden Stift leichter und ertragreicher zu verwalten als von den in der Bischofsstadt lebenden Beamten des Erzbischofs. Mit ihrer Hilfe vermochte er seinem Besitz Rückhalt zu geben, ihn um Mittelpunkte zu gliedern, den Raum zu durchdringen und mit dem Erzstift zu verbinden. Die Stifte waren geeignet, Zentren der weltlichen Verwaltung und des politischen Einflusses des Mainzer Erzbischofs zu werden. Zugleich konnten die Stifte Ausgangspunkte der Landesentwicklung werden. In ihrer Mitte gab es regelmäßig leistungsfähige Persönlichkeiten, die für wirtschaftliche und finanzielle Belange aufgeschlossen waren. Sie konnten von dem Erzbischof für Aufgaben der zeitlichen Verwaltung herangezogen werden. Da die Erzbischöfe häufig auf Reisen waren, um ihren vielfältigen Verpflichtungen als Diözesanoberhirten und Metropoliten sowie im Dienst des Reiches Genüge zu leisten, mußte ihnen auch daran gelegen sein, wenigstens in der eigenen Diözese günstig gelegene und leistungsfähige Unterkünfte zu besitzen. Als solche kamen im wesentlichen nur Klöster und Stifte in Frage. Sie boten den Erzbischöfen Stützpunkte und Raststätten, wo sie mit ihrem Gefolge Quartier und Unterhalt fanden. Bemerkenswerterweise liegen die Stifte regelmäßig an wichtigen Straßen oder Kreuzungspunkten181. Auch die militärische Bedeutung der Stifte darf schließlich nicht außer Ansatz bleiben. Mit ihren Mauern und Mannschaften boten sie in Fehden und Kriegen Schutz182. Diese Erwägungen lassen sich an den einzelnen Gründungen erhärten. Der Mittelpunkt der Mainzer kirchlichen und seelsorglichen Aufgaben und der Vorposten der Mainzer wirtschaftlichen und politischen Interessen im fränkischen Maingebiet war Aschaffenburg. Mit diesem Ort und Stift hatte Willigis einen der wichtigsten Bestandteile für das Erzbistum Mainz gewonnen. Gestützt auf dieses Zentrum, wurde die Mainzer Stellung am Untermain ausgebaut183. Die kirchen181
Das Land um Bingen besaß verkehrsgeographisch eine besonders vorteilhafte Lage. Vgl. J. Hagen, Römerstraßen der Rheinprovinz (= Publikationen der Ges. f. rhein. Geschichtskunde XII. Erl. zum geschichtl. Atlas der Rheinprovinz 8. Bd.), Bonn/Leipzig 1923, 25 – 35; G. Bernhard, Beitrag zur Geschichte alter Straßen im nordwestlichen Rheinhessen: Mz. Zs. 27/1932, 1932, 75 – 80. Einbeck war Treffpunkt zweier wichtiger Straßen. Vgl. H. Schloemer, Die Pfarrkirchen Einbecks und ihre Sprengel: Jahresbericht d. V. für Gesch. und Altertümer von Einbeck und Umgebung 1900, 5 – 12, hier 5. Vgl. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 44; Büttner, Zur Geschichte des Mainzer Erzstifts 270. 182 Stimming, Die Entstehung 79 f. 183 Klein, Studien 63; Büttner, Erzbischof Willigis von Mainz 6.
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strategische Absicht ist besonders deutlich bei der Gründung des Stiftes auf dem Disibodenberg. Der am Zusammenfluß von Glan und Nahe gelegene Disibodenberg war ein idealer Punkt seelsorglich-administrativer Strategie im Südwesten des Erzbistums. Er nimmt eine beherrschende Stellung im Glangau ein. Nicht zuerst historische oder Pietätsgründe bewogen Willigis, den Disibodenberg neu zu besetzen, sondern seine strukturelle Planung. Mit sicherem Blick hatte er die günstige Lage des Ortes erfaßt. Er verstand offensichtlich etwas von Seelsorgs- und Raumplanung. Aus der Ausstattung, die er dem Stift zuteil werden ließ184, ist zu erschließen, daß dieses von dem Erzbischof als ,,geistlicher Mittelpunkt und Stütze der kirchlichen Organisation seiner Umgebung“185 gedacht war. Von ihm aus sollte das neuerschlossene Gebiet zu beiden Seiten der Nahe seelsorglich betreut werden. Zugleich hatte das Stift für die ihm übertragenen Kirchen Sorge zu tragen; auf ihm lag die Baulast. Um seine Aufgaben bewältigen zu können, mußte das Stift daran interessiert sein, die Siedlung weiter voranzutreiben. Denn je mehr Menschen in dem Bereich der ihm überwiesenen Kirchen lebten und je mehr die bebaute Fläche wuchs, um so größer mußten die ihm zufließenden Einnahmen werden. Die Baulast an der Stiftskirche lag ja als Reallast auf den umliegende Dörfern. ,,Das Kanonikerstift Disibodenberg hatte im Naheraum und nach dem Hunsrück eine ähnliche Aufgabe, wie sie das Aschaffenburger Stift am Main und im Spessart besaß.“186 Der wichtigste Ort an dem Zusammenfluß von Nahe und Rhein war, wirtschaftlich und militärisch gesehen, Bingen. Das Binger St.-Martin-Stift hatte die Aufgabe, das Waldgebiet an der unteren Nahe seelsorglich aufzuschließen und kirchlich zu betreuen187. Es war der Ausgangspunkt einer nach Westen gerichteten Planung des Erzbischofs188. Die Schenkung Ottos II. von Verona (983)189 brachte dem Erzstift wertvolle Rechte und Besitzungen im Raum um Bingen und im Rheingau ein. Bingen wurde ein Zentrum der Mainzer Verwaltung im Mündungsgebiet der Nahe. Von den Stiften St. Stephan und St. Viktor wissen wir, daß sie nicht nur Aufgaben in der Bischofsstadt zu erfüllen hatten, sondern daß sie in die Diözese hineinwirken sollten. Ihnen wurden Besitzungen und Pfarreien zugewiesen, die sie zu betreuen, mit dem Hauptort des Bistums zu verbinden und in die Verwaltungsorganisation einzubeziehen hatten190. Willigis erwartete von seinen Schenkungen eine Förderung des Landesausbaus im Taunus, der verständlicherweise planmäßiger und intensiver betrieben werden konnte, wenn er von einem Stift als wenn er von Privatpersonen unternommen wurde. Die Zukunft bestätigte die Erwartungen des Erzbischofs. Die Landeserschließung im Taunus wurde von dem St.-Stephan-Stift 184
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 461 – 465 Nr. 553. Büttner, Studien 16 – 21, hier 19. 186 Büttner, Erzbischof Willigis 12. 187 Brück, Willigis und die kirchliche Organisation 30 f.; Büttner, Die Statuten 167. 188 A. Gerlich, Historische Strukturelemente und Strukturwandlungen des Nahemündungsgebietes im frühen und hohen Mittelalter, in: 1000 Jahre Binger Land 44 – 64, hier 58. 189 Stimming, Urkundenbuch I, 138 Nr. 226. 190 Vgl. Büttner, Zur Geschichte des Mainzer Erzstifts 272 f. 185
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tatkräftig gefördert191. Für die Errichtung der Stifte in Dorla und Jechaburg dürften ähnliche Überlegungen mitbestimmend gewesen sein. Das von Mainz gesehen abseits liegende Thüringen, das unter dem beherrschenden Einfluß der Klöster Hersfeld und Fulda stand192, bedurfte dringend neuer kirchlicher Zentren. Willigis gab sie ihm in Jechaburg und Dorla. Die überörtliche, regionale Bedeutung der Gründung ergibt sich aus der Bezeichnung des Stiftes zu Jechaburg als ,,luminare, quo magna ex parte illustratur Turingia“ in dem Officium vetustissimum sancti Willigisi193. Im südwestlichen Thüringen füllte das Stift Dorla eine kirchenorganisatorische Lücke in dem Gebiet beiderseits der Werra zwischen Heiligenstadt und Erfurt aus. Im Falle von Dorla ist das Zusammenwirken von Laieninitiative und erzbischöflicher Planung bemerkenswert. Graf Wigger von Bilsheim übergab seinen Besitz in der Mark Dorla dem hl. Martin und dem Bischof von Mainz. Willigis verwandte ihn 987 zur Gründung eines Chorherrenstiftes194. Die Nachfolger des Willigis setzten die von ihm begonnene Entwicklung im Osten und Norden des Erzbistums mit der Gründung von Nörten fort. Der niedersächsische Teil der Erzdiözese rief dringend nach der Errichtung eines kirchlichen Zentrums. Er war von der Bischofsstadt weit abgelegen und sehr ausgedehnt195. Zugleich verlangte der Besitz, den das Mainzer Erzstift in Sachsen zumal unter Erzbischof Wilhelm erworben hatte196, nach einheitlicher Leitung aus der Nähe. So mochte Erzbischof Liutpold Nörten als Mittelpunkt kirchlichen Lebens und wirtschaftlicher Macht des Erzstifts vorgesehen haben197. Das St-Alexander-Stift in Einbeck dagegen, das eine weltliche Gründung war und besitzmäßig nie an das Mainzer Erzstift tradiert wurde, hat in den Planungen der Mainzer Erzbischöfe kaum eine Rolle gespielt198. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang auch die Errichtung des Stiftes Langenselbold in dem Archidiakonatssprengel des Propstes von St. Maria ad gradus. Das zwischen 1108 und 1139 gegründete Stift sollte nach dem Willen der Stifter sowohl geistlichen Zwecken dienen, nämlich die Seelsorge in den Siedlungen in die Hand nehmen, als auch die Ausbautätigkeit fördern, also einen Rodungsmittelpunkt darstellen199. 191
Gerlich, Die Besitzentwicklung 26 f. L. Naumann, Zur Geschichte der Archidiakonate Thüringens: Zs. d. V. f. Kirchengesch. in der Provinz Sachsen 9, 1912, 155 – 206, hier 171. 193 Ed. Volusius p. 27, ed. Guerrier p. 35. 194 Mariani Scoti Chron.: MG Script. V, 555; Boehmer, Martyrium 178 f.; Dobenecker, Regesta I, 119 Nr. 537; Boehmer-Will, Regesten I, 124 Nr. 56; J. Wolf, Eichsfeldische Kirchengeschichte mit 134 Urkunden, Göttingen 1816, 48; Gutbier, Zur Geschichte 41; Büttner, Erzbischof Willigis von Mainz 7. 195 Vgl. K. Kayser, Registrum subsidii ex praeposituris Northen et Einbeck: Zs. d. Ges. f. Niedersächs. KG. 2, 1897, 264 – 278; 3, 1898, 268 – 293. 196 Büttner, Zur Geschichte des Mainzer Erzstiftes 266. 197 Vgl. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 31, 37, 44. 198 Drawe, Der Klein-Archidiakonat Einbeck 26 – 30, 39. 199 Büttner, Zur Geschichte von Stift Selbold 267 f. 192
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IV. Archipresbyter In der schon erwähnten Urkunde oder Aktaufzeichnung des Erzbischofs Willigis aus dem Jahre 995 begegnet als Zeuge ,,Willo archipresbiter“ hinter dem Chorbischof und vor dem vicedominus200. Dies ist das erste und einzige Vorkommen eines Erzpriesters zur Zeit des Willigis. Auch hier erhebt sich wieder die Frage, welche Stellung der Amtsträger innehatte. Denn der Begriff archipresbyter hat ähnlich wie jener des archidiaconus eine Entwicklung durchgemacht. In erster Linie ist zu unterscheiden zwischen dem Domarchipresbyter und dem Archipresbyter als Vorsteher einer Großpfarrei. Innerhalb der Kategorie der Domarchipresbyter ist zwischen jenen älterer und jüngerer Ordnung zu unterscheiden. Von den ersteren gibt es in jeder Diözese nur einen, die letzteren treten in der Mehrzahl auf. Der Bischofsarchipresbyter älterer Ordnung war das Haupt des Klerus an der Bischofskirche bzw. in der Bischofsstadt. Er stand an der Spitze der um den Bischof versammelten Priester, des Presbyteriums, wurde aber auch von dem Bischof mit Aufträgen ausgestattet in die Diözese gesandt. Er war der gegebene missus des Bischofs. Im 9. und 10. Jahrhundert wurde er von dem Bischof herangezogen, um mit ihm oder allein Visitationsfahrten zu unternehmen201. Nach dem Sendrecht der Main- und Rednitzwenden aus dem Ende des 10. Jahrhunderts hielt er in Vertretung des Bischofs den Send ab202. Diese Wirksamkeit im Dienst des Bischofs draußen in der Diözese ist der Grund, weshalb es nicht bei einem Domarchipresbyter blieb, sondern ihm in manchen Diözesen Kollegen beigesellt wurden. Sodann ist zu unterscheiden zwischen dem Domarchipresbyter und dem Landarchipresbyter. Von letzterem gibt es wieder zwei Spielarten. Der Landarchipresbyter älterer Ordnung ist der Vorsteher einer Taufkirche. Er erhielt seinen Namen von dem Bischofsarchipresbyter. Wie dieser der erste Presbyter im Stadtklerus, so war jener der erste Presbyter im Landklerus. Er führte die Aufsicht über die Priester, die an den Kirchen und Kapellen seiner Pfarrei angestellt waren. Der Landarchipresbyter älterer Ordnung war der ursprüngliche und ordentliche Inhaber des Pfarramtes auf dem Land. Der Landarchipresbyter jüngerer Ordnung, der Landdekan, ist von dem Landarchipresbyter älterer Ordnung wesentlich verschieden. Je größer die Zahl der selbständigen, nicht dem Pfarrer der Großkirchspiele unterstehenden Pfarrer wurde, um so dringlicher wurde es, ihnen ein ständiges lokales oder regionales Aufsichtsorgan zu geben, das zugleich die Verbindung zwischen Pfarrern und Bischof übernahm. Dieses war der Ruraldekan. Er wurde gewöhnlich den Pfarrern der Urpfarreien entnommen. Auch er führte die 200
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332. A. M. Koeniger, Die Sendgerichte in Deutschland. Erster Band (= Veröffentlichungen aus dem Kirchenhist. Seminar München III. Reihe Nr. 2), München 1907, 93 – 102. 202 R. W. Dove, Das von mir sg. Sendrecht der Main- und Rednitzwenden: Zs. f. Kirchenrecht 4, 1864, 157 – 175, hier 161. 201
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Aufsicht über die Geistlichen, aber nicht mehr in seiner Pfarrei, sondern in seinem Dekanat, und nicht aufgrund seines Rechtes als Pfarrer, sondern eines Auftrages des Bischofs203. Der Landdekan ist in den deutschen Bistümern erst verhältnismäßig spät bezeugt. Classen204 fand das erste Zeugnis für einen Erzpriester in dem Erzbistum Mainz in einer Heiligenstädter Urkunde aus dem Jahre 1070205. Gescher hat dagegen eingewandt, der hier erwähnte Archipresbyter sei ein Dignitär eines Stiftskapitels und könne daher nicht ländlicher Amtsträger sein206. Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. Einmal bleibt er den Beweis schuldig, daß es in einem Mainzer Stift eine Dignität des Archipresbyters gegeben hat. Zum anderen ist ein Kanoniker, der zugleich Landarchipresbyter ist, durchaus denkbar. In dem Erfurter St.-Marien-Stift207 und in dem Nörtener Stift liegen Beispiele dafür vor208, und 1196 ist ein Archipresbyter Kanoniker des Domstiftes zu Mainz209. Der in der erwähnten Urkunde in der Zeugenliste zwischen decanus und custos stehende Adelmannus archipresbyter ist tatsächlich, wie Classen richtig gesehen hat, ein Ruraldekan. Vermutlich ist er der Erzpriester des Archipresbyterats Geismar, zu dem Lengden und Grone gehörten, die in der Urkunde genannt werden. Er würde dann dem Stift in Nörten angehört haben. In der Erzdiözese Köln sind Dekane sicher bezeugt im 11. Jahrhundert210. In der Mainz benachbarten Diözese Würzburg liegen Nachrichten über die Dekanate erst aus der Mitte des 12. Jahrhunderts vor211. Classen denkt sich die Entstehung der Archipresbyterate in dem von ihm untersuchten Raum folgendermaßen. In dem Archidiakonatsbezirk Fritzlar fielen die Sendbezirke mit den Archipresbyteraten zusammen. Da ursprünglich der Send in jeder Pfarrei abgehalten wurde, bleibt die Wahl zwischen den zwei Möglichkeiten, daß entweder nachträglich mehrere Pfarreien zu einem Sendbezirk, d. h. einem Archipresbyterat, zusammengefaßt wurden, oder aber, daß die Titelkirche des Archipresbyterates die ursprüngliche Pfarr- oder Taufkirche des ganzen Sprengels
203 Das Dekret Burchards kennt die Dekane (XIX, 26). Sie empfehlen die Weihekandidaten dem Bischof (II, 1). Bei Versammlungen des Klerus führen sie den Vorsitz (II, 162). 204 Classen, Die kirchliche Organisation 23. 205 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 216 f. Nr. 326. 206 Gescher, Um die Frühzeit 166 A. 103. 207 Der Erzpriester Gelbernus wird in einer Urkunde aus dem Jahre 1119 hinter dem Dekan und vor dem Kustos des Marienstifts zu Erfurt aufgezählt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 387 f. Nr. 482), in einer anderen aus dem Jahre 1121 hinter dem Kantor (Overmann, Urkundenbuch I, 12 f. Nr. 16), in einer dritten aus dem Jahre 1132 hinter dem Zellerar (ebenda I, 794 f. Nachtrag Nr. 1). 208 Berno canonicus et archipresbiter (Stumpf, Acta Maguntina 32 f. Nr. 29) (1145). Vgl. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 42 f. 209 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1044 f. Nr. 641. 210 Gescher, Die kölnischen Dekanate 90 ff. 211 Krieg, Die Landkapitel im Bistum Würzburg bis zum Ende des 14. Jahrhunderts 37.
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war, deren Tochterkirchen das Sendrecht nicht mehr erhielten212. Nun blieb bekanntlich bei Gründung neuer Pfarrkirchen häufig die Tochterkirche der Mutterkirche als ,,ecclesia synodalis“ unterstellt. So ist es wahrscheinlich, daß die Archipresbyteratskirchen als Mutterkirchen Sendorte für ihren Bezirk geblieben sind213. Die Archipresbyterate jüngerer Ordnung sind also aus jenen älterer Ordnung herausgewachsen, ja mit ihnen räumlich identisch. ,,Daher ergibt sich mit ziemlicher Sicherheit, daß die Erzpriesterkirchen des späteren Mittelalters die alten Taufkirchen sind, denen ja auch ein Erzpriester vorgestanden hatte, und daß deren Sprengel als Verwaltungsbezirke übernommen wurden. Wo diese Taufkirchensprengel früh zersplittert waren, mußten neue Verwaltungsbezirke geschaffen werden, so in der Propstei St. Stephan die Dekanate“214. In der Propstei St. Stephan sind nämlich solche auf Taufkirchenbezirken beruhenden Archipresbyterate nicht vorhanden. Doch gibt es hier in den sogenannten Sedes des Sendgerichtes noch Unterbezirke des Dekanats, die oft eine größere Zahl von Pfarreien in sich begreifen, und diese Sedes gehen ähnlich wie die Archipresbyterate auf alte Großpfarreien zurück215. Unter den Sendkirchen sind die ältesten Taufkirchen von St. Stephan zu suchen216. Classen denkt sich die Entstehung der Dekanate in dem Archidiakonatsbezirk von St. Stephan so, daß die Geistlichen nach den im Archidiakonat liegenden Grafschaften zu Dekanaten zusammengefaßt wurden217. Er vermutet, daß die Dekanate im Archidiakonatsbezirk von St. Stephan etwa zwischen 1059 und 1103, also ziemlich gleichzeitig wie in der Erzdiözese Köln, entstanden seien218. Indes ist das Zeugnis aus dem Jahre 1070 nicht das früheste für den Erzpriester = Landdekan in der Erzdiözese Mainz. In einer Urkunde aus dem Jahre 1047219 erscheint bei der Angabe der Zeit und der Amtsträger nach „Stephanoque eiusdem ville chorepiscopo“, mit einem ,,atque“ angefügt, „Gebehardo archipresbitero“. Vermutlich sind die Worte „eiusdem ville“ auf Oberingelheim (in superiori villa Angelica sedes dicta) zu beziehen. Dann wird Stephan als für diesen Ort zuständiger Chorbischof bezeichnet. Gebhard wird in nahe Verbindung zu ihm gebracht. Es ist sprachlich möglich, die Worte „eiusdem ville“ auch auf „Gebehardo archipresbitero“ zu beziehen. Dann wäre Gebhard der für Oberingelheim zuständige Erzpriester. Das in Frage stehende Rechtsgeschäft hätte vor den für den Ort verantwortlichen Amtsträgern des Erzbischofs stattgefunden. Daß unter „archipresbitero“ nicht der Pfarrer der Taufkirche zu verstehen ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß Gebhard mit dem Kaiser, dem Erzbischof und dem 212
Classen, Die kirchliche Organisation 28. Classen, Die kirchliche Organisation 28. 214 Classen, Die kirchliche Organisation 29. 215 Classen, Die kirchliche Organisation 30 f. 216 Classen, Die kirchliche Organisation 33. 217 Classen, Die kirchliche Organisation 25. 218 Classen, Die kirchliche Organisation 25. 219 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 180 Nr. 285. 213
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Chorbischof sowie dem Grafen und den Vögten zur Angabe der Zeit, in der das Rechtsgeschäft vorgenommen wurde, herangezogen wird. Er ist ein Amtsträger ähnlich wie die vorerwähnten und die nachfolgenden, die jeweils Befugnisse über größere Gebiete innehatten; ein Pfarrer nähme sich in dieser Zusammenstellung merkwürdig aus. Dagegen läßt sich auch nicht die Urkunde Ruthards aus dem Jahre 1103220 anführen. Die dort vorfindliche Wendung „Adelungo presbitero“ ist deswegen nicht beweiskräftig, weil der so bezeichnete Mutterpfarrer zugleich Dekan war. Damit wäre erwiesen, daß im Jahre 1047 die Archipresbyteratseinteilung in der Erzdiözese Mainz eingeführt war, wenn sie auch noch nicht überall durchgeführt gewesen sein muß. Es ist nun bedenkenswert, daß in der Aufzeichnung für Steinheim aus dem Jahre 995 ebenfalls Chorbischof und Erzpriester zusammenstehen. Darauf läßt sich die Vermutung gründen, es habe damals dasselbe Verhältnis zwischen beiden obwaltet wie 1047, d. h. die Archipresbyteratseinteilung habe schon 995 bestanden. Für diese Annahme spricht sich Böhmer aus221. Der Landdekanat wäre dann in der Erzdiözese Mainz früher ausgebildet gewesen als der Archidiakonat jüngerer Ordnung. Dennoch bestehen gegen einen so frühen Ansatz gewichtige Bedenken. Einmal ist der Erzpriester Willo dem Chorbischof Emicho nicht so nahe zugesellt wie der Erzpriester Gebhard dem Chorbischof Stephan. Zum anderen soll zwar in dem Erzbistum Trier möglicherweise schon um 900 die Dekanatsverfassung bestanden haben222. Aber die Entwicklung in Trier ist für die ostfränkischen Bistümer atypisch. Sichere Belege liegen für Köln aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, für die übrigen Bistümer erst aus dem 12. Jahrhundert vor223. Zu dem Kölner Ansatz für die Entstehung der Dekanate – die Regierungszeit Erzbischof Annos II. (1056 – 1075) – würde die Mitte des 11. Jahrhunderts einigermaßen passen, nicht aber das zu Ende gehende 10. Jahrhundert. Daß es sich bei Willo um den Domarchipresbyter älterer oder jüngerer Ordnung handelt, ist deswegen nicht anzunehmen, weil in dem Chorbischof schon ein Beauftragter des Bischofs dem hoheitlichen Akt beiwohnte. So ist es wohl wahrscheinlich, daß der Erzpriester Willo weder ein Landdekan noch ein Domarchipresbyter, sondern der zuständige Pfarrer, der Großpfarrer der Muttergemeinde Eltville, ist. Diese Annahme wird durch die Beobachtung gestützt, daß, wie sich aus späteren Urkunden ergibt, für die Erhebung einer Filiale zur Pfarrei nur der Pfarrer, nicht der Landdekan seine Zustimmung geben mußte. Wo ein Land220
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412. Böhmer, Willigis 155 A. 6 (156). 222 Heintz, Die Anfänge des Landdekanates 84. Pauly neigt zu der Annahme, daß die Landdekanate im Erzbistum Trier nicht eine Schöpfung der Bischöfe, sondern der Archidiakone sind, die die im 10. Jahrhundert geschaffenen und in den Wirren des 11. Jahrhunderts zerfallenen Aufsichtsbezirke der bischöflichen Erzpriester (= Großpfarrer) unter Verringerung der Aufsichtsinstanzen neu organisierten und zu großräumigen Landkapiteln zusammenfaßten (Pauly, Kleinarchidiakonate 193). 223 Gescher, Um die Frühzeit 166 f. In der Diözese Konstanz ist der Landdekanat vermutlich erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstanden (Ahlhaus, Die Landdekanate 52). 221
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dekan zugleich der zuständige Pfarrer war, wird eigens hervorgehoben, daß er in seiner Eigenschaft als Pfarrer der Mutterkirche zugestimmt hat224. Willo ist nicht der einzige Landarchipresbyter älterer Ordnung, der in der Erzdiözese Mainz bekannt ist225. Auf der Synode zu Mainz im Oktober 1019226 waren wenigstens sieben Archipresbyter anwesend, die als Zeugen in einer dort ausgestellten Urkunde auftraten. Daß es sich bei ihnen schon um die Landdekane gehandelt haben könnte, ist nicht absolut ausgeschlossen, aber nicht wahrscheinlich. Sie wären dann sehr früh bezeugt, erheblich früher als in den umgebenden Bistümern. Es ist fraglich, ob zu dieser Zeit schon die Notwendigkeit empfunden wurde, mehrere Pfarreien zu einer regionalen Einheit zusammenzufassen und sie einem Geistlichen zu unterstellen. Ob die sieben Archipresbyter die in der Mehrzahl auftretenden Domarchipresbyter jüngerer Ordnung oder die Landarchipresbyter älterer Ordnung waren, ist schwer zu entscheiden. Aus der Tatsache, daß sie an der Diözesansynode teilnehmen, ist für diese Entscheidung nichts zu entnehmen. Denn dort waren beide Gruppen vertreten. Aus dem Inhalt der Urkunde zu schließen, die die Zuweisung eines bisher zu keiner Pfarrei gehörigen Gebietes an die Kirche zu Münchweiler (Pfalz) zum Gegenstand hat, könnte es sich bei den erwähnten Archipresbytern um den für Münchweiler zuständigen Pfarrer und jedenfalls teilweise um die Pfarrer der umliegenden Pfarreien handeln; sie waren von der Neuumschreibung unmittelbar oder mittelbar betroffen. Die Großpfarrer hätten demnach noch im zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts den Titel Archipresbyter geführt. Im Jahre 1056 begegnet unter den Zeugen einer Urkunde „Christianus archipresbiter“227. Seine Zugehörigkeit zu dem Mainzer Domstift ist möglich. Zu dessen Dignitären gehört er jedoch nicht. Denn er wird in der Zeugenliste nach dem Kantor aufgezählt. Dies wäre dann ein neues Beispiel für die Verbindung des Landdekanats mit einem Kanonikat eines Stiftes und würde einige Vermutungen über die bei der Gründung von Stiften wirksamen Motive bestätigen. Spätere Urkunden enthalten auch Angaben über Aufgaben, Befugnisse und Einkünfte des Erzpriesters. In einer Urkunde Erzbischof Ruthards vom Jahre 1090228 für das Kloster St. Alban heißt es bezüglich des Ortes Höchst: „Archipresbiter vero semel in anno synodum ibi propter corrigendas animas celebrans solidum unum ad expensas prandii sui accipiat.“ Während die zu errichtende Propstei von der Gewalt 224 Nach einer Urkunde von 1123 gab Erzbischof Adalbert I. der Kirche in Seebach Pfarrechte mit Zustimmung des Propstes von Dorla ,,eiusque archipresbiteri Hunoldi, qui tunc temporis parrochiam et matrem predicte ecclesie tenuit“ (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 415 Nr. 512). 225 Über die Seltenheit des Titels Archipresbyter als Amtsbezeichnung für den Großpfarrer vgl. Ahlhaus, Die Landdekanate 28 f. 226 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 164 f. Nr. 260. Zu den örtlichen Verhältnissen der Urkunde: A. Köllner, Geschichte der Herrschaft Kirchheim-Boland und Stauf, Wiesbaden 1854, 261 – 263, 269. 227 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 188 Nr. 97. 228 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 272 – 274 Nr. 374.
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des Chorbischofs befreit wurde und dieser nur auf Anforderung des Abtes erscheinen durfte, blieb sie dem Erzpriester unterstellt. Dieser hielt einmal und nur einmal im Jahre die Synode an dem Ort ab, auf der er Disziplinargewalt ausübte. Damit ist erwiesen, daß in der Erzdiözese Mainz zu diesem Zeitpunkt der Archipresbyter den Send hegt. Während dem evtl. herbeigerufenen Chorbischof fünf Solidi für Ausgaben zu zahlen sind, hat der Archipresbyter nur auf einen Solidus Anspruch. Der Unterschied ist in der verschiedenen hierarchischen Stellung, in der Zahl der Begleiter und wohl auch in der Dauer des Aufenthaltes der beiden Amtsträger begründet. Gelegentlich taucht auch der Ausdruck decanus für den Erzpriester auf, allerdings nur in dem Archidiakonat des St.-Stephan-Stiftes229. Erzbischof Ruthard verpflichtete im Jahre 1103230 den Pfarrer der neuerrichteten Pfarrei Eisenhausen, dem Dekan und den übrigen Prälaten Gehorsam zu leisten. Die Pfarrei Eisenhausen gehörte zum Sendbezirk Breidenbach, der in dem Archidiakonatsbezirk von St. Stephan lag231. In Breidenbach hatten die Einwohner von Eisenhausen zu der Synode zu erscheinen, die dort von dem Archipresbyter oder dem Archidiakon bzw. dem Erzbischof abgehalten wurde. Im Schaltjahr hatten sie einen Solidus „ad servitium episcopi“ zu zahlen. Der Mainzer Dompropst machte im Jahre 1106232 Schenkungen an das Altmünsterkloster zu Mainz, damit u. a. ein Gedächtnisgottesdienst für den Archipresbyter Embricho gefeiert werden könne (pro quibus acceptis annuatim celebrius faciant memoriam Embrichonis archipresbiteri). Leider ist Näheres über diese Person nicht zu erheben. Mit Sicherheit wird seit 1100 der Titel archipresbyter dem Landdekan vorbehalten. In zwei Urkunden aus den Jahren 1103233 und 1107234 wird der Pfarrer einer Mutterkirche nicht als archipresbiter, sondern als presbiter bezeichnet. Unter den Zeugen einer Urkunde Erzbischof Adalberts I. von 1119235 ist der Archipresbyter Gelbern. Er war Kanoniker des St.-Marien-Stifts zu Erfurt. In der Zeugenreihe steht er zwischen dem Dekan und dem Kustos. Hinsichtlich des Klosters Breitenau bestimmte Erzbischof Adalbert im Jahre 1123236, daß es keinem Archipresbyter oder Archidiakon etwas schulde (et ne alicui archipresbitero sive archidiacono quicquam debeat), sondern allein dem Erzbischof unterworfen sei. Das Kloster wurde also auch vom Send der beiden Amtsträger befreit. Ohne diese Exemtion hätte es 229
Classen, Die kirchliche Organisation 22. Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412. Vgl. Classen, Die kirchliche Organisation 25. 231 Classen, Die kirchliche Organisation 117, 119. 232 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 334 f. Nr. 427. 233 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412. 234 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 340 f. Nr. 434. 235 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 386 – 388 Nr. 482. 236 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 412 – 414 Nr. 510. Vgl. Classen, Die kirchliche Organisation 27 f. 230
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ihnen unterstanden. Als Zeugen bei dem Erlaß des Neubruchzehnten in einigen Ortschaften im Archidiakonat Fritzlar im Jahre 1126 fungierten zwei Erzpriester237. Die genannten Orte Heiligenrode, Umbach, Bettenhausen und Eschenstruth gehörten zum Erzpriestersprengel Ditmold238. Man darf vermuten, daß einer der beiden erwähnten Erzpriester ihm vorstand. Als Erzbischof Adalbert I. im Jahre 1130239 die Weihe und Ausstattung der Kapelle zu Bickenbach beurkundete, befand sich unter den Zeugen „Stephanus archipresbiter et parrochianus“. Wie diese Urkunde bei Heinrich die Doppelstellung als Archidiakon und Propst des Stiftes St. Viktor auseinanderhält, so tut sie es auch bei Stephan; er ist Erzpriester und (Mutter-)Pfarrer. Bickenbach gehörte zum Archipresbyterat Bensheim. Vermutlich ist Bensheim auch die Mutterkirche. In der gefälschten Urkunde für Hasungen aus dem Jahre 1131240 ist immerhin der als Zeuge genannte Helmerich der zuständige Erzpriester von Schützeberg, in dessen Gebiet das Kloster lag241. In der Urkunde des Kanonikers Adalbert vom Mariengredenstift in Mainz aus dem Jahre 1131242 treten zwei Archipresbyter als Zeugen auf. Der darin erwähnte Arnold kommt noch zweimal vor243. Er steht jedesmal am Ende der Geistlichen in der Zeugenreihe, wohl weil er nicht zum Stift gehörte. Der erste Archipresbyter, Heinricus, findet sich dagegen zwischen Dekan und Zellerar. Vielleicht ist in ihm der Scholaster zu erblicken. Welchem der vier Sedes, die zu dem Archidiakonatssprengel von St. Viktor gehörten, die beiden Erzpriester vorstanden, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Nach den in den Urkunden berührten Orten zu urteilen, war Heinrich Archipresbyter des Bezirks Nierstein, Arnold Archipresbyter des Bezirks Kirchheim-Bolanden. Nach der Urkunde Erzbischof Adalberts I. von 1133244 soll der Presbyter der Kirche in Oldisleben im Archidiakonat Jechaburg von dem Archidiakon als Archipresbyter eingesetzt werden. Er muß aber wie die übrigen Archipresbyter zu den Synoden und Kapiteln erscheinen und ist dem Archidiakon zum Gehorsam verpflichtet. Er hält seinen Pfarrangehörigen den Send anstelle des Archidiakons. Nur falls diese ungehorsam sind, ist der Archidiakon zu laden. In einer Urkunde Erzbischof Heinrichs I. für die Äbtissin von Gandersheim aus dem Jahre 1145245 begegnen „Didricus archipresbiter de Honstad, Berno canonicus et archipresbiter de Northun“. Dietrich ist der Pfarrer und Erzpriester von Hohnstedt, in dessen Archipresbyteratsbezirk die in der Urkunde genannten Orte Sebexen und Weißenwasser
237
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 447 f. Nr. 540. Classen, Die kirchliche Organisation 173, 175 f. 239 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 473 f. Nr. 561. 240 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 488 f. Nr. 572. 241 Classen, Die kirchliche Organisation 26. 242 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 493 f. Nr. 576. 243 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 515 f. Nr. 598; I, 521 f. Nr. 602. 244 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 500 f. Nr. 583. 245 Stumpf, Acta Maguntina 32 f. Nr. 29; Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 154 – 156 Nr. 78. 238
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liegen246. Erzbischof Heinrich I. bestimmte zwischen 1142 und 1153247 bezüglich der Kirche in Södel, daß der Archipresbyter, der dort den Send hielt, nur zwei Geistliche und zwei Diener mitbringen durfte. Für einen Tag erhielt er von dem Stift das servicium. Von den Einnahmen aus der Sendgerichtsbarkeit durfte er ein Drittel behalten; die restlichen zwei Drittel hatte er dem Stift abzuliefern. Södel gehörte zum Archipresbyteratsbezirk Friedberg im Archidiakonatssprengel des St.-MariengredenStiftes248. Eine Stelle in der Gründungurkunde für Ichtershausen aus dem Jahre 1147249 wird dahin verstanden, daß der Erzpriester allgemein in der Erzdiözese Mainz als Stellvertreter des Archidiakons den Send hegte250. Diese Annahme dürfte zu weit gehen. Der Text der Urkunde nötigt nicht zu ihr. Er läßt nur erkennen, daß sowohl der Archidiakon als auch der Archipresbyter als Sendherren in Frage kamen. Wer den Send tatsächlich hielt, wie regelmäßig und wie oft ihn ein jeder hegte, geht aus ihm nicht hervor. Bei der 1151251 erfolgten Schlichtung eines Streits zwischen der Kirche in Bettershausen und der Mutterpfarrei in Ebsdorf durch den zuständigen Archidiakon, den Propst von St. Stephan, war der Erzpriester der zweite der Zeugen. Man geht wohl nicht fehl, wenn man vermutet, daß er unter den sapientes war, die nach der Urkunde durch ihren Rat zu dem Ausgleich beigetragen hatten. Die Kirche in Saasen war von dem Send des Archidiakons wie des Archipresbyters durch Erzbischof Heinrich befreit worden252.
V. Pfarreien Wollte Erzbischof Willigis die innere Organisation der Diözese ausbauen, dann mußte er vor allem Pfarreien errichten. Die Pfarrei war nun einmal auch zur damaligen Zeit die wichtigste seelsorgliche Einheit. Nur mit ihr konnte die Bevölkerung wirksam und nachhaltig religiös-kirchlich betreut werden. In der Tat war Willigis auf die Gründung von Pfarreien eifrig bedacht. Bei der Beurteilung seiner Tätigkeit auf diesem Gebiet muß bedacht werden, daß die Überlieferung lückenhaft ist. Willigis konnte bei der Errichtung von Pfarreien an die Leistungen seiner Vorgänger anknüpfen, wie er ja stets bei dem Ausbau von dem Vorhandenen ausging. 246
Vgl. Bruns, Der Archidiakonat Nörten 60. Gudenus, Codex diplomaticus I, 192 f. Nr. 71; Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 342 f. Nr. 184. 248 Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 33. 249 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 188 – 192 Nr. 98, hier 190: Ceterum archidiaconus sive archipresbiter secundum Mogontine ecclesie instituta in populo ibidem manente ius suum habeat et synodalis iudicii causas cum prudentie illius consilio tractare studeat. 250 Hauck, Send: RE XVIII, 3. Aufl., 1906, 209 – 215, hier 213 f.; Classen, Die kirchliche Organisation 17. 251 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164. 252 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 952 f. Nr. 577 (1193). 247
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Die ersten Pfarreien entstanden bereits mit der Christianisierung. Das Pfarrnetz wurde in Deutschland im allgemeinen im 8./9. Jahrhundert über das Land gelegt, wenn auch keine Rede davon sein kann, daß das Land lückenlos in Pfarreien aufgeteilt war. Eine Pfarrei entsteht dort, wo ein Priester an einem bestimmten Ort für dauernd mit der Wahrnehmung der Seelsorge beauftragt wird. Das Vorhandensein eines eigenen Geistlichen mit dem Recht zur Seelsorge, das Taufrecht, das Begräbnisrecht und das Vorliegen eines abgegrenzten Sprengels sind sichere Merkmale für das Bestehen einer Pfarrei bzw. einer Pfarrkirche. Die Einrichtung von Pfarreien war dem Bischof vorbehalten. Die ältesten, vielfach aus der Zeit der Mission stammenden Kirchen waren die Taufkirchen. Neben den Taufkirchen entstanden Kirchen minderen Rechtes. Sie standen in Abhängigkeit von der Taufkirche. Die Pfarrkirchen oder ecclesiae baptismales, matres oder matrices, wie sie damals hießen253, hatten den Vorrang vor den übrigen Kirchen auf dem Land. Sie besaßen das Recht der Taufe254 und der Zehnteinhebung255, sie führten die Aufsicht über die anderen Kirchen ihres Bezirks. Die Taufkirchen waren die Haupt- und Mutterkirchen auf dem Land. Sie waren die kirchlichen Zentren. Es bestand strenger Pfarrzwang256, das heißt: Die Pfarrangehörigen waren gehalten, den Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen in ihrer Pfarrkirche zu besuchen und dort die Sa253
ecclesia baptismalis: Vita sancti Haimeradi presbiteri auctore Ekkeberto, ed. R. Köpke (MG Script. X, 601); Dekret Burchards: ecclesia matrix (III, 3, 178); matrix (I, 90 Inskr.; III, 22); ecclesia baptismalis (III, 22); 1060 – 1072: mater ecclesia (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332); 1071: ecclesiae parrochiales (ebenda I, 223 – 226 Nr. 331); 1124: popularis ecclesia (ebenda I, 434 – 436 Nr. 527); 1142 – 1151: plebesana ecclesia (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 306 f. Nr. 166); 1151: parrochiana ecclesia (ebenda II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164). Der Pfarrer hieß 1103: presbyter (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412); 1107 (ebenda I, 340 f. Nr. 434); 1146 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 176 – 178 Nr. 91); 1150: parrochiani presbiteri (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 260 – 262 Nr. 141); 1151: pastor (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164); 1152 (ebenda II, 1 S. 324 – 326 Nr. 174); 1165 (ebenda II, 1 S. 493 bis 495 Nr. 280); 1159: pastor ecclesie (ebenda II, 1 S. 441 – 443 Nr. 244); 1196 (ebenda II, 2 S. 1052 – 1054 Nr. 647); 1151: ecclesiasticus (ebenda II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164); 1165: sacerdos (ebenda II, 1 S. 493 – 495 Nr. 280); 1138 – 1141: parrochianus (ebenda II, 1 S. 39 f. Nr. 24). Die gesamte Terminologie um die Pfarrei ist in einer Urkunde aus dem Jahre 1133 aufbewahrt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 500 f. Nr. 583). Die Pfarrkirche heißt parrochialis ecclesia, der Pfarrer parrochiarius presbiter, der Pfarrbezirk parrochia. Vgl. Zorell, Die Entwicklung 34 – 36; Schaefer, Pfarrkirche und Stift 43 – 78. 254 Dekret Burchards III, 22. 255 810 – 813 cap. 10: ut terminum habeat unaquaeque ecclesia, de quibus villis decimas recipiat (MG Cap. I, 178); Dekret Burchards III, 7. Vgl. Schaefer, Pfarrkirche und Stift 19 ff.; A. Pöschl, Der Neubruchzehent: AfkKR 98, 1918, 3 – 51, 171 – 214, 333 – 380, 497–548. Zu der Zusammengehörigkeit von Mutterkirchen und Zehnt vgl. 1085 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 266 f. Nr. 367). 256 J. Freisen, Der katholische und protestantische Pfarrzwang und seine Aufhebung in Österreich und den deutschen Bundesstaaten. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der Toleranz. Mit Abdruck der staaatskirchenrechtlichen Erlasse, Paderborn 1906; H. Locker, Der Pfarrzwang nach katholischem und evangelischem Kirchenrecht. Jur. Diss. Breslau, Borna/Leipzig 1908; Zorell, Die Entwicklung 36 – 39.
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kramente zu empfangen. Auf ihrem Begräbnisplatz waren die Toten zu beerdigen. Ihr war der Zehnt zu entrichten. Nur in Ausnahmefällen durfte ein Priester einen Nichtparochianen zum Gottesdienst in seiner Kirche zulassen257. Die Sendgerichte schlossen sich an die Pfarrorganisation an. Pfarrsprengel und Sendbezirk fielen regelmäßig zusammen. Es besteht aber die Tendenz, den ursprünglich in jeder Pfarrei abgehaltenen Send auf die alten Pfarreien zu beschränken258. Bei der Errichtung neuer Pfarrkirchen blieb das Sendgericht regelmäßig der Mutterkirche erhalten259. Im 10. Jahrhundert ist mit einer erheblichen Zunahme der Pfarreien zu rechnen. Denn die Binnenkolonisation schritt fort. Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Nutzbarmachung aber ging die seelsorgliche Betreuung. Bevor der Bischof zur Aufteilung einer Pfarrei schritt, versuchte er freilich die kirchliche Versorgung der Bevölkerung dadurch sicherzustellen, daß innerhalb der Pfarrei vorhandene oder zu erbauende Kirchen einen Geistlichen erhielten, der die Gläubigen seelsorglich zu betreuen hatte. Zu diesem Zweck erhielt er mehr oder weniger weitgehende Befugnisse, das Recht, die Taufe zu spenden, gewöhnlich ausgenommen; es verblieb dem Pfarrer. Wenn die Tochterkirchen in Abhängigkeit von den Mutterkirchen blieben, so konnten ihnen doch bestimmte seelsorglich notwendige Rechte nicht vorenthalten werden. Die Taufe von Kranken, die Verwaltung des Bußsakramentes und die Spendung der Krankenkommunion mußten den Priestern der Nichtpfarrkirchen gewährt werden260. Nach dem Kirchenkapitular Ludwigs des Frommen von 818/9 sollten in neuen Dörfern, wo Kirchen errichtet wurden, diese den Zehnten erhalten261. Das Konzil zu Tribur (895)262 ordnete dagegen an, daß der Zehnt, auch der Neubruchzehnt, grundsätzlich der alten Kirche zu entrichten sei. Nur wenn eine Kirche auf Wildland, das von der alten Kirche mehr als vier oder fünf Meilen entfernt war, errichtet wurde, sollte ihr der Neubruchzehnt zufallen. Die Pfarreien waren im 9. und auch noch im 10. Jahrhundert weit ausgedehnt. In ihrem Sprengel lagen regelmäßig mehrere Dörfer, Weiler und Höfe263. Mit der Zunahme der Bevölkerung264 und der Verdichtung der Besiedlung erhob sich der Wunsch nach dem 257
Anseg. Capit. I, 148 (MG Cap. I, 412); Regino, De synodalibus causis I, 258 und 259. Classen, Die kirchliche Organisation 32 A. 8. 259 995: Et hec licencia ius, quod matri debet ecclesie, que est in Altavilla, nec in sinodo nec in decima ullo modo impediat (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332); 1059 (ebenda I, 194 f. Nr. 303); 1103 (ebenda I, 318 f. Nr. 412). Vgl. Classen, Die kirchliche Organisation 32. 260 Cap. 16 Conc. Aquisgr. a. 83 (MG Conc. II, 714). 261 Cap. Ludov. (818, 819) cap. 12 (MG Cap. I, 277). 262 Cap. 14 (MG Cap. II, 221). Vgl. auch cap. XII der Synode zu Mainz 888 (Hartzheim, Concilia Germaniae II, 373). 263 1196: cum quibusdam villis in terminis prefate ecclesie constructis (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1044 f. Nr. 641). 264 1196: tantum in populo ei possessionibus quibuslibet incrementum accepit (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1043 – 1045 Nr. 641). Die Erbauung einer Kirche war aber auch mitunter ein Mittel, eine stärkere Besiedlung zu erreichen. Wenn die religiöse Versor258
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Bau neuer Kirchen bzw. nach der Ausstattung der vielerorts bereits bestehenden Kirchen mit den Pfarrechten. Die weite Entfernung einer Siedlung von der Pfarrkirche erschwerte die Seelsorge. Das im Mai 895 unter dem Vorsitz Erzbischof Hattos I. von Mainz gehaltene Nationalkonzil zu Tribur setzte fest, eine Pfarrei solle dort errichtet werden, wo Orte mehr als vier Meilen von der alten Pfarrkirche entfernt liegen265. Die Errichtung einer neuen Pfarrei bedeutete für die Mutterpfarrei regelmäßig einen fühlbaren Verlust an Einkünften, vor allem durch den Wegfall des Zehnten. Es ist daher begreiflich, daß der Pfarrer der Mutterkirche, dessen Zustimmung für eine Dismembration eingeholt werden mußte266, nicht selten dahin gerichteten Bestrebungen entgegentrat oder, falls er die Abteilung nicht verhindern konnte, wenigstens die finanzielle Einbuße zu vermindern suchte267. Indes ließ sich die Entwicklung zur Verselbständigung nicht aufhalten268. Die Vorteile einer Pfarrkirche waren erheblich gegenüber einer bloßen Filialkirche. Das Ziel war regelmäßig die völlige Unabhängigkeit der neuen Pfarrei von der alten. Es war im 12. Jahrhundert leichter zu erreichen als im 10. und 11. Jahrhundert269. Damals wurden den Pfarrern der Mutterkirchen sehr häufig Konzessionen gemacht, indem ihnen bestimmte Rechte über die Tochterkirchen gewährt wurden270. Die Initiative zur Errichtung einer neuen Kirche und zur Gründung einer Pfarrei ging oft von den
gung gewährleistet war, waren die Menschen leichter zu bewegen, in einsame Gegenden zu ziehen. Vgl. 1138 – 1141: ut plures sibi contrahere posset cohabitatores in deserti illius vicinia (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 39 f. Nr. 24). 265 Si vero in qualibet silva, vel deserto loco, ultra milliaria quatuor aut quinque, vel eo amplius, aliquod dirutum collaboraverit, et illic consentiente episcopo ecclesiam construxerit, et consecratam perpetraverit, prospiciat presbyterum ad servitium Dei idoneum et studiosum, et tunc demum novam decimam novae reddat ecclesiae; salva tamen potestate episcopi (Mansi 17 A, 140). 266 Bei der Erhebung der Kirche in Elsoff zur Pfarrkirche im Jahre 1059 erhielt die Mutterkirche in Raumland a. d. Eder eine Hufe, ut et nostre suggestioni consentiret (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 194 f. Nr. 303). Die Zustimmung des Mutterpfarrers zu einer Schenkung anläßlich der Errichtung der Pfarrei Eisenhausen im Jahre 1103 wird erwähnt (ebenda I, 318 f. Nr. 412). Vgl. 1107 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 340 f. Nr. 434); 1138 – 1141 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 39 f. Nr. 24); 1151: Constructa … est … ecclesia … cum consensu parrochiani …, ad quem respectum habebant ecclesiastici iuri[s] predicti fundatores ecclesie (ebenda II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164). 267 1138 – 1141: contulit autem mansum unum … parrochie pro omni debito sue ecclesie et V villarum sibi pertinentium (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 39 f. Nr. 24); 1151 (ebenda II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164). 268 Eine aufschlußreiche Schilderung dieses Weges 1165 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 493 – 495 Nr. 280). 269 Völlige Unabhängigkeit einer neu entstehenden Pfarrei: 1196 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1043 – 1045 Nr. 641). 270 Z.B. 1059 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 194 f. Nr. 303); 1107 (ebenda I, 340 f. Nr. 434); 1138 – 1141 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 39 f. Nr. 24); 1145 (ebenda II, 1 S. 151 f. Nr. 76); 1165 (ebenda II, 1 S. 493 – 495 Nr. 280).
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Bewohnern des Ortes oder den weltlichen bzw. geistlichen Grundherren aus271. Sie stellten ein Grundstück für den Bau des Gotteshauses zur Verfügung und statteten es mit Liegenschaften aus272. Dem Eigenkirchenwesen ist es somit zum erheblichen Teil zu verdanken, daß mit dem Fortschreiten der Siedlung und Rodung auch für die religiösen Bedürfnisse gesorgt wurde und der Kolonisation die kirchliche Organisation folgte. Der Bischof hatte bei der Errichtung von Eigenkirchen regelmäßig zwei Rechte: die Kirche zu weihen und – bei Pfarrkirchen – ihren Pfarr- und Zehntbezirk zu umschreiben273. Auf die Bildung und Umschreibung der Pfarreien dürften Grund- und Gerichtsherren erheblichen Einfluß ausgeübt haben274. Vor allem für die Zahlung des Zehnten war die genaue Abgrenzung der Pfarrsprengel notwendig, um so den Kreis der leistungspflichtigen Personen festzulegen. Waren die Grenzangaben ungenau oder unsicher, dann konnte leicht ein Zuständigkeitsstreit bezüglich des Zehnten zwischen den benachbarten Kirchen entbrennen. So versteht man die Bedeutung der Neufestsetzung oder Bestätigung der Pfarrgrenzen, die Willigis vornahm bzw. vornehmen ließ275. Diese Befugnisse des Bischofs machten eine vorherige Verständigung zwischen den Grundherren und dem Diözesanoberhirten erforderlich. Vielfach wurde daher schon zu der Erbauung einer Kapelle die Zustimmung des Bischofs eingeholt276. Die Besetzung der Eigenkirchen mit einem Priester stand nach dem Aachener Kirchenkapitular von 819277 dem Eigenkirchenherrn, jedoch nach Zustimmung des Bischofs, zu. Der 271 Z. B. 1145: cives in Witelessassen dei instinctu attracti ecclesiam in fundo Hertwini … satis decentem extruxerunt (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 151 f. Nr. 76); 1145: in locis pia devotione et impensa fidelium Christi extructis et deo oblatis (ebenda II, 1 S. 154 – 156 Nr. 78); die Kirche in Beltershausen (Kreis Marburg) a liberis hominibus constructa sit in loco quem iure hereditario possederant (1151: ebenda II, 1 S. 304 – 306 Nr. 164). 272 995: quidam nostre ecclesie … accepta a predicto meo antecessore licencia eandem capellam ad communem omnium in Steinheim habitantium utilitatem construxerunt et … suis bonis et mancipiis dotaverunt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332); 1006: Thidrich in villa Mergesbach de suis propriis facultatibus in suo proprio predio ecclesiam construxit et ad eam dedicandam Willigisum archiepiscopum invitavit et de suo proprio dotavit (ebenda I, 147 Nr. 242); 1130 (ebenda I, 473 f. Nr. 561); 1145: cui mansus unus in dotem collatus est, quam collationem auctoritate nostra confirmavimus (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 151 f. Nr. 76). 273 1006: Willigisus … terminationem eiusdem ecclesie determinavit (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242); 1036 – 1051: quam … Erkanbaldus archiepiscopus dedicatam terminatione predicta firmavit (ebenda I, 182 Nr. 291); 1145: nos ad eandem consecrandam precibus suis humiliter invitaverunt (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 151 f. Nr. 76). Vgl. F. Falk, Die dedicatio und terminatio ecclesiae im 8. bis 11. Jahrhundert: AfkKR 89, 1909, 79 – 81. 274 H. F. Schmid, Das Recht der Gründung und Ausstattung der Kirchen im kolonialen Teile der Magdeburger Kirchenprovinz während des Mittelalters: ZSavRG, Kan. Abt. 13, 1924, 1 – 214, hier 61; Classen, Die kirchliche Organisation 46. 275 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242; 152 – 154 Nr. 250; 179 f. Nr. 284. 276 1103: cuidam devoto ac libero homini capellam in predio suo … construere concessi (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 318 f. Nr. 412). 277 Cap. 9 (MG Cap. I, 277). Vgl. Regino, De synodalibus causis I, 243.
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Bischof hatte den Geistlichen auf Eignung und Würdigkeit zu prüfen. Die Synode zu Mainz von 888278 verordnete, daß kein Geistlicher oder Laie eine Kirche einem Priester verleihen dürfe ohne Erlaubnis und Zustimmung des zuständigen Bischofs. Die Synode zu Augsburg von 952279 und die Provinzialsynode zu Seligenstadt im Jahre l023280 erneuerten diese Anordnung. Gelegentlich wurde den Einwohnern eines Ortes die freie Wahl des Seelsorgers zugestanden281, wozu selbstverständlich die Zustimmung des Diözesanbischofs oder seines Stellvertreters einzuholen war282. In einer Urkunde aus dem Jahre 1124283 werden bei der Bestellung eines Pfarrers zwei Handlungen unterschieden, die Einsetzung durch den Abt, dessen Kloster die Kirche gehörte (a solo abbate constitutus), und die Übertragung des Altars durch den Archidiakon (altare a corepiscopo accipiens). Der mit einer Kirche beliehene Geistliche hatte das Recht auf Nutzung der Kirche und ihres Vermögens. Das Vorgehen des Erzbischofs Willigis bei der Organisation seiner Diözese in Pfarreien zeigt sich besonders deutlich bei den Anordnungen, die er für das Gebiet im mittleren Nahetal und im Hunsrück traf284. Es ist zunächst anzunehmen, daß Willigis dem neuen Stift Disibodenberg die Pfarrechte übertragen hat. Anders konnte es die ihm zugedachte Aufgabe, das umgebende Gebiet geistlich zu betreuen, nicht wahrnehmen285. Daß Stifte zugleich Pfarrechte besaßen, war ja nicht ungewöhnlich. Sodann konsekrierte er eine Anzahl von Kirchen und errichtete mehrere Pfarreien an der Nahe, zwischen Nahe und Glan und im Soonwald, stattete sie entsprechend aus und schenkte sie dem Stift Disibodenberg. Es war die Methode des Willigis, die Kirchen und Pfarreien wirtschaftlich und seelsorglich an Kanonikerstifte anzulehnen. Zuerst übertrug er dem Stift Disibodenberg die Kirche in Sobernheim, die er selbst konsekriert hatte, mit den zugehörigen Zehnten. Vermutlich war in Sobernheim bereits vorher ein seelsorglicher Stützpunkt gewesen. Dazu kamen zwei Kirchen im Osterthal in der Pfalz, Osterna (= Niederkirchen) und Niederohmbach. Die drei genannten Orte lagen im Altsiedelland und boten dem Stift einen wirtschaftlichen Rückhalt. Zumal Niederkirchen hatte einen ausge278
Cap. V (Hartzheim, Concilia Germaniae II, 371). Cap. IX (Hartzheim, Concilia Germaniae II, 623). 280 Cap. 12: Item decretum est, ut nullus laicorum alicui presbytero ecclesiam suam commendet praeter consensum episcopi, sed eum prius mittat suo episcopo vel eius vicario, ut probetur, si scientia, aetate et moribus talis sit, quod sibi populus Dei digne commendari possit (Hartzheim, Concilia Germaniae III, 57). 281 995: Hoc etiam concessum est a prefato meo predecessore, ut liceat ibidem manentibus … presbiterum, quem velint, sibi idoneum eligere, qui in eodem loco habitans divinum officium eo melius certis horis possit implere (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332); 1151 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 303 – 305 Nr. 164); 1165 (ebenda II, 1 S. 493 – 495 Nr. 280: cum consensu pastoris matricis ecclesie). 282 1145: idem populus singularem habeat, quemcumque sibi elegerit assensu Northunensis prepositi, presbyterum (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 154– 156 Nr. 78). 283 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 434 – 436 Nr. 527. 284 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 342 – 344 Nr. 436; I, 461 – 465 Nr. 553. 285 Büttner, Studien 29. 279
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dehnten Pfarrbezirk. Hiervon waren ertragreiche Zehnteinkünfte zu erwarten. Daneben überwies er dem Stift aber auch drei Kirchen in dem Gebiet zwischen Nahe und Glan, in Bollenbach, Hundsbach und Meckenbach, samt allen Zehnten. Diese Kirchen hatte Willigis selbst errichten lassen. Er sah die seelsorglichen Bedürfnisse und kam ihnen mit seinen Mitteln zu Hilfe. Das Land war im Ausbau begriffen (cum omni decimacione agri tunc culti et postmodum colendi). Die kirchliche Erschließung bzw. Verdichtung, die Willigis begonnen hatte, sollten die Kanoniker fortsetzen. Von dem Stift aus konnte die kirchliche Organisation vorangetrieben werden. Auch nördlich der Nahe förderte Willigis den Ausbau. Er übertrug dem Stift die Gehinkirche bei Auen im Soonwald, die er auf einem von ihm erworbenen Grundstück (Hufe) hatte erbauen lassen, die er selbst konsekriert und mit dem Zehnten von dem bebauten und noch zu bebauenden Acker ausgestattet hatte. Die neue Kirche war als Zentrum eines weiten Seelsorgsbezirkes ausersehen. Der Zugang zu ihr war jedoch nicht von überallher leicht zu erreichen286. Deshalb erbaute Willigis auf ebenfalls von ihm erworbenen Grund eine Kirche in Seesbach, konsekrierte sie und unterstellte sie der Gehinkirche287. Die Verbindung beider Kirchen mit dem Stift auf dem Disibodenberg läßt die Absicht erkennen, die der Erzbischof mit diesen Verfügungen verfolgte: Die Kanoniker sollten auch das Rodungsgebiet des Soonwaldes kirchlich betreuen. Zugleich nahmen sie dem Bischof die Sorge für die neuerbauten Kirchen ab. Dann wandte sich Willigis dem Ausbau im Hunsrück zu. Die einschlägige Urkunde aus dem Jahre 1006288 gibt Aufschluß, wie er sich bei seiner Planung der religiösen Gesinnung der Laien zu bedienen wußte und wie bei der Errichtung von Kirchen und der Gründung von Pfarreien die Initiative von Grundherren und die Autorität des Oberhirten zusammenwirkten. Der Grundherr Thidrich erbaute mit seinen Mitteln auf seinem Grundstück in Mörschbach eine Kirche, stattete sie aus seinem Besitz aus und ließ sie durch Willigis weihen. Der Erzbischof legte anläßlich der Konsekration ihren Sprengel fest (terminationem eiusdem ecclesie determinavit). Danach gehörten zu der Kirche neben Mörschbach die Orte Wahlbach, Steinbach, Liebshausen, Alt-Weidelbach, Kisselbach, Rayerschied, Bensweiler und Bergenhausen. Die Pfarrei grenzte im Norden, am Rhein, an das Erzbistum Trier. Den Zehnten der Pfarrei sprach Willigis dem Gründer der Kirche und seinen Nachfolgern zu. In jedem Jahr waren allerdings von dem Zehnten am Fest Peter und Paul 10 Solidi der Kirche des hl. Martin in Bingen für die dort lebenden Brüder zu zahlen. Diese aufschlußreiche Anordnung zeigt die Verbindung, die zwischen der Kirchengründung zu Mörschbach und dem St.-Martin-Stift in Bingen bestand. Das 286 quia pre longitudine latitudineque nemoris ex omnibus vicis, qui in eo constituebantur, ad eandem ecclesiam confluere non poterant (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 461 – 465 Nr. 553, hier 462). 287 Zu der Unterstellung von Kirchen vgl. cap. 16 Conc. Aquisgr. a. 836: priori presbitero subiugatus (MG Conc. II, 714); 1165 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 493 bis 495 Nr. 280). 288 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242.
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Stift übernahm nämlich die Verpflichtung, in der Pfarrei Mörschbach die Seelsorge auszuüben289. Deswegen waren die fünf Dignitäre des Stiftes als Zeugen bei der Errichtung der Urkunde zugegen. Daß der Kirche das Recht der Taufe und der Beerdigung übertragen wurde, wird in der Urkunde nicht vermerkt, ist aber anzunehmen. Verschiedene Indizien, vor allem die Lage zwischen Mörschbach und Bingen, begründen die Vermutung, daß auch die Pfarrei Wald-Laubersheim, zu der neben diesem Ort Genheim, Roth, Schweppenhausen und Eckenroth gehörten, von Willigis dem Stift zu Bingen übertragen wurde290. Das Binger Stift sollte in der Absicht des Erzbischofs für den Hunsrück eine ähnliche Rolle spielen wie das Stift auf dem Disibodenberg für das Gebiet der mittleren Nahe. Von hier aus sollte der Einfluß des Mainzer Erzstifts nach Westen ausgedehnt werden. Die Strategie des Erzbischofs war offensiv, auf Neugründung und Aufbau gerichtet. Im Jahre 996 hatte Willigis von König Otto III. den Binger Wald übertragen erhalten291. Damit war das Erzstift in starkem Maße grundherrlich in diesem Gebiet engagiert. Landeserschließung und Aufbau des Pfarrnetzes, Förderung der grundherrlichen Interessen des Erzstiftes und Entwicklung der kirchlichen Organisation gingen bei Willigis regelmäßig parallel. Was an Besitz erworben wurde, sollte kirchlich durchdrungen werden, und was kirchlich organisiert wurde, sollte wirtschaftlich gefestigt werden. Das in der Urkunde von 1006292 erwähnte Bischofsrod zeigt, daß das Erzstift an der Rodung in dem Waldland beteiligt war293. Weiter ist zu erkennen, wie Willigis die kirchliche Organisation im Rheingau ausbaute. Die älteste Pfarrei im Rheingau ist bekanntlich Winkel. Wohl seit der Mitte des 9. Jahrhunderts trat ihr Eltville an die Seite294. Das St.-Viktor-Stift erwarb in früher Zeit die drei Kirchen in Weisenau, Winkel und Bischofsheim. Von ihnen gehen wahrscheinlich Winkel und Bischofsheim auf erzbischöfliche Schenkung zurück, für Weisenau ist eine solche möglich. Der Pfarrsatz von Winkel scheint von Willigis dem Stift geschenkt worden zu sein295. Die Pfarrei Winkel umfaßte bis zum Ende des 12. Jahrhunderts auch Östrich296 und Mittelheim. Erzbischof Friedrich (937 – 954) hatte nun die in seinem Besitz befindliche Pfarrkirche in Eltville, zu der auch die Orte Walluf, Steinheim, Kiedrich, Erbach und Hattenheim gehörten, dem neuerrichteten St.-Peter-Stift überwiesen. Damit waren das 289
Brück, Willigis und die kirchliche Organisation 30. Brück, Willigis und die kirchliche Organisation 30 f. 291 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 143 f. Nr. 236. 292 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 147 Nr. 242. 293 Büttner, Erzbischof Willigis 14. 294 J. Zaun, Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau und seiner vierundzwanzig Pfarreien, Wiesbaden 1879, 30 – 70, 214 – 233. 295 Hansel, Das Stift St. Victor 179 – 185; Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 89 A. 130. 296 Zaun, Beiträge 169 – 189. 290
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Patronats- und das Zehntrecht der Pfarrei an das Stift übergegangen. Die Einkünfte kamen den Kanonikern zugute, aber der Propst des Stiftes hatte nun die Sorge für die Pfarrei Eltville übernommen. Selbstverständlich übte er das Pfarramt nicht selbst aus, sondern übertrug es einem Priester, der an seiner Stelle die pfarrlichen Dienste leistete297. Nun machten sich in einzelnen Filialen der Pfarrei Bestrebungen geltend, kirchlich selbständig zu werden. Die erste Voraussetzung dazu war das Vorhandensein einer Gottesdienststätte. So fanden sich einige Bewohner von Steinheim298 zur Erbauung einer Kapelle zusammen. Sie wurde von Anfang an nicht zum privaten Nutzen einzelner, sondern zum geistlichen Wohl aller Bewohner des Ortes errichtet. Zu ihrer Erbauung und Ausstattung holten die Initiatoren des Unternehmens die Erlaubnis des Erzbischofs ein. Die Konsekration nahm im Auftrag des Diözesanoberhirten der Bischof Azzo von Oldenburg vor. Bisher hatte in Steinheim kein Priester gewohnt. Nunmehr sollte einer dort Wohnung nehmen, um besser den (auf bestimmte Stunden fallenden) Gottesdienst versehen zu können. Der gesamte Gottesdienst ohne Einschränkung zugunsten der Mutterkirche sollte in Steinheim gehalten werden. Darüber hinaus gab Willigis den Bewohnern des Ortes das Recht, in der Kapelle die Taufe zu empfangen, auf dem Friedhof der Gemeinde die Toten zu beerdigen und sich den Priester wählen zu können299. Wer die Eignung des Priesters, den sie sich wählten, feststellen sollte, ist nicht gesagt. Vermutlich oblag dies dem Chorbischof300. Steinheim erhielt damit gewichtige pfarrliche Rechte, und man wird die neue Kirche als Pfarrkirche bezeichnen dürfen. Aber ihre Rechtsstellung erfuhr bezeichnende Einschränkungen. Einmal wurde keine terminatio vorgenommen; zumindest wird davon nichts berichtet. Die neue kirchliche Einheit wurde nicht von dem Sprengel der Mutterkirche abgetrennt, sie blieb in deren Verband. Zum anderen wurde die Kirche nicht mit dem Pfarrzwang ausgestattet. Die Einwohner von Steinheim durften (liceat) in ihr die Kinder taufen lassen und auf ihrem Friedhof die Toten beerdigen301, aber sie waren dazu nicht gehalten. Sie konnten für diese Akte auch den Pfarrer von Eltville angehen. Schließlich bedeutete die Erhebung der Kapelle in Steinheim zur Pfarrkirche nicht ihre Entlassung aus jeder Abhängigkeit gegenüber der mater ecclesia in Eltville. Diese behielt zwei entscheidende Rechte; sie blieb Stätte, an welcher der Send abgehalten wurde, und sie hatte weiterhin Anspruch auf den Zehnten302. Die der Kirche in Steinheim eingeräumte rechtliche Stellung wurde als licencia umschrieben, denen die beiden erwähnten Befugnisse 297
Zaun, Beiträge 30. Zaun, Beiträge 32 f. 299 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332. 300 1165 erhielt eine Gemeinde das Wahlrecht mit der Einschränkung, daß der Pfarrer der Mutterpfarrei zustimmen müsse (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 493 –495 Nr. 280). 301 Vgl. zu der Gewährung von Taufe und Begräbnis: 1165 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 493 – 495 Nr. 280). 302 Zu der Wahrung von Zehnt- und Sendrecht der Mutterkirche vgl. 1059 (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 194 f. Nr. 303). 298
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als ius gegenübergestellt wurden. Nach heutiger Terminologie des Mainzer Partikularrechts würde man die Kirche in Steinheim als Pfarrektorat bezeichnen. Der Gewährung dieser Gunst wohnten an erster Stelle der Chorbischof dieses Gebietes und der Erzpriester bei. In letzterem ist höchstwahrscheinlich der Pfarrer von Eltville zu erblicken. Vermutlich korrespondieren diesen beiden Persönlichkeiten die zwei Rechte, die der Mutterkirche in Eltville verblieben, dem Chorbischof die Synode, die er dort abhielt, dem Erzpriester der Zehnt, den er für seine Kirche einhob. Der Vorgang von 995 war von erheblicher Tragweite. Damit wurde die Verselbständigung der Filialen von Eltville und ihre Erhebung zu eigenen Pfarreien eingeleitet303. Denn das Beispiel von Steinheim machte Schule. Als Erzbischof Siegfried I. (1060 – 1072) den Bewohnern von Steinheim ihr Recht bestätigte304, hatten die Orte Hattenheim, Erbach und Walluf bereits die gleiche Stellung erlangt. Eine weitere Gegend, der Willigis seine Aufmerksamkeit zuwandte, war der Taunus. Dem Kloster Bleidenstadt ließ er den Pfarrsprengel bestätigen305. Die kirchliche Organisation kann Unsicherheit der Grenzen nicht vertragen. Für die damalige Zeit mit ihrem ausgeprägten Pfarrzwang galt das in noch höherem Maße als heute. So ist die Bestätigung der Grenzen des Bleidenstädter Kirchspiels ein Hinweis darauf, daß am Taunus kirchenorganisatorisch etwas in Bewegung geriet. Für die Seelsorge dürfte das Kloster Bleidenstadt freilich trotz der hohen Zahl von Priestern unter seinen Konventualen regelmäßig nicht in Frage gekommen sein, von Notfällen abgesehen306. Zur Zeit König Ottos II., also in den ersten Jahren seiner Regierung, ließ Willigis in Schloßborn eine Kirche bauen und von Staggo, einem dänischen Bischof, konsekrieren307. Bei der Konsekration wurde ihr Sprengel festgelegt, der terminus determinationis, wie sich aus der Urkunde Erzbischof Bardos vom Jahre 1043 für Schloßborn erkennen lässt308. Der Pfarrsprengel war ausgedehnt und umfaßte den größten Teil des späteren Eppsteinschen Landgerichts Häusel309. Er schloß im Westen an den Bezirk von Bleidenstadt an und reichte im Osten bis zum Feldberg und bis Schmitten. Im Süden wurde er durch die Orte Niedernhausen, Vockenhausen und Ehlhalten bezeichnet. Im Norden stieß er an die Erzdiözese Trier. Das Gebiet war noch verhältnismäßig wenig besiedelt, es war typisches Ausbauland. Auch hier war es wie im Soonwald die abzusehende Ent303
Vgl. Reischmann, Die kirchliche Organisation 42. Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332. 305 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 152 – 154 Nr. 250. Vgl. A. Fr. Kipke, Gestalt und Wirken der Abtei Bleidenstadt im Mittelalter: AfmrhKG 6, 1954, 75 – 108, hier 75. 306 Kipke, Gestalt und Wirken 94 f. 307 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 179 f. Nr. 284. 308 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 179 f. Nr. 284. 309 A. B. Gottron, Die Pfarrgrenze von Schloßborn nach der Bardo-Urkunde 1043: AmrhKG 1, 1949, 268 – 275. 304
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wicklung, die Willigis zur Errichtung einer Pfarrei bestimmte. Er kam mit seiner Organisation nicht zu spät, sondern war der Entwicklung voraus. Ja, er selbst schuf damit einen ,,Ansatzpunkt für eine weiträumig geplante Landeserschließung durch das Mainzer Erzbistum im Waldland des Taunus“310. Die Pfarrei Schloßborn übertrug Willigis dem St.-Stephan-Stift. Er legte damit die seelsorgliche Betreuung der Bevölkerung wiederum in die Hände einer geistlichen Genossenschaft. Diese war in der Lage, auch wachsenden Bedürfnissen, wie sie sich aus dem weiteren Ausbau, der Zunahme der Bevölkerung und der Entwicklung der Pfarrei ergeben mußten, zu genügen. Tatsächlich entstand in dem Gebiet der Pfarrei allmählich eine Anzahl von Pfarreien bzw. Filialen oder Kapellen. Im Jahre 1196 wurde Oberjosbach Pfarrei311. Die Kirche war von ihrer Mutterkirche schon seit längerer Zeit seelsorglich unabhängig gewesen. Nur die Sendpflicht hatte sie noch mit dieser verbunden. Jetzt erhielt sie ihn zuerkannt. Andere Orte folgten oder gingen vorauf. Willigis hatte sich nicht getäuscht, wenn er darauf vertraute, daß das Stift St. Stephan die Ausgestaltung der Pfarrorganisation vorantreiben werde312. Ebensowenig irrte er sich, wenn er von der Übertragung der Pfarrei Schloßborn einen wirtschaftlichen Aufschwung des Gebietes erwartete313. Außer Schloßborn übertrug Willigis dem St.-Stephan-Stift die Kirche zu Münsterliederbach314. Die Nachfolger des Willigis blieben seinem Organisationsmuster treu. Von dem Mariengredenstift in Mainz, dem das besondere Wohlwollen der Erzbischöfe galt, ist bekannt, daß es in dem Gebiet des Dekanates Roßdorf an Rodung und Landesausbau beteiligt war315. Ebenso dürfte es den Ausbau der dortigen Pfarrorganisation mitbetrieben haben316. Mainz besaß umfangreichen Besitz im südlichen Sachsen, vor allem in den Orten der Urpfarreien Nörten und Geismar, wie sich 1055 zum erstenmal belegen läßt. Das Stift Nörten wurde bei seiner Gründung durch Erzbischof Liutpold mit diesen beiden Mutterkirchen ausgestattet317. Die Nörtener Martinskirche war zugleich Stiftskirche und Pfarrkirche318. An diesen Beispielen ist das Vorgehen des Erzbischofs bei der Gründung von Pfarreien zu erkennen. Willigis war ein nüchtern planender und tatkräftiger Orga310
Gerlich, Die Besitzentwicklung 26 f. Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 219 – 221 Nr. 301; Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 2 S. 1043 – 1045 Nr. 641. 312 Vgl. Gerlich, Die Besitzentwicklung 32 f. 313 Vgl. Gerlich, Die Besitzentwicklung 27. 314 Joannis, Scriptores Rerum Moguntiacarum II, 519. Vgl. 1158 (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 435 – 437 Nr. 240); Gerlich, Das Stift St. Stephan 85 f; Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 71. 315 Büttner, Zur Geschichte von Stift Selbold 267. 316 Kleinfeldt/Weirich, Die mittelalterliche Kirchenorganisation 36 – 45; Dörr, Das St. Mariengredenstift 21 f. 317 Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 185 – 187 Nr. 296. 318 Bruns, Der Archidiakonat Nörten 42. 311
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nisator des Kirchenwesens mit ausgesprochen realistischem Sinn. Er besaß zwei Eigenschaften, die man von einem Mann in führender Stellung erwartet, in hohem Maße: Entschlußkraft und Weitblick. Er fragte sich einerseits, welche Richtung der Landesausbau vermutlich nehmen würde, und lenkte andererseits durch eigene Planungen die Entwicklung. Er schuf zuerst besitzrechtliche Grundlagen für die Gründung von Pfarreien319, errichtete dann auf ihnen Kirchen. Er betätigte sich selbst als Erbauer, wo es ihm nötig schien, begrüßte aber auch dankbar die Initiative von Gläubigen, die ein Gotteshaus errichteten. Die Bauten der neuen Pfarrkirchen mögen oft bescheiden gewesen sein. Die Kirche in Schloßborn war zunächst aus Holz. Aber es war einmal ein Anfang gemacht und für das unbedingt Notwendige gesorgt; spätere Geschlechter mochten darauf weiterbauen und ein Kirchengebäude aus dauerhafterem Material errichten, wie es in Schloßborn unter Erzbischof Bardo geschah. Willigis legte auf eine zureichende Ausstattung der Kirchen mit Besitz Wert. Hierfür kamen Grundbesitz und Zehnteinnahmen320, aber auch Unfreie in Frage321. Neue Kirchen wurden regelmäßig an schon bestehende angelehnt, nicht sofort völlig verselbständigt322. Die Kirchen übertrug er einem Stift, wodurch die seelsorgliche Betreuung und die Verbindung mit der Mainzer Kirche sichergestellt waren. Zugleich waren die Stifte in der Lage, sich wirksam an der Rodung zu beteiligen. Zwischen der Gründung von Kanonikerstiften einerseits und der Vermehrung der Pfarreien und der Erschließung des Landes andererseits besteht also ein Zusammenhang. Landesausbau und Seelsorgsplanung, Binnenkolonisation und Kirchenorganisation hingen eng zusammen. Es ist auch nicht von ungefähr, daß Willigis das Pfarrnetz vor allem an den Grenzen des Erzbistums zu anderen Diözesen erweiterte. Wie die Bischöfe allgemein war auch Willigis eifrig auf die Wahrung der Grenzen seiner Diözese bedacht. Gerade die von der Bischofstadt weit abgelegenen Gebiete hätten sich leicht vernachlässigt fühlen und sich nach kirchlichen Zentren anderer Diözesen orientieren können. In den Pfarreien erfuhren die Siedler die Sorge ihres Erzbischofs, und in den Stiften fanden sie Mittelpunkte kirchlicher Betreuung. Willigis ging bei der Errichtung der Pfarreien selbständig und unabhängig vor. Von einer irgendwie gearteten Mitwirkung eines Archidiakons (jüngerer Ordnung) ist keine Rede, weil es einen solchen noch nicht gab. Man vergleiche in dieser Hinsicht die Urkunde von 995 mit jener vom 23. Juli 1123, die die Gründung und Ausstattung der Kirche zu 319 1128: quia in nemore Sane dicto nil habebat, acquisita huba una … ecclesiam construxit (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 461 – 465 Nr. 553, hier 462); in eodem saltu curtile unum in huba sancti Albani acquirens (ebenda). 320 1043: Schloßborn: eandem terminationem cum universa decimatione eidem ecclesie omni integritate firmavit (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 179 f. Nr. 284). 321 995: suis bonis ei mancipiis dotaverunt (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 226 f. Nr. 332). 322 Von der Kirche in Seesbach heißt es: ipsamque cum suis appendiciis Gehinkirche ecclesie subdens, ab eodem clerico, qui illam rexerit, hanc semper regendam constituit (Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 461 – 465 Nr. 553, hier 462 f.).
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Seebach bei Langensalza festhält323. In ihr wird die Zustimmung des Archidiakons zu der Errichtung der neuen Pfarrei erwähnt. Ihm ist auch die Übertragung des geistlichen Amtes nach Prüfung der Würdigkeit vorbehalten. Dagegen dürfte Willigis dort, wo – wie in dem Falle Steinheim – in dem Sprengel einer Großpfarrei eine neue Kirche errichtet wurde, den zuständigen Pfarrer befragt haben324.
Schluß Willigis ist ein Beispiel für einen Bischof des ,,Ottonischen Systems“, der trotz aller Beanspruchung im Dienst des Königs und des Reiches die Belange der Kirche, namentlich seiner Diözese, nicht vernachlässigte. Er hatte den engen Zusammenhang, der zwischen Recht und Seelsorge, zwischen Organisation und religiöser Betreuung besteht, erfaßt. Weil ihm der Dienst an den Seelen die Triebkraft seines Handelns war, baute er die Organisation seiner Erzdiözese entschlossen und planvoll aus. Genauigkeit in der Abgrenzung von Kompetenzen erschien ihm nicht als bürokratische Pedanterie, sondern als ein unerläßliches Erfordernis wirksamen Heilsdienstes. Willigis war auch Realist und Menschenkenner genug, um die materielle Grundlage der kirchlichen Arbeit und des geistlichen Lebens nicht geringzuschätzen. In seinen Planungen und Unternehmungen verband Willigis Vorausschau und Kühnheit mit Umsicht und Bedächtigkeit. Er arbeitete nicht für den Augenblick, sondern auf lange Sicht. Er besaß jene seltene, dem Regenten aber notwendige Eigenschaft, auf rasche Erfolge in der Gegenwart verzichten zu können, um in der Zukunft desto reichere Früchte reifen zu lassen. Willigis war kein Mann grundstürzender Änderungen, sondern behutsamer Entwicklung. Er hatte Sinn für Kontinuität. Deswegen arbeitete er mit den Gehilfen und den Einrichtungen weiter, die er vorfand, als er die Leitung der Erzdiözese übernahm. Im Rahmen dieser Untersuchung konnte nicht das gesamte Wirken des Willigis als Diözesanoberhirt behandelt werden. Namentlich jene Regierungshandlungen, die nur mittelbar auf die Diözesanorganisation Bezug haben, mußten außerhalb der Darstellung bleiben. Ich erinnere z. B. an die Politik, die Willigis hinsichtlich des Erwerbs von Grund, von Immunitäten und von Bannrechten sowie in bezug auf die Vogtei befolgte. Die Einrichtungen jedoch, die untersucht wurden, gestatten das Urteil, daß Willigis sich geschickt der organisatorischen Mittel zu bedienen wußte, die das Kirchenrecht seiner Zeit ihm zur Verfügung stellte. 323
Stimming, Mainzer Urkundenbuch I, 415 Nr. 512. Als Erzbischof Konrad I. 1196 der Kirche in Oberjosbach Pfarrechte verleiht, geschah dies „corepiscopo etiam ipsarum ecclesiarum (sc. Burne et Gosbach) Sigefrido videlicet sancti Petri preposito annuente“ (Sauer, Nassauisches Urkundenbuch I, 219 – 221 Nr. 301). 324 1138 – 1141 stimmten dem Bau einer Kirche der Erzbischof, der zuständige Pfarrer und der zuständige Erzpriester zu (Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1 S. 39 f. Nr. 24).
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Willigis mag das notwendig gewordene Auslaufen des Chorbischofs älterer Ordnung bedauert haben. Denn er war sich bewußt, daß der Oberhirt einer so ausgedehnten Erzdiözese, wie es das Bistum Mainz war, je länger desto weniger weder alle Pontifikalfunktionen noch alle Regierungshandlungen persönlich vornehmen konnte, daß er also der Gehilfen, und zwar solcher bischöflichen Ranges, bedurfte. Die spätere Entwicklung zu den ständigen Hilfsbischöfen dürfte ihm zwangsläufig erschienen sein. Er konnte im Augenblick nicht mehr tun, als den Weg zu einer solchen Lösung offenhalten. Von weittragender Bedeutung war das System des Willigis, den einzelnen Teilen des Erzbistums organisatorische Mittelpunkte zu geben. Mit dieser Maßnahme gliederte er den Sprengel, verband ihn mit der Bischofsstadt und vermied zugleich eine übertriebene Konzentration in dem Hauptort des Bistums. Gleichzeitig ebnete er damit den Weg zu dem Archidiakonat jüngerer Ordnung, der für eine bestimmte Periode der kirchlichen Rechtsgeschichte einem echten Bedürfnis entsprach. Der Archipresbyterat jüngerer Ordnung ist wohl noch nicht in den Gesichtskreis des Willigis getreten. Die Besiedlung des Landes war noch nicht so stark, die Zahl der Pfarreien noch nicht so groß, daß schon zu seiner Zeit eine organisatorische Zusammenfassung mehrerer Pfarreien in Landdekanate erforderlich gewesen wäre. Die Unentbehrlichkeit der Pfarreien für die Seelsorge war Willigis eine Selbstverständlichkeit. Er ermutigte jede auf die Ausbreitung des Pfarrnetzes gerichtete Initiative, soweit sie ihm zukunftsträchtig erschien, und betätigte sich selbst als Pfarrgründer. Als Mann der Praxis wußte er um die Last und die Mühe des Pfarrers, der, vielfach auf sich allein gestellt, mit den zahlreichen Erfordernissen des Lebens einer oft weitzerstreuten Gemeinde fertigwerden mußte. Darum suchte er den Pfarrern materiell und geistlich Anlehnung zu verschaffen. Er förderte das gemeinsame Leben des Klerus. Seine organisatorischen Maßnahmen hatten zum Ziel, einen sittlich einwandfreien, frommen, gebildeten und disziplinierten Pfarrklerus zu schaffen als Bürgschaft einer wirksamen Seelsorge. Alle Regierungshandlungen des Willigis weisen auf seine starke, in sich ruhende Persönlichkeit zurück. Er war kein geistlicher Manager, der Betriebsamkeit mit Seeleneifer verwechselt. Er hatte es nicht nötig, ständig dem sogenannten Neuen nachzulaufen, um etwas zu gelten oder für etwas gehalten zu werden. Willigis war eine gottverbundene Priestergestalt, die klug, überlegen und zugleich kraftvoll die Aufgaben erkannte und um ihre dauerhafte Lösung bemüht war. Nichts läßt erkennen, daß ihm Eitelkeit zu eigen war, ein Fehler, der schon manchem Oberhirten geradezu zum Verhängnis geworden ist. Allein der Sache dienend, ging er furchtlos und selbstlos den Weg, den er nach Gebet und Beratung als den rechten erkannt hatte. Notwendigkeit und Nutzen guter Organisation standen ihm außer Zweifel. Aber ebenso klar war ihm, daß es auch hier der Geist ist, der lebendig macht.
Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz Einleitung Unter den Beamten des Diözesanbischofs nimmt der Generalvikar die erste Stelle ein. Der CIC/1917 (cc. 366 – 371)1 und der CIC/1983 (cc. 475 – 481)2 umreißen seine Position, letzterer allerdings in Konkurrenz mit der neuen Figur des Bischofsvikars. Der Generalvikar, wie er heute vor uns steht, hat eine mehrhundertjährige Geschichte hinter sich3. Ihre Erforschung weist noch viele Lücken auf. Diese Feststellung gilt auch für die Erzdiözese Mainz4. So liegt der Zeitpunkt, zu 1
Raoul Naz, Vicaire général: Dictionnaire de Droit Canonique VII, 1965, 1499 – 1503. Hubert Müller, Die Diözesankurie, in: Joseph Listl/Hubert Müller/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, 364 – 376. 3 Franz Kober, Über den Ursprung und die rechtliche Stellung der Generalvicare: Theologische Quartalschrift 35, 1853, 535 – 590; Ernst Moy de Sons, Vom bischöflichen Generalvicar: AfkKR 4, 1859, 402 – 434; Theodor Friedle, Über den bischöflichen Generalvicar: AfkKR 15, 1866, 337 – 370; Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland II, Berlin 1878, 205 – 227; Edouard Fournier, Les origines du vicaire général, Paris 1922; Erwin von Kienitz, Generalvikar und Offizial, Freiburg i.Br. 1931; Arnold Güttsches, Die Generalvikare der Erzbischöfe von Köln bis zum Ausgang des Mittelalters, Jur. Diss. Köln, Köln 1931; Franz Gescher, Aus der Frühzeit der erzbischöflichen Generalvikare von Köln: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 130, 1937, 1 – 21; Theodor Gottlob, Die Offiziale des Bistums Konstanz im Mittelalter, Limburg/Lahn 1951. 4 Georg Christian Joannis, Scriptores Rerum Moguntiacarum, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1722; Valentinus Ferdinandus Gudenus (Hrsg.), Codex diplomaticus anecdotorum res Moguntinas illustrantium, 5 Bde., I: Göttingen 1743, II–V: Frankfurt/Leipzig 1747–1768; Stephan Alexander Würdtwein (Hrsg.), Subsidia diplomatica ad selecta iuris ecclesiastici Germaniae et historiarum capita elucidanda, 13 Bde., Heidelberg 1772 – 1778, Nachdruck: Frankfurt/Main 1969; derselbe, Nova Subsidia diplomatica ad selecta iuris ecclesiastici Germaniae et historiarum capita elucidanda, 14 Bde., Heidelberg 1781 – 1792, Nachdruck: Frankfurt/Main 1969; derselbe, Monasticon Palatinum, 6 Bde., Mannheim 1793 – 1796; Franz Joseph K. Scheppler, Codex ecclesiasticus Moguntinus Novissimus, 1. Bd. 1. Abt., Aschaffenburg 1802; J. Fr. Böhmer, Regesta Archiepiscoporum Maguntinensium, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II. 742?–1288, mit Benützung des Nachlasses von Johann Friedrich Böhmer bearb. und hrsg. von Cornelius Will, 2 Bde., Innsbruck 1877/86, Neudruck: Aalen 1966; Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289 – 1396, Erste Abteilung, bearb. von Ernst Vogt, 1289 – 1353, 1. Bd. 1289 – 1328, Leipzig 1913, Nachdruck: Berlin 1970; Regesten der Erzbischöfe von Mainz 1289 – 1396, Erste Abteilung, 2. Bd. 1328 – 1353, bearb. von Heinrich Otto, Darmstadt 1932 – 1935, Nachdruck: Aalen 1976; Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289 – 1396, Zweite Abteilung (1354 – 1396), bearb. von Fritz Vigener, 1. Bd. 1354 – 1371, Leipzig 1913, Nachdruck: Berlin 1970; 2. Bd., Leipzig 1914, Nachdruck: Berlin 1970; Mainzer Urkundenbuch, 1. Bd. Die Urkunden bis zum Tode Erzbi2
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dem der Generalvikar hier zum erstenmal auftritt, nach wie vor im Dunkeln5. Im Folgenden soll versucht werden, dieses etwas zu lichten. Es geht darum, herauszufinden, wie der Generalvikar entstanden ist und wann sein erstes Vorkommen festzustellen ist. Zu diesem Zweck muß zuerst das rechtliche Wesen dieses bischöflichen Beamten beschrieben werden. Es ist richtig gesagt worden: ,,Wer … in der kirchlichen Rechtsgeschichte nach dem Zeitpunkt sucht, an dem die Generalvikare auftreten, muß ihn dort ansetzen, wo er den bischöflichen vicarius generalis auf dem Platz und mit der rechtlichen Ausrüstung antrifft, die er heute hat“6. Das bedeutet im einzelnen Folgendes. Als Generalvikar kann nur bezeichnet werden, wer einem einzigen Bischof zugeordnet ist, nicht, wer Jurisdiktionshandlungen bald hier, bald dort setzt. Ein und derselbe Mann ist nicht imstande, die allgemeine Stellvertretung mehrerer Bischöfe wahrzunehmen. Der Generalvikar ist Inhaber hoheitlicher Hirtengewalt (Jurisdiktion) auf diözesaner Ebene. Er unterscheidet sich mithin von untergeordneten Jurisdiktionsträgern. Der Bischof und sein Generalvikar sind beide mit ordentlicher Jurisdiktion versehen. Aber der eine hat sie kraft eigenen Rechtes, der andere kraft übertragenen Rechtes. Der Generalvikar ist allgemeiner Stellvertreter des Bischofs in Angelegenheiten der Verwaltung. Er besitzt normalerweise keine richterliche Gewalt. Der Generalvikar hat die Vollmacht zur hoheitlichen Verwaltung grundsätzlich in demselben Umfang inne wie der Bischof. Die Gewalt des Bischofs erscheint gewissermaßen verdoppelt, doch vermag die juristische Konstruktion der Prokuratur die Einheit zu wahren7. Die ordentliche Gewalt, die dem Bischof iure proprio zusteht, besitzt der Generalvikar iure vicario. Bischof und Generalvikar bilden ein und dieselbe Instanz. Der Generalvikar handelt im Namen des Bischofs und tritt mit Wirkung für und wider ihn auf. Er ist das Alter ego des Diözesanbischofs. Der Generalvikar empfängt die hoheitliche Hirtengewalt für das gesamte Territorium des Bistums. Er ist nicht der Vertreter des Bischofs in einem Teilbereich schof Adalberts I. (1137), bearb. von Manfred Stimming, Darmstadt 1932, Nachdruck: Darmstadt 1972; 2. Bd. Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200), bearb. von Peter Acht, Darmstadt 1968/71. 5 Valentinus Ferdinandus Gudenus (Hrsg.), Codex diplomaticus II, Frankfurt/Leipzig 1747, 415 – 434; Carl Philipp Kopp, Ausführliche Nachricht von der ältern und neuern Verfassung der Geistlichen und Civil-Gerichten in den Fürstlich-Hessen-Casselischen Landen, 2 Bde., Cassel 1769 – 71, I, 116 f.; Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz, Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiaconate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1897, 112 –277; Karl Bauermeister, Studien zur Geschichte der kirchlichen Verwaltung des Erzbistums Mainz im späten Mittelalter: AfkKR 97, 1917, 501 – 535; Günter Rauch, Das Mainzer Domkapitel in der Neuzeit, Zu Verfassung und Selbstverständnis einer adeligen geistlichen Gemeinschaft (Mit einer Liste der Domprälaten seit 1500): ZRG Kan. Abt. 61, 1975, 161 – 227 und 62, 1976, 194 – 278 und 63, 1977, 132 – 179; Friedhelm Jürgensmeier, Das Bistum Mainz, Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil, Frankfurt a. M. 1988, 59. 6 Gescher, Aus der Frühzeit 6. 7 Gescher, Aus der Frühzeit 8 f.
Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz
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der Diözese. Bischof und Generalvikar wirken gleichzeitig nebeneinander. Der Generalvikar wird unbefristet und ohne Unterbrechung neben und unter dem Bischof tätig. Er ist der ständige Gehilfe des Bischofs und amtiert an der Seite des anwesenden Bischofs. Er vertritt den Bischof nicht an einer abgelegenen Stelle seiner Diözese, sondern an dem Hauptort, in der Bischofsstadt, an der bischöflichen Kurie, und er übt seine Tätigkeit unter den Augen des bischöflichen Ordinarius aus. Der Generalvikar hat ein Amt inne, das unabhängig vom Wechsel der Inhaber besteht und stets wieder mit einem solchen besetzt wird. Er ist ordentlicher Mitarbeiter des Bischofs, der bei Ausfall oder Abberufung stets einen Nachfolger erhält. Weil er Stellvertreter und Person des Vertrauens des Diözesanbischofs ist, teilt seine Jurisdiktion das Schicksal der Gewalt des Oberhirten. Er verliert sein Amt, wenn der Bischof des seinigen verlustig geht, also vor allem beim Tode des Bischofs, und die Ausübung seines Amtes ist sistiert, wenn der Bischof sein Amt nicht ausüben darf, etwa weil er suspendiert oder exkommuniziert ist. Der Bischof ernennt den Generalvikar frei und beruft ihn frei ab, wie es sich für einen Vertreter, der das Vertrauen des Vertretenen besitzen soll, gehört. Für seine Dienste wird der Generalvikar besoldet. Das Gehalt, das ihm ausgeworfen wird, unterstreicht die Dienstund Abhängigkeitsnatur seines Amtes.
1. Kapitel: Die Vorläufer des Generalvikars I. Vertreter bei Überlastung oder Verhinderung des Bischofs Der Fall ist immer wieder eingetreten, daß Bischöfe verhindert waren, die Fülle der ihnen obliegenden Aufgaben persönlich zu erfüllen. Daher schritten sie dazu, bestimmte Obliegenheiten oder einzelne Sektoren ihres Pflichtenkreises zeitweilig oder für immer anderen zu übertragen. Als besonders geeignet zur Entgegennahme solcher Aufträge erwiesen sich im ersten Jahrtausend der Archidiakon und der Archipresbyter älterer Ordnung8. Wohlgemerkt ist damit nicht auf deren ständigen Pflichtenkreis abgestellt, sondern auf Dienste, die ihnen zusätzlich übertragen wurden. Daneben und erst recht nach dem Verschwinden von Archidiakon und Archipresbyter älterer Ordnung wurden andere Kleriker vom Bischof herangezogen, um bestimmte Obliegenheiten seines Amtes zu erledigen. Die Ermächtigung konnte sich auf ein einzelnes Rechtsgeschäft oder auf eine Reihe von Rechtsgeschäften, in letzterem Falle entweder der gleichen Art oder verschiedener Art, erstrecken. Die Vertretungsmacht konnte für kürzere oder längere Zeit erteilt werden. War letzteres der Fall, dann erschien der Beauftragte als ständiger Vertreter des Diözesanbischofs. Die Empfänger einzelner verwaltungsrechtlicher Befugnisse heißen regel-
8 Zu diesen Amtsträgern vgl. Georg May, Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis, in: Willigis und sein Dom, Festschrift zur Jahrtausendfeier des Mainzer Domes 975 – 1975, Mainz 1975, 31 – 92.
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mäßig Kommissare9. Das Verb committere, wovon commissarius abgeleitet ist, bedeutet ja ,,anvertrauen, übergeben, überlassen“. Wer die Stellvertretung des Bischofs führte, nannte sich vices gerens. Das Wort vices besagt ,,Stelle, Rolle, Aufgabe“, das Wort gerere ,,verwalten, verrichten“. Derartige Aufträge sind regelmäßig an Formeln wie ad infrascripta10 oder in hac parte11 zu erkennen. Solche Spezialvikare, wie sie Arnold Güttsches nennt12, waren die vielen Executores von Mandaten und Reskripten. Einige derartige Mandate seien genannt. Am 15. Juli 1268 beauftragte Erzbischof Werner den Magister Dietrich, Pfarrer von Allerheiligen und Kanoniker des Marienstiftes in Erfurt, mit der Erledigung des Straffalles des Reinhold Ritter von Weberstedt13. Am 26. März 1292 war der Scholaster von St. Marien in Erfurt, Heinrich, iudex sive executor a reverendo patre ac domino Gerhardo, archiepiscopo Maguntino, deputatus14. Am 29. Juli 1303 ermächtigte Erzbischof Gerhard II. den Provisor des Erfurter Allods, Hermann genannt Cappuz, das Nonnenkloster Mariengarten zu verlegen15. Am 2. Juli 1313 war der Kantor des Erfurter Severistiftes, Theodericus, von Erzbischof Peter beauftragt, einem Kleriker eine Pfarrkirche zu übertragen16. Das Wesen dieser Kategorie von Vertretern des Diözesanbischofs besteht darin, daß sie regelmäßig bei Anwesenheit des Bischofs in seinem Bistum oder jedenfalls von dem anwesenden Bischof beauftragt einzelne Aufgaben der hoheitlichen Verwaltung ausüben. Ihnen wird jedoch niemals die gesamte Jurisdiktion des Erzbischofs übertragen; denn ,,sie sollen ihren Auftraggeber entlasten, aber nicht ersetzen“17. Die Spezialvikare gehören darum nicht zur Geschichte, sondern zur Vorgeschichte des Generalvikars. Selbstverständlich schloß die weiter unten darzustellende Einrichtung des Generalvikars nicht aus, daß auch weiterhin andere Kleriker mit einzelnen verwaltungsrechtlichen Rechtsgeschäften betraut wurden.
9 Johannes Wolf, Historische Abhandlung von den geistlichen Kommissarien im Erzstift Mainz, besonders von denen im Eichsfelde, Göttingen 1797; Martin Hannappel, Mainzer Kommissare in Thüringen, insbesondere die Erfurter Generalkommissare und die Siegler Simon Voltzke und Johannes Sömmering: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 44, 1942, 146 – 209. 10 Z. B.: Vogt, Regesten I, 1 S. 199 Nr. 1139. 11 Z. B.: Vogt, Regesten I, 1 S. 235 Nr. 1344. 12 Güttsches, Die Generalvikare der Erzbischöfe von Köln 12. 13 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 480; Würdtwein, Nova Subsidia IV S. XXXVIII; Böhmer/Will, Regesten II, 372 Nr. 205. 14 Alfred Overmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, 3 Tle., Magdeburg 1926, 1929, 1934, I, 388 Nr. 677. 15 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, 467 Nr. 834. 16 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, 541 Nr. 967. 17 Gescher, Aus der Frühzeit 3.
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II. Vertreter für die Zeit der Abwesenheit 1. Die rechtliche Grundlage Ebenso und erst recht wie bei Verhinderung des anwesenden Oberhirten ergab sich die Notwendigkeit der Vertretung des Diözesanbischofs bei dessen Abwesenheit von dem Bistum. Eine solche war recht häufig, weil der Mainzer Erzbischof auch Fürst des Reiches war und im Dienst des Königs bzw. Kaisers benötigt wurde18. Der Diözesanbischof mußte Vorsorge treffen, daß die Leitung seines Sprengels auch während der Zeit seiner Abwesenheit gewährleistet war. Doch hierbei war es nicht genug, für das eine oder andere Rechtsgeschäft einen Beauftragten zu bestellen, sondern es mußte der Oberhirt als solcher zeitweilig ersetzt werden. In diesem Falle war von dem Vertreter nicht der eine oder andere Teil der bischöflichen Verwaltung, sondern deren Gesamtheit zu erledigen. Der solchermaßen eingesetzte ,,Statthalter“ des abwesenden Erzbischofs war berechtigt und verpflichtet, an Stelle des abwesenden Oberhirten dessen volle Jurisdiktion in dem ganzen Bistum auszuüben. Selbstverständlich konnte ein und derselbe Kleriker wiederholt bei mehrmaliger Abwesenheit des Bischofs zu dessen Stellvertreter ernannt werden. Wenn sich die Zeiten der Abwesenheit des Bischofs häuften, lag es nahe, daß er immer wieder dieselbe Person seines Vertrauens zu seinem Vertreter ernannte und daß die Bistumsangehörigen sich an die sich oft wiederholende, eventuell fast dauernde Vertreterschaft gewöhnten. Der Vertreter übte die ordentliche Hirtengewalt des Diözesanbischofs aus. Er war berechtigt, alle Maßnahmen der hoheitlichen Verwaltung im Bistum zu treffen. Die Rechtsgeschäfte, die er vornahm, hatten dieselbe Rechtswirkung, wie wenn der Bischof persönlich an ihnen beteiligt gewesen wäre. Der Vertreter stellte insofern das Alter ego des abwesenden Bischofs dar. Weil Vertreter und Vertretener, juristisch gesehen, dieselbe Person bilden, war die Appellation gegen seine Verfügungen an den Erzbischof ausgeschlossen. Entscheidend für diese Rechtsfigur war jedoch: Der Vertreter wurde nur für die Zeit berufen, in welcher der Bischof von seinem Bistum abwesend war (oder sein würde). Er erhielt die Vollmacht erst von dem Augenblick an, in dem der Diözesanbischof seinen Sprengel verließ, und er verlor sie mit dem Zeitpunkt, in dem der Oberhirte in sein Bistum zurückkehrte. Er war ,,ein vorübergehender Ersatzmann“19. Daher wurde er nur ausnahmsweise eingesetzt, wie eben die Abwesenheit des Oberhirten von seiner Diözese die Ausnahme von seiner Pflicht zur Anwesenheit sein sollte. Er hatte ein Mandat inne, nicht aber ein Amt. Seine Jurisdiktion war eine delegierte, und zwar für die Gesamtheit 18 Erwin Hensler, Verfassung und Verwaltung von Kurmainz um das Jahr 1600, Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der geistlichen Fürstentümer, Straßburg i. E. 1909; Heinz Hürten, Die Verbindung von geistlicher und weltlicher Gewalt als Problem in der Amtsführung des mittelalterlichen deutschen Bischofs: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82, 1971, 16 – 28; E. Kaufmann, Kurfürsten: HRG II, 1978, 1277 – 1290; Erich Düsterwald, Kleine Geschichte der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz 747 – 1802, Sankt Augustin 1980. 19 Gescher, Aus der Frühzeit 8.
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der Fälle. Solange der Vertreter nur für den Fall und die Zeit der Abwesenheit des Erzbischofs bestellt wurde, war der Generalvikar noch nicht vorhanden. Denn der Generalvikar besitzt seine Jurisdiktion ohne Rücksicht auf die Abwesenheit oder Anwesenheit des Bischofs. Gelegentlich bestellte der Bischof nicht einen Mann, sondern mehrere Männer mit der Leitung der Diözese für die Dauer seines Fernseins von dem Bistum. Hier gilt erst recht, was für den Einzelvertreter gesagt wurde. Solange mehrere Personen mit der Vertretung des Erzbischofs betraut wurden, die gemeinsam handeln mußten, war die Figur des Generalvikars noch nicht fertig ausgebildet. Denn der Generalvikar ist in aller Regel, in den deutschen Verhältnissen immer nur einer. Für die Zeit der Abwesenheit bestellten nun auch die Mainzer Erzbischöfe Vertreter. Es waren dies in der Regel die Dignitäre des Domkapitels. 2. Die einzelnen Fälle Im Folgenden sollen einige einschlägige Fälle vorgeführt werden. Als Erzbischof Arnold im Jahre 1158 nach Italien aufbrach, bestellte er den Propst Burchard von Jechaburg, der sein vertrauter Ratgeber war und den er zum Propst des Petersstiftes in Mainz gemacht hatte, als seinen Stellvertreter in geistlichen und weltlichen Dingen20. Die Vita Arnoldi erklärt präzise, der Erzbischof habe ihn tanquam alterum se ipsum zurückgelassen21. Einige Jahre später (1174) war Burchard Stellvertreter des Erzbischofs Christian22. Am 5. Juni 1178 handelte der Bischof Siegfried von Brandenburg in Vertretung des in Italien weilenden Erzbischofs Christian23. Er hatte von ihm eine Sendung (legatio) erhalten24. Sein Auftrag betraf allein das Gebiet der Weihen. Er ist daher nicht der gesuchte Vorläufer des Generalvikars, der ja den Bischof nicht in seinem Ordo, sondern in seiner Iurisdictio vertritt. Dennoch gibt die Urkunde auch für letztere etwas her. Denn der Bischof Siegfried willfahrte der Bitte um Konsekration der Kirche in Altenburg erst, nachdem er die Prälaten der Domkirche befragt hatte, nämlich den Propst, den Dekan, den Scholaster und den Kantor25, von denen es heißt: qui tunc vice et loco domini Maguntini fungebantur. Der weihende Bischof stützte sich auf deren Rat und Autorität (consilio quorum et auctoritate freti) und holte die sonstigen üblichen Erlaubnisse ein. Daraus ergibt sich: Der Erzbischof hatte während seiner Abwesenheit die Stellvertretung seiner jurisdiktionellen Befugnisse als Diözesanbischof den 20
Böhmer/Will, Regesten I, 367 Nr. 68. Philipp Jaffé (Hrsg.), Monumenta Moguntina, Berlin 1866, Neudruck: Aalen 1964, 626. 22 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 610 – 612 Nr. 368 (cui vicem nostram commisimus). 23 Böhmer/Will, Regesten II, 52 – 54. Vgl. ebenda S. XI. 24 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 663 – 665 Nr. 409: cum essemus in partibus Rheni fungentes legatione domini Cristiani, venerabilis Maguntini archiepiscopi. 25 Rauch, Das Mainzer Domkapitel in der Neuzeit 195 – 246. Der fünfte Prälat, der Kustos, wird nicht erwähnt. Vielleicht war die Stelle damals unbesetzt. Nach Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 309 scheint zwischen Arnold und Rugger (oder Rutger) eine Lücke zu klaffen. 21
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Dignitären des Domkapitels übertragen. Nicht ein einzelner handelte an seiner Stelle, sondern vier Prälaten vertraten ihn. Man wird sich ihre Bevollmächtigung als kollegiale denken müssen. Das heißt: Sie sollten gemeinsam ihre Entscheidungen treffen. Zur Rechtswirksamkeit ihrer Handlungen bedurfte es des Beschlusses aller oder wenigstens der Mehrheit. Der Bischof von Brandenburg war für seine Weihehandlungen an sie gewiesen und von ihnen abhängig. Die Prälaten des Domkapitels wurden auch in streitigen Angelegenheiten tätig und bezeichneten sich in dieser Funktion als Iudices a domino Christiano Maguntine sedis archiepiscopo delegati26. Wie Erzbischof Christian sorgte auch sein Nachfolger für Vertretung bei Abwesenheit. Anfang des Jahres 1197 trat Erzbischof Konrad I. die Reise nach Palästina an, die ihn mehrere Jahre von seinem Bistum fernhalten sollte27. Für die Pontifikalien traf er Vorsorge, indem er den Bischof Helmbert von Havelberg mit seiner Vertretung beauftragte28. In der Gerichtsbarkeit walteten die delegierten Richter ihres Amtes29. Es erhebt sich die Frage, wer in der Zeit der Abwesenheit des Erzbischofs die Verwaltung des Bistums führte. Die Zahl der Dokumente, die darüber Auskunft geben könnte, ist gering. Es kommt m. E. lediglich eine aus dem Jahre 1197 stammende Urkunde in Frage30. Darin machen die delegierten Richter des Mainzer Erzbischofs dem Bischof Helmbert von Havelberg Mitteilung von einem gerichtlichen Urteil, das Erzbischof Konrad in einer Besitzstreitigkeit gefällt hatte. Das Dokument wendet sich jedoch nicht nur an den erwähnten Bischof, sondern gleichzeitig an seine delegierten coniudices (suis coniudicibus delegatis). Das letzte Wort bedarf der Erklärung. Es besagt nicht, daß Helmbert Richter sei, dem richterliche Kollegen zur Seite gestanden hätten. Denn Richter in Mainz sind die erwähnten delegierten Richter des Erzbischofs. Das Wort coniudices muß daher anders verstanden werden. Nun ist es eine im Mittelalter oft zu beobachtende Erscheinung, daß der Träger weltlicher31 oder kirchlicher32 Hoheitsgewalt als iudex bezeichnet wird. Auch Inhaber bloßer Verwaltungshoheit werden mit diesem Wort belegt. Daß sie nicht Inhaber der (streitigen) Gerichtsbarkeit sind, macht regelmäßig ein Zusatz deutlich. Sie nennen sich nämlich häufig iudex et executor oder iudex et commissarius. Die Inhaber der (streitigen) Gerichtsbarkeit tragen eine solche Beifügung nicht. Dieser Sprachgebrauch ist hier anzunehmen. Durch das Wort iudex wird die Ausstattung mit hoheitlicher Hirtengewalt auf dem Gebiet der Verwaltung bezeichnet. Nun geben die Aussteller der Urkunde Bischof Helmbert selbst 26
Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 716 – 717 Nr. 445. Böhmer/Will, Regesten II, 107 – 113. Vgl. ebenda S. IV. 28 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1116 – 1118 Nr. 683; Böhmer/Will, Regesten II, 108 Nr. 371. 29 Z. B.: Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1123 – 1126 Nr. 688; Böhmer/Will, Regesten II, 109 Nr. 375. 30 Acht, Mainzer Urkundenbuch II, 1120 – 1122 Nr. 686. 31 J. F. Niermeyer, Mediae Latinitatis Lexicon Minus, Leiden 1976, 561 – 563. 32 Kienitz, Generalvikar und Offizial 55. Ich verweise auf X 5, 38, 4. 27
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nicht den Namen iudex. Wohl aber tragen die ihm beigeordneten Hoheitsträger die Bezeichnung coniudices. Die Vorsilbe con deutet an, daß die iudices einem iudex zugehören, und dieser ist Helmbert. Der Bischof von Havelberg ist iudex als Stellvertreter des abwesenden Erzbischofs, aber er ist es nicht allein, sondern mit anderen, eben den coniudices. Daß diese Deutung richtig ist, bestätigt die Unterwerfungsformel, welche die delegierten Mainzer Richter sogleich nach der Anrede an die Hoheitsträger folgen lassen: devotum obsequium. Wer sich anderen zu folgsamem Dienst verpflichtet weiß, der steht unter ihnen. Eben dies ist das Verhältnis der delegierten Mainzer Richter zu Bischof Helmbert und seinen Kollegen. Wer diese waren, kann nur vermutet werden. Daß nur der Bischof Helmbert mit Namen und Titel eingeführt wird, läßt die Vermutung zu, daß die coniudices nicht die Bischofskonsekration empfangen haben, sondern lediglich (höchstens) die Priesterweihe. In Analogie zu anderen Fällen nehme ich an, daß es sich um Dignitäre des Mainzer Domstifts, vielleicht den Domdechanten Heinrich ausgenommen, weil er unter den delegierten Richtern zu finden ist, oder um Pröpste Mainzer Stifter handelt. Bischof Helmbert und seine coniudices werden nun als delegati summi pontificis bezeichnet. Die Delegation ist der rechtliche Ausdruck für die Weise, in der die Bestellung der Hoheitsträger erfolgt ist. Die kirchlichen Hoheitsträger sind von dem Erzbischof ernannt. Denn mit summus pontifex ist kein anderer als der Mainzer Diözesanoberhirt gemeint. Die Aussteller griffen mit dieser Benennung hoch. Doch wird sie im Text der Urkunde bekräftigt, wo gesagt wird, der Erzbischof habe auctoritate Petri et Pauli apostolorum et sua den Tausch, um den es geht, bekräftigt.
2. Kapitel: Das erste Erscheinen des Vicarius in spiritualibus I. Spiritualia und Pontificalia Der Titel des (späteren) Mainzer Generalvikars war vicarius in spiritualibus. Doch nicht jeder vicarius in spiritualibus war Generalvikar. Es scheint, daß der Begrif vicarius in spiritualibus zum ersten Mal in der Regierungszeit Erzbischof Gerhards II. von Eppstein (1289 – 1305) auftaucht33. Es fragt sich, in welchem Sinne er damals gebraucht wurde. Paul Hinschius sieht in dem Ausdruck vicarius in spiritualibus ein Synonym für den Begriff vicarius in pontificalibus34. Danach wäre der Vicarius in spiritualibus der Weihbischof und nichts anderes als ein Weihbischof. Seine Meinung ist, wie gleich zu erwähnen sein wird, nicht unwidersprochen geblieben. Es fragt sich, ob beide Begriffe tatsächlich dasselbe besagen. Vicarius in spiritualibus und vicarius in pontificalibus sind zunächst einmal wörtlich verschieden. Die Spiritualia35 werden regelmäßig durch ihren Gegensatz zu den Temporalia bestimmt. Angewandt auf den kirchlichen Bereich, bedeutet der letztge33
Vgl. Vogt, Regesten I, 1 S. 25 Nr. 158; 34 Nr. 210. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 174. 35 G. May, Geistlich: LThK IV, 2. Aufl. 1960, 618. 34
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nannte Begriff die vermögenswerten Rechte. Die Spiritualia sind im Unterschied davon die geistlichen Befugnisse und Handlungen. Sie umfassen solche des ordo wie der iurisdictio. Spiritualia und Temporalia werden beispielsweise im Zusammenhang mit der Inkorporation36 unterschieden. Diese Unterscheidung gibt jedoch für den Zweck, Spiritualia und Pontificalia voneinander abzugrenzen, nichts her. Unter den Pontifikalien37 ist die Summe der Befugnisse, die dem Bischof auf dem Gebiet des Gottesdientes zukommen, zu verstehen. Sie betreffen im wesentlichen jene Tätigkeiten, die den ordo episcopalis zur Voraussetzung haben, und ergeben sich aus dem Pontificale bzw. aus dem Caeremoniale Episcoporum. Pontificalia und Spiritualia decken sich also nicht. Die Pontificalia sind ein Ausschnitt aus den Spiritualia. Es bleibt Raum für eine Beauftragung mit den Pontifikalien und eine andere für die Spiritualien. Ausgehend von dieser Unterscheidung, meinte Bruno Krusch, unter Erzbischof Gerhard sei der Gehilfe in pontificalibus auch Stellvertreter in spiritualibus gewesen38, habe also ein doppeltes Amt innegehabt, eines im Bereich des ordo, ein anderes in jenem der iurisdictio. Wenn diese Ansicht zuträfe, wäre, wie weiter unten zu sehen sein wird, die Existenz des Generalvikars über hundert Jahre vor der ersten erhaltenen Bestallung vorhanden. Krusch steht mit seiner Ansicht nicht allein. Auch Franz Werner sah in den Weihbischöfen die ersten Generalvikare39. Die Prüfung der Terminologie führt jedoch zu keinem sicheren Ergebnis. Gewißheit kann nur gewonnen werden, wenn sich nachweisen läßt, daß die Weihbischöfe, die sich als vicarius in spiritualibus bezeichnen, Handlungen vorgenommen haben, die als jurisdiktionelle anzusprechen sind und nicht aus dem ordo episcopalis erfließen bzw. als mit diesem verbunden angesehen wurden. Es bleibt nichts übrig, als die Texte aufzusuchen, in denen sich ein vicarius in pontificalibus gleichzeitig vicarius in spiritualibus nennt, und die Art seiner Tätigkeit zu bestimmen. II. Die Tätigkeit der Vicarii in spiritualibus oder in pontifica1ibus Daß schon vor Gerhard II. von Eppstein aushelfende Bischöfe in der Mainzer Erzdiözese tätig waren, und zwar mancher von ihnen jahrzehntelang, ist bekannt40, aber keiner von ihnen trug den Namen vicarius in pontificalibus oder in spirituali36
Dominikus Lindner, Die Lehre von der Inkorporation in ihrer geschichtlichen Entwicklung, München 1951; derselbe, Die Inkorporation im Bistum Regensburg seit dem Konzil von Trient: ZRG Kan. Abt. 37, 1951, 164 – 220. 37 Ph. Hofmeister, Pontifikalien: LThK VIII, 2. Aufl. 1963, 614 f.; C. G. Fürst, Pontifikalien: HRG III, 1984, 1824 f. 38 Krusch, Studie 129 f. 39 Franz Werner, Der Dom von Mainz und seine Denkmäler, nebst Darstellung der Schicksale der Stadt und der Geschichte ihrer Erzbischöfe bis zur Translation des erzbischöflichen Sitzes nach Regensburg, 1. Theil, Mainz 1826, 199 f. 40 Franz Falk, Die Mainzer Weihbischöfe (Chorbischöfe) des neunten Jahrhunderts: Historisches Jahrbuch 28, 1907, 570 – 577; Heinrich Otto, Die frühesten Mainzer Weihbischöfe: ebenda 58, 1938, 120 – 128.
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bus. Ihre abhängige Stellung deuteten sie dadurch an, daß sie bei der Beurkundung von Weihehandlungen die Einwilligung des Mainzer Erzbischofs erwähnten41, oder daß sie ihre Position mit den Worten vicem (oder vices) gerens beschrieben42. Christian, Bischof von Samland, ist, wenn ich nicht irre, der erste, der von seinem Verhältnis zum Mainzer Erzbischof aussagt cuius in spiritualibus vices gerimus43. Damit hat er die Vertretung des Mainzer Erzbischofs, die er innehat, präzisiert: Er vertritt ihn (nur) in geistlichen Angelegenheiten. Aber was versteht er unter geistlichen Angelegenheiten? Sein Verständnis ergibt sich aus seinem Handeln. Was er tut, ist eindeutig dem Ordo zuzuweisen: Altäre konsekrieren und Friedhöfe weihen; er übt also die Pontifikalien aus. Das sind keine jurisdiktionellen Akte. Man muß jedoch bedenken, daß sich in der urkundlichen Überlieferung Handlungen, die eine konstitutive Weihe beinhalten, viel eher niederschlagen als Maßnahmen der Hirtengewalt. Es ist deshalb aus dem Schweigen der Überlieferung allein kein peremtorisches Argument gegen den Besitz von hoheitlicher Hirtengewalt in der Hand des Bischofs Christian zu gewinnen. Daß die Terminologie für die aushelfenden Bischöfe noch im Fluß war, ergibt sich aus einer Urkunde, die wenige Monate früher ausgestellt ist. Am 28. Mai 1290 bezeichnete sich Peter, Bischof von Suda, als Vicarius generalis in pontificalibus44. Damit hatte er seine Stellung korrekt beschrieben: Er vertrat den Erzbischof in den (allen) Pontifikalfunktionen. Doch blieb er nicht bei dieser Selbstbezeichnung. Ein knappes Jahr später, am 8. April 1291, hieß er Vicarius in spiritualibus45. Im ersten Falle weihte er einen Abt, im zweiten konsekrierte er Altäre und gewährte die dabei üblichen Ablässe. Beide Male wurde er also in Funktionen tätig, die als zum ordo episcopalis gehörig angesehen wurden. Nun wird allerdings bei der Verleihung von Ablässen46 hoheitliche Regierungsgewalt, die Jurisdiktion, nicht der Ordo, ausgeübt47. Die ganz überwiegende Zahl der Autoren sah in der Gewährung von Ablässen eine Funktion der Jurisdiktionsgewalt48. Wenn die Ablaßerteilung ein Ausfluß der hoheitlichen Hirtengewalt war, dann erhebt sich die Frage, wie die Weihbischöfe, die keine Jurisdiktion über die Gläubigen, denen sie Ablässe erteilten, hatten, dazu 41
Z. B.: Böhmer/Will, Regesten II, 357 Nr. 69 (1262). Z. B.: Böhmer/Will, Regesten II, 420 Nr. 591 (1283). Vgl. Otto, Die frühesten Mainzer Weihbischöfe 124. 43 Johann Friedrich Boehmer/Friedrich Lau (Hrsg.), Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1901/05, I, 282 Nr. 582 (1290). 44 Vogt, Regesten I, 1 S. 22 Nr. 136. 45 Vogt, Regesten I, 1 S. 34 Nr. 210. 46 Nikolaus Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 2 Bde., Paderborn 1922/23; derselbe, Geschichte des Ablasses am Ausgange des Mittelalters, Paderborn 1923; Bernhard Poschmann, Der Ablaß im Licht der Bußgeschichte, Bonn 1948; derselbe, Buße und Letzte Ölung, Freiburg 1951, 112 – 123; Herbert Vorgrimler, Buße und Krankensalbung, Freiburg 1978, 203 – 214. 47 Franz Beringer, Die Ablässe, ihr Wesen und Gebrauch, 11. Aufl. Paderborn 1895, 37. 48 Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter II, 218. 42
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kamen, Ablässe zu gewähren. Die Antwort lautet: Die kirchliche Gesetzgebung jener Zeit verknüpfte die Befugnis zur Ablaßerteilung mit dem Bischofsamt als solchem, ohne entscheidendes Gewicht auf den Besitz von Jurisdiktion über die Empfänger der Ablässe zu legen. Die Gewährung von Ablässen galt als Vorrecht der Bischöfe schlechthin49. So sah das Vierte Laterankonzil von 1215 die Bewilligung von Ablässen als einen Ausfluß der bischöflichen Würde an50. Es gestattete den Bischöfen, bei der Konsekration von Kirchen einen Ablaß von einem Jahr und für den Jahrtag der Kirchweihe einen Ablaß von 40 Tagen zu verleihen. Bei anderen Gelegenheiten sollten sich die Bischöfe ebenfalls mit einem Ablaß von 40 Tagen begnügen51. Dabei kam es nicht darauf an, ob die Bischöfe die Diözesanoberhirten jener Kirchen waren, die sie konsekrierten. Das Recht von Bischöfen, fremden Diözesanen Ablässe zu erteilen, stand fest, sofern nur der zuständige Bischof seine Einwilligung gab52. Papst Bonifaz VIII. bestätigte im Jahre 1298 die Vorschriften des Vierten Laterankonzils und erklärte darüber hinausgehende Ablässe für unwirksam53. Die teilkirchliche Gesetzgebung nahm die gesamtkirchliche auf. Die Mainzer Provinzialsynoden von 126154 und 131055 erneuerten die Bestimmungen des Vierten Laterankonzils. Bei der den Bischöfen zugesprochenen Befugnis, Ablässe zu verleihen, wurde zwischen Diözesanbischöfen und ,,Weihbischöfen“ nicht unterschieden. Ich vermute, daß man zu dieser Zeit die von uns als Weihbischöfe bezeichneten Träger des bischöflichen ordo, die also entweder von ihren Sitzen vertrieben waren (= aushelfende Bischöfe) oder von ihrer Diözese nicht Besitz ergreifen konnten oder von vornherein auf verlorengegangene Bischofssitze geweiht waren, als vollberechtigte, d. h. auch mit Jurisdiktion ausgestattete Bischöfe ansah, die lediglich tatsächlich verhindert waren, in der ihnen rechtmäßig übertragenen Diözese jurisdiktionelle Handlungen vorzunehmen. Man ging insbesondere wohl davon aus, daß die Bischöfe, die auf untergegangene Bistümer geweiht wurden, Jurisdiktion über den Sprengel, dessen Namen sie trugen, besaßen, daß sie dieselbe jedoch nicht ausüben könnten. Von daher mußte ihnen wie allen übrigen Diözesanbischöfen die Befugnis zuerkannt werden, Ablässe zu erteilen. Die Tatsächlichkeit solchen Verhaltens ist gesichert. Es ist keine Frage, daß die ,,Weihbischöfe“ laufend Ablässe, gewöhnlich von 40 Tagen, erteilten56. Manchmal verliehen sie bei der Weihe einer Kirche oder eines Altares sogar zwei 49
Poschmann, Der Ablaß im Licht der Bußgeschichte 88 – 92. Conciliorum Oecumenicorum Decreta, curantibus Josepho Alberigo/Josepho A. Dossetti/ Perikle-P. Joannou/Claudio Leonardi/Paulo Prodi, consultante Huberto Jedin, 3. Aufl. Bologna 1973, 262, 20 – 30. 51 Conciliorum Oecumenicorum Decreta 263, 40 – 264, 9; X 5, 38, 14. 52 X 5, 38, 4. 53 VI 5, 10, 3. 54 Mansi 23, 1103; Joannes Fridericus Schannat/Josephus Hartzheim, Concilia Germaniae III, Köln 1760, 613. 55 Mansi 25, 346; Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, Köln 1761, 220. 56 Z. B.: Vogt, Regesten I, 1 S. 250 Nr. 1422. 50
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Ablässe, den einen im eigenen Namen, den anderen im Namen des Diözesanbischofs. So gewährte beispielsweise am 10. Februar 1311 der (seines Amtes entsetzte) Bischof Berthold von Henneberg, der in der Erzdiözese Mainz tätig war, einen Ablaß von 80 Tagen und zwei Karenen57. Nicht alle Bischöfe hielten sich an die kirchlichen Vorschriften. Im Jahre 1340 verlieh der Weihbischof Heinrich von Apolda dem Kloster Paulinzelle mehrere Ablässe von 40 Tagen für schwere, einem Jahr und einer Karene für läßliche Sünden. Erzbischof Heinrich von Mainz bestätigte in bedingter Weise die Ablässe seines Weihbischofs und fügte noch einen Ablaß von 40 Tagen hinzu58. Es steht also fest, daß die Weihbischöfe Ablässe erteilten und daß diese Befugnis überwiegend als jurisdiktionell angesehen wurde. Dennoch ist dieser Zusammenhang nicht der Grund gewesen, die spiritualia von den pontificalia abzusetzen. Man hat nicht gemeint, daß die Vollmacht der Ablaßverleihung etwa außerhalb der Pontifikalien liege und deshalb die Spiritualien hätten angerufen werden müssen. Die Weihbischöfe bezeichnen sich unterschiedslos als vicarius in spiritualibus oder als vicarius in pontificalibus, wenn sie Ablässe gewähren. Daraus läßt sich erkennen, daß sie in der Ablaßerteilung nicht eine Handlung gesehen haben, die durch die pontificalia nicht gedeckt war und die in den spiritualia gewissermaßen hätte untergebracht werden müssen. In den Kommissionen der Weihbischöfe taucht die Befugnis, Ablässe zu gewähren, erst spät auf. Die erste mir bekannte Kommission eines Weihbischofs aus dem Jahre 1383 weiß noch nichts von diesem Recht, Ablässe zu erteilen59. Zum erstenmal finde ich die Vollmacht, Ablässe zu gewähren, erwähnt in der Kommission für den Mainzer Weihbischof Johann von Reifferscheid im Jahre 143560. Ich vermute, daß die Befugnis der Weihbischöfe, Ablässe zu verleihen, erst in dem Augenblick Aufnahme in die Kommission fand, als ihr Besitz den Zeitgenossen nicht mehr selbstverständlich erschien. Je mehr man begriff, daß die Jurisdiktion dieser Bischöfe über das Gebiet, dessen Namen sie trugen, lediglich fiktiv war, desto fragwürdiger mußte ihre Vollmacht werden, jurisdiktionelle Akte wie die Gewährung von Ablässen zu setzen. Um den Zweifel zu beheben bzw. die Lücke zu füllen, übertrugen ihnen die Erzbischöfe die Vollmacht. Aus den erwähnten Beobachtungen ergibt sich, daß bei der Selbstbezeichnung der in Frage kommenden Bischöfe die Spiritualia nicht als von den Pontificalia unterschieden, sondern als mit ihnen deckungsgleich angesehen wurden. Hinschius hat also richtig gesehen. Der Sprachgebrauch war freilich zu jener Zeit noch nicht konstant. Der Bischof Franz von Soliwi beispielsweise nennt sich 1292/93 schlicht 57 Arthur Wyß (Bearb.), Urkundenbuch der Deutschordens-Ballei Hessen II, Leipzig 1884, 135; Vogt, Regesten I, 1 S. 246 Nr. 1403. Vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter II, 66. 58 Ernst Anemüller (Hrsg.), Urkundenbuch des Klosters Paulinzelle II, Jena 1905, 205 f. Nr. 204; Otto, Regesten I, 2 S. 352 Nr. 4523. Vgl. Paulus, Geschichte des Ablasses im Mittelalter II, 68. 59 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 429. 60 StA Würzburg MIB 22 fol. 88 v.
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vices gerens, teilweise mit dem Zusatz per totam dyocesim61. Auch er ist nur in gottesdienstlichen Angelegenheiten tätig: Verlegung des Festes der Altarweihe und Gewährung von Ablässen. Der Bischof Inzelerius von Budua trat in den Jahren 1295 bis 1297 als vices gerens, aber auch als vicarius in pontificalibus auf62. Von dieser Tätigkeit ist uns die Verleihung von Ablässen überkommen. Von Heinrich, Bischof von Ermland, also einem aushelfenden Bischof, wird wiederum gesagt, daß er den Erzbischof in geistlichen Dingen vertritt (cuius vices in spiritualibus gerimus)63. In einer Urkunde verdeutlicht er seine Stellung mit den Worten: cuius vices in hiis, que ad officium spectant pontificale, humiliter gerimus64. Also werden von ihm selbst die Spiritualia als identisch mit den Pontificalia angesehen. Die Handlungen, die er setzt, fallen entweder in den Bereich der Weihegewalt, ergeben sich aus seiner Stellung als einer mit einem Siegel ausgestatteten kirchlichen Amtsperson oder sind auf die Ausstattung mit hoheitlicher Hirtengewalt für den Einzelfall zurückzuführen65. Dadurch, daß ein fremder Bischof gelegentlich im Auftrag des Diözesanbischofs die eine oder andere Jurisdiktionshandlung vornimmt, wird er nicht zum Generalvikar. Ein anderer aushelfender Bischof, Siegfried, Bischof von Chur, nennt sich vices Rev. Patris Dom. Gerhardi archiepiscopi Moguntini gerens in spiritualibus66. Er gewährte einen Ablaß. Der gewesene Bischof von Würzburg Berthold von Henneberg übte von 1308 bis 1311 seine Wirksamkeit unter der Bezeichnung gerens vices, gelegentlich mit dem Zusatz in spiritualibus, aus67. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Handlungen, welche das Bischofsamt zur Voraussetzung haben. Die bisherige Untersuchung der Stellen, in denen auswärtige Bischöfe, die in der Diözese Mainz Aushilfe leisteten, sich als vicarius in spiritualibus bezeichneten, endet sohin mit dem Ergebnis: Die Spiritualia sind in dieser Wendung identisch mit den Pontificalia. Die aushelfenden Bischöfe wurden in Weihefunktionen tätig; sie waren nicht, vielleicht von einzelnen Fällen, in denen sie einen speziellen Auftrag erhielten, abgesehen, Träger kirchlicher Jurisdiktion, die ihnen vom Mainzer Erzbischof übertragen worden wäre. Sie können daher nicht als Generalvikare, höch61
Vogt, Regesten I, 1 S. 45 Nr. 264; 58 Nr. 335. Vogt, Regesten I, 1 S. 73 Nr. 409; 77 Nr. 441; 79 Nr. 450; 81 Nr. 464; 86 Nr. 488. 63 Karl Herquet (Bearb.), Urkundenbuch der ehemals freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen, Halle 1875, 218 Nr. 503 (25. Februar 1300). 64 Vogt, Regesten I, 1 S. 90 Nr. 515. 65 Kraft Vollmacht des Erzbischofs Gerhard gestattet er dem Nonnenkloster Hilwartshausen, auch während des Interdikts bei geschlossenen Türen die Messe zu feiern (Vogt, Regesten I, 1 S. 90 Nr. 515). Er verlegt die Jahresfeier der Weihe der Marienkapelle im Jakobskloster zu Osterode (Vogt, Regesten I, 1 S. 106 Nr. 608). Im Namen und Auftrag Erzbischof Gerhards bestätigt er die dem Kloster Reinhardsbrunn gewährten Ablässe (Vogt, Regesten I, 1 S. 98 Nr. 554). 66 Gudenus, Codex diplomaticus II, 422 (1300). 67 Vogt, Regesten I, 1 S. 203 Nr. 1161; 205 Nr. 1172; 208 Nr. 1193; 209 Nr. 1202 und 1205; 210 Nr. 1212; 212 Nr. 1221; 245 Nr. 1399; 250 Nr. 1422. 62
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stens – mit vielen anderen Geistlichen, die als specialiter deputati auftraten – als deren Vorstufe angesprochen werden. III. Die vorübergehende Bestellung von Priestern zu Stellvertretern in Spiritualibus Doch damit ist die Problematik des Sprachgebrauchs von Spiritualia und Pontificalia noch nicht erschöpft. Denn die Vertretung des Erzbischofs in geistlichen Angelegenheiten wurde auch Nichtbischöfen übertragen, also Personen, bei denen von Pontifikalien keine Rede sein kann. Als Erzbischof Peter sich im Juli/August 1307 mit König Albrecht nach Böhmen begab, richteten Dekan und Kapitel von Mariengreden in Mainz ihre Bitte um Bestätigung der Propstwahl an den Erzbischof oder seinen Stellvertreter (eius vices in hac parte gerenti)68. Aus diesem Vorgang ergibt sich, daß der Erzbischof wahrscheinlich für die Zeit seiner (relativ kurzen) Abwesenheit von seinem Bistum einen Vertreter bestellt hatte, aber wohl nicht für den Gesamtbereich der anfallenden Verwaltungsgeschäfte, sondern lediglich für die Bestätigung von Wahlen (in hac parte). Der Name dieser Person war dem Kapitel anscheinend nicht bekannt. Daß es sich um einen konsekrierten Bischof handelt, ist unwahrscheinlich; es wäre ein Fall ohne Parallele. Am 14. Dezember 1311 war der Dekan Hermann des St. Peters-Stiftes in Mainz gerens vices in spiritualibus, d. h. Stellvertreter des Erzbischofs in geistlichen Angelegenheiten, und nahm als solcher die Investitur in die Propstei Einbeck vor69, also einen eindeutig jurisdiktionellen Akt, der die Bischofswürde nicht voraussetzte. Es war das zur Zeit der Abwesenheit des Oberhirten von seinem Bistum. Der Erzbischof befand sich in dieser Zeit in Böhmen70. Wenn ein Kleriker, der die Bischofskonsekration nicht empfangen hatte, den Erzbischof in spiritualibus vertrat, dann ergibt sich daraus schon begrifflich, daß diese Vertretung nicht Handlungen umfassen kann, zu deren Verrichtung der bischöfliche Ordo verlangt ist, und daß sich also Spiritualia und Pontificalia in diesem Falle nicht decken können. Die Spiritualia besagen hier die geistlichen Hoheitsrechte des Erzbischofs mit Ausnahme der den bischöflichen Ordo voraussetzenden Handlungen, also die potestas iurisdictionis. Der Fall des Dekans Hermann war nicht der einzige. Am 15. März 1312 begegnet Brunward, der Scholaster des St. Johannes-Stiftes in Mainz, als gerens vices in spiritualibus, also als Stellvertreter des Erzbischofs in geistlichen Dingen71. Auch diesmal handelt er für den in Böhmen weilenden Erzbischof, dessen Abwesenheit in der Urkunde ausdrücklich erwähnt wird. Er wurde ebenfalls eindeutig in einer Angelegenheit tätig, welche den Besitz hoheitlicher Hirtengewalt zur Vorausset68
Vogt, Regesten I, 1 S. 199 Nr. 1138. Vogt, Regesten I, 1 S. 258 Nr. 1464. 70 Vogt, Regesten I, 1 S. 257 Nr. 1458 und 1461; 258 Nr. 1466. 71 Wyß, Urkundenbuch der Deutschordensballei Hessen II, 145 Nr. 196; Vogt, Regesten I, 1 S. 259 f. Nr. 1475. 69
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zung hat: Es handelte sich um die Zustimmung zu einem Stellentausch und um die Beauftragung zur Einführung der beiden Pfarrer in ihre neuen Benefizien, also um Akte der freiwilligen Verwaltung (iurisdictio voluntaria). Bezeichnenderweise gab der Scholaster die Einwilligung zum Stellenaustausch unter dem Vorbehalt der Bestätigung des Erzbischofs bei seinem ersten und nächsten Erscheinen in der Diözese. Bis zu der Regierung Erzbischof Peters übten neben dem Diözesanoberhirten hauptsächlich aushelfende Bischöfe aus fremden Bistümern die Pontifikalien aus. Unter ihm findet sich der erste für Thüringen eingesetzte ständige ,,echte“ Weihbischof. Johannes, Episcopus Lavacensis, trat dort seit 1313 als vices gerens des Mainzer Erzbischofs auf72. Er begnügte sich aber nicht mit dieser Bezeichnung, sondern nannte sich im Jahre 1313 archiepiscopi vicarius in spiritualibus73 und im Jahre 1315 archiepiscopi Maguntini vicarius per Thuringiam, Hassiam et Saxoniam74, in den Jahren 1315 und 1316 sogar vicarius generalis75. Der Weihbischof wandte also eine bunte Palette von Selbstbezeichnungen an. Die von Krusch durch Zusammenziehung zweier Benennungen behauptete Titulatur Vicarius in spiritualibus per Thuringiam Hassiam et Saxoniam76 führte er jedoch nicht. Ich vermag kein Anzeichen zu entdecken, daß Johannes etwas anderes als ein den bischöflichen Ordo ausübender Gehilfe des Erzbischofs gewesen sei. Fast alle Handlungen, die er unter den verschiedenen Bezeichnungen setzte, lassen sich bei weiter Auslegung, die aber für das beginnende 14. Jahrhundert sachgemäß ist, unter die Ausübung des bischöflichen Ordo subsumieren; für die Ablässe sei auf die oben gemachten Bemerkungen verwiesen. Die Erlaubnis, eine Kapelle abzutragen77, ist freilich ein jurisdiktioneller Akt. Aber zum einen steht er in engem Zusammenhang mit der allgemein auf den Gottesdienst und die Gottesdienststätten gerichteten Tätigkeit des Weihbischofs, und zum anderen kann er dafür ein Spezialmandat des Erzbischofs besessen haben, falls ein solches in der damaligen Zeit als erforderlich angesehen wurde. Die Spiritualia sind also auch in diesem Falle identisch mit den Pontificalia. Dasselbe gilt für Bischof Siegfried von Chur, der sich am 26. Dezember 1316 erneut als gerens vices in spiritualibus bezeichnet78; er war lediglich in Weihefunktionen tätig. In früheren Fällen beschrieb er sein Wirken mit den Worten 72
Vogt, Regesten I, 1 S. 274 Nr. 1547; 279 Nr. 1580; 280 Nr. 1585; 283 f. Nr. 1598. Herquet, Urkundenbuch Mühlhausen 299 f. Nr. 655; Vogt, Regesten I, 1 S. 286 Nr. 1611. 74 Herquet, Urkundenbuch Mühlhausen 316 f. Nr. 691 (1315); Vogt, Regesten I, 1 S. 334 Nr. 1799. 75 Manfred Hamann (Bearb.), Urkundenbuch des Stifts Fredelsloh (Göttingen – Grubenhagener Urkundenbuch, 1. Abteilung), Hildesheim 1983, 81 Nr. 107; Hubert Höing, Urkundenbuch des Klosters Weende (in Bearbeitung) Nr. 77 (?); Vogt, Regesten I, 1 S. 337 Nr. 1813; 338 Nr. 1816 und 1817; 351 Nr. 1866. 76 Krusch, Studie 130. 77 Herquet, Urkundenbuch Mühlhausen 318 f. Nr. 691. 78 Vogt, Regesten I, 1 S. 352 f. Nr. 1875. 73
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gerendo vices79. Er war ebensowenig Generalvikar wie die übrigen aushelfenden Suffraganbischöfe. Anders liegt die Sache, wenn derselbe Titel zum wiederholten Male von Klerikern geführt wird, die nicht die Bischofskonsekration empfangen haben. Am 18. März 1315 begegnen zwei Vicarii generales in spiritualibus et temporalibus für Thüringen, Sachsen und Hessen. Es handelt sich um den Dekan des Stefansstiftes in Mainz, Hildebrand, und den erzbischöflichen Protonotar Magister Bertold80. Zunächst einmal ist der Nachdruck darauf zu legen, daß die beiden Geistlichen Vicarii generales heißen. Sie sind allgemeine Stellvertreter des Erzbischofs, d. h. sie sind für das gesamte Gebiet der Verwaltung bestellt. Sodann ist die Fülle ihrer Befugnisse aufschlußreich. Sie vertreten ihren Herrn in seiner doppelten Funktion als Landesfürst und als Diözesanoberhirt. Sie vertrauen zwei dem Erzbischof resignierte Burgen dem Provisor Hugo und dem Schultheißen Rudolf zur Verwaltung und zum Schutze an. Dieser Akt ist keine kirchlich-jurisdiktionelle Handlung, sondern fällt in den Bereich der landesfürstlichen Tätigkeit des Erzbischofs; sie wird durch das Wort temporalibus gedeckt. Aber sie waren eben nicht nur allgemeine Stellvertreter in weltlichen, sondern auch in geistlichen Dingen; dafür steht der Ausdruck spiritualibus. Für die Tätigkeit der beiden Kleriker als Inhaber geistlicher Jurisdiktion fehlen Zeugnisse. Immerhin muß ihre Selbstbezeichnung ernst genommen werden. Wenn Krusch meinte, der Titel sei verstellt, er komme vielmehr dem Weihbischof Johannes und dem Dekan Hertwich vom Erfurter Marienstift zu81, dann täuschte er sich. Für diese Umstellung gibt es keinen genügenden Grund – außer der oben als irrig zurückgewiesenen Meinung Kruschs, die Weihbischöfe seien gleichzeitig Generalvikare gewesen. Entscheidend für die Bestimmung des rechtlichen Wesens der beiden Vikare sind die Tatsachen, daß sich der Erzbischof zur Zeit ihres Auftretens in Speyer, also außerhalb seiner Diözese befand und daß ihre Vollmacht territorial auf die nördlichen und östlichen Teile der Erzdiözese Mainz beschränkt war. Die Abwesenheit des Erzbischofs läßt an zeitweilige Vertreter, die räumliche Eingrenzung an Vertreter auf einem Außenposten des Bistums denken; beides unterscheidet sie vom Generalvikar. Außerdem ist der (deutsche) Generalvikar eine Einzelperson; eine Zweiheit von Generalvikaren ist in den deutschen Diözesen unbekannt. Das Ergebnis dieser Überlegungen muß daher lauten: Die beiden Jurisdiktionsträger sind bischöfliche Kommissare, die für einen Teil des Diözesangebiets bestellt sind. Sie führen nahe an den Generalvikar heran, gehören aber noch in die Vorgeschichte des Mainzer Generalvikars.
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Vogt, Regesten I, 1 S. 344 Nr. 1840; 345 Nr. 1842. Vogt, Regesten I, 1 S. 321 Nr. 1751; Gudenus, Codex diplomaticus IV, 806; Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, 556 f. Nr. 997. 81 Krusch, Studie 130. 80
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IV. Der erste Generalvikar Nun wurden von manchen Autoren in der Vergangenheit und in der Gegenwart mehrere Kleriker, die in der eben behandelten Zeit lebten, als Generalvikare genannt. So sei der Mainzer Domkanoniker Emmerich von Rüdesheim, wie neuerdings wieder behauptet wird82 unter Rückgriff auf unklare Äußerungen des Gudenus83, der erste, von 1315 bis 1328 amtierende Mainzer Generalvikar gewesen. Der Beweis für diese Behauptung fehlt. Emmerich von Rüdesheim war Richter des Mainzer Stuhlgerichts84. Die Vorliebe, mit der Mainzer Erzbischöfe Verwaltungsgeschäfte ihren Richtern übertrugen, ist bekannt. So wurde auch Emmerich zusammen mit zwei anderen Domkanonikern in der kirchlichen Verwaltung tätig85. Sie bezeichnen sich selbst als Kommissare des Erwählten Mathias86. Das ist nicht die Weise, wie ein Generalvikar auftritt, einmal abgesehen davon, daß die Bezeichnung fehlt. Hollmann reiht Emmerich daher an anderer Stelle als einen Mainzer Domherrn, der in ,,offenen Diensten“ des Erzbischofs stand, ein87. Ebensowenig ist Johannes de Fontibus 1327 als Generalvikar greifbar88. Er erscheint mit anderen Beauftragten als Kommissar des Erzbischofs für jeweils eine bestimmte Angelegenheit, aber nicht als ständiger Einzelvertreter. Johannes de Fontibus ist einer der drei Domkanoniker, denen der Erzbischof verschiedene Aufgaben der Verwaltung übertrug. So vertraute ihnen der Erwählte Mathias die Aufsicht über die Kirchenfabriken der Diözese Mainz und über das kirchliche Sammelwesen an89. Johannes de Fontibus, Heinrich von Rodenstein und Emmerich von Rüdesheim wurden sodann im erzbischöflichen Auftrag bei der Verlegung eines Kartäuserklosters tätig90. Weiter beobachtet man Johannes mit Emmerich von Rüdesheim und Dietrich von Katzenelnbogen, wie sie für die Antoniter eintreten91. Im Auftrag seines Erzbischofs weilte Johannes am 21. Januar 1326 an dem Hofe des Papstes Johannes XXII. in Avignon92. Als Propst von Bingen wurde er mit zwei anderen Dignitären als Untersuchungsrichter in einem Rechtsstreit tätig, den der Erzbischof entschied93. Erzbischof Mathias beauftragte den Dekan Johann und den 82 Michael Hollmann, Das Mainzer Domkapitel im späten Mittelalter (1306 – 1476), Mainz 1990, 95, 434, 506. Anders Werner, Der Dom von Mainz I, 199 Anm. 83 Gudenus, Codex diplomaticus IV, 42. Ich finde die Stelle II, 420. 84 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 434. 85 Vogt, Regesten I, 1 S. 461 Nr. 2337; 461 f. Nr. 2338; 467 Nr. 2364; 479 Nr. 2428; 494 f. Nr. 2512. Vgl. noch S. 532 Nr. 2691. 86 Vogt, Regesten I, 1 S. 479 Nr. 2428. 87 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 510. 88 So aber Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 367, 506. 89 Vogt, Regesten I, 1 S. 461 Nr. 2337. 90 Vogt, Regesten I, 1 S. 46 l f. Nr. 2338; 479 Nr. 2428; 494 f. Nr. 2512. 91 Vogt, Regesten I, 1 S. 467 Nr. 2364. 92 Vogt, Regesten I, 1 S. 530 f. Nr. 2683. 93 Vogt, Regesten I, 1 S. 541 Nr. 2737.
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Kanoniker Johannes de Fontibus, die Privilegien des Klosters Tiefenthal einzusehen und zu prüfen94. Außerdem war er von dem Administrator Baldewin beauftragter Richter des Mainzer Stuhles95. Johannes starb als Custos des Mainzer Doms96. Er stand in ,,offenen Diensten“ seines Erzbischofs97, aber sein Generalvikar war er nicht. Schließlich kann auch Johann von Friedberg nicht, wie Hollmann es tut98, der Titel des Generalvikars zugebilligt werden. Er war Kanoniker am Mainzer Dom99 und Propst von St. Moritz in Mainz und als solcher Archidiakon100. Schon diese Position macht es höchst unwahrscheinlich, daß er bestellter Generalvertreter des Erzbischofs gewesen sein könnte, weil die beiden Ämter als inkompatibel101 zu gelten haben. Johann war weiter von dem Administrator Baldewin eingesetzter Richter des Mainzer Stuhls102. Erzbischof Heinrich machte ihn 1338 zum Kämmerer der Stadt Mainz103, doch hat er sein Amt nicht angetreten104. Außerdem war er Kanoniker in Frankfurt105. Am 3. April 1338 bekundete Erzbischof Heinrich, daß Johann von Friedberg, sein devotus et familiaris, in seinen Diensten stehe und er ihn nicht entbehren könne und daß er ihn darum vom Chordienst und von der Anwesenheit im Frankfurter Stift befreie106. Diese Bemerkung rückt Johann in die Nähe des Erzbischofs, aber um ihn als Generalvikar seines Herrn zu bezeichnen, reicht sie nicht hin. Doch im vierten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts tritt etwas Neues auf. In Reinhard von Westerburg begegnet im Jahre 1331 ein Mainzer Kanoniker, der sich als Erzbischof Heinrichs Generalvikar (vicarius rev. in Christo patris et domini domini Henrici sacre Mog. sedis archiepiscopi in spiritualibus et temporalibus) bezeich-
94 Franz Wilhelm E. Roth, Die Geschichtsquellen des Niederrheingau’s II, Wiesbaden 1880, 63 f. Nr. 79 (1327). Vgl. ebenda 80 f. Nr. 101 und 101 f. Nr. 129. 95 Otto, Regesten I, 2 S. 155 Nr. 3560; 240 f. Nr. 3940; Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 367. 96 Otto, Regesten I, 2 S. 106 Nr. 3351. 97 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 512. 98 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 368, 506. 99 Nachweisbar von 1294 bis 1343. Vgl. Vogt, Regesten I, l S. 532 Nr. 2691; Otto, Regesten I, 2 S. 166 Nr. 3601; 228 Nr. 3876. 100 Vogt, Regesten I, 1 S. 544 Nr. 2755; Otto, Regesten I, 2 S. 46 Nr. 3096. 101 Zu diesem Begriff vgl. Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland III, Berlin 1883, 243 – 263. 102 Otto, Regesten I, 2 S. 240 f. Nr. 3940; Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 368. 103 Otto, Regesten I, 2 S. 273 f. Nr. 4113. 104 Otto, Regesten I, 2 S. 274 Nr. 4113; Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 368. 105 Otto, Regesten I, 2 S. 283 Nr. 4150. 106 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Mainzer Urk. 5241: in nostris existat serviciis ipsoque indigeamus plurimum in eisdem. Vgl. Otto, Regesten I, 2 S. 283 Nr. 4150.
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net107 und auf den Hollmann als sicheren Träger dieses Namens verweist108. Wenige Tage später spricht der Erzbischof Heinrich von Köln, also ein naher Verwandter des Mainzer Erzbischofs, von demselben Reinhard von Westerburg als dem Kommissar des Mainzer Erzbischofs109, wobei jedoch ersichtlich ist, daß der Kölner Oberhirt in ihm den Stellvertreter des Erzbischofs Heinrich in Mainz (vel alio vices eiusdem domini archiepiscopi tunc gerente) sah. Reinhard von Westerburg gehört in die unmittelbare Umgebung des Mainzer Erzbischofs Heinrich schon in dessen Kölner Tagen. Er war nämlich vor (dem späteren Mainzer Erzbischof) Heinrich Propst von Bonn gewesen110. Als eifriger und erfolgreicher Pfründenjäger besaß er Benefizien in Mainz, Köln, Trier, Utrecht und Bonn und war Propst in Mockstadt. Er befand sich von Anfang an in der Umgebung des ernannten Erzbischofs Heinrich von Mainz111. Als dieser am 16. Mai 1329 in seiner Bischofsstadt weilte112, war Reinhard in seiner Nähe113. Bei der Bestätigung der Privilegien für die Stadt Mainz, die Erzbischof Heinrich am 4. April 1331 in Bonn vornahm, war der einzige nicht mit ihm verwandte Mitsiegler der Kölner Domkanoniker Reinhard von Westerburg114. Ich halte es für erwiesen, daß Reinhard von Westerburg Generalvikar im Vollsinn des Wortes war, der erste, der mit Sicherheit als solcher bezeichnet werden kann. Die Urkunde vom 28. August 1331115 lässt daran keinen Zweifel. Reinhard war damals Kanoniker des Mainzer Domstifts116. Die erwähnte Urkunde enthält einen Jurisdiktionsakt, den Reinhard in Vertretung des Erzbischofs Heinrich von Mainz als Metropoliten setzt. Der Sachverhalt war der folgende. Ulrich von Burgau, Rektor der Pfarrkirche in Maiselstein/Diözese Augsburg, behauptete, seiner Kirche entsetzt worden zu sein. Erzbischof Mathias setzte ihn kraft seiner Metropolitangewalt wieder in die Kirche ein und verlieh sie ihm iure devoluto ad cautelam. Reinhard von Westerburg erklärte die Restitution und Kollation in der Autorität des 107
Otto, Regesten I, 2 S. 240 Nr. 3937. Die Originalurkunde liegt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und trägt jetzt die Signatur Ottobeuren Urk. 37/1. 108 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 95, 472, 506. 109 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 732; Otto, Regesten I, 2 S. 240 Nr. 3939. 110 Otto, Regesten I, 2 S. 198 f. Nr. 3732. 111 Otto, Regesten I, 2 S. 220 Nr. 3847; 220 f. Nr. 3848; 221 Nr. 3849 – 3852; 222 Nr. 3855; 223 Nr. 3858; 225 Nr. 3864; 225 f. Nr. 3870; 236 Nr. 3915. 112 Otto, Regesten I, 2 S. 222 Nr. 3853 – 3854. Vgl. Heinrich Schrohe, Mainz in seinen Beziehungen zu den deutschen Königen und den Erzbischöfen der Stadt bis zum Untergang der Stadtfreiheit (1462), Mainz 1915, 99. 113 Otto, Regesten I, 2 S. 222 Nr. 3855; 223 Nr. 3858; 225 Nr. 3864. 114 Otto, Regesten I, 2 S. 220 f. Nr. 3847–3851. Ebenso S. 221 Nr. 3852 (22. April 1331). 115 Das Original aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Ottobeuren Urk. 37/1) ist in gut leserlicher, regelmäßiger Minuskel, genauer in gotischer Kursive (vgl. etwa Heribert Sturm, Unsere Schrift, Einführung in die Entwicklung ihrer Stilformen, Neustadt a. d. Aisch 1961, 48 Abb. 48) geschrieben. 116 Zum erstenmal als solcher am 10. Dezember 1330 genannt (Otto, Regesten I, 2 S. 236 Nr. 3915). Vgl. Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 320.
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jetzigen Erzbischofs für gültig und bestätigte sie mit diesem Schreiben. Er gab nun den Äbten von Ottobeuren und Bregenz den Auftrag, daß sie (oder einer von ihnen) den Ulrich in seiner Kirche beschützen und ihm als dem wahren Rektor derselben den unversehrten Besitz seiner Einkünfte und Rechte verschaffen sowie die Pfarrangehörigen zu der gebührenden Ehrerbietung gegen den Pfarrer anhalten, während der unerlaubte Inhaber der Pfarrei zu entfernen sei. Widerspenstige seien kraft der Autorität des Erzbischofs unter Hintansetzung der Appellation zur Ruhe zu bringen. Das Mandat wurde mit dem Siegel der Richter des Mainzer Stuhles besiegelt, das der Generalvikar diesmal benutzte (quo utimur ista vice). Die Richter des Mainzer Stuhles bekannten, daß sie auf Bitten des Vikars Reinhard von Westerburg ihr Siegel dem Schreiben angehängt hätten. Die Urkunde läßt eine Reihe von Feststellungen zu. Reinhard ist der erste vicarius in spiritualibus et temporalibus generalis, der diesen Titel ohne territoriale Begrenzung führt, wie sie oben für die (nichtbischöflichen) beiden vicarii generales zu konstatieren war. Er ist also für das Gesamtgebiet des Bistums bestellt, wie es für den Generalvikar grundsätzlich vorgesehen und in den deutschen Diözesen herkömmlich ist. Reinhard ist als einzelner mit diesem Titel ausgezeichnet. Daraus ist zu schließen, daß es nur einen einzigen Träger des Amtes gibt, wie es in den deutschen Diözesen eingeführter Brauch war und ist. Reinhard wird in einer Angelegenheit tätig, die eindeutig der hoheitlichen Verwaltung zuzurechnen ist. Restitutionen und Kollationen sind Akte der freiwilligen Verwaltung (iurisdictio voluntaria). Er setzt sie freilich nicht im Bistum Mainz, sondern in einem zur Kirchenprovinz Mainz gehörigen Suffraganbistum. Doch ist dieses Ausgreifen kein Einwand gegen die Stellung Reinhards als Generalvikar. Denn der vicarius generalis eines Metropoliten vertrat diesen, mit gewissen Einschränkungen, auch bei der Ausübung der Metropolitangewalt117. Es ist eben für den Generalvikar charakteristisch, daß durch seine Ernennung ,,die iurisdictio ordinaria gleichsam verdoppelt erscheint“118. Die Urkunde von 1331 ist zwar die einzige, in der Reinhard von Westerburg als Generalvikar des Mainzer Oberhirten bezeichnet wird, aber sie steht dennoch nicht isoliert da. In den folgenden Jahren begegnet Reinhard wiederholt als der Vertrauensmann des Erzbischofs Heinrich119. Am 25. März 1340 war er dessen secretarius120. In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, daß am 4. Mai 1342 die Befreiung Reinhards von persönlicher Anwesenheit und vom Chordienst im Mainzer Dom erwähnt wird121. Vermutlich ließen die ihm übertragenen Geschäfte, vielleicht auch sein Alter die Wahrnehmung der Pflichten eines Domherrn nicht mehr zu. 117
VI 1, 16, 1, 1. Vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 217 f. Güttsches, Die Generalvikare der Erzbischöfe von Köln 23. 119 Otto, Regesten I, 2 S. 249 Nr. 3989; 252 Nr. 4014 –4015; 259 Nr. 4044; 267 Nr. 4078; 268 Nr. 4081; 308 Nr. 4288; 309 Nr. 4295; 348 Nr. 4503; 409 f. Nr. 4814; 423 Nr. 4888. 120 Otto, Regesten I, 2 S. 348 Nr. 4503. 121 Otto I, 2 S. 409 Nr. 4814. 118
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Einwände gegen die Stellung Reinhards als Generalvikar sind nicht unüberwindlich. Reinhard von Westerburg siegelte nicht mit dem eigenen, sondern einem fremden Siegel122. Entweder besaß er in seiner Eigenschaft als Generalvikar noch kein eigenes Siegel oder hielt es nicht für tunlich, es diesmal zu benutzen. Wenn er noch kein Amtssiegel als Generalvikar besaß, dann dürfte dies ein Hinweis darauf sein, daß sein Amt noch jung und seine Behörde nicht voll ausgebaut war. Falls letzteres zutrifft, könnte es darin seinen Grund haben, daß die in der Kirchenprovinz anerkannt große Autorität der siegelführenden Behörde, der Richter des Mainzer Stuhles, ins Spiel gebracht werden sollte. Im übrigen kennt Posse ein Siegel des Generalvikariats erst für den Anfang des 16. Jahrhunderts123. Dem Reinhard von Westerburg waren neben den Spiritualia die Temporalia übertragen, was jedenfalls nicht zur regelmäßigen Ausstattung des Generalvikars gehört. Denn unter den Temporalia sind hier die weltlichen Herrschaftsrechte des Erzbischofs, also seine landesherrliche Gewalt, zu verstehen. Doch gibt es für diese Verbindung einen stichhaltigen Grund. Sie dürfte erfolgt sein, um eine Konzentration der Macht in der Hand des Stellvertreters eines hart um sein Bistum ringenden Erzbischofs zu erreichen. Auch war wohl die Benennung ,,Generalvikar“ noch nicht verfestigt und die Namengebung noch im Fluß, wie sich aus der Bezeichnung Reinhards als Kommissar durch den Kölner Erzbischof ergibt und wie gleich noch weiter zu zeigen sein wird. Als Reinhard die Urkunde vom 28. August 1331 ausstellte, befand sich der Erzbischof Heinrich nicht in Mainz124. Seine Abwesenheit ist nicht verwunderlich. Der Kampf mit dem Administrator Baldewin, Erzbischof von Trier, um das Erzbistum ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; sein Anhang war schwach. So suchte er zumeist in der Kölner Erzdiözese Zuflucht. Im Juni 1332 söhnte sich die Stadt Mainz mit dem Administrator Baldewin aus; damit verlor Erzbischof Heinrich seinen letzten Rückhalt125. Unter diesen Umständen konnte sich die Tätigkeit seines Generalvikars nicht entfalten. Daß Erzbischof Heinrichs Gegner Baldewin126 keinen Generalvikar ernannte, ist leicht plausibel zu machen. Baldewin war nicht providierter, sondern lediglich postulierter Erzbischof von Mainz, dessen Postulation vom Papst verworfen worden
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Zur Bedeutung des Siegels vgl. Erich Kittel, Siegel, Braunschweig 1970. Otto Posse, Die Siegel der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz, Erzkanzler des Deutschen Reiches bis 1803, Dresden 1914, 17. Gudenus, Codex diplomaticus IV, 311 f. weist ein Siegel für 1452 nach. 124 Otto, Regesten I, 2 S. 240 Nr. 3938. 125 Otto, Regesten I, 2 S. 75 f. Nr. 3221 – 3222. Vgl. Heinrich Schrohe, Beiträge zur Geschichte des Erzbischofs Heinrich III. von Mainz, Bensheim 1902, 21. 126 Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier – Kurfürst des Reiches, 1285 – 1354, Festschrift aus Anlaß des 700. Geburtstages, hrsg. unter Mitwirkung von Johannes Mötsch von Franz-Josef Heyen, Mainz 1985; Jürgensmeier, Das Bistum Mainz 132 – 136. 123
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war127. Er trug den Titel eines Provisors und Defensors oder Administrators des Mainzer Stuhles in spiritualibus et temporalibus128. Ein Mann in dieser rechtlich unsicheren und ungefestigten Stellung konnte keinen Generalvikar ernennen. Außerdem hatte er in seinem Erzbistum Trier einen solchen nicht bestellt129.
3. Kapitel: Weihbischöfe und Priester als Vicarii I. Weihbischöfe als Vicarii In den folgenden Jahren begegnen erneut Weihbischöfe mit wechselnder Selbstbezeichnung. Dithmar, Bischof von Gabala, läuft unter der korrekten Benennung gerens vices in pontificalibus130). In beiden Fällen handelt es sich um Ablaßgewährungen. In der Zeit der Sedisvakanz (1321) führte er sich ein als gerentes vices in dyocesi Moguntina a capitulo nobis commissas sede vacante131. Der Weihbischof war auch damals im Ablaßwesen tätig, von dem schon oben gezeigt wurde, daß es als mit dem bischöflichen Ordo verknüpft angesehen wurde. Als er zwei Äbten die Erlaubnis zur Gewährung von Ablässen gab, gebrauchte er den Ausdruck gerentes vices plenarias132. Daß sich hier – nicht allzu weit vom Ende der Regierungszeit Erzbischof Peters – etwas Neues anbahnt, ist nicht anzunehmen. Nach dem Hinscheiden Dithmars wird nur bestätigt, daß er den vicariatus in pontificalibus innegehabt habe133. Hermann, Episcopus Belvilonensis, ist vorläufig der letzte in der Reihe der Weihbischöfe, der sich als per Saxoniam dyocesis sancte ecclesie Maguntine in spiritualibus vicarius bezeichnet134. Er war wiederum tätig durch Verleihung von Ablässen. Die unpersönliche Ausdrucksweise (sancte ecclesie Maguntine) mag darin ihren Grund haben, daß der Mainzer Bischofsstuhl immer noch zwischen Baldewin von Lützelburg und Heinrich von Virneburg strittig war und es darum tunlich erschien, die Vollmacht mit keinem von beiden sichtbar zu verknüpfen135. Erst 1337 kam Erzbischof Heinrich endlich in den unangefochtenen Besitz des ihm 127 Karl Heinz Debus, Balduin als Administrator von Mainz, Worms und Speyer, in: Balduin von Luxemburg 413 – 436. 128 Z. B.: Otto, Regesten I, 2 S. 46 Nr. 3096; 106 Nr. 3351; 228 Nr. 3876. 129 Ferdinand Pauly, Balduin von Luxemburg als Erzbischof von Trier, in: Balduin von Luxemburg 175 – 188. 130 Vogt, Regesten I, 1 S. 577 Nr. 2953/4 (1323 – 28). 131 Boehmer/Lau, Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt II, 129 Nr. 164. 132 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 426; Vogt, Regesten I, 1 S. 408 Nr. 2101. 133 Otto, Regesten I, 2 S. 157 Nr. 3567. 134 C. Hinüber, Die Kirche des Dorfes Gimte bei Münden: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1862, 257 – 261, hier 258; Otto, Regesten I, 2 S. 189 Nr. 3702 und 3703 (1335). 135 Vgl. Debus, Balduin als Administrator von Mainz, Worms und Speyer 421.
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vom Papst übertragenen Erzbistums. In jedem Falle war Hermann lediglich Weihbischof, nicht Generalvikar. Dafür spricht allein schon die Tatsache, daß er in mehreren Diözesen Weihefunktionen ausübte136. In der Diözese Mainz war er in deren östlich gelegenem Teil tätig137. Daß er diese territoriale Beschränkung in seinen Titel aufnahm, macht es gewiß, daß er Weihbischof, nicht Generalvikar war. Gelegentlich schmückte er sich bei einer Ablaßverleihung mit dem Titel ecclesie Moguntine in pontificalibus et spiritualibus vices gerens138. Aber das bedeutet keine Änderung seiner Stellung, sondern lediglich eine tautologische Zierde. Der eine Begriff (in pontificalibus) erläuterte den anderen (in spiritualibus). II. Priester als Vicarii Krusch sah hier eine Zäsur. Nach ihm hat Erzbischof Heinrich die Verbindung von Stellvertretung in pontjficalibus und in spiritualibus gelöst139. Zur Begründung verweist er auf die jetzt von Erzbischof Heinrich ergriffenen Maßnahmen. Nach Beilegung der Mainzer Provisionswirren bedurften die kirchlichen Verhältnisse in Thüringen dringend der Ordnung. Zu diesem Zweck ernannte Erzbischof Heinrich am 27. Oktober 1337 den Mainzer Kanoniker Lupold von Bebenburg und den Aschaffenburger Kanoniker Konrad von Spiegelberg zu seinen in spiritualibus vicarii et commissarii generales140. Es erhebt sich die Frage: Waren Lupold und Konrad Generalvikare im echten Sinne? Sie hatten die Aufgabe, unter dem Klerus des Gebietes, in das sie entsandt wurden, Frieden zu stiften, Untersuchungen anzustellen über kirchliche Strafvergehen und den kirchlichen Stand der Geistlichen und letzteren erforderlichenfalls in Ordnung zu bringen, Streitsachen, die vor das geistliche Gericht gehören, zu entscheiden, Kleriker und Laien, die Zensuren verfallen waren, zu absolvieren, Dispensationen zu erteilen, Ungehorsame zurechtzuweisen und früher aufgestellte Kommissare und Prokuratoren abzuberufen sowie andere einzusetzen, die Zensuren der Exkommunikation, der Suspension und des Interdikts zu verhängen und überhaupt alles anzuordnen, was zu dem Zweck, dem sie dienen sollten, erforderlich war. Sie erhielten für ihre Aufgabe volle und freie Gewalt (plenam et liberam potestatem); diese war also weder eingeschränkt noch gebunden. Mehrfach wurde der Charakter der Stellvertretung hervorgehoben. Sie 136
16. 137
Hans Jürgen Brandt/Karl Hengst, Die Weihbischöfe in Paderborn, Paderborn 1986, 13 –
Jacob Feldkamm, Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 21, 1900, 1 – 93, hier 42 – 44. 138 Wyß, Urkundenbuch der Deutschordensballei Hessen II, 461 Nr. 637; Otto, Regesten I, 2 S. 190 Nr. 3706. 139 Krusch, Studie 130 f. 140 Carl Beyer (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt, 2 Bde., Halle 1889/97, II, 145 Nr. 169; Otto, Regesten I, 2 S. 269 Nr. 4085. Zu Lupold und Konrad vgl. Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 332 f., 217 A. 346.
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empfingen die Vollmacht zur Lossprechung von Zensuren, wie sie dem Erzbischof selbst zustand (a quibus nos ipsos de iure possemus absolvere), und sie bekamen die Vollmacht zu dispensieren, wie sie der Erzbischof besaß (in casibus nobis a iure concessis). Sie konnten Amtsträger abberufen, die der Erzbischof eingesetzt hatte. Die Strafen, die sie verhängten, würde der Erzbischof nachachten lassen (faciemus auctore Domino inviolabiliter observare). Ganz allgemein galt das, was die beiden Kommissare taten, als ob es vom Erzbischof selbst getan wäre (si ibidem essemus personaliter constituti). Selbst Handlungen, die ein Spezialmandat erforderten, hieß der Erzbischof schon im vorhinein gut (promittentes nos ratum et gratum habituri, quidquid … actum fuerit sive gestum). Sie waren mit dem bannus episcopalis ausgestattet. Aus dieser Bestallung ergibt sich deutlich das rechtliche Wesen der beiden Kanoniker Lupold von Bebenburg und Konrad von Spiegelberg. Sie waren Stellvertreter des Erzbischofs. Deswegen trugen sie zu Recht den Namen Vicarii. Sie handelten mit Wirkung für und gegen ihn. Darin besteht ja das Wesen der Stellvertretung: Der Vertreter erklärt seinen Willen, aber die Willenserklärung gilt als jene des Vertretenen. Ihr Auftrag bezog sich auf geistliche Dinge, auf die Spiritualia, nicht auf die Temporalia. Sie wurden vom Erzbischof Heinrich in seiner Eigenschaft als Diözesanoberhirt, nicht als Landesfürst entsandt. Sie waren mit geistlicher Hoheitsgewalt, mit Jurisdiktion ausgestattet. Den bischöflichen Ordo besaßen sie nicht. Sie wurden tätig während der Anwesenheit des Erzbischofs in seinem Bistum, nicht bei seiner Abwesenheit. Dennoch waren sie keine Generalvikare im technischen Sinne. Dagegen spricht zunächst ihre Zweizahl. In den deutschen Verhältnissen gab es immer nur einen Generalvikar in einem Bistum. Ihre Vollmachten waren räumlich beschränkt; sie bezogen sich allein auf Hessen und Thüringen (in predictis Hassie et Thuringie partibus). Der echte Generalvikar wurde für das Gesamtgebiet der Diözese bestellt. Die beiden Kanoniker wurden tätig auf einem Außenposten des Erzbistums Mainz. Der Generalvikar übte sein Amt in der Bischofsstadt aus. Sie waren allgemeine Stellvertreter des Erzbischofs in geistlichen Dingen, aber sie waren es nicht für ständig; ihr Dienst war auf einen besonderen Zweck beschränkt, und deswegen hießen sie auch Kommissare. Die beiden Kanoniker bezeichneten sich selbst stets als commissarii rev. in Christo patris et Domini nostri domini Heinrici sancte Moguntine sedis archiepiscopi in spiritualibus per Thuringiam et Hassiam specialiter deputati. Sie vermieden es, sich als vicarii oder gar vicarii generales des Erzbischofs zu bezeichnen. Sie hatten nicht ein Amt inne, das nach ihrem Ausfall oder ihrer Abberufung neu besetzt werden mußte, sondern handelten kraft eines Mandats. Dieses Mandat war ihnen übertragen durch Delegation. So muß festgestellt werden: Lupold und Konrad waren keine Generalvikare, sondern Kommissare. Doch ist nicht zu übersehen, daß ihre Beauftragung formal und inhaltlich der Kommission des Generalvikars angenähert ist. So manche Wendung in der Urkunde ihrer Ernennung wird sich in der (ersten erhaltenen) Bestallung des Mainzer Generalvikars wiederfinden. Ebenso gewiß ist, daß die Befugnisse, die ihnen übertra-
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gen wurden, sich zum großen Teil mit jenen decken, die in der (ersten überkommenen) Kommission eines Mainzer Generalvikars auftauchen.
4. Kapitel: Vikare unter den Erzbischöfen Heinrich und Gerlach I. Reinhard von Westerburg als Generalvikar Nach Kruschs Theorie dürfte von nun an kein Weihbischof mehr als Vicarius in spiritualibus auftreten, weil der Titel jetzt als Amtsbezeichnung des mit Jurisdiktion ausgestatteten Generalvikars belegt war. Doch das ist nicht der Fall. Am 18. September 1339 nannte sich der Mainzer Weihbischof Albert archiepiscopi in pontifalibus et spiritualibus vices gerens141. Er verband also in seiner Selbstbezeichnung die Pontificalia und die Spiritualia, wie es andere Weihbischöfe vor ihm getan hatten. Es fehlt jedes Anzeichen, daß Albert etwas anderes als Weihbischof gewesen sein könnte, daß also Pontificalia und Spiritualia nicht tautologisch zu verstehen seien. Die Handlung, bei der er sie anführte, war wiederum die Gewährung eines Ablasses, also ein Akt, der als zu der damaligen Ausrüstung des Titularbischofs gehörig angesehen wurde. Außerdem scheint er diese Umschreibung seiner Stellung bald abgelegt zu haben. Denn nur wenige Tage später, am 29. September 1339, ebenfalls bei einer Ablaßverleihung war er wieder schlicht gerens vices in pontificalibus142. Aus diesem sorglosen Umgang mit den hier in Rede stehenden Begriffen dürfte sich noch einmal ergeben, daß man in die Irre geht, wenn man die Pontificalia dem bischöflichen Ordo, die Spiritualia der übertragenen Jurisdiktion zuweisen wollte. Der Weihbischof Albert war nur für die Ausübung der Weihehandlungen, nicht für jurisdiktionelle Akte bestellt. Daneben zog Erzbischof Heinrich Spezialkommissare heran. So nahm beispielweise die Inkorporierung einer Pfarrkirche ein commissarius ab Heinrico archiepiscopo … specialiter deputatus vor143. Es ist unsicher, ob der Erzbischof Heinrich, nachdem er in den unangefochtenen Besitz des Mainzer Erzbistums gekommen war, einen Generalvikar ernannt hat. Seine umfangreiche Aussöhnung mit dem Mainzer Domkapitel vom 2. Juli 1337144 gedenkt zwar der Archidiakone, des geistlichen Gerichts und des Pönitentiars, aber nicht des Generalvikars. Falls Erzbischof Heinrich nach 1337 einen Generalvikar gehabt hat, dann kommt dafür wohl nur Reinhard von Westerburg145 in Frage. Aber ob und für welche Zeit er es gewesen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. 141 Wyß, Urkundenbuch der Deutschordensballei Hessen II, 486 Nr. 682; Otto, Regesten I, 2 S. 333 Nr. 4416. 142 Otto, Regesten I, 2 S. 334 Nr. 4420. 143 Otto, Regesten I, 2 S. 634 Nr. 5956 (1352). 144 Otto, Regesten I, 2 S. 259 f. Nr. 4045. 145 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 472.
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Nicht lange konnte sich Heinrich des ungestörten Besitzes des Mainzer Bischofsstuhles erfreuen. Am 7. April 1346 verkündete Papst Clemens VI. seine Absetzung und Inhabilitierung146. An seiner Stelle providierte er den Gerlach von Nassau mit dem Erzbistum147. Heinrich dachte nicht daran, zu weichen, und so tobten wieder die Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Erzbischöfen. In Kuno von Falkenstein148 hatte Heinrich einen ebenso zuverlässigen wie tatkräftigen Helfer und Vorkämpfer an seiner Seite. Aber als Generalvikar bezeichnete er sich nicht, sondern als (für die Temporalien zuständiger) ,,Stiftsvormund“149. II. Weihbischof und Kommissare Unter dem Kontrahenten und Nachfolger Erzbischof Heinrichs, dem Erzbischof Gerlach von Nassau (1346 – 1371), war die Lage, was die Einsetzung eines Generalvikars angeht, wenig verändert; es ist uns eine solche für die ersten zwei Jahrzehnte seiner Regierung nicht bekannt. Zunächst rang Gerlach noch um seinen Posten und hatte die Verwaltung der Spiritualia in seinem Bistum nicht in vollem Umfang erlangt. Wohl amtierten die Generalrichter in Thüringen in seinem Namen150. Auch die Mainzer Stuhlrichter waren in Funktion151. Aber von einem Generalvikar Gerlachs ist zu Lebzeiten seines Rivalen auf dem Mainzer Bischofsstuhl und lange darüber hinaus nicht die Rede. Erzbischof Heinrich III. starb am 21. Dezember 1353. Erst danach war Gerlach Herr des Bistums. In einer Urkunde vom 25. Februar 1354 bezeichnete er sich als in spiritualibus ordinarius et pastor152. Die Spiritualia betreffen in diesem Zusammenhang die Iurisdictio, denn es handelt sich um die Bestätigung der Stiftung einer Kapelle. Da der Stifter der Kaiser Karl IV. war, ist aus der Tatsache des persönlichen Handelns des Erzbischofs ein Schluß auf das etwaige Fehlen eines Generalvikars unzulässig. Der Erlaß Gerlachs an die geistlichen Amtsträger seines Bistums vom 22. März 1354 erwähnte einen
146 Otto, Regesten I, 2 S. 529 f. Nr. 5433. Vgl. Schrohe, Mainz in seinen Beziehungen zu den deutschen Königen und zu den Erzbischöfen der Stadt 114; Jürgensmeier, Das Bistum Mainz 138. 147 Otto, Regesten I, 2 S. 532 Nr. 5445. 148 Franz Ferdinand, Cuno von Falkenstein als Erzbischof von Trier, Koadjutor und Administrator von Köln bis zur Beendigung seiner Streitigkeiten mit der Stadt Trier 1377, Phil. Diss. Münster, Paderborn 1885; Fritz Vigener, Kuno von Falkenstein und Erzbischof Gerlach von Mainz in den Jahren 1354 bis 1358: Mitteilungen des oberhessischen Geschichtsvereins N. F. 14, 1906, 1 – 43; Georg Parisius, Erzbischof Kuno II. von Trier in seinen späteren Jahren, 1376 – 1388, Phil. Diss. Halle-Wittenberg, Halle a. S. 1910. 149 Otto, Regesten I, 2 S. 571 Nr. 5639; 572 Nr. 5645, 5647, 5648 u. a. Vgl. Schrohe, Mainz in seinen Beziehungen zu den deutschen Königen und den Erzbischöfen der Stadt 110 – 120. 150 Otto, Regesten I, 2 S. 701 Nr. 6365 (1350); Vigener, Regesten II, 1 S. 101 Nr. 401. 151 Otto, Regesten I, 2 S. 704 Nr. 6382; Vigener, Regesten II, 1 S. 559 f. Nr. 2474. 152 Würdtwein, Monasticon Palatinum II, 166 – 169, hier 167; Vigener, Regesten II, 1 S. 21 Nr. 77.
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Generalvikar nicht153. In den Synodalstatuten Erzbischof Gerlachs von 1354 war wohl von Kommissaren, aber nicht vom Generalvikar die Rede. Wo dieser vorkommt154, ist es eine spätere Eintragung. Ebenso heißt es in den Synodalstatuten von 1355 und 1356 stereotyp nobis et commissariis nostris, niemals nobis et vicario nostro in spiritualibus155. Die Existenz von Generalvikaren in deutschen Diözesen war Gerlach selbstverständlich bekannt156. Zögerte er, einen solchen für sein Bistum zu bestellen, oder erhoben sich Widerstände dagegen? Wir wissen es nicht. Gerlach scheint einen Generalvikar zunächst nicht eingesetzt zu haben, falls nicht, wie weiter unten zu erklären sein wird, Nikolaus von Grünberg sein Generalvikar war. Dafür war er außerordentlich großzügig in der Erteilung ständiger Kommissionen für die östlichen Teile seines Sprengels157. Der Römischen Kurie war die Figur des bischöflichen Generalvikars selbstverständlich vertraut, und sie setzte seine Existenz in den Bistümern voraus. Am 2. Dezember 1349 schrieb der Kardinalpriester Stephan vom Titel der hl. Johannes und Paulus an den Erzbischof Gerlach oder dessen Vicarius in spiritualibus158. Jeder von beiden hätte also der Weisung nachkommen können. Der Erzbischof nahm indes den Auftrag persönlich wahr159, was ein Hinweis darauf sein könnte, daß er zu diesem Zeitpunkt keinen Generalvikar besaß. Am 27. September 1358 schrieb der Kardinalbischof von Sabina, Egidius, an den Erzbischof von Mainz oder dessen Vicarius in spiritualibus160. Papst Urban V. wendete sich am 6. Mai 1363 wieder an den Mainzer Erzbischof und dessen Suffragane sowie an deren Vicarii in spiritualibus und Offiziale161. Ein Beweis für die Existenz von Generalvikaren in allen Bistümern ist diese wiederholte Anrede natürlich nicht. Allerdings könnte sie die Diözesanbischöfe darauf gestoßen haben, was der Apostolische Stuhl von ihnen erwartete, nämlich die Ernennung von Vertretern für die Verwaltung. Denn daß die Römische Kurie unter den Vicarii in spiritualibus den beamteten Stellvertreter des Diözesanbischofs in jurisdiktionellen Angelegenheiten und nicht den Weihbischof verstand, ist sicher. Gerlachs Weihbischof, der schon oben erwähnte Albert von Beichlingen, bezeichnete sich meist als Vicarius in pontificalibus162. Am 6. Mai 1355 nannte er sich 153
Vigener, Regesten II, 1 S. 26 f. Nr. 100. Vigener, Regesten II, 1 S. 69 Nr. 264. 155 Fritz Vigener, Synodalstatuten des Erzbischofs Gerlach von Mainz von 1355 und 1356, in: Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte II, Darmstadt 1905, 284 – 332. 156 Vigener, Regesten II, 1 S. 611 Nr. 2724. 157 Z. B.: Vigener, Regesten II, 1 S. 65 Nr. 260 – 262; 100 Nr. 397; 101 Nr. 398, 402, 403; 101 f. Nr. 404. 158 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 280; Otto, Regesten I, 2 S. 695 Nr. 6320. 159 Otto, Regesten I, 2 S. 695 Nr. 6322. 160 Vigener, Regesten II, 1 S. 240 Nr. 1076. 161 Vigener, Regesten II, 1 S. 368 Nr. 1633. 162 Z. B.: Otto, Regesten I, 2 S. 696 Nr. 6328; 697 Nr. 6331. 154
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jedoch wie 1339 Vicarius in pontificalibus et spiritualibus163. Er beauftragte den Propst des Nonnenklosters Altenhausen, eine verödete Kirche zu verlegen. Hier lag zweifellos ein jurisdiktioneller Akt vor, aber der Weihbischof setzte ihn nicht aufgrund seiner allgemeinen Vollmacht zur Vornahme von Weihehandlungen, sondern aufgrund einer besonderen, mündlichen Ermächtigung des Erzbischofs. Im selben Jahre bestätigte er einen Vertrag164. Es hat den Anschein, daß er hierbei nicht in dienstlicher Funktion tätig wurde, sondern lediglich wegen seiner hohen Würde gebeten wurde. Am 22. September 1356 trug er wiederum den Titel Vicarius in pontificalibus et spiritualibus165. Der Anlaß war die Verleihung eines Ablasses. Am 8. Juli 1357 nannte er sich Vicarius in pontificalibus166. Es geschah dies bei einer Altarweihe. So kann das abschließende Urteil nur lauten: Die Tätigkeit des Weihbischofs blieb auf Handlungen beschränkt, die sich aus dem bischöflichen Ordo ergeben. Albert war nicht allgemeiner Vertreter des Erzbischofs in der geistlichen Verwaltung. Es erhebt sich die Frage, was Albert und seine Vorgänger bewogen haben mag, sich Vicarius in spiritualibus oder Vicarius in pontificalibus et in spiritualibus zu nennen. Man kann versuchen, den wechselnden Sprachgebrauch mit der verbreiteten Unsicherheit der Terminologie zu erklären. Die Zeit des hohen Mittelalters besaß zwar die Fähigkeit, Pontificalia und Spiritualia zu unterscheiden. Doch war die Begrifflichkeit nicht festliegend. Die Spiritualia konnten die geistlichen Befugnisse und Handlungen der kirchlichen Amtsträger mitsamt den Pontificalia oder ohne diese bedeuten. Im ersten Falle waren die Pontificalia ein Ausschnitt der Spiritualia, im zweiten Falle waren die Spiritualia jene Rechte und Akte, die den bischöflichen Ordo nicht voraussetzten, während die Pontificalia mit der Ausübung der Bischofskonsekration zusammenfielen. Doch scheint mir eines sicher: Auf die Dauer konnten nicht zwei Beamte des Erzbischofs nebeneinander existieren, von denen sich jeder als Vicarius in spiritualibus bezeichnete. Denn die Vertreter des Oberhirten in der Jurisdiktion werden sich dagegen verwahrt haben, daß die Vertreter in Weihesachen einen ähnlichen Titel führten. Die verwirrende Terminologie ist auch früheren Autoren schon aufgefallen. So bemerkte beispielsweise Carl Philipp Kopp, daß die Titularbischöfe ,,eigentlich“ Vicarii generales in pontificalibus zum Unterschied von den Vicarii generales in spiritualibus genannt werden müßten167. III. Dietrich von Ilfeld als Generalvikar Endlich hat Erzbischof Gerlach doch einen Generalvikar ernannt. Am 8. Januar 1366 bezeichnete Papst Urban V. den Dietrich von Ilfeld als Secretarius et vicarius 163
Vigener, Regesten II, 1 S. 80 Nr. 314. Vigener, Regesten II, 1 S. 115 f. Nr. 468. 165 Vigener, Regesten II, 1 S. 152 Nr. 640. 166 Vigener, Regesten II, 1 S. 187 Nr. 838. 167 Kopp, Ausführliche Nachricht I Beilagen S. 267. 164
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generalis in spiritualibus archiepiscopi Maguntini168. Diesmal ist die Titulatur, die der Heilige Stuhl anwandte, beweiskräftig, denn so hatte Erzbischof Gerlach selbst den Dietrich in der dem Papst eingereichten Bittschrift genannt. Damit ist zweifelsfrei klargestellt, daß Dietrich von Ilfeld Generalvikar des Erzbischofs Gerlach war. Er war vom Mainzer Provisor und Generalrichter in Erfurt169 zu diesem Posten aufgestiegen. Zuvor hatte er kanonisches Recht an der Universität Montpellier studiert und später am Erfurter Studium generale Philosophie vorgetragen. Leider existiert keine einzige Urkunde, in der er selbst sich als Generalvikar bezeichnet. Es berührt auch merkwürdig, daß Dietrich den Posten der Provisors beibehielt, als er zum Generalvikar aufrückte. Allerdings läßt sich nachweisen, daß er häufig außerhalb von Erfurt weilte170. Dennoch kann an der Art seiner Stellung und seiner Tätigkeit kein Zweifel bestehen. Im Jahre 1366 erklärte Erzbischof Gerlach, Dietrich könne wegen ständiger persönlicher Dienstleistung für den Erzbischof und die Mainzer Kirche nicht leicht ohne Schaden für letztere die Römische Kurie aufsuchen171. Diese Beschreibung gibt zutreffend den Wirkungskreis eines Generalvikars wieder. Dietrich stand Gerlach nahe. Vor dem 4. November 1366 stellte der Erzbischof ihn dem Papst als seinen secretarius et continuus familiaris vor172. Dieses nahe Verhältnis könnte eine Bestätigung dafür sein, daß Dietrich tatsächlich das Amt des Generalvikars bekleidete; denn es ist kennzeichnend für den Generalvikar, daß er der Vertrauensmann seines Ordinarius ist. Aus der erwähnten Urkunde ist noch ein wichtiger Hinweis zu entnehmen. Der als Generalvikar bezeichnete Dietrich von Ilfeld war, wie gesagt, gleichzeitig Sekretär des Bischofs. Den Titel secretarius trug er auch 1368173. Wenn man dieser Fährte nachgeht, stößt man auf die Tatsache, daß vor diesem Zeitpunkt als Sekretär174 auftretende Kleriker Funktionen ausüben, die später in den Geschäftskreis des Generalvikars gehören. Ich erinnere an den Propst Nikolaus von St. Viktor vor
168 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 303 Nr. 615; Vigener, Regesten II, 1 S. 464 Nr. 2055. 169 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 266 f. Nr. 549 (1362). 170 Z. B.: Vigener, Regesten II, 1 S. 478 Nr. 2118. 171 Vigener, Regesten II, 1 S. 492 f. Nr. 2170. Im Originaleintrag der Supplik (Vat. Archiv Suppl. 46 (nicht 43) fol. 343 v) wird die Verhinderung Dietrichs, nach Rom zu kommen, damit begründet: cum propter continua personalia servicia que eidem Archiepiscopo et ecclesie sue habet impendere non potest commode Romanam Curiam visitare sine ipsius Archiepiscopi et ecclesie sue negociorum periculis. 172 Vigener, Regesten II, 1 S. 494 f. Nr. 2170. 173 Vigener, Regesten II, 1 S. 560 Nr. 2477. 174 Gustav Braband bekannte seine Ratlosigkeit, was der Titel ,,Sekretär“ zur Zeit des Erzbischofs Mathias bedeutete, außer daß er in einem nahen Verhältnis zu seinem Herrn stand. Vgl. Gustav Braband, Domdekan Johannes Unterschopf (1325 – 1345), Studien zur Geschichte des Mainzer Domkapitels und seiner Beziehung zu Papsttum und Reich unter Ludwig dem Bayern: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 7, 1955, 22 – 76, hier 29 f.
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Mainz175. Ich halte es für denkbar, daß Nikolaus, der am 29. August 1365 starb176, der Vorgänger Dietrichs war. Es läßt sich weiter eine Reihe von Handlungen nachweisen, die Dietrich als vertrauten Jurisdiktionsträger Erzbischof Gerlachs zeigen. So vollzog er 1364 einen Pfründentausch177, legte Rechnung über die Fülle der ihm übertragenen Aufgaben178, bestätigte 1365 die Wahl eines Abtes179 und war als vom Erzbischof bestellter Schiedsrichter tätig180, diente 1366 dem Erzbischof als Zeuge bei einer Sühne181 und trat 1367 in Sachen des päpstlichen Zehnten in Eltville in Anwesenheit des Erzbischofs als Sprecher desselben auf182, bezahlte 1368 Schulden des Erzbischofs183 und regelte Streitigkeiten über die Feier der Weihe ihrer Klöster zwischen Prediger- und Minderbrüdern in Göttingen184, übertrug 1370 im Namen des Erzbischofs einem Priester eine Pfarrkirche185 und war 1371 Zeuge, als der Erzbischof in Aschaffenburg seine Absicht bekundete, einen Koadjutor zu nehmen186. So kann wohl kein Zweifel bestehen: Dietrich von Ilfeld war Generalvikar des Erzbischofs Gerlach. Eine Kommission hat sich nicht erhalten, falls eine solche ausgestellt wurde.
5. Kapitel: Die Lage im zweiten Provisionsstreit und nach dessen Beilegung I. Der Kampf zwischen Adolf von Nassau und Ludwig von Meißen Nach dem Tode Erzbischof Gerlachs transferierte Papst Gregor XI. am 28. April 1371 den Straßburger Bischof Johann von Luxemburg nach Mainz187. Ob dieser einen Generalvikar ernannt hat, ist nicht bekannt. Daß er sich für die Zeit seiner Abwesenheit – z.B. in Prag188 – vertreten ließ, ist anzunehmen. In jedem Falle hat er
175
Vigener, Regesten II, 1 S. 363 Nr. 1617; 366 f. Nr. 1627; 449 f. Nr. 1981. Vigener, Regesten II, 1 S. 449 f. Nr. 1981. 177 Vigener, Regesten II, 1 S. 399 Nr. 1765. 178 Vigener, Regesten II, 1 S. 400 Nr. 1769. 179 Vigener, Regesten II, 1 S. 436 Nr. 1924. 180 Vigener, Regesten II, 1 S. 452 Nr. 1994. 181 Vigener, Regesten II, 1 S. 478 Nr. 2118. 182 Vigener, Regesten II, 1 S. 503 Nr. 2217. 183 Vigener, Regesten II, 1 S. 544 Nr. 2397; 559 Nr. 2472. 184 Vigener, Regesten II, 1 S. 560 Nr. 2477. 185 Vigener, Regesten II, 1 S. 591 f. Nr. 2619. 186 Vigener, Regesten II, 1 S. 603 Nr. 2688. 187 Vigener, Regesten II, 2 S. 7 f. 188 Vigener. Regesten II, 2 S. 23 f. Nr. 2905 – 2907; 24 – 26 Nr. 2911 – 2914. 176
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in Hertwig Ring von Saulheim einen Exekutor der Provinzialstatuten bestellt189. In Rom ging man von der Existenz eines Vicarius in spiritualibus in Mainz aus190. Nach dem Tode Erzbischof Johanns I. entstand der zweite Mainzer Bischofsstreit191. Die beiden Kontrahenten waren der Speyerer Bischof Adolf I. von Nassau (1373 – 1390)192 und der Bamberger Bischof Ludwig von Meißen (1373 – 138 l)193. Adolf war der Kandidat des Mainzer Domkapitels, Ludwig jener des Kaisers Karl IV. Adolfs Postulation wurde von Papst Gregor XI. nicht zugelassen, Ludwig dagegen von ihm providiert194. Das Domkapitel übertrug davon ungerührt Adolf die Verwesung des Erzbistums195. Jahrelang tobte der Kampf zwischen den beiden Prätendenten auf den Mainzer Bischofsstuhl. Adolf war ein kluger, kraftvoller und weitblickender Oberhirte, aber auch ehrgeizig und gewalttätig196. Ludwig war dagegen in jeder Hinsicht unbedeutend. Es gelang Adolf, den avignonesischen Papst Clemens VII. für sich zu gewinnen; dieser sprach am 18. April 1379 die Versetzung Adolfs von Speyer nach Mainz aus197. Erst 1381 kam es zur Einigung; Adolf wurde von dem römischen Papst Urban VI. mit dem Erzbistum Mainz versehen, Ludwig zog sich auf den Erzbischofsstuhl von Magdeburg zurück198. In dem Streit zweier Bischöfe stieg der Einfluß des Domkapitels auf die Regierung der Erzdiözese an. Adolf war ganz auf das Gremium angewiesen, das ihn einstimmig postuliert hatte und das ihn gegen seinen Gegner stützte. Der provisorische Zustand, in dem sich Adolf als Administrator des Mainzer Erzbistums befand, und die Unsicherheit, die der Position Ludwigs meist anhaftete, erklären vielleicht die Tatsache, daß weder von dem einen noch von dem anderen etwas über die Bestellung eines Generalvikars bekannt ist. In Rom ging man nach wie vor davon aus, daß in den deutschen Diözesen ein Vicarius in spiritualibus vorhanden sei199. Der Weihbischof Johannes von Rodosto bezeichnete sich anfangs diploma-
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Vigener, Regesten II, 2 S. 40 Nr. 3004. Vigener, Regesten II, 2 S. 33 Nr. 2960. 191 Franz Xaver Remling, Geschichte der Bischöfe von Speyer I, Mainz 1852, 643 – 664; Fritz Vigener, Karl IV. und der Mainzer Bistumsstreit, Trier 1912; Friedrich Grünewald, Die Reichspolitik Erzbischof Adolfs I. von Mainz unter König Wenzel (1379 – 1390), Phil. Diss. Gießen, Darmstadt 1924; Alois Gerlich, Die Anfänge des großen abendländischen Schismas und der Mainzer Bistumsstreit: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 6, 1956, 25 – 76; Jürgensmeier, Das Bistum Mainz 142 f. 192 Vigener, Regesten II, 2 S. 45 f. 193 Vigener, Regesten II, 2 S. 79 f. 194 Vigener, Regesten II, 2 S. 80. 195 Vigener, Regesten II, 2 S. 56 f. Nr. 3051. 196 Remling, Geschichte der Bischöfe zu Speyer I, 643 – 664. 197 Düsterwald, Kleine Geschichte der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz 76. 198 Düsterwald, Kleine Geschichte der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz 76. 199 Vigener, Regesten II, 2 S. 71 Nr. 3127; 75 Nr. 3149. 190
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tisch als Vicarius in pontificalibus sancte Maguntine sedis200; später diente er Ludwig von Meißen201, endlich, nach Beilegung des Streites, Adolf von Nassau202. II. Die erste erhaltene Kommission Erzbischof Konrad II. von Weinsberg (1390 – 1396)203 hatte lange warten müssen, bis er kirchenrechtlich einwandfrei in den Besitz seines Amtes gelangt war. Die Wahl bzw. Postulation war am 27. Februar 1390 erfolgt. Wohl erst Mitte des Jahres 1391 traf die Bestätigung bzw. Zulassung in Mainz ein204. Um die Belehnung mit den Regalien zu erreichen, mußte er sich zu König Wenzel nach Böhmen begeben. Für die Zeit seiner Abwesenheit betraute er am 20. August 1391 zwei Domherren mit der Regierung der Kurlande205. Sie hatten also die zeitlichen (weltlichen) Dinge zu verwalten. Gleichzeitig ernannte er Nikolaus von Saulheim zum Vikar in geistlichen Angelegenheiten206, dem wenig später der Name des Generalvikars gegeben werden wird. Wegen der unzweifelhaften Identität der beiden Bezeichnungen ist es zulässig, den Namen Generalvikar für Nikolaus zu gebrauchen. Auf der Rückreise empfing Erzbischof Konrad am 24. September 1391 die Bischofskonsekration207. Die älteste Kommission eines bischöflichen Vikars in geistlichen Angelegenheiten fällt somit in das Jahr 1391. Der Name des Vollmachtträgers lautet Nikolaus von Saulheim. Dieser war bei seiner Ernennung Dekan des Mainzer St. Stephansstiftes208. Er hatte diese Dignität 1384 bis 1415 inne209. In der Chronik des Kollegiatstiftes St. Stephan zu Mainz heißt es bei dem Dekan Nikolaus von Saulheim korrekt: Anna 1391 a Conrado II constitutus est Vicarius in spiritualibus generalis210. Als Dekan eines bedeutenden Stiftes war er sowohl mit seelsorglichen Anliegen als auch mit disziplinarischen Aufgaben und Leitungsfunktionen vertraut. 200
Vigener, Regesten II, 2 S. 72 Nr. 3135. Gudenus, Codex diplomaticus IV, 809. 202 Thomas Schilp (Bearb.), Die Reichsburg Friedberg im Mittelalter, Regesten der Urkunden 1216 – 1410, Marburg 1987, 188 Nr. 480. 203 A1ois Gerlich, Konrad von Weinsberg, Kurfürst des Reiches und Erzbischof von Mainz (1390 – 1396): Jahrbuch für das Bistum Mainz 1958 – 1960, 8, 1960, 179 – 204. 204 Gerlich, Konrad von Weinsberg 185. 205 StA Würzburg MIB 12 fol. 90 v; Gudenus, Codex diplomaticus III, 595 Nr. 381. 206 StA Würzburg MIB 12 fol. 90 v; Gudenus, Codex diplomaticus II, 422 f.; Kopp, Ausführliche Nachricht I, 116 f. 207 Gudenus, Codex diplomaticus III, 596 – 598 Nr. 382. 208 Alois Gerlich, Die Besitzentwicklung des Mainzer St. Stephansstiftes: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 2, 1952, 24 – 38; derselbe, Das Stift St. Stephan zu Mainz, Beiträge zur Verfassungs-, Wirtschafts- und Territorialgeschichte des Erzbistums Mainz, Mainz 1954; derselbe, Studien zur Verfassung der Mainzer Stifte: Mainzer Zeitschrift 48/49, 1953/54, Mainz 1954, 4 – 18. 209 Gerlich, Das Stift St. Stephan zu Mainz 32. 210 Joannis, Rerum Moguntiacarum II, 556. 201
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Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts war der Dekan das Haupt des Stiftskapitels211. Wie fast überall mußte auch im Stift St. Stephan der Dekan Priester sein212. Diese Zusammenhänge mag der Erzbischof im Auge gehabt haben, als er Nikolaus zu seinem Generalvikar bestellte. Die Kommission begründet am Eingang die Ernennung eines Stellvertreters des Erzbischofs in geistlichen Dingen. Unter den mannigfachen Obliegenheiten seines Amtes rage die geistliche Regierung des Bistums hervor. Aus diesem Motiv, für die heilsame Leitung seiner Kirche zu sorgen, erwähle er den Nikolaus, auf dessen bewährte Treue und Hingabe er bauen könne, zum Dienst für sich, den Erzbischof, und seine Kirche. Er spricht die Hoffnung aus, daß aus seinem umsichtigen Fleiß ihm und seiner Kirche Ehre und Nutzen, dem Nikolaus die dankbare Belohnung erwachsen werden. Deswegen ernennt er ihn mit diesem Schreiben zu seinem in spiritualibus vicarius; das Wort generalis fehlt noch in dieser Kommission. Die Bestellung gilt für Stadt und Diözese Mainz, ist also räumlich nicht eingeschränkt auf einen (etwa abgelegenen) Teil des bischöflichen Sprengels. Die Ernennung erfolgt mit sofortiger Wirkung (ex nunc). Das Datum des Schreibens gibt den Beginn des Wirksamwerdens der Bestellung an. Auffallend, aber nicht ungewöhnlich ist die Häufung der Ausdrücke für die Ernennung (constituimus, facimus et eciam ordinamus). Es soll eben kein Zweifel an der rechtlichen Bestandskraft der Ernennung gelassen werden. Der Erzbischof überträgt ihm in diesem ganzen Teil seine Stellvertretung (in hac parte tota vices nostras). Der Generalvikar ist Stellvertreter, d. h. er handelt im Namen und Auftrag des Erzbischofs; was er tut, gilt als von dem Vertretenen getan, sein Handeln wirkt für und wider den Diözesanoberhirten. Freilich ist die Einschränkung in hac parte tota wohl zu beachten. Der Erzbischof spricht ihm nicht seine Stellvertretung in jeder Beziehung zu, sondern lediglich in dem Umfang, wie sie einem Vicarius in spiritualibus eben zukommt. So ist von der Stellvertretung mit Sicherheit ausgenommen die iurisdictio ordinaria, d. h. die Gerichtsbarkeit; denn diesen Teil seiner geistlichen Hoheitsgewalt hat der Erzbischof den Richtern des Mainzer Stuhles bzw. den Generalrichtern in Erfurt übertragen213. Die Übertragung der Stellvertretung erfolgt nicht für bestimmte, sondern auf unbestimmte Zeit; der Ernannte ist jederzeit widerruflich (donec eas ad nos expresse et specialiter duximus revocandas). Man kann somit sagen: Der Generalvikar steht ad nutum214 des Erzbischofs; er hängt in Ernennung und Abberufung von dessen Willen ab. Der Widerruf muß jedoch ausdrücklich, nicht stillschweigend, und durch ein besonde211 Michael Hollmann, Beiträge zur Geschichte des Stifts St. Stephan in Mainz, in: Helmut Hinkel (Hrsg.), 1000 Jahre St. Stephan in Mainz, Mainz 1990, 187– 238, hier 203 f.; Gerlich, Das Stift St. Stephan zu Mainz 29. 212 Gerlich, Das Stift St. Stephan zu Mainz 30 f. 213 Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters, Das Generalgericht zu Erfurt, Leipzig 1956, 12 – 17, 36 – 42. 214 G. May, Ad nutum: LThK I, 2. Aufl. 1957, 150.
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res, nicht ein allgemeines Dekret erfolgen. Damit wird seine Sonderstellung unter den Bediensteten des Erzbischofs anerkannt. Anschließend beschreibt der Erzbischof den Inhalt des Amtes, das er dem Nikolaus überträgt. Der Vikar erhält volle, d. h. uneingeschränkte, und freie, d. h. ungebundene, Gewalt. Er besitzt ja das Vertrauen seines Herrn, und darum behält sich der Erzbischof nichts vor und bindet ihn nicht an seine etwa jeweils einzuholende Zustimmung für das Tätigwerden. Mit den Worten plena et libera soll das Erfordernis des Spezialmandats, d. h. der besonderen Ermächtigung für bestimmte Rechtsgeschäfte, ausgeschlossen werden. Der Vikar Nikolaus benötigt kein Spezialmandat. Seine Gewalt erstreckt sich auf alle Fälle, die dem Erzbischof vom Recht (a iure) oder durch Verwaltungsakt (ab homine) oder kraft Gewohnheit bzw. Privileg allgemein (generaliter) oder in besonderer Weise (specialiter) vorbehalten sind, gewährt sind oder zukünftig gewährt werden, delegiert sind oder in Zukunft delegiert werden. Der Erzbischof behält sich also in den Angelegenheiten, die er dem Vikar überträgt, nichts zur persönlichen Erledigung vor. Die Häufung der Wendungen soll jede Unsicherheit betreffs der Gewalt seines Vikars ausschließen. Im Folgenden werden die Bereiche der Jurisdiktion angegeben, die der Erzbischof seinem Vikar überträgt. Er erhält einmal Befugnisse auf dem Gebiet der freiwilligen Verwaltung. Der Vikar darf dispensieren, d. h. im Einzelfall von der verpflichtenden Kraft eines rein kirchlichen Gesetzes befreien. Hier kann man an Pflichten, die allen Gläubigen obliegen, wie das Fasten- und Abstinenzgebot, und an solche, die Personen des geistlichen Standes auferlegt sind, wie das Stundengebet oder die Residenzpflicht, denken. Der Vikar darf sodann absolvieren, d. h. die Lossprechung von Beugestrafen (Zensuren), die sich jemand zugezogen hat, erteilen215. In einer Zeit, die häufig von Exkommunikation216 und Interdikt217 Gebrauch machte, war diese Vollmacht von großer praktischer Bedeutung. Der Vikar darf weiter habilitieren, d. h. jemand für fähig erklären, z. B. zur Eheschließung oder zur Weihe. Die Vollmacht dürfte sich überwiegend auf Irregularitäten218 und Ehehindernisse219 beziehen. Der Vikar darf schließlich restituieren, d. h. einen Zustand wiederherstellen, der (zu Recht oder Unrecht) verändert worden war. Man wird dabei zuerst an die Rückgabe von Besitz oder Eigentum zu denken haben. Weiter kommt die Wiederherstellung eines aufgehobenen Benefiziums in Frage. Daß auch die Restitutio in integrum, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, mitgemeint sein könnte, erscheint mir zweifelhaft, weil es sich hierbei um eine Einrichtung des kanonischen Prozesses handelt. Die Restitutio famae wird deswegen nicht in Betracht kommen, weil sie normalerweise dem Papst vorbehalten war220. 215
Z. B.: De poen. D. 1 c. 51; C. 11 q. 3 c. 40; X l, 31, 8 und 11; X 5, 39, 29. Georg May, Bann. IV. Alte Kirche und Mittelalter: TRE V, 1980, 170 – 182. 217 Georg May, Interdikt: TRE XVI, 1987, 221 – 226. 218 Z. B.: VI 1, 11, 1; X 3, 3, 4; X 4, 6, l und 2. 219 X 4, 6, 3 – 6; VI 3, 15, 1; Extrav. comm. 5, 9, 5. 220 X 2, 27, 23. 216
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Der Vikar besitzt weiter Beichtvollmacht, ist also auch im inneren sakramentalen Bereich zuständig; er erhält Jurisdiktion pro foro interno. Die Ausübung dieser Gewalt setzt voraus, daß der Vikar die Priesterweihe empfangen hat. Dies war bei dem Dekan Nikolaus der Fall. Die Dekane der Stifter sollten ja stets Priester sein221. Der Vikar darf Bußen jeglicher Art auferlegen. Ich verstehe die Bestimmung von jenen Bußwerken, die der Beichtvater dem Pönitenten auferlegt, weil sie unmittelbar nach der Beichtvollmacht genannt wird. Der Vikar soll Bußen jeglicher Art (quascumque) verhängen dürfen, selbstverständlich soweit sie zulässig sind. Als Bußen kommen vor allem Beten, Fasten und Almosen in Frage. Der Vikar darf einem oder mehreren die Beichtgewalt übertragen, wo und wie es ihm nützlich zu sein scheint. Diese Vollmacht zeigt an, daß er selbst die Beichtvollmacht als ordentliche Gewalt besitzt. Die Kommission überträgt sodann dem Vikar Vollmachten auf dem Gebiete der zwangsmäßigen Verwaltung. Er darf offenkundige Ausschreitungen (excessus) und Verbrechen (crimina) von Geistlichen und Laien in Stadt und Diözese Mainz untersuchen und bestrafen und abstellen. Der Vikar besitzt mithin in bestimmtem Umfang Strafgewalt. Er darf aber nur eingreifen, falls die Vergehen notorisch sind. Diese Eigentümlichkeit liegt vor, wenn die Tat evident ist, d. h. unter solchen Umständen begangen wurde, daß sie öffentlich bekannt und ihre Zurechenbarkeit gewiß sind222. In diesem Falle erübrigte sich ein förmlicher Prozeß, um den Beweis zu führen223. Bei dem Einschreiten gegen Übeltäter hat sich der Vikar an die kanonischen Bestimmungen zu halten, d. h. er muß nach Recht und Gesetz vorgehen. Durch diese Bestellung wird der Generalvikar zum maßgebenden Wächter über die kirchliche Disziplin in Stadt und Diözese Mainz bestellt. Danach wird die Gewalt des Vikars mit einer Generalklausel beschrieben. Er soll all das ausüben, tun und behandeln dürfen, was ein wahrer und rechtmäßiger Stellvertreter in geistlichen Dingen tun kann und muß, auch wenn es sich um viel gewichtigere Dinge handelte als jene, die oben angesprochen wurden, und was der Erzbischof selbst in geistlichen Angelegenheiten tun könnte, wenn er persönlich anwesend wäre. Es handelt sich hierbei anscheinend um die Übertragung der procura generalis cum libera (sc. administratione) im Unterschied zu der procura generalis sine libera. Bei der ersteren ist der Vertreter befugt, alles zu tun, was der Vertretene zu tun vermag, während er bei der letzteren bestimmten Einschränkungen unterliegt224. Schließlich übergibt ihm der Erzbischof das geistliche Schwert der Banngewalt. Um seinen Dienst verrichten und seine Aufgaben erfüllen zu können, muß er die 221
X 1, 6, 7. Vgl. Rauch, Das Mainzer Domkapitel 222. X 3, 2, 8; X 3, 2, 10; X 5, 34, 15; X 5, 40, 24. 223 In quibus minime iudiciarius ordo desideratur (C. 2 q. 1). Vgl. Summa Magistri Rolandi mit Anhang Incerti Auctoris Quaestiones, hrsg. von Friedrich Thaner, Neudruck der Ausgabe Innsbruck 1874, Aalen 1962, 16. 224 Kienitz, Generalvikar und Official 66. 222
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Opposition gegen seine Anordnungen brechen können. Widersprechende und Aufrührerische, die ihm bei der Ausübung seines Amtes als bischöflicher Stellvertreter nicht, wie es sich gehört, gehorchen, soll er zum Gehorsam zwingen durch kirchliche Zensur, und zwar mit der Autorität des Erzbischofs (auctoritate nostra). Er darf also Exkommunikation, Interdikt und Suspension verhängen. Zum Zeugnis dieser Bestallung erhält der Generalvikar dieses mit dem Siegel des Erzbischofs versehene Schreiben. Am Ende der Kommission spricht der Erzbischof von dem officium nostri Vicariatus. Die Stellvertretung ist also aus einem Mandat zu einem Amt geworden, d. h. einem auf Dauer festgelegten Aufgabenkreis, der nach Maßgabe des kirchlichen Rechts übertragen wird und die Teilhabe an der Jurisdiktionsgewalt in sich schließt, in diesem Falle an der hoheitlichen Hirtengewalt des Bischofs in Angelegenheiten der Verwaltung. Wenn eine die Vollmachten eines Amtsträgers zusammenfassende Bestallungsurkunde auftritt, dann kann die Einrichtung des Amtes nicht erst zu diesem Zeitpunkt erfolgt sein. Es liegt vielmehr nahe, anzunehmen, daß die verschiedenen Vollmachten vorher getrennt voneinander übertragen und nunmehr vereinigt wurden. Dieser Vorgang läßt sich beispielweise bei den Kommissaren in der Mainzer Erzdiözese beobachten225. Wenn es sich auch in dem Fall des Vikars so verhält, dann spricht die relativ spät auftauchende Kommission nicht gegen eine frühere Entstehung des Generalvikars, wie sie oben erwiesen wurde. Das Amt des Generalvikars ist ein Dienstamt, das dem Amt des Diözesanbischofs nachgeordnet und von ihm abhängig ist. Doch nimmt es an der Leitungsfunktion des Erzbischofs teil. Sein Inhaber besitzt das besondere Vertrauen des Erzbischofs. Es ist nicht räumlich beschränkt, sondern erstreckt sich über das gesamte Territorium des Bistums Mainz. Der Generalvikar wird nicht mehr nur als Vertreter des abwesenden Erzbischofs bestellt (wie die beiden Vertreter in temporalibus), sondern ohne Rücksicht auf die Anwesenheit oder Abwesenheit seines Herrn. Die erzbischöfliche Jurisdiktion erscheint in bezug auf die ihm übertragenen Befugnisse gleichsam verdoppelt. Das Amt wird auf unbestimmte Dauer und auf Widerruf verliehen; sein Inhaber ist amovibel. Das Amt ist nicht an ein Benefizium gebunden, also unbepfründet; sein Inhaber bedarf somit der Sustentation durch den Erzbischof. Mit der Kommission von 1391 betreten wir sicheren Boden. Von nun an reißt die Reihe der namentlich bekannten Generalvikare in der Erzdiözese Mainz nicht mehr ab226. Der nächste Generalvikar war der Mainzer Domherr Kuno von Sterzelnheim227. 225 Vgl. etwa Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 192 f. Nr. 402 und 403 mit II, 229 Nr. 479. 226 Scheppler, Codex ecclesiasticus XXXXIII– LVIII Anmerkungen. 227 Hollmann, Das Mainzer Domkapitel 459, 506.
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Ergebnis Die vorstehende Untersuchung gestattet folgende Feststellungen: 1. Entgegen der Meinung, in der Erzdiözese Mainz sei der Weihbischof zeitweilig auch Generalvikar gewesen, gilt: Weihbischof und Generalvikar waren in dem untersuchten Zeitraum stets voneinander geschieden. Kein einziger Weihbischof war gleichzeitig Generalvikar. Das Amt des Generalvikars blieb immer Klerikern vorbehalten, die nicht den bischöflichen Ordo hatten228. 2. Der Generalvikar hat sich in der Diözese Mainz aus zwei Komponenten entwickelt. Einmal ernannte der Erzbischof einen oder mehrere Stellvertreter für die Zeit seiner Abwesenheit von der Diözese. Dessen oder deren Auftrag nahm seinen Anfang mit der Abreise des Erzbischofs und fand sein Ende mit dessen Rückkehr. Zum anderen bestellte der Erzbischof während seiner Anwesenheit im Bistum Beauftragte für bestimmte Rechtsgeschäfte. Niemals übertrug er ihnen seine gesamte Hirtengewalt in bezug auf die geistliche Verwaltung. Doch wurden beide Beschränkungen gelöst. Sobald der Stellvertreter für ständig ernannt und ihm die Vollgewalt des Erzbischofs auf dem Gebiet der geistlichen Verwaltung übertragen wurde, schlug die Geburtsstunde des Generalvikars. Der erste nachweisbare Generalvikar dürfte Reinhard von Westerburg gewesen sein. Neben dem Weihbischof, der seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts in der Erzdiözese Mainz eingeführt wurde229, und neben den Richtern des Mainzer Stuhls, für die aus dem Jahre 1368 die erste erhaltene Kommission vorliegt230, erscheint jetzt ein neuer bischöflicher Beamter, der Genralvikar. 3. Die erste erhaltene Bestallung eines Mainzer Generalvikars stammt aus dem Jahre 1391. Sie weist ihn aus als den beamteten Stellvertreter des Erzbischofs in der Verwaltung des Erzbistums. Allerdings trug er zunächst den Namen Vicarius in spiritualibus. Bald aber trat das Wort generalis hinzu und erfolgte die Ernennung zum Vicarius generalis231.
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Ob in späterer Zeit einmal eine Verbindung von beiden Ämtern vorkam (so Ingrid Heike Ringel , Studien zum Personal der Kanzlei des Mainzer Erzbischofs Dietrich von Erbach (1434 – 1459), Mainz 1980, 122 f.), bleibt zu untersuchen. 229 Krusch, Studie 130. 230 Krusch, Studie 209 – 211. 231 So 1407 (StA Würzburg MIB 14 fol. 221 v – 222 r).
Der Provikar vornehmlich in der Erzdiözese Mainz Einleitung: Ämter mit dem Präfix pro Das Adverb pro als Präfix bedeutet vor, für, anstatt. Es wurde und wird im Recht der Ämter häufig verwendet. Im Römischen Reich war der Proconsul der gewesene Konsul, der Propraetor der nach Verwaltung der Prätur in die Provinz geschickte Statthalter1. Im Gerichtsverfahren kann als Vertreter einer Partei ein Prokurator2 bestellt werden. An den deutschen wissenschaftlichen Hochschulen bestanden (und bestehen) Fakultäten (bzw. Fachbereiche). Ihr Leiter war bzw. ist der Dekan3. Er hatte oder hat einen Stellvertreter, den Prodekan. Ähnlich bestand bzw. besteht neben dem Rektor der Prorektor. I. An der Römischen Kurie Die katholische Kirche hat Amtsbezeichnungen, die mit dem Präfix pro gebildet werden, bis zur Stunde beibehalten. Am Heiligen Stuhl sind seit Jahrhunderten Beamte tätig, die ihrer Amts- und Funktionsbezeichnung die Vorsilbe pro- beisetzen. Wenn auch ihre Zahl abgenommen und ihre Bedeutung sich bei manchen geändert hat, ist diese Erscheinung bis heute zu beobachten. Die Vorsilbe Pro- ist offensichtlich für die Römische Kurie nicht zu entbehren. Die Kardinalskongregationen haben an ihrer Spitze einen Kardinal als Präfekten. In dem Falle, daß der Präfekt (noch) nicht Kardinal war, führte er bis in die jüngste Zeit den Titel eines Pro-Präfekten. So war 1997 Jorge Arturo Medina Estévez, emeritierter Erzbischof von Valparaiso, Pro-Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente4, Alberto Bovoni, Titularerzbischof von Cesarea in Numidien, Pro-Präfekt der Kongregation für die Sachen der Heiligen5 und Darío Castrillon Hoyos, emeritierter Erzbischof von Bucaramanga, Pro-Präfekt der Kongregation für den Klerus6. Damit sollte angedeutet werden, daß der augen1 Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3 Bde., unveränd. Nachdruck der dritten Aufl. Graz 1952, II/1 S. 74 – 140, 193 – 238, 239 – 271. 2 W. Elbert, Prokurator: HRG III, 1984, 2032 – 2034. 3 Werner Thieme, Deutsches Hochschulrecht, Das Recht der wissenschaftlichen, künstlerischen, Gesamt- und Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, 2., vollst. überarb. u. erheblich erweit. Aufl. Köln 1986, 223. 4 Annuario Pontificio per l’anno 1997, Vatikanstadt 1997, 1181. 5 Annuario Pontificio per l’anno 1997, Vatikanstadt 1997, 1186. 6 Annuario Pontificio per l’anno 1997, Vatikanstadt 1997, 1205.
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blickliche Vorsteher nur zeitweilig und vorläufig die Leitung der Kongregation innehatte, bis er sie nach der Beförderung zum Kardinal endgültig übertragen erhielt, denn der Posten erforderte die kardinalizische Würde. Doch hat in der Gegenwart diese Übung aufgehört. So hatte beispielsweise der ehemalige Erzbischof von San Francisco, William Joseph Levada, bereits den Titel Präfekt, als er noch nicht zum Kardinal erhoben worden war7. Auf der Ebene der Sekretäre war eine ähnliche Erscheinung zu beobachten. Am 23. Mai 1957 war von dem Pro-Sekretär des Heiligen Offiziums die Rede8. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Da damals der Papst selbst der Kongregation des Heiligen Offiziums vorstand (c. 247 § 1 CIC/1917), hatte diese Behörde keinen eigenen Präfekten. An seiner Stelle leitete sie ein Sekretär. Da aber normalerweise die Sekretäre der Kongregationen im Range eines Erzbischofs standen, war der Posten beim Heiligen Offizium mit einem Kardinal gleichsam überbesetzt. Diese Besonderheit wurde angedeutet, indem er nicht den Titel eines Sekretärs, sondern eines Pro-Sekretärs führte. Bei einer anderen Behörde des Apostolischen Stuhls scheint die zuerst genannte Gepflogenheit beibehalten worden zu sein. Wenn der Pönitentiarie ein Erzbischof vorsteht, der nicht Kardinal ist, führt er wohl noch heute den Titel eines Pro-Penitenziere Maggiore9. Der päpstliche Großpönitentiar durfte früher für den Fall seiner Abwesenheit einen Pro-Poenitentiarius ernennen10. Auch während der Sedisvakanz konnte ein Pro-Poenitentiarius bestellt werden11. Das Amt des Datarius galt nicht als ein munus cardinalitium, sondern nur als munus praelatitium, d. h., der Inhaber war in der Regel ein Prälat, nicht ein Kardinal. Doch wurden auch Kardinäle mit dem Amt betraut12. Wenn nun an der Spitze der Dataria Apostolica ein Kardinal stand, heißt er nicht Datarius, sondern ProDatarius. Damit sollte ausgedrückt werden, daß das Amt eigentlich kein kardinalizisches ist13. Die Leiter der Nuntiaturen erster Klasse wurden in der Vergangenheit regelmäßig zur Würde eines Kardinals erhoben. Die Nuntien blieben in diesem Falle nach der Ankündigung ihrer Erhöhung im Geheimen Konsistorium an ihrem Platz und führten von da an den Titel von Pro-Nuntien14. Doch ist diese Regelung entfallen 7
Annuario Pontificio per l’anno 2006, Vatikanstadt 2006, 1181. AAS 49, 1957, 370. 9 Annuario Pontificio per l’anno 2003, Vatikanstadt 2003, 1125. 10 Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869 – 1897, I, 431. 11 Hinschius (wie Anm. 10) I, 371. 12 Georg Phillips, Kirchenrecht, 7 Bde., Regensburg 1845 – 1872, VI, Regensburg 1864, 386 f. 13 Hinschius (wie Anm. 10) I, 426. 14 Igino Cardinale, Le Saint-Siège et la diplomatie, Aperçue historique, juridique et pratique de la diplomatie pontificale, Paris 1961, 94; Arthur Wynen, Die päpstliche Diplomatie 8
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und der Titel Pro-Nuntius anderweitig vergeben worden. Der Apostolische Stuhl sendet seine Vertreter in alle Länder, die diplomatische Beziehungen zu ihm aufzunehmen gewillt sind15. Nach alten diplomatischen Gepflogenheiten ist der päpstliche Nuntius der Erste (Doyen) unter den Diplomaten in einem Land. Wo er diese Stellung nicht einnimmt, führt der Leiter der päpstlichen Vertretung jetzt den Titel eines Pro-Nuntius16. An größeren Nuntiaturen existierte zeitweise des Amt des Pro-Abbreviators. Er war der Stellvertreter oder der Aushelfer des Abbreviators, wenn dieser krank, abwesend oder unerwartet verstorben war17. II. Außerhalb der Römischen Kurie 1. In der ordentlichen Kirchenverfassung Auch außerhalb der Römischen Kurie bestellte der Apostolische Stuhl kirchliche Amtsträger, deren Titel die Silbe Pro- vorangesetzt war. Hier ist der Pro-Vikar zu nennen18. In der ordentlichen Kirchenverfassung19 ist der Provikar fast gänzlich außer Gebrauch gekommen. Nur äußerst selten taucht diese Figur noch auf. Es ist selten, daß sich kanonistische Autoren mit der Gestalt des Provikars befassen. Paul Hinschius war sie nicht unbekannt. Im Bereich der ordentlichen Kirchenverfassung wurde nach ihm ein kirchlicher Beamter als Pro-vicarius generalis bezeichnet, bei dessen Bestellung es an einzelnen Erfordernissen fehlte, um zum Generalvikar ernannt zu werden. Wenn der Bischof abwesend war und der Generalvikar in dieser Zeit starb, bestellte die Bischofskongregation den Subdelegaten
geschichtlich und rechtlich dargestellt (= Das Völkerrecht. Beiträge zum Wiederaufbau der Rechts- und Friedensordnung der Völker 10. Heft), Freiburg i. Br. 1922, 90 f.; Georg May, Ludwig Kaas, Der Priester, der Politiker und der Gelehrte aus der Schule von Ulrich Stutz, 3 Bde. (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 33), Amsterdam 1981/82, I, 203 – 207; Egon Schneider, Nuntius: Staatslexikon, 5., von Grund aus neubearb. Aufl. Freiburg i. Br. 1929, III, 1643 – 1646; Rudolf von Scherer, Handbuch des Kirchenrechts I, Graz 1886, 527; Hans-Helmut Dietze, Die päpstlichen Nuntien, Frankfurt a. M. 1943, 20; Willibald Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 5 Bde., Wien 1960 – 1969, III, 186. 15 Scherer (wie Anm. 14) I, 519 – 531; E. Fournier, Ablégat apostolique: DDC I, 1935, 94 – 96; F. Claeys-Bouuaert, Légat du pape: DDC VI, 1957, 371 – 377; Niccolò Del Re, La Curia Romana, Lineamenti storico-giuridici, 3., überarb. u. verm. Aufl. (= Sussidi eruditi 23), Rom 1970. 16 Motu Proprio „Sollicitudo omnium ecclesiarum“ Pauls VI. vom 24. Juni 1969 (AAS 61, 1969, 473 – 484) I Nr. 2; Annuario Pontificio per l’anno 1992, Vatikanstadt 1992, 1758. Vgl. Paul Mikat, Päpstliches Gesandtschaftswesen: Staatslexikon, Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, 7., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg i. Br. 1988, IV, 288 – 290. 17 Michael F. Feldkamp, Studien und Texte zur Geschichte der Kölner Nuntiatur, 3 Bde. (= Collectanea Archivi Vaticani 30 – 32), Vatikanstadt 1993/95, I, 111. 18 Dominicus Bouix, Tractatus de Curia Romana seu de Cardinalibus, Romanis Congregationibus, Legatis, Nuntiis, Vicariis et Pronotariis Apostolicis, Paris 1850, 654 – 675. 19 Bouix (wie Anm. 18), 656 f., 666 – 674.
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des Generalvikars ad interim zum Provikar20. Der Provikar, wie er in der Erzdiözese Mainz und in anderen deutschen Bistümern jedenfalls bis zum 19. Jahrhundert bestand, scheint Paul Hinschius jedoch entgangen zu sein. Davon wird weiter unten die Rede sein. Die jurisdiktionellen Verhältnisse Tirols und Vorarlbergs haben sich seit 1918 mehrfach verändert. Durch den Friedensvertrag von Saint-Germain (1919) wurde Südtirol mit dem Bischofssitz Brixen von Österreich abgetrennt und zu Italien geschlagen21. Der bei Österreich verbliebene Teil des Bistums Brixen wurde am 9. April 1921 zur Apostolischen Administratur22 erhoben, zunächst ohne Trennung von der Diözese. Am 12. Dezember 1925 wurde dieses Gebiet von der Diözese Brixen abgetrennt und das Jurisdiktionsgebiet Innsbruck-Feldkirch unter einem Apostolischen Administrator geschaffen. Sigismund Waitz war jetzt Apostolischer Administrator ad nutum Sanctae Sedis (und nicht mehr Brixener Auxiliarbischof). Art. III § 2 des Österreichischen Konkordates vom 5. Juni 193323 sah die Erhebung der Administratur zu einem Bistum Innsbruck (mit einem eigenen Generalvikar für Vorarlberg mit Sitz in Feldkirch) vor. Zur Errichtung der Diözese kam es erst im Jahre 1964. Vier Jahre später wurde auch noch ein eigenes Bistum Feldkirch geschaffen. Das dieser Entwicklung vorhergehende jurisdiktionelle Gebilde InnsbruckFeldkirch war, wie gesagt, eine Apostolische Administratur. Sie wurde geleitet von Sigismund Waitz24 als Apostolischem Administrator. Er hatte neben sich in Innsbruck (er selbst residierte in Feldkirch) einen Provikar. Der erste Provikar der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch war Urban Draxl (1874 – 1959)25. Dieser Titel wurde gewählt, weil der Administrator selbst eine vikarielle Stellung innehatte. Waitz behielt seinen Posten, als er (nach Wahl vom 10. Dezember 1934 und Bestätigung vom 17. Dezember 1934) am 27. Januar 1935 als Erzbischof von Salzburg inthronisiert wurde. Ihm folgte Paul Rusch (15. Oktober 1938)26. Nach 20
Hinschius (wie Anm. 10) II, 224. Fridolin Dörrer, Bistumsfragen Tirols nach der Grenzziehung von 1918: SchlernSchriften 140, 1955, 47 – 88; Elmar Schallert, Geschichte des Bistums Feldkirch, Strasbourg 1999, 38. 22 Georg May, Bemerkungen zu den Apostolischen Administratoren und Administrationen: Theologie und Glaube 78, 1988, 415 – 429. 23 AAS 26, 1934, 249 – 282. 24 Erwin Gatz, Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1785/1803 bis 1945, Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, 787 – 791. 25 Bruno Wechner, Die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch: ÖAfkR 3, 1952, 69 – 85, hier 72; Gatz (wie Anm. 24), 141. Nach Schallert (wie Anm. 21), 39 f. und Christoph Vallaster, Die Bischöfe Vorarlbergs, Dornbirn 1988, 102 – 104 war Franz Tschann (1872 – 1956) seit 1921 Provikar des Apostolischen Administrators. 26 Erwin Gatz, Feldkirch, in: derselbe, Die Bistümer und ihre Pfarreien (= Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – Die Katholische Kirche Bd. 1), Freiburg i. Br. 1991, 307 – 311; Gatz (wie Anm. 24), 637 f.; 21
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dem Rücktritt Draxls wurde Carl Lampert27 am 15. Januar 1939 zum Provikar ernannt. Da er mehrere Jahre in Haft zubrachte, mußte der Kanzler Kassian Lechleitner die Geschäfte des Ordinariats führen. In Österreich gab es nach 1945 eine Zeitlang Provikare in der Militärseelsorge28. Ihre Existenz erklärt sich folgendermaßen. Am 21. Februar 1959 wurde der Wiener Erzbischof Franz König zum Vicarius Castrensis des österreichischen Bundesheeres ernannt. Am 5. April 1960 wurde das katholische Militärvikariat errichtet. Am 4. April 1960 wurde Johann Innerhofer zum (ersten) Militärprovikar ernannt29. Art. VIII § 1 des Österreichischen Konkordates sah die Bestellung eines Militärvikars (mit bischöflicher Würde) vor. Da der Militärordinarius bereits eine vikarielle Stellung hatte, mußte sein Gehilfe von ihm in der Titulatur unterschieden werden. Dies geschah, indem er zum Provikar ernannt wurde. Österreich konnte mit dieser Titulatur an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg anknüpfen. Damals war der Bischof von Seckau, Ferdinand Pawlikowsky (1877 – 1956), Militärvikar, der einen Militärprovikar an seiner Seite hatte30. Auf Innerhofer folgte am 1. November 1966 Leo Josef Fritz31. Am 1. Januar 1970 wurde Franz Gruber32 zum Militärprovikar ernannt. Er war der letzte Militärprovikar. Im Jahre 1986 wurde nämlich ein eigener Militärbischof für Österreich ernannt, Alexander Kosteletzky33. Dieser beförderte am 15. Dezember 1986 Gruber zum (ersten) Militärgeneralvikar. Am 15. April 1987 wurde folgerichtig das bisherige Militärvikariat in Militärordinariat umbenannt. Am 21. März 1989 erhielt es eigene Statuten34. 2. In der Missionsverfassung Anders als in der ordentlichen Kirchenverfassung sieht es in der Missionsverfassung der Kirche aus. Hier sind Apostolische Vikare bis zur Stunde wohlbeErwin Gatz, Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945 – 2001, Ein biographisches Lexikon, Berlin 2002, 273 – 276. 27 Richard Gohm, Leben und Leiden für Christus und die Kirche, Msgr. Dr. Carl Lampert, Provikar der Administratur Innsbruch-Feldkirch, in: Recht – Bürge der Freiheit, Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 51), Berlin 2006, 1119 – 1152. 28 Franz Gruber, Aus der Geschichte der Militärseelsorge und der Militärseelsorger in Österreich (= Wiener Katholische Akademie Miscellanea Dritte Reihe Nr. 153), Wien 1987; derselbe, 40 Jahre Wiedererrichtung der Militärseelsorge Österreichs, 1956 – 1996, Wien o. J.; Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 373 – 375. 29 Gruber (wie Anm. 28), 3 – 24; Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 373 f. 30 Franz Gruber, Prälat Anton Allmer Militärprovikar 1881 – 1946 (= Wiener Katholische Akademie Arbeitskreis für Kirchliche Zeit- und Wiener Diözesangeschichte Miscellanea XXIII), Wien 1977; Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 246 – 248. 31 Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 374. 32 Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 374 f. 33 Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 370 – 372. 34 Gruber, 40 Jahre (wie Anm. 28), 116.
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kannt35. Der Papst ist der Universalbischof der Kirche36. Das gesamte Missionsgebiet untersteht ihm (allein) als Bischof, solange dort nicht eigene Diözesanbischöfe bestellt sind. Vorher verwalten die Jurisdiktionsträger ihre Gebiete in Stellvertretung des Papstes, also als Vikare. Wo aber der Apostolische Vikar auftaucht, da begegnet in der Regel auch der Provikar. Im Bereich der Missionsverfassung wurde der Begriff gebraucht 1. für den Generalvikar des Apostolischen Vikars, der nach dessen Tod in seine Fakultäten eintritt, 2. für den provisorischen Leiter eines Apostolischen Vikariates, den der Koadjutor eines solchen bei seiner Versetzung ernennen soll, 3. für den Vertreter des Apostolischen Vikars mit allen Vollmachten desselben, der einen entfernten Teil des Vikariatssprengels leitet, 4. für den Verwalter des Vikariats, der einer Mönchskongregation angehört37. Das Apostolische Vikariat war auch in jenen Gebieten Deutschlands, die nicht von der in den Konkordaten bzw. Zirkumskriptionsbullen festgelegten Diözesaneinteilung erfaßt waren, „die herkömmliche Verfassungsform“38. Es sei auf Sachsen, Anhalt und Norddeutschland verwiesen. Noch im Jahre 1916 existierten in Deutschland drei Apostolische Vikariate (Sachsen, Anhalt, Nordische Missionen). Sachsen39 war seit dem 16. Jahrhundert fast zur Gänze dem Protestantismus zugeführt worden. Nur wenige katholische Christen ließen sich in den folgenden Jahrhunderten dort nieder. Seit 1763 gab es einen Apostolischen Vikar der sächsischen Erblande40. Nach richtiger Ansicht wurde das Apostolische Vikariat Sachsen jedoch bereits 1743 errichtet41. Seit 1816 waren die Apostolischen Vikare regelmäßig Titularbischöfe. Seit 1845 waren das Amt des Apostolischen Vikars für Sachsen und das Amt des Apostolischen Präfekten der Lausitz in Personalunion verbunden. Wenn die Apostolischen Vikare sich Gehilfen und Vertreter bestellten, war ihre rechtmäßige Bezeichnung die des Provikars. Der Apostolische Vikar Ludwig Wahl (1890 – 1900) erkrankte so schwer, daß er seine Amtsgeschäfte nicht mehr erledigen konnte. Er war somit dauernd an der Ausübung seines Amtes be35
Hinschius (wie Anm. 10), II, 356 – 359; Bouix (wie Anm. 18), 658 – 667; Matthias Pulte, Das Missionsrecht ein Vorreiter des universalen Kirchenrechts, Rechtliche Einflüsse aus den Missionen auf die konziliare und nachkonziliare Gesetzgebung der lateinischen Kirche (= Studia Instituti Missiologici Societatis Verbi Divini Nr. 87), Nettetal 2006, 608 f. (Reg.). 36 Georg May, Ego N.N. Catholicae Ecclesiae Episcopus, Entstehung, Entwicklung und Bedeutung einer Unterschriftsformel im Hinblick auf den Universalepiskopat des Papstes (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 43), Berlin 1995. 37 Hinschius (wie Anm. 10), II, 357 f. 38 Hinschius (wie Anm. 10), II, 358. 39 F. Schwarzbach, Sachsen: LThK IX, 1937, 62 – 66. 40 Joseph Freisen, Verfassungsgeschichte der katholischen Kirche Deutschlands in der Neuzeit auf Grund des katholischen Kirchen- und Staatskirchenrechts dargestellt, Leipzig 1916, 152 – 154; Paul Franz Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1961, 99. 41 Siegfried Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen 1517 – 1773 (= Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte Bd. 6), Leipzig 1964, 182.
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hindert. Der Apostolische Stuhl bestellte für die temporäre geistliche Verwaltung in den sächsischen Erbladen Carl Maaz, ernannte ihn also zum Administrator, legte ihm aber bald den Titel eines Provikars bei42. Besondere Verhältnisse bestanden in dem Apostolischen Vikariat der Nordischen Missionen43. Ihr Geschick ist eng verbunden mit der Diözese Osnabrück. Aufgrund des Westfälischen Friedens (IPO Art. XIII §§ 1 – 8) herrschten in diesem Bistum eigenartige Verhältnisse. Die Capitulatio perpetua vom 28. Juli 165044 bestimmte, daß das Stift Osnabrück abwechselnd von einem protestantischen „Bischof“ aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg und einem katholischen Bischof regiert werden sollte. Die kirchliche Verwaltung wurde während der Herrschaft des protestantischen „Bischofs“ dem Kölner Erzbischof übertragen, der zu seiner Stellvertretung einen Vikar bestellen konnte. Aus praktischen und finanziellen Gründen bot es sich an, den Vikar als vicarius in spiritualibus et pontificalibus Verwaltungs- und Weiheaufgaben erfüllen zu lassen45. Im 17. Jahrhundert entstand das Apostolische Vikariat des Nordens. Seit 1693 war regelmäßig ein ständiger Weihbischof in Osnabrück, der von 1702 bis 1761 zugleich Apostolischer Vikar der Nordischen Missionen war46. Nach mannigfachen Änderungen, die hauptsächlich in der wechselnden politischen Konstellation ihren Grund hatten, wurde am 17. September 1839 der Priester Johannes Laurent zum Apostolischen Vikar für Norddeutschland und die Nordischen Missionen mit Sitz in Hamburg ernannt, am 27. Dezember 1839 erhielt er die Konsekration als Titularbischof von Chersones47. Doch er wurde vom Staat daran gehindert, das Apostolische Vikariat der Nordischen Missionen zu übernehmen. Deswegen ernannte die Propagandakongregation am 24. Februar 1841 den Generalvikar der Diözese Osnabrück, Karl Anton Lüpke, Titularbischof von Anthedon, zum Apostolischen Provikar48. Daß er nicht den Titel eines Apostolischen Vikars erhielt, hatte vermutlich darin seinen Grund, daß der (vom Heiligen Stuhl erhobene) Anspruch auf die Ernennung eines eigenen Vikars (die der Staat nicht zuließ) aufrechterhalten werden sollte. Die Leitung des Missi42 Heinrich Meier, Das Apostolische Vikariat in den Sächsischen Erblanden (= Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte Bd. 24), Leipzig 1981, 134. 43 Johannes Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, Ihre Entstehung, ihre Entwicklung und ihre Verwalter, Ein Beitrag zur Geschichte der nordischen Missionen, Paderborn 1919; derselbe, Nordische Missionen: LThK VII, 1935, 620 – 622. 44 Anton Schindling, Capitulatio perpetua Osnabrugensis: LThK II, 3. Aufl. 1994, 932 f. 45 Hermann Stieglitz (Bearb.), Handbuch des Bistums Osnabrück, 2. Aufl. Osnabrück 1991, 17. 46 Stieglitz (wie Anm. 45), 17. 47 F. Lauchert, Laurent: LThK VI, 1934, 413. 48 Metzler (wie Anm. 43), 187 f. (26. Februar 1841); Paul Berlage (Bearb.), Handbuch des Bistums Osnabrück, Osnabrück 1968, 24; Johann Caspar Möller, Geschichte der Weihbischöfe von Osnabrück, Lingen a. d. Ems 1887, 230, 237; Hinschius (wie Anm. 10), II, 359 mit A. 12; G. Hellinghausen, Kampf um die Apostolischen Vikare des Nordens J. Th. Laurent und Ch. Lüpke: Der Hl. Stuhl und die protestantischen Staaten Norddeutschlands und Dänemarks um 1840, Rom 1987.
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onsgebietes lag seit 1841 ständig bei den Oberhirten der Diözese Osnabrück49. Das neue, exemte Bistum Osnabrück verdankte seine Entstehung der Bulle „Impensa Romanorum Pontificum“ vom 24. März 1824. Das Apostolische Vikariat der Nordischen Missionen wurde fortan dem jeweiligen Weihbischof oder Bischof von Osnabrück als Provikar übertragen50. Lüpke folgte der Münsteraner Generalvikar und Titularbischof Paul Melchers (1813 – 1895) als Provikar51. Er wurde dann Bischof von Osnabrück. Als solcher war er von 1858 bis 1866 Apostolischer Provikar der Nordischen Missionen52. Nach Melchers wurde der Bischof von Osnabrück Johann Heinrich Beckmann zum Apostolischen Provikar der Nordischen Missionen Deutschlands und Dänemarks ernannt53. Dabei blieb es in der Folgezeit. Am 30. August 1899 wurde der Bischof Hubert Voss von Osnabrück, am 15. September 1914 der Bischof Wilhelm Berning zum Apostolischen Provikar der Nordischen Missionen bestellt54. Das kleine Land Anhalt55 wurde im 16. Jahrhundert durch seine Fürsten dem Protestantismus zugeführt. Die Fürsten waren anfänglich Lutheraner, traten aber später zum Kalvinismus über. An der Stellung zur katholischen Kirche änderte sich nichts. Als der Herzog Ferdinand von Anhalt-Köthen zum katholischen Glauben konvertierte, wurde das Apostolische Vikariat Anhalt gegründet (1834); es wurde zunächst vom Apostolischen Vikar von Sachsen, danach vom Münchener Nuntius, schließlich vom Bischof von Paderborn verwaltet. Der CIC/1917 kannte für die Missionsorganisation der Kirche zwei Amtsträger, die ihrer Amtsbezeichnung das Wörtchen pro voranstellten56. Die bistumsähnlichen Gebietskörperschaften, die in den Missionsgebieten errichtet wurden, hießen Apostolische Präfektur und Apostolisches Vikariat. An ihrer Spitze standen der Apostolische Präfekt bzw. der Apostolische Vikar (c. 293)57. Propräfekt und Provikar waren also Ersatzmänner für den Fall des Abgehens des Präfekten und des Vikars. 49
Berlage (wie Anm. 48), 25. Freisen (wie Anm. 40), 38; Erwin Gatz/Wolfgang Seegrün, Osnabrück und Nordische Missionen, in: Gatz, Die Bistümer und ihre Pfarreien (wie Anm. 26), 498 – 509. 51 Metzler (wie Anm. 43), 192 (19. Februar 1858). 52 F. Lauchert, Melchers: LThK VII, 1935, 61 f. 53 Metzler (wie Anm. 43), 196 (2. Dezember 1866). 54 Metzler (wie Anm. 43), 278 f., 280 f. Vgl. Gatz, Die Bischöfe 1945 – 2001 (wie Anm. 26), 423. 55 Woker, Anhalt: Kirchenlexikon I, 2. Aufl. 1882, 856 – 858; H. Sacher, Anhalt: LThK I, 1930, 442 f. 56 Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, 3 Bde., 11. Aufl. Paderborn 1964 – 1979, I, 392 – 399. 57 Beide mußten, sobald sie in ihrem Gebiet angekommen waren, aus dem Welt- oder Ordensklerus einen geeigneten Provikar bzw. Propräfekten bestellen (c. 309 §1). Diese hatten zu Lebzeiten des Vikars oder Präfekten keine (oberhirtliche) Gewalt, sofern ihnen nicht solche von diesem eigens übertragen worden war. Wenn der Vikar oder Präfekt ausfiel oder behindert war (c. 429 § 1), hatte der Propräfekt bzw. der Provikar die gesamte Regierungsgewalt zu 50
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1. Abschnitt: Generalvikar und Weihbischof Um den Mainzer Provikar zu verstehen, ist es erforderlich, die beiden Ämter des Generalvikars und des Weihbischofs vorzustellen; denn an beiden hatte er regelmäßig Anteil. 1.1. Der Generalvikar § 1 Rechtsstellung I. Kommissionen Der erste Mainzer Generalvikar, von dem ein Kommissorium des Erzbischofs erhalten ist, war Nikolaus von Saulheim58. Erzbischof Konrad von Weinsberg (1390 – 1396) bestellte ihn zu seinem in spiritualibus Vicarium; das Beiwort generalem fehlt noch. Die Ernennung erfolgte auf unbestimmte Zeit, d. h. bis auf Widerruf. Der Erzbischof gibt ihm volle und freie Gewalt in Stadt und Diözese Mainz in allen Fällen, die dem Erzbischof zustehen, die im einzelnen aufgezählten Verwaltungsakte zu setzen. Er darf dispensieren, d. h. Ausnahmen von Gesetzen in einzelnen Fällen gewähren. Dabei ist vor allem an das Eherecht und das Weiherecht zu denken. Die Dispensation bezieht sich auf die Gesetze. Die Befugnis kommt dem Generalvikar nur in dem Umfang zu, wie sie der Diözesanbischof ausüben kann. Er darf absolvieren, d. h. von Sünden und von vorbehaltenen Fällen lossprechen sowie Strafen aufheben. Die Absolution bezieht sich auf die Zensuren, also Exkommunikation, Interdikt und Suspension. Er darf habilitieren, d. h. für fähig erklären, bestimmte Ämter zu übernehmen oder Funktionen auszuüben. Er darf restituieren. Das wird einmal von den Büßern gesagt, die der Einheit der Kirche „restituiert“ werden. Diese Tätigkeit ist aber auch im Ämterrecht gebräuchlich. Wenn jemand z. B. beim Benefizientausch zu Unrecht zu Schaden gekommen ist, darf der Generalvikar ihn in seine früheren Rechte einsetzen. Er darf Beicht hören. Das Bußsakrament kann er allerdings nur verwalten, wenn er Priester ist. Er darf Bußen auferlegen. Damit ist wohl an dieser Stelle auf die richterliche Gewalt des Beichtvaters gezielt, nicht auf die Strafgewalt, kraft der Strafbußen verhängt werden können. Alle die genannten Verwaltungsakte darf er auch anderen übertragen, aber nur in einzelnen Fällen. Die Übertragung der Gesamtheit seiner Befugnisse ist ihm versagt. Der Generalvikar darf weiter notorische Übertretungen und Verbrechen von Klerikern und Laien untersuchen, bestrafen und zurechtweisen nach den kanonischen Bestimmungen. Notorisch sind jene Vergehen, die so bekannt und bewiesen sind, daß sie keiner prozessualen Untersuchung bedürfen. In einer Generalklausel erhält er die Vollmacht, alles und jedes einzelne, was ein wahrer und rechtmäßiger Stellvertreter in geistlichen Dingen tun kann und muß, auszuüben, zu übernehmen und so lange in diesem Amt zu bleiben, bis der Apostolische Stuhl in anderer Weise Vorsorge getroffen hatte (c. 309 § 2). 58 Valentin Ferdinand Gudenus (Hrsg.), Codex diplomaticus anecdotorum res Moguntinas illustrantium, 5 Bde., Göttingen 1745 – 1758, II, 422 f.
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tun und zu betreiben, auch wenn es sich um viel schwerwiegendere Angelegenheiten handelt, als hier aufgeführt worden ist, und was er, der Erzbischof, selbst in geistlichen Dingen tun könnte, wenn er persönlich anwesend wäre. Er empfängt schließlich auch die Vollmacht, Widersacher und Widerspenstige, die ihm als dem Inhaber des Stellvertretungsamtes nicht den gebührenden Gehorsam leisten, mit seiner (des Erzbischofs) Machtbefugnis zu zwingen und anzuhalten durch kirchliche Zensur. Aus dieser Aufstellung ergibt sich, daß der Generalvikar zum Stellvertreter des Diözesanbischofs lediglich für die potestas iurisdictionis ernannt wurde. Der Vikar in geistlichen Angelegenheiten war der Stellvertreter des Erzbischofs in der Verwaltung, und zwar sowohl in der freiwilligen als auch in der zwangsmäßigen Verwaltung. Die Möglichkeit, sich vertreten zu lassen, war dem Generalvikar von Anfang an eingeräumt. Man vergleiche etwa die Kommission von 153359 mit jener von 1391. Ein beträchtlicher Teil der Regierungsgewalt des Diözesanbischofs blieb dem Generalvikar vorenthalten. Es sei an die Aufnahme in den Klerus, die Ausstellung von Dimissorialien für den Übergang in ein anderes Bistum, die Errichtung und die Veränderung von Kirchenämtern sowie deren Besetzung, die streitige Gerichtsbarkeit, die Berufung der Diözesansynode und die Ausbildung der Klerus erinnert. Im Jahre 1435 stellte Erzbischof Dietrich Schenk von Erbach (1434 – 1459) eine Kommission für Johannes Gutwein aus60. Die Kommission ist gegenüber jener von 1391 beträchtlich erweitert. Der Ton ist gehobener, die Einleitung holt weiter aus als 1391. Das Wort generalis, das 1391 noch gefehlt hatte, war jetzt dem Vicarius in spiritualibus beigesetzt. Zur Rechtfertigung dieses Zusatzes wird gleich am Anfang in einer Art Generalklausel dem Beamten alles übertragen, was der Erzbischof in geistlichen Angelegenheiten tun darf. Bei der Aufzählung der einzelnen Vollmachten und Aufgaben, die dem Generalvikar zugewiesen werden, steht die Aufrechterhaltung der kirchlichen Disziplin an erster Stelle. Sie betrifft Welt- und Ordensgeistliche aller Weihestufen bis hinauf zum Bischof, Laien und Juden beiderlei Geschlechts sowie Anhänger von Häresien. Ihrer aller Übertretungen, Verbrechen, Irrtümer und Verfehlungen hat der Generalvikar zu erforschen und zu verfolgen. Er ist beauftragt, über den Zustand der Stiftskirchen, der Kapitel und der Konvente sowie der Benefizien zu wachen und Mängel und Mißstände zu rügen und zu beseitigen. Dem Generalvikar ist aufgetragen, Kloster- und Stiftsobere, Kanoniker, Vikare, Altaristen, Pfarrer und Vizepfarrer und andere Benefiziaten, Kleriker und kirchliche Personen aller Grade beiderlei Geschlechts zu Erfüllung der Pflichten ihrer Positionen und ihres Standes anzuhalten. Von den Klerikern, die Benefizien 59 Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz, Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1897, 112 – 277, hier 221 – 224. 60 StA Würzburg MIB 22 fol. 77r–78v; 28 A fol. 222r–223v; Gudenus (wie Anm. 58), II, 425.
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innehaben, darf er Auskunft über ihre Stiftungsbriefe und den kanonischen Titel ihrer Benefizien verlangen. Er hat auf persönliche Residenz und Erfüllung der Stiftungsverbindlichkeiten zu dringen. Ebenso soll er auf ihren Lebenswandel und ihre Standespflichten achten. Dazu gehört, daß sie die erforderlichen Weihen rechtzeitig empfangen. Dem Generalvikar wird auch die Durchführung der Provinzial- und Synodalstatuten übertragen. Wo es notwendig ist, hat er in Pfarrkirchen ständige Vikare zu bestellen und ihnen die portio congrua anzuweisen. Der Erzbischof überträgt seinem Generalvikar auch die Vollmacht, von den ihm vorbehaltenen oder delegierten Fällen zu absolvieren und zu dispensieren. In weitem Umfang wird der Generalvikar mit Rechtsprechungsgewalt ausgestattet. Sie betrifft Benefizial-, Ehe-, Wucher-, Testaments- und Nachlaßsachen sowie sachliche und persönliche Klagen. Er darf den Verzicht auf Benefizien und Dignitäten sowie den Tausch von Benefizien prüfen und im Falle der Rechtswidrigkeit aufheben. Klagen über die erwähnten Rechtsgeschäfte darf er annehmen und richterlich entscheiden. Das gilt auch für Berufungsstreitigkeiten in den erwähnten Gegenständen. Allgemein wird dem Generalvikar aufgetragen, alles zu tun, anzuordnen, auszuführen und zu betreiben, was zur Vermehrung des Gottesdienstes und zur Besserung des Klerus gereicht und dazu notwendig oder dienlich ist. Gegen Ende der Kommission erklärt der Erzbischof, daß der Generalvikar die vorgenannten Aufgaben auch dann erfüllen kann, wenn sie ein Spezialmandat (mandatum magis speciale) erfordern. Widerstände gegen seine Gebote oder Verfügungen kann er durch Verhängung kirchlicher Zensuren brechen. Die Übertragung der genannten Vollmachten besagt nicht, daß sich der Bischof des Rechtes begibt, in allen vorgenannten Fällen selbst einzugreifen und zu handeln; vielmehr wahrt er sich dafür volle und freie Gewalt. In den folgenden Jahrhunderten blieb die Rechtsstellung des Generalvikars so, wie sie bis dahin geworden war. Es ist wahr, daß, wie Bruno Krusch schrieb, das Formular der Bestellung des Generalvikars von 153861 mit jenem von 1435 weitgehend übereinstimmt, doch nicht ganz. Ich nenne einen bedeutsamen Unterschied. In der Kommission von 1435 ist ein Passus enthalten, in dem Vorsorge getroffen ist für den Fall, daß der Generalvikar nicht Priester ist. Er hat sich dann im forum conscientiae aller Tätigkeiten zu enthalten und muß dafür einen (oder mehrere) Priester bestellen. Den oder die so Beauftragten macht der Erzbischof zu seinem Generalvikar bzw. seinen Generalvikaren. Die Stelle ist für die Vertretung des Generalvikars von großer Bedeutung. Sie zeigt, daß man damals noch recht unbeholfen war, wenn es darum ging, Stellung und Titel des Vertreters des Generalvikars zu formulieren. In den folgenden Jahrhunderten änderte sich im wesentlichen nichts an den Kommissionen für den Generalvikar. Die Erschütterungen des 16. Jahrhunderts gingen an dem Formular beinahe spurlos vorüber. Ich erinnere an die Kommission vom 26. November 159862. Stilistische Veränderungen bewirkten keinen Wandel 61 62
StA Würzburg MIB 56 fol. 216v–217v; Krusch (wie Anm. 59), 221 – 224. StA Würzburg MIB 77 fol. 215r–216v.
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der Stellung des Generalvikars. So sind beispielsweise bei den Weihen, zu deren Empfang Inhaber von Benefizien verpflichtet sind, neben dem Presbyterat der Subdiakonat und der Diakonat genannt. Die Absolution und die Dispensation in Fällen, die dem Erzbischof vorbehalten sind, werden an sein Vorwissen und seine Zustimmung gebunden. Bei den dinglichen und persönlichen Klagen wird darauf hingewiesen, daß sie durch Gewohnheit oder Recht zum Geschäftsbereich des Vikariates gehören. Bei der Besetzung der durch Verzicht oder Tausch freigewordenen Benefizien wird dem Generalvikar auferlegt, sie mit geeigneten und qualifizierten Personen zu besetzen. Im Jahre 1763 hatte sich die Kommission des Generalvikars nicht verändert63. Bei den Personen, deren Verfehlungen der Generalvikar nachzugehen hat, werden Laici de haeretica pravitate suspecti nicht vergessen. Bei den Juden wird hinzugefügt: quantum ad ritus eorum. Ihnen werden die sectae angeschlossen. Bei der Gerichtsbarkeit über die Ehesachen wird – in Abgrenzung zur staatlichen Kompetenz – erklärt: quoad substantiam (scil. tantum). II. Bezeichnung, Herkunft und Bildung Die Mainzer allgemeinen Stellvertreter des Bischofs wurden seit dem 14. Jahrhundert als Vikare bzw. Generalvikare tituliert. Der Stil der Römischen Kurie war ein anderer. In den Schreiben der Datarie wurde der allgemeine Stellvertreter des Bischofs als Officialis bezeichnet. Nach gemeinem Recht waren die Bezeichnung Generalvikar und Offizial gleichbedeutend. Im Liber Sextus64 und wohl auch auf dem Konzil von Trient65 wurden beide Namen für ein und dasselbe Amt gebraucht. Das Amt des Generalvikars war das wichtigste im Bistum. Das Mainzer Metropolitankapitel bestand darauf, daß die Generalvikare aus seinem Gremium entnommen wurden, und hatte damit zumeist Erfolg66. In der Zeit von 1647 bis 1797/ 1801 hatten 14 Domkapitulare das Amt des Generalvikars inne67. Der Posten des Generalvikars war zu einem angesehenen und begehrten geworden. Die Generalvikare der Mainzer Bischöfe des 18. Jahrhunderts68 waren hochadelige Herren. Die Generalvikare waren, einen ausgenommen, Priester. 63
StA Würzburg Aschaffenburger Archivreste 210/32 (10. August 1763). VI 1,13,3. 65 Conc. Trid. Sess. 24 cap. 16 und 18 de ref.: Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hrsg. von Joseph Alberigo/Joseph A. Dossetti/Perikles-P. Joannou/Claudius Leonardi/ Paul Prodi unter Mitwirkung von Hubert Jedin, 3. Aufl. Bologna 1973, 769, 770 – 772. 66 Für das 14. und 15. Jahrhundert vgl. Michael Hollmann, Das Mainzer Domkapitel im späten Mittelalter (1306 – 1476) (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 64), Mainz 1990, 506; insgesamt vgl. Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, 3 Bde., Würzburg 1997 – 2002, III, 1757 f. 67 Friedhelm Jürgensmeier, Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Zerfall von Erzstift und Erzbistum 1797/1801, in: Jürgensmeier (wie Anm. 66), III, 321. 68 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 321 – 324. 64
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Die Mainzer Generalvikare hatten regelmäßig ein Studium an der Universität absolviert und teilweise einen akademischen Grad erworben. Kanonistische Bildung rangierte vor theologischen Kenntnissen. III. Rechtsstellung Die Rechtsstellung des Generalvikars69 läßt sich wie folgt beschreiben. In den deutschen Diözesen wurde seit dem hohen bzw. späten Mittelalter als allgemeiner Stellvertreter des Diözesanbischofs für die Verwaltung, in Mainz auch für die Gerichtsbarkeit, ein Generalvikar bestellt. Die Ernennung mehrerer Generalvikare70, wie sie in Frankreich üblich war, hat sich in den deutschen Diözesen nicht durchsetzen können. Die Kanonisten sprachen sich dafür aus, daß der Bischof zwei Generalvikare in solidum ernennen könne71, d. h., der eine tritt in die Funktion des anderen ein, wenn dieser verhindert ist. Mit dieser Konstruktion wurde die Einzigkeit des Generalvikars nicht gesprengt; sie war die Grundlage für die Einführung des Provikars. Die juristische Eigenart des Generalvikars folgt dem Recht des römischen Prokurators: Der Bischof beruft ihn frei und beruft ihn frei ab. Er ist das Alter Ego des Bischofs. Sein Amt erlischt mit dem des Bischofs. Sein Amtskreis kann durch Spezialmandate72 erweitert werden. Von einer beträchtlichen Zahl von Handlungen des Diözesanbischofs ist der Generalvikar von Rechts wegen ausgeschlossen. Er übt die Jurisdiktion an Stelle des Bischofs und in dessen Namen aus. Was er tut, gilt als vom Bischof getan. Der Generalvikar ist Stellvertreter des Diözesanbischofs. Seine Befugnisse sind daher abgeleitet. Er kann sie nicht insgesamt auf einen anderen übertragen, sich also einen Substituten bestellen73. Der Generalvikar hat ordentliche, d. h. mit dem Amt verbundene, aus dem Amt fließende Jurisdiktion. Von manchen wird ihm eine jurisdictio quasiordinaria zugeschrieben. Sie umfaßt die ordentliche Jurisdiktion des Diözesanbischofs, ausgenommen die vom Recht oder vom Bischof vorbehaltenen Gegenstände.
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Hermes, Generalvikar: Kirchenlexikon V, 2. Aufl., 1888, 264 – 280; Joseph Augustin Ginzel, Handbuch des neuesten in Oesterreich geltenden Kirchenrechtes, 2 Bde., Wien 1857 – 1862,1, 276 – 283; Johann Friedrich Schulte, System des allgemeinen katholischen Kirchenrechts, Gießen 1856, 271 – 275; Hinschius (wie Anm. 10), II, 205 – 227. 70 Clem. 2 de rescr. I.2; Conc. Trid. Sess. XIII. c. 1.4 de ref; Sess. XXIV. c. 3.6.12.18 de ref.; Sess XXV. c. 17 de regul.; c. 6 de ref. sprechen nur von einem Generalvikar. 71 Hinschius (wie Anm. 10), II, 220; Walther Kaempfe, Die Begriffe der Jurisdictio ordinaria, quasiordinaria, mandata und delegata im römischen, canonischen und gemeinen deutschen Recht und die zwischen diesen Jurisdictions-Arten obwaltenden Unterschiede, Wien 1876, 189. 72 Eine Aufstellung der Jurisdiktionsakte, die der Generalvikar nicht ohne Spezialmandat vornehmen kann, findet sich bei Theodor Friedle, Ueber den bischöflichen Generalvikar: Archiv für katholisches Kirchenrecht 15, 1866, 360 – 363. Vgl. Hinschius (wie Anm. 10), II, 214 f. 73 Hinschius (wie Anm. 10), II, 221.
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Die Mainzer Generalvikare waren mehrheitlich beständig in ihrem Amt. Häufig übernahm ein Bischof den Vikar seines Vorgängers. Anselm Franz von Hoheneck beispielsweise diente vier Mainzer Erzbischöfen als Generalvikar (1678 – 1704)74. Vulpert von Ders behielt das Amt des Generalvikars bis zu seinem Tode (am 25. April 1478)75, ebenso Dietrich Zobel von Giebelstadt (6. Oktober 1531)76. Manche wurden aus Altersgründen von dem Amt entlastet wie beispielsweise Johannes Fock von Walstatt (am 17. Dezember 1562)77. Georg von Schönenburg blieb noch Mainzer Generalvikar, als er zum Bischof von Worms erhoben wurde (bis 1584)78. § 2 Vertretung Herkunft, Rang und Aufgaben mögen dafür verantwortlich sein, daß sich die Mainzer Generalvikare nicht selten außerhalb der Bischofsstadt befanden. Jürgensmeier spricht richtig von „dem … häufig nicht anwesenden Generalvikar“79. Die Protokolle der Sitzungen des Generalvikariats, die am Kopf regelmäßig die Anwesenden aufführen, bestätigen diese Feststellung. Die Geschäfte der Behörde mußten aber weitergehen. So machte sich die Notwendigkeit bemerkbar, sich vertreten zu lassen bzw. einen Vertreter zu bestellen. Der Generalvikar konnte aus eigener Befugnis keinen allgemeinen Stellvertreter bestimmen. Dazu war nur der Diözesanbischof imstande. Der Generalvikar Johannes Münch von Rosenberg verließ auf Befehl des Diether von Isenburg (1459 – 1461, 1475 – 1482) für eine Zeitlang die Erzdiözese80, so daß er dem (ihm verbleibenden) Amt nicht nachkommen konnte. An seiner Stelle bestimmte der (gewählte) Erzbischof Diether den Johannes von Bellersheim zum Generalvikar81. Die Bestellung sollte gelten bis zum Widerruf durch ihn, den Erzbischof, oder den Generalvikar Johannes Münch von Rosenberg82. Mit dieser Ernennung wurde das Prinzip, daß nur ein einziger Generalvikar in der Erzdiözese Mainz bestellt wurde, nicht durchbrochen. Denn der neue Generalvikar nahm die Funktionen eines solchen nur wahr, sofern und solange der alte dazu nicht fähig oder gewillt war. Etwas anderes als die Vertretung des im Amt befindlichen, aber handlungsunfähigen Generalvikars ist die Vertretung des nicht (mehr) vorhandenen Generalvi74
Gudenus (wie Anm. 58), II, 433. Gudenus (wie Anm. 58), II, 429. 76 Gudenus (wie Anm. 58), II, 431. 77 Gudenus (wie Anm. 58), II, 431 f. 78 Gudenus (wie Anm. 58), II, 432. 79 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 319. 80 Gudenus (wie Anm. 58), IV, 333 f. Nr. 154. 81 Tibi vices suas committimus, te in Vicarium nostrum generalem, propter eius absentiam, loco eiusdem deputando. 82 Gudenus (wie Anm. 58), IV, 333 f. (1459). 75
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kars. Es folgte nämlich in Mainz nach dem Ausscheiden des Generalvikars aus dem Amt nicht immer sogleich und ohne zeitlichen Zwischenraum die Ernennung eines neuen. Umstände verschiedener Art konnten dafür verantwortlich sein, daß sich die Besetzung des Amtes mit einem neuen Inhaber verzögerte. Am 23. Januar 1484 sprach der Administrator Albrecht von Sachsen (1482 – 1484) den Johannes Fust als officii vicariatus nostri in spiritualibus generalis locum tenens an83. Er hatte also das Amt zu verwalten, ohne dessen Inhaber zu sein; es war ihm nicht in titulum übertragen. Er nahm die Stelle des Generalvikars ein, aber er war nicht Generalvikar. Als Motiv dieser provisorischen Ernennung kann man vermuten, daß Albrecht wegen seiner Position als bloßer Administrator des Erzbistums sich nicht für befugt hielt, einen Generalvikar zu bestellen. Aber auch unter Berthold von Henneberg (1484 – 1504) änderte sich zunächst nichts. Am 9. Juli 1485 war Johannes Fust noch immer „Officii vicariatus in Spiritualibus generalis locum tenens“84. Dieser Zustand hielt mehrere Jahre an. Erst am 7. September 1487 ernannte Berthold den Wolf von Bicken zum Generalvikar85. Man kann mutmaßen, warum Berthold zögerte, das Amt des Generalvikars mit einem wirklichen Inhaber zu besetzen. Vielleicht stand ihm der Mann, den er dafür als voll geeignet ansah, nicht zur Verfügung. Daß Wolf von Bicken der Vertrauensmann des (häufig abwesenden) Erzbischofs war, steht fest86. Ähnliche Vorgänge lassen sich übrigens für andere Diözesen nachweisen. Aus dem Bistum Speyer liegt für den 6. Oktober 1490 eine Urkunde vor, die von dem Vertreter des Generalvikars ausgestellt ist87. Generalvikar des Speyerer Bischofs Ludwig von Helmstädt (1478 – 1504) war damals Philipp von Rosenberg; sein locum tenens, ad infrascripta specialiter deputatus war Diether Riebeisen, Sexpraebendarius der Speyerer Kathedralkirche. Das Beispiel, das Diether von Isenburg gegeben hatte, wiederholte sich. Der Generalvikar Wilhelm von Hohenstein war in Geschäften der Mainzer Kirche und in eigenen von der Stadt Mainz abwesend. Am 3. Januar 1506 bestellte Erzbischof Jakob von Liebenstein (1504 – 1508) für den Fall seiner Abwesenheit den Dietrich Gresemund zu seinem Vertreter (toties quoties eum … extra civitatem nostram Moguntinam abesse contigerit). Er trat in alle Rechte und Befugnisse desselben ein88. Er erhielt die Befugnis agendi, audiendi, decidendi et fine debito terminandi usque ad nostram revocationem. Gresemund wird in der Literatur als Provikar oder
83 StA Würzburg MIB 40 fol. 413r; Stephan Alexander Würdtwein, Monasticon Palatinum V, Mannheim 1796, 259. 84 Ludwig Baur, Hessische Urkunden V, Darmstadt 1873, 259 – 271. 85 StA Würzburg MIB 46 fol. 133r–134r. 86 Rolf Decot, Das Erzbistum im Zeitalter von Reichsreform – Reformation – Konfessionalisierung (1484 – 1648), in: Jürgensmeier (wie Anm. 66), III, 21 – 232, hier 27, 30. 87 Franz Xaver Remling (Hrsg.), Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe von Speyer, Bd. 2, Jüngere Urkunden, Mainz 1853, 423 – 426 Nr. 223. 88 StA Würzburg MIB 49 fol. 81v–82r; Georg Christian Joannis, Rerum Moguntiacarum libri quinque, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1722 – 1727, II, 312 f., 400 f.
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gar als provicarius generalis bezeichnet89. In den Quellen habe ich dafür keinen Beleg gefunden. Im besonderen findet er sich in der Kommission Gresemunds nicht. Dennoch ist unbestreitbar, daß er ständiger (toties quoties) Ersatzmann des (abwesenden) Generalvikars war90. Als Vertreter des anwesenden, aber verhinderten Generalvikars fungierte er nicht; insofern ist er nicht der erste Provikar Mainzer Zuschnitts. Johannes Richard Schütz von Holtzhausen wurde angeblich nach dem Verzicht des Johannes Schweikard von Kronberg (am 27. Februar 1595) zunächst Provikar (am 16. August 1595). Einen Beleg dafür, daß er diesen Titel führte, habe ich nicht gefunden. Schütz war nicht Vertreter des Generalvikars, sondern Ersatzmann für den nicht vorhandenen Generalvikar. Wir wissen nicht, warum er das Amt jahrelang nur als Ersatzmann innehatte. Erst am 16. August 1598 rückte er zum Generalvikar auf91. In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges war das Amt des Mainzer Generalvikars zwei Jahre lang (1634 – 1636) unbesetzt92. Vermutlich waren die Verhältnisse so schwierig und unübersichtlich93, daß der im Kölner Exil weilende Erzbischof Anselm Casimir Wambolt von Umstadt (1629 – 1647) sich geraume Zeit nicht getraute, einen solchen zu ernennen. Doch erscheint unter seinem Episkopat zum ersten Mal ein (echter) Provikar, wie weiter unten gezeigt werden wird. Vertretungen des Generalvikars mögen auch weiterhin vorgekommen sein. Nicht von allen ist uns eine Kunde überliefert. Im Jahre 1700 vertrat der Geistliche Rat Quirin Kunkel den Generalvikar Anselm Franz von Hoheneck94. 1.2. Der Weihbischof § 1 Existenz, Herkunft, Bildung und Ausstattung I. Existenz In der Erzdiözese Mainz wurden frühzeitig Bischöfe fremder Diözesen zur Mithilfe und Aushilfe bei Pontifikalfunktionen herangezogen. Schließlich ging man dazu über, eigene, ständige Titularbischöfe zur Unterstützung des Diözesanbischofs anzustellen. Die eigentlichen Weihbischöfe in der Erzdiözese Mainz setzen mit dem 89
Johann Peter Schunk, Beyträge zur Mainzer Geschichte II, Frankfurt/Leipzig 1789, 496. Joannis (wie Anm. 88), II, 400 f.: partes Vicarii in spiritualibus … vicarias mandaret. 91 Gudenus (wie Anm. 58), II, 432. 92 Gudenus (wie Anm. 58), II, 433. 93 Hermann-Dieter Müller, Der Schwedische Staat in Mainz 1631 – 1636, Einnahme, Verwaltung, Absichten, Restitution (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz 24), Mainz 1979. 94 Georg May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verwaltung in der Erzdiözese Mainz vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Reichskirche, 2 Bde. (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 111), Mainz 2004, I, 252. 90
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14. Jahrhundert ein95. Es existieren mehrere Verzeichnisse der Weihbischöfe96. In den deutschen Diözesen wurden schon deswegen notwendigerweise Weihbischöfe bestellt, weil die Diözesanbischöfe neben ihrer geistlichen Würde eine weltliche Position innehatten und deswegen ihren kirchlichen Verpflichtungen nur bedingt nachkommen konnten; ihre Existenz ermöglichte erst das Funktionieren der geistlichen Landesherrschaft. „Denn auf den Schultern der Weihbischöfe ruhte mehr oder weniger die geistliche Betreuung und auch ein gut Teil der Verwaltung der anvertrauten SprengeI“97. In der weit auseinandergezogenen Erzdiözese Mainz gab es jahrhundertlang zwei Weihbischöfe, einen in partibus Rheni98 und einen in partibus Thuringiae99. II. Herkunft und Bildung Die Weihbischöfe konnten dem clerus saecularis oder regularis entnommen werden. Lange Zeit stammten in vielen Diözesen die Weihbischöfe aus den Orden. So waren alle bekannten Mindener Weihbischöfe Ordensleute100. Hier standen gebildete und selbstlose Männer zur Verfügung, die sich willig in ihre (abhängige) Stellung einfügten. Während ihrer weihbischöflichen Stellung ruhten die Gelübde der Armut und des Gehorsams. Die klösterlichen Verbände wurden zu ihrem Unterhalt herangezogen101. In der Erzdiözese Mainz kam man jedoch bald davon ab, Ordensleute zu Weihbischöfen zu machen, und berief Diözesangeistliche in diese Stellung102. Offensichtlich fehlte es nicht an Männern aus dem Weltklerus, die dem Dienst gewachsen waren. Zahlreiche Weihbischöfe gehörten Dom- und Stiftskapiteln an, und nicht wenige hatten eine Diginität inne. Die Weihbischöfe der Reichskirche waren in der Regel gebildete Männer. Wohl die meisten hatten eine Universität besucht. In der Erzdiözese Mainz standen zwei dieser Bildungsanstalten zur Verfügung, Erfurt und Mainz. Mancher Weihbischof wurde von einem Universitätskatheder zu seinem Amt berufen103. Für Mainz steht fest: Alle Weihbi95
Jürgensmeier (wie Anm. 67), 324 – 348. Elenchus Suffraganeorum Moguntinensium: Joannis (wie Anm. 88), II, 417 – 454; Elenchus Suffraganeorum Erfurtensium: Gudenus (wie Anm. 58), IV, 804 – 839; Friedhelm Jürgensmeier, Das Bistum Mainz, Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte Bd. 2), Frankfurt a.M. 1988, 327 f. 97 Heribert Raab, Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels und der Jansenismus: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 19, 1967, 41 – 60, hier 50. 98 Joannis (wie Anm. 88), II, 417 – 454. 99 Gudenus (wie Anm. 58), IV, 804 – 839. 100 Franz Xaver Schrader, Die Weihbischöfe, Offiziale und Generalvikare von Minden vom 14. bis zum 16. Jahrhundert: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde 55, 1897, 2. Abt., 3 – 92, hier 5. 101 Nikolaus Reininger, Die Weihbischöfe von Würzburg, Ein Beitrag zur fränkischen Kirchengeschichte (= Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg Bd. 18), Würzburg 1865, 173. 102 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 324 – 348. 103 Reininger (wie Anm. 101), 200, 221, 234, 281, 297. 96
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schöfe hatten ein Universitätsstudium absolviert, viele einen akademischen Grad erworben104. Da die Mainzer Weihbischöfe seit der Frühen Neuzeit fast ausschließlich Weltgeistliche waren105, waren sie regelmäßig mit der Seelsorge und der kirchlichen Verwaltung vertraut. Von 14 Weihbischöfen (seit 1680) waren acht vorher als Fiskal, Siegler oder Offizial, andere in der Pfarrseelsorge tätig106. Im Einsatz waren die Weihbischöfe gewöhnlich sehr beweglich. Viele von ihnen übten bischöfliche Funktionen in mehreren Diözesen aus. Im 15. Jahrhundert hatten Minden und Hildesheim lange Zeit einen gemeinsamen Weihbischof107. Nicht selten wechselte ein Weihbischof von einem Bistum in ein anderes. Daß ein Weihbischof zum Diözesanbischof aufrückte, war relativ selten. III. Ausstattung Die Weihbischöfe hatten ein Amt mit bestimmten Funktionen inne108. Sie erhielten bei ihrer Anstellung eine Kommission, in der ihre Rechte und Befugnisse aufgeführt waren. Die Formulare der Ernennung haben selbstverständlich eine gewisse Entwicklung durchgemacht, doch eine wesentliche Veränderung trat nicht ein. Am 21. Januar 1383 stellte Erzbischof Adolf I. von Nassau (1381 – 1390) eine Kommission für Jacobus, den Episcopus Lavacensis, aus109. Danach galt folgendes: Er kann in Stadt und Diözese Mainz die heiligen Weihen, höhere und niedere, zu den vom Recht festgesetzten Zeiten erteilen, Klöster, Kapellen und Altäre sowie Friedhöfe konsekrieren und rekonziliieren, Klosterfrauen mit dem Schleier versehen, Büßer beiderlei Geschlechts entsühnen und versöhnen (intronizare et reconciliare), kirchliche Schmuckgegenstände (ornamenta), bischöfliche und priesterliche Kelche und Gewandstücke und alles, was zum Gottesdienst gehört, konsekrieren und benedizieren, Chrisam, heiliges Öl (Katechumenenöl) und Krankenöl am Gründonnerstag in der Stadt Mainz herstellen (conficere) sowie alles tun, was hinsichtlich der vorgenannten Gegenstände notwendig oder nützlich ist. Dazu gibt ihm der Erzbischof seine auctoritas und freie und volle Erlaubnis und seine Stellvertretung (vices). Er erhält weiter volle Gewalt, alle Untergebenen in Fällen, die dem Erzbischof von Rechts wegen oder durch Gewohnheit besonders vorbehalten sind, zu absolvieren, non tamen locacione vel ob questum aliquem, sed tantum in foro iustitie (nicht aber durch Verpflichtung zur Dienstleistung oder wegen irgendeines Gewinnes, sondern lediglich im Bereich der Gerechtigkeit). Es darf niemand absolviert werden, der zur Einlösung der Zehnten oder zur Herausgabe der fagorum (Nahrungsmittel) verpflichtet ist, wenn er nicht vorher die Einlösung 104
Jürgensmeier (wie Anm. 67), 328 f. Jürgensmeier (wie Anm. 67), 325. 106 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 328. 107 Schrader (wie Anm. 100), 6. 108 Schulte (wie Anm. 69), 263 – 266; Ginzel (wie Anm. 69), 274 – 276; Hinschius (wie Anm. 10) II, 161 – 182. 109 Joannis (wie Anm. 88), II, 429 f. 105
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vorgenommen hat. Darüber, daß diese Einnahmen für fromme Zwecke Verwendung finden, ist ihm, dem Erzbischof, oder seinem Spezialkommissar Rechenschaft zu legen. Kirchen, Kapellen und Altäre, die neu errichtet werden, darf der Weihbischof erst dann konsekrieren (ausgenommen Altäre in Kirchen oder Klöstern von Religiosen), wenn sie ausgestattet sind mit wenigstens 18 Pfund Hallensen. Dafür ist ihm, dem Weihbischof, der Beweis zu führen. Er darf Kleriker nur zu den heiligen Weihen zulassen, wenn sie zuvor mit einem Benefizium ausgestattet sind oder eigenes Vermögen bzw. sichere Einkünfte haben. Das ist von den weltlichen Behörden, unter deren Herrschaft die Vermögensstücke und die Einkünfte sich befinden, sicherzustellen. Ebenso müssen die Kleriker, die geweiht werden sollen, angemessen ausgebildet sein (competenter literati) und über diese Ausbildung durch die geschworenen Kleriker des Erzbischofs oder – bei deren Abwesenheit – durch seine, des Weihbischofs, familiares geprüft sein. Für die litterae formatae110 oder andere Dokumente ist die alte gewohnte Gebühr zu entrichten; sie darf nicht überschritten werden. Damit er bei der Ausführung der ihm übertragenen Aufgaben nicht behindert wird, darf der Weihbischof die Wirkung von Urteilen, kirchlichen Interdikten und der Einstellung des Gottesdienstes aufheben, nachlassen oder unterbrechen. Diese Vollmacht wird ihm nur gegeben in Fällen, wo er selbst körperlich zugegen ist, und zu dem Zweck, die vorgenannten Handlungen des bischöflichen Amtes zu verrichten. In Zukunft änderte sich an den inhaltlichen Befugnissen des Weihbischofs kaum etwas. Als Erzbischof Konrad von Weinsberg (1390 – 1396) den Augustinereremiten Friedrich von Mülhausen zum Weihbischof bestellte, gab er ihm Vollmacht in illis, que pontificalis officii existunt111. Er vermochte sich auf das bischöfliche Amt zu berufen, weil feststand, was zu ihm gehörte. Schon damals waren die Amtsbezirke des thüringischen und des rheinischen Weihbischofs voneinander abgegrenzt. In der Kommission für den Weihbischof Friedrich von 1392 ist der Amtsbereich wie folgt beschrieben: ex illa parte Rheni, scilicet qua civitas Maguntina situata existit, necnon ex alia parte versus Hassiam, usque ad opida Orba, Geilnhausen et Puzbach nostre diocesis inclusive, necnon undique ex alia parte Mogani112. Es war also eine Linie gezogen, die durch die Städte Orb, Gelnhausen und Butzbach bezeichnet wurde. Die Kommission für den Erfurter Weihbischof hatte einen ähnlichen Inhalt wie jene für den in Mainz residierenden. Im Jahre 1420 wurde Henricus, Episcopus Adrimitanensis, zum Vicarius in pontificalibus für die nördlichen und östlichen Teile des Mainzer Erzbistums bestellt113. Als Wirkbereich werden Hessen, Sachsen, 110
Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., 3. Aufl. Freiburg i. Br. 1914, I, 205, 241. 111 Joannis (wie Anm. 88), 430 (1392, 1399). 112 Joannis (wie Anm. 88), II, 430. 113 StA Würzburg MIB 17 fol. 132r; Gudenus (wie Anm. 58), IV, 811 f.; Sebastian Severus, Memoria Propontificum Moguntinorum, Aschaffenburg 1763, 48; Franz August Koch, Die
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Westfalen, Thüringen und die benachbarten Gebiete angegeben (selbstverständlich nur, soweit die Erzdiözese Mainz Anteil an diesen Landschaften hatte) bis zu der Grenze der Städte Orb, Gelnhausen und Butzbach, diese ausgeschlossen. An erster Stelle wird die Vollmacht, heilige Weihen zu spenden, genannt. Der Weihbischof darf bei der Verwaltung des Bußsakramentes alle Untergebenen des Erzbischofs von den Sünden lossprechen, und zwar auch in Fällen, die diesem vom Recht oder durch Gewohnheit besonders vorbehalten sind. Er darf Kirchen, Kapellen und Altäre, die neu erbaut sind, konsekrieren. Doch müssen sie wenigstens mit 25 Gulden jährlicher Einkünfte ausgestattet sein. Klerikern darf er nur dann die heiligen Weihen spenden, wenn sie zuvor Benefizien oder Vermögen erlangt haben, wovon sie angemessen leben können. Ebenso müssen sie genügend gebildet sein und diese Bildung durch ein Examen nachgewiesen haben. Damit der Weihbischof den ihm aufgetragenen geistlichen Verpflichtungen nachgehen kann, darf er die Wirkung von Urteilen, die Einstellung des Gottesdienstes und das Interdikt bis zum Abschluß der Pontifikalhandlungen an den entsprechenden Orten aufheben und nachlassen. In vielen Bistümern hatte eine beträchtliche Anzahl von Weihbischöfen zuvor das Amt des Generalvikars inne114. Manche Weihbischöfe behielten das Amt des Generalvikars, das sie vorher innehatten, als konsekrierter Bischof bei115. Andere Weihbischöfe hatten gleichzeitig das Amt des Generalvikars inne116. In der Gestalt des Dominikaners Dr. theol. Siegfried Piscatoris117 begegnet uns in der Erzdiözese Mainz ein Mann, der gleichzeitig Weihbischof und Generalvikar war. Er war in pontificalibus et spiritualibus Vicarius generalis des Erzbischofs Dietrich Schenk von Erbach (1434 – 1459)118. Als solcher gab er einem Adligen und dessen Hausgenossen Dispens vom Verbot des Essens von Eiern an den Freitagen auctoritate ordinaria. Erzbischof Johannes Schweikard von Kronberg (1604 – 1626) gab am 16. November 1610 dem Erfurter Weihbischof Kornelius Gobelius folgende Kommission119. Als Begründung für die Bestallung des Weihbischofs gibt der Erzbischof seine Sorge für die Pontifikalhandlungen und die göttlichen Dinge an. Er bestellt Erfurter Weihbischöfe: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Alterthumskunde 6, 1865, 31 – 126, hier 77 f.; Jakob Feldkamm, Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 21, 1900, 1 – 93, hier 53 f. 114 Reininger (wie Anm. 101), 221, 234. 115 Reininger (wie Anm. 101), 243 f. 116 Reininger (wie Anm. 101), 248; Adolf Tibus, Geschichtliche Nachrichten über die Weihbischöfe von Münster, Ein Beitrag zur Specialgeschichte des Bisthums Münster, Münster 1862, 77, 201. 117 Ingrid Heike Ringel, Studien zum Personal der Kanzlei des Mainzer Erzbischofs Dietrich von Erbach (1439 – 1459) (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 34), Mainz 1980, 122 f., 209 A. 10. 118 Gudenus (wie Anm. 58), II, 427 f. 119 StA Würzburg MRA H 1580. Vgl. Severus (wie Anm. 113), 53 f.; Koch (wie Anm. 113), 98 f.; Feldkamm (wie Anm. 113), 77 f.
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ihn kraft seiner Amtsgewalt (auctoritate nostra ordinaria) zu seinem generalem in Pontificalibus Vicarium und überträgt ihm ea quae muneris atque officii Pontificalis sunt für die ganze Diözese Mainz, besonders für Hessen, Thüringen, das Eichsfeld und jene Orte, an denen die früheren Weihbischöfe das officium Pontificale ausgeübt haben. Als Grenze werden die jenseits der Städte Orb, Gelnhausen und Butzbach liegenden Bistumsteile angegeben. Er soll dort die heiligen Weihen, sowohl die niederen als auch die höheren, zu den vom Recht festgesetzten Zeiten geeigneten Personen spenden, Kirchen, Kapellen, Altäre und Friedhöfe weihen (consecrare) und entweihte entsühnen (reconciliare), Äbte und Äbtissinnen feierlich weihen (benedicere), gottgeweihten Jungfrauen den Schleier auflegen, öffentliche Büßer wieder in die Einheit der Kirche aufnehmen und mit ihr versöhnen, Kelche, Bücher und Kleidungsstücke der Bischöfe und Priester sowie die übrigen gottesdienstlichen Schmuckgegenstände (ornamenta) widmen (dicare) und segnen (benedicere), Chrisam, heiliges Öl und Krankenöl am Gründonnerstag bereiten und weihen (consecrare), das Sakrament der Firmung denen, die es erbitten, mitteilen, die vom gemeinen Recht gewährten Ablässe spenden und alles andere tun, was in den vorgenannten Verrichtungen der Erzbischof selbst tun würde. Er darf weiterhin alle Gläubigen beiderlei Geschlechts von den Sünden, die sie ihm bekennen, und von den vorbehaltenen Fällen lossprechen. Inhaber fremder Güter, die zur Herausgabe verpflichtet sind, darf er erst dann lossprechen, wenn sie zuvor den rechtmäßigen Erben (falls solche vorhanden sind) oder den Fabrikmeistern der Domkirche volles Genüge geleistet oder wenigstens versprochen haben. Altäre, Kirchen und Kapellen, die außerhalb der Klöster gelegen sind, darf er erst konsekrieren, wenn zuvor durch rechtmäßige Urkunden feststeht, daß sie aufgrund ordentlicher Machtvollkommenheit und mit Erlaubnis des Erzbischofs errichtet worden sind und ein Widmungsgut von 24 Gulden (die von jeder bürgerlichen Last frei sind) rechtmäßig angewiesen ist. Er darf keinen Kleriker zu irgendeiner Weihestufe befördern, wenn er nicht zuvor gemäß den Bestimmungen des kanonischen Rechts durch ein sorgfältiges Examen fähig und geeignet und wissenschaftlich genügend gebildet befunden und zugelassen worden ist. Auch muß er über so viele zeitliche Güter verfügen, daß er davon anständig leben kann, oder mit kirchlichen Benefizien, die 24 Gulden eintragen, versehen sein. Zur ungestörten Ausübung der ihm aufgetragenen Funktionen darf er die Cessatio a divinis und das Interdikt aufheben und nachlassen. § 2 Rechtsstellung und Tätigkeit I. Bezeichnung Die Weihbischöfe wurden mit verschiedenen Bezeichnungen belegt120. Sie waren Titularbischöfe. Das heißt: Sie führten – gemäß dem System der relativen Ordination – den Titel einer untergegangenen Diözese. So war beispielsweise der 120 Die wechselnden Bezeichnungen der Weihbischöfe führt Hinschius (wie Anm. 10), II, 174 auf.
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Weihbischof Kolborn Bischof von Kapharnaum. Da es in diesen Gebieten keine katholischen Christen mehr gab, wurden die Titularbischöfe als episcopi in partibus scil. infidelium bezeichnet. Da sie den Diözesanbischöfen zur Hilfe bei der Ausübung der Pontifikalhandlungen beigegeben sind, wurden sie regelmäßig episcopi suffraganei genannt, wobei suffragium im Sinne von „Unterstützung“ gebraucht wird. In der Kommission vom 16. November 1610 wurde ihnen der Name coepiscopi beigelegt. Der Diözesanbischof wurde folgerichtig als Protoepiscopus bezeichnet121. Eine andere Bezeichnung war die der Vicarii in pontificalibus: Sie übten in Stellvertretung des Diözesanbischofs die Pontifikalfunktionen aus. Der Weihbischof Albert von Beichlingen beispielsweise führte 1338 sich als vices … Archiepiscopi Moguntini in pontificalibus gerentes ein122, 1350 als habentem auctoritatem in pontificalibus … sanctae Moguntinae sedis Archiepiscopi123. Der Weihbischof Rudolph, Episcopus Saloniensis, bezeichnete sich als in pontificalibus Vicarius124. Der Name Vicarius generalis in pontificalibus setzte sich schließlich in Mainz als der sachgemäßeste durch. Auch in der Diözese Augsburg hieß der Weihbischof vicarius generalis in pontificalibus125. Die Weihbischöfe hatten ja den Diözesanbischöfen grundsätzlich bei der Ausübung aller Pontifikalien, d. h. jener Funktionen, die den bischöflichen Ordo erfordern, zur Seite zu stehen. Schließlich wurden die Mainzer Weihbischöfe auch als Pro-Pontifices oder Pro-Episcopi Moguntini bezeichnet126. Der Autor Johann Sebastian Severus hob hervor, daß durch diese Bezeichnung der Unterschied klar heraustrete zwischen den Mainzer Weihbischöfen und den Suffraganbischöfen des Mainzer Metropoliten sowie den Titularbischöfen in partibus infidelium. Auch in dem anderen Werk Moguntia ecclesiastica hodierna von Johann Sebastian Severus (Wertheim 1763) ist von ProEpiscopi und Pro-Pontifices Moguntini die Rede127. Gudenus spricht ebenfalls von Proepiscopi128. Mir scheint, daß der Ausdruck Pro-Episcopus vor allem auf die Hilfsfunktion gegenüber dem Diözesanbischof abstellt. Merkwürdigerweise taucht der Name Episcopus auxiliaris zur Bezeichnung der Weihbischöfe in der Erzdiözese Mainz nicht auf. Ich vermute, daß er von den Weihbischöfen als demütigend empfunden wurde. Die Mainzer Weihbischöfe waren ausnahmslos episcopi sedi dati, d. h., sie wurden dem Bischofssitz, nicht einem einzelnen bestimmten Bischof zur Hilfe zugeordnet.
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Severus (wie Anm. 113), 33. Joannis (wie Anm. 88), II, 427. 123 Joannis (wie Anm. 88), II, 428. 124 Joannis (wie Anm. 88), II, 427 f. (1341, 1350). 125 Friedrich Zoepfl, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Mittelalter, München 1955, 577. 126 Severus (wie Anm. 113), Praefatio (ohne Paginierung). 127 Sebastian Severus, Moguntia ecclesiastica, 23. 128 Gudenus (wie Anm. 58), IV, 805. 122
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II. Rechtliche Einordnung Die Weihbischöfe unterstanden der Jurisdiktion des Diözesanbischofs in Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Er veranlaßte ihre Ernennung, er wies ihnen die Tätigkeit zu. Dem Diözesanbischof war es überlassen, zu welchen Funktionen er sie heranzog. Grundsätzlich konnte er ihnen alle übertragen. Bei Vakanz des Bischofsstuhles gewährte das regierende Domkapitel ihnen die Vollmacht, Pontifikalfunktionen auszuüben. Sie waren zur ständigen Residenz verpflichtet, was freilich nicht hinderte, daß sie mit Erlaubnis des Diözesanbischofs das Bistum zeitweilig verließen, um in anderen Sprengeln Pontifikalfunktionen auszuüben. Das Amt des Weihbischofs war kompatibel mit anderen Ämtern. So war beispielsweise Christoph Nebel vor seiner Beförderung zum Weihbischof Pfarrer der Pfarrei St. Quintin in Mainz und blieb es danach129. Seit dem 14. Jahrhundert wurde es üblich, die Weihbischöfe für einen bestimmten Kreis von Tätigkeiten zu bevollmächtigen; es liegen Bestallungen mit Angabe ihrer Befugnisse und ihrer Aufgaben vor. III. Tätigkeit Der Weihbischof besaß als geweihter Priester und konsekrierter Bischof Weihegewalt (potestas ordinis)130. Kraft dieser Gewalt übte er die Weiherechte aus. Die Weihevollmacht war nicht örtlich beschränkt; sie konnte gültigerweise überall ausgeübt werden. Zur erlaubten Ausübung bedurfte es der Erlaubnis des jeweiligen Diözesanbischofs131. Manche Mainzer Weihbischöfe nahmen Pontifikalhandlungen im Bistum Worms, Wormser Weihbischöfe solche in der Erzdiözese Mainz vor. An erster Stelle sind jene Funktionen zu nennen, die kraft ihres Wesens oder nach kirchlicher Bestimmung den bischöflichen Ordo erforderten. Die Weihbischöfe spendeten die niederen und die höheren Weihen an die Kandidaten. Davon künden die Weihebücher, soweit sie erhalten sind132. Die Mainzer Weihbischöfe hatten lange Zeit die Befugnis, Dimissoriales zum Empfang der heiligen Weihen auszustellen. Erst Friedrich Karl Joseph von Erthal band die Ausstellung an seine Zu-
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241. 131
Severus (wie Anm. 113), 39 – 41. Die Befugnisse der bischöflichen Weihegewalt führt auf Ginzel (wie Anm. 69), I, 239 –
Balthasar Fischer, Pontifikalhandlungen der beiden Speyrer Weihbischöfe Johann Philipp Burckardt und Peter Kornel von Beywegh im Raum des heutigen Bistums Trier in den Jahren 1685 – 87 und 1708 – 10: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 5, 1953, 311 – 324; Hermann Schmitt, Die Aushilfe der Speyerer Weihbischöfe Johann Philipp Burckardt und Peter Kornel von Beywegh im Bistum Worms: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 12, 1960, 237 – 250. 132 Hans-Harro Haagner, Liber Pontificalium, Ordinationes ab anno 1676 usque ad annum 1702. Das Weihebuch der Mainzer Weihbischöfe Volusius und Starck: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 38, 1986, 225 – 279.
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stimmung133. Diese Befugnis gehört nicht der Weihegewalt, sondern der Jurisdiktionsgewalt an. Sie erteilten das Firmsakrament. Zur Spendung der Firmung versammelten sich regelmäßig Hunderte, manchmal auch Tausende von Personen. Im Laufe eines langen Dienstlebens kamen so enorme Summen Gefirmter zusammen. Der Würzburger Weihbischof Johannes Bernhard Mayer (1669 – 1747) hat angeblich 341.220 Personen das Firmsakrament gespendet134. Vielfach wurde ihnen die Prüfung der Weihekandidaten übertragen. Diese Aufgabe war ebenfalls keine Funktion der Weihegewalt, stand aber in engem Konnex mit ihr. Von manchen Weihbischöfen wird berichtet, daß sie auch das Bußsakrament verwalteten135. Die Weihbischöfe konsekrierten Kirchen, Kelche und Altäre, benedizierten Kapellen und Kultgegenstände. Im Unterschied zu vielen Diözesanbischöfen waren sie auch in der Glaubensverkündigung tätig. Mancher Weihbischof glänzte als Kanzelredner136. Den Weihbischöfen, die nach der Glaubensspaltung lebten, wurde regelmäßig in ihrer Bestallung die Pflicht auferlegt, den Feinden der heiligen Religion Widerstand zu leisten137. Tatsächlich zeichneten sich viele Weihbischöfe in der Abwehr der Häresie aus. Es gab freilich auch einige (wenige) Weihbischöfe, die zum Protestantismus abfielen. Es sei an den Basler Telamorius Limperger138 erinnert. Manche Weihbischöfe waren publizistisch tätig und verfaßten nützliche Schriften139. Es sei für Würzburg an Augustin Marius140, Eucharius Sang141 und Gregor Zirkel (1762 – 1817)142 erinnert. Weihbischöfe wurden häufig zu Visitatoren von Stiften und Klöstern bestellt143. Das ist eindeutig eine Funktion der Jurisdiktionsgewalt. Der gelehrte Erfurter Weihbischof Paul Huthenne und ein Domherr waren am 14. Mai 1527 „Visitatores omnium et singulorum monasteriorum et religiosorum locorum tam virorum quam mulierum civitatis et Dioecesis (scil. Herbi-
133 Johannes Wilhelm Fuchs, Dissertatio inauguralis Juris Ecclesiastici de Suffraganeis seu Vicariis Generalibus in Pontificalibus Episcoporum Germaniae, Von denen Weihbischöfen, Mainz 1782, 145 A. a. 134 Reininger (wie Anm. 101), 265. 135 Reininger (wie Anm. 101), 240. 136 Josef Gelmi, Funktion und Bedeutung der Brixner Weihbischöfe in der Frühen Neuzeit, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Weihbischöfe und Stifte, Beiträge zu reichskirchlichen Funktionsträgern der Frühen Neuzeit (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte Bd. 4), Frankfurt a. M. 1995, 23 – 40, hier 34 – 36. 137 Reininger (wie Anm. 101), 172 f. 138 Reininger (wie Anm. 101), 117. 139 Gelmi (wie Anm. 136), 36. 140 Reininger (wie Anm. 101), 140 – 158. 141 Reininger (wie Anm. 101), 214 – 220. 142 Reininger (wie Anm. 101), 331 – 339. 143 Rudolfine Freiin von Oer, Weihbischöfe und Kollegiatstifte im Fürstbistum Münster seit der Reformation, in: Jürgensmeier (wie Anm. 136), 104 – 112, hier 111; Gelmi (wie Anm. 136), 36; Jürgensmeier (wie Anm. 67), 360; Wolfgang Seibrich, Die Weihbischöfe des Bistums Trier (= Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier Bd. 31), Trier 1998, 138.
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polensis)“144. Der bekannte Weihbischof Michael Helding visitierte im Jahre 1548 die drei Frankfurter Stiftskirchen145. Der Augsburger Weihbischof Sebastian Breuning wurde 1588 zusammen mit anderen zur Visitation der Diözese bestellt146. Auch die Leitung von Synoden wurde Weihbischöfen übertragen147. Manche Mainzer Weihbischöfe wurden zum Vorstand des Priesterseminars ernannt. So hatten die Weihbischöfe Starck, Schnernauer, Nebel und Behlen das Amt des Präses des Priesterseminars inne. IV. Die Jurisdiktion der Weihbischöfe Eine diffizile Frage ist die nach der Jurisdiktion der Weihbischöfe. Besaßen die Weihbischöfe neben der Weihegewalt auch Hirtengewalt? Im vorhergehenden Abschnitt wurde bereits auf von Weihbischöfen ausgeübte Funktionen hingewiesen, die den Besitz von Hirtengewalt voraussetzen. Dann erhebt sich die weitere Frage: Besaßen sie die Hirtengewalt dank ihrer Weihe oder kraft Übertragung durch die Diözesanbischöfe? 1. Im Titularbistum An erster Stelle ist zu fragen, ob der Weihbischof Jurisdiktion in seiner Titulardiözese besitzt. Die Autoren, welche diese Frage bejahen, geben folgende Erklärung. Der Weihbischof habe in seinem Titularbistum habituell die Regierungsgewalt, aber nicht aktuell. Andreucci beispielsweise erklärte, der Titularbischof besitze Jurisdiktion in seinem Bistum, doch es fehle der geeignete Gegenstand, über den er sie ausüben könne148. Die Jurisdiktion komme jedem Bischof kraft der Konsekration zu; der Gegenstand, über den sie ausgeübt werden kann, müsse ihm vom Papst zugewiesen werden. Hinschius folgte dieser Ansicht. Er schrieb, die Jurisdiktion komme den Titularbischöfen „in thesi“ zu, „faktisch“ könnten sie sie aber nicht ausüben149. Wenn man den universalen Jurisdiktionsprimat des römischen Bischofs ins Auge faßt, wird man dieser Ansicht zustimmen können. Er ist der Oberhirt aller Gebiete, in denen Titularbistümer bestehen. Indem er einen Titularbischof ernennt, überträgt er ihm die Sorge für diesen Sprengel. Jedoch vermag er sie nicht wirksam werden zu lassen, weil die anvertrauten Seelen fehlen. Wenn er dort nichts zu tun hat, ist seine Anwesenheit – falls überhaupt möglich – überflüs144
Reininger (wie Anm. 101), 105. Hans Wolter, Die Visitation der drei Stiftskirchen von Frankfurt am Main im Jahre 1548: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 27, 1975, 81 – 105. 146 Friedrich Zoepfl, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert (= Geschichte des Bistums Augsburg und seiner Bischöfe Bd. 2), München/Augsburg 1969, 656, 659. 147 Oer (wie Anm. 143), 111. 148 Andreas Hieronymus Andreucci, De Episcopo titulari seu in partibus infidelium Tractatus Canonico-Theologicus, Rom 1732, 78. 149 Hinschius (wie Anm. 10), II, 178. 145
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sig. Die Titularbischöfe wurden daher pro forma von der Residenzpflicht in ihrem Titularbistum befreit. 2. In den Dienstdiözesen Eine weitere Frage ist die, ob dem Weihbischof kraft seiner Stellung als allgemeiner Stellvertreter des Diözesanbischofs bei der Ausübung der Pontifikalfunktionen jurisdiktionelle Befugnisse zukommen. Die meisten Autoren sind mit einer verneinenden Antwort rasch bei der Hand. Paul Hinschius schrieb: „Jurisdiktionsrechte hat er selbstverständlich nicht“150. Johann Friedrich Schulte bemerkte ähnlich, jedoch etwas vorsichtiger: Die Weihbischöfe „haben keinerlei Jurisdiktion außer durch spezielle Übertragung des Bischofs“151. Sie besitzen nach diesen Autoren in der Diözese, deren Oberhirten sie zur Hilfe beigegeben werden, keine Jurisdiktion. Doch erscheint diese Ansicht anfechtbar. Denn die Weihbischöfe haben immer (auch) Aufgaben zu erfüllen gehabt, die nicht anders denn als Jurisdiktionsakte angesprochen werden können. Außer acht bleiben die (bloßen) Weihehandlungen, die rechtliche Wirkungen nach sich ziehen, selbst aber nicht jurisdiktioneller Natur sind. Dies ist bei den meisten der Fall. Doch bleiben genügend Tätigkeiten, die entweder nicht ohne Beauftragung durch den Diözesanbischof oder nicht ohne Mitteilung von Jurisdiktion ausgeübt werden konnten. Die Weihbischöfe wurden nicht selten mit der Abnahme der Examina vor den Weihen152 betraut. Diese Tätigkeit setzt die Beauftragung durch den Diözesanbischof voraus. Die Abnahme eines Examens und die Entscheidung über das Genügen der Kandidaten sind Tätigkeiten verwaltender Natur, die in die Jurisdiktion einschlagen. Das Examen ist eine vom Recht vorgeschriebene Leistung, sein Bestehen oder Nichtbestehen hat rechtliche Wirkungen. Wenn und wo Weihbischöfe Bestimmungen über die zum Empfang von Weihen notwendigen Erfordernisse erließen, wiesen sie sich als Inhaber von Jurisdiktion aus. In manchen Diözesen gehörte es zu den Befugnissen des Weihbischofs, den Ordinanden Dispensen wegen mangelnden Alters, wegen körperlicher Mängel und wegen der nicht eingehaltenen Interstitien zu erteilen. Derartige Dispensen sind eindeutig jurisdiktionelle Akte. Wenn und sofern Weihbischöfe Exkardinationen und Inkardinationen von Klerikern vornahmen, handelten sie erst recht als Jurisdiktionsträger. Die Ausstellung von litterae dimissoriales an Ordinanden zur Weihe durch einen anderen Bischof war ebenfalls ein jurisdiktioneller Akt. Auch wenn ein Weihbischof einem anderen Bischof die Genehmigung zur Benediktion eines Abtes erteilte, die an sich ihm zugestanden hätte, wurde er jurisdiktionell tätig. Die Prüfung des Wahlprotokolls von Äbten und Äbtissinnen durch den Weihbischof war wiederum eine Äußerung von Jurisdiktion. Die Weihbischöfe durften Ablässe gewähren, und solche Ablaßgewährungen sind in großer Zahl erhalten. Wenn sie am Tage der Konsekration einer Kirche einen Ablaß gewährten und den Tag des Kirchweihfestes bestimmten, handelten sie eindeutig mit 150
Hinschius (wie Anm. 10), II, 180. Schulte (wie Anm. 69), 265. 152 Sägmüller (wie Anm. 110), I, 237 f.
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hoheitlicher Hirtengewalt. Auch die Verlegung des Kirchweihfestes auf einen anderen Tag war kein Akt der Weihegewalt, sondern der Hirtengewalt. Die Übertragung der Vollmacht zur Benediktion einer Kirche oder einer Kapelle war ebenso jurisdiktioneller Art. Wo der Weihbischof die Erlaubnis zur Zelebration in Kapellen erteilen konnte, handelte er als Inhaber von Jurisdiktion. Wenn der Weihbischof über die Aufstellung von Wegekreuzen und die Anlage von Kreuzwegen entschied, verfuhr er mit jurisdiktioneller Befugnis. Die Ausstellung von Authentiken für Reliquien oder die Anerkennung der Echtheit von Authentiken war erneut ein jurisdiktioneller Akt. Die Genehmigung des Weihbischofs zum Abbruch von Kirchen und Kapellen sowie von Altären setzte den Besitz von Jurisdiktion voraus. Auch im Friedhofsrecht besaß der Weihbischof regelmäßig jurisdiktionelle Befugnisse. Sie betrafen die Erteilung der Vollmacht, neu angelegte Friedhöfe zu benedizieren oder alte zu verlegen bzw. einzuebnen. Die Rekonziliation entweihter Kirchen, Kapellen und Friedhöfe153 war eine jurisdiktionelle Handlung. Wenn Weihbischöfe Diözesansynoden abhielten154, nahmen sie Jurisdiktionshandlungen vor, was nur im Namen und mit Auftrag des Diözesanbischofs geschehen kann. Die Quinquennalfakultäten wurden regelmäßig auch den Weihbischöfen gegeben, so daß sie dieselben bei Abwesenheit des Diözesanbischofs oder bei Vakanz des Bischofsstuhles ausüben konnten. Damit waren sie Jurisdiktionsträger. V. Ernennung zu Ämtern mit Jurisdiktion Nicht umstritten war die Möglichkeit, Weihbischöfe zusätzlich zu ihrem weihbischöflichen Amt zu Jurisdiktionsinhabern zu machen. Paul Hinschius rechnete mit dieser Möglichkeit: „Jurisdiktionsrechte hat er selbstverständlich nicht, jedoch kann er solche durch Delegation seitens der Bischöfe oder durch Übertragung einer zur Wahrnehmung derselben berechtigenden Stellung (z. B. durch gleichzeitige Ernennung zur General-Vikar) erlangen“155. Das Amt des Weihbischofs war mit anderen Ämtern kompatibel. Er konnte Jurisdiktion erhalten, indem ihm ein mit Jurisdiktion ausgestattetes Amt übertragen wurde. H. J. Schmitz schrieb im Jahre 1899: „Vielfach lag aber auch die Ausübung der bischöflichen Jurisdiktion in ihren Händen, und eine wohlgeordnete, segensreiche Diöcesanverwaltung ist in Deutschland während des 17. und 18. Jahrhunderts vor Allem den hervorragenden Männern unter den Weihbischöfen zu danken“156. In zahlreichen Fällen wurde ihnen das Amt des Generalvikars übertragen. In manchen Diözesen war die Verbindung der Ämter des Weihbischofs und des Generalvikars geradezu herkömm-
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Sägmüller (wie Anm. 110), II, 295, 299. Tibus (wie Anm. 116), 35. 155 Hinschius (wie Anm. 10), II, 180. 156 Schmitz, Titularbischof: Kirchenlexikon XI, 2. Aufl. 1899, 1780 – 1788, hier 1784. 154
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lich. Es sei beispielsweise an Augsburg157, Trier158, Hildesheim159, Konstanz160, Osnabrück161 und Paderborn162 erinnert. Auch in der Diözese Brixen gab es Weihbischöfe, die gleichzeitig Generalvikar waren163. Diese Konstruktion hatte manche Vorteile. Einmal wurde der Weihbischof dadurch, daß er auch Generalvikar war, zum ersten Jurisdiktionsträger im Bistum (nach dem Diözesanbischof), was seine Stellung beträchtlich verstärkte. Gerade die grundsätzliche Beschränkung auf Akte der Weihegewalt, die dem Weihbischof von Natur aus eigen war, mag danach gerufen haben, die Weihbischöfe an der Jurisdiktionsgewalt zu beteiligen. Es drängt sich der Eindruck auf, daß die Weihbischöfe mit ihren Pontifikalfunktionen oft zu leicht gewichtet wurden. Die Generalvikare verfügten in der Regel über eine häufig vielköpfige Behörde. Die Weihbischöfe besaßen keine vergleichbaren Gehilfen, Mitarbeiter und Untergebenen. Die Generalvikare standen – jedenfalls in der Erzdiözese Mainz – an der Spitze von Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Die Weihbischöfe waren davon grundsätzlich ausgeschlossen. So mögen manche Weihbischöfe unter ihrer (relativ) inferioren Stellung gelitten haben. Ein Mann wie Niels Stensen klagte über seinen geringen Einfluß auf alle Vorgänge, die außerhalb der Pontifikalhandlungen lagen164. Es ist also denkbar, daß es den Erzbischöfen (und den Weihbischöfen) leicht demütigend vorkam, wenn die Weihbischöfe ohne jeden Anteil an der Jurisdiktion waren und dem Generalvikar unterstanden. Zum anderen wurde dadurch, daß man die Weihbischöfe zu Generalvikaren machte, die mögliche Rivalität zwischen Weihbischof und Generalvikar vermieden. Es ist bekannt, daß das Verhältnis von Weihbischof und Generalvikar nicht überall ungetrübt war165. Der Weihbischof stand der Weihe nach über dem Generalvikar, war ihm aber jurisdiktionell unterstellt. Wenn der Weihbischof gleichzeitig Generalvikar war, wurden mögliche Reibungen vermieden. Der Bestellung des Weihbischofs zum Generalvikar stand rechtlich nichts entgegen. In Mainz ging man jedoch einen anderen Weg: Man machte den Weihbischof zum
157 Peter Rummel, Die Augsburger Bischöfe, Weihbischöfe und Generalvikare vom 17. Jahrhundert bis zum 2. Vatikanischen Konzil (1598 – 1963): Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 24, 1990, 25 – 114. 158 Seibrich (wie Anm. 143), 136, 171. 159 Hans-Georg Aschoff, Weihbischöfe in Hildesheim vom späten Mittelalter bis zur Säkularisation, in: Jürgensmeier (wie Anm. 136), 66 – 90. 160 Rudolf Reinhardt, Profil der Weihbischöfe von Konstanz in der frühen Neuzeit, in: Jürgensmeier (wie Anm. 136), 41 – 51. 161 Gatz-Seegrün (wie Anm. 50). 162 Karl Hengst, Paderborner Weihbischöfe des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Jürgensmeier (wie Anm. 136), 91 – 103. 163 Gelmi (wie Anm. 136), 34. 164 Max Bierbaum, Niels Stensen, Von der Anatomie zur Theologie (1638 – 1686), Münster o. J., 100. Vgl. für Trier: Seibrich (wie Anm. 143), 172. 165 Oer (wie Anm. 143), 109, 111.
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Provikar. Durch diese Beförderung wurde er dem Generalvikar in gewisser Hinsicht gleichgestellt, wie gleich darzulegen sein wird. Daß die vorstehenden Überlegungen zutreffen, scheint durch die jüngste kirchliche Gesetzgebung bestätigt zu werden. Nach c. 406 § 2 CIC/1983 soll der Diözesanbischof den Hilfsbischof (Weihbischof) zum Generalvikar oder wenigstens zum Bischofsvikar ernennen, der nur seiner Autorität untersteht. Auf diese Weise soll der Weihbischof aufgewertet und seinem bischöflichen Rang Reverenz erwiesen werden.
2. Abschnitt: Personen und Vollmachten der Provikare 2.1. Personen § 1 Im Erzbistum Mainz I. Adam Freisbach Nach Ludwig Andreas Veit war Adam Freisbach der erste Provikar166. Friedhelm Jürgensmeier behauptet, ihm sei um 1630 „als erstem“ das Amt des Provikars übertragen worden167. Zwar sei auch Dietrich Gresemund am 3. Januar 1506 zum Provikar des Generalvikars Wilhelm von Honstein ernannt worden168, „doch handelte es sich damals noch nicht um eine fest etablierte Einrichtung“169. Die Behauptung bezüglich Gresemunds trifft nicht zu; er war nicht Provikar. Ebensowenig war Berthold Oberg OP, der von 1468 bis 1489 als Weihbischof sowohl in partibus Thuringiae als auch in partibus Rheni bezeugt ist, mit diesem Amt ausgestattet, wie behauptet wird170. Er war Vicarius in pontificalibus, nichts anderes. Freisbach ist dagegen sicher als Provikar bezeugt171. Er wirkte in der schweren Zeit des Drei-
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Andreas Ludwig Veit, Kirchliche Reformbestrebungen im ehemaligen Erzstift Mainz unter Erzbischof Johann Philipp von Schönborn 1647 – 1673, Freiburg i. Br. 1910, 20 A. 1. 167 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 317. 168 Peter Walter, Das Stephansstift und der Humanismus: Dietrich Gresemund der Jüngere, in: Helmut Hinkel (Hrsg.), 1000 Jahre St. Stephan in Mainz (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 63), Mainz 1990, 309 – 322, hier 317. 169 Jürgensmeier (wie Anm. 67), 317. 170 Friedhelm Jürgensmeier, Oberg, Berthold OP, in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 – 1803, Ein biographisches Lexikon, Berlin 1990, 509. 171 Vgl. Joannis (wie Anm. 88), II, 552; Johann Zaun, Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau und seiner vierundzwanzig Pfarreien, Wiesbaden 1879, 7 f.; Georg May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verfassung I, 207 f., 214 f.; Barbara Günther, Das katholische Oppenheimer Kirchenbuch von 1637 – 1649: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 35, 1983, 243 – 283, hier 244: Iuris utriusque doctor, Protonotarius Apostolicus, Insignis collegiatae Ecclesiae Beatae Mariae Virginis in gradibus Moguntini (?) Decanus, In Spiritualibus Pro-Vicarius Generalis.
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ßigjährigen Krieges. Freisbach war nicht Weihbischof. Er starb am 15. Juni 1651172. So muß Erzbischof Anselm Casimir Wambolt von Umstadt (1629 – 1647) als Schöpfer dieses Amtes gelten. II. Wolther Heinrich von Strevesdorff Nachfolger Freisbachs wurde Wolther Heinrich von Strevesdorff (1588 – 1674)173. Er wurde 1651 Provicarius generalis in spiritualibus174. Obwohl er Ordensmann war (Augustinereremit), erlangte er die Propstei des Erfurter Marienstiftes und die Scholasterie des Mainzer Petersstiftes. Strevesdorff war Weihbischof von 1634 bis 1674. „Diese Ernennung eröffnete die Gepflogenheit, daß mit dem Amt des Provikars jeweils der in Mainz zuständige Weihbischof betraut wurde“175. Wolther Heinrich von Strevesdorff, Episcopus Ascalonensis, Suffraganeus per Thuringiam et Hassiam, residens Moguntiae, war Provicarius generalis zur Zeit des Generalvikars Wilderich von Walderdorf176. Er war in seinen vielen Funktionen und Ämtern rastlos tätig. Das Landkapitel Rheingau beispielsweise tagte wiederholt unter seinem Vorsitz (1652, 1658)177. Der Mainzer Erzbischof bestimmte ihn für Thüringen. Er wirkte anschließend in Köln (1635/36), Lüttich (1639) und Bonn (1641). Auch in der Diözese Würzburg half er wiederholt aus (1641, 1645). Nach dem Tode des Weihbischofs in partibus Rheni, Ambrosius Saibaeus, wurde er nach Mainz gerufen (1644). Strevesdorff nahm also mehrfach einen Ortswechsel vor. Er ist einer der Weihbischöfe, die bald im Osten und Norden, bald im Westen und Süden der Erzdiözese ihren Dienst verrichteten. III. Petrus van Walenburch Dem Wolther Heinrich von Streversdorff folgte als Provikar nach Petrus van Walenburch (1610 – 1675), Episcopus Mysiensis, in partibus Rheni Suffraganeus178. Walenburch war Weihbischof von 1658 bis 1669179. Er taucht in den Akten wiederholt auf. Im Jahre 1661 tagte das Landkapitel Rheingau unter Vorsitz des Provikars Walenburch und des Sieglers Adolph Gottfried Volusius180. Walenburch ist 1662 erneut als in spiritualibus Provicarius generalis bezeugt181. 172 173
56 f. 174
Margarete Dörr, Das St. Mariengredenstift in Mainz, phil. Diss. Mainz 1953, 48, 63. Gatz, Die Bischöfe 1648 – 1803 (wie Anm. 170), 495; Severus (wie Anm. 113), 32 f.,
Jürgensmeier (wie Anm. 67), 333. Jürgensmeier (wie Anm. 67), 318. 176 Gudenus (wie Anm. 58), 11, 433; Joannis (wie Anm. 88), II, 450 f. 177 Zaun (wie Anm. 171), 8, 9. 178 Gudenus (wie Anm. 58), II, 433. 179 Joannis (wie Anm. 88), II, 451 f., 502; Severus (wie Anm. 113), 33; Jürgensmeier (wie Anm. 67), 337 – 340; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis1803 (wie Anm. 170), 555 f. 180 Zaun (wie Anm. 171), 9. 175
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Adolph Gottfried Volusius war ein hervorragender Mann und um die Mainzer Kirche hochverdient182. Als erzbischöflicher Siegler besaß er eine einflußreiche Stellung. Da der Weihbischof durch seine Pontifikalfunktionen vielbeschäftigt war, trat der Siegler häufig in seine Funktionen ein. Er rückte später zum Weihbischof in partibus Hassiae et Thuringiae auf183. Volusius war Titularbischof von Diocletiana. Doch ihm waren nicht einmal drei Jahre als Weihbischof beschieden. In dem Buch Andreas Birnbecks „Tractatus“ wird in der Überschrift über das Urteil des Volusius betreffend diesen Tractatus Volusius als Provicarius Generalis Moguntinus bezeichnet. In der Unterschrift nennt sich Volusius aber nur Sigillifer Moguntinus (ipso maximi Ecclesiae Doctoris festo die 1674)184. Provikar war er nicht. IV. Matthias Starck Zwischen 1669 und 1681 klafft bei den Mainzer Weihbischöfen in partibus Rheni eine Lücke. Solche Unterbrechungen der Reihenfolge lassen sich auch bei den Weihbischöfen in partibus Thuringiae beobachten. Man behalf sich wohl in solchen Zeiten, was die Pontifikalfunktionen angeht, durch Heranziehung von Weihbischöfen benachbarter Diözesen und, was die Jurisdiktionshandlungen betrifft, mit der Beauftragung des Sieglers. Der nächste Provikar war Matthias Starck (1628 – 1708)185. Er wurde am 27. Juli 1681 konsekriert und (erst) am 3. Oktober 1682 zum Provicarius in spiritualibus ernannt. Matthias Starck war Weihbischof von 1681 bis 1703. Aus diesen Daten ist zu ersehen, daß die Übertragung der Bischofswürde und die Ernennung zum Provikar zwei getrennte Handlungen waren; eine Automatik der Ernennung zu beiden Positionen gab es nicht. Es ist zu fragen, wie diese späte Bestellung zu erklären ist. Hat sich vielleicht der Generalvikar, Anselm Franz von Hoheneck, gegen die Ernennung gesträubt? Am 3. Oktober 1682 teilte der Erzbischof Anselm Franz von Ingelheim (1679 – 1695) dem Generalvikar mit, daß er „zur desto besseren Beobachtung der zu unserem Vicariat gehörigen geistlichen Sachen“ den Matthias Starck zum Provikar ernannt habe, und
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DA Mainz 1/201 Protocolla Protonotariatus 1662 – 1676 fol. 11v. Joannis (wie Anm. 88), II, 452; L. Lenhart, Volusius: LThK X, 2. Aufl. 1965, 873; Jürgensmeier (wie Anm. 67), 340 – 345; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 541. 183 Severus (wie Anm. 113), 33 – 35; Koch (wie Anm. 113), 109; Feldkamm (wie Anm. 113), 82 f. Auch Jürgensmeier (wie Anm. 96), 328, reiht ihn unter die Weihbischöfe in partibus Thuringiae ein. 184 Andreas Birnbeck, Tractatus de clericorum ac praecipue sacerdotum et pastorum dignitate et ad vitae honestatem ac puritatem obligatione uti et mediis specialibus ac cautelis ad eam servandam statui ecclesiastico propriis, Würzburg 1676, 3. 185 Joannis (wie Anm. 88), II, 452 f.; Herbert Natale, Das Kollegiatstift Mockstadt als Gast im Frankfurter Leonhardsstift 1585 – 1802: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 20, 1968, 37 – 70, hier 67; Jürgensmeier (wie Anm. 67), 347 f.; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 482 f. 182
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trug ihm auf, ihn bei dem Vikariat ordentlich einzuführen186. Starck verzichtete 1702 auf das Provikariat zugunsten des aus Walldürn nach Mainz zurückberufenen Leonhard Nimis187. Vermutlich waren es Altersgründe, die ihn zum Rücktritt bewogen188. V. Leonhard Nimis Es überrascht, daß nach dem Abgang Starcks nicht Johann Edmund Gedult von Jungenfeld (1652 – 1727), der von 1703 bis 1727 Weihbischof in partibus Rheni war189, zum Provikar ernannt wurde. Vielleicht war er für das mit viel jurisdiktioneller Tätigkeit befrachtete Amt nicht geeignet oder mochte er die doppelte Last nicht tragen. Von ihm wird berichtet, daß er in 24 Jahren 85.335 Kindern das Firmsakrament spendete190. Provikar wurde jedenfalls 1702 Leonhard Nimis (1646 – 1716)191. Er unterbrach die Reihe der Provikare, die Weihbischöfe waren, denn er hatte nicht die Bischofskonsekration empfangen. Der Erzbischof Lothar Franz von Schönborn (1695 – 1729) mag ihn, der den Grad eines Doktors in der Theologie und in der Rechtswissenschaft erworben und sich in mannigfachen Diensten bewährt hatte, für dieses Amt besonders geeignet gehalten haben. Er starb am 3. Januar 1716. VI. Joachim Hahn Seit 1717 war Johannes Joachim Hahn (1667 – 1725)192 in spiritualibus Provicarius generalis. In diesem Falle ging die Ernennung zum Provikar der Beförderung zum Bischof voraus. Johannes Joachim Hahn war Weihbischof in partibus Hassiae et Thuringiae von 1718 (Konsekration 1719) bis 1725. Das Amt des Provikars konnte nach seiner Konstruktion nur in der Bischofsstadt ausgeübt werden. Daher gab Hahn, als er Weihbischof in Erfurt wurde, seinen Wohnsitz in Mainz nicht auf193. Er war wie Nimis Doktor der Theologie und beider Rechte. Hahn war für sein Amt als Provikar vorzüglich vorbereitet; denn er war seit 1698 Generalvikar des Fuldaer Prälaten und seit 1712 erzbischöflicher Siegler in Mainz gewesen und 186
StA Würzburg Lade 619 H 1251. Anton Philipp Brück, Das Priesterseminar der Bartholomiten in Mainz 1662 – 1803: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 15, 1963, 33 – 94, hier 47. 188 Severus (wie Anm. 113), 36. 189 Joannis (wie Anm. 88), II, 453 f.; Severus (wie Anm. 113), 36 f.; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 147; Adam Gottron, Beiträge zur Geschichte des Mainzer Weihbischofs Johann Edmund Gedult von Jungenfeld (1652 – 1727): Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 9, 1957, 95 – 117. 190 Gottron (wie Anm. 189), 106. 191 Carl Forschner, Geschichte der Pfarrei und Pfarrkirche St. Quintin in Mainz, Mainz 1905, 103 f. 192 Severus (wie Anm. 113), 60 f.; Koch (wie Anm. 113), 118 f.; Feldkamm (wie Anm. 113), 88 f.; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 167. 193 May (wie Anm. 94), I, 253. 187
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hatte damit an führender Stelle die Geschicke des Hochstifts bzw. des Erzbistums in Gerichtsbarkeit und Verwaltung mitbestimmt. VII. Caspar Adolph Schnernauer Caspar Adolph Schnernauer (1668 – 1733)194 wurde am 8. Januar 1728 von Erzbischof Lothar Franz von Schönborn zum Weihbischof in partibus Rheni ernannt und blieb es bis zu seinem Tode. Anders als sein Vorgänger Gedult von Jungenfeld verband er wieder die weihbischöfliche Würde und das Amt des Provikars. Schnernauer war Doktor der Theologie und Lizentiat beider Rechte. Er hatte sich in den Ämtern des Fiskals und des Offizials sowie des Kanzlers und des Rektors der Mainzer Universität bewährt. Von 1716 bis 1733 war er Praeses des Mainzer Priesterseminars. VIII. Christoph Nebel Christoph Nebel (1690 – 1765)195 war Weihbischof in partibus Rheni von 1733 bis 1769. Seit dem 25. August 1733 war er Provikar196. Erzbischof Philipp Karl von Eltz (1732 – 1743) benannte bzw. ernannte ihn am gleichen Tage zum Pro-Episcopus und Pro-Vicarius, wobei er freilich die Konsekration erst am 24. Januar 1734 empfing. Er führte dementsprechend die Titel in Pontificalibus Vicarius Generalis und in Spiritualibus Provicarius197. Dazu kam die Position als Praeses des Mainzer Priesterseminars. Die Seelsorge hatte er als Kaplan und Pfarrer kennengelernt. Erzbischof Lothar Franz von Schönborn hatte ihn nach Rom geschickt, damit er sich dort den Stilus Curiae aneigne. Erzbischof Franz Ludwig von Neuburg (1729 – 1732) erwählte ihn zum Geistlichen Rat. Er war Doktor der Theologie und beider Rechte. In seiner langen Dienstzeit bewältigte er eine imponierende Zahl von Pontifikalhandlungen. Von ihm liegen aufschlußreiche Vorschläge für Verbesserungen der Arbeit des Vikariats vor198.
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Severus (wie Anm. 113), 37 – 39; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 427 f.; Fritz Arens, Die Kunstdenkmäler der Stadt Mainz, Teil 1: Kirchen St. Agnes bis Hl. Kreuz, München 1961, 247 f. 195 Severus (wie Anm. 113), 39 – 41; Gatz, Die Bischöfe 1648 – 1803 (wie Anm. 170), 322 f.; Forschner (wie Anm. 191), 105 – 109. 196 Brück (wie Anm. 187), 48 – 52; Friedhelm Jürgensmeier, Informativprozeß des Mainzer Weihbischofs Christoph Nebel (1733 – 1769), Scholaster bzw. Dekan von St. Stephan, in: Hinkel (wie Anm. 168), 323 – 332, hier 329. 197 Chur-Maynzischer Hof- Staats- und Stands-Calender (1763) 10. 198 May (wie Anm. 94), I, 307 f.
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IX. Ludwig Philipp Behlen Ludwig Philipp Behlen (1714 – 1777)199 war Weihbischof in partibus Rheni von 1769 bis 1777. Am 7. Januar 1770 wurde er zum Provikar ernannt200, am 15. Januar 1770 als solcher vorgestellt201. Vorher war er nacheinander Fiskal, Siegler und Offizial gewesen. Auch als Gelehrter und Schriftsteller hat er Beachtenswertes geleistet202. Das Vertrauen des Erzbischofs führte ihn an die Römische Kurie, um dort die Mainzer Belange im Palliumstreit mit Würzburg und bezüglich der Metropolitanrechte über Fulda zu vertreten. X. August Franz von Straus (Strauß) August Franz von Straus (1737 – 1782)203 war Weihbischof in partibus Rheni von 1778 bis 1782 und Provikar204. Auch er hatte die Stationen des Fiskals und des Offizials hinter sich gebracht. Häufig hatte er Visitationen durchgeführt. XI. Valentin Heimes Valentin Heimes (1749 – 1806)205 war Weihbischof in partibus Rheni von 1783 bis 1806. Am 8. Januar 1783 wurde er zum Provikar ernannt206. Der mainzische Hof- und Staats-Kalender zählt alle seine Ämter und Würden auf: Bischof zu Valona, in Pontificalibus Vicarius generalis, in Spiritualibus Provicarius, kurfürstlicher wirklicher geheimer Staatsrat und Staatsreferendarius in geistlichen Geschäften, der Kollegiatstifte St. Viktor, Unserer Lieben Frau und St. Johann zu Mainz, St. Paul zu Worms respective Dechant und Kapitular, des erzbischöflichen Seminars in Mainz Präses207. Diese Aufzählung läßt ahnen, wie einflußreich dieser Mann im Erzbistum und Erzstift Mainz war208. Heimes erlangte mit der Zeit eine beherr199 Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 25 f.; Johann Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts III/1, Stuttgart 1880, 221 f.; Philipp Waldmann, Biographische Nachrichten von den Rechtsgelehrten auf der hohen Mainzer Schule im 18. Jahrhundert, Mainz 1784, 30 – 33. 200 StA Würzburg, Aschaffenburger Archivreste 210/33 Lage 1. 201 DA Mainz 1/058, S. 16. 202 Schulte (wie Anm. 199), 221 f. 203 Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 495. 204 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender (1779) 16; Karl-Heinz Drobner, Johann Valentin Heimes (1741 – 1806), Weihbischof in Worms und Mainz, Politiker und Seelsorger am Ausgang des Alten Reiches (= Paderborner Theologische Studien Bd. 18), Paderborn 1988, 49; Anton Philipp Brück, Stephan Alexander Würdtwein (1722 – 1796). Eine Lebensskizze: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 2, 1950, 193 – 216, hier 201. 205 Gatz, Die Bischöfe 1785/1803 bis 1945 (wie Anm. 24), 299 f. 206 StA Würzburg, Aschaffenburger Archivreste 210/33 Lage 2. 207 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender (1797) 14. 208 Drobner (wie Anm. 204), passim.
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schende Stellung im kirchlichen Bereich. Er war auch ein versierter Kirchenpolitiker und die herausragende Figur auf dem Emser Kongreß. Das Erzbistum Mainz verlor in seiner Amtszeit die Existenz. Heimes wirkte danach nur noch in dessen rechtsrheinischem Restteil und später in dem neugeschaffenen Erzbistum Regensburg. XII. Karl Hieronymus Kolborn Auf Heimes folgte Karl Hieronymus Kolborn (1744 – 1816)209. Er war Weihbischof von 1806 bis 1816 und Provikar. Seine Wirksamkeit galt dem Erzbistum Regensburg, in dem die früher zum Erzbistum Mainz gehörigen rechtsrheinischen Gebiete einen integrierenden Bestandteil bildeten. Er war der Vertrauensmann Karl Theodor von Dalbergs (1744 – 1817) und übte dementsprechend einen maßgebenden Einfluß auf die kirchlichen und kirchenpolitischen Angelegenheiten aus. Der Bischof des neuumschriebenen Bistums Mainz, Joseph Ludwig Colmar (1760 – 1818), besaß keinen Weihbischof. XIII. Provikare im neuen Bistum Mainz Die Erzdiözese Mainz nahm infolge der Neuzirkumskription der französischen Bistümer ein Ende. An ihre Stelle trat das Bistum Mainz, das zunächst nur aus linksrheinischen Gebieten bestand. Aufgrund der Zirkumskriptionsbulle „Provida solersque“ vom 16. August 1821210 wurde es Landesbistum des Großherzogtums Hessen-Darmstadt und Bestandteil der Oberrheinischen Kirchenprovinz. Der erste Bischof Joseph Ludwig Colmar teilte sein Bistum in Kommissariate ein. Die Diözesanstatuten vom 11. November 1811 behielten die Gliederung des Bistums in Kommissariate bei, gaben ihnen aber den Namen von Provikariaten211. Es bestanden also jetzt die Provikariate Mainz, Worms, Speyer und Zweibrücken. Entsprechend dieser Umbenennung wurden aus den Kommissaren Provikare. Damit erhielt der Ausdruck Provikar eine ganz veränderte Bedeutung. Sie waren Jurisdiktionsträger für einen genau umschriebenen Teil des Bistums, den sie unter der Autorität des Bischofs verwalteten. Diese Provikare entsprachen den Kommissaren des aufgehobenen Erzbistums Mainz.
209 Gatz, Die Bischöfe 1785/1803 bis 1945 (wie Anm. 24), 399; Franz Dumont, Karl Kolborn: Erneuern und bewahren, Der letzte Dekan des Stephansstiftes, in: Hinkel (wie Anm. 168), 333 – 371. 210 Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hrsg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1, Berlin 1973, 246 – 257. 211 Franz Xaver Remling, Neuere Geschichte der Bischöfe zu Speyer sammt Urkundenbuche, Speyer 1867, 55 – 58; Ludwig Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, Bd. III/1: Von der Reform zur Aufklärung, Speyer 1959, 67 f.
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§ 2 Provikare in anderen Bistümern Die Gestalt des Provikars war nicht auf die Erzdiözese Mainz beschränkt. In der Mehrzahl der deutschen Bistümer war sie zwar unbekannt, doch gab es einige Diözesen, die sie besaßen. I. Augsburg, Konstanz, Münster, Würzburg In der Diözese Augsburg waren zahlreiche Weihbischöfe gleichzeitig Generalvikar. Offensichtlich hatte man hier die Problematik des allein in der Weihehierarchie stehenden Weihbischofs frühzeitig erkannt. So dürfte sich auch die Tatsache erklären, daß im 18. Jahrhundert mehrere Weihbischöfe Provikare waren, so Johann Evangelist Herz (1695 – 1785) von 1769 bis 1782212 und Thomas Joseph von Haiden (Heiden, Haidn) (1739 – 1813) von 1782 bis 1793213. Im Bistum Konstanz verfuhr man ähnlich wie in Augsburg. Mehrere Weihbischöfe wurden als Generalvikare verwendet214. Im neunzehnten Jahrhundert wurden wiederholt vom Heiligen Stuhl Apostolische Vikare ernannt. Sie dienten dazu, in schwierigen Verhältnissen Jurisdiktionsträger zu schaffen, wo Diözesanbischöfe nicht zur Stelle waren215. Wo Vikare sind, ist häufig der Provikar nicht fern. Dafür seien einige Beispiele angeführt. Von 1814 bis 1815 war Anton Reininger Provikar, d. h. Vizegeneralvikar216. Einen Teil dieser Zeit hatte er das Amt neben dem Generalvikar Heinrich Ignaz von Wessenberg (1774 – 1860), einen anderen Teil nach dessen Entfernung von dieser Position inne. Das Konstanzer Domkapitel wählte nach dem Tode Karl Theodor von Dalbergs nicht nur Ignaz Heinrich von Wessenberg zum Kapitelsvikar, sondern auch Anton Reininger zum Provikar217. Franz Karl von Hohenlohe, Titularbischof von Tempe, war am 21. März 1816 von Papst Pius VII. zum Apostolischen Vikar für die beiden Teile des württembergischen Herrschaftsgebietes, die zu den Diözesen Augsburg und Würzburg gehören, ernannt worden218. Am 15. Juni 1816 bestellte der Papst den Geistlichen Rat Johann Baptist von Keller zum Vikar für die beiden erwähnten Diözesanteile219 ; er sollte alle Vollmachten besitzen, die dem Bischof von Tempe übertragen worden 212
Rummel (wie Anm. 157), 88 f. Rummel (wie Anm. 157), 89 f. 214 Reinhardt (wie Anm. 160), 44, 45, 46. 215 Freisen (wie Anm. 40), 36 – 38. 216 Helvetia Sacra, Das Bistum Konstanz, Das Erzbistum Mainz, Das Bistum St. Gallen, I, redigiert von Brigitte Degler-Spengler (= Helvetia sacra Abt. I,2: Erzbistümer und Bistümer II,1), Basel 1993, 579, 663 f. 217 Huber/Huber (wie Anm. 210), I, 229, 231. 218 Huber/Huber (wie Anm. 210), I, 235. 219 Erwin Gatz, Rottenburg – Stuttgart, in: derselbe, Die Bistümer und ihre Pfarreien (wie Anm. 26), 538 – 551, hier 544; derselbe, Die Bischöfe 1785/1803 bis 1945 (wie Anm. 24), 366 – 369. 213
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waren, und zwar „jetzt für diesen künftigen Fall“, d. h., er sollte die Nachfolge des Vikars Hohenlohe antreten, wenn dieser starb220. Der Titel Provikar wurde ihm vom Papst nicht beigelegt. Jedoch firmiert er in der Literatur als solcher221. Dafür besteht eine gewisse Berechtigung. Denn die beiden als Vikare bezeichneten Personen konnten und sollten nicht auf gleicher jurisdiktioneller Ebene stehen; vielmehr sollte der eine dem anderen untergeordnet sein. Diese Unterordnung wird mit der Bezeichnung Provikar zum Ausdruck gebracht. Am 22. Juli 1816 wurde Keller zum Titularbischof von Evara ernannt, am 4. August 1816 erhielt er die Bischofskonsekration. Zu dem jurisdiktionellen Amt trat also die Ausrüstung mit der Weihe. Am 22. Oktober 1816 wurde das Verhältnis des (nun so genannten) Provikars zum Generalvikar in einer Verordnung der württembergischen Regierung normativ festgelegt222. Keller erhielt (durch staatliche Verleihung) das „Direktorium“ in den Sitzungen des Generalvikariats und der Kanzlei. Am 28. Dezember 1816 wurde er als Provicarius Apostolicus cum spe succedendi installiert223. Am 9. Oktober 1819 wurde er Generalvikar. Auch ohne das Vorhandensein eines Apostolischen Vikars tauchte im Bereich der ordentlichen Kirchenverfassung gelegentlich die Figur des Provikars auf. Es war dies in der Diözese Münster der Fall224. Als Ferdinand von Lüninck sein Amt als Bischof von Münster wegen Erkrankung nicht mehr wahrnehmen konnte, lag die Leitung des Bistums in den Händen eines Provikars und Generaladministrators, des ehemaligen Domdechanten Jodok Hermann Joseph von Zurmühlen (1747 – 1830)225. Er war von 1821 bis 1825 Provikar und Generaladministrator des Bistums Münster226. Er blieb auch nach dem Tode Lünincks (1825) im Amt bis zum 4. April 1826, als Kaspar Max von Droste-Vischering den Bischofsstuhl einnahm. Der Würzburger Bischof Georg Karl von Fechenbach starb am 9. April 1808. Das Bistum wurde danach interimistisch verwaltet. Nach dem Ableben des Generalvikars und Kapitelsvikars Johann Franz Schenk von Stauffenberg (11. Dezember 220
Huber/Huber (wie Anm. 210), I, 235 f.; Ignaz von Longner, Beiträge zur Geschichte der oberrheinischen Kirchenprovinz, Tübingen 1863, 623 f. 221 Rummel (wie Anm. 157), 47 – 49; Josef Zeller, Das Generalvikariat Ellwangen 1812 – 1817 und sein erster Rat Dr. Joseph von Mets, Nebst erstmaliger Herausgabe der Autobiographie des Geistlichen Rats Dr. Joseph Mets, Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Diözese Rottenburg, Tübingen 1928, 44 – 47; Johann Baptist Schmitt, Landesrechtliche Stellung der katholischen Kirche in Württemberg 1803 – 1845, Teil 1, Radolfzell 1914, 7 f. 222 Longner (wie Anm. 220), 381 f. 223 Stephan Jakob Neher (Hrsg.), Statistischer Personal-Katalog des Bistums Rottenburg, Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum dieses Bistums, Schwäbisch Gmünd 1878, 13. 224 Tibus, Münster: Kirchenlexikon VIII, 2. Aufl. 1893, 1980 – 2007; R. Stapper, Münster: LThK VII, 1935, 371 – 377. 225 Erwin Gatz, Münster, in: derselbe, Die Bistümer und ihre Pfarreien (wie Anm. 26), 486 – 496, hier 492; Beda Bastgen, Die Besetzung der Bischofssitze in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Paderborn 1941, I, 195 – 197. 226 Gatz, Die Bischöfe 1785/1803 bis 1945 (wie Anm. 24), 842 f.; Alois Schröer, Die Bischöfe von Münster, Münster 1993, 254, 383.
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1813) bestellte Papst Pius VII. am 12. Januar 1814 den Geistlichen Rat Joseph Fichtl (Fichtel) (1740 – 1824) zum Apostolischen Pro-Vicarius in spiritualibus227. II. Speyer Die Vertretung des Generalvikars machte sich in allen Bistümern gebieterisch geltend. In der Diözese Speyer wird als Grund, weshalb er den Vorsitz im Generalvikariat nicht wahrnehmen konnte, der Besitz mehrerer Präbenden angegeben228. In der Instruktion des Bischofs Franz Christoph von Hutten (1743 – 1770) hieß es, der Generalvikar residiere nur wenige Monate im Jahr zu Speyer, weil er durch die Inhaberschaft anderer Kanonikate und Benefizien, auch an entfernten Orten, abgehalten sei, so daß er die nötige Kenntnis der Diözese nicht haben und so sein Amt nicht erfüllen könne. Daher werde seine Stelle in spiritualibus durch einen Praeses vertreten229. So waltete der Weihbischof Johann Adam Buckel (1706 – 1771) unter dem Namen eines Praeses als Stellvertreter des Generalvikars230. Den Titel eines Provikars gab man ihm nicht. Es kann sein, daß Franz Christoph von Hutten, ein schwacher Mann, das Mainzer Beispiel nicht nachahmen wollte, weil er mit seinem Metropoliten in Spannung lebte. Nach dem Tode Huttens am 20. April 1770 wurde Buckel zum Kapitelsvikar gewählt. Er führte jetzt den Titel des provicarius generalis. III. Worms Besonders deutlich ausgebildet und kontinuierlich eingesetzt war die Figur des Provikars in der Diözese Worms, die ja lange Zeit in Personalunion mit dem Erzbistum Mainz verbunden war. Die Wormser Weihbischöfe waren Provicarii in spiritualibus231. Schon Quirinus Kunkel (1651 – 1701) war Wormser Provikar232. Für die folgende Zeit sei an Leopold Gudenus (1676 – 1713)233, Johann Baptist
227 Reininger (wie Anm. 101), 237 f.; Longner (wie Anm. 220), 376; Gatz, Die Bischöfe 1785/1803 bis 1945 (wie Anm. 24), 190. 228 Clemens Jöckle, Das Weihetagebuch des Speyerer Weihbischofs Johann Adam Buckel von 1746 bis 1771 (= Schriften des Diözesan-Archivs Speyer Bd. 3), Speyer 1979, 21. 229 Anton Wetterer, Zur Geschichte des Speierer Generalvikariats im 18. Jahrhundert: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 49, 1929, 93 – 179, hier 115 – 117. 230 Wetterer (wie Anm. 229), 122; Jöckle (wie Anm. 228), 21; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 52. 231 Hans Ammerich, Die Fürstbischöfe und ihre Weihbischöfe im 18. Jahrhundert, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Das Bistum Worms, Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801 (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte Bd. 5), Würzburg 1997, 225 – 245, hier 237 – 245. 232 Forschner (wie Anm. 191), 103; Handbuch der Diözese Mainz, Mainz 1931, 71. 233 Ammerich (wie Anm. 231), 238 – 240; Hermann Schmitt, Johann Leopold von Gudenus aus Erfurt, Weihbischof von Worms (1711 – 13): Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 13, 1961, 440 – 449; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 162.
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Gegg (1664 – 1730)234 und an so bekannte Gestalten wie Johann Anton Wallreuther (1673 – 1734)235 und Stephan Alexander Würdtwein (1722 – 1796)236 erinnert. In diesem Zusammenhang ist einmal die Instruktion vom 26. Juli 1715 aufschlußreich237. Sie stammt von Franz Ludwig von Neuburg238, der damals Bischof von Breslau und Worms sowie Koadjutor des Mainzer Erzbischofs war. Er war ein vorzüglicher Fachmann für kirchliche Organisation und Verwaltung und bewährte sich als solcher in den zahlreichen Sprengeln, denen er als Oberhirt vorstand. Die erwähnte Instruktion ist an Johann Baptist Gegg239 und die übrigen Beisitzer (Assessoribus) des kirchlichen Amtes (sic) des Bischofs gerichtet. Sie geht davon aus, daß durch den Tod des Leopold Gudenus240, Bischofs von Pergamon, Suffraganeat und Provikariat bei der Wormser Kathedralkirche erledigt worden sind. Der Bischof hat darum Gegg zum Suffragan (Weihbischof) und Provikar erwählt und bestimmt. Der Bischof zählt dann im einzelnen auf, was er sich (zur Behandlung und Entscheidung) vorbehält. Daraus ergibt sich, daß der Bischof die wichtigeren Diözesanangelegenheiten in seiner Hand behalten wollte. Es scheint damals keinen Generalvikar in Worms gegeben zu haben, denn der Bischof spricht davon, daß dem Gegg das Generalvikariat pro tempore anvertraut sei. Dem Vikariat wird die jurisdictio voluntaria zugewiesen, während die jurisdictio contentiosa dem Konsistorium obliegt. Beachtenswert ist die strenge Scheidung der beiden Jurisdiktionsbereiche. Dann werden die einzelnen Tätigkeiten aufgezählt, die dem Vicarius Generalis bzw. dem Provicarius Generalis zustehen. Wenn der Provikar für den Generalvikar eintrat, dann geschah dies für den ganzen Umfang von dessen Zuständigkeit. Weiter unten wird die Tätigkeit in der jurisdictio contentiosa beschrieben. Merkwürdig berührt, daß die gesamte Strafrechtspflege dem Konsistorium zugewiesen wird. Dennoch gibt der Bischof dem Provikar gegen Ende seiner Instruktion die Vollmacht, auf dem Verwaltungswege Irrtümer und Mängel zu beseitigen und dabei auch Strafgewalt auszuüben. Zum anderen ist die Dienstanweisung für den Wormser Weihbischof Christian Albert Anton von Merle vom 28. Mai 1734 zu erwähnen241. Der juristisch gebildete 234
147. 235
Ammerich (wie Anm. 231), 240 f.; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170),
Hermann Schmitt, Johann Anton Wallreuther aus Kiedrich im Rheingau, Weihbischof von Worms (1731 – 34): Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 14, 1962, 144 – 167, hier 159 – 161; Gatz, Die Bischöfe 1648 bis 1803 (wie Anm. 170), 556. 236 Brück (wie Anm. 204), 210; Ammerich (wie Anm. 231), 245. 237 LHA Koblenz Best. 11 Nr. 2. 238 Ammerich (wie Anm. 231), 227 – 234. 239 Hermann Schmitt, Johann Baptist Gegg von Eichstätt, Weihbischof von Worms (1716 – 1730): Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 15, 1963, 95 – 146, hier 98 – 100. 240 Hermann Schmitt (wie Anm. 233), 440 – 449; Ammerich (wie Anm. 231), 238 – 240. 241 LHA Koblenz Abt. 11 Nr. 3. Vgl. Hermann Schmitt, Christian Albert Anton von Merle aus Wetzlar, Weihbischof von Worms (1734 – 65): Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 16, 1964, 200 – 248.
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Bischof in Synope i.p.i. erhielt eine Kommission, in der Weihe- und jurisdiktionelle Befugnisse zusammengearbeitet waren. Er vereinigte in seiner Person die Ämter eines Generalvikars in pontificalibus, eines Provikars in spiritualibus und eines Offizials des bischöflichen Konsistoriums. Bezüglich seiner Stellung als Provikar hieß es in dem Auftragsschreiben, der Bischof übertrage alles, was er dem Generalvikar an Zuständigkeit gegeben habe, stellvertretend dem Weihbischof, wenn der Generalvikar abwesend oder rechtmäßig verhindert ist. Der Bischof, der ihn zu seinen Positionen beförderte, war Franz Georg von Schönborn (1732 – 1756)242. Er war bereits Erzbischof von Trier243, als er in Worms zum Bischof postuliert wurde. In Worms ließ er sich selten sehen. 2.2. Rechtliche Einordnung der Mainzer Provikare § 1 Gesetzgeberische Akte in bezug auf den Provikar Es lassen sich wiederholt gesetzgeberische Akte von Mainzer Erzbischöfen nachweisen, in denen auch des Provikars gedacht wird. I. Johann Philipp von Schönborn Erzbischof Johann Philipp von Schönborn (1647 – 1673) ließ wohl im Jahre 1658 eine Ordnung über die Struktur und die Organisation seines Generalvikariates erstellen244. Die Konstitution ist m. E. niemals in Kraft getreten. Doch ist sie deswegen nicht wertlos, denn sie gibt im wesentlichen den Zustand wieder, wie er damals in Mainz war. Caput 1 ist überschrieben De officio Vicarii in Spiritualibus, gilt also dem Generalvikar. Das erste Kapitel ist dem Vicarius in spiritualibus generalis gewidmet. Ihm wird jurisdictio ordinaria zugesprochen (§ 1). Was er (oder bei seiner Abwesenheit der Provikar) anordnet, das gilt als vom Erzbischof getan (§ 2). Die Anfechtung ist nur vor dem Apostolischen Stuhl zulässig. Als notwendige Eigenschaften, die der Generalvikar – und mithin auch der Provikar – besitzen muß, werden angegeben die Priesterweihe und die Kenntnis des kanonischen Rechts. In mehreren Paragraphen werden alle Vollmachten, die dem Generalvikar zustehen, ohne Ausnahme bei dessen Abwesenheit dem Provikar zugeeignet. Die einzelnen Rechte, Vorzüge und Funktionen des Generalvikars sind schon vorher in der Ernennungsurkunde festgehalten (in diplomate officii iam olim sub nostro electorali sigillo emanato). Er ist für die Gerichtsbarkeit (iudicialiter, causa) und für die Verwaltung (extraiudicialiter, casu) zuständig. Der Generalvikar wie der Provikar sind Leiter (caput et director) aller in der Erzdiözese Mainz bestehenden Gerichte. 242
Ammerich (wie Anm. 231), 432 – 435. Auch in der Erzdiözese Trier war die Figur des Provikars bekannt; vgl. Seibrich (wie Anm. 143), 156. 244 StA Würzburg MRA H 1824; Veit (wie Anm. 166), 107 – 111; Jürgensmeier (wie Anm. 67), 316 – 324; May (wie Anm. 94), I, 218 – 228. 243
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Der Generalvikar erteilt den Seelsorgern die Approbation und die iurisdictio animarum. Er gibt den Klostervorstehern und den Dignitären der Stifte nach deren Wahl die Bestätigung. Dem Generalvikar oder dem Provikar untersteht das Visitationswesen der gesamten Erzdiözese. Bemerkenswert ist, daß der Provikar nicht nur bei Abwesenheit, sondern auch bei Verhinderung des Generalvikars in dessen Vollmachten und Funktionen eintritt. Falls auch der Provikar verhindert ist, wird der Siegler Stellvertreter des Generalvikars im gleichen Umfang. Ein eigenes Kapitel über den Provikar war nicht erforderlich, weil er ohne Ausnahme die Gesamtheit der Rechte und Funktionen des Generalvikars übernahm, wenn immer er diesen vertrat. II. Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg Erzbischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1729 – 1732) erließ in der kurzen Zeit seiner Mainzer Regierung Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Eminentissimi et Serenissimi Principis ac Domini, D. Francisci Ludovici, S. Sedis Moguntinae Archi-Episcopi, Mainz 1729. Darin zählt er die Personen auf, die zu seinem Vikariat gehören. An erster Stelle steht der Generalvikar (Tit. I § 1, Tit. II §§ 1 – 3), an zweiter Stelle der Provikar (Tit. I § 1, Tit. III § 1). Er überträgt dem Provikar alles, was er dem Generalvikar übertragen hat, für den Fall, daß dieser abwesend oder durch Krankheit verhindert ist. Außerdem ist er zuständig für die Verteilung der Akten in erstinstanzlichen Verfahren (Tit. III § 1). Diese letzte Funktion setzt voraus, daß er ständiges Mitglied des Generalvikariats ist. Dieses fungiert in der Erzdiözese Mainz – bei Personengleichheit – sowohl als Verwaltungsbehörde als auch als Gericht. Man kann den Provikar in der Konzeption des Erzbischofs Franz Ludwig als stellvertretenden Generalvikar ansprechen.
III. Philipp Karl von Eltz Erzbischof Philipp Karl von Eltz (1732 – 1743) erließ im Jahre 1738 erneut Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini editae ex mandato Eminentissimi ac Clementissimi Domani, D. Philippi Caroli, S. Sedis Moguntinae ArchiEpiscopi, Mainz 1738. Sie hoben in Tit. I an mit einer einläßlichen Beschreibung der rechtlichen Stellung des Generalvikars. Er hat kraft des (Ernennungs-)Reskriptes die allgemeine erzbischöfliche Jurisdiktion über die Diözese und über die Kirchenprovinz übertragen bekommen. Kraft dieser Ordinationes überträgt er ihm jetzt den leitenden Vorsitz (das Praesidium) des Vikariates und des Metropolitangerichtshofes. Wenn er an einer Sitzung nicht teilnimmt, geht das Directorium an den Provikar über. In Tit. II ist die Stellung des Provikars beschrieben. Er steht dem Generalvikar zur Seite und vertritt ihn bei Abwesenheit, Verhinderung oder Beauftragung. Man beachte: Der dritte Fall (neben Abwesenheit und Behinderung) stellt allein auf die Vertretungswilligkeit des Generalvikars ab. Damit ist erschöpfend angegeben, wann der Provikar Jurisdiktion besitzt und ausüben darf. Unbe-
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rührt davon bleibt seine ständige Mitwirkung an Entscheidungen der Rechtsprechung und Verwaltung im Rahmen des Vikariates, dessen Mitglied er ist. IV. Friedrich Karl Joseph von Erthal Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal (1774 – 1802) ließ am 25. September 1784 eine Verordnung pro Negotiis Vicariatus erstellen245. Sie ist nicht ordnungsgemäß promulgiert und somit nicht in Geltung gesetzt worden. Doch richtete man sich in der Erzdiözese danach. Der zweite Titel der Verordnung pro Negotiis Vicariatus ist dem Provikar gewidmet246. In § 1 wird ihm alles das zur Erledigung zugewiesen, was dem Generalvikar in den Vikariatssitzungen, in den Approbationsexamina247 und in anderen Angelegenheiten zur Behandlung aufgetragen ist. Er soll dem Generalvikar bei der Führung der Geschäfte stets hilfreich zur Seite stehen. Er ist also nicht bloß Lückenbüßer beim Ausfall desselben. Diese Gelegenheiten werden besonders geregelt. Bei Abwesenheit oder Behinderung des Generalvikars hat er sich zu bemühen, alle Punkte dieser Instruktion genau zu erfüllen. Er hat die Vikariatsgeschäfte vorzulegen und als erster seine Meinung darüber zu äußern und die einstimmig oder mehrheitlich gefaßten Beschlüsse ins Protokoll zu diktieren. Im § 2 wird dem Provikar aufgetragen, besondere Mühe darauf zu verwenden, daß alle Punkte der in den folgenden Titeln und Paragraphen enthaltenen Instruktionen und Anordnungen von allen, die es angeht, genau beobachtet werden. Zuwiderhandelnde hat er zurechtzuweisen. § 3 hält ihn an, dem monatlichen Approbationsexamen möglichst immer beizuwohnen und die darüber erlassenen Bestimmungen genau zur Durchführung zu bringen. Die Approbationszettel, die nach Maßgabe des Protokolls ausgefertigt sind, sind immer von dem Vorsitzenden des Examens oder dem ältesten Geistlichen Rat, der beim Examen anwesend ist, zu unterschreiben. Die Approbationszettel sind im Vikariat ebenso wie in den Kommissariaten stets im Namen des Erzbischofs auszufertigen. § 4 legt dem Provikar auf, bei der Dispens von Ehehindernissen in den verbotenen Graden in den Vikariatssitzungen nach Maßgabe der Verordnung vom 26. Juni 1780 zu verfahren. In der sitzungsfreien Zeit und bei Gefahr im Verzuge darf er selbst (allein) die Dispens erteilen, die bei der nächsten Sitzung ins Protokoll eingetragen werden muß. Alle Dispensen in den (verbotenen) Graden oder von anderen Ehehindernissen ebenso sind im Namen des Erzbischofs künftig kraft ordentlicher Gewalt zu gewähren und auszufertigen; der Provikar hat sie zusammen mit dem Sekretär zu unterschreiben. Wenn die Nähe (propinquitas) den dritten Grad übersteigt, darf auch in diesem Falle Dispens erteilt werden, falls schwerwiegende, bedeutsame und dringende Gründe 245
DA Mainz 1/072, S. 1364 – 1464. Vgl. May (wie Anm. 94), I, 354 – 385. May (wie Anm. 94), I, 359 – 361. 247 Georg May, Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert, in: Recht – Bürge der Freiheit, Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag, hrsg. von Konrad Breitsching/Wilhelm Rees (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 51), Berlin 2006, 481 – 519. 246
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von den Bittstellern vorgebracht und bewiesen werden können. Dispensen, die hie und da von römischen Nuntien248, besonders dem Kölner, einst häufig, jetzt seltener erbeten zu werden pflegen, müssen als unzuständig und ungültig erklärt werden; es darf ihnen keine Wirkung zuerkannt werden. In § 5 trägt der Erzbischof dem Provikar auf, über die Klausur der Nonnen nach dem Wortlaut des Trienter Konzils249 sorgfältig zu wachen. Er darf das Eintreten von Weltleuten und auch von Geistlichen nur in den vom Recht angegebenen Fällen und erst recht den Ausgang der Nonnen nur mit Zustimmung des Erzbischofs aus einzigartigen und dringenden Gründen gestatten. Aus dieser Aufstellung ist zu sehen, daß aus dem Provikariat ein festes Amt mit bestimmten Kompetenzen geworden war. § 2 Rechtliches Wesen I. Doppelte Hierarchie In der Kirche ist, wie bereits oben ausgeführt, eine doppelte Hierarchie zu unterscheiden, die Weihehierarchie und die Jurisdiktionshierarchie. Die erste wird gebildet durch heilige Weihe, die zweite durch Ausstattung mit Hirtengewalt. Sosehr die Kirche auf (gleichzeitige) Verbindung der Zugehörigkeit zu der einen wie zu der anderen in der Person der Amtsträger Wert legt, so ist es doch wohl unvermeidlich, daß es Personen gibt, die entweder nur der einen oder der anderen Gliederung zuzurechnen sind. Der Diözesanbischof gehört normalerweise beiden Hierarchien an. Kraft der Bischofskonsekration ersteigt er den Gipfel der Weihehierarchie, infolge der Bestellung zum Oberhirten eines Bistums tritt er an die Spitze der Jurisdiktionshierarchie (unterhalb des Papstes und des Metropoliten). Bis in die Neuzeit kam es jedoch vor, daß Diözesanbischöfe nicht oder erst nach langem Aufschub bzw. Sträuben die Bischofskonsekration empfingen. Beispiele sind Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (für Mainz) und Joseph Clemens von Bayern (für Köln). Die damals bestehende Verbindung von Bischofsamt und Fürstenthron erklärt zu einem gewissen Teil die Anomalität. Der Generalvikar gehört kraft seiner Amtsstellung lediglich zur Jurisdiktionshierarchie. Er ist infofern das Alter Ego des Diözesanbischofs. Der Weihbischof gehört aufgrund der empfangenen Bischofskonsekration (nur) zur Weihehierarchie. Mit dieser Stellung waren indes manche Unzuträglichkeiten verbunden. Um ihnen abzuhelfen, wurden in vielen Diözesen Weihbischöfe zu Generalvikaren ernannt. In der Erzdiözese Mainz war man seit geraumer Zeit dazu übergegangen, den Weihbischof auf andere Weise in die Jurisdiktionshierarchie einzubauen: Er wurde regelmäßig zum Provikar bestellt. Der Empfang der Bischofskonsekration und die Ernennung zum Provikar waren 248 Joseph Steinruck, Nuntiaturstreit: LThK VII, 3. Aufl. 1998, 949; Georg May, Die Auseinandersetzungen zwischen den Mainzer Erzbischöfen und dem Heiligen Stuhl um die Dispensbefugnis im 18. Jahrhundert (= Annotationes in Ius Canonicum Bd. 40), Frankfurt a.M. 2007. 249 Conc. Trid. Sess. 25 de regul. cap. 5 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta, 777 f.).
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selbstverständlich zwei getrennte Vorgänge. Durch den ersten wurde der Kandidat in die höchste Stufe der Weihehierarchie aufgenommen, durch die zweite rückte er in die Jurisdiktionshierarchie ein. Die beiden Ernennungen folgten einander regelmäßig in geringem zeitlichen Abstand. II. Ein Provikar Nun gab es in der Erzdiözese Mainz jahrhundertelang zwei Weihbischöfe, einen für die westlichen und südlichen Gebiete des Bistums und einen anderen für die östlichen und nördlichen Teile des Sprengels. Um die Einheitlichkeit der Diözesanleitung zu gewährleisten, wurde nur einer von beiden zum Provikar bestellt. Der Posten wurde dem Mainzer Weihbischof übertragen, dem Erfurter Weihbischof nur dann, wenn er in Mainz lebte und tätig war. Das Amt erforderte, daß er sich am Ort der Zentrale befand. Wie der Generalvikar sich dort aufhalten mußte, so auch der Provikar, wenn immer er dessen Geschäfte übernahm. Die Mainzer Weihbischöfe führten aufgrund dieser Konstruktion die Titel in Pontificalibus Vicarius Generalis und in Spiritualibus Provicarius. Der erste wies auf ihre Stellung in der Weihehierarchie, der zweite auf ihre Position in der Jurisdiktionshierarchie hin. Die Gründe, die dafür sprachen, den Weihbischof in partibus Rheni mit Hirtengewalt auszustatten, trafen nun zumindest teilweise auch für den Weihbischof in partibus Hassiae et Thuringiae zu. Die Bischofswürde schien es zu fordern, daß auch der Thüringer Weihbischof am Besitz und an der Ausübung der Jurisdiktion beteiligt wurde. Die Mainzer Erzbischöfe sorgten dafür, daß dies geschah. Der Weihbischof für den nördlichen und östlichen Teil des Mainzer Erzbistums wurde zum Siegler und damit zum Vorstand der Erfurter Jurisdiktionsbehörde, des Geistlichen Gerichts, ernannt. Als solcher war er den Kommissaren an die Seite gestellt, die an wichtigen Punkten der Mainzer Erzdiözese Jurisdiktion im Namen des Erzbischofs innehatten; kraft seiner Bischofskonsekration überragte er sie und nahm eine Ausnahmestellung ein. III. Stand und Befugnisse Um die rechtliche Stellung des Provikars zu klären, bedarf es der Kenntnis der Position des Generalvikars. Denn Sartori erklärte richtig, die Provikare seien dem Generalvikar zur Unterstützung beigegeben und hätten bei dessen Abwesenheit dessen Stelle zu vertreten250. Der Provikar hatte also grundsätzlich die gleiche Gewalt wie der Generalvikar. Die Eigenart der Jurisdiktion, die er innehatte, war darin gelegen, daß sie erst und nur benutzt werden konnte, wenn der Generalvikar ausfiel oder ihn heranzog. Er war und blieb insofern von der Funktionsfähigkeit und vom Willen des Generalvikars abhängig. Der Provikar verdankte aber seine Position dem Erzbischof. Er war nicht etwa der (vom Generalvikar ernannte) Stellvertreter 250 Joseph von Sartori, Geistliches und Weltliches Staatsrecht der Deutschen, Catholischgeistlichen Erz- Hoch- und Ritterstifter, 2. Bd. 2. Teil 1. Abschnitt, Nürnberg 1790, 31.
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desselben, sondern (der vom Bischof ernannte) bischöfliche (zweite) Stellvertreter. Er war nicht Bediensteter des Generalvikars, sondern des Erzbischofs, d. h., er stand dem Bischof genauso unmittelbar gegenüber wie der Generalvikar. Sein Amtskreis war kein anderer als der des Generalvikars. Das Beiwort generalis zeigt an, daß der Provikar ebenso allgemeiner Stellvertreter des Erzbischofs war wie der Generalvikar. Als Provikar – nicht als Weihbischof – war er Mitglied des Vikariates und an dessen Beratungen und Beschlüssen beteiligt. Er hatte im Ordinariat Sitz und Stimme. In der Liste der Anwesenden wurde er stets nach dem Generalvikar aufgeführt; falls dieser abwesend war, stand der Provikar an der Spitze. Entgegen der ursprünglichen Bestimmung, den Generalvikar (nur) bei dessen Abwesenheit zu vertreten, war er grundsätzlich an allen Vorgängen im Generalvikariat beratend und abstimmend beteiligt. Kraft seiner Stellung in der Rangordnung sogleich nach dem Generalvikar spielte er sogar eine führende Rolle in der Behörde. Mag der Generalvikar eine stärkere Beziehung zum Domkapitel gehabt haben, so war die Verbindung des Provikars mit dem Diözesanbischof enger. Das Mainzer Vikariat wurde lange Zeit – bei gleicher personeller Besetzung – in Gerichtssachen wie in Verwaltungsangelegenheiten tätig. Infolgedessen war auch der Provikar in beiden Bereichen tätig. Die Entscheidungen des Vikariats in Gerichts- und Verwaltungssachen wurden nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Bei der Gewichtung der Stimmen der Mitglieder des Vikariats bestand kein Unterschied; die Stimme eines jeden Anwesenden zählte gleich viel. Das Generalvikariat wurde als Kollegialbehörde tätig. Anordnungen und Verfügungen des Generalvikariats hoben stets an mit den Worten: Nos Vicarius in Spiritualibus Generalis, Provicarius, Officialis, Sigillifer, Coeterique Archiepiscopalis Moguntini Vicariatus Assessores. Bei Gerichtsentscheidungen wurde noch hinzugefügt: Sanctaeque ejusdem Sedis Judices Ordinarii251. Faktisch erlangte der Provikar, wohl nicht zuletzt wegen der relativ häufigen Abwesenheit des Generalvikars, eine führende Position in der geistlichen Behörde des Bischofs. Zumindest unter Friedrich Karl Joseph von Erthal war der Provikar Valentin Heimes (1741 – 1806)252 der besondere Vertrauensmann des Erzbischofs. Seine Unterschrift steht unter den allermeisten Entscheidungen des Generalvikariats. Es ist bezeichnend, daß zum Emser Kongreß (nicht der Generalvikar, sondern) der Provikar Heimes entsandt wurde. Eine ähnliche Rolle spielte nach ihm Joseph Hieronymus Karl Kolborn (1744 – 1816)253. Als Amtsträger hatte der Generalvikar ordentliche stellvertretende Hirtengewalt. Der Provikar besaß die gleiche Gewalt. Wie die Jurisdiktion des Generalvikars mit dem Tod des Erzbischofs erlosch, so auch die des Provikars. Wie der Generalvikar mußte auch der Provikar vom folgenden Erzbischof neu bestellt werden.
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May (wie Anm. 94), I, 257. May (wie Anm. 248), 304 – 308. 253 May (wie Anm. 248), 309 – 313. 252
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Schluß In der Erzdiözese Mainz wurde seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Stelle eines Provikars geschaffen. Der Beamte der Bischöflichen Kurie gehörte dem Generalvikariat an und war dazu bestimmt, den Generalvikar bei Abwesenheit oder Verhinderung zu vertreten. Der Posten wurde regelmäßig dem Mainzer Weihbischof in partibus Rheni, dem anderen in partibus Thuringiae nur dann, wenn er in der Bischofsstadt residierte, übertragen. Zu der Ausstattung mit Weihegewalt trat somit die Begabung mit Hirtengewalt. Der Erfurter Weihbischof wurde ebenfalls mit Jurisdiktion versehen. Als Praeses bzw. Siegler leitete er die dortige Behörde, das sogenannte Geistliche Gericht254. Ganz nahe zu dem Mainzer Modell steht die Verfahrensweise im benachbarten Bistum Worms. Auch dort wurde der Weihbischof regelmäßig zum Provikar ernannt. Die beschriebene Verbindung von Weiheund Hirtengewalt läßt sich in vielen deutschen Bistümern beobachten. Zahlreiche Weihbischöfe waren gleichzeitig Generalvikare. Der Zweck der Kombination der beiden Ämter war wohl darin gelegen, den Weihbischof in jurisdiktioneller Hinsicht in etwa dem Generalvikar gleichzustellen. Ein Titularbischof, der auf die Weihefunktionen beschränkt war und in den Angelegenheiten von Gerichtsbarkeit und Verwaltung nichts mitzureden hatte, war jedem Geistlichen Rat, der im Generalvikariat Sitz und Stimme hatte, unterlegen. Als Provikar rückte er dagegen auf einmal in die erste Position nach dem Generalvikar ein. Dank seines Vorrangs als konsekrierter (Titular-)Bischof und infolge seiner ständigen Mitarbeit im Generalvikariat erlangte er sogar eine führende Stellung in dieser Behörde. Man kann ihn als stellvertretenden Generalvikar ansprechen. Es stellt sich die Frage, wie die Weihbischöfe außer ihrer Belastung mit den spezifischen Aufgaben eines Vicarius generalis in pontificalibus noch das Amt des Provikars versehen konnten. Zur Beantwortung ist einmal daran zu erinnern, daß die Erzdiözese Mainz jahrhundertelang zwei Weihbischöfe hatte. Jedem war ein abgegrenzter Bezirk für die Ausübung der Pontifikalfunktionen zugewiesen. Der Amtsbezirk des in Erfurt residierenden Weihbischofs wurde mit Hessen, Thüringen, Eichsfeld und Sachsen (Westfalen) umschrieben. Er umfaßte das Gebiet der Mainzer Erzdiözese, das jenseits der Linie verlief, die durch die Orte Orb, Gelnhausen und Butzbach bezeichnet wurde. Das übrige Gebiet des Erzbistums gehörte in den Bereich des in Mainz residierenden Weihbischofs. Der Mainzer Weihbischof hieß generalis in pontificalibus vicarius, der Erfurter eine Zeitlang nur in pontificalibus vicarius, später auch er generalis vicarius. Dank der Teilung der Bezirke dürfte sich also die Belastung der Weihbischöfe mit Pontifikalfunktionen in erträglichen Grenzen gehalten haben. Außerdem war der Rückgriff auf Weihbischöfe benachbarter Diözesen regelmäßig ohne Schwierigkeiten möglich.
254 Für die Entwicklung vgl. May (wie Anm. 94), II, 785, 788, 700, 790 f., 794 f., 796 – 801, 802 – 809.
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Was nun die Pontifikalfunktionen selber angeht, so sind einige Überlegungen angebracht. Am anspruchsvollsten war wohl die Spendung des Firmsakramentes. Denn grundsätzlich mußte ein jeder katholische Einwohner des Erzbistums es empfangen. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die Firmreisen nur in der günstigen Jahreszeit stattfanden und jeder Firmort eine fast unglaublich hohe Zahl von Firmlingen präsentierte, so daß die Termine sich nicht jagten. Ähnlich anspruchsvoll war die Erteilung der Weihen an die Kleriker aus dem Welt- und Ordensklerus. Zur damaligen Zeit empfing grundsätzlich jeder Geistliche die Tonsur, die vier niederen und die drei höheren Weihen. Es war also eine beträchtliche Zahl von Terminen zu absolvieren. Doch ist zu bedenken, daß die Weihehandlungen nicht jederzeit, sondern grundsätzlich nur an den dafür vorgesehenen Tagen stattfanden, so daß eine Häufung von Tagen, an denen Weihen gespendet wurden, nicht anzunehmen ist. Zahlreiche Funktionen waren von den Weihbischöfen auch in den Klöstern wahrzunehmen. Es sei etwa an die Benediktion von Äbten und Äbtissinnen erinnert. Aber auch an der Feier zur Ablegung von Gelübden waren sie teilweise beteiligt. Die erste Funktion war relativ selten, zur Wahrnehmung der zweiten konnte ein anderer bestimmt werden. Die Weihe von Kirchen war selten, jene von Altären zahlreicher, aber auch sie hielt sich in Grenzen. Die Weihe der heiligen Gerätschaften konnte bequem in der Wohnung der Weihbischöfe erfolgen. Außerdem bestand die Möglichkeit, die Befugnisse zu Benediktionen weiterzugeben. Es darf schließlich nicht übersehen werden, daß keineswegs die gesamten Weihehandlungen allein dem Weihbischof oblagen. Auch manche Erzbischöfe beteiligten sich daran255. Insgesamt gesehen ist daher festzustellen: Es blieb dem Weihbischof, der zum Provikar bestellt wurde, durchaus Zeit für die Erledigung der Aufgaben in Verwaltung und Rechtsprechung. Nach Ausweis der Protokolle des Mainzer Vikariats haben die Provikare sich darin mit Eifer und Geschick betätigt.
255
Jürgensmeier (wie Anm. 67), 417.
Die Anfänge des Gerichtes des Heiligen Stuhles zu Mainz I. Die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten auf den Diözesansynoden Die normale Erledigung rechtlicher Rechtsstreitigkeiten geschah von alters her auf den Diözesansynoden1. Die Diözesansynode hieß in Mainz ,,generale concilium“2, ,,plenaria synodus“3, ,,generalis conventus“4, ,,generalis sinodus“5 oder ,,generalis Maguntina synodus“6. Daran nahmen teil der Erzbischof, die Mitglieder der Stifte, die Klosteroberen und die Priester, wohl noch andere Kleriker, aber auch Laien7. Die Synoden fanden einmal oder zweimal jährlich statt. Bei zweimaligem Zusammentreten war die eine im Frühjahr, die andere im Herbst. Während man im 10. und 11. Jahrhundert in Mainz wohl regelmäßig zwei Synoden im Jahre hielt8, war es schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts nur noch eine9. Die Diözesansynoden dienten mehreren Zwecken. Auf ihnen wurden gesetzliche Vorschriften bekanntgegeben, Verwaltungsangelegenheiten erledigt und Korrektionen vorgenommen. Vor allem aber waren sie Stätten der Gerichtsbarkeit. Im folgenden erwähne ich einige Beispiele der Streitentscheidung auf Mainzer Diözesansynoden, wobei ich chronologisch vorgehe. Dem Abt Burchard von St. Jakob bei Mainz wurde durch Urteil der Synode die Pfarrkirche in Geinsheim (Kreis
1 Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland III, Berlin 1883, Nachdruck: Graz 1959, S. 582 – 603; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, S. 503 – 506; R. Naz, Synode: Dictionnaire de Droit Canonique VII, 1965, Sp. 1134 – 1140. 2 Manfred Stimming (Bearb.), Mainzer Urkundenbuch. 1. Bd. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137), Darmstadt 1972, S. 400 Nr. 498. 3 Stimming, Mainzer UB I, S. 400 Nr. 498. 4 Stimming, Mainzer UB I, S. 400 Nr. 498. 5 Peter Acht (Bearb.), Mainzer Urkundenbuch. 2. Bd. Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200) (2 Tle., Tl. I: 1137 – 1175, Darmstadt 1968; Tl.II: 1176 – 1200, Darmstadt 1971) 74 – 76 Nr. 39. 6 Acht, Mainzer UB II, S. 1139 Nr. 695. 7 Stimming, Mainzer UB I, S. 400 Nr. 498 (1122). 8 1090: Stimming, Mainzer UB I, S. 276 – 279 Nr. 376, hier 278 f. 9 Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 5 Bde., 7. bzw. 6. unveränd. Aufl., Berlin / Leipzig 1952, IV, S. 6 f.
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Groß-Gerau) zugesprochen10. Zwischen dem Martinsstift in Bingen und dem Kloster Disibodenberg war ein Streit über Grundbesitz ausgebrochen. Die Sache wurde auf die Mainzer Diözesansynode gebracht11. Doch wurde sie nicht durch einen streitigen Prozeß entschieden, sondern durch Schiedsspruch des Erzbischofs, auf den sich die Parteien als Schiedsrichter geeinigt hatten12. Der Erzbischof fällte seinen Spruch nicht nach einsamer Überlegung, vielmehr aufgrund der Beratung durch den synodalen Umstand. Zweimal erwähnt er, daß er sich bei seiner Entscheidung auf den Rat vornehmer Kleriker gestützt habe: ,,consilio priorum ecclesie nostre, communicatoque consilio cum maioribus et sanioribus ecclesie nostre fratribus“. Es stand dem Erzbischof frei, wen er zur Beratung und Urteilsfindung heranziehen wollte. Nicht alle auf der Diözesansynode versammelten Geistlichen untersuchten und entschieden die Streitsachen, die vor sie gebracht wurden, sondern ein bestimmter, abgegrenzter Kreis. Eine solche Einschränkung ergab sich schon aus dem Erfordernis gewisser Kenntnisse des Rechts. Wer sind die Ratgeber in dem zuletzt erwähnten Fall? Sie ergeben sich aus den Listen der Zeugen. Als solche figurierten an erster Stelle der Dompropst Dudo, der Propst von St. Stephan Richard und der Propst von St. Viktor Heinrich, der Domdekan Kuno, der Scholaster Dorenbert, der Kantor Hartmann, der Propst von St. Maria im Feld Gottschalk, der Propst von Mariengreden Anselm und der Propst von Limburg Arnold sowie die Äbte von St. Alban Folbert und St. Jakob Werenbold. Sie sind die Männer, deren Rat der Erzbischof eingeholt hat. Es handelt sich bei ihnen ausnahmslos um Prälaten und Dignitäre. Ihre hohe Stellung und ihre besondere Bildung empfahlen sie für ihre Rolle bei der Beratung des Erzbischofs. Nicht immer wurde nur der Rat der auf der Synode anwesenden Kleriker bzw. Dignitäre von dem vorsitzenden Erzbischof eingeholt. Es gab auch Fälle, in denen die Teilnehmer an der Synode den entscheidenden Spruch fällten, den der Erzbischof sich dann zu eigen machte13. Das alte, vor dem Aufkommen des römisch-kanonischen Prozesses übliche Verfahren war gerade dadurch gekennzeichnet, daß das Urteil durch den Umstand gefunden wurde und der vorsitzende Richter es lediglich verkündete. Die Benediktinerklöster St. Peter in Erfurt und Disibodenberg brachten ihren langwierigen Streit um einen Besitz in Bischofroda (Kreis Eisenach)14 vor die 10
Stimming, Mainzer UB I, S. 400 Nr. 498 (1122). In plena synodo Mogontie habita utriusque partis causam in nostra dispensatione ex amborum consensu suscepimus (Stimming, Mainzer UB I, S. 429 f. Nr. 523) (1124 November 2). 12 Diese Rolle des Erzbischofs ergibt sich aus Wendungen wie causam … a nobis in hunc modum esse compositam, compositionis modum, in nostra dispensatione ex amborum consensu suscepimus, hac modificatione usi sumus. 13 Quesita enim a prelatis et rectoribus ecclesie nostre sententia et iudicio super huiusmodi causa et dissensione decretum est ab eis lege synodali (Stimming, Mainzer UB I, S. 450 Nr. 543) (1127 Februar 24). 14 Acht, Mainzer UB II, S. 74 – 76 Nr. 39 (1143 [März 20]). 11
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Mainzer Frühjahrssynode des Jahres 114315. Es kam jedoch auch in diesem Fall nicht zum gerichtlichen Austrag der Sache, sondern es erging ein Schiedsspruch16. Aber an diesem war die Synode in ähnlicher Weise beteiligt wie an einem Urteil. Erzbischof Heinrich I. entschied einen Streit zwischen dem Stift St. Viktor vor Mainz und einem Mainzer Bürger um einen Wasserlauf17 nach Zusammenrufung und im Beisein vornehmer Kleriker und Laien18. Das Benediktinerkloster Disibodenberg und das Mariengredenstift in Mainz stritten um den Immunitätsbezirk des ersteren19. Die Sache wurde vor Papst Innozenz II. gebracht, der den Mainzer Erzbischof mit der Entscheidung beauftragte20. Dieser kam freilich erst nach dem Tode des Papstes dazu, sich der Sache anzunehmen. Dies geschah in der Weise, daß die Parteien auf die strittigen Güter zugunsten des Erzbischofs und der vornehmen Geistlichen der Mainzer Kirche verzichteten21. Der Erzbischof traf dann seine Entscheidung nach Beratung durch die hohen Geistlichen22. Die Diözesansynode stellte zweifellos eine Versammlung dar, die für die Erledigung von Rechtsstreitigkeiten geeignet war. Hier war die Öffentlichkeit des Verfahrens gewährleistet, die nach einer bestimmten Sicht der Verwirklichung des Rechts dienlich ist, hier waren regelmäßig der Erzbischof und immer rechtlich vorgebildete Kleriker zugegen, welche eine Sache untersuchen und durch Urteil entscheiden konnten. Doch sind die Schattenseiten dieses Rechtsweges nicht zu übersehen. Die Diözesansynode tagte bestenfalls zweimal im Jahre, gewöhnlich nur für einen Tag oder höchstens für wenige Tage. Die Beweisaufnahme und die Verhandlung beanspruchten indes häufig mehr Zeit, als auf der Tagung zur Verfügung stand. Erwiesen sich ergänzende Untersuchungen und Vernehmungen als erforderlich, mußte die Entscheidung verschoben werden. Konnte die Streitsache auf der Frühjahrssynode nicht zu Ende gebracht werden, war sie auf der Herbstsynode erneut vorzubringen. Nicht selten waren noch mehr als zwei Termine erforderlich,
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In generali ergo sinodo, quam apud Moguntiam habuimus in mense marcio, predictorum cenobiorum abbates in synodo surrexerunt … et iusticiam synodi super hoc postulaverunt. 16 Placuit …, ut non iusticia sed consilio duarum partium altercatio terminaretur. Quod cum utreque partes laudassent, in id consilii totus conventus unanimiter concordavit. 17 Acht, Mainzer UB II, S. 183 – 185 Nr. 95 (1147 April 6). 18 Hanc litem fratribus michi conquerentibus coram prioribus nostris et ministerialibus … terminavimius. 19 Acht, Mainzer UB II, S. 185 – 187 Nr. 96 (1147 [April]). 20 Ut ex parte ad aures domini pape Innocencii veniret ipseque nobis hanc definire praecepisset. 21 Prelatis siquidem earundem ecclesiarum … potestati nostre ac priorum Maguntine ecclesie eadem bona, quorum causa disceptabant, resignantibus. 22 Hoc modo pacem ex consulto prelatorum ecclesie nostre inter eos conposuimus.
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um zu einem Urteil zu gelangen23. Das Verfahren war also umständlich und langwierig. Auch mochte mancher Erzbischof der Ansicht sein, daß er seine Zeit und seine Kraft nützlicher anderen Aufgaben zuwenden solle als den Streitigkeiten um Rechte und Besitz. So sann man darüber nach, wie der Erzbischof von seiner Tätigkeit als Richter in seiner Diözese entlastet werden könnte.
II. Die Beauftragung hoher Geistlicher mit der Entscheidung von Streitigkeiten Die Entbürdung des Erzbischofs von der streitigen Gerichtsbarkeit geschah in zwei Stufen. In der ersten Phase wurde die Streitsache zunächst vor Geistlichen verhandelt, die der Erzbischof bestellt hatte, um die Angelegenheit entscheidungsreif zu machen. Sie hatten also die Klageschrift entgegenzunehmen, die Parteien zu laden und die Zeugen zu vernehmen, kurz gesagt, das Verfahren bis zur Urteilsfällung voranzutreiben. In der zweiten Phase wurden vom Erzbischof Richter bestellt, die an seiner Statt Recht sprachen, also auch das Urteil fällten. Das Benediktinerkloster Hasungen (Kreis Wolfhagen) und das Kanonikerstift Fritzlar brachten ihren Streit um einen Novalzehnten in Nieheim (Kreis Wolfhagen)24 vor den Erzbischof25. Dieser schaltete vornehme Geistliche der Mainzer Kirche ein26, und vor ihnen wurde die Sache längere Zeit verhandelt27. Wegen der Dauer der gerichtlichen Auseinandersetzung kann es sich dabei nicht um die Diözesansynode handeln; denn diese währte, wie gesagt, normalerweise nicht länger als einen Tag. Es wurde also wohl hier schon ein Stück des Verfahrens, und zwar das Kernstück, die Beweisaufnahme, außerhalb der Diözesansynode geführt. Die beiden Streitparteien vertrauten sich endlich dem Erzbischof als Schiedsrichter an28. Der Pfarrer von Oberweimar brachte seine Klage gegen das Kanonissenstift Essen wegen der Kirche in Fronhausen29 auf der Herbstsynode in Mainz an30. Die Sache wurde auf der Synode verhandelt, konnte aber dort nicht entschieden werden.
23 Erzbischof Adalbert I. von Mainz klagte in der Urkunde vom 21. Oktober 1133 darüber, daß der Zehntstreit zwischen dem Bistum Halberstadt und der Abtei Hersfeld diu in conciliis et sinodis nostris behandelt worden sei (Stimming, Mainzer UB I, S. 506 Nr. 588). 24 Acht, Mainzer UB II, S. 236 f. Nr. 124 (1149 [Sommer o. Frühherbst]). 25 Quorum demum audita controversia. 26 Ecclesie nostre priorum provida dispensatione. 27 In quorum praesentia causa diu ventilata erat. 28 Utramlibet dissensionis sue partem nostre commiserunt discretioni, ut, quicquid inde dictaret nostra provisio, et ipsi ratum tenerent. Qua accepta utriusque partis concessione prefatos … concordi pace coniunximus. 29 Acht, Mainzer UB I, S. 441 – 443 Nr. 244 (1159 [Oktober 1 – 3]). 30 In generali synodo nostra querimoniam … .moverit.
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Vielmehr beauftragte Erzbischof Heinrich den Dompropst Hartmann, das Verfahren bis zum Urteil zu Ende zu führen. So geschah es auch31. Diese Vorgänge zeigen, daß die Diözesansynode für schwierige Rechtsfälle, die genauer Untersuchungen und langwieriger Ermittlungen bedurften, nicht der geeignete Ort der Verhandlung war. Wenn sie aber außerhalb der Synode erledigt wurden, lag es nahe, daß nicht der mit mannigfachen Aufgaben belastete Erzbischof sich mit ihnen befaßte, sondern ein von ihm beauftragter rechtskundiger Kleriker. Dieser konnte sich der Sache gründlich annehmen und sie vor allem durch die regelmäßig erforderlichen zeitraubenden Vernehmungen von Zeugen bis zum Urteil bringen. Wenn beauftragte Kleriker außerhalb der Synode als entscheidende Richter fungierten und insofern den Erzbischof vertraten, dann konnte ein solches Verfahren selbstverständlich auch auf der Synode Anwendung finden, falls es erforderlich war. Es kristallisierte sich immer deutlicher ein Kreis von Klerikern heraus, die für die Rechtsprechung geeignet waren und dazu bestellt wurden. Zwischen dem Zisterzienserkloster Eberbach und den Erben Embrichos von Steinheim kam es zum Streit um das Erbe32. Die Sache wurde vor die Mainzer Diözesansynode gebracht33. Dort wurde sie durch Urteil der Richter entschieden34. Aber der Richter war nicht der Erzbischof. Entweder war er nicht anwesend35, oder er hatte die Prozeßführung abgegeben. An der Stelle des Erzbischofs fungierte als (vorsitzender) Richter der Propst des Mainzer Petersstiftes36. Das Augustinerchorherrenstift Ravengiersburg brachte vor dem Mainzer Erzbischof eine gerichtliche Klage37 gegen den Vogt Friedrich von Kirchberg vor wegen angeblich ungerechtfertigter Forderungen gegen die Leute des Stifts38. Es ist auch in diesem Falle anzunehmen, daß die Sache auf der Diözesansynode vorgetragen wurde, aber sie kam dort nicht zu Ende. Das Verfahren dauerte lange39. Es wurde endlich durch einen Schiedsspruch von hohen Geistlichen und Laien entschieden40. 31 Hoc negotium a maiore preposito nostro Hartmanno ex mandato predecessoris nostri Henrici archiepiscopi in hunc modum esse decisum. 32 Acht, Mainzer UB II, S. 498 – 500 Nr. 284 (1161 – 1165 vor Mai 22). 33 Convenimus ergo ab utrinque in publico conventu Moguntie tempore Cunradi archiepiscopi. 34 Causa coram iudicibus ventilata est et talis sententia a iudicio et a primatibus … est promulgata. 35 Vgl. J. Fr. Böhmer, Regesta Archiepiscoporum Maguntinensium. Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II. 742? –1288. Mit Benützung des Nachlasses von Johann Friedrich Böhmer bearb. u. hrsg. von Cornelius Will, 2 Bde., Innsbruck 1886, Neudruck: Aalen 1966, II, S. 1 – 11. 36 Locum iudicis tenebat in vice episcopi Burchardus prepositus sancti Petri. 37 Acht, Mainzer UB II, S. 556 – 558 Nr. 327 (1170). 38 Coram iudicio nostro diutinam intendebant accusationem. 39 Causa igitur diu ventilata. 40 Honestorum tandem virorum consilio dirimenda utrimque committitur facta compromissione, ut, quicquid illi ex consilio statuerent, pars utraque sine dolo et malo ingenio in-
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Seit dem 12. Jahrhundert läßt sich somit nachweisen, daß der Mainzer Erzbischof Rechtsstreitigkeiten an geeignete Kleriker zur Entscheidung übertrug. Die häufige Abwesenheit der Oberhirten und die zahlreichen Konflikte um den Mainzer Bischofsstuhl mögen diese Entwicklung begünstigt haben. In allen diesen Fällen wurden die Geistlichen in richterlicher Funktion tätig, ohne daß sie einen bestimmten Namen trugen, der sie als dauernd für die Streitentscheidung bestellte Richter auswies. Die Übertragung von richterlicher Gewalt geschah eben noch unsystematisch, je nach den Erfordernissen und Umständen. Sobald die geistlichen Richter jedoch einen festliegenden Namen erhalten, wird erkennbar, daß eine neue Einrichtung in der Diözese entstanden ist.
III. Das Auftreten von Iudices delegati Im Jahre 1181 treten zum ersten Mal ,,Iudices a domino Christiano Maguntine sedis archiepiscopo delegati“ auf41. Die Bedeutung dieser Urkunde liegt darin, daß die Richter ihre Vollmacht rechtlich zu fassen versuchen. Sie nennen sich ,,iudices“. Darunter sind selbstverständlich auch zur damaligen Zeit in erster Linie Hoheitsträger zu verstehen, die richterliche Gewalt besitzen, also zur Handhabung der (streitigen oder freiwilligen) Gerichtsbarkeit berufen sind. Aber der Ausdruck läßt sich nicht auf Inhaber der Rechtsprechungsgewalt beschränken. Auch andere Weisen, Hoheitsgewalt auszuüben, werden mit dem Begriff bezeichnet, so vor allem Verwaltungsakte. An dieser Stelle ist es freilich eindeutig, daß es sich um kirchliche Jurisdiktionsträger handelt, die mit richterlicher Gewalt ausgestattet sind; denn sie sprechen Recht. Aber sie richten nicht kraft eigenen Rechtes, sondern kraft übertragenen Rechtes. Deswegen heißen sie ,,iudices delegati“. Wie immer die Delegation zum damaligen Zeitpunkt der Entwicklung der Rechtswissenschaft zu erklären ist, so ist doch das eine sicher, daß sie eine Weise war, Jurisdiktion von einem ordentlichen Inhaber der Gewalt auf andere zu übertragen, die ihrer bis dahin ledig waren. Wenn sich die Richter ,,iudices delegati“ nennen, so besagt das, daß sie nicht kraft eigenen, sondern kraft übertragenen Rechtes Gerichtsbarkeit ausüben. Ihre Gerichtsgewalt leitet sich von dem Erzbischof von Mainz als Gerichtsherrn her. Dieser wird mit Namen genannt; es ist also nicht die Rede von dem (namenlosen) Inhaber des Mainzer Erzbischofsstuhles, sondern von der bestimmten Persönlichkeit des gegenwärtigen Erzbischofs. Es ist wohl kein Zufall, daß Christian I.42 der commutabiliter deinceps conservarent. Temperamentum … tale arbitri ex consilio promulgaverunt. 41 Acht, Mainzer UB II, S. 716 – 717 Nr. 445 (1181). 42 A. Brück, Christian I. EB v. Mainz: Lexikon für Theologie und Kirche (künftig: LThK) II, 2. Aufl., 1958, Sp. 1122 f.; Dieter Hägermann, Die Urkunden Erzbischof Christians I. von Mainz als Reichslegat Friedrich Barbarossas in Italien: Archiv für Diplomatik 14 (1968), S. 202 – 301; Wilfried Schöntag, Untersuchungen zur Geschichte des Erzbistums Mainz unter den Erzbischöfen Arnold und Christian I. (1153 – 1183). Phil. Diss. Marburg, Marburg/Lahn
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erste Erzbischof von Mainz war, der nach unserer Kenntnis delegierte Richter bestellte. Seine Tätigkeit im Reichsdient beanspruchte seine ganze Kraft. Als Kanzler, Gesandter und Heerführer des Kaisers war er meist von seiner Diözese abwesend. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Angelegenheiten des Bistums durch Vertreter besorgen zu lassen, und das hat er in weitestem Umfang getan, auch und gerade auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit. Die delegierten Richter des Erzbischofs Christian geben nun auch ihren Namen und ihre Stellung in der Kirche an. Es handelt sich um den Dompropst Arnold, den Domscholaster Siegfried und den Domkantor Hermann. Die ersten delegierten Richter in Mainz sind also ausnahmslos Dignitäre des Domkapitels. Der Dompropst war der vornehmste Geistliche im Bistum nach dem Erzbischof. Domscholaster und Domkantor zeichneten sich regelmäßig durch einen überdurchschnittlichen Bildungsstand aus, der sie geeignet machte, die diffizilen Angelegenheiten der (streitigen und freiwilligen) Gerichtsbarkeit in die Hand zu nehmen. Das erstmalige urkundliche Auftreten der delegierten Richter hat nicht einen Rechtsstreit, sondern eine Handlung der freiwilligen Gerichtsbarkeit zum Gegenstand. Das Benediktinerkloster St. Alban vor Mainz übergab dem Benediktinerkloster Rupertsberg bei Bingen eine Mühle an der Nahe zur Erbpacht, nachdem die Rechte des bisherigen Erbpächters abgelöst worden waren. Die Richter unterstellten das Rechtsgeschäft der Drohung mit der Exkommunikation gegen Zuwiderhandelnde43. Die Aussteller der Urkunde sind die Richter und, mit ihnen vereint, das gesamte Domkapitel. Daß sich die Richter mit letzterem verbanden, um die Angelegenheit zu bekunden, war gewiß nicht notwendig, verlieh aber der Urkunde eine gesteigerte Bedeutung. Nun hätte ein derartiges Rechtsgeschäft ja auch (allein) vor dem Domkapitel abgeschlossen und von diesem beurkundet werden können. Aber dann hätte die Sicherung gefehlt, die nur die Richter dem Geschäft verschaffen konnten, nämlich der Schutz der Strafdrohung. Bezüglich der Zustimmung zu der Aufnahme derselben in das abgeschlossene Rechtsgeschäft ist zu unterscheiden zwischen den Parteien und den Umstehenden. Die Einwilligung der ersteren war notwendig, die der letzteren rechtlich unerheblich. Die Richter lassen ihre Zuständigkeit erkennen, daß vor ihnen (,,in nostra presentia“) Rechtsgeschäfte wie Verkauf (,,venditio“) und Verpachtung (,,locatio“) vorgenommen werden, und sie wissen darum, daß die Erbpacht (,,enphiteosis“) ein Vertrag ist, der in der Mitte zwischen Verkauf und Verpachtung steht, was ihrer Rechtskenntnis ein gutes Zeugnis ausstellt. Sie führen kein eigenes Siegel, sondern bedienen sich des Siegels des Domkapitels, dem sie ja ausnahmslos angehören. Noch ist der Weg zu einer Gerichtsbehörde erst eingeschlagen, nicht zu Ende gegangen, und darum fehlt den Richtern das eigene, ihre Befugnis bezeugende Siegel. 1970; derselbe, Christian I. (Christian v. Buch): Lexikon des Mittelalters II, 1983, Sp. 1910 – 1912. 43 Ex consensu partium et omnium astantium … districtam excommunicationis sententiam, ne quis temere his, que rationabiliter acta sunt, contraire attemptet, in medium promulgavimus.
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Die drei Richter treten auch in der Reihe der Zeugen auf, die ihre Unterschrift unter die Urkunde setzen. Dabei steht der Dompropst an der Spitze, auf ihn folgt der Domdekan, danach unterzeichnen, in umgekehrter Reihenfolge als am Anfang, der Domkantor und der Domscholaster. Diese Übung, daß die ausstellenden Richter gleichzeitig in der Zeugenreihe auftreten, wird später aufgegeben. Man wird sich eben des Unterschiedes der Funktionen beim Abschluß von Rechtsgeschäften immer mehr bewußt. Zwischen den Kanonikern des Aschaffenburger Stiftes und ihrem Scholaster Heinrich brach ein Streit aus um den Zehnten in Kleinostheim44. Der Scholaster Heinrich brachte seine Sache vor die Mainzer Kirche45. Darunter ist vermutlich die Diözesansynode als Repräsentanz des Bistums zu verstehen. Der Rechtsstreit wurde aber nicht von dem Erzbischof, sondern von zwei Dignitären entschieden. Der Propst Folbert von Langenselbold und der Domdekan Heinrich beendeten ihn durch Schiedsspruch46. Die Möglichkeit, den gerichtlichen Austrag einer privaten Streitsache zu vermeiden, bestand immer, und sie wurde in unzähligen Fällen gewählt, weil sie manche Vorteile bot und von der Kirche begünstigt wurde. Einen Namen, der die Funktion der Richter und die Herkunft ihrer Gewalt angibt, enthält die Urkunde nicht. Vor den Erzbischof Konrad wurde in seiner ersten Amtszeit ein Streit zwischen dem Augustinerchorfrauenstift Tiefenthal im Rheingau und dem Propst des Stiftes St. Peter vor Mainz gebracht47, der ihn aber wegen Überlastung nicht zu Ende führen konnte48. Hier wird urkundlich deutlich gemacht, welches einer der Hauptgründe war, weswegen in der Diözese Mainz ein mit Klerikern besetzter Gerichtshof entstand: Die Vielfalt der Aufgaben des Erzbischofs gestattete ihm nicht mehr, die Gerichtsbarkeit allein und ohne Gehilfen auszuüben. Aus diesem Grunde übertrug er die Prozeßführung und die Entscheidung, allerdings als Schiedsrichtern, dem Mainzer Dompropst Christian und dem Pfalzgrafen Otto II. von Wittelsbach49. Die beiden Schiedsrichter führten den Auftrag durch und fällten ein Urteil50. In der Zeit des Schismas brachten die Chorfrauen die Sache von neuem vor, und der nun zum Erzbischof avancierte Christian warf den von ihm selbst gefällten Schiedsspruch um51. Um dem fortwährenden Streit ein Ende zu setzen, bestellte der Papst den Bischof Hermann von Münster und den Abt Folbert von St. Jakob in Mainz zu 44
Acht, Mainzer UB II, S. 738 – 740 Nr. 456 (1181 Sept. 1 – 1183 Aug. 25). In presentia ecclesie Maguntine constitutus; qui cum vocati in presentia ecclesie Maguntine astitissent. 46 Arbitraria dispensatione … tractatum est, predicti arbitri, ex arbitrio fidei mediatione illis dato sententiam protulerunt. 47 Acht, Mainzer UB II, S. 745 – 748 Nr. 459 (1183 November 17). 48 Sedens pro tribunali inter alia negociorum emergentia litem … pluribus aliis occupatus terminare eam non valens. 49 Cognoscendam et rationabili fine decidendam … vice nostra demandavimus. 50 Qui allegatis hinc inde diligenter visis et inspectis … adiudicaverunt. 51 Dicitur dominus Christianus contra nostram non, immo contra suam venisse sententiam. 45
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delegierten Richtern. Diese erklärten sich jedoch außerstande, den Streit zu entscheiden, gingen vielmehr den aus dem Exil zurückgekehrten Erzbischof Konrad an, damit er ihnen beistehe. Der Erzbischof stimmte zu und bat die Parteien, sie als Schiedsrichter zu wählen52, was sie auch taten. Die Schiedsrichter schritten zur Beweisaufnahme und holten die Meinung zahlreicher Personen ein53 und fällten einen vom Billigkeitsdenken durchwirkten Spruch54. Auch in diesem Falle fehlt eine Selbstbezeichnung der Richter, die Aufschluß gibt über ihre Vollmacht. Die Urkunde aus dem Jahre 1181 verknüpfte die Bezeichnung der Richter mit dem Namen des Mainzer Erzbischofs. Aber diese Verbindung hielt sich nicht durch. Wohl im Jahre 118755 treten zum erstenmal ,,Iudices Moguntine sedis“ auf56. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Auf der Wormser Diözesansynode wurde ein Rechtsstreit zwischen Erkenger von Magenheim und dem Pfarrer von Frauenzimmern (Kreis Heilbronn) über eine Kapelle geführt57. Die Sache kam anscheinend nicht recht vom Fleck58. Die Diözesansynode erwies sich in steigendem Maße als ungeeignet, komplizierte Rechtsfälle zu entscheiden. Die Parteien brachten den Streit daher durch Berufung an die Mainzer Kirche59. Dabei darf man sich an dem Wort Appellation nicht stoßen. Es war damals zulässig, auch vor einem Endurteil und ohne Zwischenurteil an die höhere Instanz zu appellieren60. Die Berufung wurde nun auf der Mainzer Diözesansynode verhandelt61. Der Instanzenzug ging also von der Diözesansynode des Suffraganbistums zur Diözesansynode des Metropolitanbistums. Längst war nicht mehr die gesamte Synode als Rechtsprechungsorgan tätig. Vielmehr wird die Synode als die Gesamtheit der Anwesenden von jenen ihrer Mitglieder, die mit der Streitsache befaßt waren, unterschieden62. Der Ritter obsiegte in dem Streit63. Die Richter in dieser Sache nannten sich ,,Iudices Moguntine sedis“. Die ,,sedes Moguntina“ ist der Mainzer Bischofsstuhl. Der Ausdruck Bischofsstuhl besagt die Institution des Bischofs, sein festes, dauerndes Amt64. Wenn sich nun die erwähnten 52
Ut in nobis compromitterent. Habito igitur consilio electi Curiensis et Dudonis camerarii … aliorum plurimorumque prudentum. 54 Amicabili conventione rigorem iuris equitate contemperantes … iudicavimus. 55 Die Urkunde wird von Acht, Mainzer UB II, S. 827 f. Nr. 507 in dieses Jahr gelegt. 56 Acht, Mainzer UB II, S. 827 f. Nr. 507 (1187). 57 Litigantibus coram nobis in sancta sinodo nostra. 58 Ipsisque sic diu altercantibus. 59 Tandem totum negotium per appellationem ad Moguntinam ecclesiam transtulerunt. 60 Vgl. A. Amanieu, Appel: DDC I, 1935, Sp. 764 – 807. 61 Partibus itaque in sinodo Moguntina constitutis et sufficientibus hinc inde allegationibus super ipso negotio inductis et diligenter a iudicibus examinatis. 62 A iudicibus examinatis, Iudices vero Moguntine sedis, scilicet (folgen die Namen). 63 Miles tandem presente plebano in lite prevaluit plebano consentiente et non contradicente. 64 Th. Klauser, Kathedra: LThK VI, 2. Aufl., 1961, Sp. 66 f. 53
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Richter als solche des Mainzer Stuhles bezeichnen, so geben sie damit an, daß sie das Gericht des Mainzer Erzbischofs darstellen, also an seiner Stelle Gerichtsbarkeit ausüben, und daß sie ihre richterliche Vollmacht dem Inhaber des Mainzer Bischofsstuhles verdanken. Der Name des Erzbischofs erscheint nicht mehr. Diese Auslassung deutet darauf hin, daß die Existenz der Richter nicht mehr in den persönlichen Umständen eines bestimmten Amtsinhabers zu suchen ist und daß sie nicht nur aus gegebenem Anlaß oder lediglich sporadisch an dessen Stelle treten, sondern daß ihre Position sich verfestigt hat, mit der Institution des Bischofsamtes verknüpft ist, ja sich selbst auf dem Wege zu einer Institution befindet. In welcher Weise die Richter ihre Vollmacht empfangen haben, bleibt an dieser Stelle noch offen. Aber wenig später findet sich der fachliche Ausdruck. Die Richter auf der Mainzer Synode, die hier m. W. zum ersten Mal ,,Iudices Moguntine sedis“ genannt werden, waren sieben, nämlich der Dompropst Arnold, die Äbte von St. Alban und St. Jakob, der Domdekan Heinrich, der Domkustos Ruger, der Domscholaster Peter und der Domkantor Otto. Dignitäre der Domkirche und Mainzer Äbte stellten also die Richter. Auch auf der Wormser Synode waren (nur) vier Wormser Dignitäre, der Neuhausener Propst Lupold, der Domdekan Herbold, der Domscholaster Konrad und der Domkantor Heinrich, richterlich tätig65. Die Heranziehung von Domkapitularen für die Ausübung der richterlichen Tätigkeit war zukunftsträchtig, jene von Klostergeistlichen jedoch nicht. Die Übertragung des Richteramtes an Mitglieder des Domkapitels war naheliegend. Einmal war dieses Gremium dem Bischof durch Rat und Hilfe eng verbunden, zum anderen fanden sich darin regelmäßig im Recht bewanderte Kleriker. Dagegen war die Ausübung einer richterlichen Tätigkeit mit dem klösterlichen Stande nur schwer zu vereinbaren; darum kam man davon ab, Klosterobere zu Richtern zu bestellen. Die erwähnten Mainzer Richter sprachen dem Ritter das Eigentum an der umstrittenen Kapelle ,,auctoritate domini archiepiscopi Moguntini et sua“ zu. Auctoritas ist hier die Machtbefugnis66, nicht das Ansehen oder die Würde. Da sich ihre Rechtsprechungsvollmacht von dem Erzbischof herleitete, beriefen sich die Richter zu Recht auf dessen Gewalt. Weil diese Vollmacht aber ihnen übertragen war, von ihnen innegehabt und ausgeübt wurde, durften sie sich als Träger derselben ebenfalls nennen. Eine Urkunde vom 25. Juni 1191 setzt ein mit den Worten: ,,Quoties aliquid per nos vel per delegatos a nobis iudices agitur“67. Der Aussteller der Urkunde ist Erzbischof Konrad von Mainz. In dem erwähnten Satz stellt er neben die eigene richterliche Tätigkeit jene der von ihm delegierten Richter. Diese Weise, durch andere Akte der Gerichtsbarkeit setzen zu lassen, muß also damals schon üblich (quoties!) und kann nicht mehr ein Ausnahmefall gewesen sein. Im Text derselben Urkunde ist von einem Prozeß ,,coram eodem maiore preposito ceterisque delegatis 65
Acht, Mainzer UB II, S. 827. Vgl. etwa X 3, 39, 13. 67 Acht, Mainzer UB II, S. 912 – 914 Nr. 552.
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iudicibus“ die Rede. Es war also wiederum eine Mehrzahl von Richtern tätig, an ihrer Spitze der Dompropst. Die Richter haben ihre Vollmacht zu richten (vom Erzbischof) durch Delegation erhalten. Delegierte Richter waren seit langem von den Päpsten ernannt worden. Die Einrichtung blühte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auf68. Die Bischöfe schlossen sich nun dem vom Papst gegebenen Beispiel an. So traten neben die päpstlich delegierten die erzbischöflich delegierten Richter. Es fehlt jeder Hinweis, daß diese Delegation ihnen für mehrere oder gar für alle vorkommenden Fälle erteilt wurde; es ist daher anzunehmen, daß es sich (noch) um eine Delegation für einen Einzelfall handelte. Darauf deutet auch die Konjunktion quoties. Die Anzahl der bestellten Richter ist noch offen; es können mehr oder weniger sein, eine bestimmte Zahl ist noch nicht festgelegt. Doch ist zu beobachten, daß die Zahl der delegierten Richter rasch abnimmt. Es mag sich bald die Überzeugung durchgesetzt haben, daß die größere Zahl nicht die bessere Gewähr eines gerechten Spruches verbürgt und daß wenige qualifizierte Männer einer großen Schar ungleich ausgebildeter Geistlicher vorzuziehen seien. Bei einer Mehrzahl von Richtern stellt sich die Frage, wie ihre Entscheidung zustande kommt. In der Regel dürften die Richter einstimmig entschieden haben. Bei einer Zweiergruppe war sonst eine Entscheidung gar nicht möglich. Auch die geistlichen Personen, die für derartige Aufträge in Frage kommen, sind noch nicht abschließend bestimmt; sie wechseln noch, wenn auch nicht nach Belieben. Die Vorliebe für Dignitäre der Mainzer Stifte, vor allem des Domstifts, ist unverkennbar. Der richtende Dompropst wird dabei nicht nur von seinen delegierten Mitrichtern stets abgesetzt, sondern auch immer an erster Stelle genannt. Die Richter sind somit keine Beamten des Erzbischofs, der sie für diesen Dienst in Pflicht nimmt und besoldet, sondern Inhaber von Benefizien, die damit betraut werden. Der beamtete Offizial, wie er in Frankreich um jene Zeit schon bekannt war69, fand in Mainz keine Nachahmung. Aber das neue Recht, das im Vormarsch begriffen war, forderte auch hier den gelehrten Richter70. Im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts zeichneten sich weitere terminologische Veränderungen ab. Vor dem Erzbischof wurde ein Prozeß um ein Erbrecht geführt und mit Endurteil abgeschlossen71. Anschließend erhielt die unterlegene Partei die besessenen Güter in beneplacito, also nach jederzeit widerruflichem Gutdünken des Eigentümers, zurück. Der Vorgang spielte sich ab ,,in nostro iudicio nostraque et prelatorum atque iudicum ecclesie Magontine a nobis delegatorum presentia“. Das erzbischöfliche Gericht besteht in diesem Falle aus dem Erzbischof und den von ihm bestellten Richtern. Ich verstehe dabei die Wendung ,,prelatorum 68
Nikolaus Hilling, Die Offiziale der Bischöfe von Halberstadt im Mittelalter (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 72. Heft), Stuttgart 1911, S. 5. 69 Paul Fournier, Les officialités au moyen âge, Paris 1880. 70 Vgl. Franz Gescher in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 17 (1928), S. 616. 71 Acht, Mainzer UB II, S. 924 – 926 Nr. 558 (1191 Juli 5).
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atque iudicum“ als ein Hendiadyoin, d. h. die Prälaten sind Richter. Ein Zusammenhang mit der Diözesansynode ist nicht erkennbar und für den 5. Juli 1191 auch unwahrscheinlich. Das Gericht hat sich offensichtlich gegenüber der Synode verselbständigt. Doch ist außer den Richtern ein größerer Umstand anwesend, der als Zeugenschaft fungiert. Die Richter werden jetzt als ,,iudices ecclesie Maguntine“ bezeichnet. Darin scheint sich eine gewisse Objektivierung gegenüber der Wendung ,,iudices sedis Maguntine“ anzudeuten. Der Ausdruck ,,ecclesia Maguntina“ ist an sich mehrdeutig. An dieser Stelle besagt er vermutlich die Diözese Mainz, für welche die Richter bestellt sind. Der Terminus würde dann den geographischen Bereich angeben, innerhalb dessen die Richter ihre Vollmacht ausüben. In der Zuweisung der territorialen Kompetenz würde sich die weitere Verfestigung des Gerichtes andeuten. Aber selbstverständlich hat sich das rechtliche Verhältnis der Richter zum Erzbischof nicht gewandelt; sie bleiben von ihm delegiert. Deswegen heißen sie ,,iudices delegati“. Ihre Namen werden nicht genannt. Doch ist es wahrscheinlich, daß sie in der Liste der Zeugen auftauchen. Dort steht an erster Stelle der Dompropst, dem, nach zwei weiteren Pröpsten, die übrigen Dignitäre und mehrere (4) Kanoniker des Domstiftes, darunter der Erzpriester, folgen. Möglicherweise zählten auch die beiden anschließend genannten Äbte noch zu den Richtern. Selbstverständlich war es dem Erzbischof auch fernerhin unbenommen, persönlich Rechtsstreitigkeiten, vor allem wenn sie durch Berufung vor ihn gebracht wurden, zu entscheiden72. Er blieb nicht nur der Gerichtsherr, sondern auch der erste Richter seines Bistums. Wenn der Erzbischof auf der Synode Recht sprach, gedachte er in der Urkunde doch eigens seiner beteiligten Richter (,,iudicum nostrorum in Moguntia“)73. Es waren damals fünf, nämlich Konrad, der Propst, Heinrich, der Dekan, Rucher, der Kustos, Gottfried, der Kantor, allesamt vom Domstift, sowie der Abt des Albansklosters. Diese iudices in (Stadt und Bistum) Mainz werden im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts unterschieden von jenen Richtern, die der Erzbischof außerhalb der Diözese Mainz für einen Fall mit der Entscheidung eines Rechtsstreites betraute. In einer Berufungssache, die im Bistum Hildesheim spielte, bestellte Erzbischof Konrad den Halberstädter Domdekan, den Abt von Walkenried und den Scholaster des Stiftes St. Simon und Judas in Goslar zu Richtern (,,a predicto archiepiscopo iudicibus delegatis“)74.
72 Z. B.: Acht, Mainzer UB II, S. 936 – 938 Nr. 568 (1192); II, S. 983 f. Nr. 597 (1194); II, S. 1045 f. Nr. 642 (1196). 73 Acht, Mainzer UB II, S. 1046 Nr. 643 (1196). 74 Acht, Mainzer UB II, S. 982 f. Nr. 596.
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IV. Das Entstehen einer Behörde, des geistlichen Gerichts zu Mainz Die Entwicklung drängte zur Institutionalisierung des Gerichtes des Mainzer Stuhles. Eine feste Einrichtung bietet nun einmal mannigfache Vorteile gegenüber Bevollmächtigten, die von Fall zu Fall bestellt werden. Dieser Erkenntnis verschloß man sich in Mainz nicht. Im Jahre 1195 schichteten die ,,Moguntine sedis judices delegati“ einen Streit um Güter des Klosters Eberbach. Es handelte sich um Heinrich, den Abt von St. Alban, und Gottfried, den Kantor der Kathedralkirche zu Mainz. Sie siegelten mit dem Siegel der Mainzer Kirche, d. h. des Domstifts75. Der Kantor Gottfried wurde mehrfach zur prozessualen Erledigung von Streitsachen bestellt76, ebenso der Abt Heinrich des Albansklosters77. Es lag eben nahe, jemanden, der sich in richterlicher Funktion bewährt hatte, immer wieder damit zu beauftragen. Wenn aber eine vertrauenswürdige Person sich in die Kunst der Prozeßführung eingearbeitet hatte, war es in mehrfacher Hinsicht eine Erleichterung, dieselbe überhaupt damit zu betrauen. Das heißt: Die wiederholte Delegation in Einzelfällen drängte zur Delegation für alle vorkommenden Fälle, mit anderen Worten zur Einsetzung einer ständigen Behörde für die Gerichtsbarkeit. Selbstverständlich schloß die regelmäßige oder bald ständige Bestellung bestimmter Kleriker zu Richtern, die in Vertretung des Erzbischofs Rechtsstreitigkeiten entschieden, nicht aus, daß auch weiterhin für einen Einzelfall ein Geistlicher mit der Streitentscheidung betraut wurde. Das ist auch geschehen. So beauftragte Erzbischof Konrad beispielsweise den Propst von St. Peter und Alexander in Aschaffenburg, einen Streit zwischen dem Stiftskapitel und dessen Zellerar gerichtlich zu entscheiden78. Bevor es dazu kam, legte der Zellerar Berufung an den Erzbischof ein. Wohl im Jahre 1196 griffen die ,,Moguntine sedis iudices delegati“ ein, als eine Reihe von Rittern dem Zisterzienserkloster Eberbach eine Erbschaft streitig machen wollten79. Auf Antrag des Abtes luden sie die Ritter vor80. Der Abt fand sich in der Verhandlung bereit, sein Recht zu beweisen. Doch erklärten die Ritter ihren Verzicht auf das Recht, das zu haben sie behauptet hatten. Die Bezeichnung ,,Moguntine sedis iudices delegati“ war auf dem besten Wege, sich einzubürgern. Sie sagte aus, daß die Richter die Rechtsprechung, die dem Erzbischof zustand, ausübten und daß sie es auf seine Beauftragung hin taten. Als Richter vermute ich (mindestens) die zwei ersten der namentlich benannten Zeugen, also den Abt Heinrich und den 75 K. Rossel (Hrsg.), Urkundenbuch der Abtei Eberbach im Rheingau, 2 Bde., Wiesbaden 1862/65, I, S. 100 f. Nr. 50; I, S. 396 – 398 (Original). 76 Z. B.: Acht, Mainzer UB II, S. 914, 926, 1088, 1147. 77 Z. B.: Acht, Mainzer UB II, S. 914, 926, 1088. 78 Acht, Mainzer UB II, S. 1082 – 1084 Nr. 664. 79 Acht, Mainzer UB II, S. 1086 – 1088 Nr. 666. 80 In nostra statuimus presentia.
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Kantor Gottfried. Tatsächlich setzt eine der handschriftlichen Kopien der Originalurkunde diese beiden als ,,delegati iudices“ von den übrigen Zeugen ab. Die Urkunde wurde mit dem Siegel der Mainzer Kirche, das die Richter führen (,,quod et nos annuimus“), bekräftigt. Darin drückt sich die enge personelle Verbindung des entstehenden Gerichtes mit dem Domstift aus. Denn die Mainzer Kirche ist hier identisch mit dem Domkapitel. Trotz der allmählichen Bildung eines Gerichtshofes blieb die Diözesansynode erhalten. Allerdings trat die Erledigung von Rechtsstreitigkeiten auf ihr zurück. Aber das Vertretungswesen setzte sich auch bei dieser Einrichtung durch. Auf einer Diözesansynode führten der Propst Gerwich von St. Sever in Erfurt und der Dekan Luther von St. Marien in Erfurt als Vertreter des Mainzer Erzbischofs (,,vices Moguntini archiepiscopi agentes“) den Vorsitz81. Solche Vertretung mag des öfteren vorgekommen sein. Erzbischof Konrad war ein hervorragend tüchtiger Regent seines Bistums. Ungleich seinem Vorgänger residierte er, soweit es auf ihn ankam, in seinem Bistum. In hohem Alter entschloß er sich, an dem sogenannten ,,Deutschen Kreuzzug“ teilzunehmen82. Er weilte fast drei Jahre nicht in seiner Diözese. Damit war die Notwendigkeit verbunden, für die Zeit seiner Abwesenheit das Funktionieren der Gerichtsbarkeit zu gewährleisten. Wie die Verhältnisse lagen, kamen dafür nur die delegierten Richter des Mainzer Stuhles in Frage. Vermutlich im Jahre 1197 unterrichteten so ,,Moguntine sedis iudices delegati“ den Bischof Helmbert von Havelberg als Vertreter des auf dem Kreuzzug befindlichen Erzbischofs Konrad von einem Rechtsstreit, in dem Erzbischof Konrad einen Güteraustausch, den der Jechaburger Propst Werner anfocht, als rechtmäßig erfolgt durch Urteil festgestellt hatte83. Leider lassen sich die Namen der Richter nicht feststellen, und es bleibt auch für die Zukunft die Regel, daß die Richter ihren Namen nicht angeben, sondern anonym als ,,iudices sancte Moguntine sedis“ ihren Dienst verrichten. In dieser Namenlosigkeit liegt ein weiterer Baustein zu der Entstehung der Behörde des Mainzer geistlichen Gerichts. In dieselbe Richtung weist die Tatsache, daß sich jetzt bereits ein Schreiber der delegierten Richter ausmachen läßt, dessen Hand bei mehreren Urkunden festzustellen ist84. Eine gerichtliche Behörde beginnt sich zu konstituieren, die über eigenes Personal verfügt. In einer Urkunde von 1197/1198 wurden ,,Moguntinae sedis iudices delegati“ als Berufungsinstanz von einem in Speyer begonnenen Prozeß tätig85. Das Verfahren hob an ,,in praesentia Spirensis ecclesiae“. Ich verstehe darunter die Speyerer Diözesansynode. Doch ging die Berufung davon nicht an die Mainzer Diözesansynode, sondern an das Gericht der delegierten Richter: ,,ad nostram appellatum est 81
Acht, Mainzer UB II, S. 1085 f. Nr. 665 (wohl 1193). Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands IV, S. 701. 83 Acht, Mainzer UB II, S. 1120 – 1122 Nr. 686. 84 Acht, Mainzer UB II, S. 1086, 1120. 85 Acht, Mainzer UB II, S. 1123 – 1126 Nr. 688. 82
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audientiam“. Die Diözesansynode verlor, was die Gerichtsbarkeit angeht, an Gewicht, falls sie in der Abwesenheit des Erzbischofs überhaupt abgehalten wurde. Dieser Vorgang lehrt, daß das Gericht nunmehr eine feststehende Behörde ist. Es braucht nicht mehr für den Einzelfall konstituiert zu werden, sondern es existiert ständig, so daß man es jederzeit angehen kann. Der Mainzer Domscholaster wurde zur Zeugenvernehmung an Ort und Stelle entsandt. Es wird nicht falsch sein, wenn man in ihm einen der delegierten Richter sieht. Die eine Partei lehnte es jedoch ab, sich verhören zu lassen, legte vielmehr Berufung an den Apostolischen Stuhl ein. Der rechtskundige Scholaster erklärte, die Berufung dürfe nicht weitergegeben werden; denn der Urteilsspruch sei von beiden Seiten gebilligt und in Rechtskraft erwachsen, er selbst sei lediglich der Vollstrecker, und gegen die Vollstreckung dürfe nur dann Berufung eingelegt werden, wenn der Vollstrecker das bei dem Vollzug gebotene Maß überschreite. Er schritt daher, ungerührt von der Berufung, zur Vernehmung der aussagewilligen Partei und der zahlreichen Zeugen, die Richter leiteten dann die ihnen übermittelten Aussagen dem Papst zu, auch wenn sie, wie der Scholaster, die Berufung als nicht rechtmäßig ansahen. In einer Urkunde vom 1. August 1199 ist von einem Schreiben der ,,delegati iudices sedis Maguntine“ die Rede, in dem sie dem Propst des Prämonstratenserstifts Wirberg Vollmachten zur Lossprechung bestimmter Personen von der Exkommunikation geben86. Die Exkommunikation war vom Erzbischof auf der Diözesansynode ausgesprochen worden, weil der Ritter Eberhard von Merlau sich unrechtmäßig in den Besitz von Gütern gesetzt hatte, die der Kirche St. Johann in Mainz gehörten, und weil er sich weigerte, sich deswegen zu verantworten. Eberhard starb im Banne. Damit der Verstorbene in geweihter Erde bestattet werden konnte, bedurfte er der Lossprechung von der Exkommunikation. Gleichzeitig bekamen jene, die sich an den Vergehen mitschuldig gemacht hatten, die Absolution87. Am 30. November 1199 beurkundeten die ,,delegati iudices Maguntine ecclesie“ einen in ihrer Gegenwart (,,in nostri presentia“) geschlossenen Vertrag88. Die sogenannte freiwillige Gerichtsbarkeit gehörte eben von Anfang zu der Kompetenz der Richter. Das Vertrauen der Bevölkerung zu Verträgen, die von den geistlichen Richtern beurkundet oder vor ihnen geschlossen wurden, war groß. Sie siegelten noch mit dem Siegel des Domkapitels. Unter den Zeugen stehen an der Spitze der Dompropst Konrad, der Scholaster Praepositinus und der Kantor Gottfried. Es dürfte nicht verwegen sein, in ihnen die Mainzer Richter zu sehen. Praepositinus empfing auch einen Auftrag von Papst Innozenz III.89. Die Richter nannten sich in dieser Urkunde nicht ,,delegati iudices Maguntine sedis“, sondern ,,Maguntine ecclesie“. Man wird diese Änderung oder besser Abwechslung in der Titulatur nicht überbewerten und sie schon gar nicht als leise Distanzierung von dem Erzbischof, 86
Acht, Mainzer UB II, S. 1138 – 1140 Nr. 695. Vgl. C. Glaser, Zur Geschichte des Klosters Wirberg, Gießen 1856, S. 10 – 12. 88 Acht, Mainzer UB II, S. 1145 – 1147 Nr. 701. 89 Acht, Mainzer UB II, S. 1147 – 1148 Nr. 702.
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dem sie ja ihre Stellung verdankten, verstehen dürfen. Immerhin ist darin angelegt, daß sie die zuständigen Richter für die Erzdiözese Mainz sind. Im Jahre 1199 sind zum ersten Mal urkundlich belegt ,,iudices in Erphort delegati“90. Es handelt sich um den Propst des Severistiftes und den Dekan des Marienstiftes daselbst. Sie entscheiden einen Streit über das Patronatsrecht. Früher hatte der Erzbischof gelegentlich persönlich in Erfurt Gericht gehalten91. Doch die Notwendigkeit, in dem von Mainz ziemlich weit entfernten Thüringen Richter zu haben, machte sich immer wieder geltend. Zunächst wurde dem Erfordernis in gewissem Umfang Rechnung getragen durch die jeweilige Bestellung delegierter Richter (,,iudices a domino archiepiscopo Maguntino delegati“)92. Später entstand in Erfurt ein eigener geistlicher Provinzialgerichtshof. Um die Wende des 12. zum 13. Jahrhundert ist der Aufbau des Mainzer geistlichen Gerichts zum Abschluß gekommen. Das zeigt die Verwendung eines eigenen Siegels durch die Richter. Im Jahre 1209 schichteten der Kantor Gottfried und der Kustos Albert als ,,Moguntine ecclesie iudices delegati“ einen Streit um eine Rheinaue. Mit rotseidener Schnur hefteten sie an die Urkunde ihr Siegel93. Es stellte einen sitzenden Bischof mit Inful, Pallium, Stab und Buch sowie mit Heiligenschein dar, bei dem rechts und links von seinem Hals der Name S. Martinus stand. Die Umschrift lautete: ,,Sigillum Delegatorum Iudicum Moguntine Ecclesie“94. Der Besitz des eigenen Siegels zeigt, daß das Mainzer Gericht als ständig existierende Behörde konstituiert war. Die Zeit des Experimentierens war vorbei. Am 9. Juli 1210 entschieden die ,,Iudices sancte Moguntine sedis“ einen Streit über das Präsentationsrecht in Rümlang, der durch Berufung an sie gelangt war95. Sie handelten dabei ,,auctoritate sedis Moguntine“. Unabhängig von ihnen bestellte der Mainzer Erzbischof für Rechtsstreitigkeiten außerhalb seiner Diözese, die er zu entscheiden hatte, ,,Maguntine sedis delegati iudices“, so in den Jahren 1209 und 1210 in Zürich96. Diese führten das Siegel der Mainzer Richter nicht, sondern ihr eigenes. 90 Karl Friedrich Stumpf (Hrsg.), Acta Maguntina Seculi XII. Urkunden zur Geschichte des Erzbisthums Mainz im zwölften Jahrhundert, Innsbruck 1863, S. 140 f. Nr. 137; Ernst Anemüller, Urkundenbuch des Klosters Paulinzelle 1068 – 1534 (= Thüringische Geschichtsquellen NF 4. Bd.), Jena 1905, S. 58 f. Nr. 45. 91 Z. B.: 1163 in audientia et iudicio domini Mogontini in Erphisfurde (Acht, Mainzer UB II, S. 486 – 488 Nr. 275). 92 Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (= Erfurter Theologische Studien Bd. 2), Leipzig 1956, S. 26 f. 93 Rossel, UB der Abtei Eberbach I, S. 138 – 140 Nr. 69. 94 Dasselbe Siegel 1210 Juli 9 (J. Escher / P. Schweizer [Bearb.], Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich I, Zürich 1890, S. 248 Nr. 368). 95 Escher / Schweizer, UB der Stadt und Landschaft Zürich I, S. 248 Nr. 368; 248 f. Nr. 369. 96 Escher / Schweizer, UB der Stadt und Landschaft Zürich I, S. 243 f. Nr. 364; 249 f. Nr. 370.
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Wenn von nun an Streitsachen auf die Diözesansynode gebracht wurden, erfolgte auch dort das Urteil durch die als Behörde konstituierten Mainzer Richter. Im Jahre 1213 schlichteten Konrad, Dompropst, und Gottfried, Domdekan, als ,,Maguntine sedis iudices delegati“ einen Streit um eine Rheinaue. Sie entschieden ihn auf der Mainzer Synode, auf welcher der Domdekan Gottfried und der Domkustos Gottfried vice domini Maguntini den Vorsitz hatten97. Die Synodalen selbst waren nicht mehr an dem Verfahren beteiligt, weder als Ratgeber noch als Urteilsfinder. Das Gericht hatte sich von der Synode gelöst. Das neue Prozeßverfahren hatte Einzug gehalten. Die Urkunde ist eine der letzten, in der die Richter ihren Namen angeben98. Wohl im Jahre 1220 entschieden die (namenlosen) ,,Iudices sancte Maguntine sedis“ einen Streit über Äcker. Sie führten wieder ihr eigenes Siegel99. Die Richter nannten sich in dieser Urkunde nicht mehr delegiert100. Diese Änderung in der Bezeichnung zeigt jedoch nicht eine veränderte Rechtsstellung an. Die Delegation blieb bestehen, und sie verschaffte sich auch in der Benennung Ausdruck. In einer Urkunde, die Remling um 1220 datiert, treten wieder die ,,Iudices sancte Moguntinensis sedis delegati“ auf101. Im folgenden Jahre bezeichneten sich der Propst von St. Peter und der Kustos von St. Martin (Dom) als ,,iudices delegati“102. Man könnte zunächst vermuten, hier liege eine Delegation für einen Einzelfall vor, und die genannten Richter seien andere als die ,,Iudices sancte Moguntinensis sedis“. Doch diese Vermutung wird hinfällig, wenn man weiter unten von dem Siegel liest, ,,quo delegati iudices uti solent“. Das Amtssiegel führen die Amtsträger, es wird nicht an andere, mit gelegentlichen Sonderaufträgen ausgestattete Kleriker ausgeliehen. Die Richter haben weitere Jahrzehnte ein Siegel benutzt, auf dem zu lesen war: ,,Sigillum Delegatorum Iudicum Sancte Moguntine Ecclesie“103. Das Wort delegare hatte zur damaligen Zeit noch nicht den Sinn, daß der Delegant mit der Delegation eine neue Instanz schafft104. Es besagte lediglich die Übertragung der Gewalt von einem Vollmachtsträger an einen anderen. Dabei war der Gedanke der Vertretung bestimmend. In der Folgezeit gehen für geraume Zeit die Bezeichnungen ,,Iudices sancte Maguntine sedis“ und ,,Iudices sancte Maguntine sedis delegati“ nebenein-
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Rossel, UB der Abtei Eberbach I, S. 167 – 169 Nr. 88. Vgl. noch Michael Frey / Franz Xaver Remling (Hrsg.), Urkundenbuch des Klosters Otterberg in der Rheinpfalz, Mainz 1845, S. 30 Nr. 39 (1221). 99 Rossel, UB der Abtei Eberbach I, S. 224 f. Nr. 121. 100 Ebenso Frey / Remling, UB Otterberg S. 30 Nr. 38 (um 1220). 101 Franz Xaver Remling (Hrsg.), Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speyer, 2 Bde., Mainz 1852/53, Neudruck: Aalen 1970, I, S. 156 f. Nr. 139. 102 Frey / Remling, UB Otterberg 30 f. S. Nr. 39. 103 1253 (Rossel, UB der Abtei Eberbach II, S. 38 – 40 Nr. 282); 1255 (Rossel, UB der Abtei Eberbach II, S. 66 f. Nr. 306). 104 X 1, 29, 18 und X l, 29, 27. 98
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ander her105. Die ,,Iudices delegati“ waren rechtlich dasselbe wie die ,,Iudices sancte Moguntine sedis“, und die ,,Iudices sancte Moguntine sedis“ unterscheiden sich rechtlich nicht von den ,,Iudices delegati“. Allerdings hat sich die Bezeichnung ,,Iudices sancte Moguntine sedis“ schließlich durchgesetzt106. Für die folgenden Jahrzehnte verweise ich auf Urkunden von 1240107, 1246108, 1251109, 1253110, 1257111 und 1262112. Vom 1. Mai 1255 datiert eine Urkunde, in der sich der Kustos S. und der Scholaster L. als ,,Iudices Maguntini“ bezeichnen und ihr Siegel (,,Sigillum Delegatorum Iudicum …“) anhängen113. Im Jahre 1277 lautete die Umschrift ihres Siegels immer noch ,,Sigillum Delegatorum Iudicum Sancte Moguntine Ecclesie“114. Erst für 1320 läßt sich nachweisen, daß die Umschrift in ,,Sigillum Iudicum Sancte Moguntine Sedis“ geändert war115.
Schluß Die Entstehung des Gerichts des Heiligen Stuhles zu Mainz ist das Ergebnis einer folgerichtigen Entwicklung. Die Mainzer Erzbischöfe waren angesichts der Ausdehnung ihrer Diözese und ihrer Beanspruchung im Dienste des Reiches je länger, desto weniger imstande, den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege zu genügen. So bestellten sie Vertreter für die Ausübung der Gerichtsbarkeit, sei es auf der Diözesansynode, sei es außerhalb derselben, zunächst für Einzelfälle, später für alle vorkommenden Fälle. Dazu kam ein weiterer Punkt. Solange Rechtsstreitigkeiten in den einfachen Formen der Verhandlung auf den Diözesansynoden ihre Erledigung fanden, mochte die Entscheidung durch den Erzbischof nach Urteilsfindung des Umstandes dem Gerechtigkeitsempfinden Genüge tun. Das änderte sich im späten 12. Jahrhundert. Die Neubelebung des römischen Rechts, das Aufblühen von Rechtsschulen an den Universitäten, die Entstehung der Kanonistik als einer eigenen theologisch-rechtswissenschaftlichen Disziplin sowie das Erscheinen 105 Rossel, UB der Abtei Eberbach II, S. 408 f. Nr. 571: Judices sancte maguntine sedis delegati; II, S. 409 f. Nr. 572: Judices sancte maguntine sedis. 106 W. Sauer (Hrsg.), Nassauisches Urkundenbuch, 1. Bd., 1.–3. Abt., Wiesbaden 1885 – 87, I, S. 264 f. Nr. 376 (1221); Rossel, UB der Abtei Eberbach I, S. 239 f. Nr. 133 (1223); I, S. 242 Nr. 135 (1224). 107 Sauer, Nassauisches UB I, S. 318 Nr. 483. 108 Sauer, Nassauisches UB I, S. 336 Nr. 519. 109 Sauer, Nassauisches UB I, S. 355 f. Nr. 569. 110 Rossel, UB der Abtei Eberbach II, S. 38 – 40 Nr. 282. 111 Sauer, Nassauisches UB I, S. 395 f. Nr. 656. 112 Sauer, Nassauisches UB I, S. 432 Nr. 722. 113 Rossel, UB der Abtei Eberbach II, S. 66 f. Nr. 306. 114 Otto Posse, Die Siegel der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz, Erzkanzler des Deutschen Reiches bis zum Jahre 1803, Dresden 1914, S. 48 Nr. 45. 115 Posse, Die Siegel der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz S. 49 Nr. 54.
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des Dekrets Gratians gaben dem Recht und der Gerichtsbarkeit einen erhöhten Stellenwert. Der sich entwickelnde römisch-kanonische Prozeß mit seinen Förmlichkeiten war nicht mehr von Männern zu meistern, die nach einfachen kanonischen Regeln und dem gesunden Menschenverstand ihre Entscheidungen trafen. Der gelehrte Prozeß verlangte den gelehrten Richter. So mündete die Entwicklung in der Errichtung eines ständigen Gerichtshofes, der mit mehreren Richtern besetzt war, zu denen bald weiteres Personal treten sollte.
Lehrrecht
Das Lehrverfahren gegen Eutyches im November des Jahres 448 Zur Vorgeschichte des Konzils von Chalkedon Die Vorgeschichte 1. Der Gegensatz zwischen antiochenischer und alexandrinischer Christologie Im November des Jahres 448 fand in Konstantinopel ein Lehrverfahren gegen den Priester und Archimandriten Eutyches statt.1 Die Wurzeln dieses Prozesses reichen zurück bis zum Konzil zu Ephesus vom Jahre 431.2 Diese Versammlung sollte die 1 Ch. J. Hefele/H. Leclercq, Histoire des Conciles II, 1, Paris 1908; E. Schwartz, Der Prozeß des Eutyches (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung. Jahrgang 1929, Heft 5), München 1929; dazu die Rezension von A. Steinwenter, in: ZSavRG, Rom. Abt. 51 (1931) 460 – 464; A. Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang und seine Quellen, in: ZSavRG, KA 23 (1934) 1 – 116; Th. SˇagiBunic´, „Deus perfectus et homo perfectus“. A Concilio Ephesino (a. 431) ad Chalcedonense (a. 451), Rom 1965, 167 – 204; W. De Vries, Das Konzil von Ephesus 449, eine ,,Räubersynode“?, in: OCP 41 (1975) 357 – 398, hier 369 – 375. Für das römische Recht verweise ich auf: Corpus Iuris Civilis. Vol. I. Institutiones. Rec. P. Krueger. Digesta. Rec. Th. Mommsen. Retr. P. Krueger, Berlin 161954; Vol. II. Codex Iustinianus. Rec. et retr. P. Krueger, Berlin 11 1954; Vol. III. Novellae. Rec. R. Schoell. Abs. G. Kroll, Berlin 61954; Theodosiani libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianis. Ed. Th. Mommsen, Berlin 21954; Fontes Iuris Romani Antejustiniani in usum scholarum. Ed. S. Riccobono/J. Baviera/C. Ferrini/J. Furlani/ V. Arangio-Ruiz, 3 Tle., Florenz 21940 – 43. 2 Quellen: Acta Conciliorum Oecumenicorum. Ed. E. Schwartz. Tomus primus. Volumen primum. Pars prima. Berlin, Leipzig 1927; Pars altera. 1927; Pars tertia. 1927; Pars quarta. 1928; Pars quinta. 1927; Pars sexta. 1928; Pars septima. 1929; Volumen alterum. 1925 – 1926; Volumen tertium. 1929; Volumen quartum. 1932 – 1933; Volumen quintum. 1924 – 1926; Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Ed. J. Alberigo/J. A. Dossetti/P.-P. Joannou/ C. Leonardi/P. Prodi, Bologna 31973, 37 – 74. Literatur: J. Schwane, Dogmengeschichte, 4 Bde., I, Freiburg i. Br. 21892; II, 21895; III, 1882; IV, 1890, hier II, 327 – 334; A. Grillmeier/ H. Bacht (Hrsg.), Das Konzil von Chalkedon, 3 Bde., Würzburg 1951 – 1954; R. V. Sellers, The Council of Chalcedon. A Historical and Doctrinal Survey, London 1953; Th. Sˇagi-Bunic´, Documentatio doctrinalis ephesino-chalcedonensis, in: Laurentianum 3 (1962) 499 – 514; J. Liébaert, Christologie. Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451) mit einer biblisch-christologischen Einleitung von P. Lamarche (= Handbuch der Dogmengeschichte III, 1a), Freiburg 1965; A. Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2 Bde., Gütersloh 1965/68, I, 321 – 339; A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. 1: Von der apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i. Br. 1979, 687 – 691; J. Liébaert, Ephesus, ökumenische Synode (431): TRE 9 (1982) 753 – 755.
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christologische Kontroverse zwischen dem Patriarchen Nestorius von Konstantinopel und dem Patriarchen Cyrillus von Alexandrien beenden und den Konflikt zwischen Konstantinopel und Alexandrien beilegen. Zwischen Alexandrien und Konstantinopel standen kirchenpolitische und theologische Gegensätze, letztere vor allem bezüglich der Christologie. Die Hauptdifferenz, die auch in dem Verfahren gegen Eutyches eine Rolle spielte, sei kurz skizziert. Die Antiochener legten gesteigerten Wert darauf, Göttliches und Menschliches in Christus auseinanderzuhalten. Die Alexandriner waren besonders bemüht, die Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem in Christus aufzuzeigen. Der Erzbischof von Konstantinopel, Nestorius,3 war der antiochenischen Theologie verpflichtet. Ihm war vor allem daran gelegen, die zwei Naturen in Christus zu unterscheiden. Er bezeichnete Gottheit und Menschheit in Christus mit den Worten oqs¸a, v¼sir und rpºstasir.4 Nestorius sprach lieber von Verbindung (sum²veia) als von Vereinigung (6mysir) der beiden Naturen in Christus. Er wollte vermeiden, daß die Naturen und ihre Eigenschaften vermischt würden. Daher lehnte er es auch ab, die Eigentümlichkeiten des Fleisches dem Logos zuzueignen, drang vielmehr darauf, daß die Aussagen von der Person Christi auseinanderzuhalten seien, weil nur so die Eigenart jeder Natur gewahrt werde. Nestorius hatte begriffen, daß die Einheit von Göttlichem und Menschlichem in Christus nicht in der Natur liegen könne, vermochte aber den Begriff der Person des Logos als Einheitspunkt noch nicht genügend deutlich zu fassen. Die Einheit in Christus verlegte er in das Prosopon, ohne jedoch hiermit den Begriff der Person im Sinne Leos I. zu meinen; Prosopon war ihm ,,die Erscheinungsweise einer konkreten Natur“.5 Das Prosopon des Logos bedient sich des Prosopon der Menschheit als seines Werkzeugs. Nestorius sprach auch, leicht mißverständlich, von der Annahme eines Menschen durch den Logos oder von der Wohnung des Logos in einem Menschen. Dies konnte so gedeutet werden, daß der Logos eine vollständige menschliche Person angenommen habe, und so geriet er in die Gefahr, daß man ihn dahin verstand, es bestehe eine bloß moralische Verbindung des göttlichen Logos mit dem Menschen Jesus. Sein großer Gegner und die beherrschende Gestalt auf dem Konzil von Ephesus war der Erzbischof Cyrill von Alexandrien.6 Cyrill bediente sich zur Formulierung seiner Lehre einiger Schriften, 3
Nestorius, Le livre d’Héraclide de Damas. Hrsg. von P. Bedjean, avec plusieurs appendices, Paris, Leipzig 1910; E. Schwartz, Konzilstudien. I. Cassian und Nestorius. II. Über echte und unechte Schriften des Bischofs Proklos von Konstantinopel (= Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg 20), Straßburg 1914; E. Amann, Nestorius, in: DThC XI 1 (1931) 76 – 157; Schwane, Dogmengeschichte II 321 – 327; Liébaert, Christologie 104 – 118; Grillmeier, Jesus der Christus I 642 – 672. 4 Die Begriffe oqs¸a und rpºstasir wurden im nicaenischen Symbol als Synonyma gebraucht. Im 5. Jahrhundert wurden sie jedoch unterschieden. Vgl. F. Scheidweiler, Ein Glaubensbekenntnis des Eustathius von Antiochien?, in: ZNW 44 (1952/53) 237 – 249. 5 Grillmeier, Jesus der Christus I 656. 6 G. Krüger, Cyrillus, Bischof von Alexandrien, in: RE 4 (31898) 377 – 381; B. Studer/ M. v. Brian Daley, Soteriologie. In der Schrift und Patristik (= Handbuch der Dogmengeschichte III 2a), Freiburg 1978, 190 – 200; E. R. Hardy, Cyrillus von Alexandrien, in: TRE 8 (1981) 254 – 260; Schwane, Dogmengeschichte II 334 – 351; Grillmeier, Jesus der Christus I
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die dem Athanasius sowie den Päpsten Julius und Felix zugeschrieben wurden, tatsächlich jedoch aus dem Umkreis des Apollinarismus stammten.7 Cyrill vertrat einmal das bloo¼sior, d. h. die vollständige menschliche Natur des Logos. Er lehrte eine vollkommene Menschennatur, die der Logos angenommen hatte, aber er sprach ihr den Selbststand ab: 1j d¼o v¼seym eXr, 2m_shai jah’ rpºstasim, sum´keusir d¼o v¼seym jah’ 6mysim !di²spastom. Er bezeichnete die menschliche Natur Christi als Hypostase und als Natur (v¼sir). Gleichzeitig sprach er von der einen Natur des Erlösers. Er war nicht immer konsequent in der Zuschreibung von zwei Naturen in Christus. Cyrill vertrat sodann die l¸a v¼sir toO heoO kºcou sesaqjyl´mg, d. h. die Beziehung aller Aussagen auf die eine Person des Logos, die Idiomenkommunikation, die darin besteht, daß von einem Subjekt Göttliches und Menschliches ausgesagt werden. Die erwähnte Formel war wohl dahin zu verstehen, daß der Logos mit seiner göttlichen Natur Mensch geworden sei. Cyrill lehrte, daß in Christus zwei Naturen zu einer untrennbaren Einheit unvermischt und unverwandelt zusammengekommen seien. Nach der Vereinigung dürften die Naturen nicht voneinander getrennt werden, sondern man müsse von einer menschgewordenen Natur des Logos sprechen. Die Formel l¸a v¼sir toO heoO kºcou sesaqjyl´mg stammte von Apollinaris, wurde aber dem hl. Athanasius zugeschrieben. Vor der Menschwerdung existierten zwei v¼seir die göttliche und die menschliche, nach der Menschwerdung jedoch nur eine v¼sir7 l¸a v¼sir toO heoO kºcou sesaqjyl´mg. Diese Formel scheint der Bedeutung der Menschheit in Christus nicht völlig gerecht zu werden. Cyrill sprach in seinem dritten Anathematismus von einer physischen Vereinigung (6mysir vusij¶) der beiden Naturen in Christus. Das Anliegen bei dieser Redeweise war, die Einigung von Göttlichem und Menschlichem als wirklich und eng auszusagen. Die Vollkommenheit und das Fortbestehen des Menschlichen in Christus kamen jedoch in dieser Theologie etwas zu kurz. Cyrill lehrte schließlich die 6mysir jah’ rpºstasim, d. h. die Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur in der Person. Doch seine Terminologie war unklar. Cyrill konnte die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem in Christus sowohl mit jat± v¼sim als auch mit jah’ rpºstasim aussagen. Die Gleichsetzung von Natur und Hypostase, die er vornahm, mußte verwirrend wirken. Die Vokabeln waren nicht eindeutig festgelegt. Die Ausdrücke v¼sir und rpºstasir hatten noch nicht je eigene Bedeutung erlangt, konnten vielmehr sowohl Natur als Person besagen. Zwar sprach Cyrill regelmäßig von einer Hypostase und einem Prosopon in Christus, aber es wurde nicht klar, was er genau darunter verstand. Wenn Cyrill die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christus eine Einigung nach der Hypostase (jah’ rpºstasim) nannte, so war er doch noch nicht zu dem Begriff der Person als Einheitsprinzip vorgestoßen, 605 – 609, 673 – 686; ders., Die theologische und sprachliche Vorbereitung der christologischen Formel von Chalkedon, in: Grillmeier/Bacht, Das Konzil von Chalkedon I 5 – 202, hier 164 – 182. 7 Liébaert, Christologie 79 – 92; Grillmeier, Jesus der Christus I 480 – 497.
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sondern wollte lediglich die wirkliche (wesenhafte) von der moralischen Einigung abheben. 2. Das Konzil von Ephesus und seine Folgen Auf dem Konzil von Ephesus spielten die 12 Anathematismen Cyrills,8 die auf einer vorhergehenden Synode zu Alexandrien aufgestellt worden waren, und sein zweiter Brief an Nestorius9 eine große Rolle. Der Brief mit den Anathematismen Cyrills wurde zwar in die Akten der Synode aufgenommen, aber eine Abstimmung über ihn fand nicht statt. Die Anathematismen Cyrills, aber vor allem der dritte, schienen die Einnaturenlehre bis zu einem gewissen Grade zu begünstigen. Der zweite Brief des Cyrill an Nestorius wurde von der Synode als gültiger Ausdruck des rechten Glaubens und als mit dem Nicaenischen Bekenntnis übereinstimmend erklärt,10 während der Antwortbrief des Nestorius als mit ihnen unvereinbar verworfen wurde. In dem zweiten Brief des Cyrill an Nestorius war davon die Rede, daß der Logos das (von einer vernünftigen Seele belebte) Fleisch hypostatisch (jah’ rpºstasim) mit sich verbunden habe. Die communicatio idiomatum wurde darin deutlich ausgesagt und begründet. Der Logos habe sich nicht mit der Person eines Menschen verbunden, sondern sei Fleisch geworden. Die verschiedenen Naturen seien zu einer Einheit verbunden, ohne daß die Verschiedenheit der Naturen wegen der Einheit aufgehoben sei. Das Konzil von Ephesus formulierte kein neues Glaubensbekenntnis, sondern erklärte am 22. Juli 431, daß das Symbolum Nicaenum11 als Norm des Glaubens genüge, und verbot jede Abweichung von ihm. Diese konziliare Äußerung sollte in dem Verfahren gegen Eutyches noch Bedeutung gewinnen.12 Das Konzil verurteilte, gestützt auf die Theologie Cyrills von Alexandrien, den Nestorius und setzte ihn ab. Als das Verfahren gegen Eutyches geführt wurde, lebte Nestorius noch, und zwar im oberägyptischen Exil.13 Die orientalischen Bischöfe erkannten jedoch das Urteil nicht an und setzten ihrerseits Cyrill ab.14 Damit war das Schisma da. An der Spitze der dissentierenden Bischöfe stand Johannes von Antiochien.15
8 ACO I/1/1, n. 6, p. 40, l. 22 – p. 42, l. 5; H. Denzinger/I. B. Umberg (Hrsg.), Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg i. Br. 261947, Nr. 113 – 124 S. 57 – 59; COD 59 – 61; Schwane, Dogmengeschichte II 332 A. 1. 9 ACO I/1/1, n. 4, p. 25, l. 23 – p. 28, l. 26; II/1/1, n. 240, p. 104, l. 13 – p. 106, l. 29. 10 Th. Sˇagi-Bunic´, Documentatio doctrinalis ephesino-chalcedonensis, in: Laurentianum 3 (1962) 510 – 513. 11 ACO I/1/7, n. 26, p. 65, l. 15 – 26. Vgl. E. Schwartz, Das Nicaenum und das Constantinopolitanum auf der Synode von Chalkedon, in: ZNW 25 (1926) 38 – 88. 12 ACO II/1/1, nn. 943 – 964, p. 189, l. 37 – p. 191, l. 31 (Ephesus 449). 13 ACO I/1/3, p. 67. 14 Grillmeier, Jesus der Christus I 692 – 703. 15 Ebd. I 687, 692, 703 f., 755.
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In dieser Phase der Entwicklung des Lehrstreites machte Eutyches16 erneut von sich reden. Er lebte seit langer Zeit in dem großen Hiobskloster in Konstantinopel, das zur Zeit des Verfahrens von 448 etwa 300 Mönche zählte,17 von denen mit Sicherheit zwei Priester, zehn Diakone und drei Subdiakone waren.18 Eutyches war Priester und Archimandrit dieses Klosters, damals (432) über 50 Jahre alt.19 Er war wohl nicht der weltfremde und unerfahrene Mönch, der nur ungern die Klausur verließ,20 wußte sich vielmehr recht gut aus seinem zurückgezogenen Leben vernehmlich zu machen. Eutyches war auf die Theologie der Alexandriner eingeschworen, die er engstirnig vertrat. Er war kein gebildeter und gewandter Theologe, der imstande gewesen wäre, aus eigenem Nachdenken dogmatische Aussagen zu machen und in einer gelehrten Diskussion mitzuhalten. Er stützte sich auf Texte rechtgläubiger Väter und hielt daran unverrückbar fest; für eine Entwicklung der Lehre war er nicht aufgeschlossen, von jedem Zusatz zu dem Glaubensbekenntnis von Nicaea (oder Ephesus) fürchtete er eine Verwässerung. Er bedachte nicht, daß die Tradition nicht nur (unverändert) weitergegeben, sondern auch fortwährend gedeutet und erklärt werden muß. Zur Zeit der Synode von Ephesus (431) hatte Eutyches dem Cyrill zur Seite gestanden, und dieser hatte ihm ein Exemplar der Akten des Konzils übersandt.21 Cyrill machte nun 432 den Versuch, den Eutyches einzuspannen, um das Schisma zu beenden.22 Dieser war ein Mann mit einem gewissen Einfluß. Er hatte viele Freunde und Förderer am Kaiserhof, vor allem den Kämmerer Chrysaphius, dessen Pate er war23 und der im Jahre 446 an die Spitze der Regierung trat. Auf dem Kaiserthron saß der schwache Theodosius II. (408 – 450),24 der Eutyches geneigt war. Der Kaiserhof drängte auf eine Beseitigung der Spaltung zwischen Alexandrinern und Antiochenern. Schließlich kam es zu einem Kompromiß. Die orientalischen Bischöfe schlugen eine dogmatische Formel vor, die sie schon in Ephesus
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Hefele, Monophysiten, in: Kirchenlexikon 8 (21893), 1781 – 1797; Loofs, Eutyches, in: RE 5 (31898) 635 – 647; G. Krüger, Monophysiten, in: RE 13 (31903) 372 – 401; M. Jugie, Eutychès et Eutychianisme, in: DThC V 2 (1939) 1582 – 1609; P.Th. Camelot, Eutyches, in: LThK 3 (21959) 1213 – 1214; A. Van Roey, Eutychès, in: DHGE 16 (1969) 87 – 91; L. R. Wickham, Eutyches/Eutychianischer Streit, in: TRE 10 (1982) 558 – 565; Schwane, Dogmengeschichte II 351 – 360; Hefele/Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 512 – 518; Liébaert, Christologie 119 – 127. 17 ACO II/1/1, n. 887, p. 186, l. 28. 18 ACO II/1/1, n. 888, p. 187, l. 27 – p. 188, l. 20. 19 ACO II/2/1, n. 6, p. 34, l. 30; II/4, n. 108, p. 144, l. 37. 20 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 15 – 17. 21 ACO II/1/1, n. 157, p. 91, l. 11 – 13. 22 ACO I/4, n. 293, p. 223, l. 25 und 39. 23 Sellers, The Council of Chalcedon 57; P. Goubert, Le rôle de Sainte Pulchérie et de l’eunuque Chrysaphios, in: Grillmeier/Bacht, Das Konzil von Chalkedon I 303 – 321. 24 A. Lippold, Theodosius II., in: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Supplementband 13, 1973, 961 – 1044.
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aufgestellt hatten.25 Im Dezember 432 brachte der Bischof Paulus von Emesa26 die Formel, mit der die Antiochener ihr christologisches Bekenntnis zusammenfaßten, nach Alexandrien. Cyrill fand sich bereit, diesen Text zu akzeptieren. Mit seinem Brief Laetentur caeli an Johannes von Antiochien vom April 433,27 in dem die Unionsformel enthalten war, erkannte Cyrill die Formel der Antiochener als rechtgläubig an. Die Unionsformel bekräftigte einmal die vollkommene Gottheit und die vollkommene Menschheit Christi.28 Sie legte das bloo¼sior Bl?m fest. Weiter hieß es darin, in Christus sei ,,eine Vereinigung zweier Naturen“ erfolgt, aber ohne Vermischung. In dem Schlußsatz wurden Wendungen über das Prinzip der Einheit (ein Prosopon) und die Zweiheit (der Naturen) gebraucht, die in der Richtung von einer Person und zwei Naturen in Christus lagen. Das Unionsbekenntnis war eine Kompromißformel, die verschiedener Auslegung fähig war. Der Streit zwischen der alexandrinischen und der antiochenischen Christologie war daher im Grunde nicht beigelegt, sondern lediglich notdürftig verkleistert;29 er flammte bald wieder von neuem auf. Die Alexandriner beschuldigten die Antiochener des Nestorianismus, die Antiochener warfen den Alexandrinern Arianismus und Apollinarismus vor. Die eifrigsten Anhänger Cyrills waren gegen die Unionsformel mißtrauisch. Die Bezeichnung der menschlichen Natur Christi als ,,Tempel“ (des Logos) klang ihnen nestorianisierend. Auch an dem Ausdruck ,,wesensgleich mit uns“ nahmen sie Anstoß. Wegen der engen Verbindung von Göttlichem und Menschlichem in Christus sahen sie den Leib Christi als vergöttlicht an, so daß er nicht als mit uns wesensgleich bezeichnet werden könne. Die Alexandriner gaben wohl zu, daß Christus aus zwei Naturen sei, nicht aber, daß er in zwei Naturen sei. Seit der Menschwerdung könne nur von einer Natur gesprochen werden. Auch die Antiochener waren mit dem Kompromiß unzufrieden. Sie hatten zwar ihre Formel durchgesetzt, aber um teuren Preis. Denjenigen, die Nestorius nicht verurteilen wollten, waren jetzt die Waffen aus den Händen geschlagen. Auch um die Anathematismen Cyrills gab es keine Ruhe. Die Alexandriner wollten davon nicht abgehen, die Antiochener mochten sie nicht übernehmen; sie sahen darin ein Wiederaufleben des Apollinarismus.
25 Die ephesinische Redaktion des Unionssymbols: ACO I/1/7, n. 48, p. 70, l. 15 – 22; die antiochenische Redaktion des Unionssymbols im Brief des Johannes von Antiochien: ACO I/ 1/4, n. 3, p. 8, l. 27 – p. 9, l. 9 und im Brief Cyrills Laetentur: ACO I/1/4, n. 127, p. 17, l. 9 – 20. 26 Grillmeier, Jesus der Christus I 704. 27 ACO I/1/4, n. 127, p. 15, l. 23 – p. 20, l. 13; I/5, p. 334, l. 12 – p. 337, l. 32; II/1/1, n. 246, p. 107, l. 22 – p. 111, l. 8. 28 ACO I/1/4, n. 127, p. 17, l. 9 – 20. Vgl. Schwane, Dogmengeschichte II 333 f.; Hefele/ Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 399 – 404. 29 Grillmeier, Jesus der Christus I 703 – 707.
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3. Das Auftreten des Eusebius von Dorylaeum An der Spitze der Kirche von Konstantinopel stand damals der Erzbischof Flavianus.30 Seine Stellung war schwierig. Am Kaiserhof hatte er wenig Sympathien; Chrysaphius war sein Feind. Mit Eutyches war er seit langer Zeit gut bekannt.31 Er stand hinter dem Unionssymbol.32 Einer der ersten, die seinerzeit gegen Nestorius aufgetreten waren, war der Bischof Eusebius.33 Aus dieser Zeit war er befreundet mit Eutyches. Eusebius war juristisch gebildet und erfahren. Er war Rhetor und Advokat gewesen, bevor er sich der kirchlichen Laufbahn zuwandte.34 Im Jahre 448 war er Bischof von Dorylaeum (Dorylaion) in Phrygien. Jetzt nahm er Anstoß an der Lehre des Eutyches.35 Er war nicht der einzige, dem dieser verdächtig war. Theodoret von Cyrus36 und Domnus von Antiochien37 bekämpften ihn seit 447. Eusebius kam zu Beginn des Jahres 448 nach Konstantinopel und besuchte dort den Eutyches, seinen alten Mitstreiter. Er hatte eine Reihe von Unterredungen mit ihm in Gegenwart mehrerer Zeugen. Im Laufe dieser Gespräche glaubte er zu erkennen, daß der Mönch eine falsche Lehre über die Menschwerdung vertrat. Sein Nimbus als Gegner des Nestorius und Vertreter der Theologie Cyrills verschaffte ihr ein beträchtliches Echo. Eusebius versuchte, ihn zum rechten Glauben zurückzuführen, jedoch vergeblich. Da er die Hartnäckigkeit des Eutyches bei der Vertretung und Verbreitung seiner falschen Ansichten erkannte, entschloß er sich zum amtlichen Vorgehen gegen ihn. Damit löste er eine Entwicklung aus, die zu dem Verfahren vom November 448, der Synode in Ephesus 449 und dem Konzil von Chalkedon 451 führte.38 30
Hauswirth, Flavian, in: Kirchenlexikon 4 (21886) 1542 – 1544; K. Baus, Flabianos, in: LThK 4 (21960) 161; E. Herman, Chalkedon und die Ausgestaltung des konstantino-politanischen Primats, in: Grillmeier/Bacht, Das Konzil von Chalkedon II 459 – 490. 31 ACO II/1/1, n. 417, p. 131, l. 5 – 6. 32 Text der Unionsformel von 433, daneben Bekenntnis des Flavianus vom 12. November 448: Sellers, The Council of Chalcedon 130. 33 ACO I/1/1, n. 18, p. 101, l. 5 – p. 102, 1. 24; E. Schwartz, Zur Vorgeschichte des ephesinischen Konzils. Ein Fragment, in: HZ 112 (1914) 237 – 263, hier 250; G. Bareille, Eusèbe de Dory1ée, in: DThC V 2 (1939) 1532 – 1537. 34 Leontius von Byzanz, Libri tres contra Nestorianos et Eutychianos III (PG 86, 1, col. 1389 B). 35 O. Guenther (Hrsg.), Epistolae Imperatorum Pontificum aliorum inde ab a. CCCLXVII usque ad a. DLIII datae Avellana quae dicitur Collectio Pars I (= CSEL 35), Wien 1895, n. 99, p. 441, 1. 5 – 11. 36 G. Bardy, Théodoret, in: DThC XV 1 (1946) 299 – 325; Grillmeier, Jesus der Christus I 692 – 700 u.o. 37 Grillmeier, Jesus der Christus I 737, 759. 38 Acta Conciliorum Oecumenicorum. Ed. E. Schwartz. Tomus Alter. Volumen Primum. Pars Prima, Berlin, Leipzig 1933; Pars Altera, 1933; Pars Tertia, 1935; Volumen Alterum. Pars Prior, 1932; Pars Altera, 1936; Volumen Tertium. Pars Prima, 1935; Pars Altera, 1936; Pars Tertia, 1937; Volumen Quartum, 1932; Volumen Quintum, 1936; Volumen Sextum, 1938; C. Silva-Tarouca (Hrsg.), S. Leonis Magni Tomus ad Flavianum Episc. Constantinopolitanum
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I. Die Sitzung vom 8. November 448 1. Der Gerichtshof Eusebius wandte sich mit seinem Anliegen nicht an einen einzelnen Bischof, etwa jenen von Konstantinopel, sondern an eine Synode, eine Versammlung von Bischöfen. Daß er eine Synode mit seiner Klage befaßte, hatte vermutlich darin seinen Grund, daß das Verfahren um so sicherer zu dem gewünschten Ergebnis kam; denn die Autorität einer Synode war zweifellos größer als die eines einzelnen Bischofs. Das Verfahren gegen Eutyches fand vor der s¼modor 1mdgloOsa39 in Konstantinopel statt. Sie bestand seit dem 4. Jahrhundert. Ihre Zusammensetzung war auffällig. Sie umfaßte nicht die einem bestimmten Gebiet zugehörigen Bischöfe, sondern die Bischöfe, die sich, zufällig oder nicht, gerade in der Reichshauptstadt aufhielten. Der Vorsitzende dieser Synode war der Bischof von Konstantinopel. Die doppelte Tatsache, daß auf ihr eine (mehr oder weniger große) Anzahl von Bischöfen anwesend war und daß der Patriarch von Konstantinopel den Vorsitz führte, mußte ihr eine gesteigerte Autorität verschaffen. Die einzige Instanz über dieser Synode war das Ökumenische Konzil. Sie tagte ständig, brauchte also nicht eigens einberufen zu werden. Die Synode behandelte streitige Fragen der Lehre und der Verwaltung, betätigte sich als Gesetzgeber und fungierte als Gerichtshof. Der Vorsitzende hatte in Gerichtssachen die Verhandlungen zu leiten, die Ladung des Beklagten und der Zeugen anzuordnen, Beweisstoff wie Zeugenaussagen und die Verlesung von Schriftstücken zuzulassen, Verhöre vorzunehmen, die anwesenden Bischöfe um ihre Ansicht zu befragen und das Urteil auszufertigen. Jeder Bischof, der in der Sitzung anwesend war, durfte sich an der Verhandlung beteiligen, sei es, indem er seine Meinung äußerte, sei es, indem er ins Verhör eingriff. Die Akten bewahren solche Interventionen auf. Die Meinungsäußerungen der einzelnen Bischöfe hießen interlocutio (diakak¸a) oder depositio (jat²hesir). Das Verfahren der Synode gegen Eutyches wurde nicht öffentlich geführt; es fand statt in dem Hause des Erzbischofs, dem Secretarium. Die Synode hielt ihre Sitzungen vom 8. bis 22. November 448 ab. Das Verfahren wurde nur an den Werktagen geführt, der Sonntag war davon frei. Notare hielten den wesentlichen Gang der Verhandlungen fest. Am Ende jeder Sitzung wurden ihre Aufzeichnungen verlesen und das Protokoll erstellt, das zu den Akten kam. Das Protokoll wurde nach dem Gesta-Stil (Epistula 28) additis Testimoniis Patrum et eiusdem S. Leonis M. Epistula ad Leonem I Imp. (Epistula 165) (= Textus et Documenta. Series Theologica 9), Rom 1932; ders., S. Leonis Magni Epistulae contra Eutychis haeresim. Pars prima. Epistulae quae Chalcedonensi Concilio praemittuntur (AA. 449 – 451) (= Textus et Documenta. Series Theologica 15), Rom 1934; ders., S. Leonis Magni Epistulae contra Eutychis haeresim. Pars secunda. Epistulae post Chalcedonense Concilium missae (AA. 452 – 458) (= Textus et Documenta. Series Theologica 20), Rom 1935. 39 Zur s¼modor 1mdgloOsa vgl. Hefele/Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 519 – 521 A. 1; P. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869 – 1897, Nachdruck: Graz 1959, III 530 – 532.
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verfertigt,40 d. h. die Protokollierung erfolgte in direkter Rede und hielt die Dialogform der Verhandlungsführung fest. „Die Synoden waren, auch wenn die Verhandlungen nicht von kaiserlichen Beamten geleitet wurden, geradezu peinlich bemüht, den römischen Gesta-Stil zu beobachten“.41 Das Protokoll mußte mindestens die Anklage, ihre Annahme, die Richter, die Auslassungen der Parteien, die Aussagen der Zeugen und die Fällung des Urteils enthalten. Zum Protokoll gehörten auch Dokumente, welche für das Verfahren von Belang waren. Lückenlose Protokollierung eines jeden Wortes, das in der Verhandlung fiel, war weder notwendig noch üblich. Der Fachausdruck für die im Prozeß anfallenden Protokolle ist rpolm¶lata ;42 er entspricht den lateinischen Wörtern acta und gesta.43 2. Der Ankläger Der Erzbischof Flavianus versammelte die Synode wegen eines Streits zwischen dem Metropoliten Florentinus von Sardes und seinen zwei Suffraganen Johannes und Cassianus.44 Aber diese Sache trat weit in den Hintergrund vor dem Verfahren, das Eusebius von Dorylaeum gegen Eutyches anstrengte. Eusebius war Mitglied der Synode. Nun trat er vor ihr als Ankläger gegen Eutyches auf. Der Fachausdruck für den Ankläger war jat¶coqor, für anklagen jatgcoqe?m.45 An der Fähigkeit des Eusebius zur Anklage bestand kein Zweifel.46 Der Ankläger setzte den Prozeß in Gang, indem er Anklage erhob, weshalb das Verfahren als Akkusationsprozeß47 bezeichnet wird. Die kirchliche Autorität befaßte sich mit einem Vergehen 40 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 41; B. Hirschfeld, Die Gesta municipalia in römischer und frühgermanischer Zeit. Phil. Diss. Marburg, Marburg 1904, 57 f.; E. v. Druffel, Papyrologische Studien zum byzantinischen Urkundenwesen im Anschluß an P. Heidelberg 311 (= Münchener Beiträge zur Papyrusforschung 1), München 1915, 48 – 74; A. Steinwenter, Beiträge zum öffentlichen Urkundenwesen der Römer, Graz 1915, 12 u. ö.; ders., Neue Urkunden zum byzantinischen Libellprozesse, in: Festschrift für Gustav Hanausek zu seinem siebzigsten Geburtstag am 4. September 1925 überreicht von seinen Freunden und Schülern, Graz 1925, Neudruck: Aalen 1979, 36 – 51, hier 37; E. Weis, Gesta: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Supplementband VI, 1935, 73 – 74; ders., ebd. Supplementband VII, 1940, 207 – 208. 41 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 49. 42 Vgl. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, Nachdruck: Graz 1955, 512 – 520; G. Geib, Geschichte des römischen Criminalprocesses bis zum Tode Justinian’s, Leipzig 1842, 512 – 515. 43 Steinwenter, Beiträge 8. 44 Hefele/Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 518 f. 45 Z. B.: ACO II/1/1, n. 417, p. 130, l. 33. 46 Über die Personen, die unfähig zur Anklage sind, vgl. Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 41 – 43; U. Mosiek, Das altkirchliche Prozeßrecht im Spiegel der Didaskalie: ÖAfKR 16 (1965) 183 – 209, hier 188 – 190. 47 Mommsen, Strafrecht 343 – 351; M. Wlassak, Anklage und Streitbefestigung im Kriminalrecht der Römer (= Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte 184, 1), Wien 1917, passim. Zur Anklage im kanonischen
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in der Regel erst, wenn ein einzelner freiwillig das schwere Geschäft des Anklägers übernahm. Zwar hätten die Bischöfe bzw. der Erzbischof auch von sich aus, von Amtes wegen, einschreiten können, aber dazu konnten sie von niemandem angehalten werden. Rechtlich gezwungen war niemand, die Anklage zu erheben. Der Ankläger vertrat in gewisser Hinsicht die Gemeinschaft der Gläubigen. Er handelte nicht in seinem Interesse, sondern in dem der Gemeinschaft. Der Ankläger im Strafprozeß war im wesentlichen in einer ähnlichen Lage wie der Kläger im Zivilprozeß. Er betrieb die öffentliche Sache wie dieser die private. Der Ankläger mußte persönlich vor Gericht handeln und konnte sich nicht vertreten lassen. Er hatte die Aufgabe und die Pflicht, die Ermittlung zu übernehmen; diese war also nicht Sache des Gerichts. Der Ankläger mußte festzustellen suchen, daß das Vergehen nach seinen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen begangen war, er hatte die begleitenden Umstände und die beteiligten Personen zu eruieren. Ihm oblag es, Anträge zu stellen, die Beweise zu sammeln, sie dem Gericht vorzulegen und ihre Beweiskraft aufzuzeigen, damit das Gericht sich davon überzeugen konnte. Das Gericht nahm auf und prüfte, was ihm vorgelegt wurde. Wenn es selbst forschte und fragte, dann bezog sich dies lediglich auf das, was die Parteien vorgebracht hatten. Der Angeklagte hatte zwei Möglichkeiten, entweder ein Geständnis abzulegen oder zu widersprechen, sich zu verteidigen. Die Heranziehung eines Rechtsbeistands war möglich. Es war eine Auswirkung des Schriftlichkeitsprinzips, daß das Verfahren mit dem Anklagelibell eröffnet wurde, das Eusebius einreichte. Die Anklageschrift hieß jatgcoqij¹r k¸bekkor,48 lateinisch libellus accusatorius.49 Die Klageschrift hatte einen bestimmten Aufbau,50 der sich in dem Libell des Eusebius51 lückenlos nachweisen läßt. Seine Klageschrift begann mit einer Präambel, in der er versicherte, daß es ihm lieber wäre, wenn Eutyches nicht von einer Trunkenheit des Geistes befallen wäre, die ihn zur Gottvergessenheit geführt habe. Es folgten allgemeine Vorwürfe gegen den Beschuldigten, nämlich daß er Blasphemien gegen Christus ausstoße und heilige Väter, aber auch jene, die ihren Glauben teilen, darunter ihn, den Eusebius, Häretiker nenne. Der Ankläger brachte also seine Anklage vor, indem er die belastenden Tatsachen angab. Der Anklagepunkt wurde indes nur im allgemeinen genannt, nicht ausführlich dargelegt. Die genauere Bezeichnung der Irrlehre behielt der Ankläger der Verhandlung vor. Die knappe Angabe des Anklagegegenstandes war üblich. Eutyches hätte sich jedoch eine Gelegenheit zur Verteidigung entgehen lassen, wenn er diesen Punkt nicht in dem libellus, den er dem zweiten Konzil von Ephesus einreichte, gerügt hätte.52 Eusebius bereicherte an Prozeß vgl. H. Kellner, Das Buß- und Strafverfahren gegen Kleriker in den sechs ersten christlichen Jahrhunderten. Eine historisch-kirchenrechtliche Abhandlung, Trier 1863, 125 – 127. 48 ACO II/1/2, n. 70, p. 25, l. 22; II/1/1, n. 359, p. 124, l. 12. 49 D. 48, 5, 18, 1; 48, 2, 3. 50 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 38. 51 ACO II/1/1, n. 225, p. 100, l. 18 – p. 101, l. 5; n. 230, p. 101, l. 16 – 30. 52 ACO II/1/1, n. 185, p. 94, l. 24 – p. 96, l. 20.
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dieser Stelle seine Klageschrift mit einem knappen Bekenntnis seiner Rechtgläubigkeit, indem er auf die Synoden von Nicaea und Ephesus verwies und eine Reihe von ehrwürdigen Bischöfen (Cyrill von Alexandrien, Athanasius, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Gregor der Wundertäter, Attikus und Proklus) nannte, denen er folge. Damit wollte er wohl zeigen, daß er berechtigt war, als Kläger aufzutreten. Daran schloß sich das Anerbieten, die Behauptungen zu beweisen, daß also Eutyches den Namen eines Katholiken zu Unrecht trage. Danach reihte sich das Sachbegehren an, nämlich die Feststellung, daß Eutyches vom katholischen Glauben völlig abgewichen sei, und die Zurechtweisung des Beschuldigten und der von ihm Verführten. Als Ziel des Prozesses wurde die siegreiche Behauptung des rechten Glaubens angegeben. Dieses Ziel ließ sich in zweifacher Form erreichen. Wenn der Beklagte der Irrlehre überführt wurde, mußte diese verurteilt und so der rechte Glaube bestätigt werden. Gleichzeitig sollte der Vertreter solcher Irrlehre dazu bewegt werden, den Widerruf derselben zu leisten, womit wiederum der rechte Glaube sieghaft bekräftigt wurde. Im letzten Falle konnte eine Bestrafung unterbleiben. Das Sachbegehren war begleitet von der Prozeßbitte, d. h. von dem Ersuchen, den Eutyches vor die Synode nach Konstantinopel zu laden, damit er dort Stellung nehme zu dem, was der Ankläger gegen ihn vorbringen würde. Am Schluß versicherte der Antragsteller die Synode seiner Dankbarkeit. Die Klageschrift war von dem Kläger eigenhändig unterschrieben.53 Eusebius übergab seine Klageschrift in der Sitzung vom 8. November 448 der Synode. Bei dieser Gelegenheit bat er darum, daß sie verlesen und unter die Akten aufgenommen werde.54 Wie leicht zu erkennen ist, schloß sich der Verfasser der Klageschrift an die Formen an, die im weltlichen Prozeß üblich und bekannt waren. ,,Der Antrag entspricht sachlich der postulatio des Strafprozesses, mit welcher der Kläger die gerichtliche Zulassung zur Verfolgung des Beschuldigten erbittet“.55 Die postulatio mußte von dem Vorsteher des Gerichts genehmigt werden.56 Im weltlichen Prozeß war es üblich, von dem Ankläger Kautionen zum Schutz gegen calumnia und tergiversatio zu fordern. Mit der freiwilligen Anklage waren ja große Gefahren verbunden, vor allem jene der Rachsucht und der Verleumdung. Ihnen suchte man zu begegnen durch immer strengere Bestrafung der calumnia und der tergiversatio. Calumnia und tergiversatio waren die schlimmsten Vergehen, deren sich ein Ankläger schuldig machen konnte. Calumnia war eine Anklage, von welcher der Kläger wußte, daß sie grundlos war.57 Tergiversatio war das ungerechtfertigte Abstehen von der erhobenen Anklage.58 Der Ankläger hatte sich bei der schriftlichen Einreichung der Anklage zu verpflichten, sich bei Mißlingen der53
ACO II/1/1, n. 230, p. 101, l. 29 – 30. ACO II/1/1, n. 223, p. 100, l. 11 – 13. 55 Steinwenter, in: ZSavRG, Rom. Abt. 51(1931) 461. 56 Wlassak, Anklage 6 f., 108. 57 D. 48, 16, 1, 1. Vgl. Mommsen, Strafrecht 492. 58 Mommsen, Strafrecht 498; Wlassak, Anklage 199 – 209. 54
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selben der Talionsstrafe zu unterwerfen,59 d.h. der Kalumniant erhielt die Strafe, die den Angeklagten getroffen hätte, wenn er mit seiner Anklage Erfolg gehabt hätte.60 Wenn der Angeklagte freigesprochen wurde, konnte die Kalumnienklage gegen den Ankläger erhoben werden. Der Kalumnienprozeß war vor demselben Gericht zu führen, vor dem der Ankläger seine Anklage vorgebracht hatte. Von Vorkehrungen gegen diese Vergehen war nun in dem Prozeß gegen Eutyches nicht die Rede. Wohl war der Kalumnieneid der kirchlichen Prozeßpraxis bekannt, wie sich aus can. VI der Synode zu Konstantinopel von 381 ergibt.61 Doch bestand im kirchlichen Verfahren keine allgemeine Notwendigkeit, den Kalumnieneid zu leisten.62 Man traute einem Bischof zu, daß er weder grundlos eine Klage vorbringen noch ungerechtfertigt sie fallen lassen werde. Am 8. April 449 hielt der Bischof Basilius dem Tribunus Macedonius, der die Bischöfe unter Eid vernehmen wollte, vor, das sei nicht üblich.63 Selbstverständlich waren der Synode des Jahres 448 die Bestimmungen gegen calumnia bekannt.64 Auch Eusebius war klar, daß er mit hohem Einsatz spielte. Er mußte bei seiner Klage bleiben und sie beweisen, wie Flavianus ihm vorhielt.65 Eusebius hatte die Grundsätze über calumnia vor Augen, als er mehrfach dagegen protestierte, daß Eutyches versuchte, das Beweisverfahren zu verhindern. Er fürchtete von dem Auftritt des Eutyches, er könne sich über Zukünftiges äußern und den Beweis des in der Vergangenheit Liegenden vereiteln;66 er war besorgt, Eutyches könne jetzt zustimmen,67 und sagte: Wenn man den Strafgefangenen im Gefängnis sage, von nun an sollten sie keine Räubereien begehen, dann versprächen es alle.68 Es war Eusebius auch klar, daß er, wenn er der calumnia überführt werden würde, seine Würde verlöre, d. h. abgesetzt würde.69 Die spiegelnde Strafe für den kalumniösen Ankläger war aus dem römischen Recht übernommen.70 3. Die Annahme der Klage Es war nun an der Synode bzw. ihrem Vorsitzenden, zu dem Begehren des Eusebius Stellung zu nehmen. Flavianus, der präsidierende Bischof, nahm die Kla59
CT. 9, 1, 11. Vgl. Wlassak, Anklage 83 – 99. CT. 9, 10, 3; 9, 1, 9; 9, 1, 14; 9, 1, 19; 9, 2, 3; 9, 39, 2. 61 COD 33 f. 62 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 44. 63 ACO II/1/1, nn. 569 – 570, p. 152, l. 6 – 10. 64 ACO II/1/1, n. 423, p. 131, l. 32 – p. 132, l. 2; n. 424, p. 132, l. 3 – 4; n. 483, p. 140, l. 8. 65 ACO II/1/1, n. 480, p. 139, l. 39 – p. 140, l. 2. 66 ACO II/1/1, n. 425, p. 132, l. 5 – 9. 67 ACO II/1/1, n. 479, p. 138, l. 32 – 39; n. 485, p. 140, l. 12 – 14. 68 ACO II/1/1, n. 425, p. 132, l. 5 – 9. 69 ACO II/1/1, n. 483, p. 140, l. 8. Vgl. Kellner, Buß- und Strafverfahren 52. 70 CT. 9, 2, 3; 16, 2, 41 = Const. Sirm. 15. Vgl. Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 77 f. 60
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geschrift entgegen,71 worin eine vorläufige Genehmigung der Anklage zu erblicken war,72 und ließ sie von dem Presbyter und Notarius Asterius verlesen.73 Flavianus und die Synode waren von dem Antrag des Eusebius überrascht. Dem Erzbischof war offensichtlich nicht wohl bei der Sache. Ihm war nichts an einem gerichtlichen Austrag des Streits, alles an einem außergerichtlichen Vergleich gelegen. Er fürchtete von einem Verfahren die neuerliche Störung des kirchlichen Friedens. Darum drang er zweimal in Eusebius, den Streit mit Eutyches im persönlichen Gespräch gütlich beizulegen und auf das Verfahren zu verzichten.74 Wenn es ihm gelang, seinen Gegner zum Widerruf zu bewegen, dann trat Straflosigkeit ein und der Prozeß wurde überflüssig. Flavianus gab auch später mehrfach zu verstehen, daß es ihm und der Synode nicht darum zu tun sei, den Eutyches zu verderben, sondern ihn zu retten. Wenn er komme und sein Vergehen bekenne, könne er auf Vergebung rechnen.75 Doch Eusebius ging auf den Vorschlag des Flavianus nicht ein. Er sei mit Eutyches befreundet gewesen, so erklärte er, und habe wiederholt versucht, ihn von seiner falschen Lehre abzubringen. Das könne er durch viele Zeugen, die bei den Gesprächen anwesend waren, beweisen. Die Synode solle ihn laden, er solle vor ihr Rede und Antwort stehen und, nachdem er von ihm, Eusebius, überführt worden sei, von seiner falschen Lehre ablassen, mit der er viele in die Irre geführt habe. Eusebius lehnte es ab, weitere, wie er meinte, fruchtlose Versuche zu unternehmen, Eutyches zum rechten Glauben zurückzuführen; er bestand auf der Durchführung des Verfahrens.76 Es war keine überflüssige Floskel, wenn Eusebius hervorhob, daß Futyches sein Freund war. Es sollte damit seine Befähigung zur Anklage gewiß gemacht werden, die im Zweifel wäre, wenn nachgewiesen werden könnte, daß er der Feind des Eutyches war. Eusebius war bewußt, daß die Synode verpflichtet war, seine Klage anzunehmen;77 sie konnte die Klage nicht ablehnen, wenn kein Rechtsgrund vorlag. Das war auch der Synode gewiß. Als die Bischöfe sahen, daß die gutgemeinten Ratschläge des Flavianus nichts fruchteten und Eusebius nicht nachgab, willfahrten sie seinem Antrag, nahmen die Klage an78 und befahlen die Einverleibung der Klageschrift in die Akten.79 Daß das Synodalgericht kompetent war, den Angeschuldigten zu laden, war klar; es lag der Gerichtsstand des Domizils vor,80 der sich in diesem Falle mit jenem des Tatortes deckte.81 Der Ankläger hatte die Ladung des Eutyches erbeten. Die Synode kam nun diesem 71
ACO II/1/1, n. 224, p. 100, l. 14 – 15. Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 41. 73 ACO II/1/1, n. 225, p. 100, l. 17 – p. 101, l. 5; n. 230, l. 16 – 30. 74 ACO II/1/1, nn. 231, 233, p. 102, l. 1 – 5, 14 – 17. 75 ACO II/1/1, n. 415, p. 130, l. 21 – 26; n. 417, p. 130, l. 29 – p. 131, l. 6. 76 ACO II/1/1, nn. 232, 234, p. 102, l. 6 – 13, 18 – 21. 77 ACO II/1/1, n. 234, p. 102, l. 20 – 21. 78 ACO II/1/1, n. 235, p. 102, l. 22 – 24. 79 ACO II/1/1, n. 235, p. 102, l. 24 – 25. 80 D. 48, 3, 11; 48, 2, 7, 4. Vgl. Wlassak, Anklage 72 – 83. 81 D. 48, 2, 7, 5, 49, 16, 3, pr.; CT. 9, 1, 10 (373); 9, 1, 16 (386). 72
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Antrag nach und bestellte den Presbyter und Defensor82 Johannes sowie den Diakon Andreas, um die Ladung vorzunehmen.83 Es wurden zwei Ladungsboten bestellt, weil nach den Normen für das Zeugnis nur zwei übereinstimmende Aussagen Beweiskraft hatten. Gelegentlich wurde den Ladungsboten noch ein kirchlicher Notar beigesellt.84 Die Ladungsboten sollten sich in das Hiobskloster begeben, dem Eutyches die Klageschrift vorlesen und ihn auffordern, vor der Synode zu erscheinen, um sich dort zu verteidigen; er werde einer nicht geringfügigen Sache angeklagt.85 Die erste Vorladung enthielt keine ins einzelne gehenden Anklagepunkte. Das Schreiben der ersten Ladung wird in den Akten des Prozesses nicht überliefert. Eine bestimmte Form war für die Ladung nicht vorgeschrieben. Dem Angeschuldigten mußte jedenfalls mit der Ladung eröffnet werden, wessen er beschuldigt wurde, d. h. es mußte ihm die Anklageschrift mitgeteilt werden.86 Er wurde nicht für einen bestimmten Termin vorgeladen, sondern einfach aufgefordert, zu erscheinen. Es ist anzunehmen, daß die Synode erwartete, er werde sich in der Sitzung der Synode, die auf die Ladung folgte, einfinden. Da der Angeschuldigte an dem Ort des Gerichtes weilte, brauchte ihm eine längere Frist für das Erscheinen nicht gewahrt zu werden. Die Entsendung, die Rückmeldung und der Bericht der Ladungsboten wurden in das Protokoll aufgenommen. Mit dieser Ladung hatte die Synode eine Lawine losgetreten, die ihren Vorsitzenden und den Ankläger verschlingen sollte.
II. Die Sitzung vom 12. November 448 1. Die erste Ladung Die Verhandlung über die Anklage des Eusebius begann in der Sitzung vom 12. November 448.87 An dieser Sitzung nahmen achtzehn Bischöfe teil. Wie gewohnt führte Erzbischof Flavianus den Vorsitz, d. h. er hatte die Leitung der Sitzung und übte die Sitzungspolizei aus. Inzwischen begaben sich die Ladungsboten, der Priester Johannes und der Diakon Andreas, in das Kloster des Eutyches. Die Klageschrift wurde dem Angeschuldigten bei dieser Gelegenheit vorgelesen, eine Abschrift ihm überlassen,88 was 82 Zu den Defensores vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I 377, 382; v. Moy, Defensor ecclesiae, in: Kirchenlexikon 3 (21884) 1464 – 1465; Hartmann, Defensor ecclesiae, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 8 (1901) 2372; O. Seeck, Defensor civitatis: ebd. 2365 – 2371; Druffel, Papyrologische Studien 35 – 41. 83 ACO II/1/1, n. 235, p. 102, l. 22 – 29; II/1/1, n. 357, p. 123, l. 30 – 33. 84 ACO II/1/2, nn. 15 – 22, p. 10, l. 23 – p. 12, l. 3; nn. 34 – 36, p. 13, l. 11 – p. 14, l. 26; nn. 72 – 73, p. 25, l. 35 – 41. 85 ACO II/1/1, n. 235, p. 102, l. 28 – 29. 86 PS. 5, 16, 14. 87 ACO II/1/1, n. 238, p. 103, l. 5 – p. 104, l. 6. 88 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 12 – 13.
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sonst nicht üblich war.89 Eutyches gab bei dieser Gelegenheit Erklärungen ab, die ihn in ein schiefes Licht setzen mußten.90 U.a. erklärte er, man müsse die Heilige Schrift den Vätern vorziehen.91 Damit hatte er eine gefährliche Alternative benannt. Denn auf die Heilige Schrift beriefen sich die Väter so gut wie er, und er stellte nicht die Heilige Schrift der Lehre der Väter gegenüber, sondern die Auslegung, die er ihr gab, der Interpretation, die ihr die Väter angedeihen ließen. 2. Der erste Beweisantrag Eusebius brachte in dieser Sitzung seine Anklage von neuem, und nun mündlich vor92 und erklärte sich neuerlich bereit, sie durch Zeugen zu beweisen und den Eutyches zu überführen.93 Der Kläger stellte jetzt seinen ersten Beweisantrag; er stützte sich darauf, daß die Synode seinen Antrag angenommen und ihn damit zum Beweis zugelassen hatte. Der Beweis der Schuld mußte aus mündlichen oder schriftlichen Äußerungen des Beklagten geführt werden, die von der Norm des Glaubens abwichen. Als Norm des Glaubens kamen vor allem Glaubensbekenntnisse, aber auch andere Lehräußerungen, die von anerkannten Synoden rezipiert worden waren, in Frage. Die Anklage, die Eusebius gegen Eutyches vorbrachte, lautete auf Häresie, Lehrabweichung. Er mußte daher einen Maßstab angeben, an dem diese gemessen werden konnte und sollte, und zwar mußte dieser Maßstab von der Synode als der ihre akzeptiert werden. Geschickt suchte und fand Eusebius die dogmatische Norm in zwei Schreiben des damals in höchstem Ansehen stehenden Bischofs Cyrill von Alexandrien. Es handelte sich um den 2. Brief JatavkuaqoOsim (Obloquuntur) Cyrills von Alexandrien an Nestorius,94 der, wie erwähnt, durch das Konzil von Ephesus gebilligt worden war, und dessen Brief Eqvqaim´shysam (Laetentur caeli)95 an Johannes von Antiochien, der die Unionsformel enthielt.96 Dem ersten Schreiben sprach Eusebius eine dreifache Autorität zu. Einmal stammte es von Cyrill, dem Vorkämpfer gegen Nestorius, der das Konzil von Ephesus bestimmt hatte. Zum anderen enthielt es nach seiner Ansicht die genuine Interpretation der Lehre des Konzils von Nicaea, an der selbstverständlich niemand zu rütteln wagen durfte. Schließlich war dieser Brief auf dem Konzil von Ephesus vorgelesen und in Übereinstimmung mit der Lehre der Väter und der Heiligen Schrift befunden worden.97 Nun stellte Eusebius den Antrag, daß eben dieser dreifach gewichtige 89
ACO II/1/2, nn. 19 – 22, p. 11, l. 1 – p. 12, l. 3; nn. 30 – 34, p. 12, l. 28 – p. 13, l. 16. ACO II/1/1, n. 350, p. 124, l. 24 – 34. 91 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 31 – 33. 92 ACO II/1/1, n. 238, p. 103, l. 9 – 12. 93 ACO II/1/1, n. 238, p. 103, l. 12 – 14. 94 ACO II/1/1, n. 240, p. 104, l. 15 – p. 106, l. 29. 95 ACO II/1/1, n. 246, p. 107, l. 22 – p. 111, l. 8. 96 ACO II/1/1, n. 238, p. 103, l. 34 – p. 104, l. 5. 97 ACO II/1/1, n. 238, p. 103, l. 18 – 33. 90
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Brief amtlich verlesen werde, damit allen offenbar werde, daß die gegenwärtig versammelte Synode so denke und glaube, wie in dem Brief enthalten sei. Der zweite Brief Cyrills, der nach der Beseitigung des Schismas geschrieben sei, lehre, wie die Kirchen Gottes überall bezüglich der Menschwerdung des Erlösers denken und verkündigen müssen.98 Die beiden dogmatisch bedeutsamen Dokumente sollten verlesen und den Akten einverleibt werden, damit allen die Dogmen der Kirche bewußt seien.99 Dies waren also die Normen des orthodoxen Glaubens, auf die sich Eusebius stellte und die er zur Grundlage seiner Anklage machte. Nicht das Nicaenische Glaubensbekenntnis selbst, sondern seine Interpretation, die aber ihrerseits von einem Ökumenischen Konzil gutgeheißen worden war, sollte als Glaubensregel dienen. Mit diesem Antrag wollte er den Maßstab angenommen wissen, von dem er nachzuweisen unternahm, daß Eutyches ihn nicht akzeptiere. Nur wenn sich die Richter ihn zu eigen machten, konnte er mit Aussicht auf Erfolg seinen Beweis führen. Wie er sich zu ihm bekannte, so sollten es auch die anwesenden Bischöfe tun, um auf diese Weise eine sichere Basis für das Verfahren zu gewinnen. Der Erzbischof Flavianus erklärte, daß dies alles den Gläubigen, die von den Schriften der heiligen Väter genährt würden, bekannt sei. Dennoch solle wegen des zu erhoffenden Nutzens für die Festigung des Glaubens dem Antrag stattgegeben werden und die Verlesung erfolgen und alles den Akten zugeführt werden.100 Die angegebenen Texte wurden nun verlesen.101 Dem Brief Cyrills an Nestorius schlossen sie Äußerungen von Vätern der ephesinischen Synode an, die ihn als gültige Darlegung des Nicaenischen Glaubens bekannten.102 Nach der Verlesung erklärte Eusebius,103 daß diese Texte sein Bekenntnis zur Menschwerdung enthielten, das der Glaube der Kirche sei. Gleichzeitig forderte er die Bischöfe auf, auf den Boden der Orthodoxie zu treten, der in den beiden Lehrschreiben bereitet war, und sich zu ihnen zu bekennen, damit alle wüßten, daß, wer diese Bekenntnisse (1jh´seir) auflöse, ein Feind der rechtgläubigen Kirche und ein Fremdling in der Priesterschaft sei. Mit dieser letzten Wendung nahm Eusebius schon in gewisser Hinsicht das Urteil vorweg, das über Eutyches würde gefällt werden müssen, wenn es ihm, Eusebius, gelang, ihn als Verächter dieser Bekenntnisse zu erweisen: Er mußte exkommuniziert und aus der Priesterschaft ausgestoßen werden.
98
ACO II/1/1, n. 238, p. 104, l. 2 – 5. ACO II/1/1, n. 238, p. 104, l. 5 – 6. 100 ACO II/1/1, n. 239, p. 104, l. 8 – 13. 101 ACO II/1/1, n. 240, p. 104, l. 13 – p. 106, l. 29; n. 246, p. 104, l. 20 – p. 111, l. 8; II/3/1, n. 240, p. 82, l. 8 – p. 85, l. 18; n. 246, p. 86, l. 15 – p. 90, l. 24. 102 ACO II/1/1, nn. 241 – 245, p. 106, l. 30 – p. 107, l. 19. 103 ACO II/1/1, n. 270, p. 113, l. 26 – 31. 99
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3. Die Darlegungen der Bischöfe Es ist leicht zu erkennen, daß in dem Lehrverfahren, das Eusebius gegen Eutyches angestrengt hatte, die zentrale Rolle Cyrill von Alexandrien zufiel. Sowohl der Ankläger104 als auch der Angeklagte105 beriefen sich auf seine Lehre. Beide Seiten waren überzeugt, daß sie eine sachgemäße Interpretation des Bekenntnisses des Konzils von Nicaea sei. Nun hätte jemand den Einwand machen können, daß (einzige) verbindliche Lehrnorm eben das Symbolum Nicaenum sei. Um ihm zu begegnen, hob Erzbischof Flavianus hervor, daß die Briefe des Cyrill, die vorgelesen worden waren, den Gedanken der Väter des Konzils von Nicaea genau wiedergäben.106 Es sei notwendig, den Beschlüssen des rechten Glaubens zuzustimmen. ,,Wer kann den Worten des Heiligen Geistes widerstehen?“ Und diese sah er in den vorgelesenen Briefen Cyrills ausgesprochen. Sie ,,haben den Sinn der heiligen Väter, die seinerzeit in Nicaea versammelt waren, sorgfältig ausgelegt. Sie lehren uns, was auch wir immer geglaubt haben und immer glauben“.107 Die Briefe Cyrills wurden also deswegen anerkannt, weil sie den in Nicaea bekannten Glauben korrekt interpretieren. Dann legte Flavianus in genauen Begriffen ein Bekenntnis seines Glaubens an Christus ab.108 Christus sei vollkommener Gott und vollkommener Mensch, aus einer Vernunftseele und einem Leib, gleichwesentlich dem himmlischen Vater nach der Gottheit und gleichwesentlich der Mutter Maria nach der Menschheit. Flavianus sagte weiter, Christus bestehe ,,aus zwei Naturen nach der Menschwerdung“.109 Die Worte ,,aus zwei Naturen“ wurden näher bestimmt durch die Beifügung ,,nach der Menschwerdung“. Es waren also zwei Naturen in Christus, und sie waren durch die Menschwerdung zusammengebracht. So konnte man ebensogut sagen, Christus sei „in zwei Naturen“ existent. Dazu kamen die Worte, welche die Einheit bezeichneten, nämlich ,,in einer Hypostase“ und ,,in einem Prosopon“. Diese Ausdrücke sollten sich als zukunftsträchtig erweisen, obwohl ihnen auf der Synode lediglich Basilius von Seleukia,110 der Presbyter Johannes111 und Eusebius112 beitraten. Noch waren eben Hypostasis und Physis nicht hinreichend deutlich unterschieden. Wer anders denke, erklärte Flavianus abschließend, sei ausgeschlossen vom Klerus und von der Kirche. Jeder der Anwesenden müsse zu den Akten seine Ansicht und seinen Glauben angeben.113 Wie deutlich zu erkennen ist, gab Flavianus zu den Briefen Cyrills eine Lehrerklärung 104
ACO II/1/1, n. 225, p. 101, l. 4 – 5. ACO II/1/1, n. 542, p. 144, l. 18. 106 ACO II/1/1, n. 271, p. 113, l. 32 – p. 114, l. 3. 107 ACO II/1/1, n. 271, p. 113, l. 32 – p. 114, l. 3; II/3/1, n. 271, p. 93, l. 18 – p. 94, l. 5. 108 ACO II/1/1, n. 271, p. 114, l. 4 – 10, vor allem 8 – 10. 109 ACO II/1/1, n. 271, p. 114, l. 9. 110 ACO II/1/1, n. 850, p. 179, l. 14 – 21; n. 864, p. 181, l. 7 – 12. 111 ACO II/1/1, p. 124, l. 29. 112 ACO II/1/1, p. 140, l. 18 – 19. 113 ACO II/1/1, n. 271, p. 114, l. 10 – 14. 105
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ab, die sich auf die Unionsformel stützte.114 Die Bischöfe bescheinigten ihrerseits Flavianus die Übereinstimmung mit der Lehre des Cyrill.115 Die Bischöfe, die anschließend das Wort ergriffen, waren sich darin einig, daß man ohne die Rede von zwei Naturen Christus nicht angemessen beschreiben könne. Basilius von Seleukia116 bekannte in Christus ein Prosopon. Er sei in zwei Naturen kundgetan (1m d¼o v¼sesim cmyqifºlemom), die geeint seien jah’ rpºstasim.117 Das Bekenntnis des Basilius von Seleukia hing eng mit dem eigentlich cyrillinischen Teil des Briefes Laetentur und wohl auch mit den Folgerungen, die Proklus daraus gezogen hatte, zusammen.118 Bischof Seleukus von Amasea119 trat Basilius bei.120 Er wußte sich in der Übereinstimmung mit Cyrill, wenn er bekannte, daß Jesus Christus sei ,,in zwei Naturen nach der Menschwerdung“.121 So deutlich hatte selbst Flavianus nicht gesprochen. Der Bischof Valerianus von Laodikea bekannte ,,zwei Geburten in einer Person“ (d¼o cemm¶seir 1m 2m· pqos¾p\).122 Der Bischof Longinus von Chersones erklärte, er wisse ,,nach der Menschwerdung die aus zwei Naturen (bestehende) Gottheit des eingeborenen Sohnes Gottes anzubeten“.123 Der Bischof Meliphthongus von Heliopolis lehrte ,,die zur wahren Einheit verbundenen zwei Naturen“.124 Der Bischof Julianus von Kos sagte ,,zwei Naturen in einer Person“.125 Die übrigen Bischöfe begnügten sich regelmäßig mit dem Bekenntnis zu den Konzilien von Nicaea und zu den Darlegungen Cyrills.126 Alle waren sich einig, daß, wer nicht so glaubt, wie es in den verlesenen Briefen Cyrills zum Ausdruck kam, sich vom rechten Glauben entfernt und von der katholischen Kirche getrennt habe. Mit starken Worten verwarfen sie jede anderslautende Lehre und bedrohten jeden Träger einer solchen mit schärfsten Strafen. Der Bischof 114 Sellers, The Council of Chalcedon 130; Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 182 – 184. 115 ACO II/1/1, n. 301, p. 117, l. 15 – 28; n. 302, p. 117, l. 29 – p. 118, l. 4; n. 330, p. 119, l. 34 – p. 120, l. 4; n. 342, p. 121, l. 17 – 27; nn. 344 – 346, p. 121, l. 33 – p. 122, l. 15; nn. 348 – 349, p. 122, l. 20 – 31. 116 Über Basilius von Seleukia vgl. Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 188 – 198. 117 ACO II/1/1, n. 301, p. 117, l. 15 – 28. 118 ˇ Sagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 189 f. 119 Über Seleukus von Amasea vgl. Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus 199 f. 120 ACO II/1/1, n. 302, p. 117, l. 29 – p. 118, l. 4. 121 ACO II/1/1, n. 302, p. 118, l. 2. 122 ACO II/1/1, n. 330, p. 119, l. 34 – p. 120, l. 4. 123 ACO II/1/1, n. 331, p. 120, l. 5 – 12. 124 ACO II/1/1, n. 339, p. 120, l. 31 – p. 121, l. 5. 125 ACO II/1/1, n. 340, p. 121, l. 6 – 12. 126 ACO II/1/1, nn. 343 – 346, p. 121, l. 28 – p. 122, l. 15; nn. 348 – 351, p. 122, l. 20 – p. 123, l. 8. Eudoxius von Bosporus behauptete, der Sohn Gottes habe „einen vollkommenen Menschen angenommen“ (ACO II/1/1, n. 346, p. 122, l. 11 – 13), was sicher nicht korrekt war (Sˇagi-Bunic´ ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 181).
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Sabas127 regte sogar an, den Tomos in den Orient zu schicken, und jeder, der ihn nicht unterschreibe, sei von ihnen getrennt.128 Das Urteil über einen, dem das Fehlen der Übereinstimmung mit der in den Briefen Cyrills ausgedrückten kirchlichen Lehre nachgewiesen werden konnte, war somit schon jetzt präformiert. Eusebius war an einem möglichst vollzähligen Votum der erreichbaren Bischöfe zu der von ihm vorgeschlagenen Lehrnorm gelegen. Deswegen beantragte er, daß die Akten den kranken oder aus Unkenntnis des Zusammentretens der Synode abwesenden Bischöfe in ihre Wohnung gebracht würden, damit sie ihren Glauben bekunden und die Unterschrift leisten könnten.129 Flavianus stimmte zu.130 Die Notare wurden zu den abwesenden Bischöfen geschickt, damit sie ihnen verläsen, was verhandelt worden war, und ihre Meinung einholten. Diese Sitzung der Synode zeitigte ein Ergebnis, das für den Ausgang des Verfahrens entscheidend werden sollte. Die Norm des Glaubens war klar: das Konzil von Nicaea, die Unionsformel und Cyrills 2. Brief an Nestorius. Daran mußte sich nun Eutyches messen lassen.
III. Die Sitzung vom 15. November 448 1. Der Bericht der Boten der (ersten) Ladung Die dritte Sitzung der Synode in Sachen des Eutyches fand am 15. November 448 statt.131 Flavianus ließ sich also eine Woche Zeit, bevor er die Untersuchung begann. Möglicherweise stand dahinter die Absicht, dem gerichtlichen Austrag der Angelegenheit doch noch zu entkommen. Indes scheiterte sie an dem Eifer des Eusebius; er war entschlossen, die Sache bis zum Urteil zu führen, weil er von ihrer überindividuellen Bedeutung überzeugt war. Zu Beginn der Sitzung ergriff er als Ankläger das Wort und erinnerte daran, daß der vierte Tag vergangen sei, seitdem er darauf angetragen habe, den Eutyches vorzuladen, damit er von ihm überführt werde als einer, der die Dogmen verderbe und anders denke als die katholische Kirche glaube. Jetzt trieb er die Sache weiter, indem er den Antrag stellte, die Ladungsboten zu befragen, welche Antwort sie von Eutyches erhalten hätten.132 Flavianus ließ sich bestätigen, daß die Abgesandten zur Stelle seien, befahl, sie vorzuführen, und forderte zuerst den Priester und Defensor Johannes zum Bericht über seine Sendung auf.133 Johannes beschrieb ausführlich den Auftrag, den er und der Diakon Andreas Über Sabas von Paltos vgl. Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 201 f. ACO II/1/1, n. 342, p. 121, l. 17 – 27. 129 ACO II/1/1, n. 352, p. 123, l. 9 – 14. 130 ACO II/1/1, n. 353, p. 123, l. 15 – 17. 131 ACO II/1/1, n. 354, p. 123, l. 18 – 21. 132 ACO II/1/1, n. 355, p. 123, l. 22 – 27. 133 ACO II/1/1, n. 358, p. 123, l. 34 – p. 124, l. 3. 127 128
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von der Synode erhalten hatten, und seine Ausführung.134 Sie hätten im Kloster dem Eutyches die Klageschrift vorgelesen und ihm eine Abschrift überlassen, den Namen des Anklägers kundgetan und die Ladung ausgerichtet, damit er komme und sich verteidige. Eutyches weigere sich jedoch, vor der Synode zu erscheinen und sich zu verteidigen, denn er habe gelobt, das Kloster niemals zu verlassen.135 Eusebius sei sein Feind seit langem, zur Schmähung und Entehrung habe er ihn angeklagt.136 Der Hinweis auf die Feindschaft des Eusebius hatte vermutlich den Zweck, den Ankläger von vornherein unglaubwürdig zu machen. Doch einen Ausschluß der Feinde von der Anklage kannte das römische Recht nicht. Erst das kanonische Recht baute diesen Punkt stark aus.137 Die Didaskalie schrieb den Richtern vor, nachzuprüfen, ob der Kläger ein Feind des Angeschuldigten sei.138 Johannes berichtete weiter, Eutyches habe ausgeführt, er sei bereit, sich der Darlegung der heiligen Väter von Nicaea und Ephesus anzuschließen und ihre Interpretationen zu unterzeichnen. Falls sie in irgendeinem Punkte sich getäuscht oder geirrt hätten, so tadle er dies nicht, nehme es aber auch nicht an, sondern halte sich allein an die Schrift, die stärker sei als die Darlegungen der Väter. Dann sei er auf seinen eigenen Glauben zu sprechen gekommen. Er verehre nach der Menschwerdung des göttlichen Logos, d. h. nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, eine (einzige) Natur, und diese des fleisch- und menschgewordenen Gottes.139 Eutyches habe eine solche Erklärung verlesen und hinzugefügt,140 daß er niemals gelehrt habe, der göttliche Logos habe seinen Leib aus dem Himmel mitgebracht.141 Hiermit wandte er sich gegen den Vorwurf, er unterschlage oder verkürze die wahre Menschheit des Erlösers. Er habe in den Schriften der Väter jedoch nicht die Formel gefunden und nehme sie auch nicht an, daß Christus ,,aus zwei hypostatisch vereinigten Naturen“ (1j d¼o v¼seym 2myheis_m jah’ rpºstasim) geworden sei.142 Wenn manche Väter so sprächen, sei das nicht belangreich, weil die Heilige Schrift über den Vätern stehe.143 Damit polemisierte Eutyches unmittelbar gegen die Unionsformel, in der es hieß ,,eine Einheit von zwei Naturen“. Am Schluß seiner Ausführungen habe er bemerkt, Christus sei vollkommener Gott und vollkommener Mensch, doch sei sein 134
ACO II/1/1, n. 359, p. 104, l. 16 – p. 105, l. 15. ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 14 – 17. 136 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 17 – 19. 137 C. 2 q. 1 c. 7 § 3; C. 3 q. 5 c. 2; C. 3 q. 5 c. 3 pr.; C. 3 q. 5 c. 4; C. 5 q. 5 c. 4; X, 5, 1, 13. 138 F. X. Funk (Hrsg.), Didascalia et Constitutiones Apostolorum I, Paderborn 1905, Nachdruck: Turin 1960, II 49, 2 (p. 144). 139 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, 1. 24 – 26. 140 Es wird vermutet (Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 168 A. 224), daß dieses bibk¸om den Brief Cyrills an Acacius von Melito enthalten habe (ACO I/1/4, n. 128, p. 20, l. 18 – p. 31, l. 3). Darin hieß es u. a., in Christus seien zwei Naturen vereinigt, aber nach der Vereinigung sei nur eine Natur. 141 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 26 – 29. 142 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 29 – 31. 143 ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 23 – 24, 32 – 33. 135
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Fleisch dem unseren nicht wesensgleich.144 Damit sprach sich Eutyches erneut gegen eine Aussage der Unionsformel aus. Seine dogmatische Position war somit klar. Er hielt am Nicaenum fest, aber er lehnte es ab, einen (erklärenden) Zusatz zu ihm zu akzeptieren. Er folgte der Lehre der Alexandriner mit ihrer Formel ,,eine Natur nach der Einung“. Er räumte zwar ein, daß Christus seine Menschheit von der Jungfrau Maria hatte, aber er gab nicht zu, daß er durch diese Menschheit uns wesensgleich ist; es sei die Menschheit Gottes, die eintrete in die einzige Natur des fleischgewordenen Logos, nicht unsere Menschheit. Für Eutyches war somit die Unionsformel inakzeptabel, wie Flavianus später richtig Papst Leo zu verstehen gab.145 Flavianus begnügte sich nicht mit dem umfangreichen und begriffsgenauen Bericht des Johannes. Er wandte sich auch an den zweiten Ladungsboten und ersuchte ihn um seine Meinungsäußerung zu diesem Rapport. Als er erfuhr, daß noch ein weiterer Zeuge der Begegnung mit dem Eutyches existierte, befragte er auch diesen, wobei vor der Befragung zur Sache zur Person befragt wurde, wie es vor Gericht üblich ist.146 Der Diakon Andreas und der Diakon Athanasius des Basilius von Seleukia bestätigten die Aussage des Johannes ohne Abstriche und ohne Erweiterungen.147 Es lagen somit drei übereinstimmende Zeugnisse qualifizierter Zeugen vor. Damit war ein voller Beweis für die Tatsächlichkeit häretischer Behauptungen des Eutyches in der Gegenwart geführt; sie deckten sich mit dem, was Eusebius für die Vergangenheit zu beweisen sich vorgenommen hatte. 2. Das Angebot des Zeugenbeweises Eusebius wußte um das juristische Gewicht der übereinstimmenden Zeugenaussagen. Folgerichtig erklärte er jetzt, daß die Aussage der Ladungsboten hinreiche, um zu beweisen, ,,welchen gottlosen und den Auslegungen der heiligen Väter entgegenstehenden Sinn“ Eutyches habe. Dennoch bat er (gemäß Nr. 74 der Apostolischen Kanones,148 wo für Bischöfe drei Ladungen vorgeschrieben waren) um eine weitere Ladung. Er sei bereit, durch die Aussage vieler Zeugen zu beweisen, daß Eutyches schlecht gedacht habe und schlecht denke und lehre.149 Das Beweisverfahren lag, wie gesagt, dem Ankläger ob. Die Richter mußten aus seinen Darlegungen die Überzeugung gewinnen, daß der Angeklagte die Tat nach ihrer objektiven und subjektiven Seite vollbracht hat. Eusebius war jetzt klar, daß er seinen Beweis gegen den Eutyches für Vergangenheit und Gegenwart würde siegreich 144
ACO II/1/1, n. 359, p. 124, l. 33 – 34. ACO II/3/1, n. 5, p. 8, l. 14 – 15. 146 ACO II/1/1, nn. 360 – 375, p. 105, l. 16 – p. 106, l. 17. 147 ACO II/1/1, n. 363, p. 125, 1. 6 – 9; n. 375, p. 125, l. 30 – 31. 148 Didascalia et Constitutiones Apostolorum I 587. Eutyches wurde in diesem Falle den Bischöfen gleichgestellt, weil er vor dem Synodalgericht belangt wurde. 149 ACO II/1/1, n. 376, p. 125, l. 32 – 38. 145
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erbringen können. Er setzte für die Beweisführung auf Zeugen. Ankläger und Zeugen wurden sorgfältig unterschieden. Der Ankläger konnte den Beweis seiner Behauptungen nicht durch seine eigene Aussage, sondern mußte ihn durch andere Personen führen. Er hatte das Recht, Zeugen zu benennen, die der Gerichtsvorsitzende zu laden hatte. Die Aussage eines Zeugen genügte nicht zum Beweis; nur die übereinstimmende Aussage mehrerer Zeugen erbrachte vollen Beweis. Die Heilige Schrift forderte zwei oder drei Zeugen,150 ebenso aber das römische Recht,151 so daß das kanonische Recht in diesem Punkt zwei Anhaltspunkte hatte.152 Die (hohe oder niedere) Stellung des Zeugen und sein persönliches Verhältnis zu dem Angeklagten, ob Freund oder Feind, waren von großer Bedeutung für den Wert seines Zeugnisses. Je höher der Stand, desto glaubwürdiger erschien der Zeuge.153 Die Zeugen durften nur auf Befragen reden. Die Befragung erfolgte durch den Gerichtsvorsitzenden. Während das staatliche Recht auch von Klerikern vor der Zeugnisablegung den Eid forderte, wurden diese, wenn sie vor der Synode aussagten, unbeeidet vernommen.154 Man ging davon aus, daß ihr Glaube an Gottes Gegenwart und Allwissenheit stark genug war, um sie vor falschem Zeugnis zu bewahren. Dementsprechend forderte Flavianus die Notare der Synode auf, über ihre Beobachtungen bei vorgelegtem Evangelium, die Furcht Gottes vor Augen habend, auszusagen.155 Neben dem Beweis durch Zeugen kam vor allem das Geständnis des Angeklagten in Frage. Das Geständnis mußte die Begehung der Tat nach ihrer objektiven und subjektiven Seite zum Gegenstand haben. Das Geständnis des Angeklagten erbrachte normalerweise vollen Beweis. Schließlich waren auch der Urkundenbeweis und der Indizienbeweis zugelassen. 3. Die Aussendung zur (zweiten) Ladung Erzbischof Flavianus gab dem Antrag auf Wiederholung der Ladung des Eutyches statt.156 Die Priester Mamas und Theophilus sollten ihm das Ladungsschreiben überbringen und ihm bedeuten, daß er seine Lage durch die Erklärungen, die er den (ersten) Ladungsboten gemacht hatte, verschlimmert habe. Wenn er erscheine, seinen Irrtümern absage und den rechten Glauben bekenne, werde man ihm jedoch vergeben. Eusebius beantragte, daß der Brief der Synode vorgelesen und ihren Akten einverleibt werde.157 Flavianus gab dem Antrag statt, und das (zweite) La150
Dt 19, 15; 2 Kor 13, 1; Mt 18, 16. D. 48, 18, 20; CJ. 4, 20, 4. 152 Canones Apostolorum Nr. 75 (Didascalia et Constitutiones Apostolorum I 587). 153 D. 22, 5, 3; CT. 11, 39, 3; CJ. 4, 20, 9. 154 ACO II/1/1, n. 570, p. 152, l. 9 – 16. Vgl. Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 151
57.
155
ACO II/1/1, n. 450, p. 135, l. 25 – 28. ACO II/1/1, n. 377, p. 125, l. 39 – p. 126, l. 11. 157 ACO II/1/1, n. 378, p. 126, l. 12 – 14. 156
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dungsschreiben wurde verlesen.158 Darin wurde dem Eutyches aufgetragen, ohne Verzögerung vor der Synode zu erscheinen und sich gegen den Vorwurf der Irrlehre (die er bei sich gehegt habe und hege und gegenüber anderen vertreten habe) zu rechtfertigen. Er wurde auf die Folgen seines Nichterscheinens hingewiesen; bei Weigerung werde er den Strafen der Kanones unterworfen. Der Vorsatz, das Kloster nicht zu verlassen, sei angesichts der Schwere der Anklage keine hinreichende Entschuldigung seines Fernbleibens. Es wurden wiederum zwei Personen ausgesandt, um die (zweite) Ladung vorzunehmen, Mamas und Theophilus.159 Die Boten waren also andere, und zwar diesmal beide Priester. Die zweite Ladung war die erste Kontumazialladung, der eine zweite folgen sollte. Die Versäumnisladung war notwendig, damit nicht ohne hinreichenden Grund in dem eventuell stattfindenden Verfahren gegen einen Abwesenden dem Angeschuldigten die Gelegenheit, sich zu verteidigen, verkürzt wurde. 4. Der Beweisantrag bezüglich Erregung von Aufruhr Während die Synode auf die Rückkehr der Boten wartete und sich dogmatische Texte der heiligen Väter vorlesen ließ, berichtete Eusebius,160 er habe davon erfahren, daß Eutyches an mehrere Klöster einen tºlor über den Glauben geschickt habe, um die Mönche für seine Lehre zu gewinnen und sie gegen die Synode aufzuputschen. Man müsse die Sache untersuchen, um die Sicherheit der Kirche und der Synode zu gewährleisten. Damit griff Eusebius wohl etwas hoch; so gefährlich war Eutyches nun doch nicht. Aber möglicherweise handelte der Ankläger in gutem Glauben an eine bevorstehende Gefahr. Er hatte auch gleich seinen Gewährsmann parat, den Priester Abramius. Er sollte darüber befragt werden, ob Eutyches den Tomos herumgehen und Unterschriften einfordern lasse. Unermüdlich suchte Eusebius belastendes Material gegen Eutyches zusammengetragen. Jetzt hatte er Kunde von einer weiteren Verfehlung desselben erhalten. Das Gericht mußte sich angesichts der Bedeutung der Sache damit befassen. Erzbischof Flavianus ließ den Abramius eintreten, vernahm ihn zur Person und befragte ihn dann zur Sache.161 Abramius sagte aus, der Priester und Archimandrit Manuel habe ihn durch den Priester Asterius unterrichtet, daß Eutyches ihm einen tºlor peq· t/r p¸steyr habe zur Unterschrift vorlegen lassen.162 Nun stellte Eusebius den Antrag, auch in den anderen Klöstern Nachforschungen anzustellen, ob dort Ähnliches geschehen sei, nämlich daß Unterschriften eingefordert würden, weil angeblich der Glaube verworfen werde.163 Flavianus genehmigte den Antrag des Eusebius und sandte sechs 158
ACO II/1/1, n. 380, p. 126, l. 17 – 26. ACO II/1/1, n. 380, p. 126, l. 19. 160 ACO II/1/1, n. 381, p. 126, l. 27 – 37. 161 ACO II/1/1, nn. 382 – 391, p. 127, l. 1 – 11. 162 ACO II/1/1, n. 392, p. 127, l. 12 – 16. 163 ACO II/1/1, n. 393, p. 127, l. 17 – 20. 159
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Kleriker je zu zweit aus, die in den Klöstern Nachforschungen anstellen sollten, ob ihnen ein Tomos des Eutyches zur Unterschrift vorgelegt worden sei.164 Auf diese Weise konnte rasch Klarheit über die Angelegenheit gewonnen werden. 5. Der Bericht der Boten der (zweiten) Ladung Die beiden Presbyter, die den Eutyches laden sollten, waren am selben Tage bald wieder zur Stelle. Das Ergebnis ihrer Mission war niederschmetternd.165 Sie hatten den Archimandriten nur mit Mühe zu Gesicht bekommen.166 Seine Mönche schützten Krankheit vor, ihr Vorsteher könne sie nicht empfangen. Eutyches schickte den Mönch Eleusinius, dem die Boten an seiner Stelle ihren Auftrag ausrichten sollten. Die Abgesandten ließen jedoch nicht locker, und schließlich waren sie doch zu Eutyches vorgedrungen. Sie übergaben ihm die schriftliche Ladung; er ließ sie in ihrer Gegenwart vorlesen.167 Anschließend erklärte er, daß er seine Behausung nicht verlassen werde, so habe er beschlossen, außerdem sei er alt und krank. Der Erzbischof und die Synode könnten tun, was ihnen gut scheine; eine weitere Ladung sei daher überflüssig. Ihm seien die Mitglieder der Synode so, als ob sie ihn schon zum dritten Mal geladen hätten.168 Eutyches wollte seinerseits den Ladungsboten einen Brief (w²qtgr) mitgeben, den sie aber weder annahmen noch sich vorlesen ließen.169 Eutyches unterschrieb daraufhin das Dokument und erklärte den Ladungsboten, er werde es der Synode übersenden.170 Dieser w²qtgr enthielt vermutlich nichts anderes als das Bekenntnis von Nicaea, wie es in Ephesus bekräftigt worden war. Damit war freilich die Anklage gegen Eutyches nicht hinfällig, denn es ging ja darum, wie das Nicaenum zu verstehen war; seit Nicaea war eben in der Theologie einiges geschehen. Auch diesmal begnügte sich der Erzbischof nicht mit der Aussage eines Mannes und ließ den zweiten Boten berichten.171 Auf Befragen Flavians bestätigte Theophilus die Aussage des Mamas vollinhaltlich.172 6. Der Antrag auf Zwangsvorführung und die Aussendung zur (dritten) Ladung Wiederum war es Eusebius, der die juristische Wertung des berichteten Vorgangs vornahm. Er erinnerte an die Erfahrung, daß Schuldige auf Zeitgewinn hinarbeiten, 164
ACO II/1/1, n. 394, p. 127, l. 21 – 27. ACO II/1/1, n. 397, p. 127, l. 36 – p. 128, l. 32. 166 ACO II/1/1, n. 397, p. 127, l. 36 – p. 128, l. 15. 167 ACO II/1/1, n. 397, p. 128, l. 15 – 18. 168 ACO II/1/1, n. 397, p. 128, l. 18 – 26. 169 ACO II/1/1, n. 397, p. 128, l. 27 – 30. 170 ACO II/1/1, n. 397, p. 128, l. 30 – 32. 171 ACO II/1/1, n. 398, p. 128, l. 33 – 35. 172 ACO II/1/1, n. 399, p. 128, l. 36 – p. 129, 1. 5. 165
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sah also in der Weigerung des Eutyches, sich dem Gericht zu stellen, ein Eingeständnis seiner Schuld. Angeklagte seien nicht berechtigt, es abzulehnen (vor Gericht zu erscheinen) oder an einem Ort zu kleben. Er bat, die Macht der heiligen Kanones gegen den Angeklagten anzuwenden und ihn auch gegen seinen Willen herbeizubringen.173 Der Ankläger stellte also den Antrag, den Angeschuldigten zwangsweise vorzuführen. Die Zwangsvorführung war im kirchlichen Verfahren zulässig wohl in Anlehnung an den Strafprozeß des römischen Rechts, der die zwangsweise erfolgende Vorführung eines säumigen Angeschuldigten kannte.174 Nun war die Zwangsvorführung eines frommen alten Mannes, der als Archimandrit, Priester und Verteidiger des Glaubens gegen Nestorius großes Ansehen genoß, eine unerfreuliche Sache, die dem Angeschuldigten leicht neue Sympathien einbringen konnte. So mochte auch Flavianus denken, und darum wandte er sich ratsuchend an seine bischöflichen Kollegen.175 Die Synode entschied sich für die dritte Ladung.176 Erneut wies die Synode auf die Folgen der contumacia hin: Wenn er dies nicht tue (erscheinen vor der Synode), klage er sich selbst an. Wer der Ladung nicht folgte, der schien einzugestehen, daß es um seine Verteidigung schlecht bestellt war.177 Flavianus führte den Beschluß der Synode aus und bestellte als Ladungsboten diesmal die Priester Memnon und Epiphanius sowie den Diakon Germanus.178 In dem Schreiben zur dritten Ladung hieß es,179 er kenne die Strafen, welche die heiligen Kanones denen androhen, die aus Ungehorsam sich weigern, Rede und Antwort zu stehen, wenn die dritte Ladung an sie gelangt sei. Er solle sich nicht selbst ihnen ausliefern, sondern vor der Synode erscheinen, und zwar am übernächsten Tag frühmorgens. Diesmal wurde also der Termin des Erscheinens genau festgesetzt, nämlich der 17. November 448. Das Schreiben zur dritten Ladung war mit der Drohung verbunden, daß, wenn Eutyches auch diesmal nicht erscheine, das Kontumazialverfahren gegen ihn in Gang gesetzt werden würde.180 Damit hatte es folgende Bewandtnis.181 Das Ver173
ACO II/1/1, n. 400, p. 129, l. 6 – 9. Mommsen, Strafrecht 325; A. Steinwenter, Studien zum römischen Versäumnisverfahren, München 1914, 175 f. 175 ACO II/1/1, n. 401, p. 129, l. 11 – 13. 176 ACO II/1/1, n. 402, p. 129, l. 14 – 16. 177 Vgl. Steinwenter, Studien zum römischen Versäumnisverfahren 117; ders., in: ZSavRG, Rom. Abt. 51 (1931) 462 A. 1. 178 ACO II/1/1, n. 403, p. 129, l. 18 – 22. 179 ACO II/1/1, n. 404, p. 129, l. 24 – 32. 180 ACO II/1/1, n. 404, p. 129, l. 26 – 28. 181 N. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 2 Bde., Köln, Neuß 2 1874, hier II 404 – 411; Mommsen, Strafrecht 333 – 336; Wlassak, Anklage 58 – 72, 156 f.; K. E. Zachariä von Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, Aalen 31955, 393; Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 65 – 75. Zum Kontumazialverfahren im römischen Zivilprozeß vgl. M. A. Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung III, Bonn 1866, 300 – 311; M. Kaser, Das römische Zivilprozeßrecht (= Rechtsgeschichte des Altertums 3, 4), München 1966, 371 – 379. 174
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säumnisverfahren enthielt als wesentliche Teile die Kontumazialladung, die einseitige Verhandlung und das Urteil gegen den Abwesenden.182 Sein wichtigstes Kennzeichen war, daß es in Abwesenheit des ungehorsamen Angeschuldigten geführt wurde. Der leitende Gedanke war der, daß jener den Nachteil, verurteilt zu werden, ohne gehört worden zu sein, zu tragen hatte, der der Ladung schuldhaft nicht gehorcht hatte. Das kanonische Recht folgte hier dem römischen Recht, das in bestimmten Strafsachen das Kontumazialverfahren183 mit grundsätzlich dreimaliger Ladung kannte.184 Ein Angeschuldigter, der sich der Verfolgung durch Ungehorsam entzog, war contumax. Die dreimalige Aufforderung zum Erscheinen185 geschah in der Absicht, seinen Ungehorsam, die contumacia, offensichtlich zu machen. Wenn die Ladung zweimal erfolglos geblieben war, wurde gegen den Beklagten ein edictum peremptorium erlassen; darin wurden die Säumnis des Beklagten vermerkt und die Durchführung des Verfahrens ohne Rücksicht auf seine Abwesenheit angekündigt. Der Verhandlungstermin, den das edictum peremptorium für das Urteil bestimmt hat, hieß dies peremptorii, griechisch juq¸a.186 Danach wurde im Prozeß gegen Eutyches verfahren. Die zweite Kontumazialladung gab, wie gesagt, als dies peremptorii den 17. November 448 an. Der Termin wurde allerdings noch einmal verschoben. Doch am 22. November 448 verkündete der Presbyter und Notar Asterius, es sei herangekommen B juq¸a Bl´qa.187 Die Drohung in der Kontumazialladung war darin gelegen, daß bei dem Ausbleiben des Angeschuldigten an dem dies legitimus die Verhandlung einseitig, nur mit dem Ankläger, geführt werden und das Urteil gefällt werden würde. Sie war in dem Verfahren gegen Eutyches sowohl in der ersten wie in der zweiten Kontumazialladung enthalten.188
IV. Die Sitzung vom 16. November 448 Am folgenden Tag, dem 16. November 448, trat die Synode zu ihrer vierten Sitzung in Sachen des Eutyches zusammen.189 Die Bischöfe sprachen über die göttlichen Dogmen. Es gab noch manche ungelöste Fragen in der Christologie, über die hier vermutlich diskutiert wurde. Die Ladungsboten hatten noch nicht über Erfolg oder Mißerfolg ihrer Sendung berichtet, da traf eine Abordnung aus dem 182
Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 65. D. 48, 19, 5; 48, 17, 1 pr. 184 D. 5, 1, 72; 5, 1, 55. 185 CJ. 7, 43, 8; 7, 43, 9. 186 Der dies legitimus war das kirchliche Gegenstück zu dem dies peremptorii, der juq¸a, des römischen Rechtes (Steinwenter, Studien zum römischen Versäumnisverfahren 51 f., 100, 123). 187 ACO II/1/1, n. 458, p. 137, l. 20. 188 1pitil¸oir : ACO II/1/1, n. 380, p. 126, l. 24; Strafen gegen die !peihoOmter: ACO II/1/1, n. 404, p. 129, l. 27. 189 ACO II/1/1, n. 405, p. 129, l. 33 – p. 130, l. 4. 183
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Kloster des Eutyches ein und bat darum, vorgelassen zu werden.190 Der Erzbischof ließ sie eintreten. Die Delegation war geleitet von dem Priester und Archimandriten Abramius, dem die Diakone Eleusinius, Konstantinus und Konstantius aus dem Kloster des Eutyches zur Seite standen.191 Auf Befragen des Erzbischofs bemerkte Abramius, sie seien von Eutyches gesandt.192 Eutyches merkte offensichtlich, daß die Sache ernst wurde. Abramius sagte, Eutyches sei krank und habe in der Nacht keinen Schlaf gefunden, sondern unablässig geseufzt und ihn beauftragt, dem Erzbischof etwas auszurichten.193 Dieses Verhalten war korrekt. Wenn sich der Angeschuldigte wegen Krankheit nicht zu dem festgesetzten Termin einfinden konnte, durfte er durch Vertreter die Entschuldigung vorbringen lassen.194 Krankheit war der wichtigste Entschuldigungsgrund für persönliche Verhinderung. Flavianus beteuerte wiederum seine und der Synode gute Absicht gegenüber Eutyches.195 Ihnen gehe es nicht um Abschneiden, sondern um Gedeihen; sie seien nicht Söhne der Unmenschlichkeit, sondern der Menschenliebe Gottes, und dazu von Gott gemacht, daß sie Werke der Menschenliebe vollbringen. Flavianus ging davon aus, daß Furcht vor der Voreingenommenheit der Richter den Eutyches abhielt, vor der Synode zu erscheinen, und er suchte ihn von der Milde und dem Wohlwollen seiner Richter zu überzeugen. Vielleicht dienten seine Versicherungen auch dazu, den Eutyches von einer (grundsätzlich möglichen) Richterablehnung196 abzuhalten. Abramius erklärte Flavianus, Eutyches habe ihm etwas aufgetragen, worüber er sprechen werde, wenn er gefragt werde.197 Flavianus zeigte sich darüber verwundert, wie es möglich sei, daß, wenn jemand angeklagt sei, ein anderer an seiner Stelle reden wolle.198 Die persönliche Verantwortung des Angeklagten war mit dem Wesen des Strafverfahrens gegeben; Vertretung war ausgeschlossen. Eutyches solle sich zu der Synode verfügen; er komme zu Vätern und Brüdern, zu solchen, die ihn kennen und ihm in Freundschaft bis jetzt verbunden seien. Viele hätten über ihn gehört und Ärgernis genommen; denn sein Ankläger dränge, und er müsse sich verteidigen.199 Danach erinnerte Flavianus daran, daß Eutyches im Kampf gegen Nestorius um der Wahrheit willen sein Kloster verlassen habe, und das müsse er erst recht jetzt tun, wo es um ihn und um die Wahrheit gehe.200 Der Erzbischof verwies weiter auf die menschliche Schwäche; mancher der Großen sei, obwohl er meinte, richtig zu denken, durch Unverstand und Unkenntnis getäuscht worden. Bekehrung 190
ACO II/1/1, n. 405, p. 130, l. 1 – 4. ACO II/1/1, n. 407, p. 130, l. 6 – 7. 192 ACO II/1/1, nn. 408 – 413, p. 130, l. 10 – 16. 193 ACO II/1/1, n. 414, p. 130, l. 17 – 20. 194 PS. 5, 16, 11; D. 3, 3, 71; 5, 1, 73, 3; 48, 1, 13, 1. 195 ACO II/1/1, n. 415, p. 130, l. 21 – 26. 196 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 47 – 51. 197 ACO II/1/1, n. 416, p. 130, l. 27 – 28. 198 ACO II/1/1, n. 417, p. 130, l. 29 – 30. 199 ACO II/1/1, n. 417, p. 130, l. 30 – 33. 200 ACO II/1/1, n. 417, p. 130, l. 33 – 35. 191
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bringe keine Schande, wohl aber das Verharren in der Sünde Schmach.201 Wenn er komme und gestehe und seinen Irrtum verwerfe, werde er Verzeihung für die Vergangenheit erlangen.202 Hier stellte Flavianus also dem Eutyches erneut Straflosigkeit in Aussicht. Für die Zukunft aber müsse er der Synode und dem Erzbischof Sicherheit leisten, daß er seinen Glauben gemäß den Erklärungen der heiligen Väter gestalte und nichts anderes lehre.203 Es zeigte sich von neuem: Flavianus war kein parteiischer Richter. Er nahm die Entschuldigung des Eutyches wegen Krankheit an, was wiederum sein relatives Wohlwollen für diesen oder jedenfalls seinen Wunsch nach möglichst reibungsloser Beilegung des Konfliktes bezeugt. Flavianus war sich aber auch über die verzehrende Leidenschaft des Eusebius klar. Das Feuer erscheine ihm kalt im Vergleich mit seinem Eifer für die Religion. Er, Flavianus, habe ihn, Eusebius, gebeten, sich der Sache zu enthalten oder sie aufzugeben. Aber was könne er tun, wenn jener bei seiner Absicht verharre? Flavianus war um eine friedliche Beilegung des Streits bemüht gewesen. Aber sein Amt verpflichtete ihn, Klagen anzunehmen und eine Untersuchung in die Wege zu leiten. Er denke nicht daran, sie, die Mönchsgemeinschaft, der Eutyches vorstand, zu zerstreuen, sei vielmehr bestrebt, sie zu sammeln. Sache der Feinde sei es, zu zerstreuen, Sache der Väter, zusammenzufügen.204
V. Die Sitzung vom 17. November 448 1. Der Bericht der Boten der (dritten) Ladung Am folgendem Tage, dem 17. November 448, hielt die Synode ihre fünfte Sitzung im Verfahren gegen Eutyches ab.205 Die Abgeordneten hatten unterdessen dem Eutyches die dritte Ladung überbracht. Die Synode hatte sich nicht um dessen Abweisung gekümmert, sie könne sich eine weitere Ladung ersparen, war vielmehr den vorgeschriebenen Weg gegangen. Nun standen die drei Abgesandten bereit, um Meldung zu erstatten.206 Der Presbyter und Skeuophylax207 Memnon erstattete als erster der Boten der Synode Bericht über seine Sendung.208 Sie hätten dem Eutyches das Ladungsschreiben übergeben, dieser habe es angenommen und gelesen. Eutyches habe erklärt, daß er den Archimandriten Abramius zum Erzbischof und zur Synode geschickt habe, damit er in seinem Namen seine Treue zu den Erklärungen
201
ACO II/1/1, n. 417, p. 130, l. 35 – 37. ACO II/1/1, n. 417, p. 131, l. 1 – 2. 203 ACO II/1/1, n. 417, p. 131, l. 2 – 4. 204 ACO II/1/1, n. 419, p. 131, l. 8 – 14. 205 ACO II/1/1, n. 420, p. 131, l. 14 – 20. 206 ACO II/1/1, nn. 420 – 421, p. 131, l. 14 – 23. 207 Vgl. dazu Krieg, Skeuophylax, in: Kirchenlexikon 11 (21899) 399 – 400. 208 ACO II/1/1, n. 422, p. 131, l. 24 – 31; n. 427, p. 132, l. 14 – 22. 202
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der Konzilien von Nicaea und Ephesus und zu den Schriften Cyrills dartue.209 Bei diesen Worten hakte Eusebius ein.210 Er spürte, daß Eutyches auf seine früheren Äußerungen überhaupt nicht einging und sich lediglich durch ein gegenwärtiges unverfängliches Bekenntnis aus der Affäre ziehen wollte. Er habe ihn aber nicht über Zukünftiges, sondern über Vergangenes angeklagt. Darum stellte er die rhetorische Frage: Wenn Eutyches jetzt seine Zustimmung (zur rechten Lehre) ausspreche, weil man ihm nahegelegt habe, nachzugeben und zu unterschreiben, sei er, Eusebius, dann im Prozeß unterlegen und überwunden? Die Antwort konnte nur lauten: Keineswegs. Eusebius zeigte erneut seine Besorgnis, Eutyches könne sich geschickt aus der Klemme ziehen, der Prozeß mit seinem Freispruch endigen und er selbst wegen falscher Anklage belangt werden. Damit das nicht einträte, wehrte er sich entschieden gegen eine Verlagerung des Streitpunktes; es gehe nicht um den Glauben des Eutyches in der Gegenwart, sondern um seine Äußerungen in der Vergangenheit. Flavianus trat dieser Sicht der Dinge bei und suchte Eusebius zu beruhigen. Niemand gebe zu, daß er, Eusebius, von seiner Anklage abstehe oder daß jener, Eutyches, sich nicht wegen der vergangenen Dinge verteidigen müsse.211 Diese Worte besagten einmal, daß der Ankläger nicht aus eigenem Antrieb von der Anklage zurücktreten durfte, ohne daß das Gericht zugestimmt hatte, zum anderen, daß die Synode nicht daran dachte, ihn von dem selbst übernommenen Auftrag zu entlassen. Das Gericht zeigte sich hier vertraut mit dem römisch-rechtlichen Institut der tergiversatio.212 Eusebius entgegnete,213 er bestehe darauf, daß diese Äußerung (sc. des Eutyches) ihm kein Vorurteil eintrage. Er habe glaubwürdige Zeugen dafür, daß Eutyches Falsches gelehrt und Widersprüche vorgebracht und daß er, Eusebius, wiederholt versucht habe, ihn von seinen Irrtümern abzubringen, jedoch vergeblich. Wenn man den Strafgefangenen sage, sie sollten keine Räubereien mehr begehen, würden alle es versprechen. Mit diesen Äußerungen spielte Eusebius auf die Unzuverlässigkeit, ja Unehrlichkeit von Versprechungen Angeklagter bezüglich ihres zukünftigen Verhaltens an. Wenn man sich mit derartigen Absichtserklärungen loskaufen könnte, wäre jedermann dazu bereit, sie abzugeben. Flavianus suchte erneut den Eusebius zu beruhigen. Ihm werde kein Vorurteil bei der von ihm vorgebrachten Anklage geschehen, auch wenn Eutyches tausendmal verspreche, die Erklärungen der heiligen Väter zu unterschreiben. Wie es schon oft gesagt worden sei, müsse jener zuvor überführt werden bezüglich dessen, wessen er beschuldigt werde, und müsse sich verteidigen.214 Es würde also das Akkusationsverfahren bezüglich des Anklagepunktes unweigerlich seinen Fortgang nehmen und der Vorwurf hinsichtlich des Verhaltens in der Vergangenheit aufgeklärt werden, ehe Eutyches zugelassen werde, sich hinsichtlich seiner Haltung in der Zukunft auszusprechen. 209
ACO II/1/1, n. 422, p. 131, l. 27 – 31. ACO II/1/1, n. 423, p. 131, l. 32 – p. 132, l. 2. 211 ACO II/1/1, n. 424, p. 132, l. 3 – 4. 212 Mommsen, Strafrecht 498 – 501. 213 ACO II/1/1, n. 425, p. 132, l. 5 – 9. 214 ACO II/1/1, n. 426, p. 132, l. 10 – 13. 210
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Nach dieser Unterbrechung fuhr Memnon mit seinem Bericht fort. Nach einer Wechselrede mit Eutyches, bei der sich dieser darauf versteifte, er sei krank und habe Abramius als Vertreter und Bittsteller zu der Synode entsandt, habe er endlich nachgegeben und lediglich um Aufschub bis zum Montag der folgenden Woche gebeten; dann, also am 22. November 448, wolle er vor die Synode treten.215 Flavianus holte darauf das Zeugnis der beiden anderen Abgesandten, des Epiphanius und des Germanus, ein. Sie bestätigten die Aussage des Memnon.216 Sie war für den Ankläger nicht ergiebig. 2. Ein weiterer Beweisantrag des Eusebius Eusebius griff aber an dieser Stelle erneut in die Verhandlung ein. Er erinnerte daran, daß er zuvor auf den Aufruhr hingewiesen habe, den Eutyches zu erregen beabsichtige, indem er in den Klöstern in und bei Konstantinopel einen Tomus umlaufen ließ, der unterschrieben werden sollte,217 daß er also die dreimalige Ladung bzw. die damit verbundenen Fristen benutzte, um die Mönche in der Stadt und der Umgebung von Konstantinopel für sich zu gewinnen und gegen die Synode einzunehmen, und daß der Erzbischof auf seinen Antrag hin Kleriker ausgesandt hatte, um dieser Sache nachzugehen. Eusebius stellte nun den weiteren Antrag, die Ausgesandten zu vernehmen und ihre Aussagen den Akten einzuverleiben.218 Er trieb das Verfahren konsequent voran. Flavianus ordnete daraufhin die Vernehmung der beiden Anwesenden, des Priesters Petrus und des Diakons Patrizius, an.219 Petrus sagte folgendes aus. Der Priester und Archimandrit Martinus habe gestanden, daß ihn Eutyches am 12. November durch den Diakon Konstantinus um seine Unterschrift gebeten habe.220 Eutyches habe ihn drohend darauf hingewiesen, daß, wenn er jetzt nicht mit ihm gemeinsame Sache mache, der Erzbischof zuerst gegen ihn, Eutyches, danach auch gegen sie vorgehen werde. Auf die Frage des Erzbischofs, was nach dem Zeugnis des Martinus in dem zur Unterschrift vorgelegten Tomus enthalten gewesen sei, antwortete Petrus, das, was in Ephesus beschlossen worden sei.221 Als der Erzbischof nachstieß, ob Martinus den Tomus selbst gelesen habe, verneinte Petrus. Auch der Priester und Archimandrit Faustus war von Eutyches umworben worden.222 Schließlich habe auch der (Priester und Archimandrit) Job erklärt, Eutyches habe ihn gegen den Erzbischof aufzubringen versucht.223 Dagegen 215
ACO II/1/1, n. 427, p. 132, l. 14 – 22. ACO II/1/1, nn. 428 – 431, p. 132, l. 23 – 36. 217 ACO II/1/1, n. 432, p. 132, l. 37 – p. 133, l. 6. 218 ACO II/1/1, n. 432, p. 132, l. 37 – p. 133, l. 6. 219 ACO II/1/1, nn. 433 – 435, p. 133, l. 7 – 12. 220 ACO II/1/1, n. 436, p. 133, l. 13 – 20. 221 ACO II/1/1, nn. 437 – 438, p. 133, l. 23 – 25. 222 ACO II/1/1, n. 440, p. 133, l. 30 – p. 134, l. 1. 223 ACO II/1/1, n. 440, p. 134, l. 1 – 3. 216
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hätten die Archimandriten Manuel und Abramius keine Aufforderung von Eutyches erhalten.224 Der Diakon Patrizius bestätigte auf Befragen die Aussagen des Petrus.225 Wie leicht zu erkennen ist, war das Unternehmen des Eutyches mißglückt; die Klostervorsteher ließen sich nicht zur Frontstellung gegen den Erzbischof und die Synode bewegen.226 Nach dieser Darlegung der subversiven Tätigkeit des Eutyches griff Eusebius wieder in die Verhandlungen ein.227 Es sei nun offenkundig, was Eutyches getan habe und daß er Glaubenswidriges gedacht habe. Dafür stünden die Aussagen des Priesters Johannes sowie der Diakone Andreas und Athanasius, aber auch der Archimandriten, wie die zu ihnen gesandten Kleriker bezeugten. Eutyches hatte zu seinen ersten Verfehlungen weitere gefügt, und Eusebius ergriff die Chance. Die Kumulation der Klagen war zulässig. Es konnten also in ein und demselben Verfahren mehrere verschiedene Straftaten, die ein und demselben Angeklagten zur Last gelegt wurden, verhandelt werden. Die Vergehen waren offenkundig, durch Zeugen bewiesen. So zog Eusebius die Folgerung: Für eine Rechtfertigung des Eutyches sei kein Platz mehr. Er stelle den Antrag, die heiligen Kanones gegen ihn in Anwendung zu bringen. Wer Aufruhr stifte und Glaubensfremdes denke, der sei nicht mehr würdig, unter die Priester Gottes und die Archimandriten gezählt zu werden. Außerdem sei er ein Meineidiger. Einmal erkläre er, er dürfe das Kloster nicht verlassen, jetzt verspreche er, zu kommen, indem er auf Aufschub abziele und anderes betreibe, damit er den Beweisen entgehe und nicht der Strafe verfalle. Der langen Rede kurzer Sinn war: Eusebius forderte die sofortige Verurteilung des Eutyches.228 Das Verfahren sollte wegen der contumacia des Eutyches augenblicklich beendet werden. Es sollte ihm keine Frist mehr gewährt, vielmehr ein Kontumazialurteil gefällt werden. Angesichts der vorgelegten Beweise war ein solches möglich; es konnte nur im Sinne des Klägers ausfallen. Flavianus konnte dem Eusebius sachlich nicht widersprechen.229 Er räumte ein, daß ein solches Vorgehen rechtlich zulässig sei. Was gegen Eutyches vorgebracht worden sei, genüge, um der Synode zu zeigen, daß er vom rechten Glauben Abweichendes denke und die Kirche in Aufruhr zu bringen bestrebt sei, so daß er den kanonischen Strafen verfalle und von der priesterlichen Würde und der Vorsteherschaft des Klosters entsetzt sei. Flavianus sah also die ursprüngliche Anklage wegen Häresie erweitert um Unruhestiftung in der Kirche, und er fand, daß beide Punkte bewiesen seien. Doch mochte er sich nicht dazu durchzuringen, das Verfahren mit einem Kontumazialurteil abzuschließen. Er gewähre dem Eutyches, so sagte er, den erbetenen Aufschub, um den Beweis noch vollständiger zu führen. Wenn er nämlich 224
ACO II/1/1, n. 440, p. 134, l. 3 – 5. ACO II/1/1, nn. 441 – 442, p. 134, l. 6 – 10. 226 ACO II/1/1, nn. 433 – 442, p. 133, l. 7 – p. 134, l. 10. 227 ACO II/1/1, n. 443, p. 134, l. 11 – 23. 228 ACO II/1/1, n. 443, p. 134, l. 11 – 23. 229 ACO II/1/1, n. 444, p. 134, l. 24 – 33. 225
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vor dem Synodalgericht erscheine, werde er in Person überführt werden. Es war ein besonderes Entgegenkommen, daß Flavianus mit der Verschiebung des Termins auf den 22. November 448 einverstanden war. Es war zulässig, daß der Termin, der für das Erscheinen festgesetzt war, verlegt wurde, falls ein entsprechender Grund von dem Angeschuldigten vorgebracht wurde.230 Wenn er allerdings am 22. November nicht erscheine, so fuhr Flavianus fort, werde er seiner Priesterwürde entkleidet und von seinem Vorsteheramt entsetzt werden. Es wurde also für diesen Termin die Durchführung des Kontumazialverfahrens und die Verurteilung des Eutyches in absentia angekündigt.
VI. Die Sitzung vom 20. November 448 1. Die neuen Beweisanträge des Eusebius Am Samstag, dem 20. November 448, trat die Synode erneut zur Verhandlung der Sache des Eutyches zusammen.231 Es war dies die sechste Sitzung in der fraglichen Angelegenheit. Eusebius entfaltete wiederum seine anklägerische Energie, indem er zwei bedeutsame Beweisanträge stellte. Gleich zu Beginn kam er auf seine schriftliche (1ccq²vyr) Anklage zu sprechen und stellte den Antrag,232 die ihm, dem Ankläger, zum Beweis seiner Anklage notwendigen Zeugen vorladen zu wollen, und zwar zum gleichen Termin, zu dem Eutyches sein Erscheinen zugesagt hatte, also am nächsten Montag. Es handelte sich um den Priester und Synzellus Narses, den Diakon und Apokrisiar Konstantinus und den Diakon Eleusinius, alle aus dem Umkreis bzw. Kloster des Eutyches. Sie waren mit dessen Gedanken vertraut und hatten wohl auch mancher Unterredung beigewohnt, die Eusebius mit ihm gehabt hatte. Sie sollten erscheinen und verhört werden (cimol´mgr t/r diacm¾seyr) (facta cognitione) und so die Wahrheit ans Licht bringen. Flavianus stimmte der Zitation dieser Zeugen sogleich zu.233 Danach rückte Eusebius mit seinem zweitem Antrag heraus. Er bemerkte,234 daß die Boten der zweiten Ladung einiges, was sie von Eutyches gehört hatten, noch nicht ausgesagt hätten, was folglich auch noch nicht bei den Akten sei, was aber für den Beweis des Denkens des Eutyches nützlich sei. Er bat daher, die Priester Mamas und Theophilus vor Gott (pqojeil´mym t_m "c¸ym eqaccek¸ym) über das zu vernehmen, was sie von Eutyches gehört hätten. Es sollte also wiederum ein gewichtiger Teil der Beweiserhebung erfolgen, obwohl der Angeschuldigte nicht anwesend war. Flavianus stimmte zu,235 und der zunächst allein anwesende Theophilus machte seine Aussage.236 230
D. 48, 1, 10. ACO II/1/1, n. 445, p. 135, l. 2 – 3. 232 ACO II/1/1, n. 445, p. 135, l. 4 – 11. 233 ACO II/1/1, n. 446, p. 135, l. 12 – 13. 234 ACO II/1/1, n. 447, p. 135, l. 14 – 20. 235 ACO II/1/1, n. 448, p. 135, l. 20 – 21. 231
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2. Die Aussagen der Boten der (dritten) Ladung Bei der Überreichung der Ladung habe sich, so führte Theophilus vor, ein Disput zwischen Eutyches und den Boten entwickelt. Anwesend waren bei diesem Gespräch der Priester Narses, der Abt Maximus und einige andere Mönche.237 Eutyches fragte provozierend, wo in der Heiligen Schrift sich die Worte ,,zwei Naturen“ fänden und welcher der heiligen Väter gelehrt habe, daß der göttliche Logos zwei Naturen habe. Es war also die Zweinaturenlehre, die Eutyches strikt ablehnte, weil ihm dafür der Beweis aus Schrift und Tradition zu fehlen schien. Die theologisch beschlagenen Boten stellten die Gegenfrage, wo sich der Ausdruck ,,wesensgleich“ finde oder welche Schrift ihn gebrauche. Sie wollten an dem Beispiel dieses Begriffs, der auch von Eutyches fraglos akzeptiert wurde, weil er ja im Konzil von Nicaea gebraucht worden war, zeigen, daß die Schrift allein nicht genüge, um den Glauben begrifflich zu fassen. Eutyches habe auch zugegeben, daß er sich in der Schrift nicht finde, wohl aber in den Ausführungen der heiligen Väter. Darauf habe Mamas erwidert, dasselbe gelte für die Lehre von den zwei Naturen. In dem Gespräch, das die Ladungsboten mit Eutyches führten, ging es also um eine gewichtige Frage der theologischen Erkenntnislehre, nämlich um das Enthaltensein der ZweiNaturen-Lehre und des bloo¼sior-Begriffes in der Schrift, wofür beide Seiten den Beweis schuldig blieben. Dagegen nahmen die Boten und Eutyches je für ihre Ansicht die heiligen Väter in Anspruch. Er, Theophilus, habe dann versucht, den Eutyches davon zu überzeugen, daß man von zwei Naturen Christi sprechen müsse, weil der Logos vollkommener Gott und vollkommener Mensch sei. Eutyches habe es indes von sich gewiesen, zu sagen, daß Christus aus zwei Naturen sei, oder über die Natur seines Gottes Betrachtungen anzustellen (vusiokoce?m). Wenn man ihn absetzen oder etwas anderes mit ihm tun wolle, möge man das tun, er bleibe bis zum Tode bei dem Glauben, den er empfangen habe. Diese Aussage des Theophilus war von großem Gewicht; sie zeigte, daß Eutyches die Norm der Lehre, auf die sich die Synode gestellt hatte, verwarf. Flavianus erkannte auch sogleich ihre Bedeutung, und darum befragte er den Zeugen, weshalb er bei seinem ersten Erscheinen vor der Synode von diesen wichtigen Dingen geschwiegen habe.238 Theophilus antwortete, sie seien nicht deswegen zu Eutyches entsandt worden, sondern um ihn vorzuladen. Man habe sie darüber nicht befragt, und so hätten sie es als überflüssig angesehen, über etwas zu sprechen, worüber sie keinen Auftrag erhalten hatten.239 Inzwischen traf der Priester Mamas ein. Man las ihm die Aussage des Theophilus vor.240 Er bestätigte sie vollinhaltlich und ergänzte sie in einzelnen Punkten.241 Mamas unterstrich zu Beginn feierlich die Wahrhaf236
ACO II/1/1, n. 451, p. 135, l. 29 – p. 136, l. 16. ACO II/1/1, n. 451, p. 136, l. 1 – 2. 238 ACO II/1/1, n. 452, p. 136, l. 17 – 19. 239 ACO II/1/1, n. 453, p. 136, l. 20 – 23. 240 ACO II/1/1, n. 455, p. 136, l. 26 – 27. 241 ACO II/1/1, n. 456, p. 136, l. 28 – p. 137, l. 12. 237
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tigkeit seines Zeugnisses. Dann wies er darauf hin, daß die jetzigen ergänzenden Aussagen (des Theophilus und seine) dem Eifer des Eusebius zu verdanken seien. Er, Mamas, habe Eutyches zu dem Bekenntnis gebracht, daß das Wort Fleisch geworden sei, um die menschliche Natur wieder aufzurichten, und danach weitergefragt, von welcher Natur die menschliche Natur aufgerichtet worden sei. Da sei jener sofort, ohne Antwort zu geben, ausgewichen und habe gesagt, er habe aus der Heiligen Schrift nichts gelernt von zwei Naturen. Mamas habe ihm an dem Beispiel des bloo¼sior vordemonstriert, daß dieser Begriff sich ebenfalls nicht in der Schrift finde, wohl aber bei den heiligen Vätern, welche die Schrift mit frommem Sinn verstanden und getreulich interpretiert hätten. Was von dem bloo¼sior gelte, daß man nämlich den Begriff von den heiligen Vätern empfangen habe, das müsse auch für die zwei Naturen (daß Christus aus zwei Naturen sei) Geltung haben. Eutyches habe darauf geantwortet, er mache die Natur der Gottheit nicht zum Gegenstand der Untersuchung und bekenne nicht zwei Naturen, komme, was da wolle. Flavianus stellte die Eindeutigkeit und die Übereinstimmung der Aussagen der beiden Zeugen fest und veranlaßte ihre Einfügung in die Akten.242
VII. Die Sitzung vom 22. November 448 1. Die Anwesenden Am Montag, dem 22. November 448, fand die siebte und letzte Sitzung des Synodalgerichtes in Sachen des Eutyches statt.243 Damit erreichte das Verfahren seinen Höhepunkt und fand gleichzeitig seinen Abschluß. Man führte die heiligen Evangelien in die Versammlung ein, Flavianus übernahm wie gewohnt den Vorsitz. Die Zahl der anwesenden Bischöfe wird von den Autoren verschieden angegeben; sie schwankt zwischen 29 bis 40.244 Der Priester und Notar Asterius verkündete, der für die entscheidende Verhandlung festgesetzte Tag (B juq¸a Bl´qa) sei gekommen, und Bischof Eusebius, der Ankläger, stehe vor der Tür und bitte um Einlaß.245 Er wurde ihm gewährt.246 Danach sandte Flavianus die Diakone Philadelphus und Beryllus aus, um Eutyches, den Angeklagten, vor die Synode zu bringen.247 Als die Boten ihn nicht fanden,248 wurden zwei andere Diakone, Krispinus und Jobianus, beauftragt, ihn zu suchen und vorzuladen. Auch sie entdeckten den Eutyches nicht, berichteten indes, daß er angeblich mit zahlreicher Begleitschaft auf dem Wege
242
ACO II/1/1, n. 457, p. 137, l. 13 – 15. ACO II/1/1, n. 458, p. 137, l. 16 – 19. 244 Hefele-Lerclercq, Histoire des Conciles II 1, 534 A. 1. 245 ACO II/1/1, n. 458, p. 137, l. 20 – 21. 246 ACO II/1/1, n. 459, p. 137, l. 22. 247 ACO II/1/1, n. 460, p. 137, l. 23 – 26. 248 ACO II/1/1, n. 461, p. 137, l. 27 – 28. 243
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sei.249 Während die Synode wartete, meldete der Priester Johannes, Defensor (5jdijor) der Synode, daß Eutyches angekommen sei.250 Tatsächlich erschien Eutyches vor der Synode, aber er kam nicht allein. Vielmehr zogen Soldaten, Mönche und Offiziale des Gardepräfekten vor dem Haus des Bischofs auf, und sie versicherten, daß sie den Eutyches nur dann in das Secretum des Hauses eintreten lassen würden, wenn das Gericht verspreche, es werde ihn wieder unversehrt ziehen lassen. Ebenso erschien der Silentiarius251 Magnus und wünschte eintreten zu dürfen, da er vom Kaiser abgeordnet sei.252 Von einer Zusage der Synode wurde in den Akten nichts bemerkt. Der Erzbischof ließ die Geladenen eintreten.253 Der Silentiarius Magnus wies ein responsum ( !pºjqisir) des Kaisers vor und bat um die Erlaubnis, es der Synode vortragen zu dürfen.254 In gewohnter Servilität stimmte die Synode zu.255 Der Kaiser betonte in dem Schreiben seine Absicht, die katholische Kirche und den rechten Glauben in Frieden zu wissen, und seinen Willen, den in Nicaea und Ephesus verkündeten Glauben zu schützen. Zu diesem Zweck solle der Patricius256 Florentius bei dem Prozeß anwesend sein, ein gläubiger und im rechten Glauben erprobter Mann.257 In diesem Schreiben war wichtig, was gesagt wurde, aber noch wichtiger, was nicht gesagt wurde. Der Wunsch des Kaisers, der in Nicaea und Ephesus festgelegten Orthodoxie nicht zu nahe zu treten,258 war nun von großem Gewicht. Denn er besagte, daß die Verhandlung in der Synode sich allein auf das Glaubensbekenntnis von Nicaea und Ephesus als verbindlicher Norm stütze, was bedeutete, daß die Unionsformel ausgeschlossen sein sollte. Damit verriet der Kaiser seine dogmatische Stellung; er stand auf seiten des Eutyches. Der Kaiser ordnete zu dem Prozeß den Patricius Florentius259 ab. Dieser nahm offensichtlich in der Absicht an dem Verfahren teil, darauf in dem vom Kaiser intendierten Sinne Einfluß zu nehmen. Angeblich sollte er Eutyches davor bewahren, der Formel von den zwei Naturen zuzustimmen, und die Sache der Alexandriner vertreten.260 Florentius sei an der Verurteilung des Eutyches gelegen gewesen, um den Alexandrinern eine Waffe zu bieten, gegen die Unionsformel, wegen deren Nichtannahme Eutyches verurteilt wurde, zum Angriff vorzugehen. Er hätte demnach absichtlich 249
ACO II/1/1, nn. 462 – 463, p. 137, l. 29 – p. 138, l. 2. ACO II/1/1, n. 464, p. 138, l. 3 – 10. 251 Zu diesem Begriff vgl. O. Seeck, Silentiarius, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2, 5 (1927) 57 f. 252 ACO II/1/1, n. 464, p. 138, l. 3 – 10. 253 ACO II/1/1, n. 465, p. 138, l. 11. 254 ACO II/1/1, n. 466, p. 138, l. 12 – 14. 255 ACO II/1/1, n. 467, p. 138, l. 15 – 16. 256 Dazu vgl. B. Kübler, Patres, patricii, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 36, 3 (1949) 2222 – 2232. 257 ACO II/1/1, n. 468, p. 138, l. 18 – 24. 258 ACO II/1/1, n. 468, p. 138, l. 21 – 22. 259 Über Florentius vgl. Hefele/Lerclercq, Histoire des Conciles II 1, 533 A. 1. 260 So Schwartz, Der Prozeß des Eutyches 85 – 86. 250
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auf die Verurteilung des Eutyches hingearbeitet. Die Akten tragen für diese Sicht der Dinge nichts bei. Jedenfalls sollte Florentius an dem Schlußakt des Verfahrens teilnehmen. Der Wunsch des Kaisers war der Synode Befehl. Die Bischöfe applaudierten seinem Schreiben überschwenglich und huldigten Theodosius II. als dem ,,Hohepriester-Kaiser“.261 Flavianus blieb nichts übrig, als sich im Namen der Synode mit der Anwesenheit des kaiserlichen Beauftragten einverstanden zu erklären.262 Listigerweise fragte er Eutyches eigens um seine Zustimmung.263 Es konnte Flavianus nicht verborgen sein, daß Florentius im Interesse des letzteren abgeordnet war; es wäre also dessen lebhafte Zustimmung zu erwarten gewesen. Eutyches ging indes nicht in die Falle und erklärte lediglich, man solle tun, was ,,Gott und eure Heiligkeit“ wolle.264 Flavianus sagte Magnus, er könne den Florentius hereinführen. Magnus wünschte, daß ihn ein Kleriker begleite zum Zeichen, daß der Erzbischof ihn schicke. Flavianus erklärte, das sei nicht notwendig, weil der Kaiser es nicht angeordnet habe.265 Damit gab er wohl zu verstehen, daß er die Anwesenheit des Florentius weder wünsche noch billige, sondern lediglich als Befehl des Kaisers hinnehme. Der Florentius trat ein, setzte sich neben den Seleukus von Amasea,266 und die Verhandlung nahm ihren Anfang.267 2. Die Verlesung der Akten Ankläger und Angeklagter zeigten sich. Die Synode forderte sie auf, sich in die Mitte zu stellen.268 Die Ziele, die Eusebius und Eutyches an diesem Tage anstrebten, waren begreiflicherweise entgegengesetzt. Eusebius war es darum zu tun, den Eutyches für die Vergangenheit als Irrlehrer zu erweisen; ihm lag daran, den Mönch zu überführen, daß er vordem irrige Lehren geäußert und propagiert hatte. Eutyches wußte, daß er in der Vergangenheit verfängliche Äußerungen gemacht hatte, die zu seiner Verurteilung führen mußten. Ihm kam es deshalb darauf an, von diesem Gegenstand abzulenken und für jetzt und die Zukunft seine Harmlosigkeit und Rechtgläubigkeit darzutun, was am geeignetsten dadurch geschah, daß er sich hinter unanfechtbaren Formulierungen bedeckt hielt. Zunächst wurden auf Anordnung der Synode die Protokolle der früheren Sitzungen verlesen, damit die Synode zu einem gerechten und den heiligen Kanones gemäßen Beschluß kommen könne.269 Das Beweismaterial, das sich in den vergangenen Sitzungen angesammelt 261
ACO II/1/1, n. 469, p. 138, l. 25 – 29. ACO II/1/1, n. 470, p. 138, l. 30 – 31. 263 ACO II/1/1, n. 470, p. 138, l. 31 – 32. 264 ACO II/1/1, n. 471, p. 138, l. 33 – 34. Zu diesem Vorgang vgl. Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 179 A. 238. 265 ACO II/1/1, nn. 472 – 474, p. 138, l. 35 – p. 139, l. 6. 266 ACO II/1/1, n. 789, p. 173, l. 11 – 12. 267 ACO II/1/1, n. 475, p. 139, l. 7 – 12. 268 ACO II/1/1, n. 475, p. 139, l. 8 – 9. 269 ACO II/1/1, n. 475, p. 139, l. 9 – 12. 262
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hatte, wurde aber auch deswegen verlesen, damit der Angeklagte wußte, wessen er beschuldigt würde, und damit er sich verteidigen konnte. Von der Vernehmung der Zeugen, die für den 22. November 448 geladen worden waren,270 war keine Rede. Der Diakon und Notar Aetius las die angefallenen Akten vor.271 Darin war das Beweismaterial enthalten, auf das Eusebius sich stützte. Als nun die Unionsformel aus dem (schon in der zweiten Sitzung vorgelesenen) Brief Cyrills von Alexandrien an Johannes von Antiochien verlesen wurde, wo ausgesagt war, daß Christus gleichwesentlich dem Vater nach der Gottheit und gleichwesentlich uns nach der Menschheit sei und daß eine Einheit zweier Naturen geworden sei, aber ohne Vermischung (t/r !sucw¼tou 2m¾seyr), sowie daß er aus der Empfängnis Mariens sich den Tempel vereinigt habe, den er aus ihr empfing,272 unterbrach Eusebius den Vortrag und rief in den Saal: ,,Das bekennt dieser nicht, und dem hat er nie zugestimmt, sondern das Gegenteil davon hat er gedacht und gesprochen zu jedem, mit dem er zusammentraf, und unterrichtet er“.273 Mit diesem Zwischenruf wollte Eusebius vermutlich die Anwesenden auf den entscheidenden Punkt seiner Anklage aufmerksam machen; es ging um die in diesen Sätzen ausgesprochenen Inhalte. Der Patricius Florentius griff die Äußerung des Eusebius auf und stellte den Antrag, Eutyches zu befragen, ob er diesem, d. h. der Unionsformel, (jetzt) zustimme.274 Florentius zielte allein auf die Gegenwart, auf den jetzigen Glauben des Eutyches ab und überging die Anklage wegen früherer Äußerungen; so gab er dem Eutyches die Gelegenheit, sich durch eine entsprechende Erklärung von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen (für die Gegenwart) zu reinigen. Eusebius hakte daher sofort ein und verlangte die Fortsetzung der Verlesung der Akten.275 Diese enthielten ja das angesammelte Beweismaterial. Nach seiner Ansicht genügten die Akten, um zu beweisen, daß Eutyches Irrlehren vertreten hatte; in seinen Augen sei er überführt. Auch wenn er jetzt zustimme, indem er irgendwoher ein Bekenntnis nehme, dürfe er, Eusebius, kein Vorurteil erleiden. Er habe den Beweis gegen ihn geführt auch durch die Aussagen der Ladungsboten, und er könne, wenn jener leugne, dasselbe aufzeigen durch bischöfliche Zeugen. Eusebius erklärte sich also bereit, den Beweis gegen Eutyches zu ergänzen, indem erforderlichenfalls drei anwesende Mitglieder des Gerichts Zeugnis ablegten. Es handelte sich um die Bischöfe Meliphthongus, Jovianus und Julianus, die sichere Kenntnis besäßen. Flavianus suchte den Eusebius zu beruhigen, indem er (wie schon früher) darauf hinwies, daß alle ihm zugeständen, den Eutyches zu überführen, und daß niemand ohne weiteres ein Bekenntnis von diesem entgegennehmen würde, bevor er nicht hinsichtlich dessen überführt
270
ACO II/1/1, n. 446, p. 135, l. 12 – 13. ACO II/1/1, n. 476, p. 139, l. 13 – 25. 272 ACO II/1/1, n. 246, p. 108, l. 31 – p. 109, l. 5. 273 ACO II/1/1, n. 477, p. 139, l. 26 – 28. 274 ACO II/1/1, n. 478, p. 139, l. 29 – 31. 275 ACO II/1/1, n. 479, p. 139, l. 32 – 39. 271
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sei, was er früher gedacht habe.276 Das Verfahren bezüglich des einmal eingeführten Anklagepunktes sollte also seinen Fortgang nehmen ohne Rücksicht auf das, wozu sich Eutyches jetzt bekennen würde. Diese Versicherung war von vitaler Bedeutung für den Eusebius. Dieser war in Sorge und gab offen zu, daß er die List des Eutyches fürchte.277 Er sei arm, jener bedrohe ihn mit Verbannung, denn er sei reich, und bestimme ihm schon Oasis als Ort des Exils. Das war nun eine deutliche Sprache. Oasis war ein Ort in Ägypten, wohin Nestorius verbannt worden war. Indem Oasis als mögliche Verbannungsstätte des Eusebius genannt wurde, gab Eutyches zu verstehen, daß er in Eusebius einen Anhänger des Nestorius sah.278 Flavianus antwortete ihm leicht ungeduldig, die Synode würde, auch wenn er tausendmal darauf bestehe, nämlich daß Eutyches lediglich über Vergangenes befragt werde, dennoch nichts der Wahrheit vorziehen.279 Das hieß: Es galt die Wahrheit zu erforschen, und dazu gehörte die Aufklärung über den Glauben des Eutyches sowohl für die Gegenwart als auch für die Vergangenheit. Eusebius war noch immer nicht beruhigt, sondern gestand seine Besorgnis ein: Wenn ich als Verleumder überführt werde, verliere ich meine Würde.280 Er fürchtete also, er könne der schwersten klerikalen Sühnstrafe, der Absetzung,281 verfallen. Diese Strafe war dem Eutyches zugedacht, wenn die Anklage gegen ihn bewiesen würde; falls der Beweis jedoch nicht gelang, würde ihn als calumniator (sujov²mtgr) nach dem Talionsprinzip eben diese Strafe treffen. Man wird annehmen müssen, daß die Verlesung der Akten fortgesetzt und zu Ende geführt wurde, obwohl das Protokoll davon nichts sagt; denn die folgende Verhandlung setzt bei den Anwesenden die Kenntnis des Beweismaterials voraus. 3. Das erstmalige Eingreifen des Florentius Nach diesem Zwischenakt ergriff Florentius wieder das Wort. Er hatte gut aufgepaßt und begriffen, worauf es in dem Verfahren ankam. Als ein rechtlich denkender Mensch wollte er dem Recht zum Sieg verhelfen. Er schlug vor, den Eutyches zunächst einmal darüber zu verhören, wie er jetzt glaube und rede, sodann darüber, weshalb er früher anders gedacht habe.282 Auf diese Weise wurde sowohl dem Anliegen, der Wahrheit zu dienen, als auch dem Begehren, die Anklage zu beweisen, Rechnung getragen. Florentius war offensichtlich davon überzeugt, daß Eutyches in der Vergangenheit anders geglaubt hatte als jetzt. Es wird behauptet, durch diesen Antrag des Florentius sei der Akkusationsprozeß in den Kognitions276
ACO II/1/1, n. 480, p. 139, l. 39 – p. 140, l. 2. ACO II/1/1, n. 481, p. 140, l. 3 – 5. 278 H. Bacht, Die Rolle des orientalischen Mönchtums in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um Chalkedon (431 – 519), in: Grillmeier/Bacht, Das Konzil von Chalkedon II 193 – 314, hier 215 A. 98. 279 ACO II/1/1, n. 482, p. 140, l. 6 – 7. 280 ACO II/1/1, n. 483, p. 140, l. 8. 281 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV 726 A. 8. 282 ACO II/1/1, n. 484, p. 140, l. 9 – 11. 277
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prozeß übergegangen. ,,Damit war der Tatsachenbeweis zugleich als richtig anerkannt und als überflüssig eliminiert, die Verhandlung aus den Formen des Accusationsprozesses in die der Cognition, das Verhör, überführt, für den Beklagten ein ungeheurer Vorteil, da er von dem Vergangenen nichts abzuleugnen brauchte und seine Aussagen so einrichten konnte, wie der Augenblick es erlangte, statt, wie im Accusationsprozeß, sich in zusammenhängender Rede verteidigen zu müssen“.283 ,,War das Verfahren bisher ein akkusatorisches, so schlägt es in der mündlichen Verhandlung bald in eine reine cognitio um“.284 Nach dieser Meinung bestand das Wesen des Akkusationsprozesses darin, daß der Ankläger und der Angeklagte jeweils ihre Behauptungen und Beweise vortrugen, während für das Kognitionsverfahren die Befragung der Parteien durch den Richter kennzeichnend war. Der Kläger habe im Kognitionsverfahren den Beklagten nicht unmittelbar ansprechen, sondern Fragen nur durch den Vorsitzenden an ihn richten dürfen.285 Doch dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden. Auch im Akkusationsverfahren konnte der Ankläger den Angeklagten nicht einem Verhör unterwerfen; dies war Sache des Vorsitzenden.286 Gewiß war in der Kognition das Verhör des Angeklagten das wichtigste Beweismittel; es hatte aber im Akkusationsprozeß ebenfalls seine Stelle. Auch im akkusatorischen Verfahren lag ,,die Führung der mündlichen Verhandlung und insbesondere des Beweisverfahrens“ in der Hand des Gerichtsvorsitzenden. Er nahm das Verhör vor, stellte Fragen und forderte den Angeklagten zum Geständnis oder zur Verteidigung auf.287 So ist daran festzuhalten, daß der Akkusationsprozeß auch nach dem Einwand des Florentius weitergeführt wurde. Das gesamte Verhör, dem Eutyches unterworfen wurde, hatte lediglich die Fragen des Eusebius zum Ausgangspunkt und zum Inhalt. Es ging einzig um die Gleichwesentlichkeit Christi mit uns Menschen und die zwei Naturen Christi. Bezeichnenderweise fehlte in dem Verhör der Punkt der Erregung von Aufruhr; denn ihn hatte Eusebius in der siebten Sitzung nicht zum Gegenstand seiner an Eutyches zu richtenden Fragen gemacht. Eusebius wehrte sich noch einmal dagegen, daß auf die gegenwärtige Meinung und nicht auf die früher vertretene Ansicht des Eutyches abgestellt und so der Fragepunkt des Prozesses verschoben werde, und erklärte sich daher nur einverstanden mit der Befragung, wenn aus der jetzigen (zustimmenden) Aussage des Eutyches ihm (Eusebius) kein Präjudiz (pqºjqila) erwachse.288 Der Beweisstoff, der vorgelegt worden sei, habe Eutyches für die Vergangenheit überführt als einen, 283
Schwartz, Der Prozeß des Eutyches 81. Steinwenter, in: ZSavRG, Rom. Abt. 51 (1931) 462. 285 Vgl. ACO II/1/1, nn. 487, 488, p. 140, l. 17 – 21; nn. 490, 498, p. 140, l. 23 – 24, p. 141, l. 5 – 8. 286 Pe¼seir sind die Fragen, die der Gerichtsvorsitzende an den Angeklagten stellt (ACO II/1/1, n. 484, p. 140, l. 10). 287 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 52. 288 Steinwenter, Der antike kirchliche Rechtsgang 51 A. 4. 284
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der in Glaubensdingen nicht korrekt dachte.289 Eusebius hatte jetzt erkannt, daß er sich auf eine gefährliche Sache eingelassen hatte, als er Eutyches anklagte. Er hatte einen Akkusationsprozeß mit einem klar umschriebenen Beweisziel – Irrlehren in der Vergangenheit – in Gang gesetzt, und er sollte seinen Fortgang nehmen, und dabei sollte es bleiben. Flavianus beruhigte den Eusebius; es erwachse ihm kein Nachteil, wenn Eutyches jetzt (dem rechten Glauben) zustimme; was vorher verhandelt worden sei, habe seine eigene Kraft.290 Daraufhin faßte Eusebius die entscheidende, an Eutyches zu stellende Frage so zusammen: Stimmt er dem, was jetzt von Cyrillus vorgelesen wurde, zu und bekennt er, daß eine Einheit zweier Naturen in einem Prosopon und in einer Hypostase geworden ist?291 Damit war der Glaube auf eine präzise Formel gebracht. Eusebius hing in seiner Christologie von Proklus ab, dessen Formulierung lautete: duae naturae, una hypostasis, unum prosopon.292 4. Das Ringen mit Eutyches Flavianus gab die erste Frage des Anklägers an den Angeklagten weiter und forderte ihn auf, zu sagen, ob er die Formel ,,Einheit aus zwei Naturen“ bekenne.293 Erstaunlicherweise stimmte Eutyches ohne weiteres zu.294 Aber das war nicht die eigentliche Kontroverse. Eusebius stieß darum nach und ließ ihn fragen, ob er zwei Naturen nach der Menschwerdung und Christus als gleichwesentlich mit uns bekenne.295 Damit spitzte sich das Verfahren auf die entscheidenden Punkte zu. Eutyches spürte den Ernst der Stunde und suchte auszuweichen. Er sagte, er sei nicht hierher gekommen, um zu disputieren, sondern um der Synode seinen Glauben zu bekunden.296 Zu diesem Zweck wies er einen j²qtgr vor.297 Möglicherweise war es derselbe, den er bei der ersten Ladung den Abgesandten Theophilus und Mamas übergeben wollte und den er den Klöstern zur Unterschrift vorgelegt hatte. Dann wäre es ein Bekenntnis zu dem Glauben von Nicaea und Ephesus gewesen.298 Aber das war ja gar nicht strittig; es ging vielmehr darum, welche Sprechweise dieser Glaube in bezug auf die Naturen Christi fand. Eutyches bat die Synode, das Dokument verlesen zu lassen (und es zu den Akten zu nehmen). Das war ein geschickter 289
ACO II/1/1, n. 485, p. 140, l. 12 – 14. ACO II/1/1, n. 486, p. 140, l. 15 – 16. 291 ACO II/1/1, n. 487, p. 140, l. 17 – 19. 292 ACO II/1/1, n. 487, p. 140, l. 18 – 19 und II/1/1, n. 230, p. 101, l. 17. Vgl. Sˇagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 197. 293 ACO II/1/1, n. 488, p. 140, l. 20 – 21. 294 ACO II/1/1, n. 489, p. 140, l. 22. 295 ACO II/1/1, n. 490, p. 140, l. 23 – 24. 296 ACO II/1/1, n. 498, p. 141, l. 5 – 6. 297 ACO II/1/1, n. 498, p. 141, l. 6 – 7. 298 Vgl. dazu Sellers, The Council of Chalcedon 64 A. 6. Das vermutliche Bekenntnis des Glaubens, das Eutyches am 22. November 448 vorgelesen wissen wollte, findet sich ACO II/2/1, n. 7, p. 34, l. 38 – p. 35, l. 14 und II/4, n. 109, p. 145, l. 6 – 25. 290
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Schachzug. Wenn das Bekenntnis des Eutyches nun verlesen worden wäre, dann hätte die Synode sich über die Orthodoxie desselben äußern müssen. Es gab dabei zwei Möglichkeiten. Entweder die Synode erklärte das Bekenntnis für genügend. Dann wäre die Folge die Freisprechung des Eutyches und die Anklage des Eusebius wegen Verleumdung gewesen. Oder die Synode erklärte das Bekenntnis für ungenügend, weil sich darin nichts von der Unionsformel fand. Dann hätte sie den Kaiser und die Alexandriner gegen sich aufgebracht. Flavianus mochten diese beiden gefährlichen Möglichkeiten vor Augen stehen; deshalb stellte er nicht den Antrag an die Synode, den Schriftsatz des Eutyches von Amtes wegen vorzutragen,299 forderte vielmehr den Eutyches auf, selbst seinen Text zu verlesen.300 Damit war das Schriftstück entschärft und eine gefährliche Klippe umschifft; ein vom Angeklagten selbst verlesener Text war nicht mehr als eine Aussage, zu der das Gericht nicht unmittelbar Stellung nehmen mußte, über die es vielmehr zur Tagesordnung überging, indem es das Verhör fortsetzte. Eutyches lehnte es indes ab, selbst seinen Text zu verlesen: Ich kann nicht.301 Damit war keine physische, sondern eine moralische Unmöglichkeit ausgesprochen.302 Er dachte nicht daran, sich der Chance zu begeben, die das Gericht ihm verschafft hatte, als es ein orthodoxes Bekenntnis nicht von Amtes wegen verlesen lassen wollte; es konnte ihm im Appellationsverfahren von Nutzen sein. Auf die Frage des Flavianus, weshalb er den Text nicht verlesen könne, ob es nicht seine eigene Darlegung sei, antwortete Eutyches, es sei wohl seine Darlegung, aber sie sei dieselbe wie jene der heiligen Väter.303 Flavianus fragte, welche Väter er meine, und forderte ihn auf, nicht mit den Worten anderer, sondern mit eigenen Worten zu sprechen.304 Der Erzbischof spürte, wie Eutyches Deckung hinter den Aussprüchen der Väter suchte und seine eigene Meinung verbarg. Eutyches gab nun ein knappes mündliches Bekenntnis über Trinität und Menschwerdung ab.305 Es war zwar nicht irrig, enthielt aber auch nicht die zur Rechtgläubigkeit für erforderlich gehaltenen Begriffe. Diese Versicherung des Eutyches war so inhaltsarm, ja (angesichts der Situation) nichtssagend, daß sie Flavianus nicht genügen konnte. Die Unionsformel allein vermochte Klarheit zu schaffen, wo einer christologisch stand. Darum mußte Eutyches zu ihr Stellung nehmen. Flavianus nahm das Verhör wieder auf.306 Es lag offen zutage, wo er hinauswollte. Eutyches sollte zu den beiden Formeln: gleichwesentlich mit uns und zwei Naturen Stellung nehmen. Für die erste setzte sich auch Florentius ein.307 Zunächst versuchte es Flavianus mit der Gleichwesentlichkeit und fragte Eutyches, 299
Eine ähnliche Lage in Ephesus 449: ACO II/1/1, nn. 155 – 156, p. 90, l. 7 – 16. ACO II/1/1, n. 499, p. 141, l. 8. 301 ACO II/1/1, n. 500, p. 141, l. 9. 302 Schwartz, Der Prozeß des Eutyches 82 A. 1. 303 ACO II/1/1, nn. 501, 502, p. 141, l. 10 – 13. 304 ACO II/1/1, n. 503, p. 141, l. 14 – 15. 305 ACO II/1/1, n. 505, p. 141, l. 20 – 24. 306 ACO II/1/1, n. 511, p. 142, l. 1 – 3; n. 513, p. 142, l. 7. 307 ACO II/1/1, n. 521, p. 142, l. 23 – 25. 300
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ob er Christus gleichwesentlich mit dem Vater nach der Gottheit und gleichwesentlich mit der Mutter nach der Menschheit bekenne.308 Eutyches lehnte eine Stellungnahme dazu ab.309 Er fürchtete vermutlich eine Falle. Aber Flavianus ließ nicht locker und fragte ihn unverblümt: Bekennst du jetzt ,,aus zwei Naturen“.310 Eutyches antwortete wieder ausweichend; er habe sich nicht erlaubt, über die Natur Untersuchungen anzustellen; daß Christus gleichwesentlich mit uns sei, habe er bisher nicht gesagt.311 Flavianus hakte bei der Gleichwesentlichkeit ein.312 Es gelang ihm und dem Bischof Basilius, Eutyches dahin zu bringen, daß er in der Frage der Wesensgleichheit Christi mit uns Menschen nachgab: Da ihr es jetzt sagt, folge ich allem.313 Auch Florentius unterstützte Flavianus in diesem Punkt.314 Eutyches räumte also nun ein, daß Christus uns wesensgleich ist. Er erklärte auch, weshalb er sich dieser Formel früher widersetzt habe: Er habe hervorheben wollen, daß es sich bei Christus nicht um den Leib eines Menschen, sondern um den (menschlichen) Leib Gottes handele. Wenn man sage, Christus sei uns wesensgleich, scheine man zu sagen, daß der Leib Christi der Leib eines Menschen und nicht der Leib Gottes sei.315 Eutyches scheute vor einer Redeweise zurück, die dem menschlichen Element in Christus auch nur von ferne einen Selbststand zuzuschreiben schien. Für ihn konnte das Menschsein Christ stets nur als Prädikat, niemals als Subjekt ausgesagt werden.316 Er insistierte fast ausschließlich darauf, daß der göttliche Logos das einzige und identische Subjekt in Christus sei vor und nach der Menschwerdung, und vernachlässigte die Zweiheit der Elemente in Christus.317 In seinen Briefen an Papst Leo ließ Flavianus den Unterschied zwischen Leib eines Menschen und menschlichem Leib nicht gelten.318 Mit dieser Erklärung willfahrte Eutyches dem Florentius, der gewünscht hatte, er solle sich über den Wechsel seiner Anschauungen erklären. Abschwächend fügte er hinzu, er ordne sich jetzt den Bischöfen unter, die das von ihm verlangten; zweimal erklärte er, er nehme dieses Bekenntnis an, weil die Bischöfe es so sagten.319 Es war somit unverkennbar, daß Eutyches seine frühere Ansicht nicht wirklich preisgab, 308
ACO II/1/1, n. 511, p. 142, l. 1 – 3. ACO II/1/1, n. 512, p. 142, l. 4 – 6. 310 ACO II/1/1, n. 513, p. 142, l. 7. 311 ACO II/1/1, n. 514, p. 142, l. 8 – 10. 312 ACO II/1/1, nn. 515 – 520, p. 142, l. 11 – 22. 313 ACO II/1/1, n. 520, p. 142, l. 22. 314 ACO II/1/1, n. 521, p. 142, l. 23 – 25. 315 ACO II/1/1, n. 522, p. 142, l. 26 – 33. Zu diesen Aussagen vgl. De Vries, Das Konzil von Ephesus 371 f. 316 ˇ Sagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 174. 317 Ebd. 177 f. 318 ACO II/1/1, n. 3, p. 37, l. 14 – 16; n. 5, p. 38, l. 28 – p. 39, l. 3. 319 ACO II/1/1, nn. 520, 522, p. 142, l. 22, 33. 309
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indem er sie als Irrtum widerrief, sondern daß er sich – als Priester – lediglich dem höheren Rang der Bischöfe unterordne. Das setzte ihn dem Verdacht der Unaufrichtigkeit aus. Flavianus fragte ihn daher sogleich, ob er lediglich gezwungen und nicht aus Überzeugung den wahren Glauben bekenne.320 Eutyches unterstrich jedoch die Ehrlichkeit seines Bekenntnisses.321 Er habe sich bisher zwar nicht getraut, so zu sprechen, aber da die Bischöfe es gestatteten und lehrten, spreche er jetzt auch so.322 Flavianus hörte aus dieser Antwort einen Vorwurf heraus, nämlich daß die Bischöfe eine Neuerung in der Lehre einführten. Dagegen wehrte er sich entschieden.323 Er stellte die Übereinstimmung des Glaubens der Bischöfe mit den Darlegungen der Väter fest. Es war den Gegnern des Eutyches klar, daß das Nicaenische Bekenntnis allein nicht ausreichte, um das Wesen Jesu Christi zu beschreiben, sondern daß man darüber hinausgehen und weitere Autoritäten heranziehen müsse. 5. Das erneute Eingreifen des Florentius Nun griff Florentius wieder in die Verhandlung ein. Er richtete an Eutyches sachlich dieselbe Frage, die Eusebius an ihn gestellt hatte, nämlich ob er bekenne, daß Christus (uns) wesensgleich und aus zwei Naturen nach der Inkarnation sei.324 Florentius führte also jetzt die Zwei-Naturen-Lehre in das Verhör ein. Auf diese klare Frage gab Eutyches eine klare Antwort: Ich bekenne, daß unser Herr geworden ist aus zwei Naturen vor der Einung; nach der Einung aber bekenne ich eine Natur.325 Die Entwicklung seiner Auffassung war unverkennbar. Er nahm jetzt die Formel 1j d¼o v¼seym an,326 die er kurz zuvor abgelehnt hatte.327 Aber in einem Punkt war er konzessionslos; standhaft weigerte er sich, anzunehmen, daß zwei Naturen in Christus seien nach der Einigung (Inkarnation). In dieser Rede witterte er einen versteckten Nestorianismus. Doch war er nicht imstande, zu erklären, was ,,Natur“ vor der Einigung und nach der Einigung bedeute; denn dasselbe konnte sie unmöglich besagen. Es stand ihm offensichtlich kein ausreichend geklärtes Begriffsmaterial zur Verfügung. In der monophysitischen Christologie war eben v¼sir identisch mit rpºstasir.328 Eutyches stützte sich blind auf den Brief Cyrills an
320
ACO II/1/1, n. 523, p. 142, l. 34 – 35. ACO II/1/1, n. 524, p. 143, l. 1 – 3. 322 ACO II/1/1, n. 524, p. 143, l. 1 – 3. 323 ACO II/1/1, n. 425, p. 143, l. 4 – 6. 324 ACO II/1/1, n. 526, p. 143, l. 7 – 9. 325 ACO II/1/1, n. 527, p. 143, 1. 10 – 11. 326 ACO II/1/1, n. 489, p. 140, l. 22. 327 ACO II/1/1, n. 451, p. 136, l. 13. 328 J. Lebon, La christologie du monophysisme syrien, in: Grillmeier/Bacht, Das Konzil von Chalkedon I 425 – 580, hier 511. 321
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Acacius von Melito.329 Man muß aber auch bedenken, daß die Zwei-Naturen-Lehre zu dieser Zeit noch von keinem Konzil amtlich gebilligt worden war.330 6. Die Ablehnung der Verwerfung durch Eutyches Hier war der Punkt erreicht, wo die Entscheidung fallen mußte. Die Synode war der ausweichenden und unklaren Äußerungen des Eutyches müde. Sie forderte jetzt von ihm, daß er deutlich (seinen Glauben) bekenne und alles, was den jetzt vorgelesenen Glaubenslehren entgegen sei, verwerfe,331 das heißt, sie drängte ihn, die Unionsformel anzuerkennen und ihre Gegner zu verfluchen. Eutyches entgegnete, er habe früher nicht so gesprochen, nun aber, da die Synode es lehre, sage auch er es und folge den Vätern. Doch habe er das weder deutlich in der Heiligen Schrift noch bei allen Vätern gefunden. Wenn er aber die Verwerfung ausspreche, fürchte er, daß er seine Väter verwerfe.332 Eutyches erhob hier den Anspruch, daß er sich für seine Ansicht auf namhafte Väter berufen könne. Dabei dachte er wohl an Cyrill und Athanasius. Diese Leuchten der Orthodoxie konnte er nicht verurteilen. Die Sache trieb jetzt zur Entscheidung. Die Mitglieder der Synode erhoben sich als Zeichen der Entrüstung und sprachen ihrerseits das Anathema über Eutyches aus.333 Das war eindeutig sein Schuldspruch und seine Verurteilung. Flavianus forderte die Synode auf, zu sagen, was der verdiene, der weder deutlich den rechten Glauben bekenne noch der Synode beistimmen wolle, sondern in seiner verkehrten Meinung verharre.334 Der Bischof Seleukus von Amasea antwortete, er habe die Absetzung (jaha¸qesir) verdient; es liege bei der Menschenfreundlichkeit des Flavianus, was mit ihm geschehe.335 Flavianus entgegnete, wenn Eutyches mit dem Bekenntnis seiner Sünde seine Lehre verworfen und ihrer (in den Vätern begründeten) Lehre zugestimmt hätte, wäre er der Verzeihung (succm¾lg) wert. Da er aber bei seiner Bosheit bleibe, unterliege er den Strafen der Kanones.336 Eutyches zeigte ein letztes Entgegenkommen und erklärte, er stimme diesen Ausdrücken zu, weil sie es ihm jetzt befohlen hätten, aber eine Verwerfung spreche er nicht aus. Was er sage, sei die Wahrheit.337 Er wollte also im Gehorsam die ihm als verbindlich vorgelegten Lehrformeln annehmen, lehnte es jedoch ab, die Gegner des Bekenntnisses, welches die Synode als rechtgläubig bezeichnete, zu verfluchen. Noch einmal ergriff Florentius das Wort. Er fragte den Eutyches, ob er zwei Naturen und gleichwe329 ˇ Sagi-Bunic´, ,,Deus perfectus et homo perfectus“ 177 A. 235. Text des Briefes: ACO I/1/4, n. 128, p. 20, l. 18 – p. 31, l. 3. 330 De Vries, Das Konzil von Ephesus 370. 331 ACO II/1/1, n. 534, p. 143, l. 30 – 31. 332 ACO II/1/1, n. 535, p. 143, l. 32 – p. 144, l. 2. 333 ACO II/1/1, n. 536, p. 144, l. 3. 334 ACO II/1/1, n. 537, p. 144, l. 4 – 7. 335 ACO II/1/1, n. 538, p. 144, l. 8 – 9. 336 ACO II/1/1, n. 539, p. 144, l. 10 – 13. 337 ACO II/1/1, n. 540, p. 144, l. 14 – 15.
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sentlich (mit uns) sage.338 Eutyches entgegnete, er habe bei Cyrill, den heiligen Vätern und dem heiligen Athanasius von zwei Naturen vor der Einung, aber nur von einer Natur nach der Einung gelesen.339 Statt sein eigenes Bekenntnis zu formulieren, wich er also wieder aus auf die Lehre anderer. Doch auch Florentius ließ nicht locker und verengte noch einmal seine Frage: Bekennst du zwei Naturen nach der Einung?340 Daran knüpfte er die klare Folgerung: Wenn du es nicht tust, wirst du verurteilt werden. Eutyches antwortete wiederum ausweichend, indem er auf Athanasius verwies, der nichts dergleichen sage,341 und bat, daß die Schriften des Athanasius (vor allem wohl ad Jovianum mit der Formel: eine fleischgewordene Natur des göttlichen Logos)342 verlesen würden. Die Synode bestand darauf, daß er die zwei Naturen bekenne. Sie hielt dieses Bekenntnis für notwendig, um in Christus die Vermischung (s¼cjqasim ja· s¼cwusim) seiner Gottheit und seiner Menschheit zu vermeiden, wie Basilius von Seleukia bemerkte.343 Florentius stellte darauf lapidar fest: Wer nicht sagt, aus zwei Naturen und zwei Naturen, hat nicht den rechten Glauben.344 Er hatte also erfaßt, daß es nicht genüge, zwei Naturen vor der Vereinigung zu bekennen, sondern daß man sie auch nach der Vereinigung aussagen müsse. Niemand konnte jedoch dem Eutyches eine klare Zustimmung zu der Formel ,,zwei Naturen nach der Einung“ entlocken. Trotz seines Ausweichens war die Synode davon überzeugt, daß er sich zu der Formel des Cyrill von Alexandrien bekannte: eine Natur nach der Vereinigung und der Fleischwerdung.345 7. Die Fällung des Urteils Es schien, als habe Florentius mit seiner lapidaren Feststellung der Synode das Stichwort geliefert. Die Beinahe-Zustimmung des Eutyches zu den für erforderlich gehaltenen Glaubensformeln wurde als nicht ehrlich angesehen. Die ganze Synode erhob sich und rief aus: Was aus Zwang geschieht, ist kein Glaube. Er stimmt nicht zu, was versuchst du noch, ihn zu überzeugen?346 Das Gericht war der Ansicht, daß der von Eusebius angestrebte Beweis der Häresie geglückt war. Flavianus mußte einsehen, daß seine Bemühungen, Eutyches auf die Bahn der Unionsformel zu führen, gescheitert waren. Er fällte nun das Urteil: Eutyches ist durch die vorher338
ACO II/1/1, n. 541, p. 144, l. 16 – 17. ACO II/1/1, n. 542, p. 144, l. 18 – 20. 340 ACO II/1/1, n. 543, p. 144, l. 22. 341 ACO II/1/1, n. 544, p. 144, l. 24 – 25. 342 Athanasius, Epistola ad Jovianum: PG 26, 813 – 814; Athanasius, Contra Gentes and De Incarnatione. Hrsg. u. übers. von R. W. Thomson (= Oxford Early Christian Texts), Oxford 1971. 343 ACO II/1/1, n. 545, p. 144, l. 26 – 27. Vgl. dazu Sellers, The Council of Chalcedon 67 A. 4. 344 ACO II/1/1, n. 549, p. 145, l. 5 – 6. 345 ACO II/1/1, n. 542, p. 144, l. 18 – 20. 346 ACO II/1/1, n. 550, p. 145, l. 7 – 9. 339
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gehenden Verhandlungen und jetzt durch seine eigenen Darlegungen überführt, der falschen Lehre der Valentinianer347 und Apollinaristen reuelos anzuhängen. Er wird von jedem priesterlichen Amt, der Gemeinschaft der Bischöfe und der Vorstandschaft des Klosters enthoben. Wer mit ihm Gemeinschaft hält, verfällt ebenfalls der Exkommunikation.348 Man kann sagen: Eutyches wurde verurteilt, weil er sich weigerte, zwei Naturen nach der Menschwerdung zu bekennen.349 Das Urteil hat in jüngster Zeit Kritik gefunden. Nach De Vries beruhten die Gründe zu der Verurteilung des Eutyches als Häretiker ,,auf einer falschen Interpretation seiner Lehre“.350 Die Schlußfolgerung Flavians, Eutyches hänge der Irrlehre des Valentinus und des Apollinarius an, sei ,,zumindest äußerst angreifbar, wenn nicht einfachhin falsch“.351 Die Unionsformel von 433 sei kein definierter Glaubenssatz gewesen, ,,ihre Ablehnung durch Eutyches kein zwingender Grund für dessen Verurteilung“.352 Ich kann dieser Ansicht nicht beitreten. Eutyches wurde wegen Häresie exkommuniziert und abgesetzt. Die Ex-kommunikation besagte den Ausschluß aus der Gemeinschaft der im Besitz ihrer kirchlichen Rechte befindlichen Gläubigen.353 Die Absetzung war eine zusammengesetzte Strafe. Wer ihr unterlag, verlor sein kirchliches Amt und wurde unfähig für den Neuerwerb eines solchen und wurde aus dem Klerus ausgestoßen.354 Eutyches unterlag somit den schwersten Kirchenstrafen, die ihn als Christen und Kleriker treffen konnten. Flavianus und die Synode waren zweifellos darüber unterrichtet, wo die Sympathien des Hofes lagen, aber sie wahrten ihre Unabhängigkeit und sprachen die Verurteilung über Eutyches aus. Daß sich die Richter zur Beratung über das zu fällende Urteil zurückgezogen hätten, ist aus den Akten nicht zu erkennen. Sie stimmten auch nicht über die Entscheidung ab. Beides war nicht notwendig; denn die Bischöfe hatten ihre Meinung vorher deutlich kundgetan.355 Das Urteil wurde wie im römischen Recht356 schriftlich abgefaßt. Es enthielt die Angabe des Vergehens und der Strafe. Das schriftlich abgefaßte Urteil war nach römischem Recht zu verlesen.357 Unterlassung der Verlesung hatte Nichtigkeit des Urteils zur Folge.358 So verlas auch im Prozeß gegen Eutyches ein Notar das Ur347
Schwane, Dogmengeschichte I 200 – 202. ACO II/1/1, n. 551, p. 145, l. 10 – 19. 349 ACO II/1/1, nn. 541 – 550, p. 144, l. 16 – p. 145, l. 9. 350 De Vries, Das Konzil von Ephesus 374. 351 Ebd. 373. 352 Ebd. 374. 353 Kellner, Buß- und Strafverfahren 77 – 101. 354 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV 726 – 729; Kellner, Buß- und Strafverfahren 28 – 51. 355 ACO II/1/1, n. 536, p. 144, l. 3; n. 550, p. 145, l. 7 – 9. 356 CJ. 7, 44, 3. 357 CT. 4, 17, 1 – 4. 358 CJ. 7, 44, 1; 7, 44, 2. 348
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teil359. Der Vorsitzende des Gerichts unterschrieb das Urteil als erster.360 Alle Bischöfe, die an den Sitzungen der Synode teilgenommen hatten, sowie einige Archimandriten aus Konstantinopel leisteten die Unterschrift unter das Urteil, und zwar unterzeichneten 30 Bischöfe, entweder persönlich oder durch einen Stellvertreter,361 und 23 Archimandriten,362 von denen 18 Priester und einer Diakon waren.363 Die an dem Synodalgericht beteiligten Bischöfe unterschrieben als urteilende Richter und fügten daher meist ihrer Unterschrift das Wort bq¸sar (iudicans) bei. Die Archimandriten hatten an dem Verfahren nicht teilgenommen, ja waren dabei gar nicht anwesend. Man muß also nachher an sie herangetreten sein, um durch ihre Unterschrift ihr Einverständnis mit dem Verfahren und dem Urteil zu bekunden.364 Die Zustimmung der Mönche war in den Lehrstreitigkeiten der damaligen Zeit von großem Gewicht. Die Mönche waren eine zahlenmäßig starke, untereinander durch mannigfache Bande verknüpfte Kraft. Wegen ihres aszetischen Wandels besaßen sie erheblichen Einfluß auf das Volk, aber auch auf den Kaiser.365 Flavian vollstreckte das Urteil des Synodalgerichts. Die Vollstreckung war nur möglich, weil die (gleich zu erwähnende) angebliche Berufung des Eutyches nicht vorschriftsmäßig eingebracht war. Er verlangte von den Mönchen des Klosters, dem Eutyches vorstand, daß sie die Gemeinschaft mit ihm abbrächen, ihr Haus sollte aufgelöst, der Besitz den Armen gegeben werden. Als sie sich weigerten, verbot er ihnen den Gottesdienst.366
VIII. Die weitere Entwicklung des Eutychianischen Streits 1. Der Protest des Eutyches Doch die Sache war damit nicht erledigt. Eutyches gab nicht auf, führte vielmehr den Kampf weiter und betrieb energisch seine Rehabilitierung.367 Der Fortgang des Eutychianischen Streits braucht hier nicht ausführlich geschildert zu werden. Es sollen lediglich die Vorgänge namhaft gemacht werden, die sich auf den Prozeß vom November 448 beziehen. 359
ACO II/1/1, n. 789, p. 173, l. 16. ACO II/1/1, n. 552, p. 145, l. 20. 361 Eudoxius von Bosporus ließ das Urteil durch einen Vertreter unterschreiben (ACO II/1/ 1, n. 552, p. 146, l. 19 – 20), obwohl er der Verhandlung beiwohnte (ACO II/1/1, n. 747, p. 169, l. 29 – 32, n. 815, p. 175, l. 21 – 23). 362 ACO II/1/1, n. 552, p. 145, l. 20 – p. 147, l. 30. In ACO II/2/1, n. 161, p. 19 – 21 sind es 31 Bischöfe und 18 Archimandriten. 363 Bacht, Die Rolle des orientalischen Mönchtums 302. 364 Vgl. ACO II/4, n. 108, p. 144, l. 23 – 25; II/1/1, n. 185, p. 95, l. 38 – p. 96, l. 1. 365 Bacht, Die Rolle des orientalischen Mönchtums 217. 366 ACO II/1/1, n. 887, p. 186, l. 38 – p. 187, l. 5. 367 Hefele/Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 539 – 542. 360
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Eutyches ließ einmal in Konstantinopel contestatorios libellos anschlagen, in denen er das ihm angeblich angetane Unrecht brandmarkte.368 Er legte zum anderen Appellation gegen das Urteil ein, und zwar appellierte er an die Konzilien in Rom, Alexandrien, Jerusalem und Thessaloniki. Außerdem schrieb er an Papst Leo und Bischof Petrus von Ravenna. Seine Absicht ging dahin, von einer einzuberufenden Synode angehört und rehabilitiert zu werden. Der Fachausdruck für die Appellation war 5jjkgtor oder 5cjkgtor.369 Die Appellation war bei dem Gericht einzulegen, gegen dessen Urteil sie sich wandte.370 Im Falle des Eutyches war strittig, ob er dies vor der versammelten Synode oder nach ihrem Auseinandergehen getan habe. In seinem Schreiben an das Konzil von Ephesus (449) beschwerte er sich, daß seine Appellation nicht in die Akten der Synode aufgenommen worden sei.371 Ebenso beklagte er sich in seinem Brief an Papst Leo, daß er seine Appellation während der Verhandlung vorgebracht habe, jedoch nicht gehört worden sei.372 Seine Anhänger erhoben denselben Vorwurf. Bei der Versammlung zur Nachprüfung der Akten erklärte der Diakon Konstantinus, in den Akten der Konstantinopolitaner Synode fehle die Appellation, die Eutyches ausgesprochen habe, während das Urteil über ihn verlesen wurde.373 Doch die im Gericht anwesenden Bischöfe bestritten dies einmütig.374 Florentius sagte aus, daß ihm Eutyches während des ungeordneten Aufbruchs der Synodenteilnehmer gesagt habe, er appelliere an ein römisches, ägyptisches und jerusalemisches Konzil, wovon er, Florentius, dem Flavianus Mitteilung gemacht habe.375 Darin konnte kaum eine formgerechte Appellation gefunden werden. Flavianus schrieb Leo, daß Eutyches keinen Appellationslibell auf der Synode übergeben habe.376 Es muß also wohl dabei bleiben, daß Eutyches seine Appellation nicht während des Verfahrens, sondern danach vorgebracht und daß er sie dem Flavianus nicht vorgetragen hatte. 2. Das Angehen des Papstes und das Verhalten des Dioskur Eutyches suchte überall Hilfe, wo er meinte, sie finden zu können. Er schrieb an Papst Leo und andere Bischöfe und fügte seinen Briefen die Anklageschrift des Eusebius, das Glaubensbekenntnis, das er der Synode hatte vorlegen wollen, seine 368
l. 3).
Brief Leos an Flavianus vom 18. Februar 449 (ACO II/4, n. 3, p. 4, l. 18 – p. 5, l. 25, hier
369 ACO II/1/1, n. 12, p. 27, l. 3 und 10; n. 185, p. 95, l. 36; n. 734, p. 168, l. 7; n. 824, p. 176, l. 10; II/1/2, n. 4, p. 46, l. 29. Vgl. Zacharia von Lingenthal 356, 398. 370 D. 49, 6, 1. 371 ACO II/1/1, n. 185, p. 95, l. 15 – 26. 372 ACO II/4, n. 108, p. 143, l. 26 – p. 145, l. 25; II/2/1, n. 6, p. 33, l. 11 – p. 34, l. 34. 373 ACO II/1/1, n. 818, p. 175, l. 30 – 32. 374 ACO II/1/1, n. 820, p. 175, l. 37 – 42 (Basilius); n. 821, p. 176, l. 1 – 3 (Flavianus); n. 823, p. 176, l. 6 – 7 (Julianus); n. 824, p. 176, l. 8 – 10 (Seleukus). 375 ACO II/1/1, n. 819, p. 175, l. 33 – 36. 376 ACO II/2/1, n. 4, p. 23, l. 2 – p. 24, l. 13, hier l. 2 – 5.
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contestatio an die Bewohner von Konstantinopel und eine Sammlung von Väterstellen bei.377 Diese war jedoch wenig beweiskräftig, denn sie enthielt zum großen Teil Fälschungen der Apollinaristen. In seinem Brief an Leo geißelte er das ihm angeblich in dem Prozeß angetane Unrecht.378 Die Akten der Synode von Konstantinopel wurden auch an Domnus von Antiochien gesandt, der sie unterzeichnete,379 ebenso an andere Bischöfe wie Juvenal von Jerusalem. Auch Flavianus suchte Unterstützung in Rom. Papst Leo verhielt sich anfangs zurückhaltend und bemühte sich um genaue Nachrichten über den Verlauf des Verfahrens.380 Zwischen Leo und Flavianus wurden in der Folge mehrfach Briefe gewechselt.381 Flavianus hatte Papst Leo zunächst in gedrängter Form von dem Verfahren unterrichtet,382 danach die Akten der Synode übersandt.383 Nun sah man in Rom klar. Mit seinem Brief vom 21. Mai 449 kam Leo Flavianus entschieden zu Hilfe.384 Der Papst war von dem Irrtum des Eutyches überzeugt, billigte ihm allerdings mildernde Umstände zu; er bezeichnete Eutyches als multum inprudens (sic) et nimis inperitus (sic).385 Hilfe fand Eutyches erwartungsgemäß in Alexandrien, denn die alexandrinische Theologie hatte er in Konstantinopel vertreten und ihretwegen war er verurteilt worden. Der Bischof Dioskur von Alexandrien kümmerte sich nicht um die Verurteilung des Eutyches.386 Damit verfehlte er sich gegen das geltende kanonische Recht. Denn wer in einer Bischofskirche exkommuniziert wurde, der war es überall.387 Dioskur sah in dem Fall des Eutyches eine Gelegenheit, in dem nach wie vor schwebenden Konflikt mit den orientalischen Bischöfen die Lehre der Alexandriner durchzusetzen. Dies war jetzt freilich nur noch möglich durch die Berufung eines Allgemeinen Konzils. Auf ein solches arbeitete Dioskur hin. Er hatte Erfolg.
377
ACO II/2/1, nn. 6 – 9, p. 33 – 42; II/4, n. 108, p. 143, l. 29 – p. 145, l. 4; II/3/1, n. 3, p. 6, l. 2–p. 7, l. 16. 378 ACO II/2/1, n. 6, p. 33, l. 11 – p. 34, l. 34. 379 ACO II/1/1, n. 884, p. 182, l. 17 – 19. 380 Zu Leos Eingreifen vgl. H. M. Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche bei Leo d. Gr., in: ZSavRG, KA 38 (1952) 37 – 112, hier 53 – 85. 381 Brief Leos vom 18. Februar 449 (ACO II/4, n. 3, p. 4 –5); Brief Flavians (II/1/1, n. 3, p. 36– 37); Antwort Leos vom 21. Mai 449 (ACO II/4, n. 6, p. 9); Brief Flavians (ACO II/1/1, n. 5, p. 38 – 40); Brief Leos vom 20. Juni 449 (ACO II/4, n. 14, p. 17). Dazu der Tomus ad Flavianum vom 13. Juni 449 (ACO II/2/1, n. 5, p. 24 – 33). 382 ACO II/1/1, n. 3, p. 36, l. 8 – p. 37, l. 26. 383 ACO II/1/1, n. 5, p. 38, l. 11 – p. 40, l. 13. 384 ACO II/4, n. 6, p. 9, l. 2 – 13. 385 ACO II/2/1, n. 5, p. 24, l. 20 – 21; Silva-Tarouca, S. Leonis Magni Tomus ad Flavianum 20. 386 ACO II/1/2, n. 94, p. 28, l. 27 – 30. 387 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV 705.
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3. Die Überprüfung der Akten Eutyches besaß nach wie vor Rückhalt am Kaiserhof. Vor allem Chrysaphius hielt auch fernerhin zu ihm. Eutyches suchte den Kaiser für sich zu mobilisieren, indem er behauptete, die Prozeßakten seien unvollständig.388 Der Kaiser ordnete daraufhin die Überprüfung des Protokolls des Verfahrens an; sie fand am 8. und 13. April 449 statt.389 Auf der Sitzung am 8. April 449 war Flavianus nicht anwesend,390 wohl aber auf jener, die am 13. April 449 stattfand.391 Auf der Sitzung vom 13. April 449 führten Flavianus und der Patricius Florentius den Vorsitz.392 Eutyches fehlte bei den Verhandlungen, hatte aber Mönche aus seinem Kloster entsandt, die ihn vertreten sollten.393 Anwesend waren auch die Notare des Erzbischofs, nämlich die Diakone Asterius, Aetius, Nonnus, Asklepiades und Prokop.394 Sie mußten in der Mitte der Versammlung Platz nehmen. Dann begann die Verhandlung. Man ging so vor, daß das Exemplar der Akten, das die Notare des Flavianus erstellt hatten, vorgelesen wurde, während die Abgesandten des Eutyches der Vorlesung in ihrem Exemplar folgten und dabei ihre Einwände vorbrachten.395 Das Schweigen der Vertreter des Antragsstellers wurde als Zustimmung ausgelegt.396 Bei der Verlesung des Protokolls der dritten Sitzung hakte der Diakon Konstantin, einer der Abgesandten des Eutyches, ein und beanstandete den Text der Äußerungen, die Eutyches angeblich zu den Ladungsboten Johannes und Andreas getan hatte, machte aber mit einer unbedachten Äußerung seine eigene Sache schlimmer, als sie vorher war.397 Der Priester Johannes besaß noch die persönliche Aufzeichnung, die er sich nach seiner Begegnung mit Eutyches gemacht hatte, zog sie hervor, und es zeigte sich, daß sie im wesentlichen mit dem Protokoll übereinstimmte.398 Allerdings hatte er in diese Aufzeichnung nicht das aufgenommen, was Eutyches zu ihm allein, nicht zu den beiden anderen Anwesenden gesagt hatte, und Eleusinius, ein anderer Abgesandter des Eutyches, beanstandete diese Diskrepanz zwischen Aufzeichnung und Protokoll.399 Bei der Verlesung des Protokolls der fünften Sitzung400 äußerten 388
ACO II/1/1, n. 572, p. 152, l. 20 – p. 153, l. 3. ACO II/1/1, nn. 545 – 849, p. 148, l. 1 – p. 179, l. 13. 390 Eine Anwesenheitsliste für den 8. April 449: ACO II/1/1, n. 558, p. 150, l. 1 – p. 151, l. 2. 391 Anwesenheitsliste für den 13. April 449: ACO II/1/1, n. 555, p. 148, l. 1 – p. 149, l. 20. 392 ACO II/1/1, n. 555, p. 148, l. 3 – 4. 393 ACO II/1/1, nn. 560 – 567, p. 151, l. 6 – 36. 394 ACO II/1/1, nn. 576 – 577, p. 153, l. 11 – 14. 395 ACO II/1/1, nn. 553 – 617, p. 147, l. 32 – p. 617, l. 18, vor allem nn. 603 – 614, p. 155, l. 14 – p. 156, l. 9. 396 ACO II/1/1, n. 617, p. 156, l. 17 – 18. 397 ACO II/1/1, nn. 618 – 629, p. 156, l. 19 – p. 157, l. 25; n. 639, p. 158, l. 20 – 21. 398 ACO II/1/1, nn. 630 – 682, p. 157, l. 26 – p. 164, l. 21. 399 ACO II/1/1, nn. 652 – 662, p. 161, l. 29 – p. 162, l. 14. 400 ACO II/1/1, nn. 685 – 690, p. 164, l. 27 – p. 165, l. 4. 389
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Konstantin und Eleusinius Zweifel hinsichtlich des Wortes, das Eutyches zu dem Archimandriten Martin gesagt haben sollte, und verlangten eine Untersuchung. Doch verzichteten sie darauf, als man ihnen klarmachte, daß es sich hier um eine unbedeutende Sache handele. Auch bei der Verlesung des Protokolls der sechsten Sitzung401 ließ Konstantin die Abgesandten der Synode, Theophilus und Mamas, ihre Aussagen wiederholen, wobei ersterer einen Zusatz machte. Dann wurde das Protokoll der siebten Sitzung402 verlesen. Florentius bestritt zu Anfang, eine bestimmte, ihm zugeschriebene Bemerkung gemacht zu haben.403 Eleusinius beanstandete die chronologische Ordnung des Protokolls und behauptete die Fortlassung des Bekenntnisses des Eutyches zu den Konzilien von Nicaea und Ephesus;404 doch viele Bischöfe bestritten, daß er eine derartige Bemerkung zu diesem Zeitpunkt gemacht hätte.405 Umstritten war auch, ob die Bischöfe der Synode das Anathema über Eutyches ausgesprochen hatten.406 Aetius wies auf das übliche Verfahren hin, bei derartigen Synoden das, was ein Bischof sage, als von der Synode erklärt aufzuschreiben (wenn sich kein Widerspruch erhebe).407 Im Fortgang der Verlesung wollte Florentius Verständnis wecken für seine drängenden Fragen an Eutyches, die ihm jetzt offensichtlich peinlich waren.408 Eine weitere, ihm zugeschriebene Bemerkung bestritt er gänzlich.409 Der Notar Aetius wies dies jedoch entschieden zurück und forderte die Bischöfe auf, die Echtheit des Protokolls zu bezeugen.410 Darauf verzichtete Florentius bezeichnenderweise. Es war offensichtlich, daß er bestrebt war, sein Einwirken auf Eutyches während des Prozesses zu minimalisieren. Es zeigte sich, daß das Protokoll weder lückenlos war noch sein wollte. Der Diakon und Notar Aetius erklärte, vieles werde oft in dem gemeinsamen Gespräch und in der Beratung von den Bischöfen gesagt, von dem sie gar nicht wünschen, daß es aufgezeichnet werde.411 Konstantin brachte nach der Verlesung des Protokolls noch eine Reihe von Ausstellungen an. So behauptete er, das Urteil sei schon vor der Sitzung verfaßt gewesen und Eutyches habe die Appellation noch in der Sitzung ausgesprochen.412 Beide Behauptungen konnten nicht bewiesen werden. Die Nachprüfung bestätigte den Vorwurf des Eutyches nicht. Florentius ließ allerdings das Ergebnis der Untersuchung offen und ordnete lediglich an, daß die Akten dem 401
ACO II/1/1, nn. 693 – 719, p. 165, l. 9 – p. 166, l. 34. ACO II/1/1, nn. 720 – 828, p. 166, l. 35 – p. 176, l. 37. 403 ACO II/1/1, n. 721, p. 167, l. 1 – 4. 404 ACO II/1/1, n. 737, p. 168, l. 30 – 34. 405 ACO II/1/1, nn. 739, 741 – 753, p. 169, l. 3 – p. 170, l. 4. 406 ACO II/1/1, nn. 758 – 766, p. 170, l. 17 – 33. 407 ACO II/1/1, n. 767, p. 170, l. 34 – p. 171, l. 2. 408 ACO II/1/1, n. 772, p. 171, l. 25 – 27; n. 776, p. 172, l. 1 – 3. 409 ACO II/1/1, n. 778, p. 172, l. 11 – 12. 410 ACO II/1/1, n. 780, p. l72, l. 16 – 20. 411 ACO II/1/1, n. 792, p. 173, l. 32 – 34. 412 ACO II/1/1, n. 794, p. 173, l. 37 – 39; n. 818, p. 175, l. 30 – 32. 402
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Lehrrecht
Kaiser überstellt werden sollten.413 So war es Eutyches möglich, weiterhin die Behauptung zu kolportieren, die Akten seien gefälscht.414 Niemand konnte den Notaren absichtliche Auslassungen oder Fälschungen nachweisen, wie der Notar Aetius zufrieden feststellte.415 Auf der anderen Seite mußte sich Eutyches den Vorwurf gefallen lassen, daß er die Originalabschriften seines Verfahrens durch den Notar Asterius habe verschwinden lassen.416 Die Frage der Vorverfertigung des Urteils wurde in der Sitzung vom 13. April nicht völlig geklärt. Eutyches insistierte auf diesem Punkt. In einer Eingabe an den Kaiser behauptete er von neuem, das Urteil der Synode sei schon vor der entscheidenden Sitzung abgefaßt worden.417 Auf Verlangen des Eutyches setzte der Kaiser eine weitere Kommission ein, die sich am 27. April 449 damit beschäftigte.418 Den Vorsitz hatte der Comes Martialis, ihm stand der Comes Castorius zur Seite. Die Kommission befragte den Tribun419 Macedonius und den Silentiarius Magnus. Letzterer machte die Aussage, daß Flavianus ihm vor der Sitzung mitgeteilt habe, das Urteil sei schon gesprochen, Eutyches sei verurteilt, weil er auf zwei Vorladungen nicht erschienen sei, und daß man ihm ein Schriftstück gezeigt habe, das die Verurteilung enthielt.420 Möglicherweise hatte Flavianus tatsächlich das Urteil bereits im Konzept niedergelegt, aber dazu durfte er sich für befugt halten, weil Eutyches eben durch die in den vorherigen Sitzungen vorgelegten Beweise schwer belastet war. Eutyches beharrte auf diesem Gegenstand in seinem Schreiben an die Synode in Ephesus.421 Flavianus bezeichnete es dagegen auf dieser Synode schlicht als Lüge.422 4. Das Konzil zu Ephesus (449) Über Flavianus begann sich die Schlinge zusammenzuziehen. In Frühjahr 449 wurde er veranlaßt, dem Kaiser seine Rechtgläubigkeit nachzuweisen.423 Inzwischen hatte Kaiser Theodosius II. für den 1. August 449 ein Konzil nach Ephesus einberufen.424 Diese Versammlung ging in die Geschichte ein als die Räubersyn413
ACO II/1/1, n. 826, p. 176, l. 25 – 26. ACO II/1/1, n. 185, p. 95, l. 22 – 24; n. 865, p. 181, l. 13 – 16. 415 ACO II/1/1, n. 827, p. 176, l. 27 – 29. 416 ACO II/1/1, n. 827, p. 176, l. 29 – 33. Vgl. ACO II/1/1, n. 846, p. 178, l. 38 – p. 179, l. 6. 417 ACO II/1/1, n. 834, p. 177, l. 26 – p. 178, l. 2. 418 ACO II/1/1, nn. 829 – 849, p. 177, l. 1 – p. 179, l. 13. 419 Lengle, Tribunus, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2, 12 (1937) 2432 – 2492. 420 ACO II/1/1, n. 838, p. 178, l. 13 – 20; n. 842, p. 178, l. 27 – 28. 421 ACO II/1/1, n. 185, p. 95, l. 19; II/2/1, n. 6, p. 34, l. 10 – 11; II/1/1, nn. 865 – 866, p. 181, l. 13 – 17. 422 ACO II/1/1, n. 866, p. 181, l. 17. 423 ACO II/1/1, n. 1, p. 35, l. 3 – p. 36, l. 4. Vgl. dazu Sˇagi-Bunic´, Deus perfectus et homo perfectus“ 184 – 187. 424 ACO II/1/1, n. 24, p. 68, l. 1 – p. 69, l. 8. 414
Das Lehrverfahren gegen Eutyches im November des Jahres 448
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ode.425 Der Zweck, den Kaiser Theodosius dem Konzil von Ephesus gesetzt hatte, war von vornherein klar: Flavianus sollte verurteilt, Eutyches rehabilitiert werden. Indem der Kaiser Dioskur den Vorsitz der Synode übertrug,426 machte er deutlich, welche Richtung sie nach seiner Absicht einschlagen sollte. Die beherrschende Figur auf der Räubersynode war Dioskur von Alexandrien. Er wußte sich gedeckt und unterstützt von Chrysaphius. Der Kaiser verbot, den Ankläger, Eusebius, zu der Synode zuzulassen.427 Das kaiserliche Commonitorium schloß auch die Richter der Konstantinopolitaner Synode von der Teilnahme an der Appellationsverhandlung in Ephesus aus.428 Eutyches reichte eine Anklageschrift gegen Flavianus ein.429 Das Konzil zu Ephesus rollte am 8. August 449 den Fall des Eutyches von neuem auf. Eutyches trug seine Sache selbst vor. Beschämend war das Verhalten mancher Bischöfe, die in Ephesus nicht zu dem standen, was sie in Konstantinopel bekannt und geurteilt hatten. Die Legaten Leos vermochten nicht durchzusetzen, daß sein Brief an Flavianus vom 13. Juni verlesen wurde.430 Es gelang Eutyches, das Urteil des Konstantinopolitaner Synodalgerichts aufheben und sich als orthodox erklären zu lassen;431 er wurde restituiert.432 Dagegen wurden Flavianus und Eusebius abgesetzt,433 weil die Synode zu Ephesus (431) jeden Zusatz zum Nicaenum verboten habe und die Rede von zwei Naturen nach der Menschwerdung eine Neuerung sei.434 Der römische Diakon Hilarus widersprach diesem Urteil.435 Flavianus und Eusebius wurden gefangengenommen.436 Flavianus starb in der Verbannung zu Hypaipa in Lydien.437 So erlebte er nicht mehr, wie ihm doch noch Gerechtigkeit widerfuhr. Auf der ersten Sitzung des Konzils von Chalkedon am 8. Oktober 451 425
Hefele/Leclercq, Histoire des Conciles II 1, 555 – 621; Sellers, The Couacil of Chalcedon 70 – 87; J. Flemming (Hrsg.), Akten der ephesinischen Synode vom Jahre 449. Syrisch. Mit Georg Hoffmanns deutscher Übersetzung und seinen Anmerkungen herausgegeben (= Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse. N. F. 15, 1), Berlin 1917; I. Rucker, Räubersynode, in: LThK 8 (1936) 650 – 651; H. Bacht, Räubersynode, in: LThK 8 (21963) 1009 – 1010. 426 ACO II/1/1, n. 52, p. 74, l. 9 – 28. 427 ACO II/1/1, nn. 187 – 189, p. 96, l. 23 – 33. 428 ACO II/1/1, n. 49, p. 72, l. 5 – 30; n. 197, p. 97, l. 17 – 27. 429 ACO II/1/1, n. 157, p. 90, l. 17 – p. 91, l. 14; n. 185, p. 94, l. 24 – p. 96, l. 20. 430 ACO II/1/1, nn. 82 – 106, p. 82, l. 27 – p. 85, l. 3. 431 Zum Auftreten des Eutyches in Ephesus vgl. Flemming, Akten 161. 432 ACO II/1/1, n. 884, p. 182, l. 11 – p. 186, l. 12. 433 ACO II/1/1, n. 962, p. 191, l. 9 – 28; nn. 966 – 1067, p. 192, l. 3 – p. 195, l. 9; II/3/1, n. 1070, p. 252, l. 20 – p. 258, l. 12 (Unterschriften). 434 ACO II/1/1, n. 281, p. 115, l. 17 – 19; nn. 491 – 495, p. 140, l. 25 – 32; nn. 943 – 963, p. 189, l. 37 – p. 191, l. 29. Zur Absetzung des Eusebius und des Flavianus vgl. Flemming, Akten 161 – 162. 435 ACO II/1/1, n. 964, p. 191, l. 30 – 31. 436 Nestorius, Le livre d’Héraclide, Paris 1910, 309, 322, 326. 437 A. Thiel (Hrsg.), Epistolae Romanorum Pontificum genuinae et quae ad eos scriptae suat a S. Hilaro usque ad Pelagium II., I, Braunsberg 1868, Nachdruck: Hildesheim 1974, 513.
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Lehrrecht
wurden die Akten der Synoden zu Konstantinopel und Ephesus über den Fall Eutyches verlesen. Das Urteil gegen Flavianus wurde aufgehoben.438 Dagegen sahen auch die Gegner des Konzils von Chalkedon Eutyches als Häretiker an.439
Schluß Das Lehrverfahren gegen den Priester und Archimandriten Eutyches ist für die Erkenntnis der Entwicklung der kirchlichen Gerichtsbarkeit von großem Wert. Der Umstand, daß das Protokoll des Prozesses von der Erhebung der Anklage bis zur Fällung des Urteils erhalten ist, gestattet einen vorzüglichen Einblick in den tatsächlichen Ablauf des Akkusationsprozesses vor einer kirchlichen Synode im 5. Jahrhundert. Die nachträgliche genaue Untersuchung des Protokolls durch argwöhnische Gegner des Gerichts sichert die Zuverlässigkeit der Niederschrift zusätzlich. Die kirchliche Gerichtsbarkeit hatte zu dieser Zeit und an diesem Ort einen hohen Stand erreicht. Ihr Niveau verdankte sie entscheidend dem Rückgriff auf das römische Recht. Die Disziplinargerichtsbarkeit gegen Kleriker, von der hier ein Beispiel vorliegt, war in weitem Umfang durch dieses Recht beeinflußt. Diese Tatsache ist nicht verwunderlich; denn das Bedürfnis nach prozessualen Normen war nirgends günstiger zu erfüllen als durch das römische Recht. Schon die Didaskalie hatte das Verfahren in den weltlichen Gerichten den kirchlichen Richtern als Vorbild hingestellt.440 Die an dem Verfahren beteiligten Hauptpersonen treten aus den Akten scharf umrissen heraus. Der Ankläger, Eusebius, war von lauterer Gesinnung und brennendem Eifer erfüllt; er wollte der bedrohten Reinheit des Glaubens in der Lehre von Christus zu Hilfe kommen. Er beherrschte das Recht des prozessualen Vorgehens in souveräner Weise und trieb das Verfahren bis zu dem selbstgesetzten Ziel. Der Angeklagte, Eutyches, erhielt ein gerechtes Verfahren, das durch zahlreiche Rechtsförmlichkeiten gesichert war. Er war durch rechtskundige Mönche seines Klosters beraten, wie spätestens bei der Überprüfung des Protokolls seines Prozesses offenkundig wurde. Der Vorsitzende des Gerichts, Flavianus, war unparteiisch und um den korrekten Ablauf des Verfahrens besorgt. Dem Drängen des Anklägers zum Trotz war sein Bemühen auf das doppelte Ziel ausgerichtet, den Streit gütlich beizulegen oder, nachdem dies gescheitert war, den Angeklagten durch einen Widerruf vor der Verurteilung zu bewahren. Die Starrheit des Eutyches, die teilweise auf seiner unzureichenden theologischen Bildung beruhte, führte zwangsläufig zu seiner Verurteilung. Der Angeklagte besaß mächtige Freunde in der Regierung und am Hofe. Trotz Druckes von seiten der staatlichen Macht bewahrten die Richter ihre Unabhängigkeit. Die Bischöfe, welche mit Flavianus das Gericht bildeten, treten nur zum Teil aus ihrer Anonymität heraus. Die Synoden von Ephesus (449) und Chalkedon (451) machten offenbar, daß eine Reihe der bi438
ACO II/1/1, nn. 1068 – 1072, p. 195, l. 10 – p. 196, l. 6. De Vries, Das Konzil von Ephesus 375. 440 II, 52, 1 – 3 (Didascalia et Constitutiones Apostolorum I 148 – 150). 439
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schöflichen Richter entweder bei dem Verfahren in Konstantinopel oder nachher nicht aus Überzeugung handelten, sondern aus Unsicherheit, Menschenfurcht, Unwissenheit oder Mißverständnis ihr Gewissen beugten. In jedem Falle ist aus dem Verfahren gegen Eutyches zu ersehen: Der Lehrprozeß kann der rechtlichen Formen und Kautelen nicht entraten.
Eherecht
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert A. Normen Die Ehe ist von Gott eingesetzt zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes und zur Befriedigung des Geschlechtstriebes. Zur Erreichung dieser Zwecke dient die fleischliche Vereinigung der Gatten (copula carnalis). Wer dazu nicht fähig ist, der ist impotent.1 1
Johann Friedrich Schulte, Handbuch des katholischen Eherechts, Gießen 1855; derselbe, System des allgemeinen katholischen Kirchenrechts, Gießen 1856, S. 603 – 606; Johann Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche nach seiner Theorie und Praxis. Mit besonderer Berücksichtigung der in Österreich zu Recht bestehenden Gesetze dargestellt, 5 Bde., Wien 1856/57, III, S. 6 – 192; Heinrich Johannes Feije, De impedimentis et dispensationibus matrimonialibus, Löwen 31885, S. 413 – 422; Joseph Weber, Die kanonischen Ehehindernisse samt Ehescheidung und Eheprozeß mit Berücksichtigung der staatlichen Ehehindernisse in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, 4. verb. u. verm. Aufl., Freiburg i. Br. 1886, S. 39 – 47; Rudolf von Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes, 2 Bde., Graz 1886/98, II, S. 265 – 286; Joseph Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur, Neudruck der 2. Ausgabe Paderborn 1893, Aalen 1963, S. 330 – 364; Joseph Schnitzer, Katholisches Eherecht. Mit Berücksichtigung der im Deutschen Reich, in Oesterreich, der Schweiz und im Gebiete des Code civil geltenden staatlichen Bestimmungen, 5., vollst. neu bearb. Aufl. des Werkes: J. Weber, Die canonischen Ehehindernisse, Freiburg i. Br. 1898, S. 347 – 368; Joseph Antonelli, De conceptu impotentiae et sterilitatis relate ad matrimonium, Rom 1900; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., 3., verm. u. verb. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, II, S. 150 – 156; G. Arend, De genuina ratione impedimenti impotentiae: Ephemerides Theologicae Lovanienses 9, 1932, S. 28 – 69, S. 442 – 450; Franz Triebs, Praktisches Handbuch des geltenden kanonischen Eherechts in Vergleichung mit dem deutschen staatlichen Eherecht für Theologen und Juristen, Tl. I – IV in einem Band, Breslau 1933, S. 270 – 306; Walter Lohmann, Das Ehehindernis der Impotenz nach kanonischem und deutschem Recht, Dortmund 1941; John Mc Carthy, The impediment of impotence in the present day canon law: Ephemerides Iuris Canonici 4, 1948, 96 – 130; Peter L. Frattin, The matrimonial impediment of impotence: occlusion of spermatic ducts and vaginismus (= The Catholic University of America Canon Law Studies n. 381), Washington, D. C. 1958; John J. Brenkle, The Impediment of Male Impotence with Special Application to Paraplegia (= The Catholic University of America Canon Law Studies n. 423), Washington, D. C. 1963; Pierre Branchereau, Autour du décret de la Sacrée Congregation de la doctrine de la foi sur le verum Semen: L’Année Canonique 27, 1983, S. 243 – 273; Carlo Gullo, Irretroattività del decreto „circa impotentiam“: Il Diritto Ecclesiastico 2, 1988, S. 86 – 112; Hartmut Zapp, Kanonisches Eherecht, Freiburg i. Br. 71988, S. 108 – 110; Raffaele Coppola, Aspetti canonistici e civilistici dell’ impotenza di coppia: Monitor Ecclesiasticus 114, 1989, S. 117 – 183; Gaston Candelier, L’impuissance, empêchement et signe d’une incapacité: Revue de droit canonique 44, 1994, S. 83 – 146; Wilhelm Kursawa, Die impotentia coeundi als Ehenichtigkeitsgrund. Eine kanonistische Untersuchung zur Auslegung und Anwendung von
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Eherecht
Es mußte also die Fähigkeit zur Copula bei beiden Teilen vorhanden sein. Die Potenz und infolgedessen die Impotenz wurde allerdings nicht zu allen Zeiten von der kirchlichen Autorität und von den Autoren in gleicher Weise bestimmt.2 Klaus Mörsdorf stellte noch im Jahre 1967 die drei Theorien über das Vorliegen der Impotenz dar, also die Beischlafstheorie, die Zeugungstheorie und die Sterilitätstheorie, und erwähnte, daß die letztere in der kirchlichen Gerichts- und Verwaltungspraxis anerkannt sei.3 Sie forderte auf Seiten des Mannes die Fähigkeit, wirklichen Samen auf dem Wege des natürlichen Geschlechtsverkehrs in die Scheide der Frau zu ergießen, und auf Seiten der Frau eine zur Aufnahme des männlichen Gliedes geeignete Scheide. Doch dabei blieb es nicht. Die Entscheidung der Kongregation für die Glaubenslehre vom 13. Mai 19774 hat die Anforderungen an die für das gültige Zustandekommen der Ehe erforderte Potenz im Sinne der ersten Theorie weiter gemindert. Die Empfängnis- bzw. Zeugungsfähigkeit ist dafür bei Mann und Frau unbeachtlich; es genügt die bloße Beischlafsfähigkeit. Das Erfordernis des Semen verum wurde fallengelassen. Es ist selbstverständlich, daß hier von dem Stand des Rechts und der Rechtswissenschaft auszugehen ist, der im 18. Jahrhundert erreicht war. I. Begrifflichkeit 1. Potenz Es ist eine Forderung der Natur, daß Ehegatten eine geschlechtliche Vereinigung vollziehen können, die an sich der Erzeugung von Nachkommen und der Befriedigung des Geschlechtstriebes dient.5 Die Ehe ist nur gültig, wenn die Gatten die geschlechtliche Vereinigung zu vollziehen vermögen. Die copula perfecta wurde nach der herrschenden Lehre darin gesehen, daß das erigierte männliche Glied in die Scheide der Frau eingeführt wird und dort den Samen ergießt. Der Ehevollzug besteht darin, daß die Gatten durch die Vereinigung der Geschlechtsteile ein Fleisch werden.6 Die Begattung ist nicht identisch mit der Befruchtung; letztere besteht darin, daß fruchtbare Samenfäden sich mit dem gereiften Ei vereinigen.7 Es ist also zwischen der Fähigkeit zur Begattung und zur Befruchtung zu unterscheiden. UnCanon 1084 des Codex Iuris Canonici 1983 (= Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft Bd. 22), Würzburg 1995; Hartmut Zapp, Die rechtliche Ehefähigkeit und die Ehehindernisse, in: Joseph Listl/Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 21999, S. 914 – 926, hier S. 921 f. Vgl. auch die Bibliographie bei Brenkle, The Impediment of Male Impotence S. 169 – 179. 2 Triebs, Praktisches Handbuch, S. 270 – 306. 3 Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici II. Bd., 11., verb. u. verm. Aufl., Paderborn 1967, S. 185 – 187. 4 AAS 69 (1977), S. 426. 5 X 4, 15, 1; X 4, 15, 7; C. 33 q. 1 c. 2. 6 X 4, 15, 5. Vgl. Brenkle, The Impediment of Male Impotence (Anm. 1), S. 70 – 86. 7 Brenkle, ebd. S. 62 – 68.
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert
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fruchtbarkeit (Sterilität) oder impotentia ad generandum macht die Ehe nicht ungültig.8 2. Impotenz Ist die geschlechtliche Vereinigung infolge des körperlichen Gebrechens eines oder beider Gatten nicht möglich, liegt das geschlechtliche Unvermögen vor. Eine Ehe kann zwischen diesen Personen nicht zustande kommen; eine dennoch geschlossene Ehe ist nichtig.9 Das Hindernis beruht auf Naturrecht und ist darum indispensabel. Impotenz ist somit das Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht. Das Unvermögen muß darin bestehen, daß es dem einen Teil aufgrund der Beschaffenheit der Geschlechtsorgane unmöglich ist, die eheliche Beiwohnung zu vollziehen. Das Ehehindernis ist die impotentia coeundi. Sie besagt die impotentia perficiendi copulam coniugalem per se aptam ad generandum. Impotent ist, wer unfähig ist ad actus ex se ad generationem aptos. Man kann so die Impotenz auch als Unfähigkeit zur Begattung oder als Beischlafsunfähigkeit bezeichnen. Allerdings ist zu beachten, daß zur Bestimmung der Potenz lange Zeit unterschiedliche Anforderungen an den Mann und an die Frau gestellt wurden. Die copula coniugalis sine seminatione viri wurde lange Zeit nicht als vollständig angesehen. Zusammenfassend ist zu sagen: Das Unvermögen bildete nur dann ein Hindernis, wenn es erstens bereits bei der Eingehung der Ehe vorlag.10 Wenn das Unvermögen erst während der Ehe eintrat, blieb die einmal gültig abgeschlossene Ehe bestehen. Das Hindernis des geschlechtlichen Unvermögens lag vor, wenn ein Gatte vor der Eheschließung zweitens dauernd außerstande war, eine zur Befruchtung geeignete geschlechtliche Vereinigung zu vollziehen.11 Die Impotenz war dauernd, wenn sie weder durch Zeitablauf noch durch einen zumutbaren Eingriff behoben werden konnte. Das Unvermögen galt als heilbar, wenn es durch natürliche Mittel ohne Gefahr für das Leben behoben werden konnte. Das Ehehindernis der Impotenz lag nicht vor bei zeitweiliger Unfähigkeit.12 Kurz gesagt: Geschlechtlich unvermögend war, wer schon vor dem Abschluß der Ehe dauernd außerstande war, eine geschlechtliche Vereinigung vorzunehmen, die an sich zur Befruchtung geeignet war. Die hier gemeinte Impotenz ist impotentia coeundi oder perficiendi copulam carnalem. Man unterschied verschiedene Arten der Impotenz.13 Das geschlechtliche Unvermögen konnte, wie gesagt, der Eheschließung vorangehen oder ihr nachfolgen. Es konnte, wie erwähnt, dauernd und somit unheilbar oder vorübergehend und somit heilbar sein. Das geschlechtliche Unvermögen konnte absolut sein und somit die geschlechtliche Vereinigung mit allen Personen des anderen Geschlechts unmöglich machen, oder es konnte relativ sein und die Vereinigung nur mit be8
C. 32 q. 5 c. 18; C. 32 q. 7 c. 27. X 4, 15, 2. 10 Kutschker, Das Eherecht III, S. 34 – 39. 11 Kutschker, Das Eherecht III, S. 28 – 34. 12 X 4, 15, 6. 13 Kutschker, Das Eherecht III, S. 24 – 28. 9
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Eherecht
stimmten Personen des anderen Geschlechts unmöglich machen. Es konnte angeboren oder (durch Krankheit, Unfall o. a.) erworben sein. Für das Vorhandensein des Ehehindernisses war es gleichgültig, ob sich die Impotenz beim Mann oder bei der Frau fand, denn die Ehe setzt die Fähigkeit zu ihrer Eingehung bei beiden Teilen voraus. Nicht nur organische Schäden, sondern auch nervöse Zustände des einen Teils oder beider Teile konnten die körperliche Vereinigung unmöglich machen.14 3. Anforderungen an Mann und Frau Vom Manne wurde verlangt, daß er ad copulam generationi aptam fähig sei, genauer die potentia vas femineum penetrandi et intra illud seminandi besaß. Der Mann galt als unvermögend, wenn er die erectio membri und die seminatio intra vas nicht zu leisten vermochte.15 Das Fehlen beider Hoden und Mißbildungen des Penis sowie fehlende Erigibilität des Penis bewirkten mit Sicherheit männliche Impotenz.16 Von der Frau wurde verlangt die potentia recipiendi semen viri.17 Sie war potent, wenn die immissio penis in vaginam et effusio seminis in eadem geschehen konnte. Mehr wurde von ihr nicht verlangt. Die Frau galt als unvermögend, wenn die immissio penis in vaginam und die effusio seminis in eadem nicht geschehen konnte. Relativ häufig war die arctatio der Frau.18 4. Maleficium Von manchen wurde die Impotenz auf dämonische Einwirkung auf an sich beischlaffähige Personen zurückgeführt.19 Ihre Möglichkeit wurde sogar von Thomas von Aquin vertreten.20 Auch das kirchliche Recht rechnete mit ihrem Auftreten. Der Titulus 15 des vierten Buches des Liber Extra ist überschrieben: De frigidis et maleficiatis et impotentia coeundi. Man sprach hier von impotentia diabolica oder maleficium.21 Wenn ein maleficium vermutet wurde,22 suchte man den bösen Einfluß durch Gebet, Buße, Fasten und Almosen zu bannen. Auch die Anwendung von Exorzismen wurde empfohlen.23
14
Brenkle, The Impediment of Male Impotence, S. 128 – 134. Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 353 f.; Triebs, Praktisches Handbuch, S. 294 f. 16 Brenkle, The Impediment of Male Impotence, S. 128 – 134. 17 Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 354 f.; Triebs, Praktisches Handbuch, S. 293 f. 18 X 4, 15, 6. Vgl. Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 354 f. 19 C. 33 q. 1 c. 4; X 4, 15, 7. 20 Summa theol. Suppl. q. 58 a. 2. 21 Kutschker, Das Eherecht III, S. 42 f.; Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 350 f. 22 Dict. Grat. ad C. 33 q. 1 c. 3. 23 C. 33 q. 1 c. 4. Über das maleficium in dem von ihm behandelten Zeitraum bringt Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts, S. 330 – 364 manches Material. 15
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert
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5. Eheverbot Das geschlechtliche Unvermögen hatte rechtliche Konsequenzen. Personen mit sicher vorliegender Impotenz war es verboten, eine Ehe einzugehen. Wenn ein Seelsorger zuverlässige Kenntnis davon gewann, daß eine Person, die an geschlechtlichem Unvermögen litt, die Absicht hatte, eine Ehe zu schließen, war er verpflichtet, dieses Vorhaben mit den geeigneten Mitteln zu verhindern. Wer um die Impotenz wußte und dennoch die Ehe einging, verlor das Recht, diese anzuklagen. II. Geltendmachung der Impotenz 1. Klage Wenn Ehegatten das geschlechtliche Unvermögen eines Teils oder beider Teile entdeckten, durften sie sich dennoch nicht eigenmächtig trennen,24 sondern mußten die gerichtliche Nichtigerklärung ihrer Ehe anstreben.25 Es war also eine Klage zu erheben. Die Klage mußte das Vorliegen der Impotenz wahrscheinlich erscheinen lassen.26 Eine bestimmte Frist für ihre Einbringung war nicht vorgesehen.27 Angesichts der Möglichkeit, daß zeitweilige Impotenz vorliegt, durfte die Klage erst einige Zeit nach Abschluß der Ehe erhoben werden. Die Bestreitung der Ehe konnte von beiden Teilen ausgehen, dem unvermögenden wie dem vermögenden. Wenn die Impotenz sicher vorlag, stand es den Scheineheleuten lange Zeit frei, ob sie die Nichtigerklärung ihrer Ehe beim kirchlichen Gericht beantragen oder ob sie wie Bruder und Schwester zusammenleben wollten.28 Aus diesem Sachverhalt ergaben sich allerdings bestimmte sittliche Anforderungen. Das sichere und dauernde geschlechtliche Unvermögen, auch wenn es erst während bestehender Ehe eintrat, machte den Gebrauch der Ehe unerlaubt. 2. Nichtigkeitsurteil Das Gericht konnte die Nichtigkeit der Ehe nur dann feststellen, wenn das Unvermögen vollständig nachgewiesen wurde; es mußte mit moralischer Gewißheit feststehen, daß eine der Ehe vorhergehende und dauernde Impotenz vorliegt. Im Nichtigkeitsurteil war auch anzugeben, ob absolute oder relative Impotenz vorliegt; denn nur die erste verbietet die Eingehung einer anderen Ehe.29 Wenn das Urteil die Nichtigkeit der Ehe feststellte, mußten sich die Scheinehegatten normalerweise trennen. Falls die Trennung moralisch unmöglich war, konnte das weitere Zusam24
Kutschker, Das Eherecht III, S. 45 – 50. X 4, 19, 3. 26 Kutschker, Das Eherecht III, S. 50 – 57. 27 X 4, 15, 1 und 6 und 7. 28 X 4, 15, 4. 29 Kutschker, Das Eherecht III, S. 95 – 108. 25
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Eherecht
menleben unter Verzicht auf jede geschlechtliche Betätigung gestattet werden. Ein Urteil, das auf Nichtigkeit der Ehe lautete, konnte jederzeit aufgehoben werden, falls es ein Fehlurteil war.30 Die Wirklichkeit setzte sich gegen den rechtlichen Spruch durch. Der Ehebandsverteidiger31 mußte gegen das Urteil, das die Nichtigkeit ausspricht, Berufung einlegen. Die nach geschehener Annullation der Ehe stattgehabte Fornikation oder Konsumation der neuen Ehe war mitunter ein Grund zur Scheidung von dem früheren Ehegatten.32 3. Zweifelhafte Nichtigkeit Es gab zahlreiche Fälle, in denen sich keine Gewißheit über den dauernden Charakter der Impotenz gewinnen ließ.33 Im Zweifel, ob geschlechtliches Unvermögen vorliegt oder nicht, sprach die Vermutung zugunsten des Vermögens, im Zweifel, ob das geschlechtliche Unvermögen angeboren oder später erworben ist, sprach die Vermutung für das letztere. Wenn die Impotenz zweifelhaft war, verordnete Papst Coelestin III. (1191 – 1198) die Triennalprobe.34 Die Kirche übernahm dieses Mittel der Wahrheitsfindung vom weltlichen Recht. Das besagte praktisch: Im Falle der Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Impotenz35 und wenn die Gutachten der Sachverständigen voneinander abwichen, war auf die Triennalprobe36, das experimentum triennalis cohabitationis, zu erkennen. Die Eheleute hatten auf eine vom Richter zu bestimmende Zeit ehelich zusammenzuleben. Wenn die Gatten nach Ablauf dieser Frist eidlich bezeugten, daß sie alle erlaubten Mittel angewandt hätten, um den Vollzug der Ehe zu erreichen, daß sie aber trotzdem die Ehe nicht hätten vollziehen können, und wenn ihr Eid durch den Eid der septima manus37 glaubwürdig gemacht wurde, konnte die Nichtigerklärung der Ehe erfolgen. Wenn das Unvermögen nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, bestand auch die Möglichkeit, an den Heiligen Stuhl die Bitte zu richten, die Ehe wegen Nichtvollzugs aufzulösen. Hierbei mußte allerdings der Nichtvollzug mit hinreichender Gewißheit bewiesen werden.38
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X 2, 17, 7. Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 560. 32 Kutschker, Das Eherecht III, S. 108 – 111. 33 Kutschker, das Eherecht III, S. 70 – 76. 34 X 4, 15, 5. 35 Kutschker, Das Eherecht III, S. 76 – 95. 36 X 4, 15, 5 und 7. 37 Kutschker, Das Eherecht III, S. 86 f.; Schnitzer, Katholisches Eherecht, S. 350, S. 359. 38 Kutschker, Das Eherecht III, S. 111 – 155. 31
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4. Beweismittel Das geschlechtliche Unvermögen durfte nicht nur behauptet, sondern mußte bewiesen werden.39 Weder das Geständnis noch der Eid der Parteien vermochte Gewißheit über das Vorliegen des Ehehindernisses zu erbringen.40 Eine große Rolle spielte der Beweis durch Sachverständige oder besser durch den Augenschein, die inspectio ocularis41, der von Personen mit medizinischen Kenntnissen vorgenommen wurde42. Die körperliche Untersuchung durch medizinische Sachverständige wurde schon frühzeitig angeordnet.43 Der Teil, dessen Vermögen in Frage stand, hatte sich ihr zu unterziehen. Häufig mußte aber auch der andere Teil untersucht werden. Im Falle der relativen Impotenz war der Augenschein stets bei beiden Gatten, im Falle der absoluten Impotenz in der Regel nur bei dem Gatten, der als impotent vermutet wurde, vorzunehmen. Die körperliche Untersuchung des oder der Gatten war in den meisten Fällen ausschlaggebend für die Beweisführung. Es bedurfte des Gutachtens von wenigstens zwei glaubhaften, vereidigten Sachverständigen aufgrund des Augenscheins.44 Von ihnen wurden fachliche Kompetenz, Gewissenhaftigkeit und Unparteilichkeit verlangt. Mit Vorzug wurden beamtete Ärzte und Chirurgen, nicht privat praktizierende ausgewählt.45 Soweit ich sehe, wurde keiner der im Mainzer Kurstaat recht zahlreichen jüdischen Ärzte mit dieser Aufgabe betraut. Auch Hebammen46 wurden mit der inspectio ocularis (der Frau) beauftragt. Ihre Hinzuziehung allein reichte aber nicht aus. Es galt der Satz: Et 39 Kutschker, Das Eherecht III, S. 57 – 70; Triebs, Praktisches Handbuch, S. 301 f.; Maas, Beweisverfahren, canonisches: KL II, 21883, S. 566 – 570; ders., Prozeßverfahren, canonisches: KL X, 21897, S. 555 – 578. 40 X 4, 15, 7; X 4, 13, 5. Die Fragen, die bei der Vernehmung den Eheleuten vorzulegen sind, finden sich im Artikel von Maas, Eheprozeß: KL IV, 21886, S. 209 – 218, hier S. 215. 41 X 2, 19, 4 und 14; X 4, 13, 5; X 4, 15, 3 und 6 und 7. 42 Für das Mainzer Medizinwesen vgl. Helmut Mathy, Medizinhistorische Miniaturen aus dem Bereich der Mainzer Universität vom Ende des 18. Jahrhunderts: Jahrbuch der Vereinigung „Freunde der Universität Mainz“ 12, 1963, S. 66 – 123; Hermann Terhalle, Das Kurmainzer Medizinalwesen vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Mainz, o. O. 1965; Gisela Kuhnert, Yvonne Monsées, Fünfhundert Jahre Medizin in Mainz: Medizinhistorisches Journal 12, 1977, S. 175 – 206; Paul Diepgen, Die alte Mainzer medizinische Fakultät und die Wissenschaft ihrer Zeit: Medizinhistorisches Journal 12, 1977, S. 1 – 20; Franz Dumont, Helfen und Heilen – Medizin und Fürsorge in Mittelalter und Neuzeit, in: Mainz. Die Geschichte der Stadt. Hrsg. von Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz, Mainz 1998, S. 771 – 805. 43 X 2, 19, 4 und 14; X 4, 15, 6 und 7. 44 X 2, 19, 4 und 14; X 4, 15, 6 und 7. 45 Für den Kurstaat Mainz sind die angestellten Mediziner in den seit 1740 erscheinenden Hof- und Staatskalendern aufgeführt. 46 X 4, 15, 6 und 7. Vgl. Terhalle, Das Kurmainzer Medizinalwesen (Anm. 42), S. 85 – 93; Johannes Zaun, Beiträge zur Geschichte des Landcapitels Rheingau und seiner vierundzwanzig Pfarreien, Wiesbaden 1879, S. 419; Claudia Hilpert, „… nicht Zaenckisch, Frech, Hoffertig, Bollerisch“. Hebammen in der kurfürstlichen Residenzstadt Mainz von 1550 bis 1784: Ärzteblatt Rheinland-Pfalz 52, 1999, S. 19 – 24.
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manus obstetricum et oculus saepe fallitur.47 Die Sachverständigen sollten ermitteln, ob Impotenz im Sinne des kanonischen Rechts vorlag, ob sie bereits vor Eingehung der Ehe vorhanden war und ob sie nicht behoben werden konnte. Falls der Vollzug der Ehe niemals vorgenommen werden konnte, war anzunehmen, daß der Eheschließung vorausgehendes Unvermögen vorlag. Der Nichtvollzug der Ehe wurde auch bewiesen, indem Sachverständige feststellten, daß die Frau ihre Jungfräulichkeit nicht verloren hat. Dieser Sachverhalt war ein in jedem Falle starker Hinweis auf das Unvermögen des Mannes.48 Das übereinstimmende Gutachten von zwei oder drei gerichtlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, daß eine vorhergehende, unheilbare, absolute Impotenz eines Gatten unzweifelhaft vorlag, erbrachte vollen Beweis. Das Gericht konnte daraufhin die Nichtigkeit der Ehe aussprechen. Bedauerlicherweise ist in den Mainzer Materialien kein einziges medizinisches Gutachten erhalten. Wenn die Sachverständigen lediglich die hohe Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Impotenz konstatierten, mußten die beiden Gatten bzw. der klagende Teil mit je sieben Eideshelfern49 die Überzeugung vom Vorliegen des geschlechtlichen Unvermögens beschwören, damit das Gericht die Nichtigkeit der Ehe feststellen konnte. Der Gegenstand des Eides war bei Gatten und Eideshelfern verschieden. Die Gatten hatten zu beeiden, daß sie die geschlechtliche Beiwohnung versucht, aber nicht zu leisten vermocht hatten. Dieser den Gatten auferlegte Eid war ein Ergänzungseid. Die Eideshelfer mußten beschwören, daß sie die Aussage der Gatten für glaubwürdig hielten. In den Fällen, in denen die hohe Wahrscheinlichkeit nicht zu gewinnen war, mußte die Nullitätsklage abgewiesen werden. Gleichzeitig war eine Frist von regelmäßig drei Jahren zu setzen, nach deren Ablauf das Verfahren wieder aufgenommen werden konnte.50 Wenn das Unvermögen nicht mit Gewißheit festgestellt werden konnte, empfahl es sich, nicht die Nichtigerklärung der Ehe zu beantragen, sondern den Heiligen Stuhl zu bitten, die Ehe durch Dispens von der nichtvollzogenen Ehe aufzulösen. 5. Verteidigung des Ehebandes Zur Verteidigung des Ehebandes wurde der Defensor vinculi (oder matrimonii) aufgestellt. Benedikt XIV. erließ in der Konstitution „Dei miseratione“ vom 3. November 174151 einläßliche Bestimmungen über Aufgaben und Pflichten dieses Beamten. Er schrieb seine Anwesenheit in allen Prozessen vor, in denen über die Gültigkeit oder Nichtigkeit einer Ehe vor dem rechtmäßigen Richter gestritten 47
C. 27 q. 1 c. 4; X 2, 19, 14. Zu den anatomischen und physiologischen Einzelheiten der männlichen Impotenz vgl. Brenkle, The Impediment of Male Impotence, S. 1 – 47. 49 C. 33 q. 1 c. 2; X 4, 15, 5 und 7. Zur Einvernahme der Eideshelfer vgl. Maas, Eheprozeß: KL IV, 21886, S. 209 – 218, hier S. 215 f. 50 X 4, 15, 5. 51 Emil Ludwig Richter, Friedrich Schulte (Hrsg.), Canones et Decreta Concilii Tridentini ex Editione Romana A. MDCCCXXXIV. repetiti, Leipzig 1853, S. 565 – 570. 48
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wurde.52 Der Ehebandsverteidiger hatte die Aufgabe, alles vorzubringen, was für die Aufrechterhaltung der Ehe spricht. Wenn das Urteil des Richters auf Nichtigkeit der Ehe lautete, war er gehalten, Berufung einzulegen.53 Der Papst forderte ein zweites gleichlautendes Erkenntnis, bevor die vermeintlichen Eheleute eine neue Verbindung eingehen durften.54 Benedikt XIV. erinnerte auch daran, daß Ehesachen niemals in Rechtskraft übergehen.55 Das heißt: Wenn sich neue Tatsachen ergaben, konnten sie wieder aufgenommen werden.
B. Fälle Es sollen nun Fälle wirklicher oder vermeintlicher Impotenz aus der Gerichtsund Verwaltungspraxis der Mainzer Rechtsprechungs- und Verwaltungsorgane56 vorgestellt werden. Ich erinnere daran, daß ich einige Beispiele der Impotenz aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits in der Festschrift für Ernst Rößler beschrieben habe.57 1. Die Anna Lucia Gerard aus Hattenheim58 klagte gegen ihren Mann Jost Schmitt in Hallgarten59 wegen geschlechtlichen Unvermögens. Das Vikariat wandte sich an den Schultheißen zu Hallgarten, damit er den Mann veranlasse, sich nach Mainz zu begeben und dort von dem Dr. Michael Voos (Voß) untersuchen zu lassen.60 Doch Jost Schmitt ließ sich nicht bewegen, in Mainz zu erscheinen. Er wurde nun ad tabulas zitiert. Der Mann stellte sich trotz wiederholter Zitation dem Gericht nicht. Vor einer zwangsmäßigen Vorführung scheute man offensichtlich zurück. So 52
Richter, Schulte, Canones et Decreta 567 (§ 6). Richter, Schulte, Canones et Decreta 567 (§ 8). Vgl. auch Benedikt XIV., Ap. Konstitution „Si datam“ vom 4. März 1748 (P. Gasparri, I. Serédi, Codicis Iuris Canonici Fontes, 9 Bde., Rom 1923 – 1939, II, S. 139 – 142 Nr. 385, über den Defensor Professionum). 54 Richter, Schulte, Canones et Decreta 568 (§ 11). 55 Richter, Schulte, Canones et Decreta 568 (§ 11). Vgl. X 2, 27, 7 und 11. 56 Die in diesem Beitrag angeführten Orte werden in folgenden Sammelwerken nachgewiesen: Realschematismus der Erzdiözese Freiburg, Freiburg i. Br. 1863; Realschematismus der Diözese Würzburg, Würzburg 1897; Real-Schematismus des Bistums Fulda, Fulda 1910; Real-Schematismus (Diözese Paderborn), Paderborn 1913; Handbuch der Diözese Mainz, Mainz 1931; Handbuch des Bistums Trier, Trier 1952; Handbuch des Bistums Limburg, Limburg 1956; Bernhard Opfermann, Die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes in seiner Vergangenheit, Leipzig, Heiligenstadt 1958; Real-Schematismus des Erzbistums Paderborn Westlicher Teil, Paderborn 1988; Handbuch des Bistums Speyer, Speyer 1991. 57 Georg May, Behebung und Entfall von Ehehindernissen im Erzbistum Mainz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Iustitia in Caritate. Festgabe für Ernst Rößler zum 25jährigen Dienstjubiläum als Offizial der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hrsg. von Richard Puza und Andreas Weiß (= Adnotationes in Ius Canonicum Bd. 3), Frankfurt a. M. 1997, S. 125 – 181, hier S. 128 – 136. 58 Handbuch des Bistums Limburg, S. 100 f. 59 Handbuch des Bistums Limburg, S. 99 f. 60 DA Mainz 1/011 S. 4 (16. Januar 1696). 53
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blieb als einziges Beweismittel die beeidete Aussage der Frau übrig. Die Anna Lucia Gerard legte, wie ihr vom Gericht befohlen worden war, ihren Beichtzettel vor. Daraufhin wurde sie zur Eidesleistung zugelassen. Sie hatte zu beeiden, daß nach geschehener Kopulation vom ersten Augenblick an der Schmitt so „unvermöglich“ gewesen sei, daß er das eheliche Werk mit ihr bisher niemals habe verrichten können noch verrichtet habe. Die Frau leistete praevia avisatione de perjurio, d. h. nach Belehrung über das Verbrechen des Meineids, den Eid. Daraufhin erging die Sententia declaratoria, daß die zwischen beiden bestehende vermutliche Ehe „vor null und nichtig zu erklähren“ sei und hiermit „null und nichtig erklährt“ werde. Der Frau wurde freigestellt, sich „anderwärtiglich zu verheurathen“ (sic). Die beeidete Aussage eines Gatten genügte also, um die Ehe zwischen beiden für nichtig zu erklären.61 Auf eine körperliche Untersuchung des Mannes mußte wegen dessen Weigerung, sich ihr zu stellen, notgedrungen verzichtet werden. 2. Die Susanna Kissel aus Biblis62 klagte gegen ihren Ehemann Peter Eberth (Herberth) wegen geschlechtlichen Unvermögens. Das Vikariat lud sie zu persönlichem Erscheinen ein und ließ sich von dem Dekan zu Bensheim63, Gerhard Bösen, eine Relation ausstellen.64 Wenig später wurde auch der Beklagte vorgeladen zum persönlichen Erscheinen „sub poena 5 aureorum“.65 Es handelte sich also um eine Pönalzitation. Doch der Herberth weigerte sich zu kommen. Daraufhin wies das Vikariat den Dekan zu Bensheim an, er solle beim Oberamt die fünf Goldgulden, in die der Herberth wegen seines Ungehorsams verfallen war, exequieren lassen und ihn sub poena dupli ad octiduum nach Mainz bescheiden.66 Diese Maßnahme zeitigte endlich Wirkung. Am 7. September 1699 erschienen beide Teile vor dem Vikariat. Die Susanna Kissel brachte nun gegen ihren Ehemann Peter Herberth vor, er sei impotent, habe acht Jahre bei ihr im Bett gelegen, aber das eheliche Werk mit ihr nicht vollbracht. Der Mann widersprach; er habe seiner Frau mehr als einmal beigewohnt und ihr die eheliche Pflicht geleistet, also die Ehe konsumiert. Sie bestand auf ihrem Vorbringen und erklärte, es mit einem Eid bestätigen zu können. Der Mann äußerte sich seinerseits ähnlich. Darauf wurde ihm der Eid vorgelegt; er war bereit, ihn augenblicklich zu leisten. Doch das Gericht verzichtete darauf und erließ den Bescheid, daß die Susanna dem Ehemann Peter Herberth ehelich beizuwohnen habe.67 Im Zweifel – hier stand Aussage gegen Aussage – war für die Gültigkeit der Ehe zu entscheiden. Das Vikariat hatte Erfahrungen. Der Vorwurf, der andere Gatte sei unvermögend, wurde manchmal in der Absicht vorgebracht, ihn loszuwerden. Der Eid war in diesem Falle kein geeignetes Mittel der Wahrheitsfindung, denn 61
DA Mainz 1/012 S. 18 – 19 (17. Februar 1698). Handbuch der Diözese Mainz, S. 262 – 264. 63 Handbuch der Diözese Mainz, S. 259 – 262. 64 DA Mainz 1/012, S. 226 (17. August 1699). 65 DA Mainz 1/012, S. 236 (27. August 1699). 66 DA Mainz 1/012, S. 237 (31. August 1699). 67 DA Mainz 1/012, S. 243 (7. September 1699). 62
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beide Teile waren bereit, ihn zur Behauptung ihrer völlig gegensätzlichen Aussagen zu leisten. 3. Als der Johannes Ormersbach den ihm deferierten Eid de impotentia mulieris Anna Margaretha abgeschworen hatte, wurde die Ehe für nichtig erklärt.68 Welche Verhandlungen diesem Spruch vorausgegangen waren, ist unbekannt. Die Fallbeschreibung in diesem Band der Mainzer Vikariatsprotokolle (1/014) ist äußerst knapp, so daß die vorhergehenden Verfahrensschritte daraus nicht zu erheben sind. Vermutlich sind auch in diesem Falle Erkundigungen eingeholt und Untersuchungen angestellt worden. Wie so oft war der Eid das letzte Mittel für das Gericht, zu einer Entscheidung zu kommen. Vermutlich wurde seine Glaubwürdigkeit durch den Siebenhändereid zu sichern gesucht. 4. In Mainz bestand (bei Personengleichheit) ein Gericht erster Instanz für die eigene Diözese und ein Gericht zweiter Instanz für die Suffraganbistümer.69 In dem vorliegenden Fall war Maria Ursula Roth Appellans, Andreas Förschel Appellatus. Das Metropolitangericht bestätigte das erstinstanzliche Urteil in der Impotenzsache, die aus Straßburg eingeführt wurde. Die Urteile des Metropolitangerichtes wurden in lateinischer Sprache abgefaßt. Das Gericht stellte fest: Der Richter erster Instanz habe gut geurteilt und die Appellation sei zu Unrecht eingelegt worden. Daher sei das Urteil der Vorinstanz zu bestätigen und werde jetzt auch bestätigt. Das heißt: Der Antrag der Klägerin auf Nichtigerklärung der Ehe wegen angeblicher Impotenz wurde abgewiesen. Das Gericht fügte aber folgende Erklärung (cum hac tamen subsequenti Declaratione) hinzu. Die beiden müßten eine weitere Dreijahresfrist zusammenleben und die Vereinigung versuchen. Dazu hätten sie Gebete anzuwenden (adhibitis precibus). Weiter hätten beide Teile alles verdrießlich-mürrische Wesen aufzugeben (deposita utrimque si quae est omni morositate). Schließlich müsse sich die Frau untersuchen lassen (inspecta secundum debitam formam in ordine ad explorandam arctitudinem vel capacitatem vasis mulieris).70 Die angestrebte Erklärung der Nichtigkeit der Ehe wegen geschlechtlichen Unvermögens war nun in beiden Instanzen abgelehnt worden. Der Prokurator Mauerer appellierte an die Römische Kurie, weil sein Prinzipal sich durch das oben erlassene Urteil beschwert fühle, und erbat acta cum apostolis reverentialibus sowie eine Abschrift des Urteils in forma probante. Der Prokurator Peetz dagegen bedankte sich für die wohl verwaltete Gerechtigkeit und ersuchte, die von der Gegenseite eingelegte frivole Appellation nicht zu befördern, sondern Apostoli refutatorii auszustellen. Falls dies nicht geschehe, bat er um Ansetzung eines terminus hominis und eine Abschrift des Urteils in forma probante. Mauerer widersprach diesem Vorbringen und wiederholte seine Ausführungen.71 Wie oft wurde jedoch die eingelegte Berufung nicht verfolgt. Am 16. März 1724 legte Mauerer eine Aufstellung 68
DA Mainz 1/014, S. 113 (22. Dezember 1703). DA Mainz 1/208 Protocolla Moguntini Protonotariatus 1720 – 1727. 70 DA Mainz 1/208, S. 191 (16. Dezember 1723). 71 DA Mainz 1/208, S. 192 (23. Dezember 1723). 69
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seiner Unkosten (deservitorum) vor und bat, sie abzuschätzen und mit Vollstreckungsmandat zu entscheiden (decerni).72 5. Das Mainzer Vikariat wurde (bei Personengleichheit) je nach Sachlage als Verwaltungsbehörde und als Gericht tätig. Wenn es Rechtsprechung übte, geschah es häufig im Summarprozeß, nur bei Notwendigkeit oder beim Bestehen der Parteien im förmlichen kanonischen Prozeß.73 Johann Mayer aus Rüdesheim74 klagte gegen die Katharina Schmeltzer aus Johannisberg75 auf Erfüllung eines Eheversprechens. Es ging also nicht um eine geschlossene, sondern um eine zu schließende Ehe. Das Vikariat lud die Beklagte vor.76 Sie erschien jedoch nicht am festgesetzten Termin. Sie wurde erneut vorgeladen, diesmal sub poena trium aureorum. Dem Kläger wurde auferlegt, die Zeugen, die bei der Vornahme der Eheversprechung anwesend gewesen waren, mitzubringen.77 Am festgesetzten Termin erschien der Kläger und sagte aus, daß ihm die Beklagte im Beisein ihres Vormunds und ihrer zwei Schwäger die Ehe versprochen habe. Die ebenfalls anwesende Beklagte brachte eine Gegenvorstellung vor. Wieder stand eine Aussage gegen die andere. Das Vikariat nahm seine Zuflucht zu den Ärzten. Denn die Beklagte begründete ihre Weigerung, das Eheversprechen zu erfüllen, mit ihrer gesundheitlichen Verfassung. Der Dr. Mendel und der Barbierer Karl Strack wurden beauftragt, eine Okularinspektion der Schmeltzer vorzunehmen und darüber ihr pflichtmäßiges Gutachten zu erstatten, ob diese Person mit einem so starken Aussatz behaftet sei, daß sie dadurch gehindert sei, sich in eine wirkliche Ehevollziehung einzulassen.78 Wenige Tage darauf legten die beiden Ärzte ihren Bericht über die erfolgte Untersuchung der Schmeltzer vor. Sie sahen das Übel derselben nicht als einen wahren Aussatz an, doch für „ein eingewurtzelten Scarbotischen zustandt“; es sei zu befürchten, daß die aus einer solchen Ehe zu erzielenden Kinder mit dem nämlichen Übel könnten behaftet sein. Das Vikariat erklärte angesichts dieses Ergebnisses, es sehe nicht, wie man die Schmeltzer zum Vollzug der Heirat anhalten könne. Weil aber der Kläger diesfalls verschiedene Unkosten gehabt habe, legte es ihm auf, diese einzeln anzugeben, bevor ergehen werde, was Rechtens sei.79 Der Kläger legte die Spezifikation vor, und das Vikariat ersuchte die Beklagte um ihre Stellungnahme.80 Später bat der Mayer, die übergebene Aufstellung der Kosten abzuschätzen.81
72
DA Mainz 1/208, S. 202. Ebenso S. 232 (14. Dezember 1724). Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 324 – 329. 74 Handbuch des Bistums Limburg, S. 301 – 303. 75 Handbuch des Bistums Limburg, S. 296 – 298. 76 DA Mainz 1/035, S. 190 (5. August 1743). 77 DA Mainz 1/035, S. 196 (12. August 1735). 78 DA Mainz 1/035, S. 210 (26. August 1743). 79 DA Mainz 1/035, S. 219 – 220 (2. September 1743). 80 DA Mainz 1/035, S. 238 (9. September 1743). 81 DA Mainz 1/035, S. 309 (2. Dezember 1743). 73
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Auch im folgenden Jahr wurde noch um die Kosten gestritten; sie wurden der Beklagten auferlegt.82 6. Die Ehefrau Holtzwart wollte sich von ihrem Mann trennen wegen einer Krankheit.83 Der Mann gab zu, daß er die Krankheit gehabt habe, doch habe er sie, entgegen der Behauptung der Klägerin, nicht durch unerlaubte Beiwohnung bekommen, sondern ganz natürlicher Weise ohne seine Schuld.84 Das Vikariat legte der Klägerin auf, ihre Klage rechtlich zu beweisen, wozu ihr eine Frist von acht Tagen eingeräumt wurde. Danach solle ergehen, was Rechtens ist.85 Am nächsten Termin übergab die Klägerin Articuli probatorii mit der Bitte, die im Direktorium vorgeschlagenen Zeugen darüber legaliter zu vernehmen. Sie wurden dem Beklagten übergeben mit der Aufforderung, darüber Interrogatoria zu formulieren, wenn er wolle. Als Kommissare zur Behandlung der Sache wurden der Provikar und Dr. Kirchner bestellt.86 Damit endet die Sache in den vorhandenen Akten. Vermutlich hat die Frau ihren Antrag zurückgezogen. 7. Die Ehefrau Mayer bat um die Einleitung eines Verfahrens wegen Impotenz ihres Mannes.87 Die Sache war in erster Instanz in Augsburg verhandelt worden. Dort war die Klägerin mit ihrem Antrag unterlegen. Sie ging nun die zweite Instanz88 in Mainz an. Selbstverständlich mußten die Akten der Vorinstanz vorgelegt werden. Die Sache wurde in einem strengen kanonischen Prozeß verhandelt. Beide Parteien ließen sich durch Prokuratoren vertreten (Arzen und Knopff), die alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpften und auf diese Weise zahlreiche Termine provozierten.89 Das Vikariat beschloß die ocularis inspectio durch die Doktoren Johann Heinrich Vogelmann und Woger sowie den Chirurgen Strack.90 Doch unter den Ärzten entstand ein Dissens. Daraufhin ordnete das Vikariat noch einen weiteren Arzt, den Doktor Johann Jakob Schwarzmann, zur Untersuchung ab.91 Die beiden Ärzte Schwarzmann und Vogelmann erstellten ihr Gutachten, ebenso Woger.92 Ihr Inhalt ist nicht bekannt. In jedem Falle war durch die ärztlichen Untersuchungen die moralische Gewißheit, daß auf Seiten des Mannes tatsächlich geschlechtliches Unvermögen vorliege, nicht zu gewinnen. Das Metropolitange82
DA Mainz 1/036, S. 68 und 84. DA Mainz 1/035, S. 200 (19. August 1743). 84 DA Mainz 1/035, S. 208 – 209 (22. August 1743). 85 DA Mainz 1/035, S. 209 (22. August 1743). 86 DA Mainz 1/035, S. 212 (26. August 1743). 87 DA Mainz 1/606, S. 60 (2. September 1745). 88 DA Mainz 1/606 Protocolla Judicii Metropolitici, S. 1745 – 1748. 89 DA Mainz 1/606, S. 80, S. 85, S. 89, S. 97, S.105, S. 114, S. 119, S. 124 – 125, S. 130, S. 147, S. 148, S. 156 – 159, S. 166 – 167, S. 170 – 171, S. 173 – 174, S. 185, S. 198, S. 216 – 217, S. 218 – 219, S. 228, S. 236, S. 252, S. 256, S. 268 – 269, S. 274, S. 279, S. 299, S. 308, S. 311, S. 366 – 367, S. 375, S. 380. 90 DA Mainz 1/606, S. 167 (7. August 1746). 91 DA Mainz 1/606, S. 173 – 174 (25. August 1746). 92 DA Mainz 1/606, S. 177. 83
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richt erließ daher den Beschluß (decretum), die beiden Personen sollten geistliche Mittel und von den Ärzten verschriebene Medikamente gebrauchen, zusammenleben und den ehelichen Verkehr versuchen. Woger sollte die Medikamente verschreiben, die er für geeignet hielt, dem Übel abzuhelfen. Der Appellatus Mayer sollte vom Pater Andreas den Exorzismus empfangen.93 Woger und Strack meldeten einige Wochen später dem Vikariat, daß sie eine medicina temperans bereitet hätten und der Clemens Mayer sie wiederholt eingenommen habe. Er habe für die Vergangenheit seine Impotenz gestanden, was er auch bei seinem Erscheinen vor dem Vikariat bestätigte.94 Damit war die Beweislage zugunsten der Frau wesentlich verändert. Dennoch drang das Metropolitangericht auf möglichst hohe Gewißheit. So legte es der Frau den Ergänzungseid auf. Frau Francisca Mayer leistete vor dem Metropolitangericht den Eid, daß seit der Eheschließung ihr Gatte Clemens Mayer häufig versucht habe, sich mit ihr fleischlich zu vereinen und die copula carnalis auszuüben, daß er aber niemals dazu fähig gewesen sei und daß er den ehelichen Akt niemals vorgenommen habe.95 Das Metropolitangericht gab dem Augsburger Vikariat auf, daß es den Siebenhändereid von Verwandten der Francisca Mayer oder von Nachbarn über die Glaubwürdigkeit derselben abnehme.96 Am 4. Mai 1747 lag das Augsburger Protokoll vor. An diesem Tage erging auch das Urteil der Judices Sanctae Moguntinae Sedis. Darin hieß es (formelhaft), der Vorrichter habe schlecht geurteilt, von ihm sei gut Berufung eingelegt worden. Sein Urteil sei zu reformieren. Die Ehe zwischen den beiden Mayers sei wegen vorhergehender und beständiger Impotenz des Appellaten für nichtig zu erklären, wie sie jetzt für nichtig erklärt werde. Der Prokurator Hubert (anstelle von Knopff) bedankte sich für das Urteil, der Prokurator Arzen appellierte an die Römische Kurie. Hubert bat, die frivole Appellation nicht weiterzugeben. Das Vikariat beschloß, sie weiterzugeben in honorem Sacrae Curiae Romanae. Dem Appellanten wurde eine Frist von zwei Monaten gesetzt, um die Berufung einzuführen und darüber zu berichten.97 Sie wurde jedoch aufgegeben. 8. Das Ehepaar Friedmann aus Hochheim98 erschien vor dem Vikariat und zeigte an, daß es eine Zeitlang zusammengelebt, aber niemals die eheliche Vereinigung habe zustande bringen können. Die Ehefrau gestand zu, daß sie ihren Gatten als einen „ordentlichen man“ erkennen müsse. Doch unerachtet dieser Tatsache könnten sie nicht zusammenkommen. Der beklagte Ehemann sagte aus, daß er „propter arctitudinem“ der Frau die Kopula niemals habe vollziehen können; die Gattin sei „keine frau vor ihn“. Die Missionare (wohl anläßlich einer Volksmission) hätten
93
DA Mainz 1/606, S. 198 (24. November 1746). DA Mainz 1/606, S. 216 – 217 (23. Dezember 1746). 95 DA Mainz 1/606, S. 218 – 219 (2. Januar 1747). 96 DA Mainz 1/606, S. 219 (2. Januar 1747). 97 DA Mainz 1/606, S. 279 – 280. 98 Handbuch des Bistums Limburg, S. 175 f. 94
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ihnen verboten, die Kopula noch einmal zu versuchen.99 Das Vikariat gab sich mit diesen Auskünften nicht zufrieden. Schwierigkeiten beim Vollzug des ehelichen Aktes waren nicht selten und ließen sich bei gutem Willen und mit Ablauf der Zeit häufig beheben. Deswegen legte es am 18. März 1754 dem Ehepaar Friedmann auf, einander „zu tisch und bedt“ ehelich beizuwohnen und, falls sie nicht ehelich zusammenkommen könnten, sich bei einem erfahrenen Arzt Rat zu holen und dessen Medikamente fleißig einzunehmen, auch weitere geistliche Mittel, nötigenfalls Exorzismen zu gebrauchen.100 Dem Vikariat war offensichtlich bewußt, daß zum Gelingen der ehelichen Einigung nicht nur körperliche, sondern auch seelische Voraussetzungen erforderlich waren. Damit verschwindet der Fall aus den Akten. 9. In allen bisherigen Fällen wurde die (angebliche) Impotenz von einem oder beiden Gatten dem Vikariat angezeigt. Von Amtes wegen wurde niemals eingeschritten. Anders war es im folgenden Fall. Der Landdechant zu Bensheim, Georg Adam Castricius, übersandte dem Vikariat eine Anzeige wegen des Franz Lammert. Sie wurde vom Vikariat dem Dekan der Mainzer medizinischen Fakultät, Dr. Johann Christoph Vogelmann, mitgeteilt. Er wurde beauftragt, nötigenfalls mit Zuziehung eines Chirurgen die verlangte Inspektion vorzunehmen und dem Lammert das Ergebnis mitzuteilen.101 Der Franz Lammert wurde nun von dem Dekan der Mainzer medizinischen Fakultät, Dr. Vogelmann, untersucht. Das Ergebnis wurde dem Landdechanten zu Bensheim übersandt, damit er es dem Lammert mitteile.102 Das Urteil der Sachverständigen, jemand leide an ehelichem Unvermögen, war begreiflicherweise regelmäßig ein schwerer Schlag für den Betroffenen. So war es auch in diesem Fall. Der Pfarrer Castricius übersandte dem Vikariat seinen Bericht, wie der Lammert die Mitteilung aufgenommen habe. Das Vikariat war davon ungerührt und beschloß, es habe bei dem „parere“ des Dr. Vogelmann sein Bewenden.103 Doch der Lammert gab sich nicht zufrieden. Er legte eine neue Bittschrift vor. Daraufhin wurde er nach Mainz vorgeladen mit der Weisung, daß er das von den hiesigen Ärzten und dem Chirurgen aufgestellte und ihm mitgeteilte Visum repertum mitzubringen habe, zumal man es für nötig erachte, ihn durch „geschworne“ nochmals besichtigen zu lassen.104 Der Lammert wurde nun von Dr. Vogelmann und zwei Chirurgen erneut untersucht. Das Ergebnis war, daß das Vikariat entschied, es habe bei der anerkannten impotentia absoluta sein Bewenden. Der Bensheimer Dekan hatte das Ergebnis dem Lammert zu übermitteln.105 In diesem Falle scheint es sich um einen unverheirateten Mann gehandelt zu haben. Denn es ist nirgendwo von Konsequenzen für eine etwa bestehende Ehe die Rede. 99
DA Mainz 1/045, S. 67 (4. März 1754). DA Mainz 1/045, S. 87 – 88 (18. März 1754). 101 DA Mainz 1/045, S. 25 (21. Januar 1754). 102 DA Mainz 1/045, S. 30 (24. Januar 1754). 103 DA Mainz 1/045, S. 39 (31. Januar 1754). 104 DA Mainz 1/045, S. 327 (23. September 1754). 105 DA Mainz 1/045, S. 369 (14. November 1754). 100
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Eherecht
Es sollte verhütet werden, daß der Mann sich eine Frau suchte und womöglich ein Verlöbnis einging, das – angesichts seiner Impotenz – nicht zur Eheschließung führen konnte. 10. Die Barbara Bär, geborene Knapp, übergab dem Vikariat die rechtliche Bitte, die Nichtigkeit ihrer Ehe mit dem Peter Bär, Müller zu Hambach106, wegen geschlechtlichen Unvermögens festzustellen. Das Vikariat lud beide Teile vor.107Am festgesetzten Termin wurden die Parteien angehört. Das Gericht beauftragte den Stadtphysikus Dr. Johann Christoph Vogelmann oder bei dessen Verhinderung den Dr. Georg Karl Heilmann sowie den Barbierer Warnich (Warnig) mit der Untersuchung der Geschlechtsorgane des Peter Bär aus Hambach ratione impotentiae absolutae vel relativae und der Erstattung eines Gutachtens.108 Die Ärzte machten sich mit gewohnter Geschwindigkeit an ihre Aufgabe. Als das Gutachten vorlag, ergab es sich, daß von Impotenz im Sinne des kirchlichen Ehehindernisses nicht die Rede sein konnte. Das Gericht wies daher die Eheleute Bär an, künftig als solche zu Tisch und Bett einander ehelich beizuwohnen, und trug der Maria Barbara Bär auf, „bey verlust ihrer ewigen seeligkeit ihre ehelichen pflichten besser als bis anhero zu beobachten“. Dem Ortspfarrer wurde Kenntnis von der Sachlage gegeben.109 Damit hatte die Sache ihren rechtlichen Abschluß gefunden; wie sie menschlich bewältigt wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. 11. Auch im folgenden Fall ging die Initiative zur Feststellung der Impotenz vom Seelsorger aus. Der Pfarrer von Sohren110, P. Theophilus OCarm, berichtete dem Vikariat, „dem Ansehen nach“ seien die beiden Ehen des Heinrich Koch und der Elisabeth Katharina Lambi bzw. des Mathias Donsbach und der Katharina Schleich wegen Impotenz nichtig. Die Anzeige konnte nicht unbeachtet gelassen werden. Das Vikariat zitierte beide Paare.111 Die Lambi beharrte auf der Meinung, ihr Mann sei impotent. Der Koch bestritt die Behauptung und erklärte, daß, wenn er die eheliche Pflicht verrichten wolle, seine Frau sich boshafter Weise dagegensetze und nicht einwillige. Die Frau wies wiederum diese Einlassung zurück. Sie einigten sich darauf, daß die Klägerin bereit sei, bei ihm zu wohnen, wenn er ihr die eheliche Pflicht nicht mehr zumuten wolle, und daß er dieses Verlangen nicht mehr stellen wolle. Das Vikariat beließ beide bei ihrem Anerbieten; ein jeglicher Teil solle „in separirtem Bedt“ schlafen. Dem Pfarrer wurde Kenntnis von dieser Vereinbarung gegeben.112 Auf eine Entscheidung in der Sache wurde mithin verzichtet. Nach Anhörung der Katharina Schleich und des Mathias Donsbach beauftragte das Vikariat den Stadtphysikus Vogelmann, mit Zuziehung des Barbierers Warnig den 106
Handbuch der Diözese Mainz, S. 343 f. DA Mainz 1/047, S. 345 (19. August 1756). 108 DA Mainz 1/047, S. 353 (26. August 1756). 109 DA Mainz 1/047, S. 358 (30. August 1756). 110 Handbuch des Bistums Trier, S. 788 – 790. 111 DA Mainz 1/049, S. 175 (12. Juni 1758). 112 DA Mainz 1/049, S. 203 (26. Juni 1758). 107
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Donsbach noch heute oder spätestens am nächsten Tage zu untersuchen. Die Ärzte sollten sehen, „ob die Testiculi nicht inwendig seyn könnten oder ob vestigia einer vorgewesenen incision, wodurch Testiculi herausgenommen, noch zu sehen“ seien113, und darüber auch die Frau zu examinieren. Das Visum repertum sei spätestens Mittwoch früh acht Uhr, „und zwar gratis propter paupertatem“, einzuschicken.114 Am 28. Juni 1758 übersandten Vogelmann und Warnig ihr Visum repertum. Daraufhin wurde die Ehe zwischen den beiden Personen „für null und nichtig erklärt“ und ihnen nachdrücklich befohlen, voneinander getrennt zu leben; die Katharina Schleich wurde von dem Mathias Donsbach „loos und ledig … gesprochen“ und ihr erlaubt, eine andere Ehe einzugehen. Dem Pfarrer in Sohren ließ das Vikariat schreiben, daß er, wenn die beiden sich nicht voneinander trennten, das Brachium saeculare anzugehen habe.115 Der Seelsorger hatte nun die undankbare Aufgabe, die Scheinehegatten zu einem Verhalten zu veranlassen, das dem ärztlichen Befund bzw. dem gerichtlichen Urteil entsprach. Der Pfarrer von Sohren übersandte einige Wochen darauf dem Vikariat seinen Bericht. Darin scheint bemerkt worden zu sein, daß sich die beiden nicht voneinander trennen wollten. Das Vikariat ließ es bei dem Dekret vom 28. Juni bewenden, forderte den Pfarrer auf, dafür zu sorgen, daß sie voneinander blieben, und erinnerte daran, daß er „allenfalls“ die weltliche Obrigkeit um Vornahme der Separation zu ersuchen habe.116 Es sollte also erforderlichenfalls die zwangsmäßige Trennung vorgenommen werden. 12. Im folgenden Fall handelt es sich wieder um ein Verfahren in zweiter Instanz.117 Das Augsburger Gericht hatte am 17. Dezember 1782 ein Urteil in der Sache des Benedikt Guggenmoos in der Pfarrei Geretshausen und seiner Ehefrau Katharina gefällt. Der Mann hatte wohl auf Nichtigerklärung seiner Ehe wegen Impotenz der Frau geklagt, war aber abgewiesen worden. Nun legte er Berufung an das Mainzer Metropolitangericht ein. Was in dieser Sache erstaunt, ist die lange Frist von drei Jahren, die zwischen den Entscheidungen der beiden Instanzen verstrich. Die Stationen des Prozesses sind leider aus Mangel an Material nicht nachzuzeichnen. Das Metropolitangericht kam zu dem Urteil, die zwischen den beiden Personen eingegangene Ehe sei für gültig zu erklären, bis von dem Appellanten besser als bisher die Impotenz (impotentia respectiva) bewiesen werde, und die Trennung von Bett und Tisch habe nicht statt.118 Auch in diesem Falle verlangte das Gericht von den Ehegatten, daß sie weiterhin versuchen sollten, wie rechte Eheleute
113 Papst Sixtus V. forderte, daß Männern utroque teste carentes die Eheschließung untersagt werde; Ehen, die sie geschlossen hätten, seien ungültig (Schreiben an den päpstlichen Nuntius in Spanien vom 22. Juni 1587 bei Richter, Schulte, Canones et Decreta (Anm. 51), S. 555 f.). 114 DA Mainz 1/049, S. 204 (26. Juni 1758). 115 DA Mainz 1/049, S. 205 – 206 (28. Juni 1758). 116 DA Mainz 1/049, S. 250 (7. August 1758). 117 DA Mainz 1/621 Protocolla Judicii Metropolitici (mit Inskripten) 1785 – 1787. 118 DA Mainz 1/621, S. 256 – 258 (22. Dezember 1785).
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zusammenzuleben. Bei gutem Willen und aus religiösen Motiven konnten auch schwierige eheliche Verhältnisse geheilt werden. 13. Die folgende Sache wurde vor der Commissio perpetua verhandelt, die damals als Gericht in Ehesachen fungierte.119 Der Stephan und die Margaretha Becker aus Gonsenheim120 waren fast drei Jahre verheiratet, und die Frau wollte nun die Ehe wegen angeblicher Impotenz des Mannes für ungültig erklärt haben. Der Beklagte gestand die Impotenz ein. Beide Gatten erklärten vor Gericht, daß sie sich alle Mühe gegeben und alle Mittel angewendet hätten, um die eheliche Beiwohnung zu vollziehen, doch habe es niemals geschehen können. Der Beklagte habe niemals eine „Empfindung“, geschweige denn eine Erektion spüren lassen und den Samenfluß wahrgenommen. Zur künftigen Fastnacht seien es drei Jahre, daß sie kopuliert worden seien. Die Klägerin sei gleich am Anfang der Ehe etwa sieben Wochen krank und unlängst zehn Tage von ihrem Ehemann getrennt gewesen. Zwischen den Gatten bestand also ein Zerwürfnis, bei dem die körperliche Komponente der Ehe eine beträchtliche Rolle spielte. Das Gericht forderte von den beiden Personen die Vorlage der Taufscheine und des Kopulationsscheines. Einstweilen hätten sie nach wie vor als Eheleute einander beizuwohnen, um sich die eheliche Pflicht leisten zu können. Der Stadtphysikus Professor Dr. Joseph Franz Wenzel hatte mit einem geschworenen Chirurgen eine Untersuchung des Mannes „wegen der angegebenen Unvermögenheit“ vorzunehmen.121 Die beiden Becker erschienen bald erneut vor Gericht und legten die gewünschten Urkunden vor. Der Arzt Wenzel und der Chirurg Wernich (sic) überschickten ihren Untersuchungsbericht. Das Gericht gab sich damit noch nicht zufrieden, sondern ersuchte den Dr. Wenzel, die Margaretha Becker auf ihre virginitas zu untersuchen und die Behebung der Impotenz durch Medikamente ins Auge zu fassen, überhaupt die erzbischöfliche Gerichtsstelle in den Stand zu setzen, ein rechtlich einwandfreies Urteil ergehen zu lassen.122 Die Sache komplizierte sich nun durch das Verhalten der beiden Personen. Der Becker verschloß nämlich seiner Ehefrau das Haus und beförderte ihr Ehebett in seines Bruders Haus, weil die Klägerin die erste Nacht, als sie die Klage bei dem Gericht erhoben hatte und der Beklagte zu ihr habe nach Hause gehen wollen, sich allen geschehenen Klagens ungeachtet „verschlossen gehalten“ habe. Die Frau gestand ein, daß sie in dieser Nacht allein im Haus verblieben sei, weil sie das Klopfen des Beklagten nicht gehört habe. Der Beklagte und die Klägerin beharrten „simpliciter“ auf ihren unterschiedlichen Angaben. Das Gericht befahl nun den Eheleuten Becker, sich sogleich wieder zu vereinigen und einander als christliche Eheleute beizuwohnen, und legte dem Mann auf, alles, was er aus dem Hause weggetragen habe, wieder zurückzubringen und friedlich mit seiner Frau zusammenzuleben, widrigenfalls die weltliche Obrigkeit pro executione angerufen werden solle. Das 119
DA Mainz 1/501 Protocolla Commissionis perpetuae 1770 – 1773. Handbuch der Diözese Mainz, S. 109 f. 121 DA Mainz 1/501, S. 111 – 112 (9. Januar 1771). 122 DA Mainz 1/501, S. 113 (16. Januar 1771). 120
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Gericht nahm dann das von dem Stadtphysikus Wenzel vorgelegte Promemoria zum Anlaß, die Klägerin zu vernehmen, ob sie etwas gegen die Untersuchung ihrer Jungfräulichkeit einzuwenden habe, worauf sie antwortete, auf ihrer Seite liege keine Impotenz vor, sondern auf der Seite ihres Mannes; dennoch wolle sie es geschehen lassen, daß sie von Mainzer vereidigten Hebammen untersucht werde, denen jedoch die strengste Verschwiegenheit auferlegt werden möge. Das Gericht faßte daraufhin den Beschluß, durch den Stadtphysikus zwei geschworene Hebammen auswählen zu lassen, welche die erforderliche Fähigkeit besitzen, die exploratio virginitatis vorzunehmen, sie zur Vornahme der Untersuchung zu verpflichten und zur Verschwiegenheit anzuhalten, den Stephan Becker mit den erforderlichen Medikamenten zu versehen und sie durch den Chirurgen Nunn in Gonsenheim dem Becker eingeben zu lassen, um des Gebrauches gewiß zu sein.123 Wenig später erschien die Klägerin vor Gericht und zeigte an, daß ihr Mann sie mit Schlägen mißhandelt habe; sie bat um Abhilfe. Das Gericht forderte ihn auf, das Schlagen seiner Frau zu unterlassen, und verbot ihm, sie sonstwie schlecht zu behandeln, widrigenfalls die weltliche Obrigkeit angerufen werden würde, um ihn in die gehörigen Schranken zu weisen. Der Pfarrer Johann Lorenz Stoll in Gonsenheim wurde angewiesen, bei der ersten Übertretung des Beklagten die weltliche Obrigkeit zu requirieren.124 Vor der Untersuchung, welche die Hebammen vornehmen sollten, traten unvorhergesehene, aus dem Protokoll nicht zu verifizierende Hindernisse ein, die aus zwei Berichten des Dr. Wenzel erhellten. Das Gericht bestand auf der vorgesehenen exploratio virginitatis durch die beiden Hebammen.125 Die beiden vereidigten Hebammen Amalia Arnold und Theresia Flach aus Mainz erschienen vor der Commissio perpetua. Sie wurden an ihre Pflichten erinnert und gaben darauf Handtreue126 an Eides Statt. Dann wurde ihnen auferlegt, innerhalb von acht Tagen über das Ergebnis der exploratio virginitatis Bericht zu erstatten.127 Am 18. März 1771 erschien die Klägerin und zeigte an, daß die eine Hebamme Bedenken habe, in das Haus der zweiten zu gehen, wodurch die Untersuchung verzögert werde, und bat, eine andere zu benennen. Das Vikariat hatte nichts dagegen, eine andere Hebamme „zu diesem Geschäfte“ zu nehmen.128 Nach acht Tagen fanden sich die beiden Hebammen erneut vor der Commissio perpetua ein und gaben das Ergebnis ihrer Untersuchung bekannt. Sie müßten nach ihrem Gewissen pflichtmäßig bekennen, daß sie bei der Klägerin „die jungferschaft noch völlig und so befunden“ hätten, „daß mit derselben noch von keinem Mannsbilde ein Beyschlaf könne ausgeübt worden seyn“. Das Gericht bestellte daraufhin den Mainzer Stadtgerichtsassessor und Advokaten Dr. Friedrich Langen zum Defensor Matrimonii. Ihm seien die bisher erwachsenen Akten und Protokolle vorzulegen, 123
DA Mainz 1/501, S. 115 – 117 (23. Januar 1771). DA Mainz 1/501, S. 120 (6. Februar 1771). 125 DA Mainz 1/501, S. 121 (20. Februar 1771). 126 E. Kaufmann, Treue: HRG V, 1998, Sp. 320 – 338. 127 DA Mainz 1/501, S. 127 (13. März 1771). 128 DA Mainz 1/501, S. 127. 124
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damit er nach Einsichtnahme „eine statthafte Defensions-Schrift allenfalls zu verfertigen und solche in prima post ferias zu exhibiren“ vermöge.129 Das Drama um die Ehe der beiden Beckers nahm seinen Fortgang. Bei einem späteren Termin der Commissio perpetua stellte die Klägerin vor, daß der Beklagte sie schon eine Zeitlang nicht mehr habe in seine Wohnung aufnehmen wollen, ja sein Haus „anderwärtig hin verlehnet“ und sich zu seinen Geschwistern in Kost und Quartier begeben sowie ihr das Bettzeug und die Kleidung vorenthalten habe. Sie bat das Gericht, bis zu ausgemachter Sache ihr für die notwendige Nahrung etwas Sicheres ex officio zu bestimmen und den Beklagten zur Herausgabe des ihr vorenthaltenen Bettzeugs und der Kleidung anzuhalten. Das Gericht gab dem Antrag statt. Der Becker hatte ihr die Sachen zu überliefern und wöchentlich 40 Kreuzer zu reichen. Dem Pfarrer Stoll wurde die Aufsicht über die Erfüllung dieser Pflicht übertragen. Erforderlichenfalls hatte er die weltliche Obrigkeit pro executione zu requirieren.130 Am 5. Juni 1771 lag der Schriftsatz des Dr. Langen vor. Das Gericht übermittelte ihn der Klägerin zur Nachricht oder zur „allenfallsigen Nothdurft“ mit einer Frist von acht Tagen.131 Der Beklagte übergab eine Gegenvorstellung zu den Leistungen, die ihm auferlegt worden waren. Das Gericht reichte sie der Klägerin weiter „zu Beobachtung ihrer Nothdurft“, beharrte aber auf seinem Beschluß vom 29. Mai. Die Klägerin erschien und reichte die Schrift des Defensor Matrimonii zurück.132 Wie es scheint, hatte sie keine Einwände. Am 4. Juli 1771 übergab die Klägerin die auferlegte „Nothdurffts-Beobachtung“. Sie wurde dem Beklagten überstellt.133 Am 14. Juli 1771 hatte dieser seine Vorstellung eingereicht. Ihm waren die Pflichten, die das Gericht ihm gegenüber der Klägerin auferlegt hatte, offensichtlich zu schwer. Der Einwendung ungeachtet ließ es das Vikariat bei den am 29. Mai und 3. Juli ergangenen „Provisional-Decreten“ bewenden.134 Am 11. September 1771 übergab der Beklagte „nothdürfftige Anzeige“. Das Vikariat überstellte sie der Klägerin zur Nachricht, beharrte aber auf seinen Verfügungen.135 Als am 28. September 1771 eine erneute „Anzeige“ des Beklagten vorlag, bestätigte die Commissio wiederum ihre „Zwangs-Verfügung“.136 Am 30. Oktober 1771 erschien der Schwager des Beklagten, Philipp Brandmüller aus Gonsenheim, und erlegte die ihm angesetzten Sporteln und Dekretengelder zu 15 Gulden und bat, das Urteil zu „maturiren“.137 Am 13. November 1771 zitierte das Gericht die Eheleute Becker erneut vor sich. Der Pfarrer Stoll in Gonsenheim hatte Verwandte, Nachbarn oder Einwohner beider Teile zu benennen, die über die Verhältnisse der beiden Personen 129
DA Mainz 1/501, S. 128 (20. März 1771). DA Mainz 1/501, S. 145 – 146 (29. Mai 1771). 131 DA Mainz 1/501, S. 147 (5. Juni 1771). 132 DA Mainz 1/501, S. 156 (3. Juli 1771). 133 DA Mainz 1/501, S. 161 – 162. 134 DA Mainz 1/501, S. 169. 135 DA Mainz 1/501, S. 187. 136 DA Mainz 1/501, S. 194. 137 DA Mainz 1/501, S. 203. 130
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etwas wissen könnten.138 Man war sich also über die Umstände der Eheführung der Beckers noch nicht völlig im klaren. Als die beiden Eheleute Becker am 20. November 1771 vor dem Gericht erschienen, wurde die Klägerin befragt, wer von ihren Verwandten Kenntnis von ihrer dermaligen Streitsache habe. Sie gab ihren Vater Lorenz Becker, Johann Becker, Georg Löhr, Jacob Wenz, Mathes Schmitt, Wigand Becker und Conrad Wenz an. Der Beklagte nannte Johannes Müller, Philipp Brandmüller, Joseph Becker (des Beklagten Vaters Bruder), Joseph Becker (des Beklagten Bruder), Jacob Datz, Joseph Becker (Unterschultheiß) und Michael Nunn. Wie leicht zu erkennen ist, benannte jede Seite sieben Zeugen. Es lag also die Vorbereitung des Siebenhändereides vor. Die beiden Parteien und sämtliche vorgeschlagenen Zeugen wurden nun vor Gericht geladen, und zwar die ersteren ad jurandum de veritate impotentiae, die letzteren de credulitate, daß sie nämlich dasjenige, was beide Teile in bezug auf die Impotenz angeben und beschwören, wahr zu sein glauben. Der Pfarrer Stoll hatte den beiden Teilen und den Zeugen zu erklären, was sie zu beschwören haben.139 Die Pfarrer wurden in kirchlichen Prozessen häufig zu Dienstleistungen herangezogen. Zum festgesetzten Termin erschienen das Ehepaar Becker und alle benannten Zeugen vor Gericht und legten die genannten Eide wirklich persönlich ab. In Gegenwart ihrer aller und des für den Defensor Matrimonii Dr. Langen ex officio bestellten Pedells Lamby junior (der auch bei der Eidesleistung gegenwärtig gewesen war) sprach das Gericht sein Urteil in Sachen Margaretha Becker gegen Stephan Becker. Danach waren die beiden Eheleute quoad vinculum wegen Impotenz des Mannes zu scheiden. Der Beklagte hatte die Gerichts- und Prozeßkosten zu bezahlen. Der Pedell Lamby junior appellierte im Namen des Defensor Matrimonii ad plenum vicariatum und erbat Apostoli reverentiales. Das Gericht erkannte auf deren Ausstellung. Die Klägerin bat, ihr zu den vorläufig zugesprochenen Alimenten mittels Anrufung des weltlichen Arms „endlich“ zu verhelfen. Das Gericht beauftragte den Pfarrer Stoll, die weltliche Obrigkeit in Gonsenheim zu ersuchen, der Klägerin zu den Alimenten behilflich zu sein. Dem Pfarrer war Kenntnis von dem Urteil zu geben.140 Damit war der Fall nicht abgeschlossen. Am 5. Dezember 1771 schrieb das Generalvikariat dem Pfarrer Stoll, die Ehesache der Becker sei keineswegs beendigt; er habe der Margaretha Becker zu gestatten, bei den verheirateten Frauen – wie bisher – in der Kirche zu knien, und wenn ihr etwas in den Weg gelegt werde, an das Vikariat zu berichten.141 Doch im folgenden Band der Protokolle des Vikariats taucht der Fall nicht mehr auf. Ein Verfahren vor der zweiten Instanz scheint nicht stattgefunden zu haben.
138
DA Mainz 1/501, S. 210 (13. November 1771). DA Mainz 1/501, S. 216 – 217 (20. November 1771). 140 DA Mainz 1/501, S. 222 – 224 (27. November 1771). 141 DA Mainz 1/059, S. 542. 139
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14. Der folgende Fall wurde vor der (neu eingerichteten) Behörde des Judicium Ecclesiasticum et Sigilliferatus verhandelt.142 Die Ehefrau Kienbacher wollte, wie der Pfarrer Adam Franz Kauth zu Frankfurt143 dem Geistlichen Gericht und Siegelamt mitteilte, von ihrem Ehemann ob ejus impotentiam geschieden werden. Das Gericht beschied sie vor sich.144 Der Pfarrer berichtete den Vollzug der Vorladung.145 Nun ergab sich folgende Sachlage. Die Ehefrau Kienbacher bat um Ehescheidung quoad vinculum, weil ihr Mann „gantz unfähig“ sei; er habe während ihres siebenjährigen Ehestandes die eheliche Pflicht nicht leisten können. Zum Beweis seiner „Untüchtigkeit“ solle er durch bewährte Ärzte untersucht werden. Der Ehemann widersprach dem Vorbringen seiner Frau. Er sei zu dem Ehestand tüchtig und habe einmal erectionem membri virilis gehabt und intra vas suae uxoris seminiert, was er daher wisse, weil post copulam noch einige guttae seminis nachgekommen seien. Die Untersuchung seines Körpers, auf die seine Frau dränge, könne er geschehen lassen; daraus werde sich ergeben, daß die Behauptung seiner Frau unwahr sei. Die Klägerin beharrte auf ihrer Aussage. Sie könne es eidlich erweisen, daß der Beklagte „nimmer mit ihr copulam habe haben können“. Er habe solche zwar öfters versucht und sich dabei „so abgearbeitet, daß er in dem schweiß sozusagen geschwommen“ sei, habe aber nichts zustande bringen können, als daß „ein wenig helle wässerige Materie“ von ihm ausgegangen sei. Die Richtigkeit ihrer Angabe werde sich bei der erbetenen ärztlichen Untersuchung erweisen. Das Gericht beauftragte den kurfürstlichen Hofrat und Leibarzt Franz Georg Ittner und den Hofgerichtsrat und Professor Johann Peter Weidemann, den Joseph Kienbacher daraufhin zu untersuchen, ob bei ihm eine impotentia antecedens et absoluta festzustellen sei. Die Untersuchung solle das Gericht in den Stand setzen, in der Ehescheidungssache ein Urteil abzugeben, ob beide voneinander etiam quoad vinculum zu scheiden seien. Den beiden Ärzten sei überlassen, ob sie einen Chirurgen und welchen sie bei der Exploration beiziehen wollten. Der Visitandus wohne bei dem hiesigen Rechtsprofessor Ignatz Wiese(n) hinter der Reichklarenkirche, wo die Untersuchung vorgenommen werden könne.146 Am 26. Februar 1785 lag das Visum repertum der beiden Medizinprofessoren Ittner und Weidemann dem Gericht vor, und es gestattete dem Ehepaar Kienbacher die Einsicht.147 Das Gutachten kam offensichtlich nicht zu dem von der Klägerin gewünschten Ergebnis. Die dauernde vorhergehende Impotenz des Mannes konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die Nichtigerklärung der Ehe kam somit nicht in Frage, sondern lediglich die Trennung von Tisch und Bett. In der Folge drehte sich das Verfahren lediglich um den Lebensunterhalt der Frau. Der Prokurator der Klägerin Jakob Schlebusch 142
DA Mainz 1/404 Protocolla Judicii Ecclesiastici et Sigilliferatus 1784 – 1785. Handbuch des Bistums Limburg, S. 111 – 113. 144 DA Mainz 1/404, S. 121 (29. Januar 1785). 145 DA Mainz 1/404, S. 139 (16. Februar 1785). 146 DA Mainz 1/404, S. 149 – 151 (19. Februar 1785). 147 DA Mainz 1/404, S. 161. 143
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übergab eine „Vorstellung“, die dem Beklagten überstellt wurde.148 Der Prokurator Johann Kaspar Diel antwortete im Namen des Beklagten mit einer Erklärung, die der Klägerin „zur weiteren Nothdurft“ mitgeteilt wurde.149 Am 16. April 1785 überreichte Schlebusch „vermüßigte Vorstellung“, die wieder dem Beklagten zugänglich gemacht wurde.150 Das Gericht erließ ein Dekret über die Verpflichtung des Beklagten, den Unterhalt der Klägerin sicherzustellen. Der Pfarrer Kauth übersandte den Bericht über die erfolgte Bekanntmachung des Dekrets vom 16. April.151 Schlebusch bat ad declarandum ulteriorem (scil. terminum) zu „praefigiren“. Das Gericht machte diesen Rezeß dem Beklagten zugänglich und legte ihm auf, dem Dekret vom 16. April innerhalb von acht Tagen „zu geleben“.152 Der Beklagte übergab „gehorsamste Erklärung“ und Bitte. Beides wurde der Klägerin mitgeteilt.153 Am 11. Mai 1785 lag der vom Pfarrer Kauth angeforderte Bericht vor.154 Schlebusch übergab eine weitere „Vorstellung“. Sie wurde dem Pfarrer Kauth übersandt mit dem Auftrag, über die von dem Schwiegervater Kienbacher bewilligte Alimentation der Frau samt allen übrigen eingeräumten Bedingungen von demselben eine verbindliche Urkunde einzufordern.155 Der Pfarrer Kauth kündigte das persönliche Erscheinen des Vaters des Beklagten im Gericht an.156 Schließlich übersandte er doch eine von des Beklagten Vater ausgestellte „Versicherung“.157 Auf Zitation hin erschien die Klägerin. Man las ihr die erwähnte Versicherung vor, sie verlangte eine Kopie. Ihre Erklärung hatte sie binnen weniger Tage abzugeben.158 Die Klägerin übergab eine Vorstellung, die das Gericht dem Pfarrer Kauth zustellte, damit er sie dem Handelsmann Kienbacher zuleite. Er solle ihm bedeuten, daß man es von Seiten des Gerichts gern sähe, wenn er sich dem billig scheinenden Antrag der Klägerin fügen wolle, zumal in dessen Versicherungsurkunde einige Punkte (besonders jener, daß sich die Klägerin bei ihren Anverwandten aufhalten solle) zu hart scheinen.159 Pfarrer Kauth übersandte bald einen nochmaligen Bericht, ein Promemoria des Kienbacher und eine neu formulierte Versicherungsurkunde. Diese wurde der Klägerin zu ihrer neuerlichen Erklärung übergeben.160 Diese gab sich jetzt zufrieden, unterschrieb die Versicherungsurkunde und bat, nun die Trennung von Tisch und Bett vor sich gehen zu 148
DA Mainz 1/404, S. 170 (2. März 1785). DA Mainz 1/404, S. 181 (9. März 1785). 150 DA Mainz 1/404, S. 222. 151 DA Mainz 1/404, S. 232 (23. April 1785). 152 DA Mainz 1/404, S. 237 (27. April 1785). 153 DA Mainz 1/404, S. 240 (30. April 1785). 154 DA Mainz 1/404, S. 241. 155 DA Mainz 1/404, S. 254 (25. Mai 1785). 156 DA Mainz 1/404, S. 274 (4. Juni 1785). 157 DA Mainz 1/404, S. 281 (8. Juni 1785). 158 DA Mainz 1/404, S. 289 (11. Juni 1785). 159 DA Mainz 1/404, S. 292 (15. Juni 1785). 160 DA Mainz 1/404, S. 306 (22. Juni 1785). 149
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Eherecht
lassen. Das Gericht erkannte jetzt auf die „Ehescheidung von Tisch und Bette“ und bestätigte die von dem Vater des Beklagten über den Unterhalt der Klägerin ausgestellte Versicherungsurkunde.161 Als der Prokurator Schlebusch um einen Termin für das persönliche Erscheinen seiner Prinzipalin bat, wurde ihm „sein unschickliches Recessiren“ (sic) verwiesen, da die Klägerin ihre Erklärung bereits persönlich abgegeben habe.162 Damit war der Fall erledigt. 15. Auch die folgende Sache kam vor das Judicium Ecclesiasticum et Sigilliferatus.163 Streitigkeiten zwischen Eheleuten waren häufig der Anlaß, daß der eine Teil den anderen des geschlechtlichen Unvermögens bezichtigte. Oft waren damit Auseinandersetzungen wegen des Unterhalts oder des Vermögens verknüpft. Der Kuratus Kapistran Steinmetz zu Spabrücken164 berichtete, daß die Ehefrau des Ludwig Bartholome sich bereits öfters und jetzt abermals von ihrem Ehemann getrennt habe und sich außerhalb der Pfarrei aufhalte. Das Gericht zitierte beide Eheleute.165 Der Kuratus meldete, daß der Beklagte erkrankt sei und darum nicht erscheinen könne. Doch die Klägerin fand sich ein und stellte vor, daß sie weiterhin bei dem Beklagten nicht bleiben könne, weil er und die in dem nämlichen Haus wohnenden Schwiegereltern sie „sehr hart gehalten, geschändet, geschlagen“ und ihr „nicht satt zu essen gegeben“ hätten und weil der Beklagte ihr nicht ehelich beiwohnen könne. Sie bat, von ihm abgesondert leben zu dürfen und dem Beklagten aufzuerlegen, ihr für die „Lebsucht“ jährlich einen bestimmten Betrag zu geben. Dieser „Eintrag“ wurde dem Kuratus Steinmetz mitgeteilt, um den Beklagten über die Umstände „ordentlich und deutlich“ zu Protokoll zu vernehmen, und ihm auferlegt, das Protokoll einzusenden. Der Klägerin wurde gestattet, sich einstweilen bis auf weiteres bei ihrer Stiefmutter aufhalten zu dürfen.166 Der Kuratus nahm die Vernehmung vor und sandte das Protokoll ein.167 Die Klägerin bestellte den Diel zu ihrem Prokurator. Dieser bat das Gericht, den Beklagten post ferias sub poena juris und des wirklichen Eingeständnisses der Impotenz persönlich vorzuladen. Nun bestehe aber die Gefahr, daß der Beklagte die „Fruchtcrescenz“, die auf den Äckern der Klägerin wachse, „spoliative“ an sich bringe und die Klägerin „das leere Nachsehen“ habe. Diese Früchte könnten aber nur mediante requisitione dieses Gerichtes sequestiert werden. Darum bat er, litterae requisitoriales an die weltliche Obrigkeit zu erlassen, daß nun die auf den Feldern der Klägerin stehenden Früchte „mit Kundschaft eingethan werden mögen“.168 Dieser „Eintrag“ wurde dem Beklagten mitgeteilt, und beide Teile wurden vorgeladen auf den 22. August. Der 161
DA Mainz 1/404, S. 321 – 322 (2. Juli 1785). DA Mainz 1/404, S. 331 (6. Juli 1785). 163 DA Mainz 1/406 Protocolla Judicii Ecclesiastici et Sigilliferatus 1787. 164 Handbuch des Bistums Trier, S. 495 f. 165 DA Mainz 1/406, S. 25 (24. Januar 1787). 166 DA Mainz 1/406, S. 39 – 40 (7. Februar 1787). 167 DA Mainz 1/406, S. 55 (28. Februar 1787). 168 DA Mainz 1/406, S. 181 (20. Juli 1787). 162
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert
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Kuratus hatte die Zitation bekannt zu machen. Er erhielt auch den Auftrag, namens des Gerichts die weltliche Behörde zu ersuchen, die auf den Feldern der Klägerin stehenden Früchte „mit Kundschaft einzuthun“.169 Inzwischen kam der 22. August 1787 heran. Der Kuratus meldete, daß die Früchte in eine besondere Scheuer gebracht worden seien.170 Beide Eheleute erschienen vor Gericht. Der Ehemann legte ein Parere des Oberamtsphysikus zu Stromberg171 vor, wonach er ohne weiteres den ehelichen Beischlaf vollziehen könne, wie er ihn auch schon oft bei seiner Frau vollbracht habe. Daß sich daraus keine Nachkommenschaft ergeben habe, daran sei nicht er, sondern seine Frau schuld, weil sie während des Ehestandes „ihre weiblichen Umständen“ nur dreimal gehabt habe und seit einem Jahre überhaupt nicht mehr habe. Ohne Frau könne er in seiner Haushaltung nicht bestehen. Er erbiete sich daher, von seinen Eltern wegzuziehen und dadurch viele Verdrießlichkeiten abzuschneiden sowie seine Frau „wohl und gut“, wie es einer Frau gebührt, zu halten, ihr und dem Hauswesen vorzustehen und sie durch einen Arzt behandeln zu lassen. Er bat, die interimistische Separation wieder aufzuheben und seiner Frau zu befehlen, fernerhin mit ihm ehelich zu leben, auch die mit Kundschaft eingetanen Früchte ihm wieder einzuräumen. Die Ehefrau erklärte sich bereit, wiederum zu ihrem Manne zurückzukehren und mit ihm einig und friedsam zu leben, wenn er all das erfüllen wolle, was er zu Protokoll gegeben habe. Das Gericht ließ es bei der beiderseitigen Erklärung bewenden und gab den Gatten heilsame Mahnungen auf den Weg. Dem Mann wurden alle Mißhandlungen der Frau schärfstens verboten, und beiden Eheleuten wurde auferlegt, fromm und christlich miteinander zu leben. Die weltliche Behörde war zu ersuchen, daß die mit Kundschaft eingetanen Früchte dem Ehemann wieder übergeben werden.172 In diesem Falle lag anscheinend bei der Frau impotentia generandi vor, wogegen die potentia coeundi vorhanden war. Das Urteil konnte daher nicht auf Nichtigkeit der Ehe lauten. 18. An sich ist es Sache der Verlobten, zu entscheiden, ob sie miteinander die Ehe eingehen können und wollen. Wenn der zuständige Pfarrer aufgrund seiner Kenntnis der Personen die Befürchtung hegt, ein Brautteil sei zur Eingehung der Ehe nicht tauglich, kann er den Verlobten von seiner Besorgnis Kenntnis geben.173 Schwerwiegende Gründe mögen es ihm in einem Einzelfall angeraten sein lassen, die Bischöfliche Behörde von seinen Bedenken zu unterrichten. Der Michael Lorenz aus Zeilsheim174 und die Maria Hassemann aus Hattersheim175 bestanden auf dem Vollzug ihres Eheversprechens, obwohl der Bräutigam nach Ansicht des Pfarrers Heinrich Philipp Embs zu Zeilsheim mit einer natürlichen und „ganz in169
DA Mainz 1/406, S. 181 – 182 (20. Juli 1787). DA Mainz 1/406, S. 213 (22. August 1787). 171 Handbuch des Bistums Trier, S. 496 f. 172 DA Mainz 1/406, S. 213 – 215 (22. August 1787). 173 Vgl. Schnitzer, Katholisches Eherecht (Anm. 1), S. 118. 174 Handbuch des Bistums Limburg, S. 141. 175 Handbuch des Bistums Limburg, S. 17 f. 170
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Eherecht
curabeln“ Impotenz behaftet war. Der Pfarrer wies ein Gutachten des Oberamtsphysikus Franz Jakob Schmitt vor, wonach der Bräutigam aus den in Viso reperto angeführten Ursachen ganz sicher als „untauglich zur Generation“ zu halten sei. Der Lorenz erklärte dagegen dem Gericht, er erachte sich ad generandum fähig und könne es auf eine weitere Untersuchung ankommen lassen; der Amtsphysikus zu Höchst Franz Jakob Schmitt sei ihm „nicht gut“. Das Gericht ersuchte nun den Hofgerichtsrat und Professor Franz Anton Metternich in Mainz, den Lorenz auf dessen Kosten zu untersuchen, ob er zur Kindererzeugung fähig und in dieser Hinsicht sich zu verehelichen imstande sei.176 Metternich zog noch einen weiteren Arzt bei oder ein solcher wurde ihm vom Gericht zugesellt. Die Professoren Weidemann und Metternich übersandten alsbald ihr Visum repertum; es stimmte mit jenem des Amtsphysikus Schmitt zu Höchst überein. So entschied das Gericht: Die nachgesuchte Vollziehung des Eheversprechens wurde untersagt. Der Pfarrer Embs zu Zeilsheim wurde angewiesen, die beiden Verlobten nicht zu kopulieren.177 Das war eine harte Entscheidung, denn sie verlegte ihnen den Weg zur Ehe. Die beiden Verlobten gaben sich damit nicht zufrieden und kämpften weiter um ihre Verehelichung. Doch das Gericht beharrte darauf.178 Der Lorenz ging nun den Kurfürsten persönlich an. Das Gericht blieb jedoch unbeirrt bei seiner Entscheidung.179 Später übergaben die beiden Verlobten „Zeugnisse ihres Wohlverhaltens“. Der Bräutigam legte ein Visum repertum von dem Vicedom-Amtschirurgen zu Aschaffenburg vor mit der Bitte, ihm die Kopulation zu gestatten. Das Gericht blieb davon ungerührt.180 Der Mann ging nun das Vikariat (als zweite Instanz) an. Das Vikariat sandte dem Gericht die Vorstellung des Bräutigams mit Anlagen zu. Das Gericht machte seinerseits dem Vikariat sämtliche Akten zugänglich.181 Das Verfahren ging dann weiter vor dem Mainzer Metropolitangericht.182 Das Geistliche Gericht übersandte ihm die Akten.183 Es bestand Personengleichheit zwischen dem Vikariat als Gericht zweiter Instanz und dem Metropolitangericht; der Unterschied lag darin, daß ursprünglich das Vikariat als zweite Instanz für erstinstanzliche Sachen aus der Diözese Mainz, das Metropolitangericht für solche aus den Suffraganbistümern zuständig war. Später kamen auch die erstinstanzlichen Sachen aus der Diözese Mainz vor das Metropolitangericht. Das Metropolitangericht faßte nun den Beschluß, sämtliche Akten der Mainzer medizinischen Fakultät zugänglich zu machen mit dem Ersuchen, praevia inspectione ihr Gutachten darüber zu erstatten, ob Lorenz ad copulam generationi aptam habilis sei. Der Pfarrer von Zeilsheim hatte ihm aufzugeben, sich beim Dekan der medizinischen Fakultät, Johann Peter Weide176
DA Mainz 1/406, S. 207 – 208 (18. August 1787). DA Mainz 1/406, S. 212 – 213 (22. August 1787). 178 DA Mainz 1/406, S. 226 (29. August 1787). 179 DA Mainz 1/406, S. 246 (19. September 1787). 180 DA Mainz 1/406, S. 301 (14. November 1787). 181 DA Mainz 1/406, S. 357 (12. Dezember 1787). 182 DA Mainz 1/621, S. 662 (6. Dezember 1787). 183 DA Mainz 1/621, S. 669 (13. Dezember 1787). 177
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert
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mann, zu melden.184 Dies scheint geschehen zu sein. Damit nahm die Sache eine für die Verlobten günstige Wendung. Die medizinische Fakultät übersandte nach zwei Monaten das verlangte Gutachten. Daraufhin faßte das Metropolitangericht den Beschluß, der Pfarrer zu Zeilsheim dürfe die Bittsteller kopulieren.185 Dauernde vorangehende Impotenz lag offensichtlich nicht vor. Das Metropolitangericht tagte in voller Besetzung: Provikar, Offizial, die Geistlichen Räte Schultheis, Schuhmann, Fiskal, Haerd, Koch, Chandelle, Becker, Schmeltzer, Krick, Scheidel, Franck, Kohlborn, dazu die Assessoren Bender und Seitz sowie der Accessista Brack. Abwesend waren der Generalvikar und die Räte Heimes, Jung, Hober und Ladrone.186
C. Schluß Man wird den gerichtlichen Behörden im Erzbistum Mainz in dem behandelten Zeitraum das Zeugnis ausstellen können, daß sie gewissenhaft und sorgfältig im Umgang mit dem Ehehindernis des geschlechtlichen Unvermögens verfuhren. Sie wußten, daß sie hier vor göttlichem Recht standen, das unbedingt zu respektieren war. Im Zweifel über das Vorliegen des Hindernisses wurde regelmäßig für den Bestand der Ehe entschieden. Ihre Auffassung von Impotenz entsprach dem Kenntnisstand und der Lehre im 18. Jahrhundert, die ungleiche Anforderungen an Mann und Frau stellten. Für die Feststellung des Sachverhalts bediente sich das Mainzer Vikariat stets der besten Ärzte, die ihm zur Verfügung standen, gewöhnlich Mitglieder der medizinischen Fakultät der Mainzer Universität oder Amtsärzte der Kommunen. Im Verfahrensrecht hielt man sich im allgemeinen an die normativen Vorgaben. Die archivalische Überlieferung ist lückenhaft. Doch scheint es, daß gelegentlich die eine oder andere Bestimmung unbeachtet blieb. Allerdings ist angesichts der Spärlichkeit des Materials regelmäßig nicht auszumachen, ob in einem Falle der förmliche kanonische Prozeß oder der Summarprozeß geführt wurde.
184
DA Mainz 1/621, S. 674 (20. Dezember 1787). DA Mainz 1/622, S. 41 (28. Februar 1788). 186 DA Mainz 1/622, S. 37. 185
Strafrecht
Die Infamie im Decretum Gratiani Wenn sich Gratian entschloß, in seinem Werk das kanonische Prozeßrecht darzustellen, dann kam er an der Infamie nicht vorbei. Denn zumal seit den pseudoisidorischen Fälschungen war sie mit dem Prozeßrecht unzertrennlich verknüpft. Nun stellt das Decretum Gratiani ausführlich und ziemlich vollständig ,,einen mit germanischen Elementen verquickten römischen Akkusationsprozeß“ dar, ,,wie er sich im 11. und 12. Jahrhundert aus dem Kampf zwischen dem germanisierten geistlichen Prozeß der Karolingerzeit und den wieder auf den reinen römischen Akkusationsprozeß zurückgehenden Rechtssätzen der pseudo-isidorischen Fälschungen entwickelt hatte“1. In diesem konnte die Infamie nicht fehlen. Finden sich doch gerade unter den auf das kanonische Verfahren bezüglichen Kanones zahlreiche pseudo-isidorische Dekretalen2, in denen die Infamie eine große Rolle spielt3. Mit Gratian und den Dekretisten hebt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Infamie, der die erwähnten Fälschungen endgültig Heimatrecht im kanonischen Recht verschafft hatten, an. In dem verhältnismäßig geringen Zeitraum von etwa einem halben Jahrhundert werden die hauptsächlichen Begriffe und Unterscheidungen erarbeitet. Was später hinzukam, ist wenig erheblich. So erhellt die Bedeutung des Magister Gratian für die Geschichte der Infamie4.
I. Begriff und Arten 1. Begriff Infamie ist für das Decretum Gratiani einerseits Verlust der allgemeinen Wertschätzung, des guten Namens, andererseits der unversehrten Rechtsstellung. In c. 28 D. 50 wird mit Isidor von Sevilla das Wort ignominia erklärt als ,,deiectio suli 1 E. Jacobi, Der Prozeß im Decretum Gratiani und bei den ältesten Dekretisten: ZRG kan. 3 (1913) 225. 2 W. Molitor, Über kanonisches Gerichtsverfahren gegen Kleriker (Mainz 1856) 116. 3 Dafür vgl. vorläufig meine Abhandlung: Die Infamie bei Benedikt Levita: ÖAfKR 11 (1960) 16 – 36. Siehe auch meine Abhandlung: Anklage- und Zeugnisfähigkeit nach der zweiten Sitzung des Konzils zu Karthago vom Jahre 419: ThQ 140 (1960) 200 – 205 sowie P. Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland V (Neudruck: Graz 1959) 42. 4 Mit der Darstellung der Infamie bei den Dekretisten und Dekretalisten ist Herr Peter Landau, wissenschaftlicher Assistent am Kirchenrechtlichen Seminar der Juristischen Fakultät in Bonn, befaßt. Ich beabsichtige nicht, mit dieser Untersuchung in seine Forschungen, die sich vor allem auf ungedrucktes Material stützen, einzugreifen.
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Strafrecht
nominis sive dignitatis“. Ignominia ist ein synonymer Ausdruck für infamia5. Der Gegensatz zu infamia ist bona fama wie in c. 3 C. 35 q. 6. In dem dictum p. C. 2 q. 3 wird als Strafe der unbeweisbaren Anklage neben der Talion das ,,dispendium existimationis“ angegeben, d. h. die Beeinträchtigung der Rechtsstellung. Bei existimatio richtet sich der Blick natürlich sofort auf Call. D. 50, 13, 5, 1: Existimatio est dignitatis inlaesae status, legibus ac moribus comprobatus. Es laufen also von Anfang an zwei verschiedene Bedeutungen des Wortes infamia nebeneinander her. Die eine besagt ein gesellschaftliches Werturteil, die andere eine hoheitliche Minderung der Rechtsstellung. Rufinus ad dictum p. c. 7 C. 2 q. 36 ersetzt das Wort existimatio durch den Ausdruck fama: Est igitur fama illese dignitatis status, moribus ac legibus comprobatus, in nullo diminutus, cuius merito quis ea potest, que homini libero licita sunt. Nachdem er erklärt hat, wodurch die fama vermindert oder vernichtet wird7, kommt er zu der Folgerung: infamia nihil est aliud quam diminutio vel consumptio fame. Die Gefahr, die in der Ersetzung von existimatio durch fama liegt, ist leicht erkennbar. Sie besteht darin, daß die Definition des Callistratus, die rechtlich bestimmt ist, gesellschaftlich verwendet wird. Kennt doch auch Rufinus die gesellschaftliche Bedeutung von infamia als ,,de aliquo sinister rumor“8. Stephanus ad dictum p. c. 7 C. 2 q. 309 und die Summa Parisiensis ad. C. 2 q. 310 und ad c. 2 C. 3 q. 411 sehen als das Wesen der Infamie den Verlust der fama an. 2. Arten a) Infamie als rechtlicher und als gesellschaftlicher Begriff Gratian kennt die Begriffe infamia iuris und infamia facti noch nicht, wohl aber kennt er die mit dieser Unterscheidung angezielte Sache. Er verwendet nämlich infamia im technischen und im untechnischen Sinne. Als technisch bezeichne ich 5
Vgl. M. Kaser, Infamia und ignominia in den römischen Rechtsquellen: ZRGrom 73 (1956) 227 – 235. 6 Die Summa Decretorum des Magister Rufinus, ed. H. Singer (Paderborn 1902), 245 s. 7 Hec ex delicto nostro auctoritate legum aut minuitur aut consumitur. Minuitur, quando libertate manente circa statum dignitatis quis pena plectitur, sicut cum relegatur vel movetur ordine vel honoribus fungi prohibetur. Consumitur quotiens magna capitis diminutio intervenit, i. e. cum libertas amittitur. 8 Dicitur etiam infamia de aliquo sinister rumor: in qua significatione quedam etiam loca dicuntur habere infamiam vel esse infamia. 9 Die Summa des Stephanus Tornacensis über das Decretum Gratiani, ed. J. F. von Schulte (Gießen 1891), 167: Infamia ergo est diminutio vel consumtio famae. 10 The Summa Parisiensis on the Decretum Gratiani, ed. T. P. McLaughlin (Toronto 1952), 104: die Worte Gratians ,cum dispendio existimationis‘ werden erklärt ,cum damno famae, hoc est cum nota infamiae, quod idem est‘. 11 P. 119: infamia ist gleich privatio famae.
Die Infamie im Decretum Gratiani
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jene Verwendung von infamia, in der dieses Wort eine Ehrenstrafe mit festen Rechtswirkungen bezeichnet. Eine untechnische Verwendung erblicke ich in der Bezeichnung des schlechten Rufes, in dem eine Person steht, mit infamia. Was später als infamia iuris bezeichnet werden wird, das ist bei Gratian die infamia als von Staat und Kirche verhängte Ehrenstrafe. Es ist überflüssig, hier Stellen für diesen Gebrauch anzugeben, da sich die ganze Untersuchung damit befaßt. Wohl aber sind einige Hinweise auf Stellen erforderlich, an denen die infamia in einer Bedeutung verwendet wird, die später als infamia facti bezeichnet werden wird. Weil die Weihe nicht nur für den Empfänger, sondern auch für andere von Wichtigkeit ist, ist es nötig, daß der Weihewerber nicht nur frei von Schuld, sondern auch frei von schlechtem Ruf sei12. An anderen Stellen fand Gratian diesen Sprachgebrauch bereits vor, so in c. 11 C. 6 q. 113, c. 9 C. 10 q. 114, c. 6 C. 30 q. 415, c. 1 C. 32 q. 516. Diese von mir untechnisch genannte Verwendung von infamia wurde von großer Bedeutung. Denn auf ihr baut sich das außerordentliche Strafverfahren per inquisitionem auf17. In diesem Sinne spricht Gratian von der ,,popularis infamia“18. Es ist das gleiche, was Rufinus als ,,sinister rumor“ bezeichnet19. 12 Dict. p. c. 43 C. 1 q. 1: Cetera enim sacramenta unicuique propter se dantur, et unicuique talia fiunt quali corde vel conscientia accipiuntur. Istud solum non propter se solum, sed propter alios datur, et ideo necesse est, ut vero corde mundaque conscientia, quantum ad se, sumatur, quantum ad alios vero non solum sine omni culpa, sed etiam sine omni infamia, propter fratrum scandalum, ad quorum utilitatem, non solum ut presint, sed etiam ut prosint, sacerdotium datur. Das gleiche wird im dict. p. c. 42 C. 1 q. 1 negativ gesagt: die Weihe wird verweigert non solum pro culpa, sed etiam pro infamia. 13 In c. ll C. 6 q. l führt Gregor der Große 2 Kor 6,8 an. Die Schmähungen der Bösen erfolgen zur Demütigung der Guten. Hinc est, quod doctor gentium se in praedicatione currere testatur inter infamiam et bonam famam, qui etiam dicit: Ut seductores et veraces. 14 In c. 9 C. 10 q. 1 beklagt die Synode zu Tribur (895) das Treiben mancher Bischöfe, welche die Visitation ihrer Diözesen vernachlässigen, aber die Auslösung der mansiones verlangen: Que duplex infamia, negligentiae et avaritiae, sanctae sinodo magno fuit horrori. Vgl. dazu die treffende Erklärung der Summa Parisiensis (p. 143). Irrig A. Mühlebach, Die Infamie in der decretalen Gesetzgebung (Paderborn 1923) 60. 15 In c. 6 C. 30 q. 4 erläutert Urban II. das Verbot, daß Mann und Frau zugleich Taufpaten bei dem Kinde eines Dritten sind, dahin, ut puritas spiritualis paternitatis ab omni labe et infamia conservetur immunis. 16 In c. 1 C. 32 q. 5 steht das vielzitierte Wort des Ambrosius aus seiner Schrift über die Jungfrauen: Ubicumque Dei virgo est, templum Dei est; nec lupanaria infamant castitatem, sed castitas etiam loci abolet infamiam. Vgl. dazu die Glosse (Lyon 1517) fol. CCCXXXVII v. 17 Vgl. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte I: Die katholische Kirche (Weimar 21954) 388 f.; W. M. Plöchl , Geschichte des Kirchenrechts II: Das Kirchenrecht der abendländischen Christenheit 1055 bis 1517 (Wien – München 1955) 316 ff. 18 In dem dict. p. c. 4 C. 2 q. 5 handelt Gratian über die Erlaubtheit des Eides für Priester. Wenn die Eidesleistung auch grundsätzlich verboten ist, so gilt doch: Cum autem populari infamia sacerdotes obprimuntur, tunc ad innocentiae suae assertionem iuramenta debent offerre. Gleichbedeutende Ausdrücke sind Gratian rumor sinister, instans iurgium, mala fama, als Tätigkeitswort infamari. Vgl. die Zusammenstellung bei Molitor 94. 106 ff. Siehe auch
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Strafrecht
Bei Stephanus ist dann die folgenschwere Unterscheidung in infamia iuris und infamia facti da. Zu den Worten ,,Testes absque ulla infamia“ bemerkt er ad c. 39 C. 2 q. 720 : De illa infamia intellige, quae iuris est, non quae facti tantum. Selbstverständlich bedient man sich in der Folgezeit ihrer21. Die Unterscheidung ist wohl keine Schöpfung der jungen Kanonistik, sondern der Legistik. Die Frage harrt noch der Klärung. b) Infamie des weltlichen und des kirchlichen Rechts Die von den pseudo-isidorischen Fälschungen entwickelte Unterscheidung zwischen einer Infamie, die von der weltlichen Obrigkeit verhängt wird, und einer Infamie, die von der kirchlichen Obrigkeit verhängt wird, wird im Decretum Gratiani entsprechend der Quellenlage selbstverständlich beibehalten. In c. 2 C. 6 q. 1 wird mit einem aus den Capitula Angilramni stammenden Wort die doppelte Quelle sichtbar gemacht, aus der die Infamie fließen kann: das staatliche Recht und das kirchliche Recht22. Gratian hat die Unterscheidung zwischen infamia civilis und canonica, die in Pseudo-Isidor bereits ihre Wurzeln hat, sachlich gefördert, ohne freilich die Begriffe als solche zu benutzen23.
c. 42 D. 2 de cons. die confessio Berengarii auf dem römischen Konzil von 1059: Ego Berengarius … anathematizo omnem heresim, precipue eam, de qua hactenus infamatus sum. 19 P. 246. Rufinus ad dict. p. C. 3 q. 4 (p. 264) kennt auch eine levis infamia, die jene trifft, welche eine Ehe eingehen preter nuptiarum sollempnia. 20 P. 187. 21 Statt vieler verweise ich nur auf Huguccio (F. Gillmann, Zur Geschichte des Gebrauchs der Ausdrücke ,irregularis‘ und ,irregularitas‘: AfkKR 91 (1911) 66) und die Glosse (ad c. 2 C. 3 q. 7 v. infamia: fol. CLVII v): Infamia alia iuris, alia facti. Beachtlich ist, daß die Summa Parisiensis ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 (p. 104 s.) noch unterscheidet zwischen einer infamia, die ist fama publica mala quae habetur de alio, und einer infamia, die ist privatio urbis secundum quod aliquis non possit testificari, facere testamentum vel promoveri ad ordines. Die erstere kann der Papst nicht tilgen, die letztere kann der iudex, der Papst oder ein anderer tilgen. 22 Es wird angegeben, unter welchem Gesichtspunkt die Infamen des kirchlichen Rechts zu bestimmen sind: unter dem Gesichtspunkt der Tauglichkeit zur Weihe. Wer davon wegen einer Schuld ausgeschlossen wird, ist infam kraft kirchlichen Rechts. Alle jene, aber auch nur jene Schuld macht infam, die zum Ausschluß von der Weihe führt. 23 In dem dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 unterscheidet Gratian zwischen den infames lege canonum und den infames lege (a legibus) seculi. Zwischen beiden Gruppen bestehen Berührungen, aber keine Deckung. Einige der von den leges seculi für infam Erklärten werden es nicht nach der lex canonum. Wenn man sowohl lege canonum wie legibus seculi infam werden kann, ist damit ein jeweils verschiedener Entstehungsgrund der Infamie vorausgesetzt; sowohl die kirchliche wie die staatliche Gewalt kann die Infamie verhängen. Sodann wird die Unfähigkeit der Kirche, die Infamie aufzuheben, auf jene Infamie beschränkt, die vom weltlichen Richter verhängt wurde; sie untersteht in Untersuchung, Verhängung und Aufhebung dem weltlichen Richter. Mithin ist die Kirche befugt, eine von ihr verhängte Infamie aufzuheben.
Die Infamie im Decretum Gratiani
313
Die Frühkanonistik hat darauf weitergebaut24. Infamie des kirchlichen und Infamie des weltlichen Rechtes unterscheiden sich hauptsächlich in Verhängung und Nachlassung, bemerkt Stephanus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 225. Die Summa Parisiensis unterscheidet innerhalb der infamia criminalis eine infamia ecclesiastica und eine infamia saecularis26. Bernhard von Pavia unterscheidet in seiner Einteilung der poena canonica zwischen der poena spiritualis, corporalis und pecuniaria; zu der poena spiritualis gehört neben anderen auch die infamia27. Aber auch in der Einteilung der poena legalis erscheint die infamia28.
II. Weisen des Eintritts Hinsichtlich des Eintritts der Infamie hält sich das Decretum Gratiani einfach an das römische Recht29. In c. 2 § 20 C. 3 q. 7 wird erklärt, die Infamie trete auf vielfältige Weise ein. Erstens ziehe man sie sich zu, wenn ein bestimmtes Vergehen durch richterlichen Spruch festgestellt werde30. Zweitens trete sie ein, wenn eine bestimmte Strafe für ein Vergehen verhängt werde31. Drittens unterliege ihr, wer wegen eines bestimmten durch richterlichen Spruch festgestellten Vergehens mit
24
48 f. 25
Vgl. E. Eichmann, Die Ehre im Kirchenrecht: ThGl 28 (1936) 698; Mühlebach 43 f.,
P. 167 s: Infamia autem, quae per civilem iudicem irrogatur, a solo principe remitti potest; quae autem ab ecclesiastico iudice infertur, apostolicus potest remittere. Quod ergo Gelasius dicit: infamiam etc., de illa infamia dicit, quam leges securales irrogant. Eam enim princeps inferre debet, quoniam legum conditor est, et eam solus princeps remittit. Quam vero canones inferunt, apostolicus remittere potest, qui et condendorum canonum ius habet. 26 Summa Parisiensis ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 ,non est contrarium‘ etc. (p. 104 s.): quia cum iudicamus infames quos leges saeculi, de eis intelligimus quae habentur institui secundum leges, in quibus pro transgressione possunt leges irrogare infamiam. Sed matrimonium hodie non secundum leges fit, sed secundum canones. Der Staat kann also seine Infamie nur in seinem Zuständigkeitsbereich androhen, wozu die Ehe nicht mehr gehört. Die infamia ecclesiastica etwa für Simonie oder Wiederholung der Taufe wird vom geistlichen Richter verhängt (sed potest papa delere infamiam illius, qui sub suo iudicio infamis iudicatur), die infamia saecularis etwa für furtum und Ehebruch u. ä. (quorum poena definitur in legibus) wird vom weltlichen Richter verhängt (si ergo saecularis iudex, sive in civilibus …, sive in criminalibus, irroget infamiam suo iudicio subditis). 27 Bernardi Papiensis Summa decretalium, ed. E. A. Th. Laspeyres (Neudruck: Graz 1956). V, 32, 4 (p. 265). 28 Summa decretalium V, 32, 5 (p. 266). 29 Auf die Thesen von A. Vetulani, Gratien et le droit Romain: Revue historique de droit français et étranger 24/25 (1946/47) 11 – 48 ist hier nicht einzugehen. 30 Infamia multipliciter irrogatur. Aliquando enim contrahitur genere delicti declarati per sententiam, veluti cum iudex pronunciat: iniuriam fecisti, hereditatem expilasti, calumpniatus es. 31 Aliquando genere poenae, sicut illi, qui dampnantur in opus publicum, qui pristinum statum obtinent, sed dampno infamiae etiam post inpletum tempus subiciuntur.
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Strafrecht
einer bestimmten Strafe belegt werde32. Viertens werde infam, wer bestimmte Handlungen vornehme33. Die im Anhang der Summa magistri Rolandi stehenden Incerti auctoris quaestiones lassen die Infamie entstehen einmal aufgrund eines Vergehens und zum anderen aufgrund einer Strafe oder feierlichen Buße. Das Vergehen muß jedoch dem größten Teil der Nachbarn bekannt sein34. Rufinus unterscheidet ein Eintreten der Infamie von Rechts wegen und aufgrund richterlichen Spruches. Von Rechts wegen tritt die Infamie wegen bestimmter anrüchiger Handlungen ohne Rücksicht auf eine Verurteilung ein. Aufgrund richterlichen Spruches kann man in zweifacher Weise infam werden, einmal wegen der verhängten Strafe, zum anderen wegen des Vergehens, wobei der Richter es im ersten Falle in der Hand hat, durch Verhängung einer größeren oder geringeren Strafe den Eintritt der Infamie hintanzuhalten35. Ihm folgt Stephanus36. 32
Aliquando genere poenae et delicti declarati per sententiam, veluti dum fustibus ceso per preconem dicitur: sicophantis, id est: calumpniator. 33 Aliquando ipso genere facti, ut exercentes inprobum fenus et illicite exigentes usuras usurarum, et que intra tempus, quo moris est lugere maritum, matrimonium contrahit, et qui sciens eam uxorem duxit. 34 Die Summa Magistri Rolandi nachmals Papstes Alexander III. nebst einem Anhange Incerti auctoris quaestiones, ed. F. Thaner (Innsbruck 1874), IV (p. 241): Infamia quandoque fit ex crimine, quandoque ex genere poenae vel ex poenitentia sollempni aut verberatione, quae fit in civitate pro aliquo crimine commisso vel ex bigamia. In unoquoque vero istorum crimine intelligendum est, quando maxima pars totius viciniae eum infamem fore asserit. 35 Rufinus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 (p. 246): Irrogatur autem infamia secundum leges duobus modis: aliquando ipso iure, aliquando per sententiam. Ipso iure, i. e. ex genere delicti, non inspecta sententia, efficitur quis infamis, ut: ea, que nubit infra tempus luctus, vel qui sciens eam duxerit sine auctoritate principis, nisi forte fecerit iussu eius, in cuius est potestate; item qui artem ludicram exercuit, qui lenocinium fecit, qui duas uxores vel sponsas simul habuit, et qui usuras usurarum exegit. Item per sententiam quis infamis constituitur duobus modis: alias contemplatione pene, alias pene genere non inspecto. Non inspecto genere pene, ut condempnatus furti, iniuriarum, vi bonorum raptorum, et in aliis pluribus. Per sententiam genere pene inspecto quis infamis efficitur, ut in eo, qui relegatur vel ab ordine movetur vel fustibus castigatur. Ubi autem ex genere pene irrogatur infamia, iudex maiorem vel minorem certis rationibus motus imponendo penam remittere videtur infamiam. 36 Stephanus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 2 (p. 167): Auctoritate legum minuitur fama et irrogatur infamia alias ipso iure, vel per sententiam. Ipso iure, i. e. ex genere delicti, non expectata sententia, efficitur quis infamis, ut ea, quae nubit infra tempus luctus, vel qui sciens eam ducit sine auctoritate principis, nisi forte eius iussu fecerit, in cuius potestate ipse est, item qui artem ludicram exercuit, qui lenocinium fecit, qui duas uxores vel duas personas simul habuit; et secundum quosdam qui usuras usurarum exegit. Per sententiam, alias genere poenae non inspecto, alias poenae genere inspecto; genere poenae non inspecto, ut condemnatus furti. iniuriarum, vi bonorum raptorum et in quibusdam contractibus vel quasi, ut mandati, pro socio, depositi, tutelae, negotiorum gestorum, directis non contrariis actionibus, excepta contraria mandati in causa fideiussionis contraria. Et nota, qui sententia iudicis condemnatus quis infamatur, et non arbitri. Per sententiam genere poenae inspecto efficitur quis infamis, ut in eo, qui relegatur, vel ab ordine movetur, vel fustibus castigatur, ei hoc ita, cum de crimine constat. Ubi autem ex genere poenae irrogatur infamia, iudex vel maiorem imponendo poenam, vel certis rationibus motus minorem, transigere videtur cum infamia.
Die Infamie im Decretum Gratiani
315
III. Mit Infamie bedrohte Vergehen Es finden sich im Decretum Gratiani mehrere umfangreiche Aufzählungen von Infamen, Infamenkataloge, die ohne Ausnahme aus den pseudo-isidorischen Fälschungen stammen. Dies sind vor allem c. 17 C. 6 q. 137, c. 9 C. 3 q. 538, c. 2 C. 6 q. 139 und c. 3 C. 6 q. 140. Aus ihnen sind die mit Infamie bedrohten Vergehen zu entnehmen: 1.
Vergehen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche. a) Häresie41. b) Apostasie in der Gestalt der Glaubens- und der Ordensapostasie sowie der Aufgabe des geistlichen Standes42. c) Schisma43.
2.
Vergehen gegen die Religion. a) Gräberschändung44. b) Angehen von Weissagern und Zeichendeutern45.
37
Die Quelle ist Ps.-Stephanus ep. I c. 2 (P. Hinschius, Decretales Pseudoisidorianae et Capitula Angilramni, Leipzig 1863, 182). 38 Aus Ps.-Eusebius ep. III c. 18 (Hinschius 239). 39 Aus Capitula Angilramni c. 21 (Hinschius 762). 40 Aus Ps.-Fabianus ep. II c. 18 (Hinschus 164). Die pseudo-isidorischen Infamenkataloge enthalten vor allem die Vergehen, mit denen sich die kirchliche Gesetzgebung am häufigsten befaßte: Vergehen gegen den Glauben, die Sitten und das Leben (vgl. J. Gaudement, L’Église dans l’empire Romain (IVe–Ve siècles), Paris o. J., 272). 41 Alieni erroris societatem sectantem (c. 1 C. 3 q. 4); alieni erroris socium (c. 23 C. 2 q. 7). Bernhard von Pavia V, 6, 3 (p. 214) erwähnt unter den zahlreichen Strafen, die den Häretiker treffen, auch den Ausschluß vom Zeugnis, der wohl als pars pro toto steht. 42 Qui Christianae legis normam abiciunt et statuta ecclesiastica contempnunt (c. 17 C. 6 q. 1); a sui propositi tramite recedentem (c. 1 C. 3 q. 4); qui legem suam sponte transgreditur … qui Christianae religionis et nominis dignitatem, et suae legis vel sui propositi normam aut regulariter prohibita neglexerint (c. 2 C. 3 q. 4). Vgl. auch c. 3 C. 3 q. 4. Bernhard von Pavia teilt die Apostasie in apostasia fidei, inobedientiae und irregularitatis ein; die Strafe ist die Infamie (V, 8, 1 p. 217 s.). 43 Dieses Vergehen möchte ich in den Worten apostolicae sedis iussionibus inobedientem (c. 1 C. 3 q. 4) und qui … apostolicam … postponunt libenter auctoritatem (c. 23 C. 2 q. 7) ausgesprochen finden. Freilich ist es bei der wässerigen Form, in der Pseudo-Isidor seine Gedanken vorträgt, nicht leicht, scharf umrissene Straftatbestände aufzustellen. 44 Sepulchrorum … violatores (c. 17 C. 6 q. 1). Treffend erklärt die Summa Parisiensis zur Stelle (p. 131): i. e. eos, qui vel Iudaeorum vel quorumlibet aperiunt sepulchra furtim ut vestes mortui vel aliquid inde surripiant. 45 Qui ad sortilegos divinosque concurrerint (c. 9 C. 3 q. 5). Nach Bernhard von Pavia werden auch die sortilegi und divinatores mit Infamie bestraft (V, 17, 5 p. 242). Er beruft sich dabei – freilich zu Unrecht – auf c. 3 C. 2 q. 8.
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Strafrecht
c) Zauberei46 d) Sakrileg47. e) Meineid48. 3.
Vergehen gegen die kirchliche Hierarchie. a) Ungehorsam49. b) Verschwörung50. c) Nachstellungen gegen Bischöfe51. d) Anklage von Bischöfen52. 46
Malefici (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). Sacrilegi (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). 48 Periuri (c. 17 C. 6 q. 1; c. 18 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5; c. 7 C. 22 q. 5), Vgl. Rufinus ad c. 18 C. 6 q. 1 (p. 282). Zum periurium vgl. M. David, Parjure et mensonge dans le Décret de Gratien: Studia Gratiana III (Bologna 1955) 117 – 141. 49 Si autem vobis episcopis non obedierint omnes presbiteri, et reliqui clerici etc. (c. 11 C. 11 q. 3). 50 Conspiratores (c. 5 C. 3 q. 4; c. 22 C. 11 q. 1). Dies wird von der Summa Parisiensis ad c. 5 C. 3 q. 4 (p. 119) erklärt: qui iuramentum faciunt adversus aliquem iniuste. 51 Omnes qui adversus patres armantur (c. 17 C. 6 q. 1). si quis clericorum suis episcopis infestus aut insidiator extiterit (c. 31 C. 11 q. 1). hii qui episcopos persecuntur et amovere nituntur iniuste contra apostolicam auctoritatem (c. 9 C. 3 q. 4). omnes qui adversus patres armantur ut patrum invasores infames esse censemus (c. 13 C. 3 q. 5). omnes qui adversus patres, i. e. sacerdotes armantur (c. 8 C. 6 q. 1). Vgl. Rufinus ad c. 31 C. 11 q. 1 (p. 311) und Summa Parisiensis ad c. 9 C. 3 q. 4 (p. 119). Siehe auch J. Hollweck. Die kirchlichen Strafgesetze (Mainz 1899) 216 § 143 A. 7. 52 Detractores, qui divina auctoritate eradicandi sunt, et auctores (actores?) inimicorum ab episcopali submovemus accusatione vel testimonio (c. 10 C. 3 q. 4). Dies erklärt die Summa Parisiensis ad c. 10 C. 3 q. 4 (p. 119): Detractores, qui fere omnibus detrahunt, et actores. Actor alicuius dicitur qui exercet negotia eius. Si ergo aliquis episcopus habeat actorem suum, et ille episcopus alii episcopo inimicetur, actor suus non poterit illum episcopum accusare. – nostri … detractores, et morum corruptores nostrorum (c. 15 C. 6 q. 1). qui episcopum suum accusaverit, aut ei insidiator extiterit (c. 8 C. 3 q. 4). Das pseudo-isidorische Verbot, Bischöfe anzuklagen, hat Gratian nicht geringe Verlegenheit bereitet. Er sucht es einzuschränken auf die bösen Christen. So sagt er im dict. p. c. 13 C. 2 q. 7: His auctoritatibus probatur, quod subditi, sive sint laici sive clerici, prelatos suos accusare non possunt. Verum de criminosis et de infamibus hoc intelligendum est, qui vitam prelatorum suorum parati sunt reprehendere, non imitari. Ähnlich im dict. p. c. 21 C. 2 q. 7: Ex his omnibus datur intelligi, quod illi ab accusatione removentur, qui non affectu karitatis, sed pravitate suae actionis vitam eorum diffamare et reprehendere querunt. § 1. Quod vero premissis auctoritatibus criminosi prohibeantur ab accusatione prelatorum, testatur Aug. in lib Soliloq.: c. 22 C. 2 q. 7: nicht allen Untertanen, sondern nur den verbrecherischen wird verboten, Prälaten anzuklagen. In dem dict. p. c. 22 C. 2 q. 7 erklärt Gratian in § 1, der als Einwand vorgebrachte pseudo-isidorische Satz: ,Oves pastores suos non accusent, nec reprehendant, nisi a fide exorbitaverint‘ habe nur von den oves criminosi et infames zu gelten. Diese dürfen ihre geistlichen Vorgesetzten nur bei Glaubensabfall anklagen. Die anderen Gläubigen dürfen also die Prälaten auch in anderen Fällen anklagen. – Gratian legt noch eine zweite Lösung der Frage vor. Im dict. p. c. 27 C. 2 q. 7 schließt er in § 6 längere Erörterungen ab mit dem Satz: Cum ergo subditi eo ipso, quod in 47
Die Infamie im Decretum Gratiani
4.
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Vergehen gegen die Ehre. ¢ Anfertigung von Schmähschriften53.
5.
Vergehen gegen kirchliche Sachen. ¢ Raub und Belastung von Kirchengut54.
6.
Vergehen gegen das Leben. a) Mord55. b) Giftmischerei56.
7.
Vergehen gegen die Freiheit. ¢ Entführung57.
8.
Vergehen gegen die guten Sitten.
accusatione prelatorum prosiliunt, infames efficiantur, infamibus autem copia accusandi denegetur, patet, quod subditi prelatos suos accusare non possunt. Auf diese pseudo-isidorische Kalamität gibt er jedoch in § 7 die lapidare Antwort: His itaque respondetur: Omnes prelati non pro prelatis habentur; nomen enim non facit episcopum, sed vita. Nach mehreren für diesen Satz angeführten Belegstellen heißt es im dict. p. c. 31 C. 2 q. 7: patet, quod non semper pro officio vel auctoritate peraonae ab accusatione est cessandum, imo contra pravos est agendum, cum omnis persona criminaliter agens alteretur, et (ut ita dicam) capite minor legibus censeatur. Qui autem facit peccatum, servus est peccati tam in pena quam in culpa. Im dict. p. c. 32 C. 2 q. 7 wird noch deutlicher zwischen der (erlaubten) Anklage unwürdiger und der (unerlaubten) Anklage würdiger Prälaten unterschieden: Aparet ergo illi ex accusatione prelatorum infames fiunt, qui eorum vitam reprehendere et lacerare conantur, qui locum sui regiminis non nomine tantum, sed vita et moribus tenent. Alii autem potius laudabiles fiunt ex accusatione prelatorum suorum, quam infames. Im dict. § 5 p. c. 39 C. 2 q. 7 ist Gratian endlich soweit, daß er sagen kann: Ecce, quod prelati iure possunt reprehendi a subditis. Ebenso in dict. p. c. 42 C. 2 q. 7, dict. p. c. 52 C. 2 q. 7 und dict. p. c. 60 C. 2 q. 7. Dazu vgl. die Summa Parisiensis ad c. 27 C. 2 q. 3 ,His ita‘ (p. 114): quasi non debeat aliquis accusare praelatum, qui praelatus est non solum nomine sed etiam munere, non numero sed merito. Si vero solo nomine fuerit praelatus, accusari potest, quare cum dicitur ,superior ab inferiore‘, non debet intelligi stricte dignitate, sed etiam merito, et hoc probat. 53 c. 3 C. 5 q. 1 setzt den Kirchenbann, c. 1 C. 5 q. 1 die Geißelung als Strafe fest. Die Summa Parisiensis ad c. 1 C. 5 q. 1 (p. 128) sagt dagegen: Leges saeculi per scriptum per cantilenam aliquos infamantes capitaliter puniunt. Sed canones flagellant et infames reddunt si sit manifestum. 54 Qui indigna sibi petunt loca tenere aut facultates ecclesiae auferunt iniuste (c. 17 C. 6 q. 1). ne predia usibus secretorum celestium dicata a quibusdam irruentibus vexentur (c. 13 C. 17 q. 4). Vgl. Mühlebach 59. 55 Homicidae (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). 56 Venefici (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). 57 Raptores (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). Zu ,raptum‘ in c. 9 C. 3 q. 5 bemerkt Rufinus (p. 267): virginum scilicet, zu ,de raptoribus‘ in c. 4 § 2 C. 3 q. 4 (p. 265): virginum, praesertim sacrarum, zu ,seniores‘: dominos suos vel prelatos, zu ,impetunt‘: violentas manus iniciendo vel calumpniose accusando, zu ,hos‘: scil. raptores et eos, qui impetunt seniores.
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Strafrecht
a) Ehebruch58. b) Inzest59. 9.
Vergehen gegen das Eigentum. a) Diebstahl60. b) Wucher61. c) Raub62.
10. Fälschungsvergehen. 58
Adulteri (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). Vgl. dazu die Glosse ad c. 5 C. 15 q. 8 (fol. CCXXVII v). Gratian rechnet unter adulterium auch die Unzucht des Priesters mit seiner geistlichen Tochter (c. 9 C. 30 q. 1), das Zusammenleben im Konkubinat, besonders mit einer Unfreien (c. 2 C. 32 q. 2; c. 9 und 15 C. 32 q. 4) sowie die unmäßige Geschlechtsbefriedigung (c. 5 C. 32 q. 4); so W. Plöchl, Das Eherecht des Magisters Gratianus (Leipzig – Wien 1935) 89 ff. 59 Incestuosi (c. 17 C. 6 q. 1); incesti (c. 9 C. 3 q. 5). Inzest bedeutet nicht nur die verbotene Verbindung zwischen Blutsverwandten und Verschwägerten (wie in c. 2 C. 35 q. 2 et 3, dazu Summa Parisiensis p. 260, und c. 4 C. 35 q. 6, dazu Summa Parisiensis p. 267), sondern auch die unerlaubte Eingehung einer Ehe durch gottgeweihte Jungfrauen (c. 9 D. 27); vgl. Plöchl 88. Zu dem dict. p. C. 3 q. 4 (Quod vero infames et non legitime coniuncti ad accusationem admitti non debeant, et qui generaliter ab accusatione removendi sint, multorum auctoritatibus claret, vgl. c. 4 C. 3 q. 4) bemerkt Rufinus (p. 264 s.): Bei den non legitime coniuncti sind zwei Gruppen zu unterscheiden, vel quia non fuerunt inter se legitime persone ad coniugium ineundum, vel si fuerunt legitime, non tamen secundum statuta canonum et debita sollempnia nuptiarum contraxerunt matrimonium, sicut illi, qui sine dotali titulo et benedictione sacerdotis coniuncti sunt. Priores non legitime coniuncti sunt infames ipso iure, nisi forte per ignorantiam coniuncti essent, et tamdiu infames sunt, donec separentur purgato crimine per penitentiam. Unde peracta penitentia admittentur ad accusationem. Illi autem, qui preter debita nuptiarum sollempnia coniuncti sunt, levi infamia asperguntur et ideo, mox ut ecclesie satisfecerint, ad accusationem admittentur. Die Summa Parisiensis kommentiert die gleiche Stelle wie folgt (p. 119): Alii nesciunt nesciente ecclesia, alii sciunt nesciente ecclesia, et illi et isti, qui ab ecclesia legitime coniuncti iudicantur, non sunt infames, non repellentur a testimonio. Si vero et ipsi sciant se male esse coniunctos et ecclesia sciat, isti tales repelluntur. Zu consanguineorum vel absque dotali in c. 4 C. 3 q. 4 bemerkt die Summa Parisiensis (p. 119): Hoc falsum erit, nisi intelligatur haec definitio matrimonii insufficiens et posita pro descriptione, ut dicatur, ,absque dotali‘, i. e. absque legitimo matrimonio. 60 Fures (c. 17 C. 6 q. 1; c. 9 C. 3 q. 5). 61 C. 2 § 20 C. 3 q. 7 spricht über die Weise, wie Infamie entsteht: Aliquando ipso genere facti, ut exercentes inprobum fenus (vgl. C. 2, 12, 20) et illicite exigentes usuras usurarum. Gratian hat c. 13 des 2. Laterankonzils vom Jahre 1139, worin ein allgemeines Wucherverbot aufgestellt und der Wucherer für infam erklärt wird, nicht in das Dekret aufgenommen. Vgl. K. Weinzierl, Das Zinsproblem im Dekret Gratians und in den Summen zum Dekret: Studia Gratiana I (Bologna 1953) 555 A. 17. – Die Summa Parisiensis bemerkt zu c. 10 D. 46 (p. 42): ,Sicut non‘, quasi nec suo nomine, nec in pecunia alterius, vel alterius nomine, debet exigere usuras, quia prohibitum est in decretis, licet concedatur in legibus. Und zu C. 14 q. 4 ,Quam vero‘ (p. 170): Iure fori licet usuras exigere, sed iure canonum tam clericis quam laicis est prohibitum. Auf die Infamie der Wucherer scheint auch zu deuten, daß sie nicht geweiht werden dürfen (c. 4 D. 47). 62 Qui raptum fecerunt (c. 9 C. 3 q. 5).
Die Infamie im Decretum Gratiani
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a) Falsche Zeugnisleistung63. b) Falsche Anklage64. 11. Vergehen bei Spendung und Empfang der Weihe. ¢ Simonie65. 12. Vergehen bei Verleihung kirchlicher Ämter. ¢ Intrusio66. 13. Vergehen gegen die Wehrhaftigkeit. ¢ Wehrdienstverweigerung und Fahnenflucht67. 14. Ausübung entehrender Gewerbe68. 63
Qui falsum testimonium dixerunt (c. 9 C. 3 q. 5). Vgl. c. 3 C. 5 q. 6 und dazu A. Vetulani, Une suite d’études pour servir à 1’histoire du ,Décret‘ de Gratien: Revue historique de droit français et étranger 16 (1937) 470 ss. 676. 64 Qui fratres calumpniantur aut accusant et non probant et qui contra innocentes principum animum ad iracundiam provocant (c. 17 C. 6 q. 1). si quis circa huiusmodi personas non probanda detulerit (c. 1 C. 2 q. 3). qui calumpniam illatam non probat (c. 3 C. 5 q. 6). qui aliis falas intulerit (c. 1 C. 5 q. 6). qui in accusatione deficiunt (dict. p. C. 2 q. 3). Den Tatbestand des deficere in accusatione beschreibt die Summa Parisiensis zur Stelle (p. 104). Im dict. p. c. 5 C. 2 q. 3 unterscheidet Gratian zwischen der Unfähigkeit, den Verbrechensvorwurf zu beweisen, und dem Abstehen von der Anklage aufgrund der Nichteinhaltung eines Versprechens: Sed aliud est crimen illatum non posse probare, aliud est aliqua promissione accusationem deserere. Huic enim, qui promissione deceptus accusationem deserit, venia datur; illi vero, qui crimen illatum probare non valuerit, infamia irrogatur. Zur Verdeutlichung erklärt Rufinus ad dict. p. c. 5 C. 2 q. 3 (p. 244): alii desistunt examinata causa et deprehensa calumpnia, alii desistunt nondum discussa causa – aliqua promissione decepti. Primos constituunt infames leges et canones … posterioribus dicit veniam dari, quia aliqua promissione fuerunt decepti. Vgl. auch die Summa Parisiensis zur Stelle (p. 104); Paucapalea (Die Summa des Paucapalea über des Decretum Gratiani, ed. J. F. von Schulte, Gießen 1890) ad dict. p. C. 2 q. 3 (p.59) und ad C. 5 q. 6 (p.70); Rufinus ad dict. § 8 p. c. 8 C. 2 q. 3 (p. 248) und ad c. 6 C. 2 q. 3 (p. 244). Ausführlich Jacobi 296 f. und Molitor 99 ff. – Bernhard von Pavia läßt collusio (V, 18, 1 p. 243; quaedam illicita pactio inter actorem et reum, per quam alter se malitiose in iudicio superari permittit) in criminalibus mit Infamie (Verlust des Anklagerechts: ut deinceps accusare non permittatur) bestraft werden (V, 18, 3 p. 243). 65 Si quis prebendas, vel prioratum, seu decanatum, aut honorem, vel promotionem aliquam ecclesiasticam, seu quodlibet sacramentum ecclesiasticum, utputa crisma, vel oleum sanctum, consecrationes altarium vel ecclesiarum, interveniente execrabili ardore avariciae per pecuniam acquisivit (c. 15 C. 1 q. 3). Die Infamie trifft alle an dem simonistischen Geschäft Beteiligten (emptor, venditor, interventor). quisquis hanc sanctam et venerandam antistitis sedem pecuniae interventu subisse, aut si quis, ut alterum ordinaret vel eligeret, aliquid accepisse detegitur (c. 4 C. 15 q. 3). Vgl. c. 2 C. 1 q. 4. S. auch Rufinus ad c. 101 C. 1 q. 1 (p. 220) sowie Bernhard von Pavia V, 2, 5 (p. 204 s.). 66 Qui adulterina feditate suas sponsas … tenent (c. 4 C. 3 q. 2). Dazu Rufinus ad C. 3 q. 2 (p. 261 ss.). 67 De bellis publicis fugientes (c. 17 C. 6 q. 1). 68 Histriones (c. 1 § 1 C. 4 q. 1). Rufinus erklärt zur Stelle (p. 274): non quilibet ioculatores, sed qui ludibrium sui corporis faciunt. Ähnlich Stephanus ad c. 2 D. 33 (p. 51). Vgl. auch c. 7
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Strafrecht
15. Begehen von Sünden, die vom Reiche Gottes ausschließen69. 16. Verbrechen jeder Art70.
D. 86 und c. 95 D. 2 de cons. Weiter gehören hierzu die meretrices, ioculatores und venatores. Vgl. die Erklärungen bei Paucapalea ad c. 7 D. 86 (p. 45); Stephanus ad c. 7 D. 86 (p. 107) und ad c. 8 D. 86 (p. 107); Rufinus ad c. 7 D. 86 (p. 176). 69 Illi, qui illa peccata perpetrant, de quibus Apostolus ait: ,Quoniam qui talia agunt, regnum Dei non consecuntur‘ (c. 3 C. 6 q. 1). Vgl. Gal 5, 21. 70 Bereits im dict. p. C. 6 werden crimine irretiti und infamia notati nebeneinandergestellt. In c. 17 C. 6 q. 1 kann man angesichts der Worte ,qui pro aliqua culpa notantur infamia‘ noch zweifeln, ob hier gesagt werden soll, daß ohne Schuld niemand infam wird oder daß jede Schuld infam macht. Aber wenn alle vom Reiche Gottes ausschließenden Sünden und jede vom Priestertum ausschließende Schuld infam machen (c. 3 C. 6 q. 1; c. 2 C. 6 q. 1), dann liegt der Schluß nahe, daß alle Vergehen Infamie zur Folge haben sollen. Dies wird durch die Aufzählung der schweren Vergehen und den Zusatz ,similesque eorum‘ in c. 9 C. 3 q. 5, durch die Unterstellung aller Kapitalverbrecher unter die Infamie in c. 17 C. 6 q. 1 (omnes capitalibus criminibus irretitos) und gar durch die Nebeneinanderstellung von infames und criminosi im dict. p. 16 C. 6 q. 1 sowie durch ihre Einreihung unter die infames in c. 9 C. 3 q. 5 zur Gewißheit erhoben. Paucapalea ad. c. 10 C. 3 q. 5 (p. 65) erklärt denn auch die criminosi als die, qui criminalibus peccatis tenentur. So wird die Infamie zum rechtlichen Kriterium des crimen (S. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Decretalen Gregors IX., Città del Vaticano 1935, 16). Während in zwei augustinischen Definitionen des crimen die Anklage- und Strafwürdigkeit als Unterscheidungsmerkmal des crimen hervorgehoben wird (dict. § 2 p. c. 3 D. 25: Peccatum accusatione et dampnatione dignum; c. 1 D. 81: grave peccatum, accusatione et dampnatione dignissimum), ist es für Gratian die Infamie. So bestimmt er im dict. § 2 p. c. 3 D. 25 das crimen als criminale peccatum vel criminalis infamia. Im dict. p. c. 5 D. 25 sind ihm crimina ea delicta, quorum est perpetua infamia. Es ist klar, daß Gratian auf pseudo-isidorischen Bahnen wandelt, wenn er die Infamie zum Wesensmerkmal jedes Verbrechens macht. Benedikt Levita III, 85 und Pseudo-Isidor (Ps.-Eusebius ep. III c. 18 p. 239; Ps.-Stephanus ep. I c. 2 p. 182; Ps.-Iulius c. 18 p. 473) erklärten alle Verbrecher für infam. – Rufinus ad dict. § 2 p. c. 3 D. 25 (p. 60) erklärt criminalis infamia als talis infamia, que ex peccato digno aceusatione et depositione oriatur und verknüpft so Merkmale Gratians und Augustinus’. Stephanus ad dict. p. c. 3 D. 25 (p. 38) folgt ihm: Dicitur et crimen peccatum criminale, quod semel admissum ad aeternam sufficit poenam vel damnationem; dicitur item crimen infamia procedens ex delicto sive sit criminale sive non. In harum utraque acceptione intelligitur dictum: oportet esse episcopum sine crimine, i. e. mortali peccato, vel sine eo quod infamiam portat; unde et hominem reddit reprehensibilem, qui non debet esse episcopus. Die Summa Parisiensis ad dict. p. c. 3 D. 25 (p. 26) hat den Verbrechensbegriff bereits weiter ausgebaut: Uno modo quodlibet peccatum potest facere reprehensibile, et dicetur crimen large. Alio modo dupliciter dividitur crimen, vel quia sufficit ad aeternam poenam, vel quis irrogat infamiam. Alio modo tripliciter dicetur, ut tertium membrum sit quod procedit ex deliberatione. Die Glosse bemerkt ad c. 17 C. 6 q. 1 v. fures (fol. CLXIX r): Ex hoc c. patet quod omne crimen infamat secundum canones … Item ex hoc c. videtur quod omne crimen sit publicum secundum canones. Indes trat die Infamiewirkung gegenüber den konkreten, dem strafwürdigen Verhalten selbst anhaftenden Merkmalen (schwere Sünde, äußere Handlung, Ärgernis für die Kirche) in den Hintergrund. Hugoccio ließ sie ganz fallen ad dict. p. c. 5 D. 25: Videtur velle Gratianus quod in apostolo crimen tantum accipiatur pro crimine quod infamat vel pro infamia oriente ex tali crimine, quod non est verum, quia quodlibet crimen, quod a promotione repellit … ibi intelligitur nomine criminis, sive infamat sive non (Kuttner 21 A. 3).
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Sodann werden alle auch im kirchlichen Recht für infam erklärt, die es aufgrund der weltlichen Gesetze sind, mit wenigen Ausnahmen71. Endlich ist die Infamie Rechtsfolge mancher anderer Strafen, insbesondere des Kirchenbanns72.
71 Omnes quos ecclesiasticae vel seculi leges infames pronunciant (c. 17 C. 6 q. 1). Zu den Ausnahmen bemerkt bereits Gratian im dict. p. c. 7 C. 2 q. 3: Vel non fiunt infames lege canonum omnes quos leges seculi infames pronunciant … Quod etiam de ea fateri cogimur, que intra tempus luctus nubit, cum matrimonia hodie regantur iure poli, non iure fori, et iure poli mortuo viro mulier soluta est a lege viri: nubat cui vult … Cum enim leges seculi precipue in matrimoniis sacros canones sequi non dedignentur, non videntur pronunciare infamem, que apostolica et canonica auctoritate non illicite nubit. Obwohl Rufinus grundsätzlich den Vorrang der kirchlichen Gesetzgebung vor der weltlichen zugibt (ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 p. 245: ille, qui hodie per canones ab infamia immunis efficitur, per leges infamia non notatur, cum seculares leges non dedignentur imitari sacros canones), folgt er hinsichtlich des von Gratian angeführten Falles dem Magister nicht (ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 p. 247: non videtur nobis hic magister rectus incedere). Ausführlich handelt darüber Stephanus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 (p. 168): ,quod de ea‘, ut scil. non sit infamis. Sunt qui in hac parte non assentiunt Gratiano dicentes, non esse infamem eam, quae infra tempus luctus nubit; auctoritati autem Pauli ita respondent: Nubat, cui vult, i. e. matrimonium erit, tamen ab infamia quam leges seculi irrogant, et a poena quam inferunt scil. ut nihil de bonis prioris viri habeat, et quod ab intestato ultra tertium gradum non succedat, apostolus non absolvit, quoniam ad principem secularem spectat; vel ita exponunt, ,nubat cui vult in domino‘, i. e. legitime. Contra dominum namque nubere dicitur, quae bonos contra mores et legibus approbatos nubit. Horum autem sententiam tuentur verba Stephani papae, quae in hoc paragrapho subscribuntur, scil. ,infames quoque dicuntur‘. Vel dicunt, quod apostolus non praecepit, ne nuberet infra tempus luctus. Et hoc si obiicias illud: an peccatum sit nubere sic, cum hoc apostolus praeceperit? Dicimus ergo, quod apostolus non praecepit peccatum; cum enim hoc praecipit, non peccavit, et si specialiter hoc praecepisset, non praecepisset et peccatum conferre, nec hoc sit peccatum: cur ergo prohibet, ne nubat infra tempus luctus? Dicimus, quia magis fuit ratio prohibitionis, turbatio sanguinis et honestas prioris matrimonii, quamquam peccatum sit. Nam nec binas habuisse uxores forte peccatum, et tamen propter dignitatem ordinis, non propter delictum, quod fuerit, bigamus ab ordine sacerdotali repellitur. Auch die Summa Parisiensis ad c. 2 C. 6 q. 1 (p. 131) erwähnt die nämliche Ausnahme: ,Omnes quos leges‘, quibus non derogatur per canones; etsi enim leges iudicent infamem, quae nubit intra tempus luctus, non tamen canones. 72 Die Glosse ad c. 3 C. 1 q. 5 v. supplicavit (fol. CXXIV v) bemerkt, daß der Deposition die Infamie folge. – Beim großen Kirchenbann ist dies allgemein anerkannt. omnes anathematizatos vel pro suis sceleribus ab ecclesia repulsos (c. 17 C. 6 q. 1; vgl. c. 5, 6, 7 C. 3 q. 4). Gratian (dict. p. c. 11 C. 3 q. 4; c. 12 C. 3 q. 4; dict. p. c. 12 C. 3 q. 4) und die Dekretisten (Rufinus ad dict. p. c. 11 C. 3 q. 4 p. 266, ad c. 2 C. 11 q. 3 p. 314 s.; Stephanus ad c. 11 C. 3 q. 4 p. 194 s.; Summa Parisiensis ad c. 6 C. 3 q. 4 p. 119) unterscheiden sorgfältig zwischen excommunicatio und anathematizatio. Nach Rufinus ad c. 1 C. 4 q. 1 (p. 274) tritt nicht immer mit dem Kirchenbann die Infamie ein; nur wer pro crimine exkommuniziert wird, nicht wer pro contumacia et inobedientia exkommuniziert wird, ist infam. Ähnlich Huguccio clm 10247 fol. 126 a. Stephanus ad c. 1 C. 4 q. 1 (p. 200) bemerkt ad v. ,histriones‘: non omnes, sed qui ludibrium corporis sui faciunt, ut funambuli. Et hoc secundum quosdam, secundum alios quacumque causa excommunicatus est infamis est, et ideo nullum excommunicatum accusare potest.
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IV. Rechtswirkungen 1. Unfähigkeit zur Anklage Der Grundsatz der sittlichen Gleichwertigkeit zwischen Ankläger und Angeklagtem73 ergibt die Folgerung, daß nicht einen sacerdos anklagen darf, wer selbst unfähig ist, sacerdos zu werden74. Unter diesen Unfähigen stehen an der Spitze die Infamen75. Dies gilt auch ganz allgemein76. Bei Häresie77, beim crimen laesae maiestatis78 und bei Simonie79 fallen jedoch die Anklagebeschränkungen auch der Infamen weg. Es sind dies die sog. crimina excepta80. 73 In accusatione equalitas fidei et conversationis inter accusantem et accusatum semper consideranda est (dict. p. c. 25 C. 2 q. 7; vgl. dict. p. c. 26 C. 2 q. 7; c. 20 C. 6 q. 1). 74 Quicumque sacerdotes non sunt vel esse non possunt, in sacerdotes accusationem vel testificationem proferre non possunt (dict. p. c. 37 C. 2 q. 7; vgl. dict. p. c. 39 C. 2 q. 7; dict. p. c. 60 C. 2 q. 7; C. 38, 39, 51 C. 2 q. 7; c. 17 C. 6 q. 1; C. 15 q. 3 pr.). Dazu Jacobi 250. 75 Oves enim criminosae et infames pastorem suum accusare vel reprehendere non possunt (dict. p. c. 22 C. 2 q. 7). nullus autem infamis in accusatione prelatorum est audiendus (dict. p. c. 27 § 6 C. 2 q. 7). quod vero infames et non legitime coniuncti ad accusationem admitti non debeant (dict. p. C. 3 q. 4). Vgl. c. 23 C. 2 q. 7; c. 6, 8, 9, 10, 11 C. 3 q. 5; c. 1 C. 4 q. 1; c. 14 pr. C. 2 q. 1. Allgemein siehe auch dict. p. c. 25 C. 2 q. 7; dict. p.c. 26 C. 2 q. 7; dict. p. c. 19, p. c. 21, p. c. 23 C. 6 q. 1; Summa Parisiensis ad dict. p. c. 25 C. 2 q. 7 (p. 113); ,nam obedientes, aequalitas‘, ut maior vel aequalis sit, qui accusat in omni crimine, praeterquam in his, intelligitur, in quibus sine delectu recipiuntur omnes, ut simoniae etc. 76 Dict. p. c. 25 C. 2 q. 7 und C. 3 q. 4. Vg1. dafür Jacobi 252. 77 Ipsi sacri canones distinguunt, in quo casu pastores sint accusandi a subditis, dicentes: ,Oves pastores suos non accusent nec reprehendant, nisi a fide exorbitaverint‘. Ecce in quo casu sint accusandi a subditis (dict. p. c. 22 C. 2 q. 7). nullus autem infamis in accusatione prelatorum est audiendus, nisi forte a fide exorbitaverit (dict. p. c. 27 § 6 C. 2 q. 7). hereticos namque accusare infamibus non prohibetur (dict. p. c. 19 C. 6 q. 1). hereticus catholico minor (c. 20 C. 6 q. 1). 78 C. 22 C. 6 q. l (= C. 9, 8, 8); c. 23 C. 6 q. l (= C. 9, 8, 4); c. 3 C. l5 q. 3 (= D. 48, 4, 8); c. 4 C. 15 q. 3 (= C. 1, 3, 30, 5). Nach Gregor I. in c. 7 C. 2 q. 1 soll die Verletzung eines Bischofs wie das crimen laesae maiestatis von jedem beliebigen anklagbar sein; jedoch soll die allgemeine Anklagebefugnis dann, wenn der Täter ein Bischof ist, nicht gegeben sein, si vita vel opinio etus talis ante non extitit (§§ 6, 11 1. c.; dazu Rufinus p. 239; vgl. Jacobi 253). 79 Porro simoniae accusatio ad instar lesae maiestatis procedere debet (dict. p. c. 22 C. 6 q. 1; vgl. dict. p. c. 23 C. 6 q. 1; dict. p. c. 3 C. 15 q. 3; dict. p. c. 4 C. 15 q. 3). 80 Vgl. Rufinus ad C. 2 q. 7 (p. 255 s.); Stephanus ad C. 2 q. 7 (p. 186); Paucapalea ad C. 6 q. 1 (p. 71); Mühlebach 96; E. Eichmann, Acht und Bann im Reichsrecht des Mittelalters (Paderborn 1909) 92. Die Behandlung der crimina excepta im Dekret beruht auf dem – pseudo-isidorischen – Gedanken, daß niemand eine Anklage erheben darf, der nach weltlichem Recht dazu unfähig ist (c. 5, 7, 8, 11 C. 3 q. 5; c. 19 C. 6 q. 1; dict. p. c. 4 C. 15 q. 3), den Gratian umkehrt, wonach jeder anklagefähig ist, der nach weltlichem Recht eine Anklage erheben kann, falls nicht entgegenstehende Kanones etwas anderes bestimmen (dict. p. c. 4 C. 15 q. 3). Dies entspricht der allgemeinen Stellung, welche Gratian den weltlichen Gesetzen zuweist (vgl. dist. 10, besonders dict. p. c. 6 dist. 10; auch dict. p. c. 11 dist. 9). Vgl. dafür Jacobi 252 f.
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Gratian hat zwar die Bestimmung D. 48, 2, 11, wonach für den Verletzten ganz allgemein die Anklagebeschränkungen aufgehoben sein sollen, in das Dekret aufgenommen81, jedoch höchstens bei Frauen und Unmündigen vollständig durchgeführt. Im übrigen erklärt er ausdrücklich, daß ein als culpabilis nachgewiesener Ankläger de cetero ad arguendum non admittitur, nisi propriam causam civilem dumtaxat asserere voluerit82. Er versagt also die Anklage in criminali causa, auch wenn es sich um eigene Sache handelt83. Wie das Decretum Gratiani84, so behandelt auch die an das Dekret anschließende Literatur die Frage nach der Anklagefähigkeit im engen Zusammenhang mit der Frage nach der Zeugnisfähigkeit85. Infames sind anklageunfähig86, außer bei den crimina excepta87 und, wie jetzt zögernd eingeräumt wird, außer bei Verfolgung selbsterlittenen Unrechts88. Im Gegensatz zu Gratian89 schränken Rufinus90 und Stephanus91 die allgemeine Anklagefähigkeit bei den crimina excepta dadurch ein, daß Anklagen gegen Bi81
C. 14 C. 2 q. 1; c. 2 C. 4 q. 6. In dem pseudo-isidorischen c. 3 C. 3 q. 10 heißt es: Si accusatorum personae in iudicio episcoporum culpabiles aparuerint, ad arguendum de cetero non admittantur, nisi proprias causas asserere (non tamen criminales vel ecclesiasticas) voluerint. Vgl. Gratians Überschrift dazu sowie dict. p. c. 3 C. 3 q. 10; C. 4 q. 6. 83 Zum Vorstehenden Jacobi 254. Vgl. die Summa Parisiensis ad. c. 3 C. 3 q. 10 (p.124). 84 Vgl. c. 24 C. 2 q. 7; c. 2 C. 2 q. 4; c. 11 C. 3 q. 4; c. 1 C. 4 q. 2 et 3. Dazu Eichmann, Acht und Bann 97 f. 85 Vgl.Rufinus ad C. 4 q. 2 et 3 (p. 274). 86 Paucapalea ad c. 10 C. 3 q. 5 (p. 65); ad C. 6 q. 1 (p. 71). Rolandus ad C. 2 q. 7 (p. 17); ad C. 3 q. 6 (p. 18); ad C. 6 q. 1 (p. 21). Rufinus ad C. 6 q. 1 (p. 281). Stephanus ad C. 3 q. 4 (p. 194); ad C. 6 q. 1 (p. 203). Summa Parisiensis ad C. 6 (p. 130). Bernhard von Pavia V, 1, 2 (p. 197 s.). 87 Paucapalea ad C. 6 q. 1 (p. 71). Rolandus ad C. 3 q. 4 (p. 18); ad C. 4 q. 1 (p. 19 s.); ad C. 6 q. 1 (p. 21). Rufinus ad C. 2 q. 7 (p. 255 s.); ad C. 6 q. 1 (p. 281). Stephanus ad C. 1 (p. 121); ad C. 2 q. 7 (p. 186); ad C. 3 q. 4 (p. 194); ad c. 1 C. 4 q. 1 (p. 200); ad C. 6 q. 1 (p. 203). Summa Parisiensis ad C. 2 q. 7 (p. 113); ad dict. p. c. 19 C. 6 q. 1 (p. 131). Bernhard von Pavia V, 1, 2 (p. 197 s.). 88 Rolandus ad C. 3 q. 4 (p. 18) läßt die Ausnahme nur in causa civili, nicht in causa criminali gelten (dicimus eos omnio repudiandos in criminali causa praeterquam in crimine simoniae et haereseos, in civili quoque, nisi suam suorumque exsequantur iniuriam). Rufinus ad c. 3 C. 3 q. 10 (p. 272) erwähnt sie ohne diese Einschränkung, jedoch unter Hervorhebung, daß es sich hier um einen Satz der leges handele, der zwar grundsätzlich gelte, aber im Falle der Anklage gegen einen Bischof seine Kraft verliere (alios, sed episcopum non possit). Erst bei Stephanus ad C. 3 q. 4 (p. 194) findet sich ohne Einschränkung der Satz ausgesprochen, infames accusare non possunt. Quod ita intellige, nisi suam suorumve iniuriam prosequantur. Vgl. zum Vorstehenden Jacobi 256. 89 Rufinus ad C. 6 q. 1 (p. 281): in quo tamen eum non credimus imitandum. 90 Rufinus ad c. 7 C. 2 q. 1 (p. 239): si male opinionis vel vite non sunt; ad C. 6 q. 1 (p. 281): si episcopi fuerint vel habeantur clare vite et religionis. 91 Stephanus ad c. 1 C. 4 q. 1 (p.200); ad C. 6 q. 1 (p. 203): si fuerit malae famae et conversationis suspectae qui accusatur. 82
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schöfe durch infames u. a. auch wegen Majestätsverbrechens, Simonie oder Häresie nur dann zugelassen werden, wenn der Bischof in schlechtem Rufe steht92. Ähnlich wie die Anklage wird die Gegenanklage behandelt93. 2. Ausschluß von der Prokuratur und der Advokatur Die Infamen dürfen nicht procuratores oder advocati sein94. So lehren auch die Dekretisten95.
92 Diese Voraussetzung ist offenbar der Dekretale Gregors I. in c. 7 C. 2 q. 1 entnommen (Jacobi 257 A. 6). Stephanus ad c. 1 C. 4 q. 1 (p. 200) dehnt dieses Erfordernis auf die Anklagen Exkommunizierter wegen crimina excepta aus, ohne es hier von einer bestimmten persönlichen Qualität des Angeklagten abhängig zu machen: Differt tamen: si voluerint aecusare aliquem, qui bonae opinionis sit apud omnes, de aliquo praedictorum, non debent audiri; sed si aliquem super aliquo praedicto crimine fama publica vexat, debet audiri etiam excommunicatus in accusatione tali. Vgl. dafür Jacobi 257. 93 Gratian läßt eine Gegenanklage des Angeklagten gegen den Ankläger zu, wenn gegen diesen eine schwerere Strafsache als gegen jenen vorliegt (Jacobi 290). Rufinus ad C. 3 q. 11 (p 272 s.) behandelt die Frage der Gegenanklage entsprechend seiner Lehre von der Anklagefähigkeit. Ist der Angeklagte infam, weil er wegen eines anderen Vergehens schon bestraft und noch nicht restituiert ist, oder auch nur im Gerücht eines anderen Vergehens, ist er anklageunfähig und kann keine Gegenanklage erheben (si ergo accusatus modo de alio crimine iam dampnatus sit necdum restitutus vel de aliquo crimine solummodo infamatus, non potest in accusatorem vertere accusationem neque super maiori neque super minori vel pari crimine, nisi prius dampnatus restituatur vel infamatus purgetur). Ergänzend fügt er hinzu: Dampnatus vero hoc non potest facere ea ratione, qua infames et dampnati accusare non possunt, nisi in certis casibus. 94 Infames non possunt esse procuratores vel patroni causarum (c. 2 C. 3 q. 7). Die Stelle steht in einem Kanon, der sich mit der Postulationsfähigkeit beschäftigt. Er ist der Justinianischen Sammlung entnommen. Das postulare wird definiert als desiderium suum vel amici sui in iure apud eum, qui iurisdictioni praeest, exponere, vel alterius desiderio contradicere (§ 1 l. c. = D. 3, 1, 2). Bestimmte schwer Bescholtene dürfen nicht für andere postulieren (§ 2 l. c. = D. 3, 1, 6). Alle anderen infames dürfen außer für sich nur für einen bestimmten Personenkreis postulieren (§ 2 l. c. = D. 3, 1, 8). Diese Sätze sind jedoch weder von Gratian noch von der anschließenden Literatur in die Lehre von der Anklagefähigkeit eingearbeitet worden. Der ganze Kanon wird vom Dekret wie den Dekretisten nur für die Frage verwendet, wer Advokat oder Prokurator sein darf (so Jacobi 257 f.). 95 Rufinus ad c. 1 C. 2 q. 7 (p. 268) bemerkt zu ,Infamis … nec procurator‘: nisi pro se et pro certis personis; Stephanus ad c. 1 C. 3 q. 7 (p. 197): in causa ut scil. pro alio postulet, nisi pro se et certis personis; ad c. 2 C. 3 q. 7 (P. 197); ,Infames esse procuratores‘ in causa nisi pro se et certis personis ,non possunt‘. Vgt. dazu Jacobi 278 A. 3. Dieser bemerkt mit Recht, daß der Kanon dem Zusammenhang nach, in dem er steht, als Beleg für den Satz: Infames iudices esse non possunt, verwendet wird. Gratian denkt bei den iudices auch an die Advokaten, was sich aus der häufigen Identität von iudices und advocati in Italien erklärt. Paucapalea ad c. 1 C. 3 q. 7 (p. 66) will die Unfähigkeit nur bei privati officio und notati infamia, jedoch nicht bei criminosi tolerati eintreten lassen (vgl. Jacobi 259 A. 8).
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3. Unfähigkeit zum Zeugnis Von dem im Dekret ausführlich behandelten Zeugenbeweis96 sind die Infamen ausgeschlossen97. Werden sie – bei den crimina excepta oder aus Mangel anderer Beweismittel – dennoch zur Aussage zugelassen, dann nur nach vorhergehender Unterwerfung unter die Folter98.
96 Dabei werden vorwiegend pseudo-isidorische Kanones berücksichtigt. Die zahlreichen unmittelbaren Zitate aus Codex und Digesten über den Zeugenbeweis, die im dict. p. c. 2 C. 4 q. 2 et 3 und namentlich in c. 3 C. 4 q. 2 et 3 sich finden, bleiben außerhalb der übrigen Darstellung des Dekrets stehen und werden auch von den Dekretisten wenig beachtet (so Jacobi 300 A. 5). Pseudo-Isidors Bestreben, die Anklage gegen Bischöfe von vornherein unmöglich zu machen, führt dazu, daß die Fähigkeit zur Zeugnisablegung an zahllose erschwerende Bedingungen geknüpft wird. Dabei verbindet Gratian die Frage nach der Zeugnisfähigkeit mit der nach der Anklagefähigkeit gemäß der Überschrift zu c. 1 C. 4 q. 2 et 3: Qui ab accusatione repelluntur, … testes esse non possunt. Vgl. dafür Jacobi 300 f. Vgl. aber den Unterschied, den die Summa Parisiensis ad dict. p. c. 3 C. 15 q. 3 (p. 175) hinsichtlich der crimina excepta macht: Nos autem sine omni exceptione dicimus, quod ad tale crimen (sc. simoniae) quivis accusandum admittitur, qualiscumque sit persona, quae impetitur. Ad testimonium contra personam integrae opinionis infames non admittuntur. Si vero infamis sit persona, quae impetitur, eum accusare poterit infamis, et infames contra eum ferre testimonium poterunt. Ähnlich Bernhard von Pavia V, 2, 4 (p. 204). 97 Vor allem ist hier einschlägig c. 3 C. 4 q. 2 und 3. Es werden hier in zum Teil verbesserter und veränderter Form eine Reihe von Gesetzesstellen aus Digesten und Codex über die Zeugnisleistung zusammengestellt und zu einer Summe verarbeitet. In § 2 (= D. 22, 5, 3 pr.) wird gefordert, daß bei Zeugen zu untersuchen ist, an honestae et inculpatae vitae, an vero notatus quis et reprehensibilis. In § 3 (= D. 22, 5, 3, 5) wird der Ausschluß vom Prozeßzeugnis aufgrund der lex Iulia de vi behandelt. Es fehlt aber im Dekret die den § 5 der Digestenstelle abschließende Wendung: nam quidam propter reverentiam personarum, quidam propter lubricum consilii sui, alii vero propter notam et infamiam vitae suae admittendi non sunt ad testimonii fidem. – Sodann c. 39 C. 2 q. 7: testes absque ulla infamia und c. 6 C. 6 q. 1: testes autem sine aliqua sint infamia. – Vgl. Stephanus ad c. 7 C. 2 q. 1 (p. 160): infames ad testimonium non admittuntur. Bernhard von Pavia II, 13, 2 (p. 45 s.). 98 C. 3 § 17 C. 4 q. 2 et 3 (= D. 22, 5, 21); c. 7 § 13 C. 2. q. 1; c. 4 C. 5 q. 5. Vgl. dafür Jacobi 304. Ausführlich befaßt sich mit dieser Frage Rufinus ad c. 4 C. 5 q. 5 (p. 279 s.). Nur unter bestimmten Bedingungen (si tamen talis fuerit causa criminis, que, si remaneat indiscussa, ecclesie scandalum generare videatur) können zeugnisunfähige Personen zur Aussage zugelassen werden (poterunt tunc iudices episcoporum tales admittere, non ut pro testibus eos suscipiant, sed ut ab ipsis quoquo modo rei veritatem excutiant, sicut vox servi pro testimonio non recipitur, eius tamen tunc responso creditur, cum ad veritatem eruendam alia probatio non invenitur). Die Folter, der sie unterworfen werden, ist jedoch milder als die in den weltlichen Gerichten übliche (verberibus levioribus, virgis scil. aut scuticis et similibus). Vgl. auch Jacobi 304 f. – Die Summa Parisiensis sieht ebenfalls die Einvernahme zeugnisunfähiger Personen bei den crimina excepta (ad c. 2 C. 2 q. 4 p. 107) unter Folter (ad c. 4 C. 5 q. 5 p. 130) vor.
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4. Unfähigkeit zum Richteramt Infame können nicht Richter sein99. Dies wird von den Dekretisten näher erläutert100 und auch eingeschränkt101.
99 Gemäß dem Grundsatz: Quod iudex esse non possit, quem cum reo par aut maior macula inficit (dict. p. C. 3 q. 7; vgl. dict. p. c. 2, c. 3 – 7 und dict. p. c. 7 C. 3 q. 7) stellt ein pseudoisidorischer Kanon fest: Infamis persona nec procurator potest esse, nec cognitor (c. 1 C. 3 q. 7). Die Beziehung dieses Kanons auf den Richter erklärt sich daraus, daß unten dem neben dem procurator genannten cognitor der Richter verstanden wird. Dies bezeugt die Überschrift Gratians: Infames iudices esse non possunt. Es wird bestätigt durch Paucapalea ad c. 1 C. 3 q. 7 (p. 66): ,nec cognitor‘ ad iudicandum und durch Stephanus ad c. 2 § 17 C. 3 q. 7 (p. 197): ,cognitores‘. Hoc continuatur cum fine primi capituli huius quaestionis, ubi dictum est, quia infamis non potest esse cognitor, i. e. iudex. Vgl. dafür Jacobi 245 A. 4 und Molitor 78. S. auch die von der Fähigkeit zum Richteramt handelnden Kanones c. 4 – 9 D. 21; c. 4 C. 2 q. 7; dict. p. c. 27 § 4 C. 2 q. 7; c. 5 C. 6 q. 1 (Jacobi 246). 100 Die Literatur beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Satz: Infames iudices esse non possunt (Überschrift zu c. 1 C. 3 q. 7). Sie entwickelt die Lehre, daß nur die von der Kirche ihres Amtes entsetzten und mit Infamie belegten Richter unfähig sind (Paucapalea ad c. 1 C. 3 q. 7 p. 66: Sed hoc de illis intelligendum est, qui ab ecclesia officio sunt privati et infamia notati.). Der iudex criminosus ist nur unfähig, wenn die Vergehen öffentlich bekannt sind. Solange sie geheim sind und der Richter von der Kirche noch geduldet wird, kann er sein Richteramt wirksam ausüben. Vgl. Paucapalea ad c. 1 C. 3 q. 7 (p. 66): Alii vero, qui ab ecclesia licet criminosi tolerantur, pro sui tamen dignitate officii et agere in causa possunt et iudicare. Rolandus ad C. 3 q. 7 (p. 18). Rufinus ad C. 3 q. 7 (p. 268): Si vero crimine teneatur, tamen ab ecclesia subportatur, tunc quidem officii debito dumtaxat potest esse iudex, sed vite merito iurisque permisso iudicare non potest … Si autem, quia criminosus erat, ab ecclesia notatus est, nulla nisi prima ei iudicandi possibilitas reservatur. Stephanus ad C. 3 q. 7 (p. 197): Nota, quod quorundam iudicum crimina sunt occulta, quorundam manifesta. Quorum crimina sunt occulta, hi iudicare quidem possunt de officio, non tamen de iure merito; publicis ver criminibus irretiti in pari crimine vel maiori iudicare non possunt, et hoc tamen, ubi testium probatione vel eius confessione in iure facta crimen eorum patet … Indignus est de merito vitae, tamen quamdiu tolerat eum ecclesia, i. e. quamdiu non es damnatus, ex officio suo potest maiorem et minorem trabem educere. Vgl. dafür Jacobi 246 f. S. auch Summa Parisiensis ad C. 3 q. 7 (p. 121): de merito vitae non potest, sed dum ab ecclesia toleratur, propter dignitatem quod iudicaverit, erit ratum. 101 Aufgrund des von Gratian erkannten Unterschiedes zwischen Prozeß und Schiedsverfahren (dict. p. c. 33 C. 2 q. 6) gibt er eine Digestenstelle wieder, wonach ein infamis zwar nicht iudex, wohl aber arbiter sein kann (D. 4, 8, 7 in c. 2 § 17 C. 3 q. 7). Vgl. dafür Jakobi 122, Stephanus ad. c. 2 § 17 C. 3 q. 7 (p. 197) erklärt bündig: infamis iudex esse non potest, arbiter esse potest. Die Summa Parisiensis ad c. 2 C. 3 q. 7 (p. 121) ,cognitores‘ sagt: Diximus iudices non debent esse infames, sed hoc intelligitur de ordinariis tantum. Ähnlich Bernhard von Pavia I, 23, 2 (p. 29).
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5. Untauglichkeit zur Weihe Weil die Weihe nicht nur für den Empfänger, sondern auch für andere von Bedeutung ist, ist es nötig, daß der Empfänger nicht nur ohne Schuld, sondern auch ohne Schande sei102. Infame können deshalb nicht geweiht werden103.
V. Dauer und Aufhebung 1. Dauer Im Dekret ist die infamia grundsätzlich eine infamia perpetua104. Eine infamia, die nicht perpetua ist, ist keine infamia im technischen Sinne105. Dies schließt jedoch die Möglichkeit einer Aufhebung nicht aus. 102
Cetera enim sacramenta unicuique propter se dantur, et unicuique talia fiunt quali corde vel conscientia accipiuntur. Istud solum non propter se solum, sed propter alios datur, et ideo necesse est, ut vero corde mundaque conscientia, quantum ad se, sumatur, quantum ad alios vero non solum sine omni culpa, sed etiam sine omni infamia, propter fratrum scandalum, ad quorum utilitatem, non solum ut presint, sed etiam ut prosint, sacerdotium datur (dict. p. c. 43 C. 1 q. 1). Vgl. auch das dict. p. c. 42 C. 1 q. 1. 103 C. 2 C. 6 q. 1; c. 17 C. 6 q. 1; c. 5 D. 51. Selbstverständlich hat die Infamie auch das Ausübungsverbot der schon empfangenen Weihe zur Folge. So heißt es in c. 2 C. 19 q. 2, die Bestimmung, daß ein Geistlicher nicht de suo episcopatu ad alium transire sine commendatitiis litteris sui episcopi dürfe, sei propter criminosos getroffen worden, ne videlicet infames ab aliquo episcopo suscipiantur personae. Vgl. auch Mühlebach 86. Mit der Irregularität ist von selbst die Unfähigkeit zur Bekleidung kirchlicher Würden oder Ämter und zur Übernahme von Benefizien gegeben (Mühlebach 88). – Einer der drei Gründe, weshalb die Weihen sacramenta dignitatis heißen, liegt nach Huguccio darin, daß zu den Weihen nur Würdige befördert werden, nämlich Personen ohne Verbrechen, ohne Infamie und ohne Irregularität (quia ad ipsos non nisi digni promoventur, scil. sine crimine et sine infamia et sine irregularitate: Gillmann 62). An anderer Stelle nennt er als Rechtswirkungen der Infamie den Ausschluß von Weihe, Zeugnis und Anklage (cum infamis et vitiatus corpore repellantur ab ordine, testimonio et accusatione: Gillmann 66). Er betont jedoch, daß der Ausschluß von der Weihe nur mittelbar in der Infamie, unmittelbar in der Irregularität gründe (nec predicti removentur propter penam, scil. propter infamiam vel defectum membri, set propter irregularitatem et illegitimitatem … et potius propter prohibitionem ecclesie: Gillmann 66 f.). 104 Im dict. p. c. 5 D. 25 spricht Gratian von den delicta, quorum perpetua est infamia. 105 Davon, daß die infamis criminalis durch die Buße getilgt wird, wie B. Löbmann, Der kanonische Infamiebegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Infamielehre des Franz Suarez (Leipzig 1956) 11 behauptet, weiß das Dekret nichts. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre 18 ist gegenüber Löbmann 13 f. durchaus im Recht, wenn er infamia criminalis und infamia perpetua gleichsetzt und erklärt, daß die Fortdauer der Infamie beim crimen unabhängig ist von der Dauer des reatus culpae und von der reprehensio conscientiae (vgl. die Quellen in S. 18 A. 5 und ZRGkan. 21, 1932, 160). In der von Gratian c. 22 C. 6 q. 1 angeführten Stelle C. 9, 8, 8 werden die Söhne der Verschwörer immerwähnender Infamie unterworfen (infamia eos semper paterna comitetur, ad nullos unquam honores, nulla prorsus sacramenta perveniant, sint postremo tales, ut his perpetua egestate sordentibus et sit mors solatium et vita supplicium). Zum Schluß werden der gnadenlosen Infamie
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2. Aufhebung Die Infamie ist behebbar. Die Infamie der Geistlichen kann der Papst beheben; dabei ist gleichgültig, aufgrund welcher Rechtsordnung sie diese Strafe sich zugezogen haben106. Die Infamie der Laien untersteht der weltlichen Gewalt. Sie tritt ein aufgrund eines Spruches des weltlichen Richters, sie wird aufgehoben durch den weltlichen Vollmachtsträger, d. i. den Kaiser107. Die Dekretisten haben die Entwicklung vorangetrieben. Rufinus kennt innerhalb der kirchlichen Infamie108 eine infamia irremissibilis109 und eine infamia remissibilis110. Die erstere soll offenbar schlechthin unaufhebbar sein111. Bei der infamia remissibilis wird zwischen der Infamie, die wegen größerer, und jener, die wegen geringerer Verbrechen zugezogen wird, unterschieden. Die aufgrund größerer Verbrechen entstehende Infamie bedarf zur Behebung der restitutio in integrum112, die aufgrund geringerer Verbrechen entstehende nur der Besserung113. Es ist offendie Fürsprecher dieser Personen unterworfen (denique iubemus etiam notabiles esse infamia sine venia, qui pro talibus umquam apud nos intervenire temptaverint). 106 Clericorum infamiam per Romanum Pontificem aboleri posse (dict. p. c. 7 C. 2 q. 3). Dann wendet sich Gratian gegen Gelasius (richtig: Ps. – Calixti ep. II c. 16: Hinschius p. 140) und Stephanus (ist nicht Stephanus, sondern ebenfalls Ps. – Calixtus, aber umgestellt, verändert und durch perpetuae ergänzt), nach denen die Kirche die Infamie nicht beheben kann. Die Aussprüche dieser beiden Päpste beziehen sich nach Gratian auf die weltliche Infamie, welche der weltlichen Hoheitsgewalt unterworfen sei (de illis intelligitur, quibus per civilem iudicem infamia inrogatur, quorum sicut examinatio et castigatio, ita et in integrum restitutio nun nisi ad civilem iudicem spectat). 107 Im dict. § 8 p. c. 8 C. 2 q. 3 bemerkt Gratian: Abolicio autem penam remittit, infamiam nun tollit. Die Strafnachlassung muß, um die Infamie zu beheben, durch die restitutio in integrum ergänzt werden (C. 9, 43, 3: Indulgentia, patres conscripti, quos liberat notat, nec infamiam criminis tollit, sed penae gratiam facit): Si autem: restituo te in integrum, princeps dixerit, infamiam tollit. Dabei wird auf C. 9, 51, 1 verwiesen. – Vgl. auch A. Stickler, Magistri Gratiani sententia de potestate ecclesiae in statum: Apol 21 (1948) 87 s. 108 Rufinus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 (p. 246): secundum canones autem que irrogatur infamia, alia est remissibilis alia irremissibilis. 109 Irremissibilis enormis criminis et notorii, sicut eius, qui ecclesiam combusit, qui episcopum vel sacerdotem interemit, et his similes. De qualibus forte loquitur decretum illud C. 6 q. 1 c. 6. 110 Que vero est remissibilis, alia est maiorum, alis minorum criminum. 111 Dies ergibt sich aus der Wahl des Wortes irremissibilis. Es ist zu beachten, daß die infamia perpetua des weltlichen Rechtes die Fälle umschließt, die von Rufinus unter die infamia irremissibilis gestellt werden, sowie jene, die unter die infamia remissibilis maiorum criminum fallen. 112 Que ergo ex maioribus criminibus irrogatur infamia – ut laico ex homicidio vel ex adulterio, clerico ex fornicatione –, sive ipso iure sive per sententiam sive duntaxat genere pene infligatur, tunc solum remittitur, quando eis restitutio prioris status in integrum reparatur: ut laico, quando sufficienter peracta penitentia ex toto ecclesiastice communioni redditur; ut clerico, quando in suum officium restituitur. 113 Minorum autem criminum infamia – sicut contumatie, ebrietatis consuete, et similium – momentanea est: que remittitur, mox ut tales prevaricatores resipuerint. De qualibet, credo,
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sichtlich, daß hier die Einheit eines Begriffes vorgetäuscht wird, die in Wahrheit nicht besteht. Es handelt sich im letzteren Falle um die sogenannte infamia facti. Stephanus behält die Behebung der weltlichen Infamie dem Kaiser vor114, die kirchliche Infamie kann der Papst beheben115. Rücksichtlich der Weihe, d. h. mit Wirkung für den geistlichen Bereich kann der Papst jedoch auch die weltliche Infamie beseitigen116. Dieser Ansicht folgen andere Dekretisten, so die Summa Parisiensis117, die Summa Coloniensis118, Sicardus von Cremona119, Evrardus von Ypern120, S. Tracloquitur Fabianus papa infra C. 6 q. 1 c. 3 et 4, et Tolet. conc. infra C. 32 q. 5 c. 21. Hierher gehört es wohl auch, wenn Rufinus erklärt, daß die nun legitime coniuncti ohne weiteres infam sind und solange infam bleiben, donec separentur purgato crimine per penitentiam. Unde peracta penitentia admittentur ad accusationem (ad dict. p. C. 3 q. 4 p. 264). Die anderen gar, die nur die nuptiarum sollempnia ausgelassen haben, levi infamia asperguntur et ideo, mox ut ecclesie satisfecerint, ad accusationem admittentur (ebenda und p. 265). Bei der excommunicatio pro crimine tritt die infamia remissibilis maiorum criminum, bei der excommunicatio pro contumacia die infamia remissibilis minorum criminum ein. Dahingehend ist Eichmann, Acht und Bann 70 A. 3 zu Rufinus p. 274 zu berichtigen. 114 Stephanus ad dict. p. c. 7 C. 2 q. 3 (p. 167 s.): Infamia autem, quae per civilem iudicem irrogatur, a solo principe remitti potest. 115 Quae autem ab ecclesiastico iudice infertur, apostulicus potest remittere. quod ergo Gelasius dicit ,infamiam‘ etc., de illa infamia dicit, quam leges seculares irrogant. Eam enim princeps inferre debet, quoniam legum conditor est, et eam solus princeps remittit. Quam vero canones inferunt, apostolicus remittere potest, qui et condendorum canonum ius habet. Vel illam infamiam dicit apostolicus, se abolere non posse, quae facti est, i. e. quando male loquuntur homines de aliquo, quod apud bonos et graves laedit opinionem, non tamen irrogat infamiam. Quis enim ora hominum claudere potest? 116 Possumus etiam dicere, quod omnem infamiam potest remittere apustolicus ita, quod non impediat ad promotionem vel ordinem, non tamen, quin impediat ad secularium negotiorum executionem. Vgl. auch ad c. 18 C. 6 q. 1 (p. 204): Hoc videtur obviare quibusdam, qui dicunt: ex quo aliquis restituitur ad omnia sacramenta ab ecclesia, eius infamia de cetero aboletur. Quod nun videtur verum, nisi ab apostolico in ecclesiastico crimine, a principe in civili restitutio in integrum detur; ad c. 39 C. 2 q. 7 (p. 187): Nota, quod, si quis de iure sit infamis, abolita infamia, poterit promoveri, sive princeps remiserit, cum ex civili esset, sive apostolicus, cum de ecclesiastico. 117 Summa Parisiensis ad dict p. c. 7 C. 2 p. 3 (p. 104 s.): zunächst wird ausgeführt, daß der Papst die von dem saecularis iudex verhängte Infamie nicht tilgen kann (dominus papa talem infamiam non potest delere, licet possit sic damnatum ad poenitentiam recipere). Aber er kann die von ihm selbst verhängte Infamie tilgen (sed potest papa delere infamiam illius, qui sub suo iudicio infamis iudicatur). Dann fügt er hinzu: Hanc determinationem ponit Gregorius. Dann kommt erst seine eigene Meinung: Sed possumus generaliter dicere, quod dominus papa potest notatum infamia ab imperatore et depositum restituere in plenitudinem famae, quia potest illum facere monachum vel episcopum vel archiepiscopum. Ergo potest delere infamiam eius. Nur die infamia, welche die fama publica mala ist, kann der Papst nicht beheben, wohl aber die infamia, welche die privatio urbis ist. Diese letztere potest iudex delere, dominus papa vel alius. Die Summa kennt auch den Unterschied zwischen einer zeitweiligen und durch Buße zu tilgenden infamia und einer dauernden infamia; ad c. 4 C. 6 q. 1 (p. 131): Haec rubrica habens aliquid de praemisso deque subsequenti decreto videtur asserere, quod poenitentia (so dürfte statt poena der Druckausgabe zu lesen sein) deleat infamiam, quod quidem
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taturus magister121 und die Summa Monacensis122. Die Infamie wird durch die Zulassung zu den Sakramenten allein nicht getilgt123. Ist die Exkommunikation nicht infolge eines crimen entstanden, hört mit ihrer Absolution die Infamie auf124.
alibi non invenimus, nisi forte de apostatis, vel nisi forte etiam cum ipsa poenitentia restituatur expresse infamia; ad c. 2 C. 3 q. 4 (p. 119); Hoc decretum innuit in fine quamdam dictinctionem dicens: ,ante reversionem‘, quasi dicendum quia infamia sit privatio famae. Aliquando est ad tempus, velut quamdiu quis est excommunicatus quia recessit a synodo, vel quamdiu monachus fuerit extra monasterium. Absolvitur enim ille vel reus iste restituitur. Infamia perpetua durat nisi ex indulgentia principis aboleatur. Vgl. auch ad C. 3 q. 1 (p. 116): Restitutio fit ad famam ut infamibus. 118 Potest etiam dici, quod eam, que per civilem iudicem irrogatur infamiam iudex ecclesiasticus abolere non potest, nisi cum secularis iudex ab ecclesiastico iurisdictionem suam accepit. Illud etiam his omnibus verius est, quod omnem infamiam apostolicus ita abolere potest, ut non impediat promotionem vel ordinem, set non ita, quin impediat secularium negotiorum executionem. Imperator autem econtra abolitione sua civilia, non ecclesiastica iura restituit. Queri ergo potest, utrum in ecclesiastico foro libera vox ei detur, quem secularis potestas in integrum restituit. Ad quod sine preiudicio melioris sententie dici potest, quod imperialis clementia, licet restitutis penam remittat et civilis infamie maculam tollat, eam tamen, que in facto consistit, adimere non potest … Is autem, quem summi pontificis auctoritas in integrum restituit, quia non licere facit, ut sinister de preteritis rumor ventiletur, plenam regularis persone integritatem consequitur (A. Stickler, Imperator vicarius Papae: MIÖG 62 (1954) 195 A. 58). Hier zeigt sich deutlich die kurialistische Überspitzung. 119 Aiunt quidam infamiam tantum per principem aboleri; contra quos Gregorius: hanc tibi culpam ignoscimus ut 2 q. 3, paulum. Secundi asserunt aboleri per principem et summum pontificem; contra quos Gelasius … Tertii dicunt irrogatam per secularem iudicem aboleri posse per principem et irrogatam per ecclesiasticum iudicem aboleri per summum pontificem. Hiis Gratianus videtur consentire ut 2 q. 3 § hinc contra quos. Nomine dampnatum furti, iniuriarum, mandati, depositi posset post satisfactionem apostolicus ordinare (Stickler, Imperator vicarius Papae 195 A. 58). 120 Irrogata per secularem iudicem, potest per principem aboleri; set irrogata per ecclesiasticum potest aboleri per summum pontificem (Stickler, Imperator vicarius Papae 195 A. 58). 121 S. Tractaturus magister ad c. 7 C. 2 q. 3: Omnem autem infamiam irrogatam per legem potest imperator remittere suis; irrogatam vero secundum canones dominus papa maxime suis quantum ad executionem negotiorum, non omnem quantum ad promotionem ordinum (Stickler, Imperator vicarius Papae 195 A. 58). 122 Remittitur autem infamia aut per baptismum aut per sententiam aut per promotionem ut puta in episcopum. Set per sententiam relaxatur, ut cum in minoribus ordinibus ministrare permittitur, maioribus ademptis, quandoque minuitur ut in his, quibus adempta est omnis spes promotionis: in his, quos habent, ordinibus permanere conceditur (Stickler, Imperator vicarius Papae 196). 123 Stephanus ad c. 18 C. 6 q. 1 (p. 204). 124 Stephanus ad C. 4 q. l (p. 200).
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Der Instanzenzug in der Erzdiözese Mainz* Die Verhandlungen eines Gerichtes über eine Sache heißen Instanz. Die Entscheidung eines Gerichts kann wirklich oder vermeintlich ungerecht sein. Zur Nachprüfung und Abhilfe besteht die Möglichkeit, dagegen Berufung1 an das nächsthöhere Gericht einzulegen. Durch die Einlegung der Berufung hört die Instanz auf, und die Sache geht an den höheren Richter, die nächste Instanz über. Dieser Übergang von einem Gericht zum anderen wird als Instanzenzug bezeichnet2. Er richtet sich in der Kirche nach der hierarchischen Ordnung. Die erste Instanz für die in einer Diözese anfallenden streitigen Rechtssachen war normalerweise der Bischof. Die zweite Instanz war der Metropolit3. Die Berufung hatte grundsätzlich an den nächsthöheren Richter zu erfolgen. Das Allgemeine Konzil von Lyon von 1245 verbot die appellatio per saltum und ließ nur jene zu, die ein Oberrichter aufgrund bestehenden Gewohnheitsrechtes annehmen durfte4. Das Konzil von Trient ließ diese Ausnahme nicht gelten5. An den Papst kann jedoch von jedem Kirchenglied unmittelbar omisso medio Berufung eingelegt werden6. Die Appellation vollzog sich in folgender Weise. Der Kläger hieß pars appellans oder bloß appellans, der Beklagte pars appellata oder bloß appellatus7. Der Appellant rief in der Supplik den Oberrichter an, damit er die Sache annehme, und rechtfertigte seine Berufung im libellus gravaminum. Der Richter der höheren Instanz hatte darüber zu erkennen, ob gut appelliert und schlecht geurteilt worden sei oder umgekehrt. Die eingelegte Berufung hielt in der Regel die Vollstreckung des Urteils auf8. Wenn die Appellation als desert erkannt worden war, ging die Sache an die vorige Instanz zurück zur Vollstreckung des Urteils9. * Sämtliche in diesem Beitrag angeführten Archivalien stammen aus dem Dom- und Diözesanarchiv (DA) Mainz und aus dem Staatsarchiv (StA) Würzburg. 1 Philipp Hergenröther, Die Appellationen nach dem Decretalenrechte. Eichstätt 1875; G. Buchda, Appellation: HRG I, 1971, 196 – 200. 2 X 2, 19, 10. 3 X 2, 28, 66; VI 1, 16, 1; VI 2, 15, 3. 4 VI 2, 15, 3; VI 2, 2, 1. 5 Conc. Trid. Sess. 22 c. 7 de ref. (Joseph Alberigo/Joseph A. Dossetti/Perikles P. Joannou/ Claudius Leonardi/Paulus Prodi/Hubert Jedin (Hg.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta. 3. Aufl. Bologna 1973, 739 f.). 6 C. 2 q. 6 c. 4, 5, 6, 8, 10, 16; C. 9 q. 3 c. 17; X 2, 2, 20. 7 DA Mainz 1/607 S. 216 – 217 (19. Februar 1750). 8 DA Mainz 1/016 S. 136 (5. September 1707). 9 DA Mainz 1/025 S. 93 (19. April 1723).
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Prozeßrecht
I. Die erste Instanz Im Unterschied zur heutigen Rechtslage gab es in der Erzdiözese Mainz mehrere Gerichte, die in erster Instanz entscheiden konnten. Hier komplizierten sich die Instanzenverhältnisse durch die Tatsache, daß jahrhundertelang ein Netz von Archidiakonaten10 das Territorium überspannte und daß der größte Teil des Gebietes in Kommissariate11 eingeteilt war, die in bestimmtem Umfang Gerichtsbarkeit besaßen. 1. Die Gerichte der Archidiakone Über mehrere Jahrhunderte beanspruchten die Archidiakone jüngerer Ordnung eine iurisdictio ordinaria propria12. Sie besaßen demgemäß eine anfangs recht ausgedehnte streitige und eine beschränkte Strafgerichtsbarkeit13 ; sie unterhielten ein Gericht, dem der Offizial vorstand14. Ein literarischer Zeuge dieser Verhältnisse ist die Offizialatsordnung für den Archidiakonat Nörten, die am 13. September 1335 10 Ich erwähne aus der reichen Literatur: Wolfgang Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg. Grundzüge seiner Geschichte und Organisation (12.–16. Jahrhundert). Sondershausen 1932; Max Ehrenpfordt, Die Geistlichen Amöneburgs, insbesondere die Mitglieder des dortigen Kollegiatstifts zum hl. Johannes dem Täufer (1360 – 1802) (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und der Diözese Fulda XIII). Fulda 1932; Karl Lennarz, Propstei und Pröpste des St. Peterstifts in Fritzlar (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und Diözese Fulda XV). Fulda 1936; Helmut Fath, Das archidiakonale Gericht zu Aschaffenburg. Die Iudices Ecclesie Aschaffenburgensis, in: Aschaffenburger Jahrbuch 5 (1972) 51 – 249; Alfred Bruns, Der Archidiakonat Nörten (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 17 = Studien zur Germania Sacra 7). Göttingen 1967; Georg May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen (Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 2). Würzburg 1997, 445 – 592, hier 503 – 520. 11 Johann Wolf, Historische Abhandlung von den geistlichen Kommissarien im Erzstifte Mainz, besonders von denen im Eichsfelde, mit Beilagen. Göttingen 1797; Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung (sic) der Archidiaconate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen (1897) 112 – 277; Martin Hannappel, Mainzer Kommissare in Thüringen. Insbesondere die Erfurter Generalkommissare und die Siegler Simon Voltzke und Johannes Sömmering, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 36 (1942) 146 – 209; May, Ämter (Anm. 10), 543 – 552. 12 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 18 – 27; Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland. 6 Bde., Berlin 1869 – 1897, II, 183 – 205; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche. 5., durchgeseh. Aufl., Köln 1972, 201 – 203, 216 f., 369. 13 Fath, Gericht (Anm. 10), 112 – 138; Gresky, Archidiakonat (Anm. 10), 39 – 47, 61 – 63; Lennarz, Propstei (Anm. 10), 18 – 28. 14 Bruns, Archidiakonat (Anm. 11), 72 – 105; Carl Philipp Kopp, Ausführliche Nachricht von der ältern und neuern Verfassung der Geistlichen und Civil-Gerichten in den FürstlichHessen-Casselischen Landen. 2 Tle., Cassel 1769/71, I, 113 – 116, 167 – 173. Für den Offizial des Propstes des Erfurter Marienstiftes z. B. vgl. Alfred Overmann (Hg.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster Tl. 2. Magdeburg 1929, 546 (Reg.).
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durch den Propst Kuno von Falkenstein aufgestellt wurde15. Das Gericht des archidiakonalen Offizials war die erste Instanz16. Von ihm konnte an den Erzbischof Berufung eingelegt werden17. Die Berufungsschrift hieß instrumentum publicum appellationis18. Die richterliche Tätigkeit der Archidiakone bzw. ihrer Offiziale wurde jedoch wiederholt eingeschränkt19. Das Konzil von Trient bestimmte, daß alle vor das kirchliche Forum gehörigen Rechtssachen in der ersten Instanz nur vor den Ortsoberhirten erkannt werden sollten20. Damit war die Gerichtsbarkeit der Archidiakone erledigt. Sie verschwand auch in der Erzdiözese Mainz21. 2. Der Diözesanbischof Der geborene Richter erster Instanz in einem Bistum war der Diözesanbischof. So war es auch im Erzbistum Mainz22. Der Erzbischof übte normalerweise seine rechtsprechende Tätigkeit auf den Synoden aus23. Dort wurden Streitigkeiten innerhalb des Bistums vorgebracht und entschieden24. So wurde z. B. ein Streit zwischen dem Stift St. Peter in Mainz und dem Kloster Seligenstadt vor dem Erzbischof Christian geführt25. Die Synode war die erste Instanz26. Wenn der Erzbischof einen Streit außerhalb der Diözesansynode entschied, stützte er sich auch dabei lange Zeit auf einen Umstand von Klerikern und Laien27. In den Suffraganbistümern der Mainzer Kirchenprovinz nahmen die dortigen Diözesanbischöfe die 15
Bruns, Archidiakonat (Anm. 11), 128 – 130. Vgl. Wolf, Abhandlung (Anm. 11), Beilagen Nr. I, 3 – 5. 16 Coram dicto officiali in prima vertebatur … instantia (StA Würzburg MIB 56 fol. 229r–230r, 11. März 1538). 17 Z.B. von einem Urteil des Offizials der Präpositur des Erfurter Marienstifts (StA Würzburg MIB 56 fol. 229r–230r, 11. März 1538). 18 StA Würzburg MIB 56 fol. 229r–230r (11. März 1538). 19 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 31 – 38; Lennarz, Propstei (Anm. 10), 26; Fath, Gericht (Anm. 10), 154 f. 20 Sess. 24 c. 20 de ref. (Conciliorum Oecumenicorum Decreta 772 f.). 21 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 39 – 41. 22 Manfred Stimming (Bearb.), Mainzer Urkundenbuch. I. Bd. Die Urkunden bis zum Tode Erzbischof Adalberts I. (1137). Darmstadt 1972; Peter Acht (Hg.), Mainzer Urkundenbuch. Zweiter Band. Die Urkunden seit dem Tode Erzbischof Adalberts I. (1137) bis zum Tode Erzbischof Konrads (1200). 2 Tle., Darmstadt 1968/71. 23 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 429 f. Nr. 523 (2. November 1124); Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 74 – 76 Nr. 39 (20. März 1143); II, 185 – 187 Nr. 96 (1147); II, 441 – 443 Nr. 244 (1159). 24 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 400 Nr. 498 (1122); I, 429 f. Nr. 523 (2. November 1124). 25 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 622 – 624 Nr. 376 (1175). 26 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 827 f. Nr. 507 (1187). 27 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 474 – 476 Nr. 562 und 563 (1130); I, 530 f. Nr. 611 (1138).
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Stellung des Richters erster Instanz ein. So entschied beispielsweise der Bischof Otto II. von Konstanz am 17. Februar 1170 einen Streit um das Patronatsrecht an der Kirche zu Efringen28. Die Suffraganbischöfe waren dem Metropoliten in dem vom Recht bestimmten Umfang zum Gehorsam verpflichtet29. Verfehlungen eines Bischofs wurden vom Metropoliten den im Provinzialkonzil versammelten Bischöfen zur Entscheidung vorgelegt30. Dieses fungierte als erste Instanz. 3. Das Gericht des Mainzer Stuhles Die Schwerfälligkeit der Rechtsprechung auf der Synode und die häufige Abwesenheit des Erzbischofs veranlaßten ihn, seine erstinstanzliche Gerichtsbarkeit je nach Bedürfnis oder Notwendigkeit Geistlichen seines Bistums zu übertragen, die einen bestimmten Fall an Ort und Stelle entschieden31. Als sich die Beauftragung von Fall zu Fall als umständlich erwies, wurden allgemein delegierte Richter aufgestellt32. Daraus entstand der Gerichtshof der Iudices sancte Moguntine sedis33. Seit dem 13. Jahrhundert unterhielt der Mainzer Erzbischof ein ständiges bischöfliches Gericht in seiner Bischofsstadt. Die Kommission für den Mainzer Richter vom 2. Mai 147834 ermächtigte ihn, alle Streit- und Strafklagen, die in erster oder zweiter Instanz an den Mainzer Bischofsstuhl kamen (per viam simplicis querele aut per appellationem ad dictam nostram sedem introductas), zu hören und zu entscheiden. Ein und dieselbe Person war also befugt, in beiden Instanzen richterlich tätig zu werden. In späteren Jahrhunderten unterschied man – angesichts der kollegialen Organisation des Gerichtswesens – zwischen dem Vikariat und dem Metropolitangericht. Als erste Instanz bezeichneten die Ordinationes des Erzbischofs Franz Ludwig35 das Vikariat (Tit. XIII § 1), wir würden genauer sagen: das Vikariatsgericht. Das Mainzer Generalvikariat wurde nämlich in doppelter Funktion 28
Acht, Urkundenbuch II, 551 f. Nr. 323. Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 130 f. Nr. 210 (968). 30 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 374 Nr. 466 (1116). 31 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 745 – 748 Nr. 459 (17. November 1183): litem motam … cognoscendam et rationabili fine decidendam domino Christiano, tunc Maguntine sedis preposito, et Ottoni viro strenuissimo … vice nostra demandavimus; ebd. II, 498 – 500 Nr. 284 (1161 – 1165): Locum iudicis tenebat in vice episcopi Burchardus prepositus sancti Petri. 32 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 716 f. Nr. 445 (1181): Iudices a domino Christiano Maguntine sedis archiepiscopo delegati; II, 1086 – 1088 Nr. 666 (1196): Maguntine sedis iudices delegati; II, 1120 – 1122 Nr. 686 (1197); II, 1123 – 1126 Nr. 688 (1197 – 1198); II, 1138 – 1140 Nr. 695 (1. August 1199); II, 1145 – 1147 Nr. 701 (30. November 1199). 33 Georg May, Die Anfänge des Gerichtes des Heiligen Stuhles zu Mainz, in: Festschrift Alfred Wendehorst zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden, Schülern, hg. von J. Schneider/G. Rechter (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 32). Neustadt/Aisch 1992, 121 – 134. 34 Krusch, Studie (Anm. 11), 211 f. 35 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Em. et Ser. Principis ac Domini D. Francisci Ludovici. Mainz 1729. 29
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tätig, als Verwaltungsbehörde und als Gericht. Das Vikariatsgericht urteilte in erster Instanz über Sachen, die bei ihm eingebracht wurden36. Doch blieb es dabei nicht ohne Konkurrenz. 4. Der Generalvikar Der Generalvikar ist in das kirchliche Rechtsleben als Verwaltungsbeamter eingetreten37. Die älteste erhaltene Bestallung des Mainzer Generalvikars weiß noch nichts von der streitigen Gerichtsbarkeit38. Doch das änderte sich. Die Kommission von 143539 übertrug dem Generalvikar, für uns zum erstenmal erkennbar, in weitem Umfang die streitige Gerichtsbarkeit in Stadt und Diözese Mainz. Damit wurde er zum Richter erster Instanz gemacht. Wenn es in der Kommission heißt, er dürfe alle Streitsachen, die zum Amt des Generalvikars de consuetudine vel de iure gehören, entscheiden, dann ist klar, daß diese seine Kompetenz nicht erst im Jahre 1435 begründet worden ist. Der Generalvikar Johann von Lysura erhielt 143940 sogar noch weitergehende Vollmachten. Doch behielt sich der Erzbischof die Appellation an seine Person vor. Mit der Erweiterung der Vollmachten des Generalvikars für die Rechtsprechung trat er in Konkurrenz zu den Richtern des Mainzer Stuhles. Daß dieses Nebeneinander nicht zu einem Gegeneinander wurde, ist der Tatsache zu verdanken, daß die Gerichtsbarkeit in Mainz regelmäßig in kollegialer Weise ausgeübt wurde. Die gesamte, später als Generalvikariat bezeichnete Behörde wurde rechtsprechend tätig, und in sie war der Generalvikar eingebunden41. Die überragende und umfassende Stellung des Generalvikars in der Jurisdiktion blieb in den folgenden Jahrhunderten erhalten. Die Ordnung der Diözesankurie von ca. 165842 stellte den Generalvikar als den stellvertretenden Inhaber der ordentlichen Jurisdiktion des Erzbischofs dar. Seine gerichtlichen Entscheidungen galten als vom Erzbischof gefällt. Berufung war nur an den Apostolischen Stuhl möglich. Die Ordinationes des Erzbischofs Franz Ludwig beschrieben die Position des Generalvikars in der Weise, daß ihm alles anvertraut sei, was ihm vom kanonischen Recht zukomme und was er bisher ausgeübt habe, vorbehaltlich der Änderungen,
36 DA Mainz 1/016 S. 32 (21. Februar 1707); S. 35 – 36 (28. Februar 1707); S. 47 – 48 (24. März 1707); S. 49 (24. März 1707); S. 50 – 51 (24. März 1707); S. 56 (31. März 1707); DA Mainz 1/021 S. 334 (2. März 1719); S. 378 (24. April 1719); S. 408 (31. Mai 1719); S. 421 (19. Juni 1719); S. 427 (22. Juni 1719). 37 Feine, Rechtsgeschichte (Anm. 12), 372 f. 38 Georg May, Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz, in: ZRG Kan. Abt. 79 (1993) 189 – 231. 39 StA Würzburg MIB 22 fol. 77r–78v. 40 StA Würzburg MIB 23 fol. 332 – 333. Vgl. Krusch, Studie (Anm. 11), 129. 41 Das Protokoll der Berufungssachen vom 17. November 1729 verzeichnet als anwesend den Generalvikar, den Provikar, den Offizial, den Siegler, die Herren Kirchner, Betz, de Nitschke, die Assessoren Kirchner und Petz (DA Mainz 1/101 S. 1). 42 DA Mainz K 120, XIII–XXVI.
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die in diesem Gesetz vorgesehen seien43. Die Ordinationes des Erzbischofs Karl Philipp44 erinnerten daran, daß der Erzbischof dem Generalvikar bei seiner Ernennung seine Jurisdiktion über die Diözese und die Kirchenprovinz übertragen habe, und gab ihm nun den Vorsitz im Vikariats- und im Metropolitangericht. 5. Die Gerichte der Kommissare In der Erzdiözese Mainz existierte eine eigenwillige Bildung des Partikularrechtes, die sich auch auf die Gerichtsbarkeit auswirkte. Seit dem 14. Jahrhundert setzten die Mainzer Erzbischöfe an verschiedenen Orten ihres Sprengels Kommissare als ihre ständigen Stellvertreter ein45, und zwar in Amöneburg46, in Aschaffenburg47, in Erfurt48, in Fritzlar49, in Heiligenstadt50, in Mainz51 und in Nörten52. In der Abgrenzung der Kommissariate gab es im Laufe der Jahrhunderte einige Bewegung, die aber hier nicht thematisiert zu werden braucht. Die Befugnisse der Kommissare waren nicht die gleichen, weder derjenigen, die nacheinander an ein und demselben Ort wirkten, noch der anderen, die an verschiedenen Orten tätig waren53. Ursprünglich wurden sie allein mit Aufgaben und Vollmachten der geistlichen Verwaltung betraut. Später wurde ihnen auch die streitige Gerichtsbarkeit übertragen. Der Kommissar in Aschaffenburg erhielt sie schon in der Kommission vom 18. November 143154. Der Kommissar in Heiligenstadt bekam die streitige Gerichtsbarkeit, beschränkt auf Ehesachen, am 28. März 148755. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts besaß der Fritzlarer Kommissar die streitige Gerichtsbarkeit erster Instanz für die beiden Propsteien Fritzlar und Hofgeismar56. Der Kommissar in 43
Ordinationes Tit. II § 1. Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini editae ex mandato Em. ac Clem. Domini, D. Philippi Caroli, S. Sedis Moguntinae Archiepiscopi. Mainz 1738, Tit. I. 45 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 2 – 14. 46 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 58 – 62; Ehrenpfordt, Geistlichen (Anm. 10), 30 – 32. 47 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 62 – 64; Fath, Gericht (Anm. 10), 153 – 162. 48 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 64 – 68. 49 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 70 – 72; Karl E. Demandt, Das Chorherrenstift St. Peter zu Fritzlar. Quellen und Studien zu seiner mittelalterlichen Gestalt und Geschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 49). Marburg 1985. 50 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 74 – 77; Arno Wand, Das Eichsfeld als Bischöfliches Kommissariat 1449 – 1999. Ein Amt macht Geschichte (Studien zur katholischen Bistumsund Klostergeschichte Bd. 41). Leipzig 1999. 51 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 49 – 58; Krusch, Studie (Anm. 11), 133 f. 52 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 78 – 81; Bruns, Archidiakonat (Anm. 11), 105 – 111. 53 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 27 – 31. 54 StA Würzburg MIB 20 fol. 30 – 31v. Vgl. Krusch, Studie (Anm. 11), 132; Fath, Gericht (Anm. 10), 158 – 162. 55 StA Würzburg MIB 46 fol. 157r–v. Vgl. Krusch, Studie (Anm. 11), 132; Wand, Das Eichsfeld (Anm. 50), 28. 56 StA Würzburg MIB 51 fol. 29v (1502); fol. 60v–61r (1510). 44
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Göttingen (für das Gebiet der beiden Propsteien Nörten und Einbeck) wurde am 29. September 153357 betont zum geistlichen Richter erster Instanz (per viam simplicis querelae) ernannt. Die richterlichen Vollmachten der Kommissare waren ausgedehnter als die der Archidiakone. Für die Zeit nach der Abschaffung der Archidiakonen sei auf das Kommissorium für den Kommissar Christoph Jagemann in Heiligenstadt vom 22. Januar 1636 verwiesen58. Die Kommissare waren Richter erster Instanz59. Sie waren in ihrer Gerichtsbarkeit dem (erstinstanzlichen) Gericht des Mainzer Stuhls nicht unter-, sondern nebengeordnet. Die Ordinationes des Erzbischofs Franz Ludwig erklärten, daß an den Orten, wo ständige Kommissare sich befinden, diesen die erste Instanz zustehe. Nichts dürfe vor das Konsistorium gezogen werden als Berufungssachen, Nichtigkeitsbeschwerden und Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand in Streitsachen (Tit. XIII § 4). Dieses Verhältnis wurde in den Akten deutlich ausgesprochen. Das Kommissariat zu Duderstadt z. B. war „Richter erster Instanz“60. Urteile aus Fritzlar61, Aschaffenburg62 und dem Eichsfeld63 lassen sich in großer Zahl nachweisen. 6. Das Generalgericht zu Erfurt Ähnliche Beweggründe wie in den übrigen Teilen der Erzdiözese Mainz sprachen dafür, die erzbischöfliche Gerichtsbarkeit in dem entlegenen Thüringen durch delegierte Richter wahrnehmen zu lassen. Bereits für 1199 lassen sich iudices in Erphort delegati nachweisen64. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts setzte der Erzbischof einen ständigen Provinzialgerichtshof in Erfurt ein65. Was die Kommissariate je für ihr Gebiet waren, das war das Generalgericht zu Erfurt für seinen Bereich, der sich allerdings nicht immer gleich blieb. Für 1355 liegt die erste erhaltene Kommission für einen Generalrichter vor66. Ihm wurde die ordentliche Jurisdiktion des Mainzer Stuhles übertragen, jedoch mit Beschränkung auf die Bezirke der beiden 57
StA Würzburg MIB 56 fol. 37v; Krusch, Studie (Anm. 11), 234 f. Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 42 – 46, 120 – 124 mit Beilage XVII S. 27 – 29. 59 Georg Ludwig Karl Kopp, Die katholische Kirche im neunzehnten Jahrhunderte und die zeitgemäße Umgestaltung ihrer äusseren Verfassung mit besonderer Rücksicht auf die in dem ehemaligen Mainzer, später Regensburger Erzstift hierin getroffenen Anstalten und Anordnungen. Mainz 1830, 451. 60 DA Mainz 1/618 S. 600 (13. November 1777). 61 DA Mainz 1/620 S. 66 – 67 (11. April 1782). 62 DA Mainz 1/021 S. 398 (13. Mai 1719). 63 DA Mainz 1/620 S. 37 – 38 (28. Februar 1782). 64 K. F. Stumpf, Acta Maguntina saeculi XII. Innsbruck 1863, 140 Nr. 137. Ebenso 144 Nr. 143 (1199 – 1200). 65 Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (EThSt Bd. 2). Leipzig 1956. 66 StA Würzburg MIB 3 fol. 324; Stephan Alexander Würdtwein, Dioecesis Moguntina in archidiaconatus distincta. Commentatio XI: De archidiaconatu prepositi ecclesiae collegiatae Beatae Mariae Virginis Erfordensis. Mannheim 1790, 248 Nr. 33. 58
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Erfurter Propsteien und jener von Jechaburg und Dorla. Die räumliche Zuständigkeit wurde später auf das Gebiet der Propsteien Heiligenstadt, Nörten, Einbeck, Bibra und Fritzlar erweitert. Die Erfurter Richter waren auf Klagen erster Instanz beschränkt. Ein solcher Fall lag beispielsweise vor, als am 7. Dezember 1386 das Urteil gesprochen wurde67. Die Kommission vom 6. September 146368 erklärt ausdrücklich, daß sie lediglich über erstinstanzliche Sachen (per viam simplicis querele) zu richten haben. Das Erfurter Generalgericht war keine Appellationsinstanz von Urteilen der Kommissariatsgerichtshöfe. Durch die Einrichtung des Erfurter Generalgerichts büßte das (erstinstanzliche) Gericht des Mainzer Stuhls grundsätzlich nichts von seiner Kompetenz, auch in bezug auf das Gebiet, ein. Das heißt: Die Einwohner des Territoriums, für die das Generalgericht zuständig war, konnten ihre Klage auch in Mainz einbringen, es sei denn, es standen Privilegien de non evocando69 entgegen, die zum Angehen des Erfurter Generalgerichts in erster Instanz verpflichteten. Die Privilegia de non evocando wurden regelmäßig mit der Einschränkung gewährt, daß bei Appellationen die Ladung vor den Mainzer (Metropolitan-)Gerichtshof zulässig war. 7. Die Commissiones bzw. die Commissio perpetua a) Die Commissiones Die Berufung von dem Mainzer Vikariatsgericht ging sogleich an die Römische Kurie70. Dieser Instanzenzug besagte, daß es für diese erstinstanzlichen Klagen keine Berufungsinstanz in Mainz gab. Darin lag eine beträchtliche Erschwernis für die Streitparteien. Man suchte und fand Abhilfe. Dies geschah zunächst in der Weise, daß das Vikariat Streitsachen einer ad hoc bestellten Kommission übertrug. Ein Beispiel: Die Ehesache Sternemann – Kiefer wurde in erster Instanz durch deputierte Kommissare entschieden und kam dann in zweiter Instanz vor das Vikariat71. Dadurch bildete es eine erste Instanz, an die dann zu ihm, dem Plenum Vicariatus, als zweiter Instanz appelliert werden konnte72. Die Einsetzung einer Kommission schlug sich im Protokoll des Vikariatsgerichts wie folgt nieder: „Ist die Commission auf Assessores Mayer et Kirchner erkanth umb beyde klagpunct zu untersuchen und darinn zu sprechen waß rechtens“73. Regelmäßig wurde erklärt,
67
Overmann, Urkundenbuch II (Anm. 14), 414 Nr. 860. StA Würzburg MIB 30 fol. 13r–v; 36 fol. 183r–v. 69 Th. Schadow, Privilegia de non evocando: HRG III (1984) 2011 f. 70 DA Mainz 1/021 S. 277. 71 DA Mainz 1/017 S. 157 (2. Dezember 1709). 72 DA Mainz 1/021 S. 344 – 345 (13. März 1719). Vgl. DA Mainz 1/021 S. 14, 34, 72, 94, 146, 171, 179, 197, 205, 208, 212, 232, 235, 276 – 277, 351, 356, 385. 73 DA Mainz 1/021 S. 62 (17. März 1718). 68
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daß eine Partei „a commissione ad Reverendissimum vicariatum appelliren“ dürfe74. Die Entscheidung erging in diesem Falle in pleno vicariatu. b) Die Commissio perpetua für Ehesachen Die Zusammenstellung einer Kommission für jeden einzelnen Fall erwies sich als umständlich. Daher errichtete Erzbischof Emmerich Joseph im Jahre 1770 eine ständige Kommission (Commissio perpetua) (allein) für Ehesachen75. Die Berufungen von ihren Entscheidungen gingen an das Vikariatsgericht. In den Akten heißt es, von den Entscheidungen der Commissio perpetua und des Siegelamtes werde an das erzbischöfliche Vikariat appelliert76. c) Die Commissio perpetua mit erweiterter Zuständigkeit Die Beschränkung der Spruchtätigkeit der Commissio perpetua auf Ehesachen erwies sich als zu eng. In der Sitzung des Generalvikariats vom 28. September 1778 brachte der Provikar vor, daß allein das ganze Untererzstift in Prozeßsachen – außer den Ehestreitigkeiten – keine zweite erzbischöfliche Instanz habe, so wie auch die Causae contentiosae, die einzelne Glieder der Kollegiatstifte zu Fritzlar, Amöneburg und Aschaffenburg betreffen, da an diesen Orten die Kommissariate größtenteils mit Stiftsmitgliedern besetzt seien, sogleich an das erzbischöfliche Vikariat gebracht würden. Dadurch würden manche oft wider Willen genötigt, sogleich eine Berufung nach Rom – mit größtem Kostenaufwand – zu ergreifen. Daher schlage er vor, daß, vom künftigen ersten Gerichtstage nach dem Fest des hl. Martin anfangend, alle Parteisachen an die erzbischöfliche Commissio perpetua zur rechtlichen Verfügung und Entscheidung, salva Appellatione ad Plenum Reverendissimi Vicariatus, zu verweisen seien außer jenen Causae, die durch ein Endurteil oder durch ein Interlocut („so Definitivam in Ventre gehabt“) wirklich bei dem erzbischöflichen Generalvikariat entschieden worden sind, „sofort auf der Execution erliegen“. Diese Übertragung an die erzbischöfliche Kommission sei um so weniger schwierig, als bisher schon das Protocollum in Judicialibus besonders geführt worden sei, mithin das in der erzbischöflichen Registratur befindliche einstweilen dahin abgegeben werden könne. Dem Sekretär des Bischofsstuhles (Secretario Sedis) entgehe dadurch nichts, da er bei der erzbischöflichen Kommission ebenso die Stelle eines Sekretärs versehe. Diese zu treffende Verfügung müsse den Prokuratoren des erzbischöflichen Vikariats bekannt gemacht werden, und sie seien aufzufordern, künftig jeden Mittwoch bei der Commissio perpetua zu erscheinen und dort in Causis judicialibus des Mainzer Unterstifts sowie auch in Causis contentiosis, wenn 74
DA Mainz 1/023 S. 285 (27. November 1721). Vgl. DA Mainz 1/023 S. 288 (1. Dezember 1721); DA Mainz 1/024 S. 164 – 165 (22. Juni 1722). 75 Franz Joseph K. Scheppler, Codex ecclesiasticus Moguntinus novissimus. Aschaffenburg 1802, VI. 76 DA Mainz 1/616 S. 122 (14. November 1776).
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sie Glieder der Kollegiatstifte zu Fritzlar, Aschaffenburg oder Amöneburg betreffen, die rechtlichen „Bescheiden“ – salva appellatione ad Plenum Reverendissimi Vicariatus – zu vernehmen und zu gewärtigen. Nach diesem Vortrag erklärte sich das Plenum des Vikariates mit dieser zu treffenden Einrichtung „vollkommen einverstanden“77. Dem Erzbischof war die Erweiterung der Zuständigkeit der Commissio perpetua ebenfalls genehm. Die Commissio perpetua sprach demgemäß fortan nicht nur in Ehesachen Recht, sondern auch in anderen Gegenständen, z. B. in einer Stiftungssache (puncto fundationis redintegrandae)78. 8. Das Judicium ecclesiasticum Die durch die Erweiterung der Kompetenz der Commissio perpetua eingeleitete Entwicklung drängte weiter. Am 25. September 1784 erließ Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal eine umfangreiche Verordnung über das Generalvikariat79. In Tit. IV De Sigillifero § 4 richtete er als erste Instanz für das untere Erzstift das Judicium ecclesiasticum ein. Dort waren in Zukunft alle Streitsachen anzubringen, die bisher vor der Commissio perpetua (und dem Siegelamt) verhandelt worden waren. Appellationen sollten ad plenum Vicariatum gerichtet werden. Das heißt: An die Stelle der Commissio perpetua trat für das Unterstift das Judicium ecclesiasticum80. Es führte den Namen „Erzbischöfliches Geistliches Gericht und SiegelAmt“. Damit waren klar erkennbar zwei voneinander unterschiedene Gerichte in der Erzdiözese geschaffen. Das gesamte Erzbistum besaß nun einen sicheren Instanzenzug. 9. Das Siegelamt Für Streitsachen bestimmter Art bestand in der Erzdiözese Mainz schon seit längerer Zeit eine Art Sondergericht erster Instanz, das Siegelamt81. Der Siegler besaß gerichtliche Befugnisse im Bereich seiner Zuständigkeit. Vor ihm wurden Nachlaß- und Erbstreitigkeiten verhandelt. Der Siegler war nach den Ordinationes des Erzbischofs Franz Ludwig berechtigt und verpflichtet, in Erbschaftsangelegenheiten als Richter zu fungieren. Von seiner Entscheidung gab es die Möglichkeit der Berufung an das erzbischöfliche Konsistorium (Tit. VI § 6). Die Ordinationes des Erzbischofs Philipp Karl beließen es dabei (Tit. IV § 5). Bei Todesfällen gab es häufig Streit über Nachlaßverbindlichkeiten. Nicht selten wurde er gerichtlich ausgetragen. Solche Verfahren lassen sich daher in beträchtlicher Zahl nachweisen82. 77
DA Mainz 1/066 S. 765 – 767 (28. September 1778). DA Mainz 1/620 S. 486 – 487 (11. Dezember 1783). 79 DA Mainz 1/72 b Generalvikariats-Protokoll 1784 S. 1364 – 1464. 80 Z.B.: DA Mainz 1/623 S. 39 (31. März 1791). 81 DA Mainz 1/401 – 1/418 Siegelamtsprotokolle 1760 – 1795. 82 Z.B.: DA Mainz 1/620 S. 10 – 11 (17. Januar 1782). 78
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10. Das Gericht des Rabbiners Die Juden in dem Erzstift Mainz besaßen in gewissem Umfang eine eigene Gerichtsbarkeit. Sie wurde wahrgenommen von den Rabbinern83. An sie waren jüdische Streitparteien grundsätzlich gewiesen. Die Juden konnten ihre Streitsachen aber auch bei den Gerichten der Kommissariate, z. B. in Aschaffenburg, anbringen. Diese besaßen eine unmittelbare Jurisdiktion über die Juden. Wenn ein Jude gegen einen anderen Juden klagte, mußte nicht zuerst der Mainzer Rabbiner die jurisdictio judicialis ausgeübt haben, bevor die erwähnten Gerichte tätig werden durften. Dagegen hatte der Rabbiner von der Kognition einer Sache abzustehen, wenn sie bei diesen Gerichten anhängig war84. Anders als im Mainzer Erzstift war die Rechtslage in der Reichsstadt Frankfurt. Den Kommissar zu Aschaffenburg wies das Vikariat aus gegebenem Anlaß darauf hin, daß die Judenschaft zu Frankfurt nicht unmittelbar unter dem Kommissariat stehe85. Das bedeutete, daß ein Jude nicht ohne Vorherwissen oder Requisition der weltlichen Obrigkeit zitiert werden durfte.
II. Die zweite Instanz Der Mainzer Erzbischof war in seiner Eigenschaft als Metropolit Richter zweiter Instanz86. Auch als die bischöfliche Rechtsprechung auf Synoden87 ausgeübt wurde, war zwischen erst- und zweitinstanzlichen Sachen zu unterscheiden. Das Dekretalenrecht sah die Appellation vom (Suffragan-)Bischof an den Erzbischof (Metropoliten) vor88. Der Ordo iudiciarius Antequam hielt fest, daß die Berufung vom Bischof an den Metropoliten gehe (§ 85)89. Das Konzil von Trient beschäftigte sich relativ ausführlich mit dem Instanzenzug in der Rechtsprechung. Als zweite Instanz konnte es niemand anderen als den Metropoliten ansehen90. Im Mittelalter gab es für die Iudices sancte Moguntine Sedis keine ständige zweite Instanz in der Kirchenprovinz Mainz. Vom bischöflichen Generalvikar oder Offfizial kann nicht an den Bischof appelliert werden, weil Bischof und Generalvikar bzw. Offizial ein und dasselbe Gericht bilden91. Lediglich für einzelne Fälle 83
Friedrich Schütz, Magenza, das jüdische Mainz, in: Franz Dumont/Ferdinand Scherf/ Friedrich Schütz (Hg.), Mainz. Die Geschichte der Stadt. Mainz 1998, 679 – 702, hier 687. 84 DA Mainz 1/041 S. 287 – 288 (13. Juli 1750). 85 DA Mainz 1/042 S. 235 – 236 (7. Juli 1751). 86 Hinschius, System II (Anm. 12), 14 – 23. 87 Hinschius, System III (Anm. 12), 582 – 603. 88 X 1, 31, 11; VI 2, 15, 3; VI 2, 2, 1. 89 Otto Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter. II. Bd.: Texte (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft 26. Heft). Paderborn 1915, 45. 90 Sess. 24 c. 20 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta, 772 f.). 91 VI 1, 4, 2; VI 2, 15, 3.
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bestellte der Mainzer Erzbischof, wenn die Sache in erster Instanz vor den Iudices verhandelt worden war, Richter zweiter Instanz92. Normalerweise blieb, wenn die Richter des Mainzer Stuhles einen Prozeß durch Endurteil abgeschlossen hatten, nur die Möglichkeit, den Apostolischen Stuhl anzurufen. Ein in der Diözese Mainz anhängiger Streit war in zweiter Instanz vor den Apostolischen Stuhl gebracht worden, der zwei delegierte Richter bestellte93. Der Papst wies die ihm durch Berufung zugegangene Sache nicht selten an den Metropoliten zur Entscheidung zurück94. Die Befugnis, dem Gericht des Apostolischen Stuhles oder des päpstlichen Legaten vorbehaltene Fälle zu entscheiden, mußte dem Erzbischof (Bardo) vom Papst verliehen werden95. Die Lage änderte sich nicht grundsätzlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Das heißt: Von erstinstanzlichen Urteilen des Mainzer Vikariatsgerichtes wurde an die Römische Kurie Berufung eingelegt96. Es ist sicher, daß zu diesem Zeitpunkt im Erzbistum Mainz keine zweite Instanz für Urteile, die das Vikariatsgericht in erster Instanz gefällt hatte, bestand97. Am 16. Mai 1754 sprach das Vikariatsgericht das Urteil in einer Sache, wo die Klägerin in Kreuznach, der Beklagte in Frankfurt den Wohnsitz hatte. Der Prokurator der unterlegenen Partei appellierte ad Curiam Romanam98. Als Stellvertreter des Mainzer Erzbischofs in seiner doppelten Eigenschaft als Diözesanoberhirt und Vorsteher der Kirchenprovinz hatte der Richter des Mainzer Stuhls die Befugnisse, in zwei Instanzen Recht zu sprechen. Spätestens seit 1434 wurde dem Richter des Mainzer Stuhls in dem Kommissionsschreiben die Gerichtsbarkeit erster und zweiter Instanz ausdrücklich übertragen99. Die zweite Instanz wurde lange Zeit als Protonotariat oder Protonotariatsgericht bezeichnet. Doch ist zu beachten, daß als Protonotariatssachen (nur) die zweitinstanzlichen Prozesse aus den Suffraganbistümern, als Appellationssachen dagegen die in erster Instanz vor den Kommissariaten bzw. Kommissionen geführten Verfahren bezeichnet wurden. Die Ordinationes des Erzbischofs Franz Ludwig nannten die zweite Instanz Consistorium (Tit. VI § 6). Die Ordinationes des Erzbischofs Philipp Karl sprachen vom forum Metropoliticum (Tit. I) und Consistorium (Tit. IV § 8). 92
Z.B.: Stephan Alexander Würdtwein, Nova Subsidia diplomatica 14 Bde. Heidelberg 1781 – 1792, VII, 160 f. Nr. 76 (1339). 93 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 745 – 748 Nr. 459 (1183): a summo pontifice causa cognoscenda et rationabili fine decidenda delegata est. 94 J. F. Böhmer/C. Will, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Uriel von Gemmingen 742?–1514, 2 Bde. Innsbruck 1877/86, I, 319 Nr. 3 (1142); Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 185 – 187 Nr. 96 (1147); II, 353 – 356 Nr. 191 (4. März 1150). 95 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 174 f. Nr. 278 (1032). 96 Z.B.: DA Mainz 1/016 S. 120 – 121 (22. August 1707); DA Mainz 1/021 S. 41 (17. Februar 1718). 97 Z.B.: DA Mainz 1/023 S. 175 – 176 (26. Juni 1721). 98 DA Mainz 1/045 S. 152 – 153. 99 Krusch, Studie (Anm. 11), 211.
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Genauer war die Bezeichnung Metropolitangericht für die zweite Instanz. Am 1. Dezember 1701 heißt es am Schluß eines von den Mainzer Richtern gefällten Urteils: in Archiepiscopali et Metropolitico Iudicio100. In den Akten finden sich die Ausdrücke iudicium Metropoliticum101, Judicium Metropolitanum Moguntinum102 und forum Metropoliticum103. Das Metropolitangericht handelte mit metropolitica auctoritas104. Der Ausdruck Metropolitangericht blieb dem Mainzer zweitinstanzlichen Gericht für die Fälle vorbehalten, die von den Suffraganbistümern vorgebracht wurden. Die Bezeichnung Judices Sanctae Moguntinae Sedis wurde zu diesem Zeitpunkt allein von dem Metropolitangericht in Anspruch genommen. Die Mainzer Richter zweiter Instanz führten sich im Text des Urteils feierlich ein: Judices S. Sedis Moguntinae Christi nomine invocato, pro tribunali sedentes, solum Deum et Justitiam prae oculis habentes105. Nicht selten sagte das Metropolitangericht in seinen Urteilen und Beschlüssen, daß es in zweiter Instanz tätig wurde: In causa et causis coram Nobis in secunda instantia vertentibus106. 1. Bei erstinstanzlichen Urteilen der Suffraganbischöfe Das eigentliche Feld des Mainzer Metropolitangerichtes war die Entgegennahme und die Entscheidung von Streitigkeiten aus den Suffraganbistümern der Mainzer Kirchenprovinz. Verfehlungen und Streitigkeiten in den Suffraganbistümern einer Kirchenprovinz kamen in zweiter Instanz ursprünglich an das Provinzialkonzil, Auseinandersetzungen zwischen Bistümern unmittelbar107. Doch wurden Provinzialkonzilien nicht in dem vorgeschriebenen und erforderlichen Umfang abgehalten108. So mußte der Metropolit als Richter zweiter Instanz tätig werden, entweder persönlich oder durch seine Richter. Aus dem Jahre 1149 wird von einer Berufung berichtet, die gegen das Urteil des Speyerer Bischofs an den Mainzer Metropoliten eingelegt wurde109. Den Streit zwischen dem Bischof von Basel und dem Kloster St. Ulrich entschied ca. 1167 – 69 Erzbischof Christian von Mainz110. Ein Streit, der in der Diözese Konstanz in erster Instanz begonnen wurde, gelangte 100
DA Mainz 1/204 S. 49. DA Mainz 1/206 S. 221 (4. Mai 1719). 102 DA Mainz 1/206 S. 132 (1. Juli 1717). 103 DA Mainz 1/206 S. 220 (4. Mai 1719). 104 DA Mainz 1/208 S. 266 (5. Juli 1725). 105 DA Mainz 1/204 S. 49 (1. Dezember 1701). 106 DA Mainz 1/207 S. 75 (30. Januar 1716). 107 Stimming, Urkundenbuch I (Anm. 22), 94 Nr. 159 (877 – 878); I, 170 f. Nr. 272 (1026); I, 443 f. Nr. 535 (1125); I, 505 – 507 Nr. 588 (21. Oktober 1133); I, 508 Nr. 590 (1133 – 1134). 108 Brigitte Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen der Erzbischöfe von Mainz im 14. und 15. Jahrhundert. Phil. Diss. Göttingen. Göttingen 1965, Masch. 109 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 232 f. Nr. 122. 110 Acht, ebd., 541 f. Nr. 316. 101
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per appellationem an den Mainzer Stuhl111. Ebenso war es mit einer Wormser Sache112. Die Iudices sancte Moguntine sedis traten wie selbstverständlich in das Recht des Metropoliten ein, Appellationen aus den Suffraganbistümern entgegenzunehmen113. Zu Beginn ihrer Tätigkeit übten die Richter des Mainzer Stuhls die Rechtsprechung zweiter Instanz noch auf der Synode aus114. Später lösten sie sich davon. Das Reskript vom 21. Dezember 1658115 wies dem Gericht des Protonotars die (alle) streitigen Sachen und jene, die einen förmlichen Prozeß erfordern, sowie die Appellationssachen aus den Suffraganbistümern zu. Dem Generalvikar verblieben die Verwaltungsangelegenheiten. Wenn diese Anordnung durchgeführt worden wäre, dann hätte in Mainz eine saubere Trennung von Behörden der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung bestanden. Doch die Kommission für die Generalvikare bezeugen das Gegenteil, nämlich die andauernde ausgedehnte Gerichtsbefugnis derselben116. Das Generalvikariat und in ihm der Generalvikar war im ganzen 18. Jahrhundert (auch) als Gericht tätig, und zwar als solches erster Instanz für das Unterstift und als Berufungsgericht für die Gerichtshöfe der Kommissariate und (nach Zuweisung) der Suffraganbistümer. Von Erzbischof Albert ist bekannt, daß er Berufungssachen seinem Generalvikar Valentin von Teteleben zur Behandlung und Entscheidung übertrug117. Die Ordnung der Diözesankurie von ca. 1658118 nannte den Protonotar als höchsten und ordentlichen Richter aller Gerichtssachen zweiter Instanz, die von den Suffraganbistümern durch Berufung nach Mainz gebracht wurden. Doch er war es infolge der kollegialen Verfahrensweise nicht allein. In den ersten Worten des Urteilstenors gab das Metropolitangericht stets an, aus welcher Diözese der Prozeß vor die zweite Instanz kam, z. B.: In Causa appellationis Augustanae119. Bis zum Ende der Reichskirchenverfassung und damit der Mainzer Kirchenprovinz nahmen die Mainzer Richter Appellationen entgegen. Die Zahl der in Mainz eingeführten Appellationen hing selbstverständlich auch von der Größe des jeweiligen Suffraganbistums ab. Besonders häufig waren die Berufungssachen, die aus der Diözese 111 Acht, ebd., 624 f. Nr. 377 (1175). Vgl. ebd., 650 – 652 Nr. 397 (1175 – 1177); 735 – 736 Nr. 453 (1181 – 1182): Moguntini archiepiscopi subterfugii causa appellavit audientiam. 112 Acht, ebd., 827 – 828 Nr. 507 (1187): totum negocium per appellationem ad Moguntinam ecclesiam transtulerunt. 113 J. Escher/P. Schweizer (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich. Zürich 1888, I, 248 Nr. 368; I, 248 Nr. 369. 114 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 827 f. Nr. 507 (1187): partibus … in sinodo Moguntina constitutis. 115 Scheppler, Codex ecclesiasticus (Anm. 75), 134. 116 Z.B: StA Würzburg MRA H 1804 (1669). 117 StA Würzburg MIB 56 fol. 229r–230r (11. März 1538). 118 DA Mainz K 120 S. XVIII. 119 DA Mainz 1/608 S. 332 (22. November 1753).
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Konstanz eingingen. Allerdings handelte es sich dabei um ein sehr ausgedehntes Bistum. 2. Bei erstinstanzlichen Urteilen von Kommissariatsgerichten Die Berufung von den Gerichten der Kommissariate ging an das Mainzer Gericht zweiter Instanz. Leider wird in den Urteilen der zweiten Instanz bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts selten angegeben, von welchem Kommissariatsgericht das Urteil erster Instanz gefällt wurde120. Bei Prozessen von den Kommissariaten, die in Mainz in zweiter Instanz verhandelt wurden, waren die Urteile ursprünglich stets in deutscher Sprache abgefaßt; nur am Schluß hieß es in lateinischer Sprache: Publicata in Vicariatu Archiepiscopali Moguntino121. Nach der Errichtung des Judicium ecclesiasticum als erster Instanz für das Untererzstift wurden auch für die von den Kommissariaten eingebrachten Sachen die Urteile in der zweiten Instanz in lateinischer Sprache abgefaßt122. Die meisten Berufungsverfahren kamen aus Aschaffenburg nach Mainz, gefolgt vom Eichsfeld. In der Sitzung des Gerichts zweiter Instanz vom 17. September 1778 wurden neun Aschaffenburger Sachen verhandelt und drei Urteile in Aschaffenburger Rechtsstreitigkeiten gesprochen123. 3. Bei erstinstanzlichen Urteilen einer Kommission, der Commissio perpetua, des Siegelamtes sowie des Erzbischöflichen Geistlichen Gerichts und Siegel-Amtes Dadurch, daß für die erstinstanzliche Behandlung einer Streitsache eine Kommission aufgestellt wurde, schuf man, wie erwähnt, in der Erzdiözese Mainz eine Appellationsmöglichkeit. Ein Beispiel für dieses Verfahren. Die Eheversprechungssache Rütting – Steinmetz war in erster Instanz durch für diesen Fall bestimmte Kommissare abgeurteilt worden. Sie kam nach Berufung vor das Mainzer Gericht zweiter Instanz124. Die Einrichtung der Commissio perpetua institutionalisierte den Instanzenzug im unteren Erzstift. Es lassen sich zahlreiche Rechtsfälle nachweisen, die diese beiden Instanzen durchliefen125. In Urteilen zweiter Instanz über erstinstanzliche Urteile der Commissio perpetua hieß es im Urteilstenor: „In 120 Ausnahme z. B. DA Mainz 1/023 S. 171: In Aschaffenburger appellationssachen (23. Juni 1721); 1/106 S. 5: In Eichsfelder appellations-Sachen (6. September 1753). 121 DA Mainz 1/023 S. 15 (23. Januar 1721). 122 Z.B.: DA Mainz 1/622 S. 309 (2. Juli 1789): In Causa Appellationis eichsfeldensis etc.; 457 (1. Juli 1790): In Causa Appellationis Amoeneburgensis etc. 123 DA Mainz 1/618 S. 779 – 788. 124 DA Mainz 1/024 S. 164 – 165 (22. Juni 1722). 125 DA Mainz 1/618 S. 6 (15. Dezember 1774); 1/618 S. 250 (8. Februar 1776); 1/618 S. 475 – 476 (27. Februar 1777); 1/618 S. 485 – 486 (3. März 1777); 1/618 S. 703 – 704 (2. April 1778).
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Appellationssachen von hiesiger Erzbischöflichen Commissione perpetua …“126 Auch wenn hier nicht vom Metropolitangericht die Rede ist, besteht kein Zweifel, daß, personell gesehen, dieses es war, das als zweite Instanz fungierte. Fälle, die das Erzbischöfliche Siegelamt in erster Instanz entschieden hatte, kamen nach Berufung vor das Mainzer Gericht zweiter Instanz. Es waren ausschließlich Nachlaßsachen127. Auch in diesen Fällen vermied man, diese Instanz als Metropolitangericht zu bezeichnen. Ab 2. Dezember 1784 – nach der Neuordnung des Ordinariates – tauchten im Protokoll des Metropolitangerichtes Appellationen von dem Judicium ecclesiasticum auf128. Jetzt war ernst gemacht mit dem Rechtszug innerhalb des Mainzer Unterstifts. Seit der Errichtung des Judicium ecclesiasticum wurden die von da eingelegten Appellationen so behandelt wie die Berufungen von den Suffraganbistümern. Ein Beispiel: Das Berufungsgericht erklärte – im Gegensatz zur ersten Instanz, dem Mainzer Geistlichen Gericht – die Ehe zwischen Johannes Reissert aus Heidesheim und Elisabeth Biedenbender aus Oberingelheim für ungültig und gab dem Appellanten die Freiheit, sich anderweitig zu verheiraten129. Als das Judicium ecclesiasticum eingerichtet worden war, wurden die Urteile zweiter Instanz in lateinischer Sprache ausgefertigt130. Diese äußerliche Angleichung an das Verfahren, das beim Instanzenzug von den Gerichten der Suffraganbischöfe beobachtet wurde, beweist, daß man jetzt bestrebt war, eine volle Parallelität zwischen dem Rechtszug von den Diözesen der Kirchenprovinz und jenem innerhalb des Erzbistums herzustellen. 4. Bei erstinstanzlichen Urteilen von Archidiakonatsgerichten Solange die Archidiakone Bestand hatten und Gerichtsbarkeit ausübten, mußte für ihre Urteile die Möglichkeit der Appellation gegeben sein. Wenn eine Streitsache in erster Instanz von dem Gericht eines Archidiakons entschieden worden war, ging die Berufung an das Gericht des Mainzer Stuhls131. So wurde z. B. vom Offizial des Archidiakons zu Nörten an dieses Gericht appelliert132. Für die östlichen Propsteibezirke war die Berufung an das Erfurter Generalgericht möglich133. Am 19. Mai 1385 entschieden die Generalrichter einen Streit in zweiter Instanz, der in erster Instanz vor dem Offizial des Severistifts anhängig gewesen war134. Wenn der 126
DA Mainz 1/618 S. 703 – 704 (2. April 1778). DA Mainz 1/106 S. 132 – 133 (29. Januar 1756); 150 – 152 (21. Juni 1756); 163 – 164 (27. September 1756). 128 DA Mainz 1/620 S. 688 (2. Dezember 1784). 129 DA Mainz 1/623 S. 147 (15. Dezember 1791). 130 DA Mainz 1/623 S. 50 (14. April 1791). 131 Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 20 f. 132 Bruns, Archidiakonat (Anm. 11), 106. 133 Georg Christian Joannis, Rerum Moguntiacarum Volumina 1 – 3, Frankfurt 1722 – 27, I, 779; Wolf, Abhandlung (Anm. 11), 21. 134 Overmann, Urkundenbuch II (Anm. 14), 403 f. Nr. 848. 127
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Rechtszug nach Mainz ging, wurden die Richter des Mainzer Stuhles hierbei nicht als Metropolitangericht, sondern als Diözesangericht tätig. Die von den Archidiakonatsgerichten eingelegte Berufung war nicht mit der Appellation von den Gerichtshöfen der Suffraganbischöfe zu vergleichen. In den Mainzer Suffraganbistümern bestand der gleiche Instanzenzug. In Speyer ging die Berufung vom Archidiakonatsgericht zum bischöflichen Offizial135, so z. B. vom Urteil des Offizials des Propstes der Kirche St. Guido an den Richter der bischöflichen Kurie136. Auch in der Diözese Würzburg ging die Berufung vom Gericht des Archidiakons an den Richter der bischöflichen Kurie137. Ebenso war es im Bistum Straßburg138. In der Diözese Hildesheim ging der Instanzenzug vom Gericht des Archidiakons an das Tribunal des bischöflichen Offizials139. Auch in Halberstadt war das bischöfliche Gericht (bzw. vorher die Diözesansynode) die höhere Instanz über dem Gericht des Archidiakons140. 5. Bei erstinstanzlichen Urteilen des Rabbiners Wenn der Rabbiner ein Urteil in erster Instanz gesprochen hatte, ging die Appellation an das Mainzer Geistliche Gericht zweiter Instanz. Ein Beispiel eines Prozesses, der von dem Rabbiner in erster, von dem Vikariat in zweiter Instanz entschieden wurde, ist das Verfahren zwischen Isaac Brager und Dina, der Tochter des Mainzer Schutzjuden Isaac Aron Levi141. Es waren vor allem Entscheidungen in Eheversprechungs- und Schwängerungssachen, in denen an das Mainzer Gericht zweiter Instanz appelliert wurde142. In dem Urteil vom 18. September 1765 heißt es ausdrücklich, „daß von jüdischen (sic) Richter voriger instanz wohl gesprochen übel appelliret“ sei143. Die Sache des Juden Herz Jacob Reinach gegen die Jüdin
135
Otto Riedner, Das Speierer Offizialatsgericht im dreizehnten Jahrhundert, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 29/30 (1907) 1 – 107, 99. 136 Riedner, Gerichtshöfe (Anm. 89), 265 – 268 (ca. 1510). 137 N. Reininger, Die Archidiacone, Offiziale und Generalvicare des Bisthums Würzburg. Ein Beitrag zur Diözesangeschichte, in: Archiv des historischen Vereins von Unterfranken und Aschaffenburg 28 (1885) 1 – 265, 18. 138 Karl Stenzel, Die geistlichen Gerichte zu Straßburg im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 29 (1914) 365 – 446, 377. 139 Gerhard Schrader, Die bischöflichen Offiziale Hildesheims und ihre Urkunden im späten Mittelalter (1300 – 1600), in: AUF 13 (1935) 91 – 176, 104. 140 Nikolaus Hilling, Beiträge zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung des Bistums Halberstadt im Mittelalter. Lingen a. d. Ems 1902, 101. 141 DA Mainz 1/104 S. 134 – 135 (28. März 1748); S. 136 – 139 (4. April 1748). 142 DA Mainz 1/618 S. 451 (16. Januar 1777); S. 646 (22. Januar 1778). Vgl. DA Mainz 1/045 S. 394 (28. November 1754); S. 413 (12. Dezember 1754); DA Mainz 1/106 S. 166 – 168 (22. November 1756). 143 DA Mainz 1/107 S. 268 – 269.
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Kanné von Kreuznach wurde „wegen verzögerter und gänzlich versagter Justitz bei erster Instanz … in Appellatorio für eingeführter (sic) angenohmen“144. Die Juden konnten ihre Streitsache freilich sogleich beim geistlichen Gericht anhängig machen. So führten zwei Parteien den Prozeß erster Instanz vor dem Gericht des (Aschaffenburger) Kommissars und zogen dann in zweiter Instanz vor das Vikariat145. Die Juden Jacob Reinach aus Mainz und Isaac Levi Creuzenach ebenfalls aus Mainz hatten in erster Instanz vor dem Mainzer Geistlichen Gericht untereinander um Geldsachen gestritten. In zweiter Instanz kam die Sache vor das Gericht zweiter Instanz146. Der Jude Joseph David und der Geistliche Rat Noll stritten in erster Instanz vor dem Würzburger Diözesangericht, in zweiter Instanz vor dem Mainzer Metropolitangericht147.
III. Die dritte Instanz 1. In Mainz Normalerweise wurde der Apostolische Stuhl als dritte Instanz angerufen. Es waren indes Konstellationen denkbar, in denen das Mainzer Metropolitangericht in dritter Instanz tätig wurde. Wenn Verfahren in einer Diözese zwei Instanzen durchlaufen hatten, kamen sie nach Mainz als der dritten Instanz. In einem Streit um die Versehung von Kirchen waren die Gerichte des Speyerer Dompropstes und des Speyerer Bischofs die erste und zweite, das Gericht der geistlichen Richter des heiligen Stuhles zu Mainz die dritte Instanz148. Damit ist selbstverständlich das Metropolitangericht gemeint. Anders lag der folgende Fall. Das Erfurter Generalgericht hatte in erster, die Commissio perpetua in zweiter und das Metropolitangericht in dritter Instanz geurteilt. Am 17. Mai 1781 erklärte dieses, der Heiland in Erfurt werde eine Commissio mixta loco ulterioris instantiae nicht gestattet; sie habe nach dem Urteil der dritten Instanz – des Mainzer Metropolitangerichtes – zu leben149. Wieder anders war die Rechtslage in folgendem Fall. Die Eheversprechungssache zwischen der Jüdin Gietle aus Gissigheim und dem Juden Mendle Goetschel aus Mombach war in erster Instanz vom Rabbiner entschieden worden. In zweiter Instanz hatte das Mainzer Geistliche Gericht ein Urteil gesprochen. Dagegen war an das Metropolitangericht appelliert worden. Dieses verwarf das Urteil 144
DA Mainz 1/618 S. 578 (11. September 1777). DA Mainz 1/106 S. 58 – 59 (5. September 1754); S. 67 – 68 (19. Dezember 1754). 146 DA Mainz 1/623 S. 120 – 121 (15. September 1791). 147 DA Mainz 1/623 S. 470 – 471 (3. Juli 1794). 148 Franz Xaver Glasschröder, Urkunden zur Pfälzischen Kirchengeschichte im Mittelalter. In Regestenform veröffentlicht. München, Freising 1903, 125 f. Nr. 303 (28. Februar 1482). Vgl. dens., Das Archidiakonat der Diözese Speyer während des Mittelalters, in: Archivalische Zeitschrift N.F. 10 (1902) 114 – 154, 123. 149 DA Mainz 1/619 S. 512. 145
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des Geistlichen Gerichtes und bestätigte den Spruch des Rabbiners150. In dem Streit um einen Zins fällte in erster Instanz Dietrich von Wedera, Kanoniker des Severistiftes in Erfurt, das Urteil. Von da ging die Sache an die Erfurter Generalrichter. Gegen ihr Urteil wurde der Apostolische Stuhl angerufen151. Doch das letzte Urteil sprach nicht der Heilige Stuhl, sondern es wurde von den Richtern des Mainzer Stuhles gefällt152. 2. In Rom Normalerweise war, wie gesagt, die dritte Instanz der Apostolische Stuhl. Der häufigste Fall war der, daß das Diözesangericht in erster und das Metropolitangericht in zweiter Instanz urteilten und danach die Sache durch Berufung an den Apostolischen Stuhl als dritte Instanz gelangte. Dort war die Rota das zuständige Gericht153. Hierfür einige Beispiele. Der Prokurator appellierte in einer Sache, die in Worms in erster, in Mainz in zweiter Instanz verhandelt worden war, ad quemcunque superiorem154. In einer anderen Wormser Sache legte der Prokurator Berufung ein ad Judicem superiorem155. In einer Würzburger Sache appellierte der Prokurator ad S. Sedem Apostolicam seu alium quemcunque superiorem Judicem156. Am 23. Juni 1721 entschied das Metropolitangericht in einer aus der Diözese Konstanz eingeführten Versprechungssache, daß die Appellationsbeklagte Maria Siedler verpflichtet sei, den Appellationskläger Joseph Gropper zu heiraten. Der an Stelle der nicht erschienenen Beklagten ex officio ad audiendam sententiam nomine appellatae aufgestellte Prokurator legte freilich unverzüglich Berufung an die Römische Kurie ein157. Einmal bemerkte das Metropolitangericht: In honorem Sacrae Romanae Curiae defertur appellationi non tamen aliter nisi ad terminos Concilii Tridentini in Capitulo Causae omnes158. Der angeführte Text aus dem Konzil von Trient (Sess. 24 Cap. 20) traf einläßliche Bestimmungen über die Vornahme der Berufung. Anders war die Lage, wenn der Instanzenzug in folgender Weise verlief: Erste Instanz war das Gericht des Kommissars, zweite Instanz das Vikariat und dritte Instanz das Gericht des Apostolischen Stuhles159. Man kann allgemein sagen: Wenn das Vikariat in zweiter Instanz geurteilt hatte, wurde an die Römische Kurie als dritte Instanz appelliert160. Nach dem Ordo iudiciarius Antequam wurde vom 150
DA Mainz 1/622 S. 210 – 211 (15. Januar 1789). Overmann, Urkundenbuch II (Anm. 14), 403 f. Nr. 848. 152 Overmann, ebd., 404 Nr. 849 (12. Juli 1385). 153 Nikolaus Hilling, Die römische Rota und das Bistum Hildesheim (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 6. Heft). Münster 1908. 154 DA Mainz 1/204 S. 162 – 163 (18. September 1704). 155 DA Mainz 1/204 S. 180 – 181 (5. März 1705). 156 DA Mainz 1/204 S. 185 – 186 (2. April 1705). 157 DA Mainz 1/208 S. 64. 158 DA Mainz 1/208 S. 179 (2. September 1723). 159 DA Mainz 1/027 S. 206 (20. September 1725). 160 DA Mainz 1/021 S. 76 – 77 (4. April 1718). 151
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Metropoliten an den Legaten des Apostolischen Stuhles, vom Legaten an den Papst appelliert. Doch konnte von jedem kirchlichen Richter unmittelbar an den Papst Berufung eingelegt werden (§ 86)161. So hatten die Parteien die Möglichkeit, von einem Urteil des Diözesangerichts unter Umgehung des Metropoliten als Appellationsinstanz unmittelbar den Apostolischen Stuhl anzugehen. Bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurden Streitfälle unter Auslassung des Metropoliten dem Apostolischen Stuhl bzw. dessen Legaten vorgelegt162. Auch von dem Offizial zu Fritzlar wurde unmittelbar an den Apostolischen Stuhl Berufung eingelegt163. Für die Verfolgung der Appellation in Rom mußte ein Agent bestellt werden164. Häufig waren Akten ins Lateinische zu übersetzen. Beides war regelmäßig mit beträchtlichen Kosten verbunden. Die Mainzer Geistliche Behörde sah die Berufungen nach Rom nicht gern; sie war bemüht, sie nach Kräften einzuschränken. Schon Erzbischof Arnold (1153 – 1160) ließ auf einer Synode öffentlich verbieten, an den Apostolischen Stuhl zu appellieren165. Ein Mittel, die Berufungen nach Rom einzuschränken, war die Festsetzung eines Mindestbetrages, bei dem nur Appellationen zulässig sein sollten. Am 29. Januar 1767 faßte das Vikariat – Generalvikar, Provikar, Offizial, Siegler, Fiskal, Würdtwein, de Straus, Schöler, Winterheld und Brendel – einmütig den Beschluß, daß fürderhin keine Appellation an die Römische Kirche deferiert werden solle, es sei denn, daß die Summa appellabilis sich auf 500 Gulden belaufe, was als ein Stylus Curiae hinfort zu beobachten sei166. Am 25. Oktober 1770 erließ der Erzbischof ein Schreiben, wie es künftig mit Appellationssachen bei dem Erzbischöflichen Generalvikariat gehalten werden solle167. Darin wurden offensichtlich rigorose Vorschläge gemacht, um die Berufungen nach Rom einzuschränken. Am 14. Mai 1771 kam das Metropolitangericht in einem Schreiben an den Erzbischof auf dessen Weisung vom 25. Oktober 1770 bezüglich der römischen Appellationen zu sprechen. Die meisten Appellationen an die Römische Kurie pflegten von den Suffraganbistümern des Mainzer Erzstiftes unternommen und daselbst fortgesetzt zu werden. Diese aber dürften von dem jahrhundertelang gebrauchten Rechtsweg nicht so leichterdings abgehen. Vielmehr sei zu erwarten, daß, wenn ihnen die römischen Appellationen von hier aus abgeschlagen oder erschwert würden, sämtliche Appellationen von den Urteilen erster Instanz unmittelbar nach Rom abgehen würden. Dadurch würde der Metropolitangerichtsbarkeit „das gröste ansehen“ entzogen. Angesichts dieser Umstände bat das Gericht 161
Riedner, Gerichtshöfe (Anm. 89), 46. Böhmer/Will, Regesten I, 340 f. Nr. 108 (15. August 1149). 163 Kopp, Nachricht I (Anm. 14), Beylagen Nr. 40, 102 f. (27. März 1501). Von dem Offizial zu Jechaburg ebenso: Georg Thiele, Vorreformatorische Geistlichkeit in der Freien und Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen, in: Mühlhäuser Geschichtsblätter 31 (1932) 164 – 234, 172. 164 DA Mainz 1/043 S. 304 (11. September 1752). 165 Acht, Urkundenbuch II (Anm. 22), 385 – 387 Nr. 213 (15. Februar 1156). 166 DA Mainz 1/055 S. 47. 167 DA Mainz 1/613 S. 187 (29. Oktober 1770). Der Text war mir bisher nicht auffindbar. 162
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den Erzbischof um Auskunft, ob unter der erwähnten Weisung auch die Suffraganbistümer enthalten und im Falle der Einlegung der Berufung an die Römische Kurie an ihn, den Erzbischof, zu weiterer „Vorkehr“ zu verweisen seien168. 3. Nuntiaturen Sachen, die beim Apostolischen Stuhl eingebracht wurden, mußten nicht in Rom verhandelt werden. Es bestand die Möglichkeit, sie durch delegierte Richter des Papstes erledigen zu lassen. Vom Papst ernannte delegierte Richter wurden als Judices in partibus bezeichnet169. Als solche galten auch die (ständigen) Nuntien. Im 17. Jahrhundert erklärten die Parteien, die Berufung einlegten, noch, sie appellierten an den römischen Papst oder seinen Gesandten (eius Nuncium in hisce partibus degentem)170. Am 4. Mai 1650 hieß es, die unterlegene Partei appelliere an den Papst Innozenz X. aut eius Nuncium Apostolicum missum vel mittendum171. Am 20. Februar 1658 teilte ein Prokurator mit, der Luzerner päpstliche Nuntius habe die Sache an sich gezogen (causam hanc Nuncium Apostolicum Lucernae degentem ad se avocasse in eaque se competentem judicem declarasse)172. Die Nuntien konnten ursprünglich – infolge der Unmittelbarkeit der päpstlichen Gewalt – alle vor ihr Gericht gebrachten Fälle in erster Instanz entscheiden; seit dem Konzil von Trient waren sie jedoch nur noch für Berufungen zuständig173. Die Luzerner Nuntiatur bestand seit 1579, die Kölner Nuntiatur seit 1584. In München wurde 1785 eine Nuntiatur eingerichtet. Die Parteien mochten die Möglichkeit, ihre Berufung bei der Luzerner oder Kölner Nuntiatur anzubringen, als zeit- und kostensparend empfinden. In Mainz sah man die Nuntiaturgerichtsbarkeit als Beeinträchtigung der Metropolitangerichtsbarkeit an. Das Unbehagen läßt sich im 17. ebenso wie im 18. Jahrhundert beobachten. In der Sitzung des Vikariats vom 28. Dezember 1647 wurde vorgetragen, daß der Bischof von Chur seinen Streit mit dem Abt von Weingarten vor den päpstlichen Internuntius für die Schweiz in Luzern bringe und den Metropoliten übergehen wolle „in praeiudicium Sedis Metropoliticae“174. In dem Präzedenzstreit zweier Wormser Kanoniker wurde von dem Gericht des Wormser Vikariates an den Apostolischen Nuntius in Köln appelliert. Die Mainzer Richter bemerkten dazu, daß einer solchen Berufung, bei welcher der Mainzer Erzstuhl übergangen wurde, bisher immer widersprochen worden sei. In dem vor168
DA Mainz 1/613 S. 234 – 235 (14. März 1771). DA Mainz 1/621 S. 41 – 42 (3. März 1785). 170 DA Mainz 1/003 S. 123 (10. Februar 1640). 171 DA Mainz 1/002a S. 99. 172 DA Mainz 1/002 S. 231. 173 Sess. 24 c. 20 de ref. Zu den Fakultäten der Kölner Nuntien vgl. Joseph Hartzheim (Hg.), Concilia Germaniae VIII, Köln 1769, 498 – 503; Michael F. Feldkamp, Studien und Texte zur Geschichte der Kölner Nuntiatur. I. und II. (Collectanea Archivi Vaticani 30 und 31). Città del Vaticano 1993, II, 53 – 66. 174 DA Mainz 1/002a. S. 17. 169
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liegenden Falle könne erst recht widersprochen werden, weil der Spruch des Wormser Gerichtes wegen Fristversäumnis in Rechtskraft erwachsen sei. Dem Erzbischof wurde überlassen, ob er pro manutenentia authoritatis metropoliticae an den Nuntius schreiben wolle175. Einem, der namens seines Bruders dem Vikariatsgerichte mitteilte, dieser habe an die Nuntiatur zu Köln appelliert, und die processus seien wirklich erkannt und überschickt worden, wurde von dem Gericht bedeutet, daß „mann bey alhiesigen Vicariat ahn den Nuntium keine appellation und ihme also disfals keine Jurisdiction gestatte“, und der Antragsteller wurde „mitt seinen ohnbefugten nichtigen begehren und processibus hiermitt abgewiesen“176. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat der Streit um die Gerichtsbarkeit der Nuntien in ein neues Stadium177. Bereits 1769 ließen die drei rheinischen Metropoliten in Koblenz 31 Gravamina gegen die Römische Kurie aufstellen178. Im Vorfeld des Emser Kongresses erhob sich die Forderung, alle Appellationen nach Rom in den Provinzen durch Kommissare zu entscheiden179. Besonders angefeindet wurde die Gerichtsbarkeit der Nuntien180. Das Gravamen fand sich in dem Schreiben des Mainzer Erzbischofs vom 1. Dezember 1788 an den Papst181. Die in den genannten Vorgängen zum Ausdruck kommende Gesinnung hat sich auch in den Akten des Mainzer Vikariates niedergeschlagen. Am 6. Dezember 1751 entschied das Metropolitangericht, daß der von dem putativus Commissarius (Nuntiaturae Coloniensis) Caspar Schönemann in einer Nachlaßsache angeordnete Arrest als attentatum und alles in Zukunft von ihm Anzuordnende als attentanda null und nichtig seien, und befahl den Testamentsvollstreckern, dem Kölner Putativkommissar keinen Gehorsam zu leisten, sondern alles an das Metropolitangericht zu übergeben182. Am 3. Dezember 1767 teilte das Metropolitangericht dem Erzbischof folgendes mit. Man habe bei dem Mainzer erzbischöflichen Generalvikariat glaubhaft vernommen, daß verschiedene Suffragandiözesen an die päpstlichen 175
DA Mainz 1/202 S. 167 (30. Juni 1678). DA Mainz 1/009 S. 44 (24. April 1692). 177 Matthias Höhler (Hg.), Des kurtrierischen geistlichen Rats Heinrich Aloys Arnoldi Tagbuch über die zu Ems gehaltene Zusammenkunft der vier Erzbischöflichen deutschen Herrn Deputirten die Beschwerde der deutschen Natzion (sic) gegen den Römischen Stuhl und sonstige geistliche Gerechtsame betr. 1786. Mainz 1915; Josef Steinruck, Die kirchengeschichtliche Bedeutung des Nuntiaturstreits, in: Trierer Theologische Zeitschrift 83 (1974) 38 – 60; ders., Bemühungen um die Reform der Reichskirche auf dem Emser Kongreß (1786), in: Remigius Bäumer (Hg.), Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh. Paderborn 1980, 863 – 882; ders., Emser Kongreß, in: LThK3 3, 637 f. 178 Text der Beschwerdeschrift der rheinischen Erzbischöfe vom 13. Dezember 1769 bei Höhler, Tagbuch (Anm. 177), 253 – 265. 179 Kopp, Kirche (Anm. 59), 20, 22 f., 25 f. 180 Kopp, ebd., 33 – 37; Anton Philipp Brück, Stephan Alexander Würdtwein (1722 – 1796). Eine Lebensskizze, in: AMRhKG 2 (1950) 193 – 216, 213 f. 181 Kopp, Kirche (Anm. 59), 45 – 54. 182 DA Mainz 1/608 S. 81 – 82. 176
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Nuntien in der Schweiz und zu Köln Berufung eingelegt hätten und diese von denselben angenommen werde. Aus dem Bistum Fulda sei „mehrentheils“ nach Köln appelliert worden. Desgleichen sei eine speyerische Sache, nachdem das Mainzer Metropolitangericht das Urteil gesprochen habe, an besagte Nuntiatur zu Köln „anmaßlich“ gebracht worden. Nachdem man aber bekanntermaßen den am Niederrhein befindlichen Nuntius „dahier“ nicht anerkenne, erscheine es dem Vikariat rätlich, an den Residenten in Rom Befehl und Weisung ergehen zu lassen, bei der päpstlichen Kurie vorstellig zu werden, damit dem Nuntius von daher verboten werde, die Appellationen aus den Suffraganbistümern des Mainzer Erzstifts anzunehmen183. Am 28. Januar 1779 meldete der Prokurator Schlebusch, daß in Würzburg die Neigung bestehe, die Appellationen an die Kölner Nuntiatur zu ziehen, und gab auch einen Fall an, wo eine Berufung an die Nuntiatur gebracht worden sei184. Der Erzbischof war sofort alarmiert und forderte einen vollständigen Bericht ein, um nötigenfalls Maßregeln „gegen diese Jurisdictions-Eingriffe“ einleiten zu können185. Derartige Appellationen wurden vom Vikariat als „Appellationes a Sententiis Episcoporum omisso medio“ bezeichnet186. Am 1. Juli 1779 erstellte das Mainzer Vikariat ein Schreiben über die Appellationen an die Kölner Nuntiatur an das Vikariat zu Würzburg187. Der Erzbischof sah anscheinend das Mittel, solche Appellationen zu verhindern, darin, daß den Appellanten die Akten (der ersten Instanz) nicht ausgehändigt wurden188. Das Thema kam nicht mehr zur Ruhe189. Das Mainzer Vikariat schlug später zur Verhinderung von Appellationen an die Kölner Nuntiatur erneut vor, in Rom ein Verbot solcher Berufungen zu erwirken190. Am 26. Juni 1780 übersandte der Erzbischof dem Vikariat ein Schreiben des Agenten Fargna betreffend die Appellationen an die Nuntiaturen191, am 15. Juli 1780 ein zweites192. Am 9. Oktober 1780 machte er ein weiteres Schreiben Fargnas dem Vikariat bekannt193, am 22. Oktober wieder eines194. Am 13. Februar 1783 ließ der Erzbischof den Prokuratoren bedeuten, in dem Fall, wo sie in Erfahrung bringen, 183
DA Mainz 1/612 S. 197 – 199 (240 – 242). DA Mainz 1/619 S. 14 – 15. 185 DA Mainz 1/619 S. 19 (4. Februar 1779). 186 DA Mainz 1/619 S. 29 – 30 (25. Februar 1779). 187 DA Mainz 1/617 S. 83. Vgl. S. 85 – 86 (12. August 1779): Änderungswünsche des Erzbischofs; S. 161 – 162 (11. Mai 1780). 188 DA Mainz 1/619 S. 109 (12. August 1779). 189 DA Mainz 1/619 S. 41 (11. März 1779); S. 75 (6. Mai 1779); S. 79 (14. Mai 1779); S. 104 (1. Juli 1779); S. 109 – 110 (12. August 1779); S. 160 (18. November 1779); S. 205 – 206 (17. Februar 1780); S. 225 (9. März 1780); S. 275 (8. Juni 1780); S. 312 (6. Juli 1780); S. 321 (17. Juli 1780); S. 332 (17. August 1780); S. 333 (24. August 1780). 190 DA Mainz 1/619 S. 206 (17. Februar 1780). 191 DA Mainz 1/617 S. 185 (6. Juli 1780). 192 DA Mainz 1/617 S. 186 (10. Juli 1780). 193 DA Mainz 1/617 S. 210 (9. Oktober 1780). 194 DA Mainz 1/617 S. 211 – 212 (16. November 1780). 184
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daß von den Mainzer Suffraganbistümern Appellationen an die Nuntiaturen zu Köln oder in der Schweiz gelangen sollten, sogleich Anzeige zu machen. Er befahl dem Vikariat, hierauf ein wachsames Auge zu haben und gegebenenfalls unverzüglich dagegen beim kaiserlichen Reichshofrat zweckmäßig Vorkehr zu treffen195. Hier wurde also versucht, auch die weltliche Macht zum Einschreiten zu bewegen. Als der Würzburger Kammersekretär Koch Rekurs an die Kölner Nuntiatur einlegte, schlug das Metropolitangericht vor, dem Reichsfiskal196 zu Wien Anzeige davon zu erstatten, damit er gegen den Übertreter der Reichsgrundgesetze, eben den Koch, bei dem kaiserlichen Reichshofrat sein Fiskalamt erfülle197. Am 16. August 1793 schrieb das Metropolitangericht dem Paderborner Konsistorium, es könne nicht zugeben, daß irgendeine Causa per appellationem an die Kölner Nuntiatur gebracht werde, und sprach dabei die „reichspatriotischen Gesinnungen“ des Bischofs an, zu denen es die Zuversicht habe, daß einer so inkompetenten Appellation nicht stattgegeben werde198. Am 26. November 1795 stellte das Metropolitangericht dem Erzbischof vor, es erachte es als notwendig, von der in der Ordination festgesetzten Summa appellabilis abzugehen, bis alle recursus an die Nuntiaturen eingestellt seien und wenn ein Suffraganeat ohne Rücksicht auf die Summa appellabilis eine Appellation deferiert habe199. Inzwischen hatte die antikuriale Strömung ihren Scheitelpunkt mit der Emser Punktation vom 25. August 1786 erreicht200. Danach beruhigte sich die Lage, und man trat den Rückzug an.
IV. Schluß Die Begrenztheit und die Fehlbarkeit des Menschen machen sich auch in der Rechtsprechung bemerkbar. Ungenügende Aufnahme des Sachverhalts und falsche Subsumtion desselben unter die Norm können zu ungerechten Urteilen führen. Ein Mittel, um diesen Mängeln abzuhelfen, ist die Nachprüfung der Urteile von Untergerichten durch Obergerichte; es gibt einen Instanzenzug. Die Erzdiözese Mainz zeichnete sich durch einen hohen Standard ihres Rechtswesens aus. Der rechtsgelehrte Richter, der sich anfangs seine Ausbildung auf italienischen Universitäten holte, trat seit dem 12. Jahrhundert seinen Siegeszug an. Frühzeitig entstand in der Metropole ein ständiger Gerichtshof. Seit Anfang des 13. Jahrhunderts walteten die Richter des Mainzer Stuhles ihres Amtes. Entsprechend dem Doppelcharakter ihres Herrn als Diözesanbischof und Vorsteher einer (ausgedehnten) Kirchenprovinz war 195
DA Mainz 1/620 S. 302 – 303 (13. Februar 1783). Ulrich Knolle, Studien zum Ursprung und zur Geschichte des Reichsfiskalats im 15. Jahrhundert. Rechtswiss. Diss. Freiburg i.Br. Offenbach a.M. 1965. 197 DA Mainz 1/623 S. 149 – 150 (22. Dezember 1791). 198 DA Mainz 1/623 S. 305 – 306. 199 DA Mainz 1/623 S. 649 – 650. 200 Text der Emser Punktation vom 25. August 1786 bei Höhler, Tagbuch (Anm. 177), 171 – 183. 196
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ihr Gericht für erst- und zweitinstanzliche Sachen zuständig. Die Rechtsprechung lag nicht in den Händen des Einzeloffizials, sondern erfolgte sowohl im Vikariatsals auch im Metropolitangericht in kollegialer Weise. Die Existenz von zwei Universitäten mit rechtswissenschaftlicher Fakultät im Gebiet des Erzstiftes trug dazu bei, qualifizierte Richter hervorzubringen. Daß in der Erzdiözese selbst zwei Instanzen durchlaufen werden konnten, wurde durch die Gerichte der Kommissariate, die Bestellung von Kommissionen und (seit 1784) die Einrichtung des Judicium ecclesiasticum ermöglicht. Aus den zwölf Suffraganbistümern kamen zahllose Berufungssachen nach Mainz; das Consistorium war dem Andrang gewachsen. Die Berufungssachen aus der eigenen Diözese und aus den Suffraganbistümern wurden stets auseinandergehalten. Im Metropolitan- bzw. Appellationsgericht wurde gewöhnlich die Reihenfolge beobachtet, daß zuerst die Sachen aus den Suffraganbistümern, danach jene aus den Kommissariaten und schließlich jene von der Commissio perpetua und dem Siegelamt behandelt wurden. Die dritte, in manchen Fällen schon die zweite Instanz war der Apostolische Stuhl. Appellationen an die Römische Kurie wurden zwar nicht gern gesehen, aber auch nicht ernsthaft behindert. Wohl aber gab es energischen Widerstand gegen die Gerichtsbarkeit der päpstlichen Nuntien. Die Ereignisse des endigenden 18. Jahrhunderts schufen eine veränderte Lage, in der innerkirchliche Querelen ihre Bedeutung verloren.
Der Kanonisationsprozeß Hildegards im 13. Jahrhundert I. Heiligkeit und Heiligsprechung Die katholische Kirche bejaht die Verehrung der Heiligen. Heilige sind jene Christen, von denen die Kirche mit Gewißheit weiß, daß sie in die Seligkeit des Himmels eingegangen sind. Der Apostolische Stuhl führt ein Verzeichnis der Heiligen. Der normale Weg, auf dem ein Diener Gottes in dieses Eingang findet, ist die Heiligsprechung, Kanonisation. Sie wird vorbereitet durch den Heiligsprechungsprozeß1. Wenn die Verehrung eines Heiligen durch die Kirche ohne förmlichen Prozeß anerkannt wird, spricht man von canonizatio aequipollens. Das Verfahren zur Heiligsprechung von Dienern Gottes wurde bis zum zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts voll ausgebildet. Die fama sanctitatis war der Beweggrund, weshalb der Papst einen Prozeß mit dem Ziel der Heiligsprechung in Gang setzte. Sie hatte ihre Grundlage in der Gestalt des Dieners Gottes und ihren Ausgangspunkt in einem Personenkreis (gewöhnlich) von Zeitgenossen. Die kirchliche Autorität billigte der vox populi zu, einen Diener Gottes als Heiligen zu bezeichnen und zu verehren; doch sie beanspruchte das Recht, die Meinung des Volkes einer Prüfung zu unterwerfen2. Denn das Verständnis der Heiligkeit, welches das hierarchische Lehramt der Kirche hatte, und jenes, das die örtlichen oder regionalen Gemeinden und Gemeinschaften besaßen, deckten sich nicht ohne weiteres. Die fama der Diener Gottes betraf die Verbreitung der Verehrung im Volk und die 1 J. Brosch, Der Heiligsprechungsprozeß per viam cultus. Kan. Diss. Rom, Rom 1938; E. W. Kemp, Canonization and Authority in the Western Church, Oxford 1948; A. Amore, La canonizzazione vescovile, in: Antonianum 52 (1977) S. 231 – 266; A. Vauchez, La sainteté en occident aux derniers siècles du moyen age d’après les procès de canonisation et les documents hagiographiques, Rom 1981; U. Nersinger, Catalogus omnium causarum beatificationis et canonizationis Ordinis Canonicorum Regularium Sancti Augustini, Klosterneuburg (Wien) 1990; J. L. Gutiérrez, La certezza morale nelle cause di canonizzazione. specialmente nella dichiarazione del martirio, in IusEccl 3 (1991) S. 645 – 670; Congregatio de Causis Sanctorum. Index ac Status Causarum. Hrsg. von P. Galavotti, Città del Vaticano 1992; A. G. Filipazzi, La prova del martirio nella prassi recente della congregazione delle cause dei santi, Rom 1992; E. Veraja, Le cause di canonizzazione dei santi, Città del Vaticano 1992; J. L. Gutiérrez, La normativa actual sobre las causas de canonización, in: IusCan 32 (1992) S. 39 – 65. 2 H. Schauerte, Die volkstümliche Heiligenverehrung, Münster (Westf.) 1948; N. Kyll, Volkskanonisation im Raum des alten Trierer Bistums, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 11 (1960) S. 7 – 61; St. Beissel, Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter. Mit einem Vorwort zum Nachdruck von H. Appuhn, Darmstadt 1976.
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Ausdehnung des ihnen gewidmeten Kultes. Der Diener Gottes mußte örtlich einen hinreichenden Ruf der Heiligkeit besitzen, damit die Sache durch den Heiligen Stuhl in Erwägung gezogen werden konnte. Nach 1230 genügte es nicht, um als Heiliger anerkannt zu werden, daß die Umgebung oder die geistlichen Kinder eine Person als heilig empfanden. Man verlangte, daß die Verehrung sich in weitere Kreise verbreitet und auf die Laien übergegriffen hatte3. Die fama sanctitatis gründete in den bewiesenen Tugenden, vor allem im Glauben und in der Liebe, in der Prophetengabe, der Wundermacht und dem heiligmäßigen Sterben4. Das grundlegende Problem des Heiligsprechungs-prozesses war der Beweis der Heiligkeit. Papst Innozenz III. gab als Kriterien an: die Tugendhaftigkeit der Sitten und die Wahrheit der Zeichen, d. h. die Werke der Frömmigkeit im Leben und die Kundgabe der Wunder nach dem Tod5. Er stellte den Grundsatz auf, daß, wo wahre Verdienste vorangehen und offensichtliche Wunder folgen, ein sicheres Zeugnis der Heiligkeit vorliegt6. Die Wichtigkeit, die man den Tugenden und dem Ruf des Dieners Gottes gegenüber den Wundern beimaß, wuchs im Laufe des 13. Jahrhunderts. Die erwähnten Elemente der fama sanctitatis lagen bei der hl. Hildegard vor7. Die Tatsache, daß noch zur Zeit ihres Lebens mit der Beschreibung ihres Wirkens begonnen wurde und daß bald nach ihrem Ableben deren Fortsetzung erfolgte und weitere Viten entstanden, war Ausdruck ihrer ungewöhnlichen Erscheinung. Die Art und die Umstände ihrer Bestattung bezeugen die Wertschätzung, die sie bei ihrem Konvent genoß8. Die Überzeugung, daß Hildegard den Heiligen zuzurechnen sei, ist zuerst greifbar in der Verehrung, die ihr Klöster wie Villers und Gembloux sowie St. Eucharius in Trier bezeigten. Sie fand ihren Ausdruck in der liturgischen Feier ihres Todestages.
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Vauchez, La sainteté S. 377. Vauchez, La sainteté S. 583 – 614; D. Antin, La mort de Saint Martin, in: Revue des études anciennes 66 (1964) S. 108 – 120. 5 Bulle der Kanonisation des Homobonus (12. Januar 1199), in: O. Hageneder/A. Haidacher (Bearb.), Die Register Innocenz’ III. 1. Pontifikatsjahr 1198/99. 1. Bd., Graz, Köln 1964, S. 761 – 764. 6 Cum secundum vom 3. April 1200 (Bulle der Heiligsprechung der Kunigunde), hrsg. von J. Petersohn, Die litterae Papst Innocenz’ III. zur Heiligsprechung der Kaiserin Kunigunde (1200), in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 37 (1977) S. 1 – 25, hier S. 21 – 25. 7 W. Lauter, Hildegard-Bibliographie, 2 Tle. Alzey 1970/83; A. Ph. Brück (Hrsg.). Hildegard von Bingen 1179 – 1979. Festschrift zum 800. Todestag der Heiligen (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 33). Mainz 1979; U. Kern. Hildegard von Bingen (1098 – 1179), in: TRE XV, 1986, S. 322 – 326: M. Schmidt, Hildegard v. Bingen, in: LThK V, 3. Aufl., 1996, S. 105 – 107. 8 H. Hinkel, St. Hildegards Verehrung im Bistum Mainz, in: Brück, Hildegard von Bingen S. 385 – 411. 4
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II. Die Supplik Die Heilig- oder Seligsprechung erfolgte normalerweise aufgrund eines Antrags, einer Supplik an den Heiligen Stuhl. Sie enthielt die Bitte, den Diener Gottes in das Verzeichnis der Heiligen aufzunehmen, und die Angabe, worauf sich dieses Begehren stützte. So ist es auch im Falle des Prozesses der hl. Hildegard geschehen. Papst Gregor IX. gebraucht in dem Reskript ,,Mirabilis Deus“9 die Ausdrücke supplicarunt und supplicationibus. Leider ist die Supplik nicht erhalten. Aus dem Zeitpunkt der Ausstellung des Reskripts ,,Mirabilis Deus“ ist zu schließen, daß sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1227 in Rom vorgelegen haben dürfte; Ugolino von Segni hatte das primatiale Amt seit dem 27. März 1227 inne. Nach dem Reskript ,,Mirabilis Deus“ ging die Supplik von der Äbtissin und den Schwestern des St. Rupertsklosters in Bingen aus. Der Antrag auf Heiligsprechung berief sich auf die Verdienste Hildegards, durch die Gott viele Wunder gewirkt habe und noch immer wirke, und behauptete, sie habe durch die Offenbarung des Heiligen Geistes – obwohl sie außer dem Psalterium keine höhere Bildung genossen habe – viele Bücher verfaßt. Dies sei würdig, zur Kenntnis der römischen Kirche gebracht zu werden. Wir wissen nicht, wer die Supplik heim Heiligen Stuhl einreichte. Zu ihrer Vorlage in Rom waren Prokuratoren notwendig. Nur die Fürsten und Bischöfe hatten ständige Repräsentanten in Rom10. Andere Bittsteller mußten sich an die an der Kurie vorhandenen Prokuratoren wenden.
III. Das Reskript „Mirabilis Deus“ In Beantwortung der Supplik ordnete Papst Gregor IX. mit dem Reskript ,,Mirabilis Deus“ vom 27. Januar 122811 die Untersuchung des Lebens und der Wunder Hildegards an. Der Ort der Prüfung war normalerweise jener, wo sich das Grab des Dieners Gottes befand oder wo die Wunder geschahen, die den Kult hatten entstehen lassen. Der Papst bekennt in dem Schreiben, er habe von dem löblichen und heiligen Wandel Hildegards bereits gehört, als er mit der Gesandtschaft des Kardinals Leo vom hl. Kreuz in Deutschland weilte12. Er sieht seine Aufgabe darin, die 9 Als Quellen für die folgende Darstellung kommen hauptsächlich in Frage: P. Bruder (Hrsg.), Acta inquisitionis de virtutibus et miraculis S. Hildegardis, Magistrae Sororum Ord. S. Benedicti in Monte S. Ruperti juxta Bingium ad Rhenum, in: Analecta Bollandiana II (1883) S. 116 – 129; Acta Sanctorum Septembris Tomus V, 2. Aufl., Brüssel 1857, S. 629 – 704. 10 Vauchez, La sainteté S. 49. 11 L. Auvray (Hrsg.), Les registres de Grégoire IX, 4 Bde., Paris 1890 – 1955, n. 3648. Der Text des Reskripts ist in dem Protokoll, das die Kommissare fünf Jahre später erstellten, enthalten (Analecta Bollandiana II, S. 118 f.). 12 Es handelt sich vermutlich um Leo Brancaleo, Diakon S. Luciae in Septisolio, später Priester S. Crucis in Jerusalem (C. Eubel, Hierarchia Catholica Medii Aevi I, 2. Aufl., Münster 1913, S. 4, 50). Vgl. E. Winkelmann, Kaiser Friedrich II., 2 Bde. (= Jahrbücher der Deutschen Geschichte), Leipzig 1889/97, I, S. 319.
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auf Erden zu erheben, die Gott im Himmel verherrlicht hat, indem er sie heiligspricht (canonizantes eam) und in das Verzeichnis der Heiligen aufnimmt (sanctorum catalogo asscribentes), falls die Angaben der Supplik zutreffen. Das Reskript führt die Tatsache, daß Hildegard von ,,allen“ als Heilige angesehen werde, auf die Wunder zurück, die Gott durch ihre Verdienste wirkt. Von Gott gewirkte Wunder wurden allgemein als Bestätigung eines heiligen Lebens angesehen. Die Untersuchung, die den Kommissaren aufgetragen wird, hat vita, conversatio, fama, merita und miracula und allgemein alle circumstantiae zum Gegenstand. Es sind also das gesamte Leben der Äbtissin nach seiner religiösen und sittlichen Seite sowie die Verbreitung ihrer Verehrung zu prüfen. Das Mittel der Untersuchung ist die Befragung glaubwürdiger Zeugen. Damit diese rechtmäßig und sachdienlich erfolgte, begann man unter dem Pontifikat Gregors IX., dem päpstlichen Schreiben, das eine Untersuchung anordnete, eine forma interrogatorii beizugeben. Das erste Beispiel ist der Prozeß der Elisabeth von Thüringen13. Die Prüfung und Beurteilung der Schriften Hildegards übertrug Gregor IX. nicht den Kommissaren. Sie hatten dieselben lediglich zu sammeln, zu versiegeln und dem Heiligen Stuhl durch einen zuverlässigen Boten zu übersenden. Die Beauftragung der drei Kommissare ist nach dem Willen des Papstes so zu verstehen, daß nicht unbedingt alle zusammen tätig werden müssen; es genügt, wenn zwei die erforderlichen Handlungen vornehmen. Durch die Ernennung der Kommissare behielt der Heilige Stuhl das Verfahren vom Anfang (in partibus) bis zum Ende in seiner Hand. Daß es sich hierbei um einen päpstlichen Prozeß handelt, ergibt sich aus der Wendung vice nostra; die Kommissare sind im Auftrag des Papstes am Werk. Die Ausdrücke mandamus und auctoritate mandati weisen sie als Delegierte des Apostolischen Stuhles aus. Die Kommissare waren Gerhard, der Propst der Mainzer Domkirche, Walther, der Dekan des Mainzer Petersstiftes, und Arnold, der Scholaster des Mainzer Petersstiftes. Sie werden, wie es üblich war, von einem Gefolge begleitet gewesen sein, unter dem sich Ordensleute und Schreiber befanden14, und führten ein Siegel.
IV. Die Untersuchung im Jahre 1233 Die drei Kommissare schlossen ihr Werk am 16. Dezember 1233 ab15. Wann sie damit begannen, ist uns verborgen. In der Regel vergingen nur einige Monate zwischen dem Empfang des päpstlichen Auftragsschreibens und der Eröffnung des Verfahrens. Die Untersuchung sollte, wie bemerkt, geschehen durch die Einver13 Gregor IX., Ut caeci viam, 13. Oktober 1232, in: Bullarium Franciscanum Romanorum Pontificum I, Rom 1759, S. 85 f. Vgl. Vauchez, La sainteté S. 58 f. 14 Die Formel ascitis vobis viris religiosis et deum timentibus verschwand nach Innozenz IV. aus den päpstlichen Bullen; aber die Sache war selbstverständlich (Vauchez, La sainteté S. 53). 15 Die Edition von Bruder enthält das Protokoll der Untersuchung von 1233 samt den Zusätzen und Korrekturen von 1243. Es sind also zwei Fassungen des Textes zu unterscheiden.
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nahme glaubwürdiger Zeugen. Wenn die Bittschrift im ersten Jahr des Pontifikats Gregors IX. eingegangen ist, waren seit dem Tode Hildegards immerhin 47 – 48 Jahre vergangen. Angesichts der relativ geringen durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen in der damaligen Zeit war es mithin höchst angebracht, mit der Vernehmung von Augenzeugen des Lebens der Hildegard zu beginnen. Haben die Kommissare damit gezögert? Haben sie mehrere Jahre benötigt, um die Aussagen der Zeugen, die sich doch wohl alle in räumlicher Nähe befanden, zu sammeln? Wir wissen es nicht. Die drei Kommissare übersandten ihr Protokoll Papst Gregor IX.; ihre Siegel hingen dem Text an. Die Kommissare hatten Lehre und Lebenswandel, Visionen und Offenbarungen sowie die Gabe der Prophetie Hildegards zu prüfen. Sie legten den Zeugen die articuli interrogatorii vor, aufgrund deren sie befragt wurden. Die Zeugen, welche Hildegard zu Lebzeiten gekannt hatten, insistierten vor allem darauf, daß zahlreiche Vorhersagen, die sie gemacht hatte, nachher eingetroffen seien, besonders als sie im voraus den Tag ihres Todes angekündigt hatte16. Dann hob man hervor, daß sie die Offenbarungen, die sie empfangen hatte, in mehreren Büchern niederlegte, die danach durch Pariser Theologen approbiert wurden17. Weiter Raum wurde ihrer Wundermacht eingeräumt, die sie schon vor ihrem Tod an Besessenen und Epileptikern ausübte, welche die Vernunft wiedererlangten, nachdem sie sich hatten von ihr segnen lassen18. Sie, die große Visionärin, zögerte nicht, sich an die kirchliche Hierarchie und an die weltlichen Großen zu wenden und ihnen Warnungen und Botschaften von seiten Gottes zukommen zu lassen19. Als die Kommissare vom Konvent wissen wollten, weshalb Hildegard jetzt keine Zeichen (signa) wirke, sagten die Schwestern, daß, als nach ihrem Tode der Herr viele Wunder zeigte und der Zustrom der Menschen zu ihrem Grabe groß wurde, die Frömmigkeit und der Gottesdienst der Nonnen durch das Getöse der Menschen so sehr gestört wurde, daß man es dem Erzbischof von Mainz zutrug. Dieser begab sich persönlich an Ort und Stelle, praecepit ut a signis cessaret20. Der Mainzer Erzbischof hatte also das Aufhören der Wunder veranlaßt, indem er der Verewigten gebot, davon abzustehen. Kritisch ist anzumerken, daß im Prozeß Hildegards das Gewicht allzu sehr auf die Wunder gelegt wurde, welche die Heilige im Verlauf ihres Lebens gewirkt hatte, so daß sich kein genaues Bild der großen Visionärin ergab. Nur ein Zeuge, ein Kleriker, machte eine gegliederte Aussage über das Leben, das Verhalten, die Tugenden, die außerordentlichen Erscheinungen, die Schriften und deren Offenkun-
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Analecta Bollandiana II, S. 120, 124. Analecta Bollandiana II, S. 124, 126, 128. 18 Analecta Bollandiana II, S. 120, 122, 124 etc. 19 Analecta Bollandiana II, S. 125. 20 Analecta Bollandiana II, S. 127. 17
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digkeit. Hertling sah in diesem Rahmen das erste Beispiel von articuli interrogatorii21. Dieser Kleriker war Bruno, Custos S. Petri in Argentina et presbyter22. Die Kommissare übersandten dem Papst das von ihnen erstellte Protokoll der Zeugenaussagen und die namentlich angegebenen Schriften Hildegards, verschlossen mit ihren Siegeln, durch den erwähnten Priester Bruno23. Die Grundzüge des römischen Kanonisationsprozesses waren ihnen bekannt. Darum baten sie den Papst, er möge geeignete Männer beauftragen, die Heiligsprechung bis zu dem Punkt voranzutreiben (pium opus ad debitum effectum prosequantur), an dem er selbst den Namen dem Verzeichnis der Heiligen einfügt24.
V. Der römische Prozess Die Akten betreffend die Heiligsprechung Hildegards dürften im Laufe des Jahres 1234 in Rom eingetroffen sein. Der Papst, der entschieden hatte, daß ein Verfahren hinsichtlich der Dienerin Gottes Hildegard eingeleitet werden sollte, die eine fama sanctitatis genoß, lenkte nun nach Übersendung des Protokolls den römischen Prozeß. Die erste Stufe war die Prüfung des übersandten Protokolls durch Kapläne der familia der Kardinäle (die rubricatio). Sie zielte darauf die Merkmale der Heiligkeit herauszuarbeiten und in Form von zusammenfassenden Sätzen (rubricae) vorzulegen. Diese mühevolle Aufgabe schloß mit der Verfassung der abbreviatio oder recollectio ab, die den Kardinälen gestattete, sich ein Bild von den Verdiensten und Wundern der Dienerin Gottes zu machen. Die zweite Stufe bestand darin, daß aus der recollectio ein Text erstellt wurde, der geeignet war, im Konsistorium vorgetragen zu werden, die recollectio minor oder das summarium. Die dritte Stufe waren die Bemerkungen, welche die mit der Sache befaßten Kardinäle sowie die übrigen Mitglieder des Heiligen Kollegs machten, wenn der Fall einmal oder wiederholt im Konsistorium zur Sprache kam. Es ist anzunehmen, daß das Verfahren Hildegards bis zu diesem Punkt gediehen ist; weiter kam es nicht.
VI. Das Reskript ,,Supplicantibus nobis“ Die Aussprache über das Dossier Hildegards im Konsistorium deckte Mängel und Unzulänglichkeiten der Untersuchung auf. Die Kardinäle waren vor allem empfindlich gegenüber prozessualen Unregelmäßigkeiten und Versehen wie unge21
L. Hertling, Materiali per la storia del processo di canonizzazione, in: Gregorianum 16 (1935) S. 170 – 195, hier S. 193. 22 Analecta Bollandiana II, S. l24 – 125. 23 M. Schrader/A. Führkötter. Die Echtheit des Schrifttums der heiligen Hildegard von Bingen, Köln/Graz 1956, S. 23. 24 Analecta Bollandiana II, S. 127.
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nauer Aufnahme der Aussagen von Zeugen25. Gregor IX. machte sich ihre Bedenken zu eigen; er fand, daß die Aussagen der Zeugen nicht genau genug aufgenommen und gemäß den Weisungen, die den Kommissaren zugegangen waren, aufgeschrieben worden seien. Daher forderte er die Vervollständigung der Untersuchung und bestellte am 6. Mai 1237 mit dem Reskript ,,Supplicantibus nobis“ neue Kommissare26; es waren der Mainzer Domdechant, der Mainzer Domscholaster und der Mainzer Domherr Walter. Der Papst zeichnete in dem Reskript noch einmal den Gang der Ereignisse von der Supplik des Konvents bis zur Übersendung des Berichtes der Kommissare an den Heiligen Stuhl nach. Ihm lag keine neue Supplik vor, sondern er schaute auf die frühere (olim), seinem Vorgänger eingereichte Supplik von Äbtissin und Konvent des Rupertsklosters in Bingen zurück. Er erinnerte an den Auftrag, den Gregor IX. dem Dompropst, dem Dekan des Petersstiftes und dem Scholaster des Petersstiftes gegeben hatte. Der Papst hatte in diesem Stadium des Verfahrens noch keine Position Pro oder Contra bezogen. Er ließ offen, ob die behaupteten Wunder tatsächlich geschehen (multis dicitur coruscasse miraculis) und ob die Schriften der Hildegard wirklich unter dem Anhauch des Heiligen Geistes verfaßt seien (libros ipsius, quas sancti spiritus revelatione composuisse creditur). Der Heilige Stuhl war allgemein skeptisch, solange angebliche Wunder nicht durch Zeugen einwandfrei bewiesen wurden27. Die Kommissare seien zwar ihrem Auftrag nachgekommen (quorum ad nos inquisitione remissa), doch die Nachprüfung habe Mängel ergeben (quosdam invenimus in illa defectus). Die Zeugen hätten ausgesagt, Hildegard habe viele Besessene (demoniacos) und Kranke (infirmos) geheilt. Doch seien die Personen der Geheilten nicht namentlich benannt und weder örtlich noch zeitlich festgemacht worden. Bei den Aussagen der Zeugen seien die Darlegungen der Äbtissin nicht von jenen des Konvents unterschieden worden. Einmal habe es geheißen, der größere Teil des Konvents habe dasselbe ausgesagt wie die Äbtissin. Dann sei behauptet worden, die Äbtissin habe dasselbe ausgesagt wie die anderen Zeugen und der Konvent. Diese Ungenauigkeiten nahm der Heilige Stuhl nicht hin. Die zweite Kommission erhielt denselben Auftrag wie die erste (iuxta formam illis traditam procedentes). Aber sie sollte die Fehler der ersten vermeiden, und das heißt vor allem, die Aussagen genau und unterschieden (distincte ac prudenter exposita) zu Protokoll nehmen. Die Beauftragung der Kommissare erfolgte solidarisch. Das besagt: Sie mußten nicht notwendig zu dritt gemeinsam die Untersuchung vornehmen, sondern konnten auch zu zweit oder einzeln vorgehen.
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Vauchez, La sainteté S. 568. St. A. Würdtwein, Nova Subsidia diplomatica IX, Heidelberg 1787, S. 12 – 14 Nr. VI; L. Eltester/A. Goerz (Bearb.), Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien III, Koblenz 1874, S. 452 f. Nr. 589. 27 Vauchez, La sainteté S. 561 – 581. 26
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VII. Das Reskript ,,Supplicantibus olim“ Die neuen Kommissare waren säumig. Bis zum Jahre 1243, als bereits (seit 25. Juni) Papst Innozenz IV. regierte, lag dem Heiligen Stuhl ein Protokoll ihrer Untersuchung nicht vor. Deswegen schrieb ihnen der Papst am 24. November 1243 in dem Reskript ,,Supplicantibus olim“28, wenn sie in der Untersuchung vorangegangen seien, sollten sie ihm das gesamte Dossier zusenden. Es war Innozenz bekannt, daß die erste Kommission nicht zur vollen Zufriedenheit Gregors IX. gearbeitet hatte, ihre Untersuchung vielmehr an Mängeln (defectus) litt. Bei den Aussagen der Zeugen, daß Hildegard viele Besessene und Kranke geheilt habe, fehlten Angaben über die Personen, die Orte und die Zeiten. Ebenso wurde nicht auseinandergehalten, was die Äbtissin (Magistra) ausgesagt hatte und was ihr der größere Teil des Konvents nachgesprochen hatte. Die Kommissare hatten aus den Aussagen der Zeugen eine Art Aufsatz und Zusammenfassung gemacht (rubricas quasi et concordantias depositionum testium). Diese Erscheinung war bekannt. Die Postulatoren und manchmal auch die Kommissare neigten dazu, die Auskünfte der vernommenen Zeugen nicht unmittelbar und wörtlich wiederzugeben, sondern sie zu benutzen, um einen zusammenfassenden Bericht zu erstellen. Dadurch wurden aber die einzelnen Aussagen verwischt. Was von den neuen Kommissaren erwartet wurde, war die wörtliche Anführung der Antworten der Zeugen (dicta ipsorum), wie sie kunstlos und schlicht (simpliciter) und Wort für Wort (seriatim) aus ihrem Munde kamen. Wegen dieser Mängel habe sein Vorgänger den genannten Mitgliedern der (zweiten) Kommission aufgetragen, nach dem Formular (juxta formam) vorzugehen, das ihnen übersandt worden war (fuerat tradita). Das Ergebnis sollten sie getreu dem Wohlgefallen seines Vorgängers aufbewahren. Innozenz war nun unsicher, wieweit die Sache gediehen war. Er sah zwei Möglichkeiten. Entweder hatten die Kommissare die ihnen aufgetragene Untersuchung abgeschlossen (si processistis in inquisitione huiusmodi), oder sie hatten sie nicht abgeschlossen (alioquin … inquirentes sollicite veritatem). Im ersten Falle sollten sie das gesamte Material an den Heiligen Stuhl einsenden. Voraussetzung dafür war, daß sie in der rechten Weise vorangegangen waren. Der Papst erinnerte noch einmal daran, was das bedeutet: Die Zeugen waren einzeln zu vernehmen (singillatim examinare), nicht zu mehreren, weil nur dadurch die unbeeinflußte Aussage gewährleistet war. Ihre Angaben waren schlicht, gerade, aufrichtig (simpliciter), wie sie jeder machte, zu protokollieren und Wort für Wort (seriatim) ins Protokoll einzutragen. Im zweiten Falle – wenn das Aufgetragene nicht oder nicht ordnungsgemäß geschehen war – wurde den Kommissaren erneut befohlen, bezüglich aller alten und neuen Wunder und des Lebens Hildegards sorgfältig die Wahrheit zu erforschen. Die Zeugen waren einzeln, d. h. gesondert, zu vernehmen. Als solche kamen nur glaubwürdige (fide dignos) Personen in Frage, die unmittelbar, persönlich (per se) Mitteilungen machen konnten. Ihre Aussagen waren fehlerfrei ohne Zusätze oder Weglassungen (pure) aufzunehmen, wie sie jeder Zeuge ungekünstelt 28
Würdtwein, Nova Subsidia diplomatica IX, S. 34 – 36 Nr. XVI.
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(simpliciter), gehörig unterschieden (distincte) und geordnet (ordinate) gemacht hatte. Die Aufnahme der Zeugenaussagen hatte mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt (cum attentione) zu erfolgen. Nach Beendigung der Untersuchung war das Protokoll versiegelt einzusenden.
VIII. Der Ausgang Es scheint, daß erst das Schreiben Innozenz’ IV. die Kommissare veranlaßte, die Untersuchung neu aufzunehmen. Sie bemühten sich, den Weisungen des Papstes Folge zu leisten, und legten für ihre Untersuchung den Text von 1233 zugrunde, veränderten ihn aber durch zahlreiche Korrekturen und Zusätze. Die Kommissare dürften das so umgestaltete Protokoll haben abschreiben und den verbesserten Text dem Heiligen Stuhl zugehen lassen29. Ob das Verfahren in Rom weitergeführt wurde, ist ungewiß. Zur Heiligsprechung Hildegards kam es jedenfalls unter Innozenz IV. nicht. Angeblich wurden unter den Pontifikaten Clemens’ V. (1305 – 1314) und Johannes’ XXII. (1316 – 1334) neue Schritte beim Heiligen Stuhl unternommen30. Johannes XXII. habe auf Antrag Erzbischof Peters von Mainz (1305 – 1320) dem Willichinus, Abt von Sponheim, und gewissen Kanonikern der Mainzer Domkirche aufgetragen, sich zum Rupertsberg zu begeben, um dort über Leben, Sitten, Zeichen und Wunder Hildegards eine Untersuchung anzustellen und deren Ergebnis dem Apostolischen Stuhl zur Prüfung zuzusenden. Die neuerliche Untersuchung habe stattgefunden und ergeben, daß das Leben Hildegards durch zahlreiche vor und nach ihrem Tod gewirkte Wunder bestätigt worden sei. Die Kommissare hätten sie der Kanonisation würdig erachtet und das dazu Erforderliche dem Papst zugehen lassen. Der Papst habe die ihm übersandten Zeugenaussagen sorgfältig überprüft und sei geneigt gewesen, zur Heiligsprechung zu schreiten (ad canonizandam Virginem non fuit difficilis), wie er, der Verfasser der Chronik, durch ein päpstliches Schreiben informiert worden sei; doch habe der Papst das Unternehmen nicht zu Ende geführt. Schon sein Vorgänger, Clemens V. (1305 – 1314), habe in dieser Sache Kommissare bestellt. Die Glaubwürdigkeit dieser Nachrichten ist nicht anderweitig bestätigt. Es entzieht sich unserer Kenntnis, welche Hindernisse der erfolgreichen Durchführung des Heiligsprechungsverfahrens Hildegards im Wege standen. Doch lassen sich Tatsachen angeben, die vielleicht zum Verständnis dienen können. Von 48 Untersuchungen, die der Heilige Stuhl zwischen 1199 und 1276 im Hinblick auf eine nachgesuchte Kanonisation veranlaßte, verliefen 25 in dieser Periode ergebnislos; in 18 Fällen wurde ihre Wiederholung angeordnet31. In der Zeit von 1198 bis 1431 wurde für 13 Frauen ein Kanonisationsprozeß angestrengt; nur 29
Analecta Bollandiana II, S. 117 f. Hinkel, St. Hildegards Verehrung im Bistum Mainz S. 387 bezweifelt, daß überhaupt das verbesserte Protokoll nach Rom gelangte. 30 Joannis Trithemii Tomus I und II Annalium Hirsaugiensium, St. Gallen 1690, Annales Hirsaugienses II, S. 142 – 143. 31 Vauchez, La sainteté S. 60 – 62.
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fünf davon gelangten in mittelalterlicher Zeit zur Ehre der Altäre32. Die ersten beiden Drittel des 13. Jahrhunderts waren durch eine lebhafte Aktivität bezüglich der Heiligsprechungen gekennzeichnet. Danach führte vor allem die verlängerte Dauer der Prozesse zu deren Abnahme33. Während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters wurden die meisten Verehrungen neuer Heiliger, die sich in der abendländischen Christenheit entwickelten, durch die höchste Autorität weder bestätigt noch verworfen und entwickelten sich örtlich und regional in völliger Freiheit34. Seit dem 14. Jahrhundert wurde der Unterschied zwischen kanonisierten und nichtkanonisierten Heiligen vom Heiligen Stuhl in die Begriffe sancti und beati gefaßt35. Bis etwa 1230 bewahrten das benediktinische Ideal und das kanonische Leben nach der Regel des hl. Augustinus ein hohes Ansehen36. Im 13. und 14. Jahrhundert machten dagegen viele Benediktinerabteien ernste Krisen durch; das Ansehen ihres Ordens war ziemlich gering. Diese Lage war der Verbreitung der Verehrung von Dienern Gottes aus seinen Reihen nicht förderlich37. Das 13. und 14. Jahrhundert waren allgemein der monastischen, vor allem der benediktinischen Heiligkeit nicht günstig38. Die neuen, populären Heiligen aus den Bettelorden liefen den Heiligen aus den alten Orden den Rang ab. Dazu kam, angesichts des Hervortretens häretischer Bewegungen, eine reelle Besorgnis. Die Vielfalt der Privatoffenbarungen, deren Echtheit schwer zu kontrollieren war, wurde von nicht wenigen als Gefahr für die gesunde Lehre angesehen. Vielleicht genügte bei Hildegard auch die Ausdehnung der Verehrung nicht. Es kann sein, daß die Kreise, denen an der Kanonisation der Äbtissin Hildegard gelegen war, den Mangel der Aufnahme in den Katalog der Heiligen nicht allzu schwer empfanden. Die Verehrung in den Klöstern und beim Volk war zwar nicht allzu weit verbreitet, doch gewiß und anhaltend. Außerdem kam es am 5. Dezember 1324 zur gemeinsamen Gewährung eines Ablasses durch zwölf Bischöfe in Avignon für jene, die sich bei bestimmten Gelegenheiten, darunter am Fest der heiligen Hildegard, in das Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen begaben. Der Mainzer Erzbischof bestätigte am 18. Februar 1325 den Ablaß und fügte einen weiteren von 40 Tagen hinzu39. Man kannte damals die Praxis kollektiver Ablaßbriefe zugunsten von nichtkanonisierten Heiligen, die von Bischöfen ausgestellt wurden, die an der Römischen bzw. Avignonesischen Kurie weilten. Die Gewährung eines Ablasses durch Bischöfe für die Teilnahme an der Verehrung eines Dieners Gottes war ein 32
Vauchez, La sainteté S. 316. Vauchez, La sainteté S. 72 – 74. 34 Vauchez, La sainteté S. 37. 35 Vauchez, La sainteté S. 162. 36 Vauchez, La sainteté S. 374. 37 Vauchez, La sainteté S. 146. 38 Vauchez, La sainteté S. 379. 39 Analecta Bollandiana II, S. 129. Vgl. Hinkel, St. Hildegards Verehrung im Bistum Mainz S. 389. 33
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Ausdruck autoritativer Billigung derselben40. In den entsprechenden Schreiben wurde der Diener Gottes gewöhnlich sanctus genannt41. Die Förderer der Verehrung des Heiligen erblickten darin gewissermaßen einen Ersatz für die fehlende bzw. nicht zu erlangende päpstliche Kanonisation42. Außerdem begünstigte die Möglichkeit, einen Ablaß zu gewinnen, seine Verehrung und machte sie für die Gläubigen anziehend.
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Vauchez, La sainteté S. 106 – 108, 258, 285. Z.B.: Vauchez, La sainteté S. 103 Anm. 11; S. 108 Anm. 27. 42 Vauchez, La sainteté S. 108 Anm. 27. 41
Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz während des hohen und späten Mittelalters I. Mainzer Provinzialkonzilien1 1. Provinzialkonzilien im allgemeinen Das Bedürfnis nach Aus- und Absprache ist für die Menschen unabweisbar. Es macht sich erst recht geltend, wenn sie in Führungspositionen einrücken. Diese Beobachtung bewahrheitet sich bei den Hirten der Kirche. Von Anfang an haben sich benachbarte Bischöfe zu gemeinsamer Beratung und Beschlußfassung getroffen. Nach Ausbildung der Metropolitanverbände riefen die Metropoliten die Bischöfe ihrer Provinz regelmäßig oder aus gegebenem Anlaß zusammen; es entstand die Provinzialsynode2. Häufigkeit und Wirksamkeit der Provinzialkonzilien unter1 Die hauptsächlichen Quellen des Beitrags sind die folgenden: Johann Friedrich Schannat/Joseph Hartzheim (Hrsg.), Concilia Germaniae, 10 Bde., Köln 1759 – 1790; Stephan Alexander Würdtwein (Hrsg.), Dioecesis Moguntina in archidiaconatus dist cta et commentationibus diplomaticis illustrata, 4 Bde., Mannheim 1769 – 1790; Stephan Alexander Würdtwein (Hrsg.), Subsidia diplomatica, 13 Bde., Frankfurt/Leipzig 1772 – 1778; Stephan Alexander Würdtwein (Hrsg.), Nova Subsidia diplomatica, 12 Bde., Heidelberg 1781 – 1789; Philipp Jaffé (Hrsg.), Monumenta Moguntina (= Bibhotheca Rerum Germanicarum III), Berlin 1866; Karl Herquet (Bearb.), Urkundenbuch der ehemals freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen, Halle 1874; Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II. 742?–1288. Mit Benützung des Nachlasses von Johann Friedrich Böhmer bearb. und hrsg. von Cornelius Will. 2 Bde., Innsbruck 1877/86; Gustav Schmidt (Hrsg.), Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, 4 Tle. (= Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 17., 21., 27. und 40. Bd.), Leipzig 1883 – 1889; Regesten der Erzbischöfe von Mainz von 1289 bis 1396: 1. Abt. Bearb. von Ernst Vogt. 1289 – 1353. 1. Bd. 1289 – 1328, Leipzig 1913; 1. Abt. 2. Bd. 1328 – 1353. Bearb. von Heinrich Otto. Darmstadt 1932 – 1935; 2. Abt. (1354 – 1396). Bearb. von Fritz Vigener. 1. Bd. 1354 – 1371, Leipzig 1913; 2. Bd. (1371 – 1374), Leipzig 1914; Edmund E. Stengel (Hrsg.), Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts, 1. Hälfte, Berlin 1921; 2. Hälfte, I. Teil, Berlin 1930; 2. Hälfte, II. Teil, Hannover 1976; Alfred Overmann (Bearb.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, 3 Tle. (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe Bd. 5, 7 und 16), Magdeburg 1926 – 1934. 2 Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869– 1897, III, S. 473– 508, 634– 652; Johann Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, I, S. 500 – 503; N. Iung, Concile: DDC III, 1942, Sp. 1268 – 1301; Hermann Josef Sieben, Die Konzilsidee des lateinischen Mittelalters (847 – 1378) (= Konziliengeschichte Reihe B: Untersu-
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lagen im Laufe der Geschichte starken Schwankungen. Die anfänglich geforderte zweimalige Zusammenrufung3 wurde bald auf einmal ermäßigt4. Aber auch die jährliche Abhaltung, die das Vierte Laterankonzil (1215) c. 6 von neuem angeordnet hatte5, kam jedenfalls in Deutschland nicht zur Durchführung. Die Ausdehnung der Diözesen, die weite Entfernung von der Metropole, die Belastung oder die Bequemlichkeit der Bischöfe und das Widerstreben der Suffragane gegen eine kraftvolle Wahrnehmung der Rechte des Metropoliten waren die Gründe für das relativ seltene Zusammentreten der Provinzialbischöfe. Welche Bedeutung die Provinzialkonzilien in einer Kirchenprovinz gewannen, hing auch in weitem Ausmaß von der Persönlichkeit des jeweiligen Metropoliten ab. Ein starker Erzbischof vermochte seine Suffragane eher zu einem Provinzialkonzil zu vereinigen und dort die Einheit der Kirchenprovinz sichtbar zu machen als ein schwacher. Das Schwergewicht der Tätigkeit der Provinzialsynoden lag in Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Daneben wurden sie aber auch in der Gesetzgebung tätig. Ihre Normsetzung konnte sich selbstverständlich nur im Rahmen des übergeordneten Rechtes entfalten, d. h. sie waren im allgemeinen darauf beschränkt, Aus- und Durchführungsbestimmungen zum päpstlichen Recht zu erlassen. Wie die Provinzialsynode Gesetze geben konnte, so vermochte sie dieselben auch mit Strafdrohungen zu bewehren, d. h. sie war Trägerin der Strafgewalt. 2. Mainzer Provinzialkonzilien Daß Mainz6 in römischer und merowingischer Zeit Sitz eines Metropoliten gewesen sei, ist zumindest unerweislich. Bonifatius war nur persönlicher (Missions-) chungen), Paderborn 1984; Odette Pontal, Die Synoden im Merowingerreich (= Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn 1986; Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (= Konzilengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn 1889; Hermann Josef Sieben, Die Partikularsynode. Studien zur Geschichte der Konzilsidee (= Frankfurter Theologische Studien 37. Bd.), Frankfurt a. M. 1990. 3 Nicaea (325) c. 5 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta, 3. Aufl., Bologna 1973, S. 8); Antiochien (341) c. 20 (Hermann Theodor Bruns [Hrsg.], Canones Apostolorum et Conciliorum Saec. IV. V. VI. VII, I, Berlin 1839, S. 85); Chalcedon (451) c. 19 (Conciliorum Oecumnenicorum Decreta, S. 96). 4 Conc. Agath. 506 c. 49 (Charles Munier [Hrsg.], Concilia Galliae A. 314 – A. 506, Turnhout 1963, S. 212); Conc. Aurel. II 533 c. 2 (Charles de Clercq [Hrsg.], Concilia Galliae A. 511 – A. 695, Turnhout 1963, S. 99). 5 Conciliorum Oecumenicorum Decreta, S. 236 f.; X 5, 1, 25; X 3, 5, 29. 6 Émile Lesne, La hiérarchie épiscopale, provinces, métropolitains, primats en Gaule et Germanie depuis la réforme de saint Boniface jusqu’à la mort d’Hincmar 742 – 882, Lille/Paris 1905; Eduard Otto Kehrberger, Provinzial- und Synodalstatuten des Spätmittelalters. Eine quellenkritische Untersuchung der Mainzer Provinzialgesetze des 14. und 15. Jahrhunderts, und der Synodalstatuten der Diözesen Bamberg, Eichstätt und Konstanz. Phil. Diss. Tübingen, Stuttgart 1938; Theodor Schieffer, Angelsachsen und Franken. Zwei Studien zur Kirchengeschichte des 8 Jahrhunderts, in Akademie der Wissenschaften und Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 1950 Nr. 20, Mainz 1950, S. 1431 –
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Erzbischof und danach Bischof von Mainz. Erst seit Lullus (780/82) wurde Mainz Sitz eines Metropoliten. Es bildete sich die ausgedehnte Mainzer Kirchenprovinz, zu der zeitweise vierzehn Bistümer gehörten. Fortan wurden in der Stadt und Diözese sowie in der Kirchenprovinz Mainz Provinzialkonzilien abgehalten. Über ihre Zahl besteht nach wie vor Unklarheit. Zwar sind viele Synoden bekannt, aber es stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, festzustellen, welchen Charakter sie hatten. Der Teilnehmerkreis der mittelalterlichen Synoden war bis zu einem gewissen Grade offen. Der Einfluß des Königs auf die Versammlung von Bischöfen war häufig stark. Eines ist sicher: Reichssynoden und Synoden verschiedener Sprengel (Nationalsynoden) traten entschieden häufiger zusammen als Provinzialkonzilien7. Dennoch schrieb vor fast 200 Jahren Franz Joseph Scheppler: ,,Es ist eine historische Wahrheit, daß in keinem kirchlichen Staate von jeher mehr Konzilien und Synoden gehalten, in keinem mehr durch Statuten für die Reformation der Kirchenverfassung des Klerus und der Mönche und für die Kirchendisziplin getan wurde als im mainzischen“8. Relativ gesehen, mag dieses selbstbewußte Urteil zutreffen. Nach einer (nicht unbestrittenen) Zählung wurden in der Mainzer Kirchenprovinz von 919 bis 1310 etwa 23 Provinzialsynoden abgehalten9. Das wäre für vier Jahrhunderte nicht gerade viel. Im 12. Jahrhundert rechnet man mit sechs, höchstens sieben Provinzialsynoden10. Ich neige dazu, die Zahl beträchtlich höher anzusetzen, weil die Ungunst der Überlieferung zahllose Nachrichten und viel Material zugrunde gehen ließ; doch von einer alljährlichen Abhaltung eines Provinzialkonzils kann keine Rede sein. Darüber liegen bestimmte Zeugnisse vor. So gab Erzbischof Siegfried III. von Mainz (1230 – 1249) in seinem Einladungsschreiben zu dem Provinzialkonzil des Jahres 1239 an, er kenne die Verpflichtung, alle Jahre eine solche Synode abzuhalten, habe jedoch den Mitbischöfen Mühe und Kosten ersparen wollen11. Sein Vorgänger, Erzbischof Siegfried II. (1200 – 1230), hielt nach unserer Kenntnis nur drei oder vier Provinzialsynoden ab12. Für die Zeit
1529; Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 5 Bde., 7. unveränd. Aufl., Berlin/ Leipzig 1952; Martin Hannappel, Die in Aschaffenburg tagenden Mainzer Provinzialsynoden: Aschaffenburger Jahrbuch 4 (1957). 1000 Jahre Stift und Stadt Aschaffenburg. Festschrift zum Aschaffenburger Jubiläumsjahr 1957, I. Teil, S. 439 – 461; Brigitte Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen der Erzbischöfe von Mainz im 14. und 15. Jahrhundert. Phil. Diss. Göttingen, Göttingen 1965 Masch.; Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952 – 1973). Hrsg. von Hartmut Atsma, 2 Bde., München 1979. 7 Z. B.: Martin Boye, Die Synoden Deutschlands und Reichsitaliens von 992 – 1059. Eine kirchenverfassungsgeschichtliche Untersuchung: ZSavRG, KA 18, 1929, S. 131 – 284. 8 Franz Joseph Scheppler, Codex Ecclesiasticus Moguntinus novissimus, Aschaffenburg 1802, S. II. 9 Albert Werminghoff, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter, 2. Aufl. (= Grundriß der Geschichtswissenschaft Bd. II Abt. 6), Leipzig/Berlin 1913, S. 132. 10 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 133. 11 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 568. 12 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 135.
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von 1230 bis 1310 sind zehn Provinzialkonzilien bekannt13. Die Behauptung, die Provinzialsynode von 1310 sei die letzte für das 14. Jahrhundert gewesen14, trifft nicht zu. Jedenfalls trat 1338 eine Provinzialsynode in Speyer zusammen15. Für 1364 ist die Versammlung eines Provinzialkonzils wenigstens möglich16. Die Lage im Bistum und in der Kirchenprovinz Mainz, aber auch der Gesamtkirche erklärt die Lücke in den folgenden Jahrzehnten. Erst für 1405 wurde wieder ein Provinzialkonzil zusammengerufen17. Danach fanden am 8. Januar l40918 und am 18. März 142319 Provinzialkonzilien statt. Weiter sind solche Versammlungen für die Jahre 143120, 143821, 143922, 144023, 144324, 145125, 145526, 148727 bezeugt. Vom Konstanzer Konzil bis zum 16. Jahrhundert lassen sich mithin neun Mainzer Provinzialkonzilien mit Gewißheit feststellen. Das Konzil von 1487 ist das letzte, das nach unserem Wissensstand vor den Erschütterungen des 16. Jahrhunderts zusammentrat. Die Feier einer Provinzialsynode ging folgendermaßen vor sich. Der Metropolit berief die Bischöfe seiner Provinz zu dem Konzil ein28. Der Ort der Versammlung wechselte. Die Einberufung nach dem Sitz des Metropoliten war die Regel, von der es jedoch relativ viele Ausnahmen gibt. So wurden in der Mainzer Kirchenprovinz Synoden, z. B. in Fritzlar und in Aschaffenburg abgehalten. Im 14. Jahrhundert traten die Provinzialsynoden regelmäßig in Mainz, mindestens einmal jedoch in Speyer29 zusammen. Im 15. Jahrhundert waren Mainz und Aschaffenburg die Orte 13
Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 138. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 139. Über die Mainzer Provinzialsynoden im 14. Jahrhundert vgl. Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 1 –14. 15 Otto, Regesten I, 1, S. 279 Nr. 4136. Vgl. Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 10 f. 16 Vigener, Regesten II, 1, S. 426 Nr. 1887. Vgl. Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 11 A. 5. 17 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 818 f. Vgl. Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 11 f. 18 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 846. Vgl. Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 12 f. 19 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae V, S. 208–213. Vgl. Kehrberger, Provinzial- und Synodalstatuten, S. 29 – 32; Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 119 f. 20 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 120 f. 21 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 121 f. 22 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 122 – 125. 23 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 125 – 128. 24 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 128 f. 25 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 130 – 132. 26 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 133 f. 27 Kochan, Kirchliche Reformbestrebungen, S. 135 f. 28 Einladung 1024: Jaffé, Monumenta Moguntina, S. 358 – 360 Nr. 23; 1026: Jaffé, Monumenta Moguntina, S. 363 – 365 Nr. 26. 29 Otto, Regesten I, 2, S. 281 f. Nr. 4145. 14
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ihres Zusammentritts. Die Suffraganbischöfe waren gehalten, der Einladung Folge zu leisten, sofern sie nicht wegen eines stichhaltigen Grundes verhindert waren. Der Besuch der Versammlungen war häufig schlecht. Daß alle Suffragane des Mainzer Metropoliten der Provinzialsynode beiwohnten, war höchst selten; in der Regel mußte man sich damit abfinden, daß nur einige Bischöfe anwesend waren. Wer aus triftigem Grund nicht erschien, durfte einen Stellvertreter entsenden30. Beschließende Stimme auf dem Konzil hatten die Bischöfe und ihre Vertreter. Dementsprechend heißt es von der Aschaffenburger Synode des Jahres 1292: ,,de … suffraganeorum necnon de praelatorum nostrorum consilio et assensu“31. Häufig wurde der Kreis der Teilnehmer auf weitere Kleriker ausgedehnt. Man hat vor allem an Vertreter der Kathedral- und Kollegiatkapitel sowie der Klöster, also Dignitäre und Äbte, zu denken. Den Vorsitz auf der Provinzialsynode führte normalerweise der Metropolit. Er legte die Tagesordnung fest, leitete die Sitzungen und sorgte für die Anfertigung des Protokolls. Das Konzil von Aschaffenburg des Jahres 1292 bezeichnete die Provinzialsynode als generale concilium32. Auch die Richter des Mainzer Stuhles nannten am 6. Januar 1387 die Provinzialkonzilien concilia generalia33.
II. Mainzer Provinzialstatuten 1. Im allgemeinen Die Provinzialkonzilien standen unter dem gemeinen Recht und dienten seiner Durchsetzung. Sie verwiesen daher regelmäßig auf die gesamtkirchliche Gesetzgebung und schärften deren Beobachtung ein. Ihre vornehmste Tätigkeit war der Erlaß eigener Gesetze für die Kirchenprovinz; verhältnismäßig häufig geboten sie durch Beschluß zustande gekommene Statuten34. Dabei war das Prinzip der Kontinuität vorherrschend. Das bedeutete: Die solcherart verabschiedeten Statuten waren gewöhnlich nur zum Teil neu. In der Regel wurden lediglich frühere Bestimmungen eingeschärft, manchmal in veränderter Gestalt. Statuten haben gewöhnlich ein zähes Leben. Weil die Menschen sich gleich bleiben, halten sich auch ihre Schwächen und Fehler durch, müssen also die Regeln rechten Verhaltens immer wieder in Erinnerung gebracht werden. Doch wandeln sich die Verhältnisse. Daher treten zu den einmal verabschiedeten Vorschriften Änderungen, Ergänzungen und Erweiterungen. Wegen dieser Praxis ist der beliebte Rückschluß von den Statuten auf die tatsächliche Lage in Klerus und Volk regelmäßig gewagt und nur mit äußerster Vorsicht vorzunehmen. 30
Z. B.: Mainz 1239 (Mansi 23, S. 501 f.). Mansi 24, S. 1081. 32 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 14, 15. 33 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt IV, S. 296 Nr. 3000. 34 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, S. 493, 647; Sieben, Die Konzilsidee des lateinischen Mittelalters, S. 269 f. 31
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Der Gegenstand der Statuten waren, allgemein gesprochen, das religiöse, kirchliche und sittliche Leben von Laien und Klerikern der Kirchenprovinz. Den letzteren wurden die Pflichten ihres Standes und die Aufgaben ihres Dienstes in Erinnerung gerufen. Die Privilegien und der Besitz kirchlicher Personen und Einrichtungen erweckten häufig Neid und waren ständigen Eingriffen ausgesetzt. Daher widmeten die Statuten regelmäßig dem Schutz von Klerus, Kirchenvermögen und Immunität besondere Aufmerksamkeit. Auch die Abwehr von glaubenswidrigen Aufstellungen machten die Provinzialkonzilien zu ihrer Sache, und ihre Beratungen fanden den Niederschlag in entsprechenden Passagen der Statuten. Die zum Provinzialkonzil versammelten Bischöfe waren ein einheitliches Gesetzgebungsgremium. Die Beschlüsse wurden grundsätzlich nach dem Mehrheitsprinzip gefaßt und banden alle Bischöfe, auch jene, die nicht dafür gestimmt oder an der Versammlung nicht teilgenommen hatten, galten also in der gesamten Kirchenprovinz. Die Provinzbischöfe waren indes befugt, in einzelnen Fällen von Bestimmungen der Statuten des Mainzer Provinzialkonzils zu dispensieren35. Deren Interpretation lag, jedenfalls zwischen den Synoden, beim Metropoliten. Es tauchten nämlich gelegentlich Zweifel auf, ob ein bestimmter Vorgang unter die Provinzialstatuten zu subsumieren war. So brachte man im Jahre 1317 folgenden Fall vor den Mainzer Erzbischof Peter36. Der (Laien-)Mönch Burkart aus dem Zisterzienserkloster Volkenrode37 war in der Stadt Mühlhausen gefangengenommen worden. Es erhob sich die Frage, ob die Bestimmungen der Provinzialstatuten de captivatoribus clericorum et ecclesiasticarum personarum für das Geschehnis einschlägig seien. Der Erzbischof rief zum Zweck der Beratung die Prälaten der Mainzer Domkirche und der Mainzer Stiftskirchen38 zusammen. Auf ihren und weiterer Rechtskundiger Rat hin, wobei die beiden Parteien anwesend waren, entschied der Erzbischof, daß im vorliegenden Fall die Provinzialstatuten Anwendung fänden. Die Parteien verständigten sich allerdings über die freundschaftliche Beilegung des Streites. Der Erzbischof suspendierte infolgedessen das aufgrund der Provinzialstatuten über die Stadt Mühlhausen verhängte Interdikt. Wie Erzbischof Peter nahm auch Erzbischof Gerlach am 9. September 135439 das Recht in Anspruch, die Provinzialstatuten authentisch zu interpretieren; seine Erläuterung sollte für die ganze Kirchenprovinz verbindlich sein.
35
Z. B.: Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, S. 73 Nr. 138; Otto, Regesten I, 2, S. 395 Nr. 4739. 36 Herquet, Urkundenbuch der Stadt Mühlhausen, S. 334 Nr. 721. 37 B. Opfermann, Volkenrode: LThK X, 2. Aufl., 1965, Sp. 837; Hans Patze (Hrsg.), Thüringen (= Handbuch der historischen Stätten 9. Bd.), Stuttgart 1968, S. 453 – 455. 38 Anna Egler, Willigis und die Stifte in Stadt und Erzbistum Mainz, in 1000 Jahre St. Stephan in Mainz. Festschrift. Hrsg. von Helmut Hinkel (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 63), Mainz 1990, S. 283 – 308. 39 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 367; Vigener, Regesten II, 1, S. 46 f. Nr. 190.
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Die Aufstellung von Normen ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Anwendung. Dieser dienen Kontrolle und Sanktionen. Ein schwerwiegendes Mittel, das die Mainzer Provinzialstatuten zum Schutze von Personen und Sachen zur Verfügung stellten, war das Interdikt, die Einstellung des Gottesdienstes40. Diese Waffe behielt jedoch nur dann ihre gefürchtete Schärfe, wenn es nicht möglich war, sich ihr durch einen kurzen Weg von ein paar Schritten zu entziehen. Dafür ein Beispiel aus dem thüringischen Gebiet des Bistums Mainz. Die beiden Stiftskirchen von St. Marien und St. Severi in Erfurt, die nebeneinander liegen und deren Archidiakonatsbezirke ebenfalls benachbart waren, trafen mehrfach Vereinbarungen für den Fall, daß einer der Propsteibezirke durch das Interdikt aufgrund der Mainzer Provinzialstatuten (ratione statutorum provincialium Maguntinensium) dazu genötigt sei, den Gottesdienst einzustellen41. Die Mainzer Provinzialstatuten machten ernst mit dem Schutz geistlicher Personen und Sachen sowie mit der Ordnung und Zucht bei Klerus und Volk. Sie scheinen deshalb manches Unbehagen verursacht zu haben. Balduin von Luxemburg, der Provisor des Mainzer Stuhles in geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten (1328 – 1337), ordnete etwa in den Jahren 1329 – 1332 an, die Provinzialstatuten (aus dem Jahre 1310) in einzelnen Punkten milder zu handhaben42. Klagen über die Strenge der von ihnen festgesetzten Strafen drangen bis nach Avignon. Am 23. April 132643 beauftragte Papst Johannes XXII. den Mainzer Erzbischof, Bürger und Einwohner von Mainz, die von den harten Strafen gegen solche, die Kleriker gefangennehmen, betroffen seien, von der Exkommunikation loszusprechen und die Strafe der Inhabilität aufzuheben. Wenige Tage später begehrte der Papst Auskunft über das in Frage stehende Statut eines Mainzer Provinzialkonzils.44 2. Im einzelnen Nur ein Teil der Provinzialstatuten, die im Laufe der Jahrhunderte erlassen wurden, ist erhalten. Im Folgenden sollen einige Beispiele des Standes der Überlieferung gegeben werden. Die Beschlüsse der Synode von 115445 sind nicht auf uns gekommen. Doch sind die Statuten dem Inhalt nach wenigstens in groben Umrissen bekannt. Sie betrafen das tadelfreie Leben des Klerus, Gotteshaus und Gottesdienst
40
Georg May, Interdikt: TRE XVI, 1987, S. 221 – 226. Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 571 Nr. 1025 (15. März 1316), S. 614 f. Nr. 1114 (11. Mai 1320), S. 690 f. Nr. 1224 (20. Dezember 1323). 42 Stengel, Nova Alamanniae I, S. 153 f. Nr. 272. 43 Sigmund von Riezler (Hrsg.), Vatikanische Akten zur deutschen Geschichte in der Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern, Innsbruck 1891, S. 282 f. Nr. 676; Vogt, Regesten I, 1, S. 533 Nr. 2697. 44 Riezler, Vatikanische Akten, S. 283 Nr. 678; Vogt, Regesten I, 1, S. 534 f. Nr. 2704. 45 Böhmer/Will, Regesten I, S. 355 Nr. 7. 41
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sowie das religiös-sittliche Leben des christlichen Volkes46. Diese Vorschriften hatten eine anhaltende Wirkungsgeschichte. Die Mainzer Provinzialstatuten von 1154 wurden vermutlich in jene von 1233 aufgenommen47. Damals regierte in Mainz Siegfried III. von Eppstein (1230 – 1249)48. Von der am 25. Juli 1233 unter ihm in Mainz gehaltenen Provinzialsynode sind die Statuten überkommen49. Die Provinzialsynode von 1239 ging wiederum auf die Statuten von 1154 zurück, die sie teilweise textlich veränderte50. In den cc. 1 – 25 der Statuten von 126151 kehren die Statuten der Synode von 1239 wieder. Wenn die Mainzer Synode von 1239 (= 1261 c. 11) das antiquum statutum Moguntini concilii anspricht, dann ist auf das Konzil von 1154 angespielt52. Von der Provinzialsynode, die am 30. Mai 1244 in Fritzlar tagte53, sind Statuten erhalten in einem Bruchstück54 und in den cc. 26 – 39 der Statuten von 126155. Von der 1247 in Mainz abgehaltenen Synode ist ein Beschluß auf uns gekommen in dem Schreiben des Papstes Innozenz IV. vom 11. Februar 124856. Papst Alexander IV. bestätigte am 23. Juli 126057 auf Bitten von Klerus und Kapitel der Stadt und der Diözese Mainz die Statuten, die Erzbischof Gerhard I. (1251 – 1259) gegen jene erlassen hatte, welche die Prälaten und Kleriker seiner Kirchenprovinz in sakrilegischer Weise zu ergreifen und gefangenzuhalten entgegen der kirchlichen Freiheit sich unterfingen. Die Statuten der Mainzer Provinzialsynode von 126158 sind eine Zusammenstellung von Statuten der Jahre 1239, 1244, 1225 und 126159. In
46 Jaffé, Monumenta Moguntina, S. 612 f.; Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 134 A. 4. 47 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 134 A. 4; derselbe, Die angeblichen Mainzer Statuten von 1261 und die Mainzer Synoden des 12. und 13. Jahrhunderts, in Theologische Studien. Theodor Zahn zum 10. Oktober 1908 dargebracht, Leipzig 1908, S. 69 – 89. 48 Böhmer/Will, Regesten II, S. 211 – 307. 49 Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins III, 1852, S. 135 – 142; Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 542 – 547. 50 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 567 – 568. Vgl. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 144. 51 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 596 – 615. 52 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 134 mit A. 5. 53 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 571 – 575. Vgl. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 138 A. 1, 144. 54 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 572 – 575. 55 Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 144. 56 Elie Berger (Hrsg.), Les registres d‘Innocent IV, 4 Bde., Paris 1884 – 1921, I, S. 545 f. Nr. 3626. Vgl. Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands V, S. 144 A. 4. 57 Augustus Potthast, Regesta Pontificum Romanorum inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV, 2 Bde., Berlin 1874/75, II, S. 1458 Nr. 17933; Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins IV, 1853, S. 260. 58 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, S. 596 – 615; Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins IV, 1853, S. 256 – 266. 59 Hauck, Die angeblichen Mainzer Statuten, S. 89.
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den Beschlüssen der am 15. September 129260 in Aschaffenburg zusammentretenden Provinzialsynode fällt die große Zahl jener Entscheidungen auf, die gegen solche gerichtet sind, welche die Autorität, die Freiheit und die Funktionen der Kirche, ihrer Oberen und geweihten Glieder mißachten. Vielleicht kann man daraus schließen, daß sich in jener Zeit Eingriffe und Übergriffe gewalttätiger Laien gegen den Klerus häuften. Das Konzil, von 1292 brachte manche Klärungen von Bestimmungen früherer Konzilien. Vom 11. bis 13. Mai 1310 wurde in Mainz wiederum eine Provinzialsynode abgehalten. Ihre umfangreichen Statuten sind erhalten61. Auch sie schöpfen aus Vorschriften früherer Provinzialkonzilien. Die Menge ihrer Bestimmungen wurde von keiner späteren Mainzer Provinzialsynode erreicht. Im Vorwort zu den Provinzialstatuten spricht sich Erzbischof Peter über Zweck und Entstehung der Sammlung aus. Die Verordnungen der Väter, heißt es da, seien in verschiedenen chartulis seu libellis verstreut gewesen, so daß Zweifel aufkamen, ob es sich überhaupt um Provinzialsatzungen handele oder ob sie noch in Geltung stünden. Daher seien sie nun in eine Sammlung zusammengefaßt worden. Dabei sei man so vorgegangen, daß Überflüssiges weggelassen, das Übrigbleibende unter bestimmte und gewohnte Titel gestellt, Dunkles erklärt und manches auf den jetzigen Stand gebracht wurde. Um der Kürze und der leichteren Handhabung willen sei einiges aus dem gemeinen Recht (de communi jure) mit aufgenommen worden. Die jetzige Sammlung wurde für authentisch erklärt, ihr Gebrauch vorgeschrieben, die Benutzung anderer Quellen für die Provinzialgesetze verboten62. Ein Exemplar der Sammlung, so wurde bestimmt, müsse in allen Kathedral- und Klosterkirchen im Chor ausliegen und jedem zur Lektüre offenstehen. Außerdem sei sie jedes Jahr auf der Diözesansynode oder bei anderer Gelegenheit dem Klerus zur Kenntnis zu bringen63. Mit den Statuten von 1310 war die Mainzer Synodalgesetzgebung zu einem gewissen Abschluß gekommen. Sie hatten Bestand bis zu der Umwälzung im 16. Jahrhundert. Die Provinzialstatuten konnten ihre beabsichtigte Wirkung nur tun, wenn sie beachtet wurden. Voraussetzung der Befolgung war ihre Kenntnis. Um diese war man, wie soeben bemerkt wurde, mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln bemüht. So lag in der Mainzer Kathedralkirche das Buch der Provinzialstatuten, an eine Kette angeschlossen, zum öffentlichen Gebrauch aus64. Nicht ganz so gut scheint es in den Suffraganbistümern der Mainzer Kirchenprovinz bestellt gewesen zu sein. Einer der Suffragane, der gelehrte Bischof von Halberstadt, Albert III. von Sachsen (1366 – 1390), bat seinen Metropoliten, den Erzbischof Adolf I. von Nassau (1373 – 1390), ihm gewisse Kapitel der Mainzer Provinzialstatuten, welche das 60
Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 7 – 16; Mansi 24, S. 1081 – 1094; Vogt, Regesten I, 1, S. 50 Nr. 286. 61 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 174 – 224; Mansi 25, S. 297 – 350; Vogt, Regesten I, 1, S. 232 f. Nr. 1328. 62 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 175. 63 Schannat/Hartzheim, Concilia Gerrnaniae IV, S. 176. 64 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt IV, S. 297.
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Recht und die Verteidigung der kirchlichen Freiheit gegen solche, die Kleriker gefangennehmen und -halten, zum Gegenstand haben, zu übersenden. Der Erzbischof veranlaßte die Richter des Mainzer Stuhles, der Bitte zu willfahren. Diese beauftragten den öffentlichen Notar Bernhard von Borken, aus dem Buch der Provinzialstatuten eine Abschrift herzustellen, und versahen diese mit ihrer Autorität, indem sie an die Abschrift ihr richterliches Siegel anhängten65. Auf diese Weise wurde versucht, der Disziplin in der Kirchenprovinz einen Dienst zu leisten.
III. Die Exekutoren der Mainzer Provinzialstatuten 1. Die Exekutoren im allgemeinen Die besten Gesetze sind nutzlos, wenn sie nicht ausgeführt werden. Diese Weisheit war auch den Menschen des Mittelalters geläufig. Die Pflicht, die Beschlüsse der Provinzialsynoden zur Ausführung zu bringen, oblag den Bischöfen der Provinz, einem jeden für seine Diözese. Sie konnten diese Aufgabe in eigener Person wahrnehmen oder anderen übertragen; in jedem Falle galt: Die Exekution der Provinzialstatuten war Sache des Exekutors. Ein Exekutor66 im allgemeinen ist eine Person, die beauftragt ist, einen amtlichen Erlaß zur Durchführung zu bringen. Eine besondere Stelle nimmt der Exekutor bei Reskripten ein. Ein Reskript ist ein Schreiben eines kirchlichen Hoheitsträgers, das auf Bitte oder Antrag hin eine Gnade gewährt oder einen Rechtsfall entscheidet. Besonders bekannt sind Dispensreskripte67. Man denke etwa an die im Mittelalter häufigen Dispensen von dem Mangel der ehelichen Geburt für angehende Kleriker68. Reskripte können nun unmittelbar oder mittelbar erteilt werden. Bei der letzteren Weise der Gewährung wird ein Exekutor bestellt, der das Reskript zu vollziehen, also die Gnade zu applizieren hat69. Sehr häufig wurden sodann Exekutoren bei Provisionen70 oder einem Stellentausch71 ernannt. Maßnahmen der Kirchenorganisation wie die Errichtung oder die Verlegung von Bischofssitzen werden vom Heiligen Stuhl beschlossen. Zu ihrer praktischen Durchführung werden in der Regel Exekutoren im Bischofsrang be65 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt IV, S. 296 f. Nr. 3000 (6. Januar 1387). 66 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, S. 187, 194; II, S. 387; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, S. 104, 222; II, S. 212 f., 328. 67 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, S. 789 – 805. 68 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, S. 11 – 14. 69 Z. B.: VI 1, 14, 9. Vgl. Tommaso de Rosa, Tractatus de executoribus litterarum Apostolicarum tam gratiae, quam justitiae, Venedig 1736. 70 Z. B.: Otto, Regesten I, 2, S. 267 Nr. 4078; S. 546 Nr. 5516. Vgl. zur Sache Geoffrey Barraclough, Papal Provisions. Aspects of Church History Constitutional, Legal and Administrative in the Later Middle Ages, Oxford 1935, S. 137 – 142. 71 Z. B.: Otto, Regesten I, 2, S. 692 Nr. 6302. Vgl. zur Sache Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, S. 285 – 294.
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stellt72. Auf der Diözesanebene gilt mutatis mutandis Ähnliches für die Teilung einer Pfarrei73. Auch Mandate74 bedürfen häufig der Exekution. Das gilt beispielsweise für die Vollstreckung von Zensuren75. So wurden als Exekutoren der Bulle ,,Exsurge Domine“76 Girolamo Aleander und Johannes Eck bestimmt. Sie hatten die Publikation der an Luther und seinen Anhang ergehenden Aufforderung samt der Androhung der Exkommunikation vorzunehmen77. Die Bulle ,,Decet Romanum Pontificem“78 wurde Kardinal Albrecht von Mainz sowie den drei Nuntien Eck, Aleander und Marino Caracciolo zur Exekution übertragen79. Sie sollten den Eintritt der Exkommunikation verkünden und die damit verbundenen Folgen in die Praxis umzusetzen sich bemühen. Auch im Prozeßrecht ist von Exekution die Rede. So muß ein Urteil vollstreckt werden80. Ebenso wurden Exekutoren für die Befreiung von der Exkommunikation und der Irregularität bestellt81. Die Vollstreckung hat schließlich auch im privaten Bereich ihren Platz. So bedürfen Testamente des Vollzuges82.
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Z. B.: Angelo Mercati (Hrsg.), Raccolta di Concordati su materie ecclesiastiche tra la Santa Sede e le Autorità civili. I: 1098 – 1914, Vatikanstadt 1954, S. 663 f. Vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, S. 387, 398, 400. 73 Z. B.: Otto, Regesten I, 2, S. 525 Nr. 5415; Arnold Güttsches, Die Generalvikare der Erzbischöfe von Köln bis zum Ausgang des Mittelalters. Jur. Diss. Köln, Köln 1931, S. 13. 74 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, S. 158. 75 X 2, 28, 43. Vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts VI, S. 140 – 144. 76 Kurt Aland (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. I: Von den Anfängen bis zum Tridentinum, Tübingen 1967, S. 504 – 513. 77 J. Metzler, Eck, Johannes: LThK III, 1931, Sp. 523 – 526, hier 524. 78 Aland, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, S. 513 – 515. 79 Peter Fabisch, Johannes Eck und die Publikationen der Bullen ,,Exsurge Domine“ und ,,Decet Romanum Pontificem“, in Erwin Iserloh (Hrsg.), Johannes Eck (1486 – 1543) im Streit der Jahrhunderte. Internationales Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum aus Anlaß des 500. Geburtstages des Johannes Eck vom 13. bis 16. November 1986 in Ingolstadt und Eichstätt (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte Bd. 127), Münster 1988, S. 74 – 107. 80 Z. B.: X 2, 27, 5. Vgl. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, S. 328. R. Naz, Sentence: DDC VII, 1965, Sp. 952 – 962, hier 960 – 962. 81 Z. B.: Otto, Regesten I, 2, S. 616 Nr. 5865. Vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts V, S. 144 – 153; I, S. 55 – 59. 82 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, S. 136. Über die executores des letzten Willens vgl. das Mainzer Provinzialkonzil von 1310 (Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 197). Ein Beispiel für die Errichtung eines Testaments und die Bestellung von Testamentsvollstreckern bei Julius Jaeger (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Duderstadt bis zum Jahre 1500, Hildesheim 1885, Neudruck: Osnabrück 1977, S. 322 – 335 Nr. 517 (1499).
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Prozeßrecht
2. Die Aufstellung von Exekutoren in Suffraganbistümern Die Vollstreckung der Provinzialstatuten war, wie erwähnt, Sache des Diözesanbischofs. Deswegen konnte nur er Geistliche damit betrauen, d. h. Exekutoren der Provinzialstatuten ernennen. Dies ist auch in den Suffraganbistümern der Mainzer Kirchenprovinz geschehen. So waltete in der Diözese Halberstadt als Exekutor der Beschlüsse des Mainzer Konzils seines Amtes entweder der Bischof selbst83 oder sein Beauftragter84. Gelegentlich traten auch Exekutoren in der Mehrzahl auf85. Gewöhnlich wurde im 14. Jahrhundert und zu Anfang des 15. der Offizial zum Vollstrecker der Provinzialstatuten bestellt86. Die Vereinigung der Ämter des Offizials und des Exekutors in einer Person hatte den Zweck, daß der Inhaber beider Ämter den Bischof unterstützte. Bischof Ernst von Halberstadt (1390 – 1400)87 versprach in seiner Wahlkapitulation von 1390, einen Exekutor der Provinzialstatuten einzusetzen, jedoch nur mit Zustimmung des Domkapitels88. Dasselbe tat Bischof Johann von Hoym (1419 – 1437)89 im Jahre 1420. Er mußte versprechen, daß der Exekutor dem Domkapitel eidlich zusagen solle, die Archidiakone in ihrer Jurisdiktion nicht zu behindern oder in sie überzugreifen, und daß er den Exekutor auf Beschwerde des Kapitels absetzen und nur dessen Angehörige zu Exekutoren machen wolle90. Der Halberstädter Exekutor brachte gelegentlich schon in seiner Benennung zum Ausdruck, daß sein Auftrag den Zweck hatte, den Klerus gegen Angriffe von Laien und Geistlichen zu schützen91. In Hildesheim 83
Z. B.: Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt II, S. 474 f. Nr. 1449. Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt II, S. 571 Nr. 1645; II, S. 603 f. Nr. 1710; III, S. 31 Nr. 1788; III, S. 80 f. Nr. 1877. 85 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt III, S. 103 – 105 Nr. 1918. 86 Nikolaus Hilling, Die Offiziale der Bischöfe von Halberstadt im Mittelalter (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 72. Heft), Stuttgart 1911, S. 62 – 67; Albert Brackmann, Urkundliche Geschichte des Halberstädter Domkapitels im Mittelalter. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der deutschen Domkapitel. Phil. Diss. Göttingen, Wernigerode 1898, S. 145. 87 Hermann Clajus, Kurze Geschichte des ehemaligen Bistums und spätern weltlichen Fürstentums Halberstadt, Osterwieck/Harz 1901, S. 60 – 62. 88 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt IV, S. 333 – 337 Nr. 3040. Vgl. Brackmann, Urkundliche Geschichte, S. 146. 89 Clajus, Kurze Geschichte des ehemaligen Bistums und spätern weltlichen Fürstentums Halberstadt, S. 63 – 65. 90 Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt IV, S. 596 – 605 Nr. 3379. Vgl. Brackmann, Urkundliche Geschichte, S. 146. 91 Brackmann, Urkundliche Geschichte, S. 145 unter Hinweis auf Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt III, S. 410 Nr. 2315 (Executor statutorum provincialis concilii Maguntini contra invasores, detentores et iniuriatores ecclesiarum et ecclesiasticarum personarum civitatis et diocesis ac provincie Maguntine … editorum). Die Urkunde ist vollständig abgedruckt bei Gustav Schmidt (Bearb.), Päpstliche Urkunden und Regesten aus den Jahren 1295 – 1352, die Gebiete der heutigen Provinz Sachsen und deren Umlande betreffend (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 21. Bd.), Halle 1886, S. 317 – 318. 84
Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz
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wurde der erste Offizial Bischofs Siegfried II. 1295 zum Executor sacri concilii Moguntini bestellt92. Ähnlich hatte die Diözese Naumburg, die zur Kirchenprovinz Magdeburg gehörte, ihren Exekutor der Provinzialstatuten des Magdeburger Konzils93. 3. Erstmaliges Auftreten von Exekutoren im Bistum Mainz Auch in der Diözese Mainz wurden Exekutoren der Provinzialstatuten bestellt, damit diese nicht toter Buchstabe blieben. Vielleicht ging die Metropole mit dieser Einrichtung sogar voran. Unter dem Datum des 9. Mai 126994 bekundete der Magister Dietrich, Kanoniker des Marienstiftes zu Erfurt95 und Pfarrer von Allerheiligen daselbst, einen Vertrag zwischen dem Abt des Erfurter Petersklosters96 und dem Otto von Arnstadt über Abgaben und Leistungen, die der letztere von dem Besitz des Klosters in Eischleben verlangte und die das Kloster als übertrieben ansah. Dietrich bezeichnete sich in dieser Urkunde als exequutor statutorum concilii Maguntini. Er wurde in einer Sache tätig, die als Bedrückung einer geistlichen Korporation aufgefaßt wurde. Anscheinend hatte er nicht nötig, von seiner Vollmacht zu deren Schutz Gebrauch zu machen; es kam zu einer friedlichen Lösung der Zwistigkeiten. Der Sachzusammenhang legt nahe, daß Dietrich schon vorher in der Position als Executor statutorum concilii Maguntini tätig war, auch wenn er den Titel nicht führte. Am 15. Juli 126897 beauftragte ihn nämlich Erzbischof Werner, eine Untersuchung vorzunehmen betreffs des verstorbenen Raphael, Ritters von Weberstedt. Dieser war wegen Beeinträchtigung des Mainzer Petersstiftes in mehreren in Erfurt und anderswo geführten Prozessen exkommuniziert worden. Nun sollte Dietrich nachforschen, ob er vor seinem Tode die Lossprechung von der Zensur erbeten und erhalten habe. Das mehrmalige Tätigwerden und der Titel machen es wahrscheinlich, daß Dietrich nicht aufgrund eines Mandats einschritt, sondern ein Amt besaß, d. h. einen Inbegriff von Pflichten und Befugnissen, die er gemäß seiner Kompetenz zu dem festgelegten Zweck wahrnehmen sollte. Vermut92
H. Hoogeweg (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe 3. Teil (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 11), Hannover/Leipzig 1903, S. 512 f. Nr. 1030; S. 518 f. Nr. 1045; Joseph Machens, Die Archidiakonate des Bistums Hildesheim im Mittelalter (= Beiträge für die Geschichte Niedersachsens und Westfalens. Ergänzungsheft zum 8. Bd.), Hildesheim/Leipzig 1920, S. 317. 93 Paul Mitzschke (Bearb.), Urkundenbuch von Stadt und Kloster Bürgel (= Thüringischsächsische Geschichtsbibliothek 3. Bd.), Gotha 1895, S. 273 – 281 (1389). 94 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 243 f. Nr. 411. 95 Patze, Thüringen, S. 100 – 121. 96 Barbara Frank, Das Erfurter Peterskloster im 15. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Klosterreform und der Bursfelder Union (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 34 = Studien zur Germania Sacra 11), Göttingen 1973; Patze, Thüringen, S. 111. 97 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 239 Nr. 401. Vgl. Goswin von der Ropp, Erzbischof Werner von Eppstein. Ein Beitrag zur deutschen Reichsgeschichte des 13. Jahrhunderts, Göttingen 1872, S. 171.
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Prozeßrecht
lich hat er bei der Übernahme des Amtes eine Dienstanweisung (Kommission) erhalten, die aber nicht mehr vorliegt. Danach ist, soweit es uns erkennbar ist, das Amt des Exekutors der Statuten des Mainzer Konzils im Erzbistum Mainz durch Erzbischof Werner von Eppstein (1259 – 1284)98 geschaffen worden. Werner war ein Erzbischof, der für die Erzdiözese Mainz und für das Heilige Römische Reich außerordentlich segensreich gewirkt hat. Mit großer Tatkraft suchte er Ordnung und Frieden in seinem geistlichen und weltlichen Wirkbereich durchzusetzen. In diesen Zusammenhang fällt die Bestellung eines Exekutors der Statuten des Mainzer Konzils. Mit dem Mainzer Konzil, dessen Vorschriften er exekutieren sollte, ist das Provinzialkonzil von 1261 gemeint. Diese Versammlung hatte, wie oben erwähnt, eine gewisse Zusammenfassung der Bestimmungen gebracht, die von früheren Provinzialkonzilien erlassen worden waren. Der Erzbischof machte sich nun energisch daran, sie ins Leben überzuführen. Zu diesem Zweck ernannte er einen Exekutor. Dessen Vollmacht war indes keine exklusive. Das will besagen: Die Bestellung eines Exekutors der Provinzialstatuten in allgemeiner Weise und für beliebig viele Fälle schloß nicht aus, daß bei besonderer Gelegenheit einem Prälaten das Vorgehen gemäß den Statuten des Mainzer Konzils aufgetragen wurde99. Ja, grundsätzlich war jeder kirchliche Jurisdiktionsträger befugt, auf die Provinzialstatuten zurückzugreifen, um die Disziplin in seinem Kompetenzbereich aufrechtzuerhalten. Erzbischof Heinrich II. von Isny (1286 – 1288)100 trat in die Fußstapfen seines Vorgängers und behielt den Exekutor der Statuten des Mainzer Konzils bei bzw. bestellte ihn seinerseits von neuem. In einer ähnlichen Angelegenheit wie oben, wo nämlich kirchliches Vermögen und der Kirche gehörige Personen geschädigt worden waren, tauchte Dietrich im Jahre 1287 noch einmal mit seinem Titel auf101. Mühlhäuser Bürger102 hatten den Gütern und den Leuten der Kirche in Schonerstedt (Schönstedt)103 Schaden zugefügt. Nun war es zu einem Vergleich zwischen den Geschädigten, dem Propst des Mainzer Petersstiftes Gerhard von Eppenstein und dem Pfarrer von Schonerstedt, Albert von Eisenbach, gekommen. Die Urkunde wurde mit dem Siegel Gerhards versehen. Albert, der kein Siegel besaß, ließ sie in seinem Namen durch drei Kleriker siegeln, an deren Spitze der Pfarrer von Allerheiligen stand. Dieser war aber nicht in seiner Eigenschaft als Pleban zur Anhängung seines Siegels gebeten worden, sondern, wie es bedeutsam heißt, als executor 98 Böhmer/Will, Regesten II, S. 349 – 422; Karl Georg Bockenheimer, Werner, Erzbischof von Mainz (1259 – 1284): ADB XLII, 1897, S. 28 – 30. 99 Z. B.: Ernst Anemüller (Hrsg.), Urkundenbuch des Klosters Paulinzelle. 1068 – 1534 (= Thüringische Geschichtsquellen N. F. 4. Bd. Der ganzen Folge 7. Bd.), Jena 1905, S. 104 Nr. 94. 100 Böhmer/Will, Regesten II, S. 422 – 439; Will, Heinrich II., Erzbischof von Mainz: ADB XI, 1880, S. 539 f.; Peter Herde, Heinrich II. Knoderer: NDB VIII, 1969, S. 370 f. 101 Herquet, Urkundenbuch der Stadt Mühlhausen, S. 139 f. Nr. 336. 102 Patze, Thüringen, S. 286 – 295. 103 Patze, Thüringen, S. 436.
Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz
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statutorum concilii Maguntini per Thuringiam constitutus. Es ist bezeichnend, daß dieser Pleban, der den erwähnten Titel trägt, vor den mitsiegelnden hohen Klerikern, dem Propst des Erfurter Marienstiftes Lambert und dem Mainzer und Magdeburger Domkanoniker Hermann von Gleichen, genannt wird. Seine Position als Exekutor der Provinzialstatuten verlieh ihm anscheinend einen Vorrang. Dietrich gibt nunmehr in dem Titel, der seine rechtliche Stellung bezeichnet, den territorialen Bereich an, für den er bestellt ist: Thüringen, d. h. wohl jenen Teil der Erzdiözese Mainz, der durch die Archidiakonate Jechaburg, St. Marien/Erfurt und St. Severi/Erfurt sowie Dorla umschrieben ist. Hier wie an anderen Stellen ist dieselbe Beobachtung zu machen: Die Berufung auf die Statuten des Mainzer Provinzialkonzils erfolgte vor allem dann, wenn geistliche Gemeinschaften sich von Laien ungerecht bedrückt fühlten104. Die Provinzialstatuten hatten eben den Schutz von Klerus und Klöstern zu ihrem besonderen Anliegen gemacht. 4. Ausbau der Einrichtung unter den Erzbischöfen Gerhard II. von Eppstein (1289 – 1305) und Peter von Aspelt (1306 – 1320) Die Einrichtung des Exekutors der Statuten des Mainzer Konzils bewährte sich, und ihre Notwendigkeit unterlag keinem Zweifel. Neue Provinzialkonzilien, wie jene von Aschaffenburg (1292) und Mainz (1310), vervollständigten die partikulare Gesetzgebung und brachten sie in gewisser Hinsicht zum Abschluß. Es blieb die Aufgabe, ihre Bestimmungen in die Praxis zu überführen. Am 19. September 1292 wies Erzbischof Gerhard II. (1289 – 1305)105 den Dekan des Stifts zu Einbeck an, zwölf namentlich genannte Zisterzienserklöster, die in den Diözesen Mainz, Halberstadt, Hildesheim, Paderborn und Verden, also innerhalb der Mainzer Kirchenprovinz, gelegen waren, gegen Ungerechtigkeiten und Bedrückungen zu schützen, falls die ordentlichen Jurisdiktionsträger (ordinarius vel ordinarii) bei der Ausführung der Statuten des Mainzer Konzils, die gegen derartige Übeltäter gerichtet seien, versagten. Die Schuldigen seien gemäß diesen Statuten durch kirchliche Zensur zur Ordnung zu bringen106. In diesem Auftrag ist die Bestellung eines Exekutors der Provinzialstatuten zu erblicken. Gleichzeitig ergibt sich daraus, daß, wie oben bemerkt, die Vollstreckung derselben nicht dem Exekutor ausschließlich vorbehalten war, sondern zur normalen Kompetenz der mit hoheitlicher Hirtengewalt ausgestatteten Amtsträger gehörte. Sie hatten den Bestimmungen der Provinzialkonzilien zur Achtung zu verhelfen. In der Regel sollte erst ihr Ausfall den Exekutor auf den Plan rufen. 104 Z. B.: Eckhart G. Franz (Hrsg.), Kloster Haina. Regesten und Urkunden. I. Bd.: 1144 – 1300 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 9 = Klosterarchive. Regesten und Urkunden 5. Bd.), Marburg 1962, S. 369 Nr. 764 (1288). 105 Von der Ropp, Gerhard II., Erzbischof von Mainz (1288 – 1305): ADB VIII, 1878, S. 743 – 746. 106 Walkenrieder Urkundenbuch, 2 Bde., Hannover 1852/55, I, S. 346 f. Nr. 544.
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Prozeßrecht
Am 2. Oktober 1294107 beauftragte Erzbischof Gerhard den Abt des Schottenklosters in Erfurt, Abt und Konvent des dortigen Petersklosters gegen Räuber und Eindringlinge wirksam zu verteidigen. Wer sich an den Gütern des Klosters vergreife, den solle er mit seiner (sc. des Erzbischofs) Autorität gemäß den Statuten der Konzilien zu Mainz und Aschaffenburg (iuxta formam Moguntini et Aschaffenburgensis conciliorum statutorum) mit kirchlicher Zensur zur Ruhe bringen. Diese Kommission (committimus et mandamus) läßt deutlich erkennen, daß die Vollmacht des Exekutors von der Gewalt des Erzbischofs abgeleitet ist. Man ist berechtigt, ihn als Delegaten anzusprechen. Der Exekutor wird von dem Erzbischof auf die Vorschriften der Provinzialkonzilien von Mainz (1261) und Aschaffenburg (1292) verwiesen. Diese bilden die rechtliche Grundlage seines Vorgehens. Die Grenzen seines Auftrags sind in formeller und sachlicher Hinsicht angegeben. Der Abt darf sich nicht mit Dingen befassen, die ein prozessuales Verfahren erfordern (que cause cognitionem requirunt) und die Personen und Güter des Petersklosters nichts angehen (que personas et bona huiusmodi non contingunt). Das Überschreiten seiner Vollmacht hat Nichtigkeit des Vorgehens zur Folge (alioquin presentes litteras et processus, quos earum auctoritate habere contigerit, viribus carere decernimus et nullius fore momenti). Der Exekutor durfte demnach nur bei offenkundigen Vergehen einschreiten. Fälle, die einen Strafprozeß notwendig machten, lagen außerhalb seiner Zuständigkeit. Er sollte auf dem Verwaltungswege vorgehen und Verwaltungsstrafrechtspflege üben. Die Exekution der Provinzialstatuten hatte ihre besondere Stoßrichtung im Schutz der gottgeweihten Personen (quod … vacantes divino cultui in observantia mandatorum Domini liberius valeant delectari). Wie es scheint, wurde diesem Exekutor nicht allgemein die Verfolgung von Bedrückungen kirchlicher Institutionen aufgetragen, sondern lediglich der Schutz der einen, eben des Erfurter Petersklosters (que personas et bona huiusmodi non contingunt). Am 21. Januar 1300108 tritt Ekkehard, der Dekan des Marienstiftes in Erfurt, als executor statutorum concilii Maguntini per Thuringiam constitutus auf. Er schreibt dem Pleban in Buttelstedt109 (oder dessen Stellvertreter), Heinrich, der Scholaster des Marienstiftes, habe ihm im Namen des Stiftes vorgestellt, daß Waltmann, der Amtmann des Landgrafen von Thüringen in Buttelstedt, und Albert genannt Smeling, sein Schultheiß, die Leute der Erfurter Marienkirche in Rudestedt110 beraubt und so die Güter dieser Kirche geschädigt hätten. Ekkehard befiehlt dem Pleban unter Androhung der Exkommunikation, die Beschuldigten zu veranlassen, entweder bis zum 24. Februar über den Raub Genugtuung zu leisten oder am 25. Februar im Kreuzgang der Marienkirche zu Erfurt zu erscheinen, um dort gemäß dem 107
Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 401 f. Nr. 703; Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 586. 108 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 447 f. Nr. 789. Das Regest bei Overmann I, S. 497 Nr. 883 ist eine Dublette. 109 Patze, Thüringen, S. 65 f. 110 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 971.
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Mainzer Konzil behandelt zu werden (facturi et recepturi quomodo concilium statuit Maguntinum). Der Exekutor ist jetzt wieder allgemein bestellt, über die Ausführung der Statuten des Mainzer Konzils zu wachen. Seine Vollmacht erstreckt sich auf Thüringen, ist also territorial umschrieben und begrenzt. Dieses ausgedehnte Gebiet mit seinen vielen hundert Pfarreien, das weit ab von der Bischofsstadt Mainz lag, rief nach einer schlag- und tatkräftigen Exekutive. Der Exekutor weist eine Stätte aus, an welcher er seinem Dienst nachgeht; es ist der Kreuzgang der Marienkirche. Der Erfurter Mariendom, der von 1154 bis 1253 errichtet wurde, kann als die Hauptkirche Thüringens gelten, soweit es zur Mainzer Erzdiözese gehörte. Ihr Kreuzgang war ein markanter Punkt in der Topographie der Stadt. Der Gegenstand des Einschreitens des Exekutors ist wiederum die materielle Schädigung einer geistlichen Einrichtung. Die Übeltäter werden zur Wiedergutmachung aufgefordert. Dafür wird ihnen eine Frist von reichlich vier Wochen gesetzt. Falls sie dazu nicht bereit sind, wird ihnen befohlen, sich dem Exekutor zu stellen, um von ihm nach den Mainzer Provinzialstatuten behandelt zu werden. Das bedeutet, daß sie, selbstverständlich nach Vorbringen dessen, was für sie sprach, entweder für schuldlos erklärt oder nach Schuldspruch bestraft werden würden. Es ist wohl nicht anzunehmen, daß der Exekutor erforderlichenfalls einen Strafprozeß führen sollte, sondern es wird bei dem Verwaltungsstrafverfahren geblieben sein. Auch dieses konnte freilich der wesentlichen prozessualen Formen, die zur Wahrung der Gerechtigkeit unerläßlich sind, nicht entraten. Am 23. März 1313111 war Siegfried, der Scholaster des Severistifts in Erfurt, executor statutorum concilii Maguntini … per Thuringiam constitutus. Ein Bischof, vermutlich der Weihbischof Johannes OSEA, episcopus Lavacensis112, tritt an ihn heran mit der Bitte, ihm die Rekonziliation des durch Blutvergießen violierten Friedhofs in Langensalza113 zu gestatten, obwohl der Ort unter dem Interdikt liegt. Der Exekutor gewährt die Bitte. Hier zeigt sich eine neue Seite der Vollmacht des Vollstreckers der Provinzialstatuten. Er konnte Zensuren verhängen und aufheben und war berechtigt, Ausnahmen von dem Verbot gottesdienstlicher Handlungen, das mit dem Interdikt verbunden war, zu gewähren. Es ist weiter zu beachten, daß Siegfried einige Zeit später als iudex generalis per Thuringiam constitutus bezeugt ist114. Offensichtlich hat man rechtlich geschulte Männer zu Exekutoren der Provinzialstatuten gemacht. 111
Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 539 Nr. 963; Vogt, Regesten I, 1, S. 277 Nr. 1563. Die Originalurkunde (Staatsarchiv Dresden O. U. 1985) ist nach dem Zweiten Weltkrieg verlorengegangen. Lediglich ein zwischen 1825 und 1838 von Eduard Vehse verfaßtes Archivregest ist erhalten. 112 Friedrich August Koch, Die Erfurter Weihbischöfe. Ein Beitrag zur thüringischen Kirchengeschichte, in: Zeitschrift des Verein für thüringische Geschichte und Alterthumskunde 6, 1865, S. 31 – 126, hier 70 f.; Jacob Feldkamm, Geschichtliche Nachrichten über die Erfurter Weihbischöfe, in: Mittheilungen des Vereins für die Geschichte und Alterthumskunde von Erfurt 21, 1900, S. 1 – 93, hier 36 f. 113 Patze, Thüringen, S. 33 – 36. 114 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 590 f. Nr. 1063 (1318).
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Prozeßrecht
Am 16. Januar 1314115 wandten sich die Richter des Mainzer Stuhles an die Bischöfe und Suffragane der Diözese und Provinz Mainz, an die Äbte, Pröpste, Prioren und Prälaten und besonders an die Exekutoren der Statuten des Mainzer Konzils und teilten ihnen mit, daß der Bischof von Halberstadt, Albrecht116, gefangengenommen und beraubt worden sei. Die Exekutoren der Mainzer Provinzialstatuten seien, wie es sich gehörte, bereits mit Strafe gegen die Schuldigen eingeschritten. Doch sei noch größere Strenge am Platz. Deswegen hätten die Richter beschlossen, das Vorgehen der Exekutoren durch Verhängung der Strafen, die in die Statuten des Mainzer Provinzialkonzils von neuem aufgenommen worden seien, zu unterstützen, und sie befahlen daher den Empfängern des Schreibens, die Strafen zu verkünden und zu vollstrecken, denen die Übeltäter gemäß dem beigefügten Konzilsstatut (von 1310) verfallen seien, bis sie Genugtuung leisten. Den Vergehen, um die es sich hier handelte, hatte das Provinzialkonzil von 1310 gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Bestimmungen früherer Konzilien gegen solche, die kirchliche Güter und Personen, vor allem Bischöfe, berauben und verletzen oder gefangennehmen, waren von ihm erneuert worden117. Dazu war eine einschlägige Bestimmung aus dem Liber Sextus (VI 5, 9, 5) aufgenommen worden118. Aus diesem Dokument ergibt sich zweierlei. Einmal gingen die Mainzer Richter davon aus, daß in den Suffraganbistümern Exekutoren der Provinzialstatuten aufgestellt waren. Zum anderen hinderte die Einsetzung von Exekutoren die ordentlichen Richter nicht daran, ihrerseits, gestützt auf die Provinzialstatuten, gegen Missetäter vorzugehen. Die Provinzialstatuten waren keine Domäne der Exekutoren. Diese waren aufgestellt worden, weil man von ihnen rasches und tatkräftiges Zugreifen gegen Rechtsbrecher erwartete. Aber auch jeder, der hoheitliche Gewalt in Rechtsprechung oder Verwaltung besaß, konnte und sollte sich ihre Durchsetzung angelegen sein lassen. Am 3. Dezember 1315119 urkundete der Kantor Konrad, Offizial der Kirche in Heiligenstadt120, als von Erzbischof Peter eingesetzter Exekutor der Mainzer Provinzialstatuten im Gebiet der Propsteien Heiligenstadt und Nörten121 über den Verzicht auf den Ersatz des Schadens, der dem Pfarrer Gunzelin von Breitenbach durch Mühlhäuser Bürger zugefügt worden war. Wiederum ging es um die Schädigung einer Kirche durch Laien, die den Exekutor zum Einschreiten veranlaßt hatte. Der in diesem Dokument erwähnte Exekutor war von dem für Thüringen 115
Schmidt, Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt III, S. 103 – 105 Nr. 1918; Vogt, Regesten I, 1, S. 290 f. Nr. 1630. 116 Clajus, Kurze Geschichte des ehemaligen Bistums und spätern weltlichen Fürstentums Halberstadt, S. 54 – 56. 117 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 213 f. 118 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 218 f. 119 Herquet, Urkundenbuch der Stadt Mühlhausen, S. 320 Nr. 694. 120 Patze, Thüringen, S. 186 – 190. 121 Executor statutorum provincialium per Heylgenstadensem et Northunensem preposituras a reverendo patre domino Petro archiepiscopo Moguntino deputatus.
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bestellten verschieden. Das ihm als Amtsbereich zugewiesene Gebiet waren die beiden Archidiakonate Heiligenstadt und Nörten122. Diese nördlichen Gebiete der Erzdiözese Mainz waren anscheinend von Erfurt aus zu schwer zu übersehen und zu überwachen. Sie bedurften eines eigenen Kontrollorgans. Der Exekutor sollte in der Nähe weilen, um erforderlichenfalls alsbald gegen Rechtsbrüche einschreiten zu können. Als Exekutor hatte der Erzbischof einen rechtskundigen Mann, den Offizial des Heiligenstädter Propstes, gewählt. Ihm wurde damit neben seiner Stellvertretung des Archidiakons die Beauftragung des Erzbischofs übertragen. Ein Gegensatz zwischen dem ersten und dem zweiten Amt wurde offensichtlich nicht gesehen. Hier werden m. W. zum erstenmal die Statuten des Mainzer Konzils als Provinzialstatuten, d. h. als Statuten von Provinzialkonzilien bezeichnet. Am 5. Dezember 1319123 begegnet der Kantor des Stiftes von Heiligenstadt erneut als Exekutor der Provinzialstatuten. Der Erzbischof beauftragte ihn, dem Zisterzienserinnenkloster Heida (Heydau)124 gegen Übeltäter beizustehen. Immer wieder zeigt es sich, daß die Hauptbeschäftigung des Exekutors der Schutz von Klerus und Klöstern gegen Belästigung und Bedrückung war. Die beiden Stiftskirchen St. Maria und St. Severus in Erfurt lagen (und liegen) nebeneinander, gehörten aber verschiedenen Archidiakonatsbezirken zu und waren selbst Sitz je eines Archidiakons. Nun kam es vor, daß in einer derselben aufgrund der Mainzer Provinzialstatuten der Gottesdienst eingestellt oder das kirchliche Interdikt beobachtet werden mußte. Diese Verpflichtung warf die Frage auf, wie sich die andere Kirche zu verhalten hatte. Schloß sie sich der Einstellung des Gottesdienstes an, war sie dadurch in ihren Funktionen schwer behindert. Betrachtete sie sich dagegen als unbeteiligt, konnte sich das als Entnervung der kirchlichen Disziplin auswirken. Man suchte nach einer Lösung. Am 14. Oktober 1294125 ordnete Erzbischof Gerhard II. an, daß in dieser Hinsicht folgendes zu geschehen habe. Wenn in der Kirche St. Maria mit der Glocke das Interdikt oder die Einstellung des Gottesdienstes angekündigt werde, habe der Dekan des Stiftes St. Maria auf Ersuchen des Kapitels von St. Severus und der Prälaten der anderen Konventskirchen den Grund für das Interdikt oder die Einstellung des Gottesdienstes zu eröffnen. Das Kapitel von St. Severus solle, wenn es den Grund als vernünftig befinde, den Gottesdienst ebenfalls einstellen, sonst aber nach seinem gewissenhaften Urteil sich verhalten. Aus dieser Anordnung ist zu erkennen, daß die Stifte der automatischen Anbindung aneinander in bezug auf die Sistierung des Gottesdienstes widerstrebten. Dazu kam ein weiterer Punkt. In Erklärung der Statuten der Konzile zu
122 Kurt Brüning (+)/Heinrich Schmidt, Niedersachsen und Bremen (= Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 2. Bd.), 3., verb. und erweit. Aufl., Stuttgart 1969, S. 352 f. 123 Vogt, Regesten I, 1, S. 417 Nr. 2139. 124 Über Kloster Heydau (Heida, Haide, zur Heide) vgl. Blasius Huemer, Verzeichnis der deutschen Cisterzienserinnenklöster. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige N. F. Jg 6, Salzburg 1916, S. 1 – 47, hier 18. 125 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 404 f. Nr. 709.
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Mainz126 und Aschaffenburg127 setzte der Erzbischof fest (statuimus), daß, wenn der Mörder eines Klerikers unbekannt, flüchtig oder völlig unfähig zur Leistung von Genugtuung sei, das Stift, ungeachtet der erwähnten Statuten, den Gottesdienst unbehindert feiern dürfe. Die Angelegenheit, wie sich die beiden Stiftskirchen bei Einstellung des Gottesdienstes in einer derselben verhalten sollten, war mit der Regelung von 1294 offensichtlich noch nicht erledigt. Am 15. März 1316128 ordnete Erzbischof Peter an, daß, wenn in einer der beiden Stiftskirchen oder Propsteien aufgrund der Mainzer Provinzialstatuten der Gottesdienst eingestellt werde, diese Maßnahme sich keineswegs auf die andere ausdehne. Diese an sich korrekte Anordnung bewährte sich nicht. Es war mißlich, daß, wenn in einer der Kirchen der Gottesdienst eingestellt bzw. das Interdikt beobachtet wurde, in der nur wenige Schritte entfernten anderen Kirche gleichzeitig feierlicher Gottesdienst gehalten und die Einstellung des Gottesdienstes bzw. das Interdikt nicht beobachtet wurde. Wegen dieser mangelnden Übereinstimmung entstand Ärgernis im Volk. Um ihm zu begegnen, verpflichteten sich die Dekane und Kapitel von St. Maria und St. Severus, daß, sooft und wann immer aufgrund der Provinzialstatuten in einer der beiden Kirchen der Gottesdienst eingestellt oder das Interdikt beobachtet würde, dasselbe (per modum conpassionis mutue) in der anderen Kirche zu geschehen habe. Die Bestätigung dieser Vereinbarung erfolgte durch Erzbischof Peter am 11. Mai 1320129. Die zeitliche Abweichung der beiden Urkunden läßt zwei Erklärungen zu. Entweder hat der Erzbischof seine Zustimmung schon im vorhinein für eine derartige Abmachung gegeben. Darauf könnte der Wortlaut seiner Urkunde deuten, wo eine ordinacionem inter vos factam vel faciendam angesprochen wird. Oder das Datum der Urkunde der beiden Kapitel, deren Original nicht mehr vorliegt, ist unzutreffend.
5. Weiterbestand des Instituts in den Provisionswirren des 14. Jahrhunderts Die folgenden Erzbischöfe gingen wie selbstverständlich von Notwendigkeit und Nutzen der Exekutoren der Provinzialstatuten aus. Doch weist nicht jede Berufung auf die Provinzialstatuten einen Exekutor aus. Am 2. September 1322130 beauftragte der erwählte Erzbischof Mathias (1321 – 1328) den Dekan des Stiftes zu Heiligenstadt und den Kantor des Stiftes zu Fritzlar, das Zisterzienserkloster Walkenried131 gegen die Belästigungen seiner Feinde zu schützen und erlittene Unbill gemäß den Provinzialstatuten an den Tätern zu ahnden. Hier wurden also zwei Hüter des Rechts 126
Mainz 1261 § 8 (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins IV, 1853, S. 262). Aschaffenburg 1292 c. 13 (Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 12 f.). 128 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 571 Nr. 1025. 129 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, S. 614 f. Nr. 1114. 130 Vogt, Regesten I, S. 467 Nr. 2363; Walkenrieder Urkundenbuch II, S. 132 f. Nr. 806. 131 Brüning/Schmidt, Niedersachsen und Bremen, S. 470 – 472.
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bestellt (committimus et mandamus), und zwar solidarisch, so daß jeder für sich handeln und der eine in das Vorgehen des andern eintreten konnte (in solidum). Damit war eine größere Gewähr für das Wirksamwerden ihres Auftrags gegeben. Der Anlaß für ihre Beauftragung war wiederum Schädigung des Besitzes eines Klosters. Sie sollten ihm zur Gerechtigkeit verhelfen. Die beiden Dignitäre wurden nicht allgemein bestellt, um (in unbestimmt vielen Fällen) den Provinzialstatuten Achtung zu verschaffen, sondern sie sollten sich lediglich zum Schutz dieser einen geistlichen Gemeinschaft der Provinzialstatuten bedienen132. Sie handelten in der Autorität des Mainzer Erzbischofs; er hatte sie eingesetzt und mit Vollmacht ausgestattet (auctoritate nostra). Sie besaßen Banngewalt, d. h. sie durften kirchliche Zensuren verhängen und auf diese Weise ihren Entscheidungen Achtung verschaffen, und sie waren befugt, sich dieser Gewalt zu bedienen, um Zeugen, die benannt werden, aber sich aus irgendwelchen Motiven der Zeugnisleistung entziehen wollen, zur Aussage zu zwingen. Der Auftrag war auf drei Jahre befristet. Man wird in dieser Beauftragung kaum die Einsetzung von Exekutoren sehen dürfen, sondern eher die Bestellung von Konservatoren133. Nach dem Tode des Erzbischofs Mathias geriet das Erzbistum Mainz in den Strudel der Provisionswirren. Dem vom Mainzer Domkapitel postulierten Erzbischof Balduin von Trier134 stand der von Papst Johannes XXII. eingesetzte Heinrich von Virneburg (1328 – 1346)135 gegenüber. Die Bedeutung der Mainzer Provinzialstatuten und die Notwendigkeit ihrer Beachtung verkannte keiner von beiden. Darum rüttelten sie auch nicht an der Einrichtung der Exekutoren der Mainzer Provinzialstatuten136. Im Jahre 1337 gelangte der Mainzer Erzstuhl endlich in den ruhigen Besitz Heinrichs III. von Virneburg137. Alsbald zeigten sich von ihm eingesetzte Vollstrecker der Provinzialstatuten. Am 22. September 1339138 traten Nikolaus von Oppenheim und Konrad von Ülleben, Kanoniker des Erfurter Marien132 Die jetzt schon stereotyp gewordene Formel lautet: juxta formam statutorum provincialium contra captivatores, spoliatores ac invasores ecclesiarum ac ecclesiasticarum personarum editorum. 133 Für diesen Begriff vgl. vorläufig Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, S. 179 – 181; IV, S. 654. 134 Otto, Regesten I, 2, S. 3 – 193; Balduin von Luxemburg. Erzbischof von Trier – Kurfürst des Reiches. 1285 – 1354. Festschrift aus Anlaß des 700. Geburtstages, hrsg. unter Mitwirkung von Johannes Mötsch von Franz-Josef Heyen (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 53), Mainz 1985. 135 Otto, Regesten I, 2, S. 194 – 664; Heinrich Schrohe, Beiträge zur Geschichte des Erzbischofs Heinrichs III. von Mainz (= Beilage zum Jahresbericht des Großherzoglichen Gymnasiums zu Bensheim. Ostern 1902), Bensheim 1902. 136 Für Balduin vgl. Stengel, Nova Alamanniae, S. 153 f. Nr. 272. 137 Bereits am 26. Mai 1330 sprach Heinrich die gemäß den Vorschriften des Mainzer Provinzialkonzils der Strafe verfallenen Mainzer Bürger und Einwohner von den Strafen los und hob die Exkommunikation ad cautelam auf (HStA München Mainzer Urkunden Nr. 3740; Otto, Regesten I, 2, S. 233 Nr. 3900). 138 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, S. 56 Nr. 106.
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stiftes, als executores statutorum provincialium sacri concilii Moguntini a reverendo in Christo patre ac domino, domino Henrico, sancte Moguntine sedis archiepiscopo, per Thuringiam constituti auf. Diesmal war es nicht ein Exekutor, sondern es waren zwei Exekutoren, die zum Schutz der Provinzialstatuten aufgestellt waren. Wiederum war die Schädigung eines Klerikers der Anlaß für ihr Einschreiten. Aber der Schädiger war selbst ein Kleriker. Konrad von Arnstet, Vikar der Erfurter Marienkirche, beschwerte sich im Namen dieser Kirche und in seinem eigenen Namen, daß der Kleriker Günther von Wüllersleben sich unrechtmäßig in den Besitz einer dem Marienstift gehörigen, von Konrad kraft Erbrechtes besessenen Holzmark gesetzt habe. Die Exekutoren befahlen dem Pleban von Stadtilm139, den Günther wirksam zu ermahnen, daß er entweder innerhalb von acht Tagen sich von der Holzmark zurückziehe, sie der Kirche bzw. dem Konrad wiedererstatte, diese im unangefochtenen Besitz der Mark belasse und für die ihnen angetane Schimpf und Gewalttat genugtue oder wenigstens am nächsten Samstag vor dem Michaelstage vor ihnen im Kreuzgang der Marienkirche erscheine und den Beweis führe, weshalb er zu dem Vorstehenden nicht gehalten sei. Wenn er keines von beiden tue, werde gegen ihn als gegen einen Räuber der genannten Kirche vorgegangen werden secundum formam statutorum predictorum. Wie zu erkennen ist, besaßen die Exekutoren die Befugnis, den Seelsorgeklerus zur Amtshilfe bei ihrer Tätigkeit heranzuziehen. Aus der Urkunde läßt sich auch die Weise des Vorgehens erkennen, das die Exekutoren anwandten. Sie gingen grundsätzlich davon aus, daß die an sie gelangte Beschwerde berechtigt war. Aber sie schlugen nicht blindlings auf die Schädiger oder Belästiger kirchlicher Personen ein, sondern gaben ihnen Gelegenheit, die eventuelle Nichtberechtigung der gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen darzutun. Daraus ist zu erkennen, daß sie die Grundzüge des Strafverfahrens beobachteten. 6. Die Verbindung der Vollstreckung der Provinzialstatuten mit dem Richteramt Aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist die erste Kommission für einen Vollstrecker der Provinzialstatuten erhalten. Am 12. Januar 1357140 bestellte Erzbischof Gerlach den Johannes Ortonis, Provisor des Mainzer Allods in Erfurt, zum Vollstrecker der Bestimmungen des gemeinen Rechtes und der Provinzialstatuten für den Klerus der Propsteibezirke Heiligenstadt und Nörten. Die Kommission setzt ein mit der Begründung für die Aufstellung der Exekutoren; sie ist selbstverständlich formelhaft und allgemein gehalten. Es heißt da, der Klerus der Propsteibezirke Nörten und Heiligenstadt werde häufig durch Angriffe, gewaltsame Besitzergreifungen, Einfälle, Beraubungen und andere Beschwernisse, die von Klerikern und 139
Patze, Thüringen, S. 413 – 418. Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiaconate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen Jg. 1897, 1897, S. 112 – 277, hier 228 f. Vgl. Vigener, Regesten II, 1, S. 167 Nr. 715. 140
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Laien ausgehen, belästigt. Nun könne er wegen der räumlichen Entfernung und der Unsicherheit der Wege nicht, wenn es nötig sei, zu ihm, dem Erzbischof, ohne Schwierigkeiten Zuflucht nehmen, damit entsprechende Mittel gegen die erwähnten Bedrückungen angewendet würden und ihm Erleichterung verschafft werde. Deswegen würden Männer seines Vertrauens mit der Vollstreckung der Provinzialstatuten betraut. Wie man erkennt, hatte sich der Zweck der Bestellung von Exekutoren der Provinzialstatuten verengt; der Schutz des Klerus vor Bedrückungen war jetzt allein ins Auge gefaßt. Das antiklerikale Ressentiment wurde im späten Mittelalter offensichtlich stärker. Das Formular verrät durch seinen Wortlaut, daß es zur Bestellung einer Mehrzahl von Exekutoren verfaßt wurde. Es spricht nämlich davon, daß der Erzbischof vos ac quemlibet vestrum in solidum ernenne. Die Kommission zielte also ursprünglich und wohl regelmäßig auf die Beauftragung von wenigstens zwei Männern mit der Vollstreckung der Provinzialstatuten. Sie wurden solidarisch bestellt, d. h. ein jeder konnte allein, von sich aus vorgehen, ohne auf den anderen zu warten, der zuerst Handelnde schloß den anderen vom Handeln aus, und im Falle des Zurücktretens vom Handeln oder der Behinderung des einen trat der andere in die Sache ein. Die Bestellung von zwei Exekutoren hatte den Vorteil, daß der Zweck ihrer Beauftragung sicherer erreicht wurde. Was der eine zu tun außerstande war, konnte vom anderen getan werden, und wenn der eine ausfiel, vermochte der andere ihn zu ersetzen. Daß Johannes Ortonis der einzige Exekutor war, ist möglich. Dann wurde eben für die genannten Archidiakonatsbezirke von der Möglichkeit der Bestellung zweier Exekutoren kein Gebrauch gemacht. Das Gebiet war nicht so groß, daß das Amt hätte doppelt besetzt werden müssen. Es ist aber auch denkbar, daß bereits ein Exekutor vorhanden war, zu dem nunmehr, vielleicht nach Ausfall des zweiten, Johannes Ortonis trat. Es ist zu beachten, daß die Rechtsgrundlage, von welcher der Exekutor ausgehen sollte, hier zum erstenmal in doppelter Weise bezeichnet war, nämlich das gemeine Recht und die Provinzialstatuten. Die Beschränkung auf die Provinzialstatuten war nicht tunlich, weil sie lediglich die Aus- und Durchführungsgesetzgebung für das allgemeine Kirchenrecht waren (das sie allerdings in beträchtlichem Umfang aufnahmen). Wären sie allein genannt worden, hätte die Meinung entstehen können, die Exekutoren wären nur dann zum Eingreifen befugt, wenn das Partikularrecht tangiert war, nicht aber, wenn das diesem vorgeordnete Recht verletzt wurde. Eine derartige Beschränkung hätte den Zweck, der mit der Aufstellung von Exekutoren verfolgt wurde, womöglich vereitelt. Der Erzbischof ernannte den Johannes zum Vollstrecker des gemeinen Rechtes und der Provinzialstatuten für den Klerus der erwähnten Propsteibezirke, um diesem in wirksamer Weise zur Gerechtigkeit zu verhelfen. Er gab ihm den Auftrag, sich bei der Vollstreckung der Provinzialstatuten und bei der Verwirklichung der Gerechtigkeit zuverlässig zu erweisen und mit Sorgfalt vorzugehen, damit der Klerus in seiner Freiheit und seinen Gerechtsamen bewahrt werde. Seinen Be-
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schlüssen sollte er mit der Androhung kirchlicher Zensuren Achtung verschaffen. Zeugen, die benannt wurden und sich aus Gunst, Haß, Furcht oder Gefälligkeit dem Erscheinen entzogen, sollte er ebenfalls unter Zensur zum Zeugnislegen veranlassen. Der Vollstrecker der Provinzialstatuten war also nicht auf das Aussprechen von Mahnungen und Warnungen beschränkt, was ihn gegen dreiste Gesetzesbrecher wehrlos gemacht hätte. Ihm wurde vielmehr das scharfe Schwert der Banngewalt in die Hand gelegt. Derselbe Johannes Ortonis, der zum Vollstrecker der Provinzialstatuten in Nordthüringen ernannt wurde, war nun aber bereits Generalrichter für Thüringen141. Wir besitzen seine Kommission vom 12. Oktober 1355142. Damit war die Verbindung des Amtes eines Vollstreckers der Mainzer Provinzialstatuten mit dem eines Generalrichters in Thüringen vollzogen. Es erhebt sich die Frage, zu welchem Zweck diese doppelte Bestellung erfolgte. Um dies zu ergründen, ist es erforderlich, zu untersuchen, welches der Inhalt des Amtes war, das Johannes Ortonis in seiner Eigenschaft als Richter erhalten hatte. Der Erzbischof übertrug dem Empfänger seine ordentliche kirchliche Jurisdiktion. Er bestellte ihn nur für das Gebiet der kirchlichen Gewalt zum Richter. In seiner Eigenschaft als Landesherr besaß er ja auch die weltliche Hoheit und darin eingeschlossen die Rechtsprechungsgewalt. Doch über diese wurde anderweitig verfügt. Der Sektor der Gewalt, der Johannes Ortonis übertragen wurde, war die Gerichtsbarkeit, nicht die Gesetzgebung und nicht die Verwaltung. Iurisdictio wurde hier in engem Sinne für Rechtsprechungsbefugnis gebraucht, und zwar für die streitige Gerichtsbarkeit. Er machte ihn aber nicht zum Delegaten, sondern zu einem mit einem Amt betrauten ordentlichen Hoheitsträger. Die dem Johannes Ortonis übertragene Gewalt war territorial begrenzt. Sie erstreckte sich über das Gebiet der vier Archidiakonatsbezirke St. Maria, St. Severus, Jechaburg143 und Dorla144, also über Thüringen in dem Sprachgebrauch, der in der Mainzer Kanzlei üblich war. Die Beauftragung erfolgte für eine Person, eben den Johannes Ortonis. Aber das Formular der Kommission war für etliche Beauftragte ausgelegt. Wenn mehrere bestellt wurden, dann geschah dies in solidum, solidarisch in dem oben beschriebenen Sinne. Johannes Ortonis erhielt volle und freie Gewalt über streitige Gerichtssachen; seine Gewalt war also weder eingeschränkt, sei es durch den Gegenstand, sei es durch den Streitwert, noch bedingt, etwa durch eine erforderliche Zuweisung. Er erhielt gleichzeitig das Spezialmandat145, d. h. ihm wurde Jurisdik141 Dafür vgl. Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (= Erfurter Theologische Studien Bd. 2), Leipzig 1956. 142 StA Würzburg MIB 3 fol. 324v ; 4 fol. 291v ; Würdtwein, Dioecesis Moguntina IV, S. 248 Nr. 33; Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, S. 194 Nr. 406. 143 Patze, Thüringen, S. 214 f. 144 Patze, Thüringen, S. 315 – 317. 145 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, S. 214, 219; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, S. 471.
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tion auch für jene Fälle übertragen, die etwa aus dem Rahmen der allgemeinen Vollmacht fielen und deswegen einer besonderen Ermächtigung bedurften. Seine Gewalt erstreckte sich in gegenständlicher Hinsicht auf geistliche, kirchliche, Geldund weltliche Angelegenheiten, aber eben nur auf Streitsachen, nicht auf Strafsachen. Die Gewalt erfaßte in persönlicher Hinsicht Prälaten, d. h. Bischöfe, Äbte, Pröpste, Dekane, Scholaster und Kantoren der Kapitel, dann Kapitel, Kollegien, Konvente und Personengesamtheiten sowie Einzelpersonen, sowohl Kleriker als auch Laien, gleich welchen Weihegrades, welcher Gelübde, welcher Würde, welcher Stellung und welchen Standes sie waren. Es sollte also in dieser Rechtsprechung keine Exemtion und kein Ansehen der Person geben. Der Richter sollte die genannten Rechtssachen vor sein Forum ziehen, die Parteien verhören, die Beweisaufnahme vornehmen und nach ordnungsgemäßem Verfahren das Urteil fällen. Er war also nicht bloß Vernehmungsrichter (Auditor), sondern erkennender Richter (Cognitor). Personen, die sich den Entscheidungen des Gerichtes nicht fügen wollten, sollte er durch kirchliche Zensuren niederzwingen. Er durfte mithin Exkommunikationen, Suspensionen und Interdikte verhängen, um Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen. Zeugen, die benannt wurden, durfte er notfalls durch Zensuren anhalten, Zeugnis zu legen. Das wichtigste Beweismittel waren ja Zeugenaussagen. Überdies wurde Johannes Ortonis ermächtigt, alles zu tun, auszuüben und durchzuführen, ohne das die ordentliche Gerichtsgewalt nicht ausgeübt werden konnte, auch wenn dazu ein Spezialmandat erforderlich sein sollte. Falls die geistlichen Waffen nicht ausreichten, um sein Rechtsprechungsamt auszuführen, sollte er den weltlichen Arm zu Hilfe rufen. Allen geistlichen und weltlichen Personen des umgrenzten Gebietes wurde befohlen, sich an den Johannes Ortonis als den ordentlichen Richter des Erzbischofs zu wenden und ihm als solchem zu gehorchen. Aus dieser Bestallung ergibt sich, daß Johannes Ortonis geistlicher Richter für die streitige Gerichtsbarkeit war. Die Strafgewalt wurde ihm (zunächst) nicht übertragen; Vergehen, die mit der Ausübung der streitigen Gerichtsbarkeit nichts zu tun hatten, durfte er nicht aufgreifen und ahnden. Darin lag ein schwacher Punkt seiner Position auf dem Thüringer Außenposten. Da mag ihm die Ernennung zum Exekutor der Mainzer Provinzialstatuten willkommen gewesen sein. Sie setzte ihn in den Stand, in gewissem Umfang in der Verfolgung von Delikten tätig zu werden, vor allem dort, wo angesichts notorischer Verfehlungen rasches Durchgreifen erforderlich war. Aber es bleibt doch zu beachten, daß die Exekutoren grundsätzlich als Träger der Verwaltungsstrafrechtspflege, nicht als Inhaber der Strafgerichtsbarkeit anzusehen sind. Doch wurde auch diese Lücke bald geschlossen. Am 29. März 1358146 erhielt Johannes Ortonis allgemein Strafgewalt über Kleriker und Laien. Diese Kommission scheint ihrem Empfänger volle Strafgewalt, und das heißt auch Strafgerichtsbarkeit übertragen zu haben, so daß er also auch in den Formen des Strafprozesses gegen Rechtsbrecher einschreiten konnte. 146 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, S. 230 Nr. 480 mit II, S. 192 Nr. 402.
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In der Folgezeit blieb es bei der Verbindung des Amtes der Thüringer Generalrichter mit jenem des Exekutors der Provinzialstatuten; die beiden Kommissionen wuchsen zusammen. Als am 5. Februar 1391147 die Bestallung für zwei Erfurter Generalrichter ausgefertigt wurde, wurden sie als die ordentlichen Richter des Erzbischofs und Vollstrecker der Provinzialstatuten der Mainzer Kirche bezeichnet. Die Beauftragung als Exekutoren war in jene der geistlichen Richter eingearbeitet; sie wurde ihnen nicht mehr gesondert erteilt. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Richter auch – nunmehr eindeutig – mit der Strafgerichtsbarkeit betraut (causas criminales). Diese Beauftragung wurde ebenfalls in ein und derselben Kommission erteilt. Die Kommission für die Erfurter Generalrichter vom 16. Januar 1453 erwähnte wiederum deren Vollmacht, gegen Bedränger der Kirche gemäß den Provinzial- und Synodalstatuten vorzugehen148. Ebenso verfuhren die Beauftragungen vom 28. November 1533149 und vom 10. Dezember 1560150. Die Benennung der mit der Strafverfolgung betrauten Beauftragten des Erzbischofs als Exekutoren bürgerte sich ein. So bezeichneten sich die Erfurter Generalrichter manchmal in abgekürzter Sprechweise als die mainzischen executores151. Als sie am 24. Februar 1485 den Rat der Stadt Jena152 vor das geistliche Gericht forderten, nannten sie sich im Eingang der Urkunde Executores statutorum provincialium sacri Maguntini concilii clericorumque et laycorum delinquencium correctores per Thuringiam, Saxoniam, Hassiam et Eychsfeldiam a reverendissimo in Cristo patre et domino nostro domino Bertoldo sancte Maguntine sedis electo et confirmato specialiter constituti153. Welche Bedeutung und welchen Bekanntheitsgrad dieser Titel und die darin enthaltene Vollmacht erlangt hatten, erkennt man daraus, daß die Bestellung der Erfurter Generalrichter häufig unter dieser Benennung erfolgte154. In dem übrigen Gebiet der Erzdiözese Mainz verhielt sich der Erzbischof nicht anders als in Thüringen. Am 10. Oktober 1368155 bestellte Erzbischof Gerlach den Dekan Heinrich und den Kanoniker Hertwig von Saulheim vom Mainzer Domstift zu seinen ordentlichen geistlichen Richtern. Er zählte im einzelnen die Befugnisse 147 StA Würzburg MIB 12 fol. 46r; Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, S. 447 Nr. 912. 148 Krusch, Studie, S. 213 – 215. 149 Krusch, Studie, S. 215 – 217. 150 StA Würzburg MIB 71 fol. 54r–54v. 151 Z. B.: 12. Dezember 1515. Vgl. Albert Huyskens (Bearb.), Die Klöster der Landschaft an der Werra. Regesten und Urkunden (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck IX = Klosterarchive 1. Bd.), Marburg 1916, S. 95 Nr. 242. 152 Patze, Thüringen, S. 215 – 225. 153 Ernst Devrient (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Jena und ihrer geistlichen Anstalten. 2. Bd. 1406 – 1525 (= Thüringische Geschichtsquellen N. F. 3. Bd. Der ganzen Folge 6. Bd. 2. T.), Jena 1903, S. 306 Nr. 744. 154 Z. B.: StA Würzburg MIB 25 fol. 194r (1446); 38 fol. 3v (1475); 47 fol. 12v (1497). 155 StA Würzburg MIB 5 fol. 596v; Krusch, Studie, S. 209 – 211; Vigener, Regesten II, 1, S. 559 f. Nr. 2474.
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und die Schranken ihres Amtes auf. Sie waren Träger der streitigen Gerichtsbarkeit über Geistliche und Laien. Von der Beauftragung mit der Vollstreckung der Provinzialstatuten war in der ursprünglichen Fassung der Kommission nichts gesagt. Doch muß diese Unterlassung bald als Mangel empfunden worden sein. Denn man hat entweder bei der Bestellung der beiden genannten Personen oder wenig später den Bezug auf die Provinzialstatuten aufgenommen. Sprach der Text anfänglich nicht von ihnen, so erwähnte sie der ergänzte Wortlaut an vier Stellen. Immer, wo von der iurisdictio ordinaria des Erzbischofs die Rede war, wurde jetzt auch die Vollstreckung der Provinzialstatuten hinzugefügt. Die beiden Geistlichen sollten nicht nur iudices ordinarii des Erzbischofs, sondern auch statutorum executores sein. Als Vollstrecker der Provinzialstatuten ist Hertwig von Saulheim aufgetreten und hat er seines Amtes gewaltet. Als Johann Frese, Scholaster St. Crucis in Hildesheim156, gefangengenommen wurde, verhängte er, wie es für ein solches Vergehen in den Provinzialstatuten vorgesehen war, das Interdikt über die Stadt Hildesheim157. Doch damit überschritt er seine Kompetenz. Der Bischof von Hildesheim, Gerhard (1365 – 1398)158, trat ihm entgegen, und zwar bezeichnenderweise in seiner Eigenschaft als Executor statutorum provincialium per nostram civitatem et dyocesim in ipsis statutis provincialibus deputatus. Er hob das Interdikt auf und begründete die Aufhebung damit, daß der Scholaster nicht innerhalb des Archidiakonats159 der Stadt Hildesheim gefangengenommen und -gehalten worden sei und die bei der Gefangennahme gegenwärtigen ehemaligen Hildesheimer Bürger aus der Stadt und der Diözese Hildesheim vertrieben seien160. Hier stand also der eine Exekutor gegen den anderen; die höhere Würde sicherte dem Bischof den Vorrang. Spätere Kommissionen für die Richter des Mainzer Stuhles enthalten stereotyp Auftrag und Vollmacht zur Vollstreckung der Provinzialstatuten. Als Erzbischof Dietrich Schenk von Erbach (1434 – 1459) am 1. Dezember 1434161 zwei Mainzer Richter ernannte, gab er ihnen plenam et omnimodam potestatem et jurisdictionem nostram ordinariam exercendi cum omni execucione tam synodalium quam provincialium statutorum per Archiepiscopos predecessores nostros pro tempore editorum. Mit diesen Worten übertrug er ihnen die streitige Gerichtsbarkeit und die Strafgewalt. So blieb es in der Kommission für den Richter des Mainzer Stuhles, der 156 Über das Stift Heilig Kreuz vgl. Johannes Heinrich Gebauer, Geschichte der Stadt Hildesheim, 2 Bde., Hildesheim/Leipzig 1922/24, I, S. 38 f. 157 Vigener, Regesten II, 2, S. 40 Nr. 3004. 158 Gebauer, Geschichte der Stadt Hildesheim I, S. 98 – 101. 159 Zu diesem Erfordernis ist zu vergleichen die einschlägige Bestimmung der Provinzialstatuten von 1310 (Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae IV, S. 211). 160 Hermann Sudendorf (Hrsg.), Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande, 5. Thl., Hannover 1865, S. 33 – 35 Nr. 28 (24. Juli 1374). 161 StA Würzburg MIB 28 A fol. 218r und v.
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am 2. Mai 1478 ernannt wurde162, und für jenen, der am 6. November 1506 berufen wurde163. Ebenso erhielt der Mainzer Protonotar und Generalrichter die Vollmacht, die Provinzial- und Synodalstatuten auszuführen sowie die darin enthaltenen Strafen zu erklären oder zu verhängen164. 7. Der Übergang auf den Generalvikar und die Kommissare Die Vollstreckung der Mainzer Provinzialstatuten blieb nicht eine Angelegenheit der richterlichen Amtspersonen; sie wurde auch den mit der Verwaltung betrauten Klerikern aufgetragen. Als Erzbischof Johann II. (1397 – 1419) am sechsten Tage nach dem Sonntag Exaudi (14. Mai) des Jahres 1407 den Konrad Unruhe zu seinem Generalvikar ernannte, gab er ihm auch Auftrag und Vollmacht, die Provinzial- und Synodalstatuten zur Ausführung zu bringen165. Daß dem an erster Stelle für die Aufrechterhaltung der Disziplin im Bistum verantwortlichen Geistlichen die Vollstreckung der zu diesem Zweck erlassenen Bestimmungen übertragen wurde, war naheliegend. Dabei blieb es in der Folgezeit166. Die Vollstreckung der Provinzial- und Synodalstatuten gehörte fortan zum Geschäftskreis des bischöflichen Stellvertreters für die Verwaltung. Als Erzbischof Albert (1514 – 1545) am 30. August 1538 einen Generalvikar ernannte, gab er ihm ebenfalls die Vollmacht, die Provinzial- und Synodalstatuten auszuführen und kraft ihrer vorzugehen167. Was dem Generalvikar gewährt wurde, das konnte den Kommissaren auf den Außenposten der Erzdiözese nicht vorenthalten werden. Denn ihren Aufgaben entsprachen weithin, wenn auch mit inhaltlicher und räumlicher Beschränkung, jene des Generalvikars. Am 9. Oktober 1412 war der Kommissar Hermann Wolther in Göttingen168 gleichzeitig corrector clericorum et laycorum delinquentium für das Gebiet der Propsteien Nörten und Einbeck169 und executor sacrorum statutorum provincialium170. Als Erzbischof Dietrich (1434 – 1459) am 24. Juli 1449 eine Kommission der Propsteien Heiligenstadt, Nörten und Einbeck ausfertigte, da gab er ihr auch Straf- und Disziplinargewalt, um gemäß den Provinzial- und Synodalstatuten vorzugehen171. Daran änderte sich in der Folgezeit nichts172. Als am 15. Dezember 162
Krusch, Studie, S. 211 f. StA Würzburg MIB 49 fol. 98r–v. 164 StA Würzburg MIB 49 fol. 104v–105r (12. Juni 1508). 165 StA Würzburg MIB 14 fol. 221v–222r. 166 Z. B.: StA Würzburg MIB 16 fol. 257r–257v ; MIB 38 fol. 91r–91v. 167 StA Würzburg MIB 56 fol. 216v–217v ; Krusch, Studie, S. 222 – 224. 168 Brüning/Schmidt, Niedersachsen und Bremen, S. 178 – 181. 169 Brüning/Schmidt, Niedersachsen und Bremen, S. 128 – 130. 170 Georg Max, Geschichte des Fürstenthums Grubenhagen, 2 Tle., Hannover 1862/63, 2. Teil, Urkundenbuch, S. 48 f. Nr. 87. 171 StA Würzburg MIB 26 fol. 8v ; Krusch, Studie, S. 230. 163
Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz
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1490 der neue Kommissar in Göttingen bestellt wurde, da war unter seinen Titeln auch der des Exekutors der Provinzialstatuten173. Es wurde ihm befohlen, die Provinzial und Synodalstatuten und die darin enthaltenen Zensuren und Strafen zur Ausführung zu bringen. Diese Form der Beauftragung blieb erhalten. Der Repräsentant des Mainzer Erzbischofs in Göttingen erhielt noch in der Bestallung vom 29. September 1533 die Titel judex, commissarius und executor statutorum provincialium174. Die Kommission für den Kommissar von Heiligenstadt, Nörten und Einbeck enthielt ebenfalls Pflicht und Recht, die Provinzialstatuten auszuführen175. In der Ernennungsurkunde für den Erfurter Generalkommissar findet sich hingegen kein Hinweis auf die Aufgabe, die Provinzialstatuten zu vollstrecken. Dieses Fehlen mag darin seinen Grund haben, daß die Erfurter Generalrichter zu Exekutoren derselben bestellt waren176.
Schluß Die Provinzialkonzilien hatten im Leben der mittelalterlichen Kirche eine beträchtliche Bedeutung. Sie führten die Ordnung der allgemeinen Kirche in die Praxis der einzelnen Kirchenprovinzen über und suchten deren Leben zu ihrem Teil zu gestalten. Aus ihnen erflossen die Provinzialstatuten. Diese präzisierten die disziplinären Gebote und die Tatbestände des Strafrechts der universalen Kirche und formulierten sie im Hinblick auf die Erfordernisse von Zeit und Ort. Für ihre Exekution setzten die Mainzer Erzbischöfe ebenso wie ihre Suffraganbischöfe regelmäßig Exekutoren ein, die gewöhnlich Dignitäre oder wenigstens Kanoniker von Kollegiatstiften und stets rechtlich qualifizierte Personen waren. Ihre Aufgabe, die Provinzialstatuen zu exekutieren, besagte mehreres. Einmal sollte der diesen entsprechende und von ihnen geforderte Rechtszustand hergestellt werden. Die tatsächlichen Verhältnisse waren also dem Rechtsgebot anzupassen. Der Vollstrecker der Provinzialstatuten war beauftragt, die in Frage kommenden Personen dazu anzuhalten. Dies hatte erforderlichenfalls unter Androhung bzw. Verhängung von Strafen zu geschehen. Sodann waren schuldhafte Übertretungen der Provinzialstatuten aufzuspüren und ihre Urheber in Strafe zu nehmen bzw. zur Wiedergutmachung anzuhalten. Personen, die unter (berechtigter) Berufung auf die Provinzialstatuten an deren Vollstrecker herantraten, damit ihnen zu ihrem Recht verholfen werde, war amtliche Hilfe zu leisten. Die Aufgabe der Exekutoren war also der Dienst am Recht zum Wohl der Kirche, zum Frieden unter den Gläubigen und zur Ordnung im Klerus. Der Schutz geistlicher Personen und Einrichtungen trat dabei immer mehr in den Vordergrund. Ihre Hauptaufgabe war ohne Zweifel die Ver172
Z. B.: StA Würzburg MIB 39D fol. 120v–121r ; MIB 40 fol. 373r–373v. StA Würzburg MIB 46 fol. 162v. 174 StA Würzburg MIB 56 fol. 37v–38r ; Krusch, Studie, S. 234 f. 175 StA Würzburg MIB 56 fol. 36v–37v ; Krusch, Studie, S. 230 – 232. 176 Vgl. z. B. die Urkunde von 1485 bei Devrient, Urkundenbuch der Stadt Jena II, S. 306 Nr. 744. 173
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waltungsstrafrechtspflege. Wo es der Sachzusammenhang gebot, konnten sie auch in der freiwilligen Gerichtsbarkeit tätig werden. Insofern sie geistliche Körperschaften und Einrichtungen zu schützen hatten, berührte sich ihre Tätigkeit mit jener der Konservatoren. Sie besaßen die Gewalt, Zensuren zu verhängen und von ihnen loszusprechen sowie ihre Aussetzung zu gewähren. Am Anfang wurde die Exekution der Provinzialstatuten ausgewählten Klerikern in einer eigenen Kommission übertragen. Doch bald ging man dazu über, sie mit anderen Bestallungen zu verbinden. So wurde die Vollstreckung der Provinzialstatuten eine Teilaufgabe der erzbischöflichen Richter, des Generalvikars und der Kommissare. Auf diese Weise suchte der Erzbischof die Effektivität der Provinzialgesetzgebung zu sichern.
Konservatoren, Konservatoren der Universitäten und Konservatoren der Universität Erfurt im hohen und späten Mittelalter Einleitung 1. Kapitel: Konservatoren I. Die Anfänge Wenn andere Autoritäten versagen, ist es Sache des Papstes, Angehörige der Kirche und speziell geistliche Personen überall auf der Erde gegen Übergriffe zu schützen; denn er ist der Universalbischof der Kirche mit umfassender Verantwortung1. Die Notwendigkeit seines Eingreifens wurde im Mittelalter häufig verspürt. Die ordentlichen kirchlichen Richter2 waren unter bestimmten Umständen nicht in der Lage oder nicht gewillt, schnell und wirksam dem Unrecht zu wehren. Nicht selten bestand Unsicherheit oder brach Streit aus über ihre Zuständigkeit. Manchmal war der Gerichtssitz weit entfernt von dem Ort des Geschehens. Die den Richtern zur Verfügung stehenden Zwangsmittel3 reichten nicht immer aus. Das ordentliche Gerichtsverfahren4 war unvermeidlich langsam und von erheblicher Dauer. So richteten sich die Augen vieler Bedrängter zum Apostolischen Stuhl. Dies galt zumal für jene, denen er seinen Schutz zugesagt hatte5. Ihnen zu Hilfe zu 1 Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869 – 1897, I, 195 – 206; Stephan Kuttner, Universal Pope or Servant of God’s Servants: The canonists, papal titles, and Innocent III: Revue de droit canonique 31, 1981, 109 – 149; Ian Stuart Robinson, The Papacy 1073 – 1198, Continuity and innovation, Cambridge 1990, 179 – 208. 2 Johann Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, II, 318 – 324. 3 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 355 – 374. 4 Ibid. 324 – 336. 5 A. von Halban-Blumenstok, Der päpstliche Schutz im Mittelalter, Innsbruck 1890; Paul Fabre, Étude sur le ,,Liber censuum“ de l’Église romaine (= Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome fasc. 62), Paris 1892; G. Daux, La protection apostolique au Moyen Age: Revue des questions historiques 72, 1902, 5 – 60; Georg Schreiber, Kurie und Kloster im 12. Jahrhundert, 2 Bde. (= Kirchenrechtliche Abhandlungen Heft 65/66), Stuttgart 1910; A. Dumas, Protection apostolique: DDC VII, 1965, 381 – 388; Johannes Fried, Der päpstliche Schutz für Laienfürsten. Die Politische Geschichte des päpstlichen Schutzprivilegs für Laien (11.–13. Jh.) (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch historische Klasse Jg. 1980 1. Abhandlung), Heidelberg 1980.
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kommen, war seine ernste Verbindlichkeit. Dafür gab es verschiedene Möglichkeiten. Der Heilige Stuhl konnte seinen Schutz wirksam machen durch die Entsendung von Legaten6 oder durch die Bestellung delegierter Richter7. In das Feld des päpstlichen Schutzes gehören aber auch die Konservatoren8. Ihre Ernennung war eines der Mittel, ihn zu gewähren. Die päpstlichen Konservatoren traten zuerst im 12. Jahrhundert auf, und zwar im Zusammenhang mit den Kreuzzügen9. Es entstand die Einrichtung des conservator crucesignatorum, der das Vermögen der Kreuzfahrer zu schützen hatte10. Was den Kämpfern gegen den Islam zugebilligt wurde, das gewährte der Apostolische Stuhl bald auch anderen Schutzbedürftigen. Die Einrichtung der Konservatoren breitete sich aus. In den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts nahm sie einen bemer6 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, 511 – 516; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 426 – 431; F. Claeys-Bouuaert, Légat du pape: DDC VI, 1957, 371 – 377; Erwin Gatz, Gesandtschaftswesen, Päpstliches: TRE XII, 1984, 540 – 547. 7 R. Naz, Juge délégué: DDC VI, 1957, 216 – 218; George G. Pavloff, Papal Judge Delegates at the Time of the Corpus Iuris Canonici (= The Catholic University of America, Canon Law Studies No. 426), Washington, D. C. 1963; Jane E. Sayers, The procedure of the courts of the judges delegate, in: dieselbe, Law and Records in Medieval England, Studies on the Medieval Papacy,Monasteries and Records (= CS 278), London 1988, 42 – 99. 8 Ernst Rößer, Die gesetzliche Delegation (delegatio a iure), Rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung (= Görres-Gesellschaft, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft 76. Heft), Paderborn 1937, 127 – 129; F. Lucii Ferraris, Prompta Bibliotheca Canonica, Juridica, Moralis, Theologica necnon Ascetica, Polemica, Rubricistica, Historica, Editio novissima, II, Paris 1852, 1261 – 1288; Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, 179 – 181; Henri Hénaff, Les conservateurs apostoliques dans le droit classique de l’Église, Origine et caractères de l’institution: Revue de droit canonique 24, 1974, 223 – 255; derselbe, La concession des conservateurs apostoliques au temps d’Innocent IV (1243 – 1254): Ephemerides Iuris Canonici 31, 1975, 116 – 131; derselbe, Les conservateurs apostoliques dans la doctrine canonique de la seconde moitié du XIIIe siècle: Revue de droit canonique 27, 1977, 243 – 272; derselbe, Les conservateurs apostoliques et les décrétales d’Alexandre IV (1254 – 1261): Revue de droit canonique 35, 1985, 193 – 221; derselbe, Les conservateurs apostoliques dans l’oeuvre de Guillaume Durand (1230?–1296): Revue de droit canonique 36, 1986, 3 – 26; derselbe, Les c. a. et les papes … (1261 – 1294): RDC 43, 1993, 1 – 42. 9 Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (= Forschungen zur Kirchenund Geistesgeschichte VI. Bd.), Darmstadt 1955; Adolf Waas, Geschichte der Kreuzzüge, 2 Bde., Freiburg 1956; Helmut Beumann (Hrsg.), Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der deutschen Ostpolitik des Mittelalters (= Wege der Forschung Bd. VII), Darmstadt 1963; Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart 1965; Idee und Wirklichkeit der Kreuzzüge, Eingeleitet und zusammengestellt von Hans Eberhard Mayer (= Historische Texte Mittelalter 2), Germering 1965; Steven Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, München 1968; Helmut Roscher, Papst Innocenz III. und die Kreuzzüge (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Bd. 21), Göttingen 1969; Rainer Christoph Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz, Studien zu Wilhelm von Tyrus (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters Bd. 15), Stuttgart 1977; Ernst-Dieter Hehl, Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert, Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters Bd. 19), Stuttgart 1980. 10 Robinson, The Papacy 305, 338 f.
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kenswerten Aufschwung. Was bis dahin durch Schutzprivilegien erreicht werden sollte, das wurde jetzt durch die Konservatoren zu gewähren versucht11. Ihr rechtliches Wesen blieb zunächst unbestimmt. Doch im Laufe des 13. Jahrhunderts klärte es sich. Die Pontifikate Innozenz’ III., Honorius’ III. und Gregors IX. bauten an dem Institut. Unter Innozenz III. setzten die Schreiben ein, in denen bestimmte oder unbestimmte Glieder der kirchlichen Hierarchie beauftragt wurden, angegebene Personen oder Einrichtungen gegen Unrecht zu schützen12. Unter Honorius III. entwickelte sich die Einrichtung. Es bildeten sich stereotype Formeln für die Ernennung der Konservatoren aus. Zu den schon unter Innozenz III. mit dem Incipit ,,Non absque dolore“ ausgestatteten Briefen traten andere mit dem Incipit ,,Nimis iniqua“13. Gegen Ende seines Pontifikates begann der Terminus conservator häufiger zu werden14. Unter Gregor IX.15 wurde der Ausdruck zur technischen Bezeichnung eines Klerikers, der vom Papst mit dem Schutz der Güter und Privilegien bestimmter Personen beauftragt und dazu mit gewissen Vollmachten ausgestattet wurde. Vor allem die Bettelorden wurden ein immer häufigerer Gegenstand von Konservatorialbriefen. Zum Schutz ihrer vom Heiligen Stuhl gewährten Rechte gegen bestimmte Prälaten und deren Untergebene bestellte derselbe Heilige Stuhl Konservatoren16. Am 7. September 1238 war bereits von Subdelegaten der Konservatoren die Rede17. Frühzeitig erhoben sich aber auch Klagen über Amtsmißbrauch von Konservatoren, die ihre Vollmacht über die gezogene Grenze hinaus ausdehnten18. II. Der Ausbau der Einrichtung In den Liber Extra fand der Ausdruck conservator keine Aufnahme, aber die Sache war dieser Sammlung nicht fremd19. Konservatoren und delegierte Richter waren zwei verschiedene Figuren, und sie wurden in manchen pästlichen Schreiben sorgfältig auseinandergehalten20. Doch in anderen fehlte die saubere Unterscheidung, was leicht zu Konflikten führen konnte. Ein Konservator war nur ausnahmsweise ein Richter (cognitor). Schreiben wie die vom 10. Juli 123521 und vom
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Fried, Der päpstliche Schutz für Laienfürsten 317, 318. Hénaff, Les conservateurs apostoliques dans le droit classique 225 – 227. 13 Ibid. 229 f. 14 Ibid. 231. 15 Lucien Auvray, Les registres de Grégoire IX, 4 Bde., Paris 1890 – 1955. 16 Z.B.: X 5, 31, 16. 17 Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. II, 1132 – 1134 Nr. 4524. 18 Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. II, 368 – 369 Nr. 3116 (1236). 19 Z.B.: X 5, 33, 13. Vgl. Hénaff, Les conservateurs apostoliques dans le droit classique 236. 20 Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. II, 358 – 360 Nr. 3103 (12. April 1236); II, 368 – 369 Nr. 3116 (22. April 1236). 21 Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. II, 113 – 116 Nr. 2679. 12
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7. September 123822 legten nahe, daß die Konservatoren nur bei offenkundigen Straftaten einschreiten sollten und durften; das Vorgehen auf dem Wege des gerichtlichen Prozesses war ihnen versagt. Darin aber bestand das Wesen des cognitor, daß er den normalen Streit- oder Strafprozeß zu führen berechtigt (und verpflichtet) war. Eine Dekretale wie jene Innozenz’ III. ,,Tua“ unterstützte die eben erwähnte Beschränkung23. Damit war eine an sich klare Abgrenzung von den ordentlichen Richtern vollzogen. Deren Wesen war darin gelegen, daß sie für alle richterlichen Tätigkeiten zuständig waren, die nicht ausdrücklich anderen übertragen worden waren. Die neue Einrichtung beschäftigte auch die Kanonistik. Gottfried von Trani widmete ihr in seinem Kommentar zum Liber Extra seine Aufmerksamkeit und bestimmte ihren Rechtscharakter24. Er sah in den Konservatoren päpstliche Delegierte, welche die Aufgabe haben, bestimmte Personen gegen das Unrecht Mächtiger zu verteidigen. Ihre Bestellung war zu dieser Zeit bereits häufig. Sie durften nur eingreifen bei offenkundigen Gewalttaten. Sie stellten bloße Exekutoren dar, d. h. ihre Vollmacht erschöpfte sich darin, klar verbürgte Rechte nachachten zu lassen. In zweifelhafte Angelegenheiten, die ein gerichtliches Verfahren erfordern, hatten sie sich nicht einzumischen. Schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts war es gewöhnlich, daß zu den Gnadensachen Konservatorenurkunden ausgestellt wurden25. Die Konservatoren wurden ohne Rücksicht darauf, ob der Impetrant sie begehrt hatte oder nicht, ernannt. Man hielt sie für notwendig, um die ungestörte Benutzung und Erhaltung der Gnade zu gewährleisten. Der Kreis der Begünstigten weitete sich immer mehr. Konservatoren wurden für Einzelpersonen, Personengesamtheiten und juristische Personen bestellt, deren Rechte und Güter irgendwie gefährdet waren. Auf diese Weise sind zahllose Konservatorien vom Apostolischen Stuhl ausgegangen, wie jeder Sammlung von Papsturkunden zu entnehmen ist26.
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Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. II, 1132 – 1134 Nr. 4524. X 3, 2, 8. 24 Summa D. Goffredi Tranensis in titulos decretalium, Venedig 1564, 102 Nr. 34. 25 Josef Teige, Beiträge zum päpstlichen Kanzleiwesen des XIII. und XIV. Jahrhunderts: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 17, 1896, 408 – 440, hier 414; Peter Herde, Beiträge zum päpstlichen Kanzlei- und Urkundenwesen im 13. Jahrhundert (= Münchener Historische Studien, Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften Bd. 1), 2. Aufl., Kallmünz 1967, 219. 26 Eine Fülle erhaltener Konservatorien weist beispielsweise nach Brigide Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 1199 – 1417 (= Index Actorum Romanorum Pontificum ab Innocentio III ad Martinum V electum), Città del Vaticano 1988, Nr. 25, 82, 124, 128, 231, 232, 233, 315, 327, 353, 364, 380, 394, 455. Weitere Angaben bei Walter Zöllner, Die Papsturkunden des Staatsarchivs Magdeburg von Innozenz III. bis zu Martin V. I. Erzstift Magdeburg (= Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg 13), Halle/Saale 1966, Nr. 75, 87. 23
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III. Die Etablierung durch die gesamtkirchliche Gesetzgebung Unter Innozenz IV. wuchs die Bestellung von Konservatoren weiter an. Ihre Beliebtheit erklärt sich aus der doppelten Tatsache, daß sie bei jedem offenkundigen Unrecht, das ihren Schützlingen angetan wurde, einschreiten und dabei auf ein förmliches Gerichtsverfahren verzichten durften. Diese Befugnisse hatten sie sogar gegen Bischöfe. Diese waren begreiflicherweise von der Einrichtung wenig angetan, und ihre Opposition entlud sich auf dem Ersten Allgemeinen Konzil von Lyon (1245)27. Die gesamtkirchliche Gesetzgebung über die Konservatoren begann mit der Konstitution ,,Statuimus“, die Papst Innozenz IV. auf dieser Versammlung erließ28. Sie begründete von Gesetzes wegen die Einrichtung der Konservatoren und wurde schon früh unter die Überschrift ,,De officio et potestate iudicis delegati“ gestellt, womit ihr rechtssystematischer Ort angegeben werden sollte. Die Konstitution blickte auf eine längere Zeit zurück, seit der häufig Konservatoren bestellt wurden (plerumque); sie waren also schon eine gängige Erscheinung. Sie wurden vom Papst ernannt, um bestimmte Personen zu schützen und zu verteidigen. Wie sie dieser Aufgabe gerecht werden sollten, gab die Konstitution nicht an; sie befaßte sich nicht mit den Einzelheiten ihres Vorgehens. Die Konstitution ließ sich auch nicht aus über die Eigenschaften, welche die Konservatoren besitzen mußten. Vermutlich war man der Ansicht, daß der Anschluß der Verwaltungsübung an die Praxis bei Bestellung delegierter Richter diese Frage beantwortete. Die Qualifikation der letzteren war durch die Konstitution ,,Praesenti“ desselben Ersten Konzils von Lyon festgelegt worden29. Doch bezeichnete die Konstitution Inhalt und Grenze der Zuständigkeit der Konservatoren. Sie durften die ihrem Schutz anvertrauten Personen (nur) gegen offenkundige Angriffe und Gewalttaten verteidigen. Offenkundig sind solche Anschläge, deren Unrechtmäßigkeit evident ist, so daß sich ein förmliches Verfahren zur Feststellung der Rechtswidrigkeit erübrigt. Die Konservatoren besaßen dagegen keine Gewalt, sich mit Beeinträchtigungen der ihrem Schutz anvertrauten Personen zu befassen, die eine gerichtliche Untersuchung erforderten. Damit erhielt die Jurisdiktion der Konservatoren eine empfindliche Einschränkung. Sie dürfte mit der Rücksicht auf die ordentliche Gerichtsbarkeit zu erklären sein; die Hoheit der Bischöfe sollte nicht geschmälert werden. Die Konstitution ,,Statuimus“ wurde als grundlegend in die Collectio Novellarum I (25. August 1245) sowie in die Collectio III aufgenommen und fand
27 Conciliorum Oecumenicorum Decreta curantibus Josepho Alberigo/Josepho A. Dossetti/ Perikle-P. Joannou/Claudio Leonardi/Paulo Prodi, consultante Huberto Jedin, Ed. tertia Bologna 1973, 273 – 301. 28 Conciliorum Oecumenicorum Decreta 285. Vgl. Stephan Kuttner, Die Konstitutionen des ersten allgemeinen Konzils von Lyon, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris VI, 1940, 70 – 131. 29 Conciliorum Oecumenicorum Decreta 284. Vgl. Kuttner, Die Konstitutionen 71, 75.
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schließlich im Liber Sextus 1, 14, 1 Platz30. Innozenz IV. hat die erwähnte Dekretale selbst kommentiert31. Er unterschied drei Anlässe zur Bestellung von Konservatoren. Erstens wurden solche ernannt, um bestimmte Personen gegen Räuber und Plünderer zu verteidigen. Zweitens wurden sie aufgestellt, um Privilegien gegen jene zu sichern, die sie antasteten. Drittens wurden Konservatoren gegeben, damit sie allgemein die begünstigten Personen gegen alle Unrechttaten und Kränkungen schützten. Innozenz IV. wiederholte das Verbot, eine richterliche Untersuchung vorzunehmen. Doch konnten die Konservatoren die für schuldig Gehaltenen und Angeklagten vorladen und über die ihnen zur Last gelegten Vergehen vernehmen. Wenn sie gestanden, war ihre Verfehlung offenkundig, und damit war die Zuständigkeit des Konservators ohne weiteres gegeben. Wenn sie dagegen die ihnen vorgeworfenen Taten bestritten, war zu unterscheiden. In dem Falle, in dem das Leugnen offenkundig sinnlos war, konnte der Konservator von seiner Befugnis Gebrauch machen. In dem Falle, in dem das Bestreiten ein Moment der Unsicherheit in die Sache brachte, mußte er sich des Eingreifens entschlagen, wenn anders er nicht ungültig handeln wollte. Bei Halsstarrigkeit (contumacia) des Schuldigen konnte der Konservator seine Vollmacht anwenden. Der Ausschluß jeder richterlichen Untersuchung ließ sich nicht in voller Strenge durchhalten, wenn die Bestellung des Konservators nicht um ihre Wirkung gebracht werden sollte. Innozenz IV. mußte deswegen einige Ausnahmen von der Regel zulassen. Ein notorischer Rechtsbrecher konnte und mußte vorgeladen werden, um die Notorietät seines Vergehens öffentlich kundzutun. Wenn das Vergehen anderen Personen (als dem Konservator) notorisch war, war die Untersuchung ebenfalls gestattet, denn der Konservator konnte den Beweis für die Notorietät des Vergehens fordern. Die Mittel, um die Notorietät zu beweisen, waren das Geständnis des Schuldigen und Aussagen von Zeugen. Nach Innozenz IV. konnte der Konservator auch dann in eine Untersuchung eintreten, wenn die Parteien sich damit übereinstimmend einverstanden erklärten. In diesem Falle war es ihm gestattet, seine Jurisdiktion auf ein Verfahren auszudehnen, das ihm ansonsten verschlossen war. Der päpstliche Vizekanzler (1244 – 52) Marinus von Eboli bezog sich in seinem Traktat ,,Super revocatoriis“ auf das in der Collectio I c. 6 der Kanones des Ersten Konzils von Lyon (1245) enthaltene Verbot Papst Innozenz’ IV., daß Konservatoren nicht gerichtliche Untersuchungen führen dürfen32. Diese Schranke sollte in der Zukunft ebenso lebhaft betont wie durchbrochen werden. 30 Stephan Kuttner, Decretalistica: ZRG Kan. Abt. 26, 1937, 436 – 470, hier 442; PeterJosef Keßler, Untersuchungen über die Novellen-Gesetzgebung Papst Innocenz’ IV. I. Teil: ZRG Kan Abt. 31, 1942, 142 – 320, hier 145, 148. 31 Commentaria Innocentii IV. P. M. super libros quinque decretalium, Frankfurt a. M. 1570, fol. l45r–l46r. 32 Peter Herde, Marinus von Eboli: ,,Super revocatoriis“ und ,,De confirmationibus“. Zwei Abhandlungen des Vizekanzlers Innocenz’ IV. über das päpstliche Urkundenwesen: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 42/43, 1962/63, 110 – 264, hier 147 A. 118, 216 f.
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IV. Der Ausbau unter Papst Alexander IV. Papst Alexander IV. befaßte sich in vier Dekretalen, unmittelbar oder mittelbar, mit dem Institut der Konservatoren33. Am 23. März 1256 erließ er die Dekretale ,,Quia de conservatoribus“34. Zu Anfang wurde stereotyp die Häufigkeit, mit welcher der Heilige Stuhl Konservatoren zu gewähren pflegte, angesprochen. Die Dekretale erwähnte dann die mannigfachen Unzuträglichkeiten, die sich aus der Vollmacht und den Verfahren der Konservatoren ergeben hatten. Es handelte sich dabei vor allem um Überschreitungen der ihnen gesetzten Schranken und um die Begehung von Ungerechtigkeiten bei ihren Urteilen. Diesen Mißständen sollte jetzt abgeholfen werden. Zu diesem Zweck wurden ihnen erneut die Grenzen ihrer Zuständigkeit ins Gedächtnis gerufen. Die Konservatoren durften nur bei offenkundigen Rechtsverletzungen und Gewalttaten Schutz gewähren; sie waren nicht befugt, ihre Vollmacht auf andere Verfehlungen, die eine gerichtliche Untersuchung erforderten, auszudehnen. Die Dekretale ,,Quia de conservatoribus“ legte sodann die Eigenschaften der Personen fest, die zu Konservatoren ernannt werden konnten. Dabei war der Papst strenger als sein Vorgänger, Innozenz IV. Er schloß die Kanoniker von Stiftskirchen aus. Nur Bischöfe, Äbte und Kathedralkanoniker durften hinfort zu Konservatoren ernannt werden. Dazu kam eine weitere Einengung. Niemand konnte Konservator seines eigenen Konservators sein. Damit wurde die Verschränkung der Konservatoren verboten; eine solche barg die Gefahr der Gefälligkeitsrechtsprechung in sich. Schließlich traf der Papst eine Entscheidung, die geeignet war, die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Konservatorengerichtsbarkeit zu gewährleisten. Keine kirchliche oder weltliche Person – ausgenommen Könige und Königinnen – konnte einen Konservator haben, der ihr in geistlicher oder weltlicher Hinsicht unterstellt war. Die Gerichtsbarkeit sollte in Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, nicht aus Abhängigkeit und unter Druck verwaltet werden. Am Ende der Dekretale wurden Sanktionen gegen missbräuchliches Tätigwerden der Konservatoren festgesetzt. Der Konservator, der sich wissentlich nicht manifester Sachen annahm, verfiel der von selbst eintretenden Suspension von seinem Dienste für ein Jahr. Damit war er lahmgelegt, was weder im Interesse der Begünstigten noch im eigenen gelegen sein konnte. Aber auch das unbesonnene und unbefugte Angehen des Konservators wurde unter eine Sanktion gestellt. Derjenige, der das Eingreifen des Konservators, ohne dazu berechtigt zu sein, veranlaßte, hatte der Gegenpartei die Kosten zu ersetzen. Die Dekretale ,,Quia personae“ vom 23. März 125635 regelte die Frage, wie (strittige) Privilegien zu beweisen seien. Hierbei ging es in erster Linie um ein 33
Vgl. Hénaff, Les conservateurs apostoliques et les décrétales d’Alexandre IV, passim. Friedberg, Corpus Iuris Canonici II, 981; Potthast 16301; C. Bourel de la Roncière, Les registres d’Alexandre IV Bd. I, Paris 1902, 397 Nr. 1328. 35 Bullarium Romanum III/1, Rom 1740, p. 370 – 371; Bullarium Romanum III, Turin 1858, p. 629 – 630 Nr. 26; Potthast 16300; Bourel de la Roncière, Les registres d’Alexandre IV Bd. I, 394 Nr. 1319. 34
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Anliegen, das die Orden betraf. Die Konservatoren waren die bestallten Verteidiger der Exemten36. Aber die Exemtion war die unabdingbare Voraussetzung dafür, daß sie ihren Schutz gewähren konnten. Die Exemten hatten daher die Pflicht, auf Ersuchen der Ordinarien ihr Exemtionsprivileg zu beweisen. Wenn sie es bewiesen hatten, mußte der Ordinarius sich enthalten, gegen sie vorzugehen. Falls er dieses Gebot übertrat, konnte der Konservator gegen ihn einschreiten. Umgekehrt untersagte der Papst den Konservatoren, zugunsten von Religiosen einzugreifen, wenn diese nicht ihre Exemtion zuvor beweiskräftig dargetan hatten. Verfahren und Urteile gegen die Ordinarien seien in diesem Fall nichtig. Man erkennt aus diesen Bestimmungen, daß die Einrichtung der Konservatoren unzulässig überspannt und ausgenutzt wurde, um sich der Jurisdiktion der Bischöfe zu entziehen. Die Dekretale ,,Quia pontificali“ vom 24. März 125637 hatte ebenfalls das Verhältnis von Konservatoren und Diözesanbischöfen zum Gegenstand. Die Konservatoren wurden angewiesen, bei Zwangsmaßnahmen und Strafen die Bischofswürde in Rechnung zu stellen, indem sie in der Regel stufenweise und maßvoll vorgehen sollten. Aus diesem Dokument wird das Widerstreben der iudices ordinarii gegen die Konkurrenz der Konservatoren (erneut) erkennbar. Auch die Dekretale ,,Licet regularis“ vom 26. März 125638 wendete sich gegen Konservatoren, welche die Grenzen ihrer Vollmachten zum Schaden der Ordinarien überschritten. Sie schränkte die Personen ein, die zu den Exemten gerechnet wurden, und begrenzte damit die Reichweite der Gewalt der Konservatoren. Die Exemten wurden angehalten, ihre Privilegien nicht in unredlicher Weise auf solche auszudehnen, die ihrer Jurisdiktion nicht unterstanden. In nichtexemten interdizierten Orten39 durften die Exemten nicht Gottesdienst halten. Gegen die Strafverfügungen der Ordinarien konnten nicht die Konservatoren angerufen werden; etwaige Urteile derselben wurden widerrufen. Die Exemten waren, was die Feier des Gottesdienstes angeht, an die Autorität des Territorialherren gebunden. Der Papst stärkte auf diese Weise die Gewalt der Ordinarien. Ob Alexander IV. eine Sammlung seiner Dekretalen veranstaltete, ist unsicher. Ihre Verbreitung dürfte infolgedessen schwach gewesen sein. Erst durch die Aufnahme in den Liber Sextus wurden sie der Kanonistik allgemein zugänglich und in der Folgezeit kommentiert. V. Regelungen von Papst Nikolaus III. und zur Zeit von Papst Honorius IV. Am 12. Februar 1278 traf Papst Nikolaus III. eine Anordnung, welche Bullen künftig durch die Kanzlei aus eigener Vollmacht ausgefertigt werden dürfen und 36
E. Fogliasso, Exemption des religieux: DDC V, 1953, 646 – 665; Audomar Scheuermann, Exemtion: TRE X, 1982, 696 – 698. 37 VI 1, 14, 2; Bourel de la Roncière, Les registres d’Alexandre IV Bd. I, 396 Nr. 1325. 38 Friedberg, Corpus Iuris Canonici II, 1083 – 1085; Potthast 18117; Bourel de la Roncière, Les registres d’Alexandre IV Bd. I, 394 – 395 Nr. 1321. 39 Georg May, Interdikt: TRE XVI, 1987, 221 – 226.
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welche vor dem Papst verlesen werden müssen40. Die Kreuzfahrer41 erhielten seit langem päpstliche Schutzbriefe, und gleichzeitig ergingen Exekutionsmandate, in denen Konservatoren beauftragt wurden, für die Einhaltung der Briefe Sorge zu tragen42. Schutzurkunden für Kreuzfahrer und die dazugehörigen Konservatorien brauchten (außer bei Bischöfen und Königen) nicht vor dem Papst bzw. in der audientia publica verlesen zu werden43. Damit war ein Prinzip ausgesprochen44. Konservatorien waren grundsätzlich ohne Verlesung in der audientia publica auszustellen. Ihre Verlesung war nur erforderlich, wenn sie zugunsten von Bischöfen, Königen und anderen hochgestellten Personen (magnatibus) begehrt bzw. gewährt wurden45 oder wenn solche ausgestellt werden, die gegen Verletzer von Privilegienindulten gerichtet waren46. Zur Zeit des Papstes Honorius IV. befaßte sich auch die partikulare Gesetzgebung mit den Konservatoren. Im Jahre 1287 wurde in Würzburg eine deutsche Nationalsynode gehalten47. Auf ihr war als päpstlicher Legat der Kardinalbischof von Tusculum, Johannes, anwesend. Die dort verabschiedeten Bestimmungen stellten sich als Constitutiones des päpstlichen Legaten dar, waren aber Beschlüsse der versammelten Bischöfe. Eine von ihnen galt den Konservatoren48. Der überlieferte Text ist zwar korrumpiert49, kann aber verständlich gemacht werden. Darin war die Rede von den Konservatoren, die vor allem den exemten Religiosen und Klöstern durch den Papst oder durch die von seiner Seite entsandten Legaten50 in einem bestimmten Formular gegeben zu werden pflegten. Dann wurde an die doppelte Schranke ihrer Tätigkeit erinnert: Sie durften sich nicht in Sachen einmischen, welche eine gerichtliche Untersuchung erforderten oder welche die vorgenannten 40 Michael Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen von 1200 – 1500, Innsbruck 1894, 69 – 82. 41 Fried, Der päpstliche Schutz für Laienfürsten 105 – 122, 263 f., 277. 42 Peter Herde, Audientia Litterarum Contradictarum, 2 Bde. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bd. 31 und 32), Tübingen 1970, I, 422 – 425; II, 464 – 470 (Formeln). 43 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 76 Nr. 34. Vgl. Herde, Beiträge 219 f. 44 Vgl. Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 56 – 64. 45 Tang1, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 76 Nr. 33. 46 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 81 Nr. 83. Für Konservatorien ,,contra indulta privilegiorum“ vgl. die Formeln bei Herde, Audientia Litterarum Contradictarum II, 432 – 441. 47 Johann Friedrich Schannat/Joseph Hartzheim, Concilia Germaniae, 11 Bde., Köln 1759 – 90, III, 724 – 737; Mansi 24, 848 – 868. Vgl. Anton Joseph Binterim, Pragmatische Geschichte der deutschen Concilien vom vierten Jahrhundert bis zum Concilium von Trient V, Mainz 1852, 37 – 54; Carl Joseph Hefele, Conciliengeschichte VI, Freiburg 1867, 216 – 225; Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, 5. Teil 1. Hälfte, 5., unveränd. Aufl., Berlin/ Leipzig 1953, 460 – 462. 48 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae III, 733 (c. 39). 49 So richtig Hefele, Conciliengeschichte VI, 222. 50 Gatz, Gesandtschaftswesen 542.
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Indulte nicht berührten. Wenn sie die so gezogenen Grenzen überschritten, waren die ausgestellten Bestellungsschreiben ebenso wie die von den Konservatoren in Gang gesetzten Verfahren ohne rechtliche Wirkung. Dies galt vor allem für den Fall, daß Kläger durch die Konservatoren Personen vorladen ließen ohne Rücksicht auf die Entfernung von dem Dienstort der Konservatoren. Man erkennt aus diesen Vorschriften, daß sowohl der Apostolische Stuhl, als dessen Vertreter der Kardinallegat auftrat, als auch die Bischöfe darauf Bedacht nahmen, das Konservatorenwesen nicht ausufern zu lassen. Um die Veröffentlichung und die Durchführung der Bestimmungen des Konzils war es freilich schlecht bestellt. VI. Die Gesetzgebung von Papst Bonifaz VIII. Papst Bonifaz VIII. brachte die Institution der Konservatoren mit gewohnter Energie voran. Am 8. April 1295 erließ er eine Dekretale über die Konservatoren ,,Statuimus ut conservatores“51. Sie ging zurück auf die Dekretale ,,Praesenti“ Innozenz’ IV. Daraus und aus der Konstitution Alexanders IV. ,,Quia de conservatoribus“ erwuchs die Bestimmung im Liber Sextus Buch I Titel XIV Kapitel XV ,,Hac constitutione“. Die Dekretale ,,Statuimus“ befaßte sich nur mit Konservatoren, die vom Apostolischen Stuhl ernannt wurden52. Der Zweck ihrer Bestellung war der Schutz vor offenkundigen Rechtsverletzungen und Belästigungen. Sie mußten entweder Kathedralkanoniker oder Inhaber einer Dignität oder eines Personats53 in Stadt oder Diözese sein. Ihrer Tätigkeit wurden enge räumliche Grenzen gesetzt. Sie durften außerhalb der Stadt oder Diözese niemanden vor ihr Gericht ziehen und auch nicht gegen Personen vorgehen, die nicht von ihrer Stadt oder Diözese waren. Innerhalb der Stadt durften sie nur über die ihnen übertragenen Rechtssachen erkennen. Sie waren nicht befugt, anderen ihre Stellvertretung zu übertragen, außer es wäre ihnen in ihrem Auftragsschreiben zugestanden. Ladungen und Urteilsverkündigungen konnten sie innerhalb der Stadt oder Diözese persönlich vornehmen oder durch andere vornehmen lassen, die der erwähnten Stadt oder Diözese zugehörig waren. Die Befugnis der Konservatoren erlosch bezüglich der noch nicht in Angriff genommenen Rechtssachen von Rechts wegen nach dem Tod dessen, der sie ernannt hatte. Wo eine Bischofsstadt fehlte oder zerstört war, sollte das Verfahren an einem anderen hervorgehobenen Ort der Diözese abgewickelt werden. Aus diesen Bestimmungen ist der Wille des Papstes zu erkennen, die Tätigkeit der Konservatoren in engen Grenzen zu halten. 51
Friedberg, Corpus Iuris Canonici II, 981 – 983; Potthast 24060. Zu Konservatoren, die andere Instanzen, wie die Bischöfe, bestellten vgl. z. B. Othmar Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich, Von den Anfängen bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (= Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs 10), Linz 1967, 88 f. 53 Zu diesen Begriffen vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 110 – 114. 52
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Die Dekretale ,,Hac constitutione“ (VI 1, 14, 15) Bonifaz’ VIII. lehnte sich, wie erwähnt, stark an die Dekretale ,,Quia de conservatoribus“ Alexanders IV. an. Zu Konservatoren konnten danach nur Bischöfe, Oberbischöfe, Äbte, Inhaber von Dignitäten und Personaten in Kathedral- oder Stiftskirchen bestellt werden. Niemand durfte jemanden zum Konservator haben, der irgendwie seiner geistlichen oder weltlichen Herrschaft unterstand. Die Kompetenz der Konservatoren beschränkte sich auf das Bistum, für das sie bestellt waren. Die Konservatoren durften gegen niemanden außerhalb der Civitas oder Diözese, wo sie bestellt waren, vorgehen und nicht jemanden über eine Tagereise von der Grenze der Diözese vor Gericht ziehen. Ebensowenig waren sie befugt, ihre Vollmacht anderen zu übertragen, also weiterzugeben. Die Vertretung der Konservatoren wurde allgemein nur für Ladung und Urteilsverkündung zugelassen. Weitergehende Vertretung mußte im Auftragsschreiben eigens gestattet werden. Aber auch in diesem Falle durfte die Vertretung nur innerhalb der Civitas und Diözese, für die sie aufgestellt waren, erfolgen, und zwar nur durch die oben erwähnten Personen. Die Unterkonservatoren mußten also dieselben Eigenschaften wie die Konservatoren haben. Wenn sich die Konservatoren solcher Sachen annahmen, die eine gerichtliche Untersuchung verlangten, zogen sie sich die von selbst eintretende Strafe der Suspension vom Amt für ein Jahr zu, während die Partei, die sie dazu veranlaßt hatte, der Exkommunikation verfiel. Das heißt: Die Konservatoren durften nur bei offenkundigen Rechtsverletzungen und Gewalttaten einschreiten; bei nicht offenkundigen Verfehlungen und solchen, die eine gerichtliche Untersuchung erfordern, besaßen sie keine Vollmacht. Die Gewalt der Konservatoren erlosch von Rechts wegen für alle noch nicht eingeleiteten Rechtsgeschäfte durch den Tod dessen, der sie eingesetzt hatte. Hinsichtlich der Pflichten und Kosten, Assessoren und Notare sowie der Zeugen hatten sie sich an die Konstitution zuhalten, die der Papst über die delegierten Richter erlassen hatte. Aus diesen Vorschriften ist erneut der Wille des Papstes zu erkennen, den außerordentlichen Charakter der Einrichtung der Konservatoren zu bewahren. In der Dekretale ,,Statutum quod“ (VI 1, 3, 11) kam Bonifaz VIII. am Eingang auf seine vor kurzem erlassene Dekretale ,,Statuimus“ zu sprechen. Diese wurde jetzt ergänzt und erweitert. Die Dekretale ,,Statutum quod“ ging zurück auf die Dekretale ,,Praesenti“ Innozenz’ IV.54 Sie ist zeitlich zwischen 1295 und 1298 einzuordnen. Noch einmal erklärte der Papst, daß nur Personen, die eine Dignität oder ein Personat innehaben, oder Kathedralkanoniker zu päpstlichen Delegaten bestellt werden durften. Die Dekretale wandte sich dann erneut dem dornenreichen Problem des Gerichtsortes zu und traf dafür einläßliche Anordnungen. Die delegierten Richter durften ihre Verfahren nur in Städten oder hervorgehobenen Orten, wo Rechtskundige bequem herangezogen werden konnten, abwickeln. Der Grund für die Vorschrift ist einsichtig. Da die Bestellung solcher Richter nicht selten an Personen erging, die selbst nicht im kanonischen Recht zu Hause waren, bedurften 54
Mansi 23, 619. Vgl. Pavloff, Papal Judge Delegates 9.
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sie der Hilfe von Fachleuten; diese aber waren nur an größeren Orten zu finden. Wenn Kläger und Beklagter derselben Diözese angehörten, durfte die Rechtssache grundsätzlich nicht außerhalb derselben einem delegierten Richter übertragen werden. Eine anderweitige Regelung hätte unnötigen Aufwand an Zeit und Kosten verursacht. Davon wurden sechs Ausnahmen gemacht. Sie betrafen entweder den Bischof oder wurden mit Rücksicht auf berechtigte Furcht eingeführt. In diesen Fällen war es statthaft, das Verfahren außerhalb der Diözese zu führen, doch durfte niemand über eine Tagereise weit von der Grenze seiner Diözese belangt werden. Wenn Kläger und Beklagter verschiedenen Diözesen angehörten, durfte der erstere den letzteren entweder in dessen oder in einer dritten Diözese belangen; doch durfte der Ort, an dem er ihn vor Gericht zog, nicht über eine Tagereise von der Grenze der Diözese des Beklagten entfernt sein55. Der delegierte Richter war nicht berechtigt, außerhalb des Ortes, wohin ihn sein Auftragsschreiben wies, die Parteien vorzuladen oder über die Sache zu erkennen ohne die ausdrückliche Zustimmung der Parteien; er durfte auch für andere Orte und gegenüber anderen Personen als angegeben eine Subdelegation nicht vornehmen. Der delegierte Richter durfte von den Parteien nur freiwillig angebotene Lebensmittel für wenige Tage und (beim Tätigwerden außerhalb seines Wohnsitzes) Ersatz der Unkosten in mäßiger Höhe annehmen. Er durfte nur bei Notwendigkeit einen Beisitzer hinzuziehen; geschah es ohne eine solche, hatte er ihn aus seinen eigenen Mitteln zu entschädigen. Wenn er wirklich eines Beisitzers bedurfte, dann mußte er einen wählen, der keiner Partei verdächtig war, und ihn von den Parteien bezahlen lassen. Der delegierte Richter hatte die Entlohnung der Notare festzusetzen; er durfte weder von ihnen noch von dem Beisitzer einen Anteil an der Bezahlung fordern. Der delegierte Richter war zur Restitution verpflichtet, wenn er etwas gegen die gegenwärtige Konstitution angenommen hatte. Er durfte nur bei wirklich prozessualer Notwendigkeit Zeugen vorladen. Die Partei, welche ihre Vorladung begehrte, hatte ihnen die Unkosten zu ersetzen. Was gegen diese Dekretale getan wurde, sollte von Rechts wegen unwirksam sein. Mit den Bestimmungen Bonifaz’ VIII. war die mittelalterliche Entwicklung der Gesetzgebung über die Konservatoren im wesentlichen zum Abschluß gekommen. Doch galten noch die einschränkenden Klauseln, die den Konservatoren die Behandlung von Rechtssachen verboten, bei denen ein ordentlicher Prozeß vonnöten war. Sie fielen im 14. Jahrhundert. VII. Die Formeln der Bestellung von Konservatoren Konservatoren wurden im Laufe der Jahrhunderte von den Päpsten tausendfach ernannt. Ihre Bestellung erfolgte nach festliegenden Formularen, die im allgemeinen lediglich geringfügig geändert und für den gegebenen Fall einigermaßen pas55 Innozenz III. hatte die Entfernung von zwei Tagereisen zugelassen (IV. Laterankonzil c. 37: Mansi 22, 1023; Nonnulli X 1, 3, 28).
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send gemacht wurden. Die Erfurter Universität erbat nachweislich die Ausstellung der Konservatorenurkunde nach dem Formular, das mit den Worten ,,Militanti ecclesiae“ begann und in die päpstlichen Kanzleiordnungen Aufnahme fand56. Es lehnt sich an das Formular an, das Clemens V. auf dem Konzil von Vienne verwandte, und ist somit zeitlich ,,nach Clemens V.“ ausgestellt57. Es dürfte nicht vor dem Pontifikat Benedikts XII. die im Druck erhaltene Gestalt (mit der Begrenzung auf fünf Jahre) gefunden haben58. Das Formular ist außerordentlich wortreich. Die Fülle der Ausdrücke sollte die gewährte Gunst gegen Einwände, vor allem jenen der Unzuständigkeit, sichern. In dem Text ist die Beschränkung der Kompetenz der Konservatoren auf die Fälle notorischer Verfehlungen fallen gelassen; sie hatte sich offensichtlich nicht bewährt. Das andere Konservatorium in den päpstlichen Kanzleiordnungen geht auf Johann XXII. zurück59; es trägt ursprünglich das Datum des 23. Januar 1327 und ist in die Extravagantes Communes 2, 1 aufgenommen worden. Es ist zum Schutz der ordentlichen Jurisdiktionsträger, also vornehmlich der Bischöfe und Pfarrer, gegen Übergriffe der Angehörigen der Bettelorden bestimmt und umgekehrt. Die Dekretale nimmt ihren Ausgang von den zahllosen Beschwerden der ordentlichen Jurisdiktionsträger gegen die Bettelmönche, die sich nicht an die Vorschriften der Dekretale ,,Super cathedram“ Bonifaz’ VIII.60 halten. Umgekehrt werden den Mönchen von den Jurisdiktionsträgern Unrecht und Belästigungen zugefügt. Zum Schutz für beide Gruppen werden die Konservatoren aufgestellt. Auch in diesem Formular ist die Beschränkung der Zuständigkeit der Konservatoren auf notorische Rechtsverletzungen aufgegeben. Sie dürfen bei Sachen, die eine gerichtliche Untersuchung erfordern, im Summarverfahren vorgehen, in anderen so, wie es deren Eigenart erfordert, um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Ungehorsame sind durch kirchliche Zensuren niederzuzwingen unter Ausschluß der Appellation. Entgegenstehende Bestimmungen und Befreiungen sollen unbeachtlich sein. Die Regeln der Apostolischen Kanzlei enthalten gewöhnlich Anordnungen, wie bei der Gewährung von Konservatorien zu verfahren ist61. Das von Peter Herde herausgegebene Formularium audientiae bringt eine Konservatorenurkunde für den Antoniterorden, die erst nach dem Tode Bonifaz’ VIII. aufgenommen wurde62. Das Formular wurde wohl unter Johannes XXII. in die vorlie56
Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 321 – 324 Nr. 129. Ein weiteres Formular ebenda 324 – 327 Nr. 130. 57 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen LI. 58 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 413 A. 6. 59 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 324 – 327 Nr. 130; vgl. ebenda LI. 60 Clem. 3, 7, 2. 61 Emil von Ottenthal, Regulae Cancellariae Apostolicae, Innsbruck 1888, 4 (Johannes XXII.), 21 (Urban V.), 138 (Benedikt XIII.), 181 (Johannes XXIII.), 200 (Martin V.), 250 (Eugen IV.). 62 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 412 f.; II, 442 – 444 (Text).
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gende Fassung gebracht und in das Formelbuch eingefügt63. Die Arenga beginnt mit den Worten Militanti ecclesie, ein Incipit, das mindestens bis Urban IV. (1263) zurückreicht und nachweislich unter Clemens V. verwendet wurde. Die Narratio ist äußerst knapp gehalten. In der Conclusio wird dem Konservator, der allerdings nicht so bezeichnet wird, die protectio, defensio et tuitio der Brüder aufgetragen. Falls Abt, Konvent und Mitglieder oder ihre Rechtsvertreter ihn bittend angehen, dem Unrecht abzuhelfen, das ihnen oder ihrem Vermögen angetan wird, soll er ihnen Gerechtigkeit schaffen, etiam per viam iustitie. Damit wird ihm (auch) die Möglichkeit eröffnet, in einem gerichtlichen Prozeß gegen die Täter vorzugehen. Daran schließen sich mehrere Non-obstante-Klauseln64. Der Konservator darf vorgehen ohne Rücksicht auf etwa ausgestellte Privilegien, nach denen jemand nicht mit Zensuren belegt oder außerhalb gewisser Orte nicht ohne Sondervollmacht des Papstes geladen werden darf. Die Konstitutionen des Vierten Laterankonzils und Bonifaz’ VIII. betreffend den Gerichtsort werden für den gegebenen Fall außer Kraft gesetzt. Allerdings wird dem Konservator untersagt, jemanden mehr als drei bis vier Tagereisen von der Grenze seiner Diözese vorzuladen. Am Schluß wird ihm seine Gewalt noch einmal in vollem Umfang bestätigt. Johannes XXII. stellte häufig Konservatorien nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“ aus65. Gelegentlich geschah die Ernennung von Konservatoren auch nach anderen Formularen66. Ebenso verfuhren die folgenden Päpste. Innozenz VI. bestellte am 2. April 1357 Konservatoren nach dem Formular ,,Frequentes hactenus immo“67 zur Ausführung der Dekretale ,,Super cathedram“ Bonifaz’ VIII. (Extr. comm. 3, 6, 2)68. Urban V. berief am 7. Januar 1365 einen Konservator nach dem Formular ,,Pium esse dinoscitur“69. Einen anderen ernannte er am 12. Mai 1366 mit dem Formular ,,Quia mundo posito“70. Urban VI. bestellte am 12. März 1384 drei Dekane nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“ zu Konservatoren71. Bonifaz IX. fertigte zahlreiche Konservatorenurkunden aus72. Die Päpste der übrigen Observanzen verfuhren nicht anders. 63
Herde, Audientia Litterarum Contradictarum II, 444 A. 1. Georg May, Derogationsformeln: AfkKR 161, 1992, 11 – 41 (Lit.). 65 Z.B.: Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 99 – 101 Nr. 231, 232, 233. 66 Z.B.: Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 101 Nr. 236 (Ad hoc nos); 105 Nr. 246 (Pium esse dinoscitur; für drei Jahre). 67 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 324 – 327 Nr. 130. 68 Hermann Hoogeweg (Hrsg.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe V (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens Bd. XXIV), Leipzig/ Hannover 1907, 444 Nr. 717; Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 116 f. Nr. 271. 69 Manfred Hamann (Hrsg.), Urkundenbuch des Klosters Fredelsloh (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission von Niedersachsen und Bremen 37), Hildesheim 1983, 123 Nr. 286. 70 Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 124 Nr. 289. 71 Ibid. 135 Nr. 315. 72 Beispiele für die Bestellung von Konservatoren mit dem Formular ,,Militanti ecclesie“ durch Bonifaz IX. bei Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 141 64
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VIII. Die Konservatoren auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts Die Einrichtung der Konservatoren war den Begünstigten willkommen, den Betroffenen unerwünscht. Vor allem die Überdehnung ihrer Gewährung und die Überschreitung ihrer Befugnisse riefen immer wieder die Abwehr hervor. Das Pisaner Konzil73 beklagte im Juli 1409, daß die Römische Kurie in ausgedehntem Maße Konservatorien ausstelle, und zwar auch Personen und Ständen (statibus), denen sie nicht gegeben werden dürfen, wobei sie gestatte, daß Personen vor Gericht gezogen werden außerhalb ihres Wohnsitzes über die vom Recht festgesetzten Grenzen hinaus74. Es waren also die bekannten Vorwürfe, die hier laut wurden. Trotz dieser Beschwerden hielt die Einsetzung von Konservatoren an, auch und gerade durch die Pisaner Päpste. So bestellte Johannes XXIII. Konservatoren nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“75. Es ist ja eine häufige Erscheinung, daß Personen, die ihres Amtes nicht sicher sein können, sich streng an die Kanzleipraxis ihrer unstrittigen Vorgänger halten, um dadurch die Berechtigung ihres Anspruchs vor der Öffentlichkeit zu unterstreichen. Auf dem Konzil von Konstanz76 wurden die Schäden der kirchlichen Rechtspflege wiederum lebhaft beklagt. Zahlreiche hochgestellte Laien bekämpften auf dieser Versammlung das Institut der Konservatoren oder wenigstens dessen mißbräuchliche Benutzung77. Aber die Konservatoren hatten ebenfalls Männer, die für sie eintraten. Die Erfurter Universität entsandte die Augustinermönche Johannes Zachariae und Angelus Dobelin nach Konstanz78. Dagegen dürfte Nikolaus Lubich nicht in deren Auftrag am Konzil teilgenommen haben79. Nr. 327 (19. Mai 1390), 152 Nr. 353 (7. Oktober 1395), 156 f. Nr. 364 (21. Mai 1396), 164 Nr. 380 (26. April 1399), 170 Nr. 394 (21. Januar 1401). 73 Johannes Vincke, Acta Concilii Pisani: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 46, 1941, 81 – 331; derselbe, Schriftstücke zum Pisaner Konzil, Ein Kampf um die öffentliche Meinung (= Beiträge zur Kirchen- und Rechtsgeschichte Bd. 3), Bonn 1942; David Allen Ballentine, Representatives and Leaders at the Councils of Pisa and Constance, Phil. Diss. Denver/Michigan 1978. 74 Vincke, Schriftstücke zum Pisaner Konzil 211. 75 Z. B.: Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 198 Nr. 455 (25. August 1414); Marcel Fournier (Hrsg.), Les statuts et privilèges des universités françaises depuis leur fondation jusqu’en 1789, 4 Bde., Paris 1890 – 94, II, 381 f. Nr. 1289. 76 Paul Arendt, Die Predigten des Konstanzer Konzils, Ein Beitrag zur Predigt- und Kirchengeschichte des ausgehenden Mittelalters, Freiburg i. Br. 1933, 206 – 209; Elemér Mályusz, Das Konstanzer Konzil und das königliche Patronatsrecht in Ungarn (= Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 18), Budapest 1959; Remigius Bäumer (Hrsg.), Das Konstanzer Konzil (= Wege der Forschung Bd. CCCCXV), Darmstadt 1977. 77 Hermann Keussen, Die alte Universität Köln, Grundzüge ihrer Verfassung und Geschichte (= Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins E. V. 10), Köln 1934, 9. 78 Theodor Kolde, Die deutsche Augustiner-Congregation und Johann von Staupitz, Ein Beitrag zur Ordens- und Reformationsgeschichte nach meistens ungedruckten Quellen, Gotha 1879, 52 f.; Lorenz Dax, Die Universitäten und die Konzilien von Pisa und Konstanz. Phil.
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Das Konzil von Basel80 war eifrig bemüht, seinen Anhang zu erhalten bzw. zu mehren. Aus dieser Absicht erklärt sich die freigebige Ausstellung von Konservatorien, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Papst Eugen IV., der in starker Spannung zu dem Baseler Konzil stand, tat es ihm gleich. Um ein Beispiel seiner Praxis zu erwähnen: Das Konservationsschreiben, das Papst Eugen IV. am 22. November 1436, also zu der Zeit, als das Baseler Konzil noch mit anerkannter Autorität tagte, für die Kongregation der hl. Justina, die zum Benediktinerorden gehörte, ausstellte, war für alle Zukunft gegeben: Presentibus perpetuis futuris temporibus valituris81. Derartige dauernde Konservatoren waren sehr begehrt. Der Erfurter Universität ist es erst nach wiederholten Ansätzen gelungen, ein solches von einem Papst zu erlangen. Die Fristen, für die Konservatoren gewährt wurden, waren sehr unterschiedlich. Unter Papst Calixt III. (1455 – 1458) wurden manche Konservatorien lediglich für drei Jahre ausgestellt82. Er scheint überhaupt nur zeitlich befristete Konservatorien erteilt zu haben. Die Fristen waren verschieden und erreichten mitunter 20, 22 und 30 Jahre83. Unter Calixt III. wurden Konservatorien mit den Formularen Militanti ecclesie, Ad hoc deus, Etsi cunctis ausgestellt84. Übergriffe konnten nicht verhindert werden. Calixt III. beklagte sich am 15. Februar 1457 über Konservatoren von Universitäten, welche die ihnen übertragene Vollmacht so verstanden, daß sie den päpstlichen Kollektoren85 des Zehnten Sammelverbote erteilten86. Auch auf den Reichstagen erhoben sich Klagen gegen die Konservatoren. In den Gravamina der weltlichen Stände gegen den Heiligen Stuhl und den Klerus vom Februar 1523 war auch die Beschwerde über die Konservatoren enthalten. Sie zögen, so hieß es da, weltliche Personen in weltlichen Sachen vor ihr Gericht, auch Diss. Freiburg i. Br., Freiburg i. Br. 1910, 33; Adolar Zumkeller, Der Augustinereremit Johannes Zachariae († 1428) – eine bedeutende Persönlichkeit aus der Gründungszeit der Erfurter Universität, in: Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 – 1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 97 – 107. 79 Mansi 26, 1241 f.; Hans Schmiedel, Nikolaus Lubich (1360 – 1431), ein deutscher Kleriker im Zeitalter des großen Schismas und der Konzilien, Bischof von Merseburg 1411 – 1431 (= Historische Studien Heft 88), Berlin 1911, 79 – 102. 80 Mansi 29 – 32 und 35; Deutsche Reichstagsakten Bd. IX–XVII, Göttingen 1956/57; Concilium Basiliense, Studien und Quellen zur Geschichte des Concils von Basel, 8 Bde., Basel 1896 – 1936. Vgl. Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 145 – 209; Gabriel Pérouse, Le Cardinal Louis Aleman et la Fin du grand Schisme, Phil. Diss. Paris/Lyon 1904; E. Meuthen, Basel, Konzil v.: LMA I, 1980, 1517 – 1521. 81 Magnum Bullarium Romanum III, 2 S. 19. 82 Ernst Pitz, Supplikensignatur und Briefexpedition an der römischen Kurie im Pontifikat Papst Calixts III. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bd. XLII), Tübingen 1972, 36. 83 Pitz, Supplikensignatur 101 f. 84 Ibid. 101 f. 85 Johann Peter Kirsch (Hrsg.), Die päpstlichen Kollektoren in Deutschland während des XIV. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte III. Bd.), Paderborn 1894. 86 Pitz, Supplikensignatur 245.
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ohne daß Rechtsverweigerung der weltlichen Obrigkeit vorliege; bei Nichterscheinen würden die Beklagten in den Bann getan87. Die Klage richtete sich hauptsächlich gegen den Eintrag, der dadurch der weltlichen Obrigkeit und ihrer Gerichtsbarkeit geschehe. Um die gegenwärtige Benachteiligung noch drastischer zu beschreiben, wurde auch noch die Zukunftsvision an die Wand gemalt, daß die weltlichen Personen und Sachen immer mehr vor die geistlichen Richter gezogen werden würden. IX. Die Konservatoren auf dem Konzil von Trient Das Konzil von Trient befaßte sich auf seine Weise mit den Konservatoren88. Es setzte ein mit der Feststellung, daß die Empfänger von Konservatorien diese meist gegen die Absicht des Ausstellers verwenden. Hier wird also ein genereller Mißbrauch der Einrichtung konstatiert. Vor allem war es die Mißachtung der ordentlichen Jurisdiktionsträger, die ihr zur Last gelegt wurde; diese zu stärken, war ja in der erklärten Absicht des Trienter Kirchenrats gelegen. In Zukunft dürfen keine Konservatorien mehr dazu herhalten, daß jemand nicht vor seinem Bischof oder einem anderen ordentlichen Oberen in Straf- und gemischten Sachen angeklagt und belangt und daß gegen ihn eine Untersuchung angestrengt und ein Verfahren in Gang gesetzt werden kann oder daß er, wenn ihm irgendwelche Rechte aufgrund einer Abtretung zukommen, über diese nicht frei vor dem ordentlichen Richter beklagt werden kann. Weiter wurde eine ausgedehnte Sparte von Gegenständen der Konservatorengerichtsbarkeit entzogen. In bürgerlichen Streitsachen sollte es dem Empfänger eines Konservatoriums nicht erlaubt sein, jemanden vor seinen Konservatoren vor Gericht zu ziehen. Ein wichtiger Beschwerdepunkt war in der Vergangenheit das Fehlen der Möglichkeit, den Konservator wegen Befangenheit89 abzulehnen. Ihm wurde jetzt Rechnung getragen. Wenn in den Sachen, in denen der Empfänger eines Konservatoriums selbst beklagt wird, der von ihm gewählte Konservator als befangen bezeichnet wird oder wenn zwischen dem Konservator und dem ordentlichen Richter ein Streit über die Zuständigkeit entsteht, darf in dem Verfahren nicht fortgefahren werden, bis durch rechtmäßig gewählte Schiedsrichter90 ein Urteil über die Befangenheit oder über die Zuständigkeit ergangen ist. Ein altbekannter Streitpunkt war die uferlose Ausdehnung der Personen, die in den Genuß der Konservatorien gelangen wollten. Die Konservatorien dürfen nach dem Konzil von nun an nicht auf die Hausgenossen des Empfängers ausgedehnt werden, zwei ausgenommen, die von ihm unterhalten werden. Auch mit der Frist, für die Konservatorien ausgestellt wurden, beschäftigte sich das Konzil von Trient. Die 87 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Dritter Band, Bearb. von Adolf Wrede (= Deutsche Reichstagsakten jüngere Reihe 3. Bd.), Gotha 1901, 652 f. Nr. 110. 88 Sess. 14 de ref. can. 5 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta 715 f.). 89 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 320. 90 X 1, 43; VI 1, 22. Vgl. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 321; A. Amanieu, Arbitrage: DDC I, 1935, 862 – 895; derselbe, Arbitrateur: ebenda I, 895 – 900; derselbe, Arbitre: ebenda I, 900 f.
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Laufzeit der Konservatorien darf künftig fünf Jahre nicht überschreiten. Die Konservatoren dürfen nicht ein eigenes ständiges Gericht unterhalten. Sie müssen sich also entweder der normalen Gerichtsorganisation bedienen oder sich von Fall zu Fall mit dem erforderlichen Personal versehen. In Sachen des Lohnes und der elenden Personen bleibt es bei dem früheren Dekret derselben Synode91. Am Schluß wurde eine bedeutsame Ausnahme von den Einschränkungen des Konservatoreninstituts festgesetzt. Allgemeine Universitäten und Kollegien von Lehrern und Schülern sowie Plätze der Regularen und in Betrieb befindliche Spitäler ebenso wie Personen dieser Universitäten, Kollegien, Plätze und Spitäler werden von diesem Canon nicht erfaßt; sie bleiben exemt. Der weiteren Geschichte des Konservatorenwesens braucht hier nicht nachgegangen zu werden92. 2. Kapitel: Konservatoren der Universitäten Für die Aufstellung von Konservatoren boten die mittelalterlichen Universitäten93 in mehrfacher Hinsicht ein dankbares Feld. Einmal waren sie eine empfindliche und darum schutzbedürftige Einrichtung. Sodann besaßen sie zahlreiche Privi91
Sess. 7 de ref. c. 14. Zu der Entwicklung der Konservatoren nach dem Konzil von Trient vgl. Canones et Decreta Concilii Tridentini ex Editione Romana A. MDCCCXXXIV repetiti, Accedunt S. Congr. Card. Conc. Trid. Interpretum Declarationes ac Resolutiones, Assumpto Socio Friderico Schulte edidit Aemilius Ludovicus Richter, Leipzig 1853, 89 – 91. 93 Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, 7 Bde., 2. Aufl., Heidelberg 1834 – 1851, Neudruck Darmstadt 1956; Johann Friedrich Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg, hrsg. von Karl Alexander Freiherrn v. Reichlin-Meldegg, 2 Bde., Mannheim 1862/64; Theodor Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland, Jena 1876; Hermann Bressler, Die Stellung der deutschen Universitäten zum Baseler Konzil und ihr Anteil an der Reformbewegung in Deutschland während des fünfzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1885; Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, 2 Bde., Stuttgart 1888/96; Friedrich Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland, Leipzig 1891; Hastings Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, A new Edition in three Volumes edited by F. M. Powicke and A. B. Emden, Oxford 1936; Pearl Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages, The Rights, Privileges and Immunities of Scholars and Universities at Bologna, Padua, Paris and Oxford, London 1961; Klaus Wriedt, Die deutschen Universitäten in den Auseinandersetzungen des Schismas und der Reformkonzile (1378 – 1449), Kirchenpolitische Ziele und korporative Interessen, Teil I: Vom Ausbruch des Schismas bis zu den Anfängen des Konzils von Basel (1378 – 1432), Hab.Schrift Kiel, Kiel 1972; Jacques Verger, Les universités au Moyen Age (= L’historien 14), Paris 1973; Helmut Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 1. Bd. Mittelalter (1100 – 1500), Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, München 1973, 39 – 128; Alan B. Cobban, The Medieval Universities: their development and organization, London 1975; Helmut Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 2. Bd. Neuere Zeit (1500 – 1800), Das Zeitalter des gemeinen Rechts, 1. Teilbd. Wissenschaft, München 1977, 3 – 102; The Universities in the late middle ages, ed. by Jozef Ijsewijn and Jacques Paquet (= Mediaevalia Lovaniensia Series I/Studia VI), Leuven 1978; Jacques Verger (Hrsg.), Histoire des universités en France, Toulouse 1986. 92
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legien, die manchen Personen ein Dorn im Auge waren und daher nach Erhaltung und Verteidigung riefen. Der Notwendigkeit, die Universitäten zu schirmen, kam die Geneigtheit der Päpste, sie zu begünstigen und zu sichern, entgegen. So erklärt es sich, daß die meisten Universitäten ihre Rechte und Privilegien durch Konservatoren bewahren ließen. Aus dem reichen Material seien im Folgenden einige Beispiele ausgewählt. I. Italien Bologna gilt als die älteste Universität Italiens und Europas94. Neben die im 12. Jahrhundert aufblühende Schule der Legisten trat bald jene der Kanonisten. So erwarb sich die Hochschule den Ruf einer Juristenuniversität. In Bologna wurden Geistliche als Konservatoren zum Schutz der Privilegien der Universität ernannt95. 1310 waren Konservatoren der Erzbischof von Ravenna sowie die Bischöfe von Ferrara und Parma, 1322 und 1326 der Bischof von Bologna. Savigny meint, an der Universität Bologna seien die Konservatoren keine dauernde Einrichtung gewesen96. Für Pavia97 bestellte Papst Eugen IV. am 22. April 1438 die Bischöfe von Como und Vercelli sowie den Abt des Klosters St. Petrus in Celo aureo zu Pavia zu Konservatoren des Collegium Castiglioni98. II. Frankreich An den zahlreichen französischen Universitäten99 waren Konservatoren die Regel. Die Universität Paris100 hatte sowohl päpstliche als auch königliche Kon94
Heinrich Denifle, Die Statuten der Juristen-Universität Bologna vom J. 1317 – 1347, und deren Verhältnis zu jenen Paduas, Perugias, Florenz: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 3, 1887, 196 – 397; Rudolf Leonhard, Die Universität Bologna im Mittelalter, Vortrag, Leipzig 1888; Chartularium Studii Bononiensis, Documenti per la storia dell’Università di Bologna dalle origini fino al secolo XV, 5 Bde., Bologna 1909 – 21; Albano Sorbelli, Il ,,Liber Secretus Iuris Caesarei“ dell’Università di Bologna, Vol. I: 1378 – 1420 (= Universitatis Bononiensis Monumenta Vol. II), Bologna 1938; Carlo Calcaterra, Alma Mater Studiorum, L’Università di Bologna nella storia della cultura e della civiltà, Bologna 1948. 95 Regestum Clementis Papae V, 5. Bd., Rom 1887, 51 f. Nr. 5272 (10. März 1310); Rashdall, The Universities of Europe I, 167 A. 3. 96 Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III, 204. 97 Memorie e Documenti per la storia dell’Università di Pavia e degli uomini più illustri che v’insegnarono, 3 Tle. (= Athenaeum 12), Pavia 1877/78; Codice Diplomatico dell’Università di Pavia, hrsg. von Rodolfo Maiocchi (= Athenaeum 13), Pavia 1905 – 15; L. Franchi (Hrsg.), Statuti e Ordinamenti della Università di Pavia dall’anno 1361 all’anno 1859, Raccolti e pubblicati nell’XI centenario dell’Ateneo, Pavia 1925; Plinio Fraccaro, L’università di Pavia, Küssnacht am Rigi o. J.; Pietro Vaccari, Storia delle Università di Pavia, 3. Aufl., Pavia 1982. 98 Maiocchi, Codice Diplomatico II/1, 384 – 386 Nr. 510. 99 Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages I, Reg. 100 Henricus Denifle/Aemilius Chatelain (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis, T. I, Paris 1899, Neudruck: Brüssel 1964; Liber Procuratorum Nationis Alemanniae in Uni-
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servatoren101. Am 18. April 1231 wurden der Erzbischof von Reims und der Bischof von Amiens sowie der einstige Reimser Archidiakon Hugo von Burgund beauftragt, die Rechte der Lehrer und Studenten der Universität Paris zu schützen102. Am 12. Juni 1237 wurden der Erzbischof von Reims, der Bischof und der Dekan von Amiens angewiesen, die Freiheiten der Universität Paris zu schirmen103. Am 23. Oktober 1246 gab Papst Innozenz IV. dem Erzbischof von Reims und dem Bischof und Dekan von Senlis die Vollmacht, die Universität zu schützen und ihre Privilegien zu sichern104. Daneben her ergingen noch spezielle Schutzmandate. Im Jahre 1252 wurde dem Bischof von Senlis aufgetragen, zu verhindern, daß die Lehrer und Studenten außerhalb von Paris vor Gericht gezogen105 oder mit kirchlichen Zensuren belegt106 würden, und dafür zu sorgen, daß ihre Befreiung von Zöllen beachtet werde107. Die Statuten der Universität Bordeaux vom 15. März 1443 sahen die Bestellung von drei Konservatoren durch den Papst und einen durch den König vor108. Das Bestellungsschreiben der königlichen Konservatoren für die Universität Bordeaux aus dem Jahre 1473 berief sich an mehreren Stellen auf das Vorbild von Toulouse, wo der Seneschall des Königs zum conservator seu judex ernannt war109. Am 19. Mai 1439 bestellte Eugen IV. die Bischöfe von Lisieux und Coutances zu Konservatoren der Universität Caen110. Die Universität Valence erfreute sich vom versitate Parisiensi, ediderunt Carolus Samaran/Aemilius A. Van Moé/Susanna Vitte, Tomus III (= Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis Tomus III), Paris 1935; Liber Procuratorum Nationis Anglicanae (Alemanniae), ediderunt Henricus Denifle/Aemilius Chatelain, Tomus I (= Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis Tomus I), Paris 1937; Liber Procuratorum Nationis Picardiae in Universitate Parisiensi, ediderunt Carolus Samaran/Aemilius A. Van Moé, Tomus unicus (= Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis Tomus IV), Paris 1938; Liber Procuratorum Nationis Gallicanae (Franciae) in Universitate Parisiensi, ediderunt Carolus Samaran/Aemilius A. Van Moé, Tomus unicus (= Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis Tomus V), Paris 1942; Liber Receptorum Nationis Anglicanae (Alemanniae) in Universitate Parisiensi, ediderunt Astricus L. Gabriel/Gray C. Boyce, Tomus unicus (= Auctarium Chartularii Universitatis Parisiensis Tomus VI), Paris 1964; Gordon Leff, Paris and Oxford Universities in the thirteenth and fourteenth centuries, An Institutional and Intellectual History, New York 1968. 101 Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages 101, 119, 120, 122, 127, 137, 142 – 145, 150, 165 – 166, 189, 201, 210 – 211, 216, 239, 263, 358, 360 – 361, 382 – 383, 397 (päpstl. Priv.); 148, 151, 159, 170, 172, 173, 201, 359 (kgl. Priv.). 102 Denifle/Chatelain, Chartularium I, 142 Nr. 85. 103 Ibid. 159 Nr. 112. 104 Ibid. 193 Nr. 163. 105 Ibid. 235 Nr. 208. 106 Ibid. 236 Nr. 210. 107 Ibid. 237 Nr. 212. 108 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises III, 340 – 345, hier 344 (§ 80). Vgl. Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm 60. 109 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises III, 345 – 346 Nr. 1772. 110 Ibid. 151 – 152 Nr. 1651.
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König111 und vom Papst bestellter Konservatoren112. Die Universität Bourges hatte einen königlichen Konservator zum Schutz der königlichen Privilegien113. Papst Martin V. ernannte 1421 für die Universität Montpellier drei Konservatoren, die sich Vertreter bestellen durften114. In Orléans bestellte der König zwei Beamte als Konservatoren der Universität115. Aber auch der Papst ernannte einen Bischof zum Konservator116. Johannes XXIII. bestellte am 6. September 1413 den Abt des Andreasklosters sowie den Dompropst und den Dekan des Petersstiftes in Avignon zu Konservatoren der dortigen Universität117. Innozenz VI. gewährte am 19. Dezember 1360 drei Konservatoren der Privilegien des Kollegs Sankt Martialis in Toulouse118. Am 21. März 1365 bestellte Urban V. für fünf Jahre drei Konservatoren der ganzen Universität Toulouse119. Die Hochschule hatte auch einen königlichen Schützer (gardiator specialis)120. Später wurde der königliche Schutz noch beträchtlich verstärkt121. III. Spanien Die spanischen Universitäten122 erhielten trotz des starken Einflusses der Krone päpstliche Konservatoren. Am 8. Juni 1412 versuchte Benedikt XIII., Konservatoren für die Universität von Perpignan123 zu bestellen. Wohl die bedeutendste spa-
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Ibid. 378 – 379 (Nr. 1826, 8. Mai 1467); 381 – 382 (Nr. 1834, 15. März 1476). Ibid. 384 – 385 (Nr. 1837, 17. November 1487); 411 – 412 (Nr. 1849, 17. Juni 1495). 113 Ibid. 413 – 414 (Nr. 1850, Dezember 1463). Vgl. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III, 408. 114 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises II, 184 – 186 (Nr. 1089, 17. Dezember 1421). Vgl. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III, 388. 115 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises I, 56 – 57 (Nr. 64, April 1320); 66 (Nr. 75, 3. Januar 1321); 80 – 81 (Nr. 88, 20. April 1327). Vgl. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III, 403. 116 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises I, 123 (Nr. 168, 20. Mai 1366). 117 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises II, 381 – 382 Nr. 1289. Vgl. Coing, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm 60. 118 Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises I, 597 – 598 (Nr. 650); 600 (Nr. 657, 30. Dezember 1362); 621 – 622 (Nr. 679, 10. Juni 1369); 622 – 623 (Nr. 682, 19. Juli 1370); 685 – 686 (Nr. 726, 8. April 1393); 691 – 692 Nr. 733, 28. Januar 1395). 119 Ibid. 610 – 611 (Nr. 668). 120 Ibid. 497 (Nr. 552, Februar 1324). 121 Ibid. 681 –683 (Nr. 721, 24. September 1392); 684 –685 (Nr. 723, 17. Oktober 1392). 122 Vicente de la Fuente, Historia de las universidades, colegios y demas establecimientos de enseñanza en España, 4 Bde., Madrid 1884 – 1889; C. M. Ajo G. Y Sáinz de Zúñiga, Historia de las universidades hispanicas, Origenes y desarrollo desde su aparición hasta nuestros días, 3 Bde., Madrid 1957 – 1959. 123 Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 530 f. 112
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nische Universität war die von Salamanca124. Martin V. gewährte am 22. Dezember 1421 dem Kolleg des hl. Bartholomaeus in Salamanca ein Konservatorium für die Dauer von 15 Jahren (statt des erbetenen immerwährenden) und für sechs Tagereisen Entfernte (statt der erbetenen 12 Tagereisen)125. Am 24. Februar 1432 ernannte Eugen IV. päpstliche Konservatoren für die Universität Salamanca126. Das Konservatorium wurde ohne zeitliche Begrenzung, also als conservatorium perpetuum ausgestellt127. Als Konservatoren wurden die Bischöfe von Toledo und León sowie der Scholaster der Kirche von Salamanca eingesetzt. Daneben gab es königliche Konservatoren128. Paul II. ernannte am 24. Oktober 1464 Konservatoren für das Generalstudium von Huesca129. Auch die Universität Valladolid erfreute sich des Schutzes päpstlicher Konservatoren. Die Bulle Martins V. für ihre Bestellung vom 30. Dezember l4 l7130 stimmt mit jener für Erfurt überein. Am 7. Dezember 1446 ernannte Eugen IV. päpstliche Konservatoren für die Universität Valladolid131. Leo X. fügte ihnen am 8. Dezember 1514 noch einen besonderen Auditor hinzu132. Alexander VI. bestellte am 23. Januar 1501 Konservatoren für die Universität Valencia133. Julius II. ernannte am 12. Juli 1505 Konservatoren für das Generalstudium in Sevilla134. Am 23. Juli 1512 berief er Konservatoren für die Universität Alcalá135.
124 Vicente Beltran de Heredia, Bulario de la Universidad de Salamanca (1219 – 1549), 2 Bde. (= Acta Salmanticensia, Historia de la Universidad 12 und 13), Salamanca 1966; Enrique Esperabé Arteoga, Historia …, Salamanca 1914, 1917. 125 Beltran de Heredia, Bulario II, 175 Nr. 643. 126 Ibid. 356 – 358 Nr. 838; de la Fuente, Historia de las universidades I, 325 – 328 Nr. 27. Das Datum 1431 kann nicht stimmen, weil Eugen erst am 3. März 1431 zum Papst gewählt wurde. Vgl. Ajo, Historia de las universidas hispanicas I, 560 f. 127 Beltran de Heredia, Bulario I, 122 f. 128 Heinrich Denifle, Urkunden zur Geschichte der mittelalterlichen Universitäten: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 5, 1889, 167 – 348, hier 167 – 225, vor allem 186; Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 221 – 229, 257 – 265, 337 – 354, 447 f. 129 De la Fuente, Historia de las universidades I, 338 – 340 Nr. 33; Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 587 f. 130 Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 539 – 541. 131 Ibid. 576 f. 132 Ibid. 418 f. 133 De la Fuente, Historia de las universidades I, 351 – 354 Nr. 39; Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 380 f. 134 Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 392 f. 135 De la Fuente, Historia de las universidades II, 565 – 570 Nr. 17; Ajo, Historia de las universidades hispanicas I, 414.
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IV. England Die Universität Oxford136 erhielt 1254 die Bischöfe von London und Salisbury als Konservatoren. Die Ernennung wurde 1281 erneuert137. Bonifaz IX. erließ 1395 eine Bulle, die die Universität Oxford von der Gewalt aller Erzbischöfe und Bischöfe ausnahm138. V. Deutschland Auch an den relativ spät gegründeten deutschen Universitäten war das Institut der Konservatoren wohl überall eingeführt139. Die Universität Prag140 geht auf das Jahr 1344 zurück. Angeblich erhielt sie bereits unter Karl IV. ein Konservatorenprivileg für gewisse Zeit. Papst Urban VI. verlieh es ihr im Jahre 1383 von neuem, diesmal für 20 Jahre. Zu Konservatoren ernannte er den Mainzer Dompropst, den Breslauer Domdechanten und den Dekan von Allerheiligen im Prager Schloß141. Papst Bonifaz IX. erteilte der Universität Prag im Jahre 1397 ein neues Konservatorium. Statt des für dauernd gewährten, das sie gewünscht hatte, befristete er es auf 25 Jahre. Gleichzeitig durften die Beklagten bis zu drei Tagereisen über die Grenze ihrer Diözese belangt werden142. Die Kosten für zwei Prager Bullen, die das Konservatorium und die Benefizien betrafen, beliefen sich im Jahre 1397 auf 101 Goldgulden143. Die sächsische Nation, welche die zahlenmäßig größte in Prag war, hielt sich für benachteiligt, weil keiner der Konservatoren seinen Sitz in ihrer Heimat hatte. Nach längeren Verhandlungen einigte man sich dahin, daß der sächsischen Nation von jedem der drei Konservatoren zwei Subkonservatoren zugestanden wurden, die an bestimmten sächsischen Orten ihren Sitz haben sollten144.
136 Charles Edward Mallet, A History of the University of Oxford, 3 Bde., London 1924/ 27, Nachdruck New York/London 1968; Strickland Gibson (Hrsg.), Statuta Antiqua Universitatis Oxoniensis, Oxford 1931. 137 Mallet, A History of the University of Oxford I, 49; Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages III, 115 f.; Kibre, Scholarly Privileges in the Middle Ages 274. 138 Mallet, A History of the University of Oxford I, 168. 139 Nachweise für die päpstliche Bestellung von Konservatoren an deutschen Universitäten bei Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 68. 140 Anton Dittrich/Anton Spirk (Hrsg.), Statuta Universitatis Pragensis (= Monumenta Historica Universitatis Pragensis T. III), Prag 1848; Wenzel Wladiwoj Tomek, Geschichte der Prager Universität, Zur Feier der fünfhundertjährigen Gründung derselben, Prag 1849; Historia Universitatis Carolinae Pragensis, 2 Bde., Prag 1960/61; Guido Kisch, Die Prager Universität und die Juden, 1348 – 1848, Mit Beiträgen zur Geschichte des Medizinstudiums, Amsterdam 1969. 141 Tomek, Geschichte der Prager Universität 53 f. 142 Ibid. 56. 143 Ibid. 57. 144 Dittrich/Spirk, Statuta Universitatis Pragensis 33 – 35; Tomek, Geschichte der Prager Universität 58.
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Die Universität Wien145 besaß einen herzoglichen Konservator ihrer Privilegien . Johann XXIII. bestellte am 17. August 1411 auf die Dauer von 25 Jahren die Bischöfe von Regensburg und Olmütz sowie den Abt des Wiener Schottenklosters gemeinsam und gleichzeitig jeden für sich allein oder durch einen Delegierten zu Konservatoren der Privilegien der Wiener Universität147. Das Konzil von Basel ernannte am 21. Mai 1434 den Bischof von Regensburg, den Wiener Dompropst und den in Wien residierenden Offizial des Bischofs von Passau zu Konservatoren. Das Privileg wurde ohne zeitliche Beschränkung, also für alle Zeit, ausgestellt148. Für die Universität Köln149 wurden 1389 drei Konservatoren bestellt150. Man wählte sie aus jenen Gegenden, aus denen die meisten Studenten kamen151. In Köln führten die langjährigen Bemühungen, den Rektor der Universität ebenfalls zum Träger der Konservatorialberechtigung zu machen, im Jahre 1508 zum Erfolg152. 146
Für die Universität Heidelberg153 stellte Papst Urban VI. am 13. Oktober 1385 das Privileg aus154, das am 24. Juni 1386 ausgehändigt wurde. Die Universität 145 Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, 2 Bde., Wien 1854; Joseph Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, 3 Bde., Wien 1865 – 1888; Karl Schrauf, Studien zur Geschichte der Wiener Universität im Mittelalter, Wien 1904; Franz Gall, Alma Mater Rudolphina 1365 – 1965, Die Wiener Universität und ihre Studenten, 3. Aufl., Wien 1965. 146 Aschbach, Geschichte der Wiener Universität I, 39, 158, 187, 197, 211, 225. 147 Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität II, 238 – 242 Nr. 19; Aschbach, Geschichte der Wiener Universität I, 250 f. 148 Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität II, 278 f. Nr. 29; Aschbach, Geschichte der Wiener Universität I, 267. Am 12. Juli 1513 bestellte Papst Leo X. den Bischof von Olmütz sowie die Äbte von Melk und Heiligenkreuz zu Konservatoren der Wiener Universität (Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität I, 1, 152 A. 181; II, 327 Nr. 50). 149 Franz Joseph von Bianco, Die alte Universität Köln und die spätern Gelehrten-Schulen dieser Stadt, 1. Theil, Erste Abtheilung: Die alte Universität Köln, Köln 1855; Hermann Keussen, Die Stadt Köln als Patronin ihrer Hochschule von deren Gründung bis zum Ausgange des Mittelalters: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 10, 1891, 63 – 104; derselbe, Die alte Universität Köln, Grundzüge ihrer Verfassung und Geschichte (= Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins 10), Köln 1934; Erich Meuthen, Die alte Universität (= Kölner Universitätsgeschichte Bd. I), Köln/Wien 1988; Willehad Paul Eckert, Köln, II. Universität: TRE XIX, 1990, 301 – 305. 150 Bianco, Die alte Universität Köln I, 119 – 122, 152 – 154; Keussen, Die alte Universität Köln 7; Meuthen, Die alte Universität 67 f. 151 Keussen, Die Stadt Köln 79 f. 152 Keussen, Die alte Universität Köln 13. 153 Eduard Winkelmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Universität Heidelberg, 2 Bde., Heidelberg 1886; August Thorbecke, Die älteste Zeit der Universität Heidelberg 1386 – 1449 (= Geschichte der Universität Heidelberg Abt. I), Heidelberg 1886; Peter Moraw/Theodor Karst, Die Universität Heidelberg und Neustadt an der Haardt (= Veröffentlichungen zur Geschichte von Stadt und Kreis Neustadt an der Weinstraße 3), Speyer 1963; Hermann Weisert, Die Verfassung der Universität Heidelberg, Überblick 1386 – 1952 (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jg. 1974 2. Abhandlung), Heidelberg 1974; Semper apertus, Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 – 1986, Festschrift in sechs Bänden, Bd. I. Mittelalter und frühe
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wurde am 1. Oktober 1386 von Kurfürst Ruprecht I. (1353 – 1390) gegründet155. Am 2. Januar 1387 ordnete Urban VI. die Bestellung von Konservatoren für Heidelberg an, die aber zunächst unterblieb; erst Bonifaz IX. nahm sie am 9. November 1389 vor156. Die Universität Heidelberg besaß seitdem drei Konservatoren. Es waren ursprünglich die Dekane der Konstanzer Domkirche, der Kölner Andreaskirche und des Marienstiftes in Neustadt a. d. Hardt, später der letztere, der Dekan des Mainzer Viktorstiftes und der Abt von Schönau. Der Dekan von Neustadt scheint praktisch die Arbeit geleistet zu haben, sofern er sich nicht durch Subkonservatoren vertreten ließ157. In geringem zeitlichen Abstand von der Gründung der Universität Erfurt wurde die Universität Würzburg errichtet158. Papst Bonifaz IX. genehmigte am 10. Dezember 1402 ihre Konstituierung159. Am 4. Januar 1406 beauftragte sein Nachfolger, Papst Innozenz VII., den Bischof von Augsburg, den Domdekan von Mainz und den Dekan des Stiftes Haug bei Würzburg mit dem Schutz der neuen Hochschule160, d. h. er bestellte Konservatoren für sie mit demselben Formular, wie es Bonifaz IX. für Erfurt verwandt hatte. Zu beachten ist, daß man sich in Würzburg an die römische Observanz hielt. Die Universität Leipzig161 entstand auf eigenartige Weise, nämlich nicht durch die Stiftung eines Fürsten. Die Neugründung wandte sich an die Päpste der Pisaner
Neuzeit, 1386 – 1803, Hrsg. von Wilhelm Doerr in Zusammenarbeit mit Otto Haxel/Karlheinz Misera/Hans Querner/Heinrich Schipperges/Gottfried Seebaß/Eike Wolgast, Heidelberg 1985. 154 Winkelmann, Urkundenbuch der Universität Heidelberg I, 3 – 5. 155 Ibid. 5 – 11 Nr. 4 – 8. 156 Ibid. 46 – 48 Nr. 26. Vgl. Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg I, 149 f.; Thorbecke, Die älteste Zeit der Universität Heidelberg 20, 24, 46, 40*. 157 Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität, Ein Stück deutscher Geschichte, 1. Bd. Das Mittelalter (1386 – 1508), Heidelberg 1936, 110 – 113. 158 Franz Xaver von Wegele, Geschichte der Universität Würzburg, 2 Bde., Würzburg 1882; C. Braun, Geschichte der Heranbildung des Klerus in der Diöcese Würzburg seit ihrer Gründung bis zur Gegenwart, 2 Bde., Mainz 1897. 159 Wegele, Geschichte der Universität Würzburg II, 4 – 5 Nr. 2. 160 Ibid. 6 – 8 Nr. 3. 161 K. Fr. von Posern-Klett (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Leipzig I. Bd. (= Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 2. Haupttheil VIII. Bd.), Leipzig 1868; derselbe, Urkundenbuch der Stadt Leipzig II. Bd. (= Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 2. Haupttheil IX. Bd.), Leipzig 1870; Bruno Stübel (Hrsg.), Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555 (= Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae XI. Bd.), Leipzig 1879; Gustav Wustmann (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Leipzigs, Veröffentlichungen aus dem Archiv und der Bibliothek der Stadt Leipzig, 2 Bde., Leipzig 1889/95; Joseph Förstemann (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Leipzig III. Bd. (= Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 2. Haupttheil X. Bd.), Leipzig 1894; Gustav Wustmann, Geschichte der Stadt Leipzig, Bilder und Studien, 1. Bd., Leipzig 1905; Karl-Marx-Universität Leipzig, 1409 – 1959, Beiträge zur Universitätsgeschichte, 1. Bd., Leipzig 1959; Herbert Helbig, Universität Leipzig (= Mitteldeutsche Hochschulen Bd. 2),
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Observanz. Am 19. Dezember 1409 beauftragte Alexander V. den Bischof von Merseburg sowie die Domdekane von Merseburg und Naumburg, die neue Universität vor ihren Feinden zu schützen, d. h. er bestellte sie zu Konservatoren162. Sie haben nachweislich ihren Dienst versehen163. Wie an den meisten Orten fanden sich auch hier Subkonservatoren164. In einem aufschlußreichen Streitfall aus dem Jahre 1443 bezeichnete die Universität den Merseburger Bischof aus gegebenem Anlaß als cancellarium et conservatorem iurium et privilegiorum non autem iudicem dictae universitatis.165 Die Universität Löwen166 wurde 1425 gegründet. Die Genehmigungsbulle Martins V. trägt das Datum des 9. Dezember 1425. Am 5. September 1426 bestellte dieser Papst Konservatoren für die Universität Löwen167. Es ist bemerkenswert, daß die Universität Löwen nach dem Bruch des Baseler Konzils mit dem Papst zu diesem hielt. Paul V. gestattete im Jahre 1469 den Mitgliedern der Universität, in erster Instanz jedermann vor den Konservatoren zu belangen168. Die Universität Freiburg im Breisgau169 erhielt am 2. Dezember 1491 drei päpstliche Konservatoren170. Die Universität Wittenberg171 wurde 1502 errichtet. Frankfurt a. M. 1961; Karlheinz Blaschke/Walther Haupt/Heinz Wiessner, Die Kirchenorganisation in den Bistümern Meissen, Merseburg und Naumburg um 1500, Weimar 1969. 162 Stübel, Urkundenbuch der Universität Leipzig 5 – 7. 163 Ibid. 19 Nr. 12 (14. April 1420); 58 f. Nr. 42 (13. Juli 1443); 65 Nr. 50 (23. Mai 1445). 164 Ibid. 41 Nr. 32 (19. Januar 1442); 80 Nr. 63 (19. März 1446). 165 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig II, 197 – 199 Nr. 219. 166 Privilegia academiae lovaniensis per summos pontifices et supremos Belgii principes concessa, Louvain 1728; E. Reusens, Documents relatifs à l’histoire de l’université de Louvain (1425 – 1797), 5 Bde., Louvain 1886 – 1902; E. Reusens, Actes ou Procès-Verbaux des Séances tenues par le Conseil de l’Université de Louvain, 2 Bde., Brüssel 1903/19, I, 491 (Reg.); II, 382 (Reg.); Léon van der Essen, L’Université de Louvain (1425 – 1940), Brüssel 1945; F. Claeys Bouuaert, L’ancienne Université de Louvain, Études et Documents (= Bibliothique de la Revue d’histoire ecclésiastique Fasc. 28), Louvain 1956. 167 Privilegia academiae lovaniensis I, 31 – 35; Reusens, Documents relatifs à l’histoire de l’université de Louvain I, 53 – 57. Vgl. Claeys Bouuaert, L’ancienne Université de Louvain 31 f.; van der Essen, L’Université de Louvain 212 f.; Anton G. Weiler, Les relations entre l’université de Louvain et l’université de Cologne au XV siècle, in: The Universities in the late middle ages 49 – 81, hier 56. 168 Privilegia academiae lovaniensis I, 73 – 76. 169 Heinrich Schreiber, Geschichte der Stadt und Universität Freiburg im Breisgau I, Freiburg 1857; Freiburg und seine Universität, Festschrift der Stadt Freiburg im Breisgau zur Fünfhundertjahrfeier der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg o. J.; Die Albert-LudwigsUniversität Freiburg 1457 – 1957, I: Hans Detlef Rösiger, Der Wiederaufbau seit 1945, Freiburg i. Br. 1957; II: Die Festvorträge bei der Jubiläumsfeier, Freiburg i. Br. 1957; III: Gerd Tellenbach (Hrsg.), Die Ansprachen, Glückwünsche und Ehrungen bei der Jubiläumsfeier, Freiburg i. Br. 1961; darin: Clemens Bauer, Fünfhundert Jahre Freiburger Universität, in: Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg II, 125 – 152; Johannes Vincke (Hrsg.), Zur Geschichte der Universität Freiburg i. Br., Freiburg 1966; Remigius Bäumer, Freiburg im Breisgau, Universität: TRE XI, 1983, 484 – 486.
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Die Bestätigung durch Papst Julius II. erfolgte am 20. Juni 1507. Am 21. Dezember 1506 bestellte Julius II. die Bischöfe von Meißen und Brandenburg sowie den Abt des Klosters Saalfeld zu Konservatoren der neuen Universität172. Der Bischof von Brandenburg war der Ordinarius loci der Wittenberger Hochschule. Die Funktion des Konservators war mit dieser Stellung kaum zu vereinbaren. Daher bat die Universität am 12. Oktober 1513 den Papst, den Bischof von Brandenburg durch einen anderen zu ersetzen. Leo X. ernannte daraufhin den Propst des Moritzklosters in der Vorstadt von Naumburg zum Konservator173. Die angeführten Beispiele ausländischer und deutscher Universitäten zeigen, daß die Bestellung päpstlicher Konservatoren gang und gäbe war. Daß sämtliche Universitäten diese Einrichtung kannten174, dürfte nicht zutreffen. Johann Friedrich Hautz war jedenfalls der Ansicht, daß nicht allen Universitäten die ,,eigentlichen Conservatoren“ beigegeben waren175. Eine machtvolle Stellung besaßen sie nicht. Der Schutz, den sie zu gewähren beauftragt waren, wurde oft wenig wirksam. In den Kämpfen zwischen Städten und Universitäten fanden die letzteren ,,an ihren geistlichen Conservatoren nicht immer einen starken Rückhalt“176. Unrichtig ist dagegen die Behauptung: ,,Deutschland kennt nur ständige Conservatoren“177. Vielmehr wird zu zeigen sein, daß ihr Dienst in der Regel befristet war.
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Joachim Köhler, Die Universität zwischen Landesherr und Bischof, Recht, Anspruch und Praxis an der vorderösterreichischen Landesuniversität Freiburg (1550–1752) (= Beiträge zur Geschichte der Reichskirche in der Neuzeit Heft 9), Wiesbaden 1980, 201 – 207, hier 204; Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten II, 105. 171 Walter Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle a. S. 1917; derselbe (Hrsg.), Urkundenbuch der Universität Wittenberg I: 1502–1611, Magdeburg 1926. 172 Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg I, 13 f. Nr. 16; derselbe, Geschichte der Universität Wittenberg 29. 173 Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg I, 72 Nr. 51. 174 So Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten II, 104. 175 Hautz, Geschichte der Universität Heidelberg I, 68. 176 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 80. 177 Ibid. 68 A. 66.
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Hauptteil: Die Konservatoren der Universität Erfurt178 1. Abschnitt: Die Entstehung, die Entwicklung und das Ende der Erfurter Konservatoren 1. Kapitel: Von Bonifaz IX. bis Martin V. I. Die erstmalige Gewährung eines Konservatoriums Die Gründung der Universität Erfurt wurde durch den avignonesischen Papst Clemens VII. am 18. September 1379 bewilligt179, durch den römischen Papst 178
Just Christoph Motschmann, Erfordia literata oder Gelehrtes Erffurth, 1. Bd., Erfurt 1729 – 31; Carl Philipp Kopp, Ausführliche Nachricht von der älteren und neuern Verfassung der Geistlichen und Civil-Gerichten in den Fürstlich-Hessen-Casselischen Landen, 2 Tle., Cassel 1769/71; Konrad Stolles thüringisch-erfurtische Chronik, aus der Urschrift hrsg. von Ludwig Friedrich Hesse (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart XXXII), Stuttgart 1854, Neudruck: Amsterdam 1968; Franz Wilhelm Kampschulte, Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der Reformation, 2 Tle., Trier 1858/60; J. C. Hermann Weissenborn (Bearb.), Acten der Erfurter Universitaet, I. Theil (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 8. Bd.), Halle 1881; derselbe, Acten der Erfurter Universitaet, II. Theil (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 8. Bd.), Halle 1884; derselbe/Adalbert Hortzschansky (Bearb.), Acten der Erfurter Universitaet, III. Theil (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 8. Bd.), Halle 1899; Carl Beyer (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Erfurt, 2 Tle. (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 23. und 24. Bd.), Halle 1889/97; Friedrich Benary, Die Vorgeschichte der Erfurter Revolution von 1509, Ein Versuch: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 32, 1911, 1 – 129; Theodor Th. Neubauer, Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt Erfurt vor Beginn der Reformation, I. Teil: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 34, 1913, 1 – 78; derselbe, Zur Geschichte der mittelalterlichen Stadt Erfurt: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 35, 1914, 1 – 95; G. Arndt, Die kirchliche Baulast in dem ehemaligen Erfurtischen Gebiete: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 37, 1916, 1 – 84; Alfred Overmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster, 3 Tle. (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt Neue Reihe Bd. 5, 7 und 16), Magdeburg 1926, 1929, 1934; Erich Wiemann, Beiträge zur Erfurter Ratsverwaltung des Mittelalters: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 51, 1937, 37 – 152; 52, 1938, 1 – 104; Theodor Neubauer, Das tolle Jahr von Erfurt, Hrsg. Martin Waehler, Weimar 1948; Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters, Das Generalgericht zu Erfurt (= Erfurter Theologische Studien Bd. 2), Leipzig 1956; Horst Rudolf Abe, Die soziale Gliederung der Erfurter Studentenschaft im Mittelalter (1392 – 1521), I. Der Anteil der Geistlichkeit an der Erfurter Studentenschaft im Mittelalter (1392 – 1521), in: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt (1392 – 1816), Heft 8/1961, 5 – 38; Ulman Weiß, Die Kirchenpolitik des Erfurter Rates in Spätmittelalter und Frühbürgerlicher Revolution, Phil. Diss. Berlin (Ak. d. Wiss.), Berlin 1983 Masch.; Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis, 4 Bde. (= Erfurter Theologische Studien Bd. 14, 22, 42 und 47), I: 2. Aufl., Leipzig 1985; II: 2. Aufl., Leipzig 1992; III: 2. Aufl., Leipzig 1983; IV: 2. Aufl., Leipzig 1988; Willibald Gutsche (Hrsg.), Geschichte der Stadt Erfurt, Weimar 1986; Friedhelm Jürgensmeier, Das Bistum Mainz, Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 2. Bd.), Frankfurt a.M. 1988; Ulman Weiss, Die frommen Bürger von Erfurt, Die Stadt und ihre Kirche im
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Urban VI. am 4. Mai 1389 genehmigt180. Alsbald muß auch die Bitte um Ernennung von Konservatoren an den Heiligen Stuhl herangetragen worden sein181. Ebenso dürften die Namen der Personen, die für diese Aufgabe in Frage kamen, von der Universität vorgeschlagen worden sein. Am 15. April 1390 bestellte Papst Bonifaz IX. den Dompropst von Hildesheim sowie die Dechanten des St. Marien-Stifts in Erfurt und des St. Peters-Stifts in Jechaburg zu Konservatoren der Universität182. Die inhaltliche Analye des Dokumentes wird weiter unten erfolgen. Angesichts der zahllosen Fälschungen päpstlicher Privilegien äußerten die Empfänger häufig den Wunsch nach ausdrücklicher Beglaubigung derselben (Vidimierung)183. Zu diesem Zweck gingen sie regelmäßig besonders zuverlässige und/oder hochgestellte Personen an. So verfuhr man auch bei dem Konservatorenprivileg für die Erfurter Universität. Am 27. März 1398 vidimierte der Mainzer Erzbischof Johann II. (1397 – 1419) das Privileg Bonifaz’ IX.184 Damit war jedermann kundgetan, daß der Ordinarius loci der Universität Erfurt von der Aufstellung der Konservatoren Kenntnis genommen hatte und sie billigte. Diese Unterstützung war hochbedeutsam. Denn der Erzbischof von Mainz war seit der Bulle Bonifaz’ IX. vom 5. Juli 1396 Kanzler der Universität Erfurt185. Als solcher ließ er sich freilich regelmäßig durch den Vizekanzler vertreten. Die Ernennung einer Mehrheit, gewöhnlich einer Dreizahl von Konservatoren war üblich. Dadurch war zu hoffen, daß erforderlichenfalls wenigstens einer der Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Weimar 1988; Sönke Lorenz, Studium Generale Erfordense, Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters Bd. 34), Stuttgart 1989; Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 – 1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992. 179 Weissenborn, Acten I, 1 – 3. 180 Weissenborn, Acten I, 3 – 5. Vgl. Erich Kleineidam, Die Gründungsurkunde Papst Urbans VI. für die Universität Erfurt vom 4. Mai 1389, in: Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 – 1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 135 – 153. Über Urban VI. vgl. Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis zur Wahl Pius’ II., Martin V., Eugen IV., Nikolaus V., Kalixtus III. (= Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters 1. Bd.), Freiburg i. Br. 1925, 120 – 170. 181 Zu den Suppliken vgl. Thomas Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit (= Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen Bd. 2), Stuttgart 1986, 27 f.; derselbe, Die Kanzlei der Päpste der Hochrenaissance (1471 – 1527) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bd. 63), Tübingen 1986, 91 – 103; zu den Supplikenregistern vgl. Bruno Katterbach, Inventario dei Registri delle Suppliche, Città del Vaticano 1932. Über die Supplikenregister Bonifaz’ IX. vgl. Katterbach, Inventario dei registri delle suppliche 7 A. 1; Georg Erler, Ein Band des Supplikenregisters Bonifatius’ IX. in der Königlichen Bibliothek zu Eichstätt: Historisches Jahrbuch 8, 1887, 487 – 495. 182 StA Erfurt 0 – 0 XLV A Nr. 7; 0vermann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 443 Nr. 904. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 217. Der geringe zeitliche Abstand der ersten und der zweiten Urkunde zeigt die Zusammengehörigkeit von Universität und Konservatoren an. 183 Herde, Beiträge 85 f. 184 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 483 Nr. 974 185 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 36 f.
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Beauftragten für die Gewährung des angesuchten Schutzes zur Verfügung stand. Es ist zu beachten, daß in dem Schreiben Bonifaz’ IX. die drei Adressaten nicht mit ihrem Namen, sondern mit ihrer Würde bezeichnet wurden. Dies war ein Ausdruck dafür, daß nicht nur die im Augenblick der Ausstellung damit bekleideten Kleriker beauftragt wurden, sondern die jeweiligen Inhaber derselben. Die drei Ernannten gehörten verschiedenen Bistümern an, der Hildesheimer Dompropst der Diözese Hildesheim186, die zu der Kirchenprovinz Mainz gehörte, die beiden Dekane der Erzdiözese Mainz. Nur einer von ihnen hatte seinen Wohnsitz in Erfurt, der Dekan des Marienstiftes187. Der Dekan des Jechaburger Petersstiftes saß in einem kleinen Ort Thüringens188, der Hildesheimer Propst weit im Norden außerhalb des Mainzer Bistums. Als Hildesheimer Dompropst189 ist von 1383 bis 1396 nachweisbar Eckehard von Eldingen190. Eckehard empfing noch weitere Aufträge von Papst Bonifaz IX.191 Dechant des Erfurter St. Marien-Stiftes war damals Hermann von Bessingen, Dechant des Jechaburger St. Peter-Stiftes Henning von Salza. Hermann von Bessingen ist von 1380192 bis 1400193, Henning von Salza von 1377 bis 1400 als Dekan belegt194. Die Dekane der Stifter195 waren – als die Wächter über die Disziplin ihrer Korporation – regelmäßig rechtskundig. Dies dürfte ein Grund sein, weshalb sie mit einem Auftrag bedacht wurden, der Kenntnis des Rechts und Erfahrung im Umgang mit dem Recht voraussetzte. In den unzähligen Urkunden, mit denen Päpste Konservatoren bestellt haben, wurden die Dekane auffallend häufig herangezogen.
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H. A. Lüntzel, Geschichte der Diöcese und Stadt Hildesheim, 2 Tle., Hildesheim 1858; Adolf Bertram, Geschichte des Bistums Hildesheim, 3 Bde., Hildesheim 1899 – 1925; E. Plümer, Hildesheim: LMA V, 1991, 16 – 19. 187 Franz Peter Sonntag, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt von 1117 – 1400, Ein Beitrag zur Geschichte seiner Verfassung, seiner Mitglieder und seines Wirkens (= Erfurter Theologische Studien Bd. 13), Leipzig 1962; Josef Pilvousek, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt von 1400 bis 1555 (= Erfurter Theologische Studien Bd. 55), Leipzig 1988. 188 Wolfgang Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg, Grundzüge seiner Geschichte und Organisation (12.–16. Jahrhundert), Sondershausen 1932; Hans Patze (Hrsg.), Thüringen (= Handbuch der historischen Stätten 9. Bd.), Stuttgart 1968, 214 f. 189 Lüntzel, Geschichte der Diöcese und Stadt Hildesheim I, 300 –310; II, 33– 55, 496–532. 190 H. Hoogeweg (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, 6. Teil. 1370 – 1398 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Nieder-sachsens Bd. XXVIII), Hannover 1911, 1068 (Reg.). 191 Z. B.: Hoogeweg, Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim VI, 670 Nr. 1016; 676 f. Nr. 1026; 838 f. Nr. 1282; 870 Nr. 1344. 192 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 385 Nr. 811. 193 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 497 Nr. 994. Vgl. Sonntag, Das Kollegiatstift St. Marien zu Erfurt 160 – 164; Pilvousek, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt 148. 194 Gresky, Der thüringische Archidiakonat Jechaburg 90. 195 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 92 – 97.
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II. Die Bestellung von Subkonservatoren Henning von Salza fühlte sich auf die Dauer dem ihm gewordenen Auftrag nicht gewachsen. Am 23. November 1400 stellte er deshalb eine aufschlußreiche Urkunde aus196. Sie war gerichtet an den hohen und niederen Klerus der Diözesen Mainz, Magdeburg, Halberstadt, Naumburg, Merseburg, Havelberg, Paderborn, Hildesheim, Bamberg, Verden und Minden und griff mithin über die Kirchenprovinz Mainz weit in die Kirchenprovinz Magdeburg über. Vermutlich handelte es sich dabei um das Einzugsgebiet der Studenten der Universität Erfurt. Der Dekan teilte den genannten Personen die von ihm vidimierte Urkunde des Papstes Bonifaz IX. vom 15. April 1390 und deren Beglaubigung durch den Mainzer Erzbischof Johann vom 27. März 1398 mit. Darin bekannte Henning, daß er oft von Mitgliedern der Universität ersucht wurde, seines Dienstes als Konservator zu walten, daß er ihm jedoch wegen seiner Überhäufung mit Geschäften und aus gültigen anderen Gründen nicht nachkommen konnte. Aber da Gerechtigkeit herrschen müsse, bekundete er seine Absicht, den vorgenannten Personen, soweit sie dafür in Frage kamen und wann immer es erforderlich erschien, seine Stellvertretung zu übertragen, d. h. sie zu subdelegierten Konservatoren zu bestellen. Deswegen sprach er auch von seinem Schreiben als nostrae subdelegationis litterae. Dieser Vorgang war nichts Außergewöhnliches. Es begab sich an Universitäten häufig, daß päpstliche Konservatoren ihre Vollmachten an andere delegierten197. Für die Subdelegation kamen unter den Angesprochenen selbstverständlich nur jene Geistlichen in Frage, welche die Erfordernisse für die Entgegennahme einer päpstlichen Delegation erfüllten. Doch war die Unterrichtung der übrigen Kleriker nicht überflüssig; denn sie wurden zu allerlei Dienstleistungen bei der Ausübung der Konservatorengerichtsbarkeit benötigt, und darum mußten sie über die mögliche Weitergabe der Konservatorenbefugnisse informiert sein. Die Übertragung der Jurisdiktion, also die Subdelegation, erfolgte selbstverständlich nicht unmittelbar durch das erwähnte Schreiben Hennings; eine derartige uferlose Subdelegation wäre nicht gültig gewesen, weil sie der erforderlichen Bestimmtheit entbehrt hätte. Vielmehr wurde die Subdelegation nur im allgemeinen angekündigt; im Einzelfall mußten die Benennung und die Beauftragung einer bestimmten Person, aber eben aufgrund dieses Schreibens, erfolgen. Darum verwies Henning auf die Zukunft (prout requisiti fueritis seu aliquis vestrum requisitus fuerit). Wer dann ersucht werden würde, als Subdelegierter des Konservators tätig zu werden, dem übertrug er voll und ganz gemäß dem Wortlaut dieser Urkunde seine Stellvertretung. Ihre Grenzen bestimmten sich aus seinem Auftragsschreiben und dem allgemeinen Recht. Aber der Konservator entäußerte sich damit nicht seiner Vollmacht. Vielmehr behielt er sich volle Gewalt vor, die Stellvertretung gänzlich oder teilweise zurückzunehmen.
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DA Erfurt Nr. 838 (teilweise bei Overmann II, 500 Nr. 1001). Z. B.: Fournier, Les statuts et privilèges des universités françaises I, 685 – 686 (Nr. 726, 8. April 1393), 691 – 692 (Nr. 733, 28. Januar 1395). 197
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So war es im Dekretalenrecht vorgesehen198. Für die Folgezeit ist davon auszugehen, daß die Konservatoren vielfach, vielleicht sogar regelmäßig Subkonservatoren bestellten199. Für diese Fälle hinterlegten sie die entsprechende Vollmacht. Bei der Übernahme des Rektorates durch Johannes Reinboth (1506) ist erwähnt, daß er von seinem Vorgänger u. a. Instrumentum subdelegacionis conservatorii erhielt200. Diese Praxis zeigte sich schon bei dem nächsten Konservator. Der Dekan des Erfurter Marienstiftes Nikolaus Lubich201 folgte als Konservator seinem Vorgänger202. Er bestellte nun den Scholaster von St. Marien, Hermann Schindeleib, zum Subkonservator203. Es ist bezeichnend, daß dieser später Richter des Erfurter Generalgerichts wurde204. Die Heranziehung des Personals des Erfurter Gerichtshofes des Erzbischofs von Mainz zu Subkonservatoren lag nahe. Hier waren die rechtskundigen und erfahrenen Männer zu finden, deren die Konservatoren bedurften. Leider ist die vermutlich häufige Bestellung von Subkonservatoren aus den erhaltenen Quellen nur selten nachweisbar. Zu wenige einschlägige Dokumente haben sich erhalten. III. Die versuchte Umwandlung des Schottenklosters In jene Zeit fielen das Große Abendländische Schisma205, wo zwei oder gar drei Personen das päpstliche Amt für sich in Anspruch nahmen, und das Konzil zu Pisa206, wo die Kardinäle versuchten, der Kirche die verlorene Einheit zurückzu198
VI 1, 14, 6. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 220 A. 1172. 200 Liber receptorum I fol. 103v. 201 Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft 208 A. 1; Pilvousek, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien zu Erfurt 148 – 151; Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 46. 202 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 218; Schmiedel, Nikolaus Lubich 47. 203 DA Erfurt I Nr. 872 (27. März 1408) und I Nr. 824 (16. Dezember 1407). Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 46; Pilvousek, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien zu Erfurt 200 – 202. 204 May, Die geistliche Gerichtsbarkeit 97, 98 f. 205 Noël Valois, La France et le grand schisme d’Occident, 4 Bde., Paris 1896 – 1902; Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, Dritte Abteilung, 1406 – 1410, hrsg. von Julius Weizsäcker, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 6. Bd.), Göttingen 1956; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Erste Abteilung, 1410 – 1420, hrsg. von Dietrich Kerler, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 7. Bd.), Göttingen 1956; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Zweite Abteilung, 1421 – 1426, hrsg. von Dietrich Kerler, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 8. Bd.), Göttingen 1956; J. B. Villiger, Abendländisches Schisma: LThK I, 2. Aufl., 1957, 21 – 26; Gerd Tellenbach (Bearb.), Repertorium Germanicum II, Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Urbans VI., Bonifaz’ IX., Innocenz’ VII. und Gegors XII. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1378 – 1415 (= Repertorium Germanicum 2. Bd. 1. Lief.), Berlin 1961. 206 Mansi 26 – 27; Charles Joseph Hefele/Henri Leclercq, Histoire des Conciles VII, 1, Paris 1916, 1 – 69; Johannes Vincke, Briefe zum Pisaner Konzil, Bonn 1940; derselbe, Acta 199
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geben. Die Universität Erfurt verhielt sich angeblich gegenüber dem Pisaner Konzil ,,teilnahmslos“207. Doch weilte der Konservator Nikolaus Lubich mehrere Monate in Pisa208. Ob er dort auch die Erfurter Universität vertrat, ist nicht bekannt209. In jedem Falle hielt er sich zu der Pisaner Observanz. So suchte er nach seiner Wahl zum Bischof von Merseburg bei Johannes XXIII. um Bestätigung nach210. Der Erzbischof von Mainz war auf der Pisaner Versammlung mit einer fünfköpfigen Gesandtschaft vertreten211. Im Zusammenhang mit dem Konzil von Pisa steht eine Episode, die das Erfurter Schottenkloster St. Jakob212 betrifft. Seine Entstehung wird für etwa 1136 angesetzt213. Seine Geschichte war wechselvoll. Die Person seines Vorstehers sollte für die Universität Erfurt noch erhebliche Bedeutung gewinnen, insofern er zum Konservator ihrer Privilegien bestellt wurde. Um so merkwürdiger ist das Vorgehen der Stadt Erfurt gegenüber dem Schottenkloster, das in jene Zeit fällt. Es handelt sich dabei um ein Gesuch (petitio)214, das die Vertreter der Stadt Erfurt dem (Pisaner) Papst Johannes XXIII. überreichten. Der Antrag ging von den Bürgermeistern, dem
Concilii Pisani: Römische Quartalschrift 46, 1938, 81 – 331; derselbe, Schriftstücke zum Pisaner Konzil, Bonn 1942. 207 Dax, Die Universitäten und die Konzilien 9 A. 3. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 87 f. 208 Mansi 26, 1241 f. Vgl. Vincke, Schriftstücke zum Pisaner Konzil 181; derselbe, Briefe zum Pisaner Konzil 221; Schmiedel, Nikolaus Lubich 63 – 66. 209 Wriedt, Die deutschen Universitäten 69. 210 Schmiedel, Nikolaus Lubich 69 – 71, 140 f. 211 Mansi 27, 352. 212 Joseph Scholle, Das Erfurter Schottenkloster, Düsseldorf 1932; Ludwig Hammermayer, Neue Beiträge zur Geschichte des Schottenklosters St. Jakob in Erfurt: Jahrbuch für das Bistum Mainz 8, 1958 – 1960, 205 – 223; derselbe, Zur Geschichte der Schottenabtei St. Jacob in Regensburg, Neue Quellen aus schottischen Archiven: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 22, 1959, 42 – 76; derselbe, Marianus Brockie und Oliver Legipont – aus der benediktinischen Wissenschafts- und Akademiegeschichte des achtzehnten Jahrhunderts: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 71, 1960, 69 – 121; derselbe, Deutsche Schottenklöster, schottische Reformation, katholische Reform und Gegenreformation in West- und Mitteleuropa (1560 – 1580): Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 26, 1963, 131 – 255; Paul Mai, Das Schottenkloster St. Jakob zu Regensburg im Wandel der Zeiten, in: 100 Jahre Priesterseminar in St. Jakob in Regensburg, Regensburg 1971, 5 – 36; Ludwig Hammermayer, Die irischen Benediktiner – ,,Schottenklöster“ in Deutschland und ihr institutioneller Zusammenschluß vom 12. bis 16. Jahrhundert: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 87, 1976, 249 – 338. 213 Hammermayer, Zur Geschichte des Erfurter Schottenklosters St. Jakob 205 f.; Wolfgang Zahn, Schottenklöster, Die Bauten der irischen Benediktiner in Deutschland, Phil. Diss. Freiburg, Freiburg i. Br. 1967, 110 – 148. 214 StA Erfurt 0 – 0 A XLV Nr. 16. Vgl. Pitz, Supplikensignatur 3.
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Stadtrat und den Schöffen von Erfurt aus215. Sie machten den Vorschlag, das Schottenkloster mit allen Rechten und seinem gesamten Zubehör in ein Collegium216 umzuwandeln und dieses der Universität zum Gebrauch und zur Wohnung ihrer Doktoren und Magistri der vier Fakultäten zu überlassen. Die Notwendigkeit eines weiteren Kollegs wurde offensichtlich dringend verspürt. Die wachsende Zahl der Studenten und der Ausbau der Studieneinrichtungen machten solche Häuser erforderlich. In den Kollegien führten Lehrer und Schüler ein gemeinsames Leben; in ihnen wurde auch Unterricht erteilt217. Zur Begründung ihres Antrags führte die Stadt Erfurt an, daß das Schottenkloster infolge verschiedener unglücklicher Vorfälle (propter diversos casus sinistros) in äußersten Personalmangel geraten sei; allein der Abt sei in ihm übriggeblieben, und seit langem habe sich manchmal nur ein Mönch, gelegentlich sogar keiner darin befunden. Die jährlichen Einkünfte gingen über 20 Mark reinen Silbers218 nicht hinaus. Der Gottesdienst im Kloster und in der dazugehörigen Kirche werde daher vernachlässigt. Es bestehe keine Hoffnung, daß das Kloster in geistlicher und zeitlicher Hinsicht erneuert werde. Vielmehr stehe zu befürchten, daß es im Laufe der Zeit völlig eingehe (in se ipso deficiat), falls es nicht zu besserer Verwendung durch den Apostolischen Stuhl bestimmt werde. Dafür machten die Antragsteller jetzt einen Vorschlag. Es solle daraus ein Kolleg für zwölf oder mehr Personen werden, von denen einige Doktoren im kanonischen Recht und manche in der heiligen Theologie und einige Magistri in den freien Künsten und die übrigen in der Medizin sein sollten. Sie könnten in dem Kolleg als einem dazu geeigneten, angemessenen und offenkundig sehr nützlichen Ort wohnen und es leiten und sich dort in den genannten Wissenschaften betätigen und von den Einkünften des Kollegs unterhalten werden, wie es in den übrigen Kollegien der Doktoren und Magistri in den Fakultäten (wo sie leiten und sich betätigen) an anderen Orten, wo ein Generalstudium besteht, üblich sei. Die Absicht der Stadt Erfurt ist klar. Der Antrag der Bürgermeister, Ratsherren und Schöffen ging dahin, daß das Schottenkloster mit allen Rechten und allem Zubehör für das Kolleg bestimmt werde, also seine bisherige Zweckbestimmung aufgab und einer neuen zugeführt wurde. Die Worte quod exinde fiat lassen deutlich den Willen erkennen, das Kloster in ein Kolleg umzuwandeln, d. h. das Kloster aufzuheben und ein Kolleg zu errichten. Dasselbe ergibt sich aus den folgenden Worten pro huiusmodi Collegio deputare und donare. Daß dafür der Heilige Stuhl 215
Über die komplizierte Verwaltung von Mainz durch Ratsmeister, Vierherren und Ratskumpane vgl. Waehler in: Neubauer, Das tolle Jahr von Erfurt VII–X; Benary, Die Vorgeschichte 637. 216 Vgl. dafür Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 101 – 110. 217 Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten I, 291 – 301; II, 214 – 239; J. Verger, Collegium 2: LMA III, 1986, 39 – 41. 218 Ich vermute, daß die Mark hier als Gewichtseinheit zu verstehen ist. Die Kölnische Mark betrug 233, 855 g. Vgl. J. Leitzmann, Das Münzwesen und die Münzen Erfurts, Weißensee in Thüringen 1862, 2. Aufl., Bielefeld 1974, 18 f.
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angegangen wurde, war notwendig; denn für die Aufhebung des Klosters eines exemten Ordens war der Papst zuständig219. Das Schreiben ist als Supplik zu bezeichnen (fuit nobis humiliter supplicatum; eisdem supplicationibus inclinati)220. Die Suppliken wurden vom Heiligen Stuhl geprüft und entweder genehmigt oder abgelehnt. Für beide Vorgänge standen entsprechende Formeln zur Verfügung. Das Erfurter Schottenkloster muß damals in einem beklagenswerten Zustand gewesen sein. Es mangelte am notwendigsten, nämlich an Mönchen. Ein Vorsteher war vorhanden, aber ihm fehlten die Untergebenen. Die gottesdienstlichen Verpflichtungen konnten nicht mehr erfüllt werden. Die finanzielle Lage des Klosters war ebenfalls schlecht. Abt Rupert war im Jahre 1405 zum Vorsteher des Erfurter Schottenklosters gewählt worden und hatte die (im Namen des Mainzer Erzbischofs ausgesprochene) Bestätigung durch Ludwig von Binsforte221 gewonnen. Er wurde für die mißlichen Verhältnisse verantwortlich gemacht. Im Jahre 1408 war er von Abt und Kapitel des Regensburger Schottenklosters abgesetzt und nach Regensburg zurückberufen worden; die Verwaltung des Klosters hatte man den Erfurter Stadtbehörden (consulibus ac senatui) zeitweilig übertragen. Der abgesetzte Abt fand sich jedoch mit der ihm widerfahrenen Erniedrigung nicht ab und wandte sich hilfesuchend an die höchste Instanz der Kirche. Bezeichnenderweise hielt er dafür den Pisaner Papst. Man muß bedenken, daß das Konzil zu Pisa von weiten Teilen der Kirche beschickt und für rechtmäßig gehalten wurde. Auch der Konzilspapst Alexander V.222 wurde zunächst vom größeren Teil der Christenheit als legitim angesehen. Selbst Johannes XXIII. galt bis zu seiner Flucht aus Konstanz als anerkannter Papst. Die Universität Erfurt rechnete zur Pisaner Obödienz223. Auch der Erzbischof von Mainz erkannte Alexander V. an224. So ist es verständlich, daß sich 219
VI 3, 17, 1; 5, 6, 1; Clem. 3, 11, 1. Jakob Schwalm (Hrsg.), Das Formelbuch des Heinrich Bucglant, An die päpstliche Kurie in Avignon gerichtete Suppliken aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen aus der Hamburger Stadtbibliothek Bd. 2), Hamburg 1910, S. XXXIV–XXXVIII; Ursmer Berlière (Hrsg.), Suppliques de Clément VI (1342 – 1352), Textes et analyses (= Analecta Vaticano-Belgica Tome I), Rom/Brügge/Paris 1906; derselbe, Suppliques d’Innocent VI (1352 – 1362), Textes et analyses (= Analecta Vaticano-Belgica Vol. V), Rom – Brüssel – Paris 1911; Bruno Katterbach, Inventario dei Registri delle suppliche, Città del Vaticano 1932; Franco Bartoloni, Suppliche pontificie dei secoli XIII e XIV: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 67, 1955, 1 – 187; Pierre Gasnault, Suppliques en matière de justice au XIVe siècle: Bibliothèque de l’École des Chartes 115/1957, 1958, 43 – 57; Hermann Diener, Die großen Registerserien im Vatikanischen Archiv (1378 – 1523), Hinweise und Hilfsmittel zu ihrer Benutzung und Auswertung, Tübingen 1972. 221 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 33, 37, 38. 222 Die Supplikenregister Alexanders V. fehlen (Katterbach, Inventario dei registri delle suppliche 7 A. 1). 223 Wriedt, Die deutschen Universitäten 69 f. 224 Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht, Dritte Abteilung, 1406 – 1410, hrsg. von Julius Weizsäcker, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 6. Bd.), Göttingen 1956, 717 A. 1. 220
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Rupert nach Rom zu Alexander V. begab. Er hatte Erfolg; er empfing vom Papst die Entlastung seiner schlechten Verwaltung und wurde als Abt seines Klosters wieder eingesetzt225. Es ist anzunehmen, daß ihm am Weiterbestand der traditionsreichen Stätte benediktinischen Mönchtums viel gelegen war und daß ihn der jetzige Antrag der Stadt Erfurt tief verletzen mußte. Die geistliche Autorität, an welche die Vertreter der Stadt Erfurt sich mit ihrem Anliegen wandten, war nun ebenfalls der Papst Johannes XXIII., also nicht der römische und in der amtlichen Papstliste als rechtmäßig geführte Papst Gregor XII. (1406 – 1415)226, sondern jener der Pisaner Observanz. Johannes XXIII. war nach dem Tode Alexanders V. am 17. Mai 1410 zum Papst gewählt worden. Bald darauf muß der Antrag der Erfurter Bürgerschaft an ihn herangetragen worden sein227. Wenig später beschied er ihn. Das hier vorliegende Dokument ist in Bologna erlassen und trägt das Datum des 11. Juni 1410. Die Entscheidung des Papstes läßt keinen Zweifel daran, daß er den Antrag der Stadt Erfurt in vollem Umfang genehmigt. Er vollzieht eine Umwandlung des Klosters und eine Eigentumsübertragung ohne zeitliche Befristung (perpetue possidendum et tenendum). Durch päpstliche Anordnung wird die Zweckbestimmung des Klosters geändert und seine Schenkung an die Universität vollzogen. Nach dem Weggehen oder dem Tod des gegenwärtigen Abtes solle es der Universität erlaubt sein, den körperlichen Besitz von dem Kloster, seinen Rechten und seinem Zubehör zu ergreifen und sie für die genannten Zwecke für immer zu behalten. Die Erlaubnis des Diözesanoberhirten und irgendeines anderen sei dazu nicht erfordert. Die Kirche und ihr Friedhof dürften jedoch nicht zu weltlichen Zwecken verwendet werden, sondern sie müßten durch einen geeigneten Priester auf Kosten der Doktoren und Magistri gottesdienstlich versorgt werden. Die non-obstantibus-Klausel schloß alle gegenteiligen Konstitutionen, besonderen oder allgemeinen Reservationen, päpstliche Anordnungen und Satzungen in den Gewohnheiten des Klosters und des Benediktinerordens, auch wenn sie durch Eid, päpstliche Bestätigung oder andere Versprechen bestärkt worden seien, aus. Der Papst erklärte alles von jetzt an für ungültig, was von irgendjemand in irgendeiner Autorität bewußt oder unwissend in dieser Angelegenheit versucht werden sollte. Der wichtigste rechtliche Inhalt der Urkunde ist der folgende. Der Papst genehmigte den Antrag der Erfurter Stadtbehörden. Er übergab das Schottenkloster mit allen Rechten und dem gesamten Zubehör der Universität zur Verwendung und als Wohnung ihrer Doktoren und Magistri für alle Zukunft. Zum Vollstrecker dieser Verfügung wurde der Propst von Zeitz in der Diözese Naumburg bestellt228. Das 225
Hammermayer, Neue Beiträge 213. Annuario Pontificio per l’anno 1992, Città del Vaticano 1992, 19*. 227 Die Supplikenregister Johannes’ XXIII. fehlen (Katterbach, Inventario dei Registri delle suppliche 7 A. 1). 228 Friedrich Johann Kratzsch, Alphabetisches Verzeichniß sämmtlicher in dem Departement des Königl. Preuß. Oberlandesgerichts von Sachsen zu Naumburg belegenen 226
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Bistum Naumburg wurde in dem römischen Provinciale als Cicensem vel Numburgensem geführt229. Zeitz war die ursprüngliche, Naumburg nach der Verlegung (1028/30) die spätere Bischofsstadt. In Zeitz blieb ein Kollegiatstift erhalten, das die Rechte eines zweiten Domkapitels in Anspruch nahm230. Der Propst dieses Stiftes wurde nun mit der Durchführung der päpstlichen Entscheidung bestellt. Der Exekutor231 sollte die Wahrheit der in der Bittschrift gemachten Angaben überprüfen (si est ita) und bei Feststellung ihrer Wahrheit die Umwandlung des Klosters in ein Kolleg vornehmen. Die Überführung des Klosters in ein Kolleg war allerdings an eine Bedingung gebunden: den Verzicht des Abtes auf sein Amt, seinen Tod oder seine irgendwie geartete Aufgabe des Klosters. Auf den Abt mußte also Rücksicht genommen werden. Von ihm hing es ab, ob die Umwidmung statthaben konnte oder nicht. Alexander V. hatte ja Abt Rupert wieder in sein Amt eingesetzt. Johannes XXIII. konnte schwerlich der Anordnung entgegenhandeln, die sein Vorgänger erst vor kurzem getroffen hatte. Diese Maßnahme galt es zu respektieren. Aus dieser Analyse des in Frage stehenden Dokumentes ergibt sich, daß es sich bei dem Vorgang nicht um eine Inkorporation des Schottenklosters in die Universität Erfurt handelte, wie gelegentlich behauptet wird232. Der Universität inkorporiert waren gewisse Benefizien der beiden Stiftskirchen B. Mariae Virginis und S. Severi233, aber das Schottenkloster wurde ihr nicht einverleibt. Die Inkorporation234 besteht darin, daß eine juristische Person das Nutzeigentum an dem Vermögen Städte, Flecken, Dörfer, Vorwerke u. s. w. nebst einer Darstellung der Gerichts-Verfassung und einem alphabetischen Verzeichnisse aller Patrimonial-Gerichte mit Angabe des Namens und Wohnortes der Justitiarien, 2 Tle., Zeitz 1827; C. P. Lepsius, Geschichte der Bischöfe des Hochstifts Naumburg vor der Reformation, 1. Thl., Naumburg 1846; Ernst Zergiebel, Chronik von Zeitz und den Dörfern des Zeitzer Kreises nach Urkunden und Akten aus den Jahren 968 bis 1895, 3 Bde., Zeitz 1892 – 1896; Ernst Borkowsky, Die Geschichte der Stadt Naumburg an der Saale, Stuttgart 1897; Felix Rosenfeld (†) (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg Teil 1 (967 – 1207) (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt Neue Reihe Bd. 1), Magdeburg 1925; Hermann Giesau, Der Dom zu Naumburg (= Deutsche Bauten 9. Bd.), Burg b. Magdeburg 1927; Wilhelm Keitel, Die Gründung von Kirchen und Pfarreien im Bistum Zeitz – Naumburg zur Zeit der Christianisierung (= Arbeiten zur Landes- und Volksforschung Bd. 5), Jena 1939; Walter Schlesinger, Kirchengeschichte Sachsens im Mittelalter, 1. Bd. Von den Anfängen kirchlicher Verkündigung bis zum Ende des Investiturstreites (= Mitteldeutsche Forschungen 27/I), Graz 1962, 172 – 189. 229 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 13. 230 Berent Schwineköper (Hrsg.), Provinz Sachsen–Anhalt (= Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 11. Bd.), 2., überarb. u. erg. Aufl., Stuttgart 1987, 519 – 523. 231 Pitz, Supplikensignatur 121, 124, 141 f. 232 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis IV, 65. 233 StA Erfurt 0 – 0 A XLV A Nr. 11. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 33, 36 – 38. 234 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 436– 455; Joseph Ahlhaus, Geistliches Patronat und Inkorporation in der Diözese Hildesheim im Mittelalter, Freiburg i.Br. 1928, 141 – 176; Dominikus Lindner, Die Lehre von der Inkorporation in ihrer geschichtlichen Entwicklung, München 1951; Peter Landau, Inkorporation: TRE XVI, 1987, 163 – 166. Eine Urkunde Urbans VI. vom 10. Januar 1389, wo eine Pfarrkirche einem Kloster inkorporiert
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einer anderen gewinnt. Das einverleibte Institut verliert seine vermögensrechtliche Selbständigkeit. Die begünstigte juristische Person verfügt künftig über sein Vermögen. Der Zweck der Inkorporation ist gewöhnlich darin gelegen, der letzteren einen vermögenswerten Vorteil zu verschaffen. Die Inkorporationen erfolgten regelmäßig, anfänglich ausschließlich, in kirchliche juristische Personen. Im späten Mittelalter wurden auch nichtkirchliche juristische Personen damit bereichert. Gewiß sind zahlreiche Inkorporationen, vor allem von Benefizien, in die Universitäten erfolgt. Aber was Johannes XXIII.235 mit dem Schottenkloster vornahm, war keine Inkorporation. Aufschlußreich ist schon die Terminologie. Die für die Inkorporation technischen Bezeichnungen lauten unire, appropriare, annectere und incorporare; sie fehlen hier. Aber auch das rechtliche Wesen der Inkorporation liegt nicht vor. Das Recht, Inkorporationen vorzunehmen, lag beim Diözesanbischof, der dabei die Zustimmung des Domkapitels einzuholen hatte. Hätte die Stadt Erfurt eine Inkorporation vornehmen wollen, dann hätte sie sich nicht an den Papst zu wenden brauchen. Eine Inkorporation hätte bewirkt, daß das Schottenkloster der juristischen Person Universität eingegliedert worden wäre; sie hätte das Kloster bestehen lassen, nur der Universität die Nutzung an dessen Vermögen verschafft. Doch die Absicht der Stadt Erfurt war eine andere. Im Falle des Schottenklosters sollten nicht (reiche) Einkünfte einer kirchlichen Anstalt einer anderen juristischen Person zugewendet werden, sondern die Anstalt sollte wegen ihrer mißlichen wirtschaftlichen Lage gänzlich aufgehoben werden. Das Kloster sollte nicht bestehen bleiben; vielmehr sollte lediglich der Ausfall des jetzigen Abtes abgewartet werden, um es verschwinden zu lassen. Das Schottenkloster sollte in ein Kolleg umgewandelt werden; dieses sollte an die Stelle des Klosters treten. Die Tatsache, daß die Universität im Falle der Umwandlung des Schottenklosters für den Gottesdienst in der Schottenkirche und für den Unterhalt eines Geistlichen hätte aufkommen müssen, macht die Umwidmung nicht zu einer Inkorporation. Die Kirche blieb ja bei der Änderung des Zweckes des Schottenklosters erhalten, und sie sollte auch benutzt werden. Darum war es selbstverständlich, daß der neue Eigentümer des Klosters für die Feier des Gottesdienstes aufkommen mußte. Ich halte dafür, daß die geplante Umwandlung des Erfurter Schottenklosters in ein Kolleg niemals vollzogen wurde. Einmal war die Bedingung, an die sie geknüpft war, nicht erfüllt. Abt Rupert verzichtete nicht auf sein Amt, er gab das Kloster nicht auf, und er lebte noch viele Jahre bis l433236. Ihm gelang es, die wirtschaftliche und vielleicht auch die spirituelle Lage des Klosters zu verbessern. Im Jahre 1427 wurde die Lorenzkirche dem Reglerkloster inkorporiert. Abt Rupert
wird, bei Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 137 Nr. 320; eine solche Bonifaz’ IX. vom 5. Mai 1396 ebenda 155 Nr. 360, eine weitere ebenda 160 f. Nr. 374, eine dritte ebenda 161 Nr. 375 etc. 235 Originalurkunden Johannes’ XXIII. z. B. bei Schwarz, Die Originale von Papsturkunden in Niedersachsen 195 – 201. 236 Hammermayer, Neue Beiträge 213.
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fungierte dabei als Kommissar des Apostolischen Stuhles237. Er hatte also dessen Vertrauen gewonnen. Nach seinem Tode erhielt Abt Rupert einen Nachfolger, und die Reihe der Äbte setzte sich fort. Einigermaßen peinlich war sodann wohl auch die Tatsache, daß der Rechtsakt der Umwandlung des Klosters ausgerechnet von Johannes XXIII., dem Papst der Pisaner Observanz, vorgenommen worden war. Spätestens nach der Wahl Martins V. zum Papst wird man sich in Erfurt darauf besonnen haben, daß man sich nicht gut auf die Maßnahme eines Mannes berufen konnte, der aus dem Konzil von Konstanz238 entwichen und folgeweise von diesem abgesetzt worden war. Es ist anzunehmen, daß das Reskript Johannes’ XXIII. als ungültig betrachtet und infolgedessen bezüglich des Schottenklosters alles beim alten belassen wurde. IV. Die licencia agendi coram conservatoribus und die Erneuerung des Konservatoriums Die Quellen über die Erfurter Konservatoren fließen spärlich. Wertvoll ist das Rechnungsbuch der Universitätsrektoren239. Darin sind u. a. regelmäßig die Einkünfte aus der Erteilung der Genehmigung, den Konservator anzugehen, aufgeführt. Die Rektoren hatten normalerweise eine Amtszeit von einem halben Jahr, wurden also entweder für das Sommersemester oder für das Wintersemester bestellt. Der Liber receptorum I beginnt mit dem Rektorat, das am Lukastage (18. Oktober) des Jahres 1421 seinen Anfang nahm; Rektor war damals Christian von Mülhausen240. Für die ersten drei Jahrzehnte, in denen Konservatoren der Erfurter Universität ihre Tätigkeit ausübten, steht also diese Quelle nicht zur Verfügung. Indes ist anzunehmen, daß die Angaben im wesentlichen nach rückwärts verlängert werden können. Die Reihe der Konservatoren war nicht lückenlos. Im Wintersemester des Jahres 1425 unter dem Rektor Johannes Schunemann gab es keine Konservatoren: Universitas caruit conservatoribus, vermerkt der Liber receptorum241. Der Grund für diesen Ausfall wird nicht angegeben. Eine ähnliche Notiz findet sich im Sommersemester 1426: universitas caruit conservatorio ideo non dabantur licenciatoria agendi coram conservatoribus242. Jetzt wurde genauer gesagt, daß die Universität des Konservatoriums entbehrte, d. h. des päpstlichen Reskriptes, durch das Konservatoren ernannt wurden. Wenn kein solches Bestellungsschreiben vorlag, konnte es selbstverständlich auch keine Konservatoren geben. Nun wurde auch richtiger 237 Jakob Feldkamm, Geschichte und Urkundenbuch der St. Laurentii-Pfarrkirche, Paderborn 1899, 142 – 146 Nr. 22. 238 Hefele/Lerclerq, Histoire des Conciles VII. 1 S. 72 – 584. 239 Liber receptorum de residuo intitulature et de recognicionibus et de penis: StA Erfurt 1 – 1 X B XIII–40. Bd. I:1421 – 1565; Bd. II: 1565 – 1700. 240 Liber receptorum I fol. 5r. 241 Liber receptorum I fol. 9r. 242 Liber receptorum I fol. 9v.
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bemerkt, daß (gar) keine Lizenziatorien erteilt wurden. Der Grund, weshalb unter dem Rektorat des Nikolaus Crutheym ein Konservator nicht vorhanden war, wird auch diesmal nicht angegeben. Vielleicht ist er in einer Bemerkung der Universitätsstatuten von 1447 zu finden. Sie enthüllen, daß die Universität eine Zeitlang (aliquamdiu) darauf verzichtet hat, Konservationsschreiben und Konservatoren zu erwirken. An sich hätte im Jahre 1410 die Erneuerung des 1390 ausgestellten Reskriptes angestanden. Es ist nicht bekannt, ob eine entsprechende Supplik an einen der zwei Päpste der Pisaner Observanz gerichtet wurde. Sicher ist, daß dies, wie sogleich zu erwähnen sein wird, unter Martin V. geschehen ist. Aber auch bei ihm bleibt unsicher, ob eine der genehmigten Suppliken vor 1427 sich in der Ausstellung eines Reskriptes niederschlug. So bleiben offene Fragen, wann und wie lange auf die Erwirkung von Konservatorien verzichtet wurde. Als Grund für die Enthaltsamkeit wird in den Statuten angegeben, daß die Universität, der Erfurter Stadtrat und die Stadtgemeinde Belästigungen, Drohungen und offenkundige Fehdeankündigungen erfahren hätten, die auf leichtfertige Verleumdungen zurückzuführen seien, und daß ihnen Schaden zugefügt worden sei (Rubr. XV in.). Daraus ergibt sich, was aus anderen Quellen bezeugt ist, daß die Einrichtung der Konservatoren nicht einhellig begrüßt wurde, sondern umstritten war. Von den einen wurde sie begehrt, den anderen war sie lästig. Die Gegner ihrer Aufstellung suchten und fanden Gründe, die sie gegen sie anführten. Die Statuten von 1447 räumen mittelbar ein, daß nicht alle Vorwürfe gegen die Konservatoren haltlos waren, wenn sie ihre Absicht bekunden, ihrerseits alles zu tun, den vorgenannten Bedrängungen und Brutalitäten zu begegnen, indem sie das von den Konservatoren zu beobachtende Verfahren festsetzen (Rubr. XV). Davon wird weiter unten die Rede sein. Die Angehörigen der Universität benötigten, wie gesagt, die Erlaubnis des Rektors, um den Konservator anzugehen. Das entsprechende Dokument hieß licenciatorium. Von ihm ist in den Statuten von 1447 die Rede (Rubr. XV, 13). Es wird an anderer Stelle der Satzung erklärt als licencia et signetum ad iudicem seu conservatorem (Rubr. XV, 4). Das Lizenziatorium hatte also seinen Namen von der damit erteilten licencia agendi (Rubr. XV, 5). Sie wurde nur jenen gegeben, die nachweislich Angehörige der Universität waren. Für die Erlaubnis, zu klagen (licenciam agendi), war eine Gebühr zu entrichten, die sich nach der Höhe des Streitwertes bemaß (Rubr. XV, 5). Die Einnahmen aus dieser Quelle sind im Liber receptorum des Rektors verzeichnet243. Der Liber receptorum ist leider nicht vollständig. Es fehlt die Rechnung ganzer Rektorate. So heißt es beispielsweise unten auf einer leeren Seite: Hic deficit rectoratus Domini Doctoris Conradi Allendorff244. Mehrfach bezeugen freigelassene Seiten das Ausstehen der Rechnung245. Für das Jahr 1505 (Georg von Bardorff) findet sich sogar der Ausruf: Heu 243
StA Erfurt 1 – 1 X B XIII–40. Liber receptorum I fol. 83r. 245 Z. B. Liber receptorum I nach fol. 89r. Hier klafft eine Lücke von mehreren Jahren. Weiter: nach fol. 95r. 244
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quandoque bonus dormitat Homerus246. Bei der Eintragung in den Liber receptorum herrschte auch keine Einheitlichkeit. Manche Rektoren verzeichneten die Namen und die Herkunft derer, welche Lizenziatorien kostenlos erhielten, andere verzichteten darauf und bemerkten nur allgemein, daß sie solche gratis erteilt hätten. Die Tätigkeit der Konservatoren verbirgt sich in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts im Liber receptorum unter dem Titel ,,De recognicionibus“247. Die Fülle der Namen, die im Wintersemester 1421 zweimal unter dieser Überschrift eingetragen wurden, läßt vermuten, daß darunter auch zahlreiche Genehmigungen zum Aufsuchen der Konservatoren waren248. Damals dürften also noch Konservatoren vorhanden gewesen sein. Daß die meisten Personen, die unter dem Kennwort De recognicionibus aufgeführt wurden, 10 (alte) Groschen entrichteten249, läßt darauf schließen, daß sie Empfänger von Lizenziatorien waren. Dafür gibt es einen Beweis. Im Wintersemester 1425/26 wurden aus den Recogniciones nur 40 Groschen eingenommen. Als Grund wird angegeben: Die Universität hatte zu dieser Zeit keine Konservatoren. Folglich (ergo) konnten nur wenige mit dem Siegel versehene Recogniciones ausgestellt werden, nämlich bloß recogniciones biennii, d. h. Bescheinigungen über das zurückgelegte zweijährige Studium250. Diese waren von hohem Gewicht für die Erlangung kirchlicher Benefizien. Die Domkapitel forderten nämlich regelmäßig für die Zulassung zu Chor und Kapitel ein zweijähriges Studium an einer Universität. Es sei beispielsweise auf Mainz verwiesen251. Im Jahre 1426 werden zum ersten Mal die Einnahmen aus der Genehmigung, die Konservatoren anzugehen, ausdrücklich von jenen aus anderen Quellen (wie der Bescheinigung des zurückgelegten zweijährigen Studiums) unterschieden252, wobei aber, wie erwähnt, bemerkt wird, daß zu diesem Zeitpunkt keine Einkünfte aus der erstgenannten Art vorlagen. Für diese Genehmigungen wurde der Fachausdruck Licenciatoria eingeführt. Die Lizenziatorien wurden begreiflicherweise weggeworfen, wenn sie ihren Dienst getan hatten. So kommt es, daß nur sehr wenige Entwürfe von solchen erhalten sind253.
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Liber receptorum nach fol. 100r. Vgl. Liber receptorum I fol. 9r. 248 Liber receptorum I fol. 5r-v. 249 Liber receptorum I fol. 5r–5v (1421); fol. 6r (1422); fol. 6v (1423). 250 Liber receptorum I fol. 9r. 251 Fritz Vigener, Regesten der Erzbischöfe von Mainz 2. Abt. 1. Bd Leipzig 1913, 425 f. Nr. 1885; Michael Hollmann, Das Mainzer Domkapitel im späten Mittelalter (1306 – 1476) (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 64), Mainz 1990, 19 – 21. 252 Liber receptorum I fol. 9v (1426). 253 Eines in Leipzig Universitätsbibliothek Cod. 961 fol. 241v (Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 220 A. 1171). Darin wird dem Empfänger bescheinigt, daß er in die Matrikel der Universität aufgenommen und ihrer Privilegien teilhaftig sei sowie daß ihm die Erlaubnis zur Prozeßführung erteilt wird. 247
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V. Die Bestellung von Konservatoren durch Papst Martin V. Im Jahre 1426 fehlte ein Konservatorium, d. h. das Bestellungsschreiben für die Konservatoren. Aber der amtierende Rektor nahm darauf Bedacht, das wertvolle Dokument zu beschaffen. Man mußte sich nach Rom an den Heiligen Stuhl wenden, um das Konservatorium zu erhalten. Diese Bemühung war selbstverständlich mit Kosten verbunden. Der Rektor Nikolaus de Crutheym wendete 40 Florenen für das Konservatorium auf254. Damals regierte Martin V. die Kirche, jener Papst, der auf dem Konzil zu Konstanz gewählt worden war255. Er wurde nach seiner Wahl mit Bitten um Gnadenerweise überhäuft, auch und gerade von den Universitäten256. Die Erfurter Universität kam ebenfalls bei ihm um ein Konservatoriumschreiben ein, und zwar wiederholt. Sie erbat von Martin V. eine Reihe von Gnaden. An erster Stelle sollten die Privilegien und Vollmachten, welche Urban VI. und Bonifaz IX. der Hochschule gewährt hatten, bestätigt und etwaige Fehler ergänzt werden. Der Papst gewährte die Bitte. Sodann erbat die Universität257 ein Konservatorium für alle Zukunft, also ohne zeitliche Begrenzung, nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“ und die Vergünstigung, daß die Konservatoren über vier Tagereisen entfernte Personen vor ihr Gericht ziehen dürften. Diese Bitte wurde nicht in dem erbetenen Umfang gewährt; der päpstliche Bescheid lautete: fiat in forma. Dies geschah am 3. Januar 1418. Dem Vertreter der Universität scheint dieser Bescheid nicht genügt zu haben. Daher richtete er eine neue Supplik an den Papst258. Diesmal stellte er das Ansuchen um Konservatoren an die Spitze. Wiederum wurde ein immerwährendes Konservatorium erbeten ut in forma. Bezüglich der vor das Gericht zu ziehenden Personen war man jetzt etwas bescheidener; es sollten nur Personen belangt werden können, die nicht über vier Tagereisen weit entfernt waren. Schließlich wurde um die Hinzufügung der entsprechenden Klauseln gebeten. Der Papst gewährte die Bitte am 7. Mai 1418, aber nicht für immer, sondern nur für zehn Jahre. Daß auch diesmal das entsprechende Reskript des Papstes nicht erbeten und ausgestellt worden ist, ist sicher. Denn sonst hätte 1425/26 ein gültiges Konservatorium vorgelegen, was aber im Liber receptorum verneint wird. Einige Jahre später richtete die Universität Erfurt erneut eine Supplik an den Papst259. Wiederum erbat sie ein immerwährendes Konservatorium nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“ und mit dem Zusatz in contrarium facientibus non obstantibus und mit den entsprechenden Klauseln. Die Hartnäckigkeit, mit der die Erfurter Universität in immer neuen An254 Item idem rector exposuit ex parte universitatis quadraginta florenos pro conservatorio (Liber receptorum I fol. 9v). 255 Repertorium Germanicum, 4. Bd.: Martin V. (1417 – 1431), 1. Teilbd. (A–H), bearb. von Karl August Fink, unveränd. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1943, Zürich/Hildesheim 1991, 651. Über das Supplikenregister Martins V. vgl. Katterbach, Inventario dei registri delle suppliche 11 – 20. 256 Dax, Die Universität und die Konzilien 89 f. 257 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 108 fol. 144r. 258 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 112 fol. 31v. 259 Archivio Segreto Vativano Reg. Suppl. 205 fol. 117r.
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sätzen auf die Gewährung eines für alle Zeiten gültigen Konservatoriums drängte, zeigt das Gewicht, das sie auf diese Gunst legte. Immerhin war jetzt wenigstens das Begehren, Personen, die vier Tagereisen weit entfernt wohnten, vor Gericht ziehen zu dürfen, fallen gelassen. Martin V. blieb ungerührt und gewährte am 20. Dezember 1426 die Bitte nur für zehn Jahre. Wiederum ist sicher, daß das Reskript nicht ausgestellt worden ist. Denn sonst wäre nicht im folgenden Jahr erneut eine entsprechende Supplik eingereicht worden. Erst im Jahr 1427 führten die Bemühungen der Erfurter Universität für uns erkennbar zum Erfolg. Noch einmal bat sie um ein Konservatorium nach dem Formular ,,Militanti ecclesie“, wiederum für alle Zukunft260. Diesmal ist das entsprechende Reskript mit Sicherheit ausgestellt worden, allerdings wiederum lediglich für zehn Jahre. Papst Martin V. ernannte am 11. Februar 1427 den Abt des Erfurter Schottenklosters, den Magdeburger Domdekan und den Dekan des Hildesheimer Andreasstiftes zu Konservatoren der Universität Erfurt261. Damit begann erkennbar die Verbindung des Konservatorendienstes mit der Vorsteherschaft des Schottenklosters. Der damalige Abt war der bekannte Rupert. Er scheint an der Römischen Kurie keinen schlechten Eindruck hinterlassen zu haben. Es muß am Heiligen Stuhl eine Tradition gegeben haben, die den Abt des Erfurter Schottenklosters für besonders geeignet hielt, päpstliche jurisdiktionelle Aufträge zu empfangen. Manche davon lassen sich urkundlich belegen. So wurde der Abt des Schottenklosters von Bonifaz IX. wiederholt mit wichtigen Aufträgen, die rechtliches Gespür verlangten, bedacht262. Selbstverständlich wird seine jetzige Bestellung zum Konservator nicht ohne das Einverständnis der Erfurter Universität erfolgt sein. Auch sie dürfte in ihm den geeigneten Mann gesehen haben, die bedeutsame Funktion zu übernehmen. Rupert trug der Stadt Erfurt und ihrer Universität anscheinend nicht nach, was sie mit dem Kloster, dem er vorstand, beabsichtigt hatten. Der zweite der drei ernannten Konservatoren war der Dekan des Magdeburger Domkapitels263. Er mochte für den Posten des Konservators geeignet erscheinen, weil 260
Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 208 fol. 60v. OA Regensburg Abt. Schottenkloster St. Jacob K I. F 5 Nr. 72; Repertorium Germanicum IV, 651. 262 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 471 – 474 Nr. 961 (1397); II, 488 – 490 Nr. 984 (1399); II, 490 Nr. 985 (1399); II, 490 – 492 Nr. 986 (1399); 492 – 493 Nr. 987 (1399). 263 Ernst Breest, Dr. Heinrich Toke, Domherr zu Magdeburg, Beitrag zur Vorgeschichte der Reformation, nach meist handschriftlichen Quellen bearbeitet: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 18, 1883, 43 – 72, 97 – 145; G. Hertel, Die Dompröpste und Domdechanten von Magdeburg während des Mittelalters: Geschichts-Blätter für Stadt und Land Magdeburg 24, 1889, 193 – 272; Erich Weber, Das Domkapitel von Magdeburg bis zum Jahre 1567, Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der deutschen Domkapitel, Phil. Diss. Halle – Wittenberg, Halle a. S. 1912; Josef Steinstraß, Das ehemalige Erzbistum Magdeburg, Düsseldorf 1930; Gottfried Wentz (†)/Berent Schwineköper (Bearb.), Das Erzbistum Magdeburg, 1. Bd., 1. Tl., Das Domstift St. Moritz in Magdeburg (= Germania Sacra, Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg. Das Erzbistum Magdeburg, 261
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er in der Magdeburger Kirchenprovinz nach den Bischöfen die angesehenste Dignität innehatte. Studierende aus diesem Gebiet konnten sich bequem an ihn wenden. Im Jahre 1427 war Heinrich der Oven Domdekan264. Im Dekan des Hildesheimer Andreasstiftes265 wurde schließlich eine Person für den Konservatorenauftrag ausgewählt, die aufgrund ihrer Position in dem Kollegiatkapitel und in einem Suffraganbistum des Mainzer Metropoliten für befähigt angesehen wurde, den Anforderungen dieser Aufgabe zu genügen. Für den niedersächsischen Einzugsbereich der Universität war er leicht zu erreichen. Die Äbte, die das Amt des Konservators innehatten, ließen sich deswegen in der Regel immatrikulieren266. Freilich ist die Immatrikulation nicht lückenlos nachweisbar. Doch ist zu bedenken, daß die Erfurter Matrikel selbst unvollständig ist267. Die Immatrikulation wurde in Erfurt gewöhnlich als Intitulation bezeichnet268. Durch die Immatrikulation erwarb man die Zugehörigkeit zu der Universität und gelangte in den Genuß ihrer Privilegien. Die so erworbene Mitgliedschaft währte durch das ganze Leben. Zum Sommersemester 1427 lag das Ernennungsschreiben Martins V. in Erfurt vor. Von diesem Zeitpunkt setzten die normalen Recogniciones, darunter auch die Lizenziatorien, wieder ein269. Im Wintersemester 1427/28 ging die Ausstellung der Lizenziatorien ihren normalen Weg, wie die beträchtliche Zahl der Universitätsangehörigen, die unter dem Titel ,,De recognicionibus“ 10 Groschen entrichteten, erkennen läßt270. In den folgenden Jahren sind die Einnahmen aus den Lizenziatorien unter der Überschrift ,,De recognicionibus“ verzeichnet. Wie beträchtlich sie sein konnten, läßt die Abrechnung des Wintersemesters 1428/29 erkennen. Damals betrug die Summe 52 Gulden271. Im Sommersemester 1429 wurden unter den ,,Recepta de recognicionibus“ 27 Namen aufgeführt272. Freilich muß man sich bewußt sein, daß mit dieser Rubrik auch andere Schriftstücke als Lizenziatorien erfaßt wurden. So wurden unter dem Titel ,,De recognicionibus“ Gebühren für die Aus1. Bd.), Berlin 1972, 138 – 143, 339 – 369; Dietrich Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, 2 Tle. (= Mitteldeutsche Forschungen 67/I und 67/II), Köln 1972/75. 264 Wentz/Schwineköper, Das Domstift St. Moritz 358 f.; Hertel, Die Dompröpste und Domdechanten 244 f. 265 Lüntzel, Geschichte der Diöcese und Stadt Hildesheim II, 190 – 193, 613 – 621. Dort werden als Dechanten genannt Conrad Portenhagen, 1389 – 1398; Johann, 1428; Johann Kolkhagen, 1434; Heinrich Sankenstedt, 1464; Henning Pollemann, 1484. 266 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis IV, 65. 267 Z. B.: Gustav Bauch, Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus, Breslau 1904, 86. 268 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 224 – 229. 269 Liber receptorum I fol. 10r. 270 Liber receptorum I fol. 10v. 271 Liber receptorum I fol. 11r. 272 Liber receptorum I fol. 11v.
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stellung von Schriftstücken wie der missiva oder der licencia standi extra bursam abgerechnet273. Auch liefen unter diesem Namen allgemein die Gebühren für die Besiegelung (pro sigillo, pro litteris sigillatis, pro littera sigillata)274. Was anerkannt wurde, war z. B. die erfolgte Immatrikulation oder die Vollendung eines einjährigen Studiums275. 2. Kapitel: Die Erfurter Konservatoren und ihre Beziehungen zum Konzil von Basel I. Die Gewährung des Konservatoriums Von 1431 bis 1437 bzw. bis 1448 tagte das Konzil von Basel, in der erstgenannten Periode rechtmäßig, in der zweiterwähnten unrechtmäßig276. Der synodale Charakter des Konzils ist zweifelhaft, weil die Bischöfe während der gesamten Dauer nur eine Minderheit bildeten. In jedem Falle sind die Beschlüsse, die nicht von der Mehrheit derselben getragen waren, unverbindlich. Das Konzil schuf sich
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Liber receptorum I fol. 12r (1430). Z. B.: Liber reccptorum I fol. 14v (1433); fol. 16r (1435). 275 Z. B.: pro sigillo recognicionis intitulature (Liber receptorum I fol. 149v); pro sigillo recognicionis complecionis unius anni (ebenda). 276 Monumenta Conciliorum Generalium Seculi Decimi Quinti, ed. Caesareae Academiae Scientiarum Socii Delegati, Concilium Basiliense, 4 Bde., I: Wien 1857, II: Wien 1873, III: Wien 1886, IV: Basel 1935; Anton Joseph Binterim, Pragmatische Geschichte der deutschen Concilien vom vierten Jahrhundert bis zum Concilium von Trient, 7. Bd., Mainz 1852; Gabriel Pérouse, Le Cardinal Louis Aleman et la Fin du grand schisme, Phil. Diss. Paris, Lyon 1904; Noël Valois, Le pape et le concile (1418 – 1450), 2 Bde., Paris 1909; Paul Lazarus, Das Basler Konzil, Seine Berufung und Leitung, seine Gliederung und seine Behördenorganisation (= Historische Studien Heft 100), Berlin 1912; Antony Black, The universities and the Council of Basle: collegium and concilium, in: The Universities in the late middle ages 511 – 523; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Dritte Abteilung 1427 – 1431, hrsg. von Dietrich Kerler, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 9. Bd.), Göttingen 1956; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Vierte Abteilung, Erste Hälfte, 1431 – 1432, hrsg. von Hermann Herre, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 10. Bd. 1. Hälfte), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Fünfte Abteilung, 1433 – 1435, hrsg. von Gustav Beckmann, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 11. Bd.), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Sechste Abteilung, 1435– 1437, hrsg. von Gustav Beckmann, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 12. Bd.), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter König Albrecht II., Erste Abteilung 1438, hrsg. von Gustav Beckmann, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 13. Bd.), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter König Albrecht II., Zweite Abteilung 1439, hrsg. von Helmut Weigel, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 14. Bd.), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., Erste Abteilung 1440 – 1441, hrsg. von Hermann Herre, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 15. Bd.), Göttingen 1957; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., Zweite Abteilung 1441 – 1442, Erste Hälfte, hrsg. von Hermann Herre. Zweite Hälfte, bearb. von Hermann Herre, hrsg. von Ludwig Quidde, 2. Aufl. (= Deutsche Reichstagsakten 16. Bd.), Göttingen 1957. 274
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einen Apparat von Behörden, welcher der päpstlichen Kurie nachgebildet war277. Zahllose Urkunden gingen von ihm aus278. Unter den organisatorischen Einrichtungen des Konzils sind besonders erwähnenswert die vier Deputationen für Glaube, Frieden, Reform und Allgemeines279 sowie das Zwölfmännerkollegium280. Die letzten Entscheidungen fielen in den Generalkongregationen281. Die Suppliken282 wurden bei dem Zwölferausschuß eingereicht, und dieser legte sie den Deputationen vor, wo über sie beraten und Beschluß gefaßt wurde. Danach ging das Schriftstück an die übrigen Deputationen, die ebenfalls darüber beschlossen. Schließlich kam es an den Zwölfmännerausschuß und von diesem in die Generalkongregation; deren Beschluß wurde in der Kanzlei283 ausgefertigt. Ungeachtet seiner antikurialen und antipäpstlichen Tendenz beschloß der Kirchenrat auch manche nützlichen Reformmaßnahmen. Es sei hier nur an den Titel ,,De interdictis non leviter ponendis“ erinnert284, auf den weiter unten zurückzukommen sein wird. Die Erfurter Universität unterhielt zu dem Konzil von Basel enge Beziehungen285. Sie war die erste deutsche Universität, die einen Vertreter nach Basel schickte286, die ,,am frühesten und am zahlreichsten Vertreter nach Basel“ sandte287. Am 8. Februar 1432 erschienen in der Kongregation des Konzils zwei Magistri, die vom Erzbischof von Magdeburg, den Bischöfen von Merseburg und Brandenburg sowie der Universität Erfurt abgesandt waren288. Wenig später rüstete die Universität Erfurt eine eigene Gesandtschaft nach Basel aus. Am 11. Juli 1432 wurden ihre Gesandten dem Baseler Konzil inkorporiert289. Es waren der Theologe und Minorit Matthias Döring und der Kanonist Nicolaus Beyer. Am gleichen 11. Juli 1432 traten die Gesandten der Universität Erfurt in der Generalkongregation mit einem be-
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Lazarus, Das Basler Konzil 197 – 301; Joseph Dephoff, Zum Urkunden- und Kanzleiwesen des Konzils von Basel (= Geschichtliche Darstellungen und Quellen 12), Hildesheim 1930. 278 Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 81 f. 279 Lazarus, Das Basler Konzil 106 – 135. 280 Ibid. 181 – 185. 281 Ibid. 135 – 151. 282 Über die Petitionen (= Supplikationen) auf dem Konzil zu Basel vgl. Lazarus, Das Basler Konzil 131 – 135; Dephoff, Zum Urkunden- und Kanzleiwesen des Konzils von Basel 105 – 108. Dazu Guy P. Marchal, Supplikenregister als codicologisches Problem: Die Supplikenregister des Basler Konzils (Genf, Ms. lat. 61; Lausanne, G 863): Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 74, 1974, 201 – 235. 283 Über die Kanzlei des Basler Konzils: Lazarus, Das Basler Konzil 197 – 234. 284 Monumenta Conciliorum Generalium II, 773. 285 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 126 – 142. 286 Wriedt, Die deutschen Universitäten 155. 287 Bressler, Die Stellung der deutschen Universitäten 18. Vgl. ebenda 18 – 21. 288 Concilium Basiliense II, 29, 8–20; Monumenta Conciliorum Generalium II, 121, 123. 289 Concilium Basiliense II, 164, 13 –19; Monumenta Conciliorum Generalium II, 209.
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merkenswerten Vorschlag hervor290. Die Inkorporierten wurden in eine der vier Deputationen eingewiesen. Am 20. November 1433 wurde der Magister Thilmanus Grisler pro studio Erphordensi dem Konzil inkorporiert291. Damit ist vermutlich Tilomann Ziegler gemeint. Im November 1433 weilte auch in Basel Gautherus, der Propst der Erfurter Regularkanoniker292. Am 2. März 1434 wurde ein Doktor der Universität Erfurt in den Zwölferausschuß aufgenommen293. Am 23. Dezember 1435 wurde dem Konzil der magister in artibus Johannes von Frankfurt für die Universität Erfurt inkorporiert294. Der häufige Wechsel der Abgeordneten ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß die Baseler Versammlung angesichts ihrer langen Dauer allgemein beträchtliche Fluktuation zeigte. Die Gesandten blieben gewöhnlich nicht lange. Man rechnet mit etwa 3500 Beteiligten. Das auffällige Interesse der Erfurter Universität an dem Baseler Konzil erklärt sich aus ihrer theologischen und kirchenpolitischen Haltung. Die Universität und ihre Gesandten waren Vertreter des Konziliarismus295. In dem Streit zwischen dem Baseler Konzil und Papst Eugen IV. hielt die Erfurter Universität zu dem Konzil. Auch in dessen schismatischer Periode bestand Verbindung zwischen beiden. In der Generalkongregation vom 26. August 1440 wurde ein Schreiben des Magisters Henricus de Bottelstet, des Rektors, und der Universität Erfurt verlesen296. Immer wieder gingen Briefe zwischen Basel und Erfurt hin und her297. Die Beziehungen der Universität Erfurt zu dem Konzil zu Basel wurden zugunsten der Einrichtung der Konservatoren nutzbar gemacht. Die Universität wandte sich in dieser Angelegenheit an den Kirchenrat. Am 14. Januar 1434 beschloß die Deputatio pro communibus, der Universität Erfurt eine littera conservatoria auszustellen sub bulla concilii und in forma petita.298 Nun besaß ja die Universität das Konservatorenschreiben Martins V. Aber sie wird sich ihres vortrefflichen Verhältnisses zu dem Baseler Konzil erinnert und die Gunst der Stunde bedacht haben, daß ein Organ der höchsten Gewalt in der Kirche auf deutschem Boden tagte. Von dieser Versammlung mag sie eine großzügigere Privilegierung als vom Papst erwartet haben, der es wiederholt abgelehnt hatte, ein Reskript mit immerwährender Dauer auszustellen. Auch die Universität Wien ließ ihr Konserva290
Concilium Basiliense II, 164, 13 –16. Concilium Basiliense II, 524, 29 –30; Monumenta Conciliorum Generalium II, 517. 292 Monumenta Conciliorum Generalium II, 517. 293 Concilium Basiliense III, 36, 2. Vgl. ebenda 95, 27 und 97, 5 sowie 111, 7. 294 Concilium Basiliense III, 603, 2 – 4. 295 H. Jedin, Konziliarismus: LThK VI, 2. Aufl., 1961, 532 – 534. 296 Concilium Basiliense VII, 238. 297 Z. B. das Baseler Schreiben vom 13. September 1441 (Deutsche Reichstagsakten XVI, 121 f. Nr. 73). Hier ersuchte die Versammlung die Universität, Gesandte zum Reichstag nach Frankfurt zu entsenden. 298 Concilium Basiliense III, 6, 27 – 28. Wenn es dort heißt: pro studentibus Erphordie, so ist darin lediglich eine abgekürzte Redeweise, pars pro toto, zu erblicken. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 142. 291
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torenprivileg 1434 vom Baseler Konzil erneuern299. Am 16. April 1434 wurden in der Generalkongregation die Suppliken der Universitäten Wien und Erfurt betreffend die Ausstellung je eines ständigen Konservatoriums gleichzeitig und gemeinsam behandelt. Es wurden die Überlegungen der Deputationen verlesen und durch den Zwölferausschuß überein gebracht (lectis deliberationibus deputacionum et concordatis per dominos de duodecim). Das Plenum stimmte zu und beschloß, daß die littera conservatoria ausgefertigt werde per cancellariam et sub bulla concilii300. Die Universität war also bei ihrem Wunsch nach einem immerwährenden Konservatorenschreiben bei dem Konzil mühelos zum Ziel gekommen. Ein ständiges Konservatorium war unbefristet, wurde für dauernd gegeben und brauchte nicht erneuert zu werden. Das Konservatorium muß ausgestellt worden sein. Leider ist es bisher nicht gelungen, das Konservationsschreiben aufzufinden. Nicht einmal das Datum seiner Ausstellung ist bekannt. Daß es sich dabei um ein immerwährendes Privileg handelte, ist schon deswegen anzunehmen, weil die Baseler Versammelten der Universität Erfurt nicht versagt haben werden, was sie beispielsweise der Universität Wien (am 21. Mai 1434) gewährten301. Vielleicht darf dasselbe Datum für das entsprechende Schreiben an die Universität Erfurt vermutet werden. Unter dem Rektorat des Diether von Isenburg, das in das Sommersemester 1434 fiel, wurden jedenfalls sechs Gulden für die Erteilung des Konservatoriums durch das Baseler Konzil in die Rechnung eingesetzt302. Es leuchtet ein, daß die Kosten diesmal viel niedriger waren als bei der Einholung der Urkunde von Martin V.; denn Basel war nahe gelegen und leicht zu erreichen, nach Rom mußte dagegen die Reise über die Alpen gemacht und der Geldbedarf der Kurie bedacht werden. Das Konzil bestellte wiederum drei Konservatoren, den Abt des Schottenklosters in Erfurt, den Propst des dortigen Augustinerklosters und den Dekan des Domstiftes in Magdeburg. Somit waren jetzt zwei der drei Delegierten in Erfurt wohnhaft. Bei dem Propst des Augustinerklosters handelt es sich um den Vorsteher des sogenannten Reglerstiftes, der ecclesia sancti Augustini canonicorum regularium303, 299
Aschbach, Geschichte der Wiener Universität I, 267. Concilium Basiliense III, 72, 22 – 25. Super conservatoria perpetua danda universitatibus Wyennensi et Erphodensi, lectis deliberationibus deputacionum et concordatis per dominos de duodecim, placuit et fuit conclusum, quod huiusmodi conservatoria expediatur per cancellariam et sub bulla concilii. Zu der expeditio per cancellariam vgl. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 66 – 71; Herde, Beiträge 161 – 213. 301 Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität I, 1, 152 A. 181, 158; II, 278 f. Nr. 29; Aschbach, Geschichte der Wiener Universität I, 267. Über die ausgedehnten Beziehungen der Universität Wien zum Baseler Konzil vgl. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität I, 2, 57 – 82. Das Konzil zu Basel gewährte der Universität Wien das Konservatorenprivileg in der Form einer Bulle (ebenda I, 2, 63 Nr. 20). 302 Liber receptorum I fol. 15v. 303 Z. B.: Ekkehardus prepositus sancti Augustini (Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 503 Nr. 2 Nachtrag, 23. August 1257). Vgl. Die Restauration der Regler Kirche in Erfurt und die Geschichte ihrer Gemeinde in den letzten 25 Jahren seit der Restauration der Kirche, Eine Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Restauration und zum 750jährigen Jubiläum des Bestehens der Regler Kirche von Bärwinkel, nebst einem Anhange, 300
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nicht etwa um den Prior der Augustiner-Eremiten. Wie oben bemerkt wurde, war der Vorsteher der Erfurter Augustiner-Chorherren zeitweilig auf dem Baseler Konzil anwesend. Dekan des Magdeburger Domstiftes war noch immer Heinrich der Oven304. Er war im Sommersemester 1417 Rektor der Erfurter Universität gewesen und wurde es emeut im Sommersemester 1437 als Doktor der Dekrete305. Ein derart mit der Universität verbundener Mann mochte für den Dienst des Konservators besonders geeignet erscheinen. Die Tatsache, daß die Eigennamen der drei Männer nicht angegeben wurden, ist rechtlich bedeutsam. Aus ihr ist zu entnehmen, daß nicht lediglich die augenblicklichen Träger der genannten Würden den Dienst des Konservators übernehmen sollten, sondern der jeweilige Inhaber, also auch die Nachfolger der jetzigen. Der damalige Vorsteher des Schottenklosters war Abt Thaddaeus I. (1433 – 1438). Er war anscheinend ein besonderer Vertrauensmann der Baseler Versammlung. Sie ernannte ihn bei anderer Gelegenheit zum Judex et Executor306. Konservatorien mit längerer Dauer standen offenbar in hoher Gunst bei den Impetranten. Das Konzil von Basel stellte sie großzügig aus. In der Generalkongregation vom 1. Mai 1439 wurde das Bittgesuch der Kollegiatkirchen BMV in Erfurt, zum hl. Kreuz in Nordhausen und zum hl. Nikolaus in Stendal, das ein Konservatorium erbat, genehmigt. Die drei Deputationen hatten beschlossen, es in forma cancellariae für 20 Jahre zu bewilligen307. II. Die weiteren Privilegien des Kardinals Aleman und der Baseler Versammlung Das Baseler Konzil nahm in der Folgezeit den Weg ins Schisma. Der Papst verlegte es am 30. Dezember 1437 nach Ferrara. Am 9. Januar 1438 hielt es dort seine erste Sitzung ab. Die Rumpfversammlung in Basel fand sich mit der Verlegung nicht ab. Im Baseler Konzil waren schon in der Zeit, da es noch vom Papst anerkannt war, starke Animositäten gegen den Apostolischen Stuhl vorhanden. Nunmehr erklärten die Baseler Rekusanten am 24. Januar 1438 den Papst für suspendiert. Damit war der stets schwelende Konflikt zwischen Papst und Konzil offen ausgebrochen. Die deutschen Kurfürsten versuchten, zwischen Papst und Konzil zu
einen kurzen Abriß der Geschichte der Kirche und Gemeinde von ihren ersten Anfängen an enthaltend, verfaßt von Ottomar Lorenz, Erfurt 1885. 304 Wentz/Schwineköper, Das Domstift St. Moritz in Magdeburg 358 f. 305 Liber receptorum I fol. 18r. Vgl. Wentz/Schwineköper, Das Domstift St. Moritz in Magdeburg 358 f. 306 StA Erfurt 0 – 0 A XXX Nr. 2. Vgl. Hammermayer, Neue Beiträge 214 A. 42. 307 Concilium Basiliense VI, 42, 129, 394 (1437, 1439). Hier liegt ein Beispiel vor, wie drei Stiftskirchen ein Konservatorium communiter et divisim erbaten. Zur Expedition der Urkunden unter dem Bleisiegel per cancellarium vgl. Frenz, Die Kanzlei der Päpste der Hochrenaissance 105 – 131.
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vermitteln308. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die Neutralitätserklärung vom 17. März 1438309. Sie bedeutete, daß die Kurfürsten weder den Papst noch die Baseler Versammelten bedingungslos als die höchste kirchliche Autorität ansahen. Sie versuchten vielmehr, einen Standpunkt einzunehmen, der jenseits von Papst und Konzil lag. Sie erklärten, daß sie keine der beiden Parteien begünstigen und daß sie sich gegenüber den Prozessen, Verfügungen und Mandaten derselben unentschieden verhalten wollten. Damit schlossen die Kurfürsten sowohl den Papst als auch das Konzil von der Einwirkung auf die Regierung ihrer Diözesen aus; die Gewalt von Papst und Konzil wurde gleichsam suspendiert. Die Kurfürsten wollten jetzt ihre kirchliche Vollmacht unter Ausschluß der obersten Gewalt von Papst und Konzil ausüben und während ihrer Neutralität ihre Sprengel allein aufgrund der ordentlichen Jurisdiktion regieren310. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung wurden fortan nur in Bistum und Kirchenprovinz geübt. Die Erklärung über die Ausübung der Jurisdiktion ergab sich folgerichtig aus der Erklärung über die Neutralität. Am gleichen Tage wie die Neutralitätserklärung appellierten die Kurfürsten gegen alle seit dem 18. Februar 1438 von Papst oder Konzil erlassenen Strafmandate etc. an ein künftiges Konzil311. Wenn die Kurfürsten die von (Papst und) Konzil ausgehenden Verfügungen und Mandate nicht als rechtskräftig anerkannten, dann galt das auch von etwa ausgestellten Konservatorien. Auf dem Reichstag zu Mainz im März/April 1439312 nahmen König Albrecht II. und die deutschen Metropoliten am 26. März 1439 eine Erklärung an, in der sie verschiedene Dekrete des Baseler Konzils akzeptierten313. Es waren solche, welche die 308 Rudolf Manns, König Albrecht II. und die Kirchenpolitik des römischen Reiches 1438 und 1439, Phil. Diss. Marburg, Marburg 1911; Gertrud Weber, Die selbständige Vermittlungspolitik der Kurfürsten im Konflikt zwischen Papst und Konzil 1437 – 38 (= Historische Studien Heft 127), Berlin 1915. 309 Notariatsinstrument über die Erklärung der Kurfürsten, daß sie in dem Streit zwischen Papst Eugen und dem Baseler Konzil neutral sein wollen (Deutsche Reichstagsakten XIII, 216 – 219 Nr. 130); Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 166 – 169. Vgl. Manns, König Albrecht II. und die Kirchenpolitik des römischen Reiches 12 – 19; Weber, Die selbständige Vermittlungspolitik der Kurfürsten 73 – 106; Adolf Bachmann, Die deutschen Könige und die kurfürstliche Neutralität (1438 – 1447), Ein Beitrag zur Reichs- und Kirchengeschichte Deutschlands, Mit urkundlichen Beilagen: Archiv für österreichische Geschichte 75, 1889, 1 – 236. 310 in sola ordinaria jurisdictione citra prefatorum tam pape quam concilii supremam potestatem ecclesiastice policie gubernacula per dioceses et territoria nostra sustentabimus (Deutsche Reichstagsakten XIII, 218). 311 Notariatsinstrument über die Erklärung der Kurfürsten, daß sie gegen alle seit dem 18. Februar 1438, sei es vom Papst, sei es vom Baseler Konzil, ergangenen Mandate und Strafen bzw. Strafandrohungen an das künftige ökumenische Konzil appellieren (Deutsche Reichstagsakten XIII, 219 – 220 Nr. 131). 312 Deutsche Reichstagsakten XIV, 1 – 208. Vgl. Albert Werminghoff, Nationalkirchliche Bestrebungen im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1910, 33 – 85; Manns, König Albrecht II. 41 – 43. 313 Notariatsinstrument über die Annahme angeführter Dekrete des Baseler Konzils 1439 März 26 und 28 (Deutsche Reichstagsakten XIV, 109 – 114).
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Gewalt des Papstes beschränkten. Damit traten sie aus ihrer angeblichen Neutralität aus. Das Mainzer Provinzialkonzil, das in Aschaffenburg zusammentrat, erneuerte freilich im Oktober 1439 die Neutralitätserklärung314. Die Universität Erfurt hielt auch nach 1439 zu der Baseler Versammlung315. In der Generalkongregation vom 26. August 1440 wurde ein Brief des Erfurter Rektors Heinrich von Bottelstete verlesen316. Das Gutachten der Erfurter Universität vom 9. August 1440 erklärte sich gegen die Neutralität und für den Anschluß an die Baseler Versammlung317. Vom Mainzer Erzbischof hatte sie dieserhalb nichts zu fürchten. Dietrich Schenk von Erbach war von nationalkirchlichen Gedanken erfüllt und mißtrauisch gegenüber dem Papst318. Die Baseler Versammlung zeigte sich der Universität in doppelter Weise erkenntlich, und zwar zuerst durch Ludwig Aleman319. Er war seit 1423 Erzbischof von Arles und seit 1426 Kardinalpriester von Sancta Caecilia. Auf dem Baseler Konzil war er einer der Führer der Konziliaristen und als solcher der schärfste Gegner Eugens IV. Als dieser das Konzil nach Ferrara transferierte, machte er die Verlegung nicht mit und blieb in Basel. Dort wurde er zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt. Er war die treibende Kraft in dem Prozeß der Baseler gegen Eugen IV. und bei dessen versuchter Absetzung. Eugen IV. seinerseits exkommunizierte ihn und setzte ihn ab. Aleman ließ den Herzog Amadeus von Savoyen zum Papst wählen, und dieser – als Felix V. – betraute ihn mit dem Vorsitz der Baseler Versammlung. Unermüdlich warb er für seine Partei. Zu diesem Zweck reiste er zu den Fürsten und wirkte auf sie ein. Auf den deutschen Reichstagen bemühte er sich, die deutschen Fürsten dafür zu gewinnen320. Hier ist sein Erscheinen auf dem Frankfurter Reichstag im Mai 1442 zu erwähnen321. Die Baseler Versammlung beglaubigte am 3. Mai 1442 drei Kardinäle, Ludwig Aleman, Nikolaus Tudeschi und Johannes von Segovia, als legati nostri et universalis ecclesie de latere322. Am 6. Mai 1442 tat dies seinerseits Felix V. (hujus sacri concilii et nostris legatis de latere)323. Die Baseler Gesandten weilten ab 21. Mai 1442 in Frankfurt324. Während die beiden anderen um den 20. August abreisten, blieb Ale314
Deutsche Reichstagsakten XIV, 391 f. Valois, Le pape et le concile II, 258 f. 316 Concilium Basiliense VII, 238, 29 – 30. 317 Deutsche Reichstagsakten XV, 437 – 450 Nr. 246; Monumenta Conciliorum Generalium III, 534; Valentinus Ferdinandus Gudenus (Hrsg.), Codex Diplomaticus IV, Frankfurt/Leipzig 1758, 262 – 268; Stephanus Alexander Würdtwein (Hrsg.), Subsidia Diplomatica VIII, Heidelberg 1776, 5 – 28. Vgl. Bressler, Die Stellung der deutschen Universitäten 45 – 51. 318 Pastor, Geschichte der Päpste I, 731 – 736. 319 N. Coulet, Aleman, Louis: LMA I, 1980, 349. 320 Pérouse, Le Cardinal Louis Aleman 363 – 369, 411 – 417. 321 Pérouse, Le Cardinal Louis Aleman 373 – 379. 322 Deutsche Reichstagsakten XVI, 359 f. Nr. 181. 323 Deutsche Reichstagsakten XVI, 360 Nr. 182. 324 Ein Bericht des Johannes von Segovia über die Tätigkeit der Baseler Gesandtschaft auf dem Frankfurter Reichstage in Deutsche Reichstagsakten XVI, 594 – 604 Nr. 231. 315
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man noch einige Tage länger325. In der Zeit des Frankfurter Aufenthalts nahm die Universität Erfurt Kontakt mit ihm auf. Dessen Frucht war das Privileg, das Aleman am 21. Juli 1442 in Frankfurt am Main ausstellte326. Er bezeichnete sich darin als legatus a latere a sacrosancta generali synodo Basiliensi in spiritu sancto legitime congregata universalem ecclesiam representante specialiter deputatus. Die Baseler Versammlung nahm also ein Recht, das nur den Päpsten zustand327, für sich in Anspruch. Als legatus a latere hatte Aleman weitgehende Vollmachten328. Kraft dieser Befugnisse gab er dem Erfurter Konservator das Recht, Rechtsverletzer und Schuldner (iniuriatores et debitores) durch Edikt vorzuladen. Auf die rechtliche Bedeutung dieser Erweiterung der Vollmacht des Konservators wird weiter unten eingegangen werden. Aleman handelte, wie er in der Urkunde erklärte, auctoritate ipsius sancte Sinodi nobis in hac parte commissa. Die Erfurter Universität unterhielt auch weiterhin Beziehungen zu den in Basel Versammelten. Sie unterließ es nicht, sich von ihnen Vorteile zu erbitten. Am 14. Mai 1445 erweiterte die Baseler Versammlung die Befugnisse der Konservatoren der Erfurter Universität ein weiteres Mal329. In dem Schreiben erinnerte sie daran, daß sie einst (dudum) die drei oben genannten Würdenträger zu Konservatoren der Universität Erfurt bestellt habe, und zwar auch mit der Befugnis, über Sachen zu erkennen (cognoscendi), die eine gerichtliche Untersuchung erfordern. Das Rumpfparlament nahm also in Anspruch, in Kontinuität mit dem Baseler Konzil zu stehen; es griff auf frühere Rechtsakte desselben zurück. Jetzt verlängerte es den Radius, innerhalb dessen Personen vor das Gericht des Konservators gezogen werden durften. Diese Ausdehnung erfolgte auf Bitten der Universität. Über die Einzelheiten wird weiter unten gesprochen werden. Die Personen der Konservatoren änderten sich nicht. Es waren dies wie bisher der Abt des Erfurter Schottenklosters, der Propst des dortigen Klosters der Augustinerchorherren und der Dekan des Magdeburger Domstiftes. Im ganzen gesehen, hatte sich die Baseler Versammlung für die Universität Erfurt gelohnt. Sie hatte ihr Gunstbezeigungen gewährt, um die sie Papst Martin V. wiederholt ohne Erfolg gebeten und die sie erst am Schluß von ihm erlangt hatte. Es war nun die Frage, inwieweit das Papsttum nach Beendigung des Schismas in dieselben eintreten würde.
325
Deutsche Reichstagsakten XVI, 604 A. 2. StA Erfurt 0 – 1 VII–461. 327 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, 511 – 516. Über das Gesandtschaftswesen des Baseler Konzils vgl. Lazarus, Das Basler Konzil 291 – 294. 328 Zu den Legatenurkunden vgl. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 84. 329 DA Erfurt III Nr. 62 (14. Mai 1445); I Nr. 1045 (14. Mai 1445). 326
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3. Kapitel: In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts I. Die Jahrzehnte ruhigen Besitzes Die Konservatoren der Erfurter Universität dürften in den folgenden Jahrzehnten ihrer Aufgabe nachgekommen sein. Die Rubrik ,,De Licenciatoriis“ erschien in den dreißiger und Anfang der vierziger Jahre des 15. Jahrhunderts gewöhnlich nicht in dem Liber receptorum. Die Einnahmen aus der Genehmigung, vor dem Konservator zu prozessieren, wurden vielmehr, wie erwähnt, unter dem Titel ,,De recognicionibus“ aufgeführt. Doch im Rektorat des Heinrich von Gerbstedt, das in das Sommersemester 1438 fiel, tauchte die eigenständige Rubrik ,,De Licenciatoriis“ auf330. Im Wintersemester 1441/42 standen unter dem Titel ,,De recognicionibus“ 33 Namen331. Gelegentlich firmierten die entsprechenden Einnahmen aber auch unter der Überschrift ,,De sigillo“332. Die erforderlichen Bescheinigungen wurden ja besiegelt. Der Rektor führte zwei Siegel, eines für die Universität, das zweite für sein Rektorat (Rubr. I, 6). Die Genehmigungen für das Angehen der Konservatoren wurden unter Beidrückung des Rektoratssiegels ausgestellt. Unter dem Rektor Peregrinus de Goch (1444) lautete der Titel der Einnahmen (auch) für die Ausstellung von Lizenziatorien ,,De recognicionibus et sigillo“333. Im Wintersemester 1444/45, unter dem Rektorat des Nikolaus de Spira, erschien erneut die Rubrik ,,De recognicionibus et licenciatoriis“ im Liber receptorum334, ebenso im Sommersemester 1445, als Johannes von Allenblumen Rektor war335. Angaben für das Wintersemester 1445/46 fehlen. Wohl aber erschienen Einnahmen unter dem nämlichen Titel im Sommersemester 1446 unter dem Rektorat des Johannes Cancri, eines Mediziners336. Im Sommersemester 1449 führte der Rektor Benedictus Stendal de Hallis einen selbständigen Titel ,,Pro licenciatorio“ ein337. Sein Nachfolger Ernst Comes in Holsatia verfuhr ebenso338. Dabei blieb es in den folgenden Jahren339. Doch unter dem Rektorat des Hildebrand Günther im Sommersemester 1451 sind die Einnahmen für das Ausstellen von Bescheinigungen, die zum Angehen der Konservatoren berechtigten, wieder unter dem Titel ,,De recognicionibus“ zu suchen340. So dürfte es sich auch bei den folgenden Rektoraten
330
Liber receptorum I fol. 18v–19r. Liber receptorum I fol. 22v–23r 332 Liber receptorum I fol. 24v (1443); fol. 25r (1443/44). 333 Liber receptorum I fol. 26r. 334 Liber receptorum I fol. 26v. 335 Liber receptorum I fol. 27r. 336 Liber receptorum I fol. 28r. 337 Liber receptorum I fol. 30r. 338 Liber receptorum I fol. 30v. 339 Liber receptorum I fol. 30v (1450); fol. 31r (1450/51). 340 Liber receptorum I fol. 31v.
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verhalten341. Der Zulauf zu den Konservatoren war beträchtlich. Im Sommersemester 1452 wurden unter dem Titel ,,De recognicionibus“ 44 Namen aufgeführt342. In die Jahre 1451/52 fällt die große Legationsreise des Kardinals Nikolaus von Cues343. Die Reise diente der Reform nach Beendigung des Schismas344. In Deutschland hielt Nikolaus mehrere bedeutsame Synoden ab345. Dabei griff er auch auf Beschlüsse des Baseler Konzils zurück346. Seine Refonnarbeit in Deutschland hatte, wie weiter unten ausgeführt werden wird, Auswirkungen auch auf die Tätigkeit der Konservatoren. Vom 29. Mai bis 6. Juni 1451 weilte er in Erfurt347. Die 341
Liber receptorum I fol. 31v–32v. Liber receptorum I fol. 32r. 343 Aus der überreichen Literatur erwähne ich: E. Vansteenberghe, Le cardinal Nicolas de Cues (1401 – 1464), Paris 1920, Nachdruck: Frankfurt 1963; Ludwig Baur, Cusanus-Texte, III. Marginalien, 1. Nicolaus Cusanus und Ps. Dionysius im Lichte der Zitate und Randbemerkungen des Cusanus (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jg. 1940/41, 4. Abhandlung), Heidelberg 1941; Joseph Koch (Hrsg.), Cusanus-Texte, IV. Briefwechsel des Nikolaus von Cues, Erste Sammlung (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jg. 1942/43, 2. Abhandlung), Heidelberg 1944; derselbe, Nikolaus von Cues und seine Umwelt, Untersuchungen zu Cusanus-Texten, IV. Briefe, Erste Sammlung (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akadamie der Wissenschaften Philosophisch-historische Klasse Jahrgang 1944/48, 2. Abhandlung), Heidelberg 1948; Hans (Hermann) Lentze, Nikolaus von Cues und die Reform des Stiftes Wilten, in: Festschrift zu Ehren von Hofrat Prof. Dr. Otto Stolz (= Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum Bd. 31/Jg. 1951), Innsbruck 1951, 501 – 527; Wilhelm Nicolay, Essays über Nicolaus von Cues, Frankfurt a. M. 1954; Erich Meuthen, Die letzten Jahre des Nikolaus von Kues, Biographische Untersuchungen nach neuen Quellen (= Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Bd. 3), Köln/Opladen 1958; Josef Koch, Der deutsche Kardinal in deutschen Landen (= Schriftenreihe der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Trier Heft 10/1964), Trier 1964; Hans Gappenach, Nikolaus von Kues in Münstermaifeld (= Schriftenreihe der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Trier Heft 11/ 1964), Trier 1964; Erich Meuthen, Nikolaus von Kues, 1401 – 1464, Skizze einer Biographie (= Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft), Münster/Westfalen 1964. 344 Karl Grube, Die Legationsreise des Cardinals Nikolaus von Cusa durch Norddeutschland im Jahre 1451: Historisches Jahrbuch 1, 1880, 393 – 412; derselbe, Johannes Busch, Augustinerpropst zu Hildesheim, Ein katholischer Reformator des 15. Jahrhunderts, Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Windesheimer und Bursfelder Congregationen, Freiburg i.Br. 1881; J. Uebinger, Kardinallegat Nikolaus Cusanus in Deutschland 1451 bis 1452: Historisches Jahrbuch 8, 1887, 629 – 665; Vansteenberghe, Le cardinal Nicolas de Cues 87 – 139, 483 – 490 (Itinerar); Koch, Nikolaus von Cues und seine Umwelt 111 – 152 (Itinerar); Nicolaus von Cues. Leben und Werk, Zum 500. Todestag, Aus den Beständen der Stadtbibliothek Koblenz, Bearb. Katharina Horberth, Koblenz 1964, 58–62. 345 Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 237 – 283; Grube, Johannes Busch 126 – 138. 346 Ich erwähne beispielsweise: Stephanus Alexander Würdtwein (Hrsg.), Nova Subsidia Diplomatica XI, Heidelberg 1788, Nachdruck: Frankfurt 1969, 385 f.: Ordinatio circa cultum divinum; 391 f.: Quod non ponatur interdictum sive cessatio in levibus et corrigibilibus causis nisi ultra annum in excommunicatione permanserit. 347 Charles-Joseph Hefele/Henri Leclercq, Histoire des conciles VII, 2, Paris 1916, 1211 f.; Sape van der Woude, Johannes Busch, Windesheimer Kloosterreformator en Kroniekschrije342
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dortigen Augustinerchorherren waren der Erneuerung dringend bedürftig, aber ihr durchaus abgeneigt. Doch Johannes Busch, der Hallenser Augustinerpropst, der im Auftrage des päpstlichen Legaten die Erfurter Klöster visitierte, stellte die Ordnung in dem Konvent wieder her. Der hochbetagte Propst war seinem Amte nicht mehr gewachsen, so daß Busch einen aus Halle berufenen Priester als Prior mit der Leitung des Klosters betraute, während dem Propst lediglich die Würde und der Titel verblieben. Man wird annehmen müssen, daß die Konservatorentätigkeit des Propstes unter diesen Verhältnissen litt. Der Dienst der übrigen Konservatoren ging in diesen Jahren anscheinend seinen geregelten Gang. Von dem Abt Dermitius (1438– ca. 1449) ist wieder urkundlich gesichert, daß er Konservator der Erfurter Universität war348. Er war von der Baseler Versammlung auch zum Konservator der Privilegien der Stadt Erfurt bestellt worden349. Die Vereinigung der beiden Funktionen in einer Person dürfte ein Hinweis darauf sein, daß zwischen ihnen kein Gegensatz bestand. Die Stadt Erfurt scheint in der Gerichtsbarkeit der Universitätskonservatoren einen Gewinn gesehen zu haben. Auch Abt Thaddaeus II. (1450 – 1453) ist als Konservator gesichert350. In die Jahre 1451/52 fällt der Prozeß, den Johannes von Allenblumen, Doktor der Dekrete, vor ihm gegen die Stadt Leipzig führte351. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Thaddaeus in eigener Person als Konservator waltete. Er war dazu befähigt, denn er wurde im Jahre 1451 als iurisperitus bezeichnet352. Zwischen dem Erfurter und dem Regensburger Schottenkloster bestanden rege Beziehungen. Sie führten dazu, daß Abt Mauritius vom Schottenkloster in Regensburg im Jahre 1453 Subkonservator der Privilegien der Erfurter Universitätsangehörigen war353. Mauritius kommt allerdings in der Geschichtsschreibung schlecht weg354. Unter dem Rektorat des Lampertus Voß im Sommersemester 1453 lautete der Titel, der über das Wirken des Konservators Gewißheit verschafft, wieder ,,De recognicionibus et licenciatoriis“355. Der Rektor Konrad Elderod aus Göttingen ließ in seiner Rektoratszeit (1454) die Einnahmen aus der Ausstellung von Lizenziatover, Theol. Diss. Amsterdam, Edam 1947, 109 – 114; Grube, Johannes Busch 139 – 143; Koch, Nikolaus von Cues und seine Umwelt 123 f.; Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 250 – 252. 348 Weissenborn, Acten I, 176 ab 43 –44 (nichil dedit quia conservator est privilegiorum universitatis nostre alme; 1439 Mich.). Vgl. Hammermayer, Neue Beiträge 213. 349 StA Erfurt 0 – 0 A XXX Nr. 3 (23. September 1437); Nr. 6 (4. Februar 1439); Nr. 6a (14. Januar 1439); Nr. 9 (27. April 1446); XXIX Nr. 3 (11. Dezember 1441). 350 Weissenborn, Acten I, 223 a 24 – 25 (gratis; 1450 Mich.). 351 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 218 – 223 Nr. 280, 282, 283; 231 – 233 Nr. 287 und 288. 352 Ibid. 220. 353 Weissenborn, Acten I, 235 a 27 – 30 (subconservator privilegiorum membrorum universitatis etc. gratis; 1453 Ost.). 354 Mai, Das Schottenkloster St. Jakob in Regensburg 18. 355 Liber receptorum I fol. 33r.
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rien, die recht zahlreich waren, gesondert ausweisen. Es ist aufschlußreich, daß daher in seiner Abrechnung eine Rubrik ,,De recognicionibus“ nicht aufscheint356. Im folgenden Rektorat wurde es ebenso gehalten357. Deutlich spricht die Abrechnung des Sommersemesters 1455 unter dem Rektor Benedictus Stoltzenhagen. Da lautete der entsprechende Einnahmeposten: ,,Percepta de licenciatoriis ad agendum coram Conservatore“358. In der Rechnungslegung des Johannes Pilgrim de Berka (1455/ 56) kommt das Wort Licenciatoria dreimal vor359. Der Rektor Gottschalk Gresemund de Meschede (1456) behielt die Rubrik ,,De licenciatoriis“ bei360. Ebenso verfuhren seine Nachfolger361. Der Rektor Heinrich Graf in Schwarzburg (1458) stellte die Einnahmen aus der Ausstellung der Lizenziatorien an die Spitze seiner Rechnungslegung362. Ebenso verfuhr sein Nachfolger Johannes Graf in Henneberg (1458)363. Man mag daraus die Bedeutung entnehmen, die sie diesem Posten einräumten. Unter dem Rektor Johannes Stockbrot (1459) erschien lediglich die Einnahmequelle ,,De recognicionibus et sigillo“, während von den Lizenziatorien nicht eigens die Rede war364. II. Die Erneuerung des Konservatoriums In das Jahr 1456 fällt die Ausstellung eines neuen Konservatoriums durch Papst Calixt III. (1455 – 58)365. Die Universität Erfurt richtete eine entsprechende Supplik an den Heiligen Stuhl. Die Entscheidung des Papstes erging am 20. November 1456. Da der Wechsel des Rektors am 18. Oktober erfolgte (Rubr. II, 1), könnte schon der Rektor des Wintersemesters 1456/57, Johannes Rucherat, die Supplik beim Heiligen Stuhl veranlaßt haben. Wahrscheinlicher ist jedoch, wegen der Knappheit der Zeit und angesichts der Langsamkeit des kurialen Betriebes, daß es 356
Liber receptorum I fol. 34r–34v. Liber receptorum I fol. 34v–35r (1455). 358 Liber receptorum I fol. 35v. 359 Liber receptorum I fol. 36r. 360 Liber receptorum I fol. 37r. 361 Liber receptorum I fol. 38r (Simon de Hamborch, 1457); fol. 39r (Johannes Rucherat Wesalia, Simon de Hamborch, Gottschalk de Meschede); fol. 40r (Heinrich Graf von Schwarzburg, 1458); fol. 40v (Johannes Graf in Henneberg, 1458); fol. 41v (Gerhard in Curia de Berka, 1459). 362 Liber receptorum I fol. 40r. 363 Liber receptorum I fol. 40v. 364 Liber receptorum I fol. 42r–42v 365 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 495 fol. 68v–69r. Über das Supplikenregister Calixts III. vgl. Katterbach, Inventario dei registri delle suppliche 33 – 35. Zum Bande 495 der Supplikenregister vgl. Pitz, Supplikensignatur 15. Vgl. Ernst Pitz, Supplikensignatur und Briefexpedition an der römischen Kurie im Pontifikat Papst Calixts III., Tübingen 1972; derselbe, Repertorium Germanicum VII/1: Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Calixts III. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien, 1455 – 1458, 1. Teil: Text, Tübingen 1989, 64. 357
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unter seinem Vorgänger, Gottschalk Gresemunt, geschehen ist. Nun war ja die Universität im Besitz eines immerwährenden Konservatoriums, das ihr Papst Martin V. und das Konzil zu Basel gewährt hatten. Weshalb sich die Universität damit nicht zufrieden gab, ist schwer auszumachen. Vielleicht wurde mit dem stärkeren Hervortreten des Papsttums seit Nikolaus V. die Notwendigkeit verspürt, die Einrichtung der Konservatoren nicht nur durch einen früheren Papst und das Konzil von Basel, sondern auch durch den regierenden Papst sichern zu lassen. Außerdem sah man alte Rechtstitel gern durch neue Rechtsakte bekräftigt. Das Bestreben, erlangte Privilegien immer wieder bestätigen zu lassen, war im Mittelalter stark ausgeprägt. Die Supplik der Universität Erfurt an Papst Calixt III. vom Jahre 1456 erwähnte, daß sie früher ein immerwährendes Konservatorium erlangt habe366. Aber sie wollte es jetzt bestätigt haben. Die Universität erwartete davon drei Vorteile. Einmal würde die Bestätigung dem (vorhergegangenen) Konservatorenschreiben größere Festigkeit verleihen367. Die Bestätigung der gegenwärtigen Autorität trat dann zu der Gewährung der früheren hinzu. Sodann würde sie das Dokument für die Angehörigen der Universität fruchtbarer machen368. Vielleicht gab es Mitglieder derselben, denen die Autorität des Baseler Konzils nicht genügte und die deshalb zögerten, die Konservatoren anzugehen. Schließlich würde seine Autorität von allen Christen mehr anerkannt werden369. Diese Bemerkung scheint die vorangegangenen Überlegungen zu unterstützen. Die fraglose Autorität des regierenden Papstes konnte Einwänden gegen die Geltung des in zurückliegender Zeit erlangten Konservatoriums entgegengehalten werden. Die Universität bat den Papst, das früher ausgestellte Schreiben mit allen darin enthaltenen Klauseln und Vorkehrungen (cum omnibus et singulis clausulis et cautelis inibi contentis) für immer (ad perpetuam rei memoriam) zu bestätigen (confirmare et approbare). Es sollte also eine Bulle ausgestellt werden, welche die Verewigungsformel enthielte370. Gleichzeitig bat die Universität den Papst, etwaige Mängel des (früheren) Konservatorenschreibens zu beheben (supplentes omnes et singulos defectus si qui forsan intervenerint in eisdem). Schließlich erklärte sich die Universität auch damit einverstanden, daß ein neues Konservatorensehreiben ausgestellt werde, falls dies mehr dem Recht entspreche (si magis iuri consentaneum videatur). Allerdings sollte sich dieses an den Wortlaut des früheren Dokumentes halten (iuxta predictarum literarum tenorem atque formam). Insbesondere sollte die Urkunde für alle Zukunft Geltung besitzen (literas conservatorias alias … perpetuo duraturas). Am Schluß wurden die Formeln: in contrarium facientibus non obstantibus quibuscunque cum clausulis oportunis angebracht. 366
Literas conservatorias … perpetuis futuris temporibus duraturas habuerunt (Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 495 fol. 68v). 367 Ut … litere ipse maioris roboris firmitate subsistant. 368 Ut … eisdem Rectori magistris Doctoribus studentibus scolaribus et aliis predictis magis fructuose reddantur. 369 Ut … a cunctis christifidelibus illarum auctoritas magis revereatur. 370 Vgl. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 23.
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Die Supplik der Erfurter Universität kam um die Bestätigung ihres Konservatorenprivilegs ein. Diese ist ein hochbedeutsamer rechtlicher Vorgang. Die Konfirmation eines Privilegs kann nun eine dreifache Bedeutung haben. Im ersten Fall dient sie lediglich dazu, seine urkundliche Grundlage, die verlorengegangen oder verdorben ist, zu erneuern. Im zweiten Fall hat sie den Zweck, die Existenz des Privilegs gegen Unsicherheit oder Bestreitung sicherzustellen. Im dritten Fall soll die uneingeschränkte rechtliche Wirksamkeit des früher gewährten Privilegs garantiert werden. Hier wirkt die Bestätigung wie eine neue Erteilung des Privilegs371. Es ist erkennbar, daß der Erfurter Universität an der Konfirmation im Sinne des zweiten und womöglich des dritten Falles gelegen war, also in der confirmatio ordinaria bzw. in forma communi und an der confirmatio specialis bzw. in forma specifica oder ex certa scientia. Papst Calixt III. ordnete die Bestätigung in der höchstmöglichen Form, die Neuerteilung des Privilegs, an (fiat de novo). Dies gab ihm die Möglichkeit, Änderungen daran vorzunehmen, und eine solche hatte er im Sinn. Er lehnte es nämlich ab, ein immerwährendes Konservatorium zu gewähren, beschränkte es vielmehr auf 50 Jahre. Ein halbes Jahrhundert war freilich ein beträchtlicher Zeitraum. Doch behielt der Heilige Stuhl durch die Anbringung einer Befristung das Privileg in anderer Weise in der Hand als bei der Ausstellung eines solchen ohne zeitliche Begrenzung. Das Datum der Supplik legte den Zeitpunkt fest, in dem die Gunst gewährt wurde. Er war angegeben mit duodecimo Kal. Decembres Anno secundo. Der Tag war also der 20. November. Das zweite Pontifikatsjahr Calixts III. begann am 20. April 1456372. Die Gnade wurde mithin am 20. November 1456 gewährt. Die Supplik war signiert mit dem Buchstaben A. Dies ist der Anfangsbuchstabe des Taufnamens des Papstes (= Alonso de Borja). Er wurde vom Papst eigenhändig angebracht373. Da die Gewährung der Supplik am 20. November 1456 erfolgte, lief die Gunst am 20. November 1506 aus. Die Personen der Konservatoren blieben offensichtlich dieselben. Der Erfurter Schottenabt Donatus (1456 – 57) ist als Konservator urkundlich belegt374. III. Der Höhepunkt der Konservatorengerichtsbarkeit Unter dem Rektorat des Rudolph de Sutwoldia (1460) erschien wieder, und zwar mit einer umfangreichen Liste von Namen, die Einnahmequelle ,,Recepta de licenciatoriis375. So war es auch im Rechenschaftsbericht des Siegfried Ziegler (1461)376. Eine gewaltige Liste von Empfängern der Lizenziatorien stellte der 371
Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, 824 f. Pitz, Supplikensignatur 22. 373 Pitz, Supplikensignatur 28, 43, 55. 374 Weissenborn, Acten I, 258 a 34 – 35 (conservator studii gratis; 1456 Mich.). 375 Liber receptorum I fol. 43r–v. 376 Liber receptorum I fol. 44r–v. 372
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Rektor Hieronymus Sesselman (1461/62) auf377. Sein Nachfolger Gottfried Walack de Berka (1462) brachte es ebenfalls auf eine stattliche Zahl dieser Dokumente378. Auf eine große Menge ausgestellter Lizenziatorien blickte auch der Rektor Johannes Milbach (1462/63) zurück379. In seiner Rechnung hieß es nach dem Titel ,,De Residuo intitulature“ und vor dem anderen ,,De licenciatoriis“ von einem Priester: volens agere coram Conservatore380. Ebenso oder ähnlich war es unter seinen Nachfolgern381. Die Gerichtsbarkeit der Konservatoren war offensichtlich gefragt. Von dem Abt Richard I. (1463 – 1464) wissen wir, daß er den Dienst des Konservators überkommen hatte382. Es mag ein Zeichen der Bedeutung, die man diesem Posten zumaß, sein, daß der Rektor Jodocus von Herborn (1466/67) die Einnahmen aus den Lizenziatorien an die Spitze seiner Rechnungslegung stellte383. Die Rechnung führte 40 Namen unter der Rubrik ,,De licenciatoriis“ auf384. Auffällig ist die hohe Zahl von Magistri, die unter ihm die Genehmigung zum Prozessieren vor dem Konservator empfingen, und zwar, wie gewohnt, unentgeltlich385. Auch der Nachfolger des Jodocus, Johannes von der Sachsen, gab den Lizenziatorien den ersten Platz (1467)386. Konrad Stein (1467/68) unterbrach diese Übung387, aber sein Nachfolger, Georg Molitoris von Naumburg, nahm sie wieder auf388. Im Wintersemester 1467/68 standen unter dem Titel ,,De licenciatoriis“ 30 Namen389. Der Rektor Georg von Naumburg wies im Sommersemester 1468 immerhin 23 Empfänger von Genehmigungen nach390. Der Rektor Günther Milwitz (1468/69) konnte erneut auf eine stattliche Zahl von Lizenziatorien zurückblicken, die in seiner Amtszeit ausgestellt worden waren: Es waren 44 Empfänger des begehrten Dokuments391. Bei diesen Zahlenangaben ist zu bedenken, daß in jedem Jahre zwei 377
Liber receptorum I fol. 45r. Liber receptorum I fol. 46r–46v. 379 Liber rcceptorum I fol. 47r–47v. 380 Liber receptorum I fol. 47r. 381 Liber receptorum I fol. 47v (Hermann Gresemund von Meschede, 1463); fol. 48r (Johannes Milbach, 1463); fol. 48v (Heinrich Padiß, 1463/64); fol. 49r (Hunold von Plettenberg, 1464); fol. 49v (Hermann Steinberg, 1464/65); fol. 50r (Konrad Fuchser, 1465); fol. 51r (Gerhard Helmich, 1465/66); fol. 51v–52r (Eberhard Pael, 1466); fol. 52v (Jodocus von Herborn, 1466/67). 382 Weissenborn, Acten I, 297 a 15 – 17 (Gratisimmatrikulation des Cristoferus Heyß de Kuntil; ob reverentiam dni Richardi abbatis Schottorum et bedelli suam partem remiserunt; 1463 Ostern). 383 Liber receptorum I fol. 52v. 384 Liber receptorum I fol. 52v. 385 Liber receptorum I fol. 52v. 386 Liber receptorum I fol. 53r. 387 Liber receptorum I fol. 53v–54r. 388 Liber receptorum I fol. 54r. 389 Liber receptorum I fol. 53v–54r. 390 Liber receptorum I fol. 54r. 391 Liber receptorum I fol. 54v–55r. 378
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Rektoren amtierten, daß also die Zahl der ausgestellten Lizenziatorien jeweils nur eine Jahreshälfte betrifft. Auch Heinrich Reuß von Plauen (1469) genehmigte eine ansehnliche Menge von Anträgen392, ähnlich sein Nachfolger393. Die Zahl ließ nach unter dem Rektor Johannes Rode (1470)394, schwoll aber wieder an unter seinem Nachfolger395. Der Rektor Johannes Viti aus Uffenheim (1471) stellte eine ansehnliche Zahl von Bescheinigungen für die Inanspruchnahme des Konservators aus396, sein Nachfolger, Christian Roder (1471/72), noch mehr397. Dasselbe gilt für das Rektorat des Johannes von Dingelstedt (1473/74)398. In den folgenden Jahren blieb es bei dem Zuspruch, den die Konservatorengerichtsbarkeit fand399. Im Sommersemester 1474 wurden 15, im Wintersemester 1474/75 insgesamt 19 Namen aufgeführt400. Unter dem Rektorat des Johannes Klokereyme aus Northeim (1477) stieg die Zahl der ausgestellten Lizenziatorien erneut an401. Tilomann Ziegler (1477/ 78) verzeichnete immer noch eine ansehnliche Menge402, ebenso Heinrich Egher (1478)403. Im Rektorat des letzteren enthielt die Liste der Empfänger von Linzenziatorien 21 Namen404. Unter dem Rektorat Hugo Försters (1478/79) ging die Zahl zurück405, stieg aber unter jenem des Johannes von Dingelstedt (1479) wieder an406. Das Sommersemester 1479 brachte 23 Personen die Bescheinigung407. Auch die Rektoren Konrad Regis (1479/80)408 und Hoyer Graf in Mulingen (1480)409 verharrten in der Tradition. Eine beträchtliche Steigerung trat ein unter Balthasar Ziegler (1480/81)410 und Johannes Kremer (1481)411. Der hohe Stand blieb unter 392
Liber receptorum I fol. 55v. Liber receptorum I fol. 56r. 394 Liber receptorum I fol. 56v. 395 Liber receptorum I fol. 57r. 396 Liber receptorum I fol. 57v. 397 Liber receptorum I fol. 58r. 398 Liber receptorum I fol. 58v. 399 Liber receptorum I fol. 59v (Nikolaus Institoris aus Gengenbach, 1474); fol. 60r (Günther Milwitz, 1474/75); fol. 60v (Heinrich Winter, 1475); fol. 61r (Heinrich Winter, 1475/76); fol. 61v (Konrad Schechteler, 1476/77). 400 Liber receptorum I fol. 59v, 60r. 401 Liber receptorum I fol. 62r. 402 Liber receptorum I fol. 63r. 403 Liber receptorum I fol. 63v. 404 Liber receptorum I fol. 63v. 405 Liber receptorum I fol. 64r. 406 Liber receptorum I fol. 64v. 407 Liber receptorum I fol. 64v. 408 Liber receptorum I fol. 65r. 409 Liber receptorum I fol. 65v. Im Sommersemester 1480 empfingen 13 Angehörige der Universität die Genehmigung, darunter 2 Magistri. 410 Liber reccptorum I fol. 66r. 411 Liber receptorum I fol. 66v. 393
Konservatoren
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Johannes Bertram (1481/82)412, Petrus Petz (1482)413 und Philipp Graf in Solms (1482/83)414 erhalten. Nikolaus Institoris von Gengenbach (1483) stellte 16415, Markus Decker (1483/84) 19 Lizenziatorien416 aus. Es gibt kein Anzeichen dafür, daß zu Konservatoren andere Personen als die mehrfach genannten Würdenträger bestellt worden wären. Abt Matthaeus (1464 – 1479) hatte wieder die Doppelfunktion als Konservator der Universität417 und der Stadt Erfurt418. Die Lage des Konvents des Schottenklosters scheint nicht gerade glänzend gewesen zu sein. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts war die Schottenoder Jakobskirche in schlechtem baulichem Zustand, der durch den Brand von 1472 noch verschlimmert wurde419. Es fehlte offensichtlich an Mitteln, sie rasch wieder herzurichten. Abt Cornelius (1479 – 1483) hat sein Amt als Universitätskonservator420 noch am 21. August 1483 ausgeübt421. Abt Donatus (1484 – 1485) war ebenfalls für Universität422 und Stadt Erfurt423 tätig. Diese mehrfach festgestellte Doppelung scheint zu der Schlußfolgerung zu berechtigen, daß die Äbte regelmäßig für beide Auftraggeber bestellt wurden. Beginn und Ende sowie etwaige Unterbrechungen der Amtszeit der Schottenäbte sind leider häufig nicht mit Gewißheit auszumachen. Vom 20. Juli 1468424 über den 7. Juli 1480425 bis zum 18. April l497426 und 19. Januar 1498427 ist Johannes Weysse (Wysse, Wysze, Wisse), der Propst des Erfurter Reglerklosters, als Konservator der Universität belegt. Vermutlich verteilte sich der Dienst der Erfurter Konservatoren nicht gleichmäßig auf Abt 412
Liber receptorum I fol. 67r. Liber receptorum I fol. 67v. 414 Liber receptorum I fol. 68r–68v. 415 Liber receptorum I fol. 69r–69v. 416 Liber receptorum I fol. 70v. 417 Weissenborn, Acten I, 305 a 6 – 8 (gratis ob reverenciam sui et quia conservator (est); 1464 Mich.). 418 StA Erfurt 0 – 0 A XXIX Nr. 5 (28. Februar 1470). 419 Arndt, Die kirchliche Baulast 27. 420 Weissenborn, Acten I, 378 a 38 – 40 (abbas monasterii sancti Iacobi Scotorum hic in Erffordia dt. 1 flor.; 1479 Mich.). 421 Kopp, Ausführliche Nachricht I, Beylagen Nr. 15 S. 38 f. Die Urkunde, in der Abt Cornelius am 17. März 1484 den Verkauf der Rechte an der Pfarrei St. Jacobi in Leipzig bezeugt, findet sich in Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 438 f. Nr. 527. Zum Vollzug der Übertragung vgl. ebenda I, 440 f. Nr. 528 (17. und 18. März 1484); I, 442 Nr. 530 (8. April 1484). 422 Weissenborn, Acten I, 404 a 23 – 25 (abbas monasterii sancti Iacobi Scotorum Erffordensium dt. 1 flor.; 1484 Mich.). 423 StA Erfurt 0 – 0 A XXIX Nr. 4 (16. April 1481). Vgl. Scholle, Das Erfurter Schottenkloster 76; Hammermayer, Neue Beiträge 216. 424 Kopp, Ausführliche Nachricht I, Beylagen Nr. 14 S. 37 f. 425 StA Erfurt 0 – 1 VII A 56. 426 DA Erfurt Gerichtsbuch fol. 153v–154v (18. April 1497). 427 DA Erfurt Gerichtsbuch fol. 203v. 413
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und Propst, sondern je nach Eignung und Vermögen trat bald der eine, bald der andere mehr hervor. 4. Kapitel: Wechselhafte Schicksale und das Ende im 16. Jahrhundert I. Anhaltende Konjunktur und Irrungen Das zu Ende gehende 15. Jahrhundert läßt keinen Einbruch in die Gerichtsbarkeit der Konservatoren erkennen. Der Liber receptorum hält das übliche Auf und Ab fest. Der Rektor Hartmann Burggraf von Kirchberg (1484/85) verzeichnete wie üblich die ,,Recepta de Licenciatoriis“428, sein Nachfolger Johannes Steinberg (1485) nur vier429. Unter dem Rektorat des Johannes Bonemilch (1485/86) stieg die Zahl wieder an430. Thomas Graf in Rieneck (1487) stellte erneut eine beträchtliche Zahl von Lizenziatorien aus431, ebenso Johannes von Heringen (1487/88)432, etwas weniger Wilhelm Graf in Honstein (1488)433. Unter dem Rektorat des Heinrich aus Würzburg (1488/89) zeigte sich wieder ein Andrang zu der Konservatorengerichtsbarkeit434, der unter Hermann Serges aus Dorsten (1489) anhielt435. Der Rektor Henning Goede (1489/90) stellte 12 Lizenziatorien aus436, Sigismund Thome aus Stockheim (1490) deren 18437, Heinrich Collen aus Osenbrugke (1490/91) 12 bezahlte und mehrere kostenlose438. Der Rektor Johannes von Berlevessen (1491) registrierte 12 ausgestellte Lizenziatorien439, Johannes Biermost (1492/93) deren elf440. Sebastian Weinmann (1493) verzeichnete unter der Rubrik ,,De licenciatoriis“ und mit der Bemerkung pro licencia ad conservatorem die Einnahmen441, sein Nachfolger Nikolaus Loerer aus Würzburg (1493/94) nur unter der Überschrift ,,De licenciatoriis“442. Der Rektor Heinrich Roland (1494) vermerkte die Namen derer, welche mit oder ohne Gebühr das Lizenziatorium erhalten hatten443. Johannes Schoner (1495) führte in seiner Rechnung neun Namen auf, die für den Erhalt eines 428
Liber receptorum I fol. 71r–71v. Liber receptorum I fol. 72r. 430 Liber receptorum I fol. 72r–72v. 431 Liber receptorum I fol. 73r. 432 Liber receptorum I fol. 73v. 433 Liber receptorum I fol. 74r. 434 Liber receptorum I fol. 74v. 435 Liber receptorum I fol. 75r. 436 Liber receptorum I fol. 75v. 437 Liber receptorum I fol. 76r. 438 Liber receptorum I fol. 76v. 439 Liber receptorum I fol. 78v. 440 Liber receptorum I fol. 80r–80v. 441 Liber receptorum I fol. 81v. 442 Liber receptorum I fol. 82r. 443 Liber receptorum I fol. 82v. 429
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Lizenziatoriums je zehn alte Groschen entrichtet hatten444. Sein Nachfolger, wiederum Johannes Bonemilch (1495/96), vermochte nur wenige Namen von Empfängern des begehrten Schriftstücks zu nennen. Von einem ist bemerkt: cuius nomen ignoro, und bei Hermann Lasphe, einem Hausgenossen des Rektors: gratis quia famulus rectoris445. Der Rektor Johannes Knaeß aus Berka (1496) stellte dagegen mehr Genehmigungen zum Angehen des Konservators aus446, auch sein Nachfolger Martin Margrithensis (1496)447; jeder Empfänger bezahlte zehn alte Groschen. Johannes Sömmering (1497) konnte in seinem Rektorat eine stattliche Liste von Antragstellern befriedigen. An deren Schluß fügte er die Bemerkung: Quibusdam aliis prelatis et dominis gratis concessa fuerunt licenciatoria448. Die Namen dieser Personen wurden nicht angegeben, weil sie für die Einnahmen des Rektorats nichts beitrugen. Die Gebühren für die unter dem Rektorat des Johannes Sömmering ausgestellten Lizenziatorien zeichneten sich durch große Gleichheit aus; die meisten gaben 10 alte Groschen monete leonene449. Der Rektor Georg Eberbach (1497/ 98) fügte dem Magister, der in seiner Aufstellung derer, welche die Gebühr bezahlt hatten, vorkommt, hinzu: nichil quia magister450. In der Rechnung des Rektors Johannes Fabri aus Berka (1498) nehmen die Namen der Empfänger den größten Raum ein451. Im Rektorat des Jodocus Trutvetter (1501) wurde wieder eine stattliche Zahl von Genehmigungen zum Prozessieren vor dem Konservator erteilt452. Unter den Empfängern war auch Heinrich, Episcopus Callensis, der sein Lizenziatorium kostenlos erhielt. Es handelt sich dabei um den Naumburger Weihbischof Henricus Cratz O. Hosp. s. Joh. Hier., der auf das Titularbistum Callipolis in Thrakien geweiht war453. Wohl unter dem Rektorat des Johannes Gans (1502/03) findet sich die Eintragung im Liber receptorum: Item: Tria licenciatoria pro quibus pecunias recepi, quartum gratis dedi cuidam pauperi scholastico454. Das Absinken der Zahl ausgestellter Lizenziatorien ist auffällig. Der Grund dafür ist nicht bekannt. Vielleicht lag er in der Person der Konservatoren begründet. Im Wintersemester 1503/04 war Johannes Bonemilch zum vierten Mal Rektor der Universität. In dieser Zeit wurden sieben Namen von Empfängern des Lizenziatoriums nachgewiesen455. Nach einigen Unregelmäßigkeiten und Lücken im Liber receptorum 444
Liber receptorum I fol. 83v. Liber receptorum I fol. 84v. 446 Liber receptorum I fol. 85r. 447 Liber receptorum I fol. 86r. 448 Liber receptorum I fol. 87r. 449 Liber receptorum I fol. 87r. 450 Liber receptorum I fol. 87v–88r. 451 Liber receptorum I fol. 88v–89r. 452 Liber receptorum I fol. 95r. 453 Conradus Eubel (Hrsg.), Hierarchia Catholica Medii Aevi II, Ed. altera, Münster 1914, 115. 454 Liber receptorum I fol. 99r. 455 Liber receptorum I fol. 99v. 445
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kehrte unter dem Rektor Johannes Werneri aus Tettelbach (1504/05) wieder Ordnung in die Aufzeichnungen ein. Die Zahl der von ihm erteilten Lizenziatorien war beträchtlich456. Der Rektor Johannes Reinboth (1506/07), der anscheinend im Rektorat aufräumte, scheint keine Lizenziatorien ausgestellt zu haben457. Eine Abrechnung über sie fehlt auch in der Rechnung des Johannes Reinhardi aus Schmalkalden (1507/08)458. Es ist daran zu denken, daß die Konservatoren ihren Dienst nicht ausübten. Erst unter dem Rektor Johannes Alberti aus Einbeck (1509/10) taucht die Rubrik ,,De licenciatoriis“ wieder auf. Es werden vier Namen von zahlenden Empfängern genannt. Daran schließt sich die Bemerkung: Quibusdam Doctoribus et Magistris gratis concessa sunt459. Die Vorsteher des Schottenklosters dienten weiterhin der Universität. Von Abt Edmund (1485 – 1494)460 wird berichtet, daß er im Jahre 1490 als Richter und Konservator waltete, indem er Streitsachen von Universitätsangehörigen durch Urteil entschied461. Abt Nikolaus II. (1494 – 1504) ist ebenfalls in dieser Funktion bezeugt462. Er war wieder gleichzeitig Konservator der Stadt Erfurt463. Daß die Universität auf die Tätigkeit der Konservatoren verzichtet und ihre Befugnisse dem (Erfurter) Generalgericht übertragen habe464, trifft nicht zu465. Das Versprechen, das erstmalig am 23. Juli 1427 abgegeben worden war und das am 3. Juli 1503 erneuert wurde466, beinhaltete nicht einen Verzicht auf die Konservatorengerichtsbarkeit, setzte vielmehr deren Bestehen voraus. Es handelte sich darum, daß Rektor und Universität erneut zusagten, sich zugunsten der Generalrichter der Ausübung ihres Rechtes, Beamte und Bedienstete des Erzbischofs von Mainz vor ihren Konservatoren zu belangen, zu enthalten467. Doch gab es in dieser Zeit einen Versuch, die Gerichtsbarkeit der Konservatoren lahmzulegen. In die Jahre 1503/04 fallen ,,Irrungen“ zwischen dem Erzbischof Berthold von Mainz und dem Rat der Stadt Erfurt468. Sie hatten mannigfache weltliche und geistliche Dinge zum Gegenstand. Ein Punkt der Gravamina, die der Rat der Stadt Erfurt vorbrachte, war die versuchte Ausschaltung der Gerichtsbarkeit der Konservatoren. Die Stadt beschwerte sich, daß Angehörige der Universität vor das geist456
Liber receptorum I fol. 100r. Liber receptorum I fol. 102v–103v. 458 Liber receptorum I fol. 105v–106r. 459 Liber receptorum I fol. 108v. 460 Weissenborn, Acten I, 408 a 25 – 26 (abbas Scotorum) dt. 7 nivenses; 1485 Mich.). 461 Hammermayer, Neue Beiträge 216. 462 May, Die geistliche Gerichtsbarkeit 121 A. 31. 463 StA Erfurt 0 – 0 A XXX Nr. 11 (24. Juli 1500). 464 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 219. 465 So richtig Weiß, Die Kirchenpolitik 108. 466 StA Würzburg MIB 56 fol. 142v. 467 May, Die geistliche Gerichtsbarkeit 119. 468 LHA Magdeburg Rep. A 37 b I Abt. II Tit. XV No. 32 a Bl. 1 – 12. 457
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liche Gericht des Erzbischofs in Mainz gezogen würden. Die Mainzer Richter würden sich anmaßen, die Universitätsangehörigen ihrer Freiheiten zu berauben, indem sie ihnen den päpstlichen Konservator entzögen, der ihnen ,,unfugesam unnd unbequeme“ sei. Dadurch erleide die Universität einen Verlust und verliere an Frequenz, was auch der Stadt zu Schaden gereiche. Bezeichnend war, daß sich die Stadt bei diesem Beschwerdepunkt auf die Privilegien und Freiheiten berief, die der Universität vom Konzil zu Basel gewährt worden seien. Die Stadt setzte sich offensichtlich durch. Die Einrichtung der Konservatoren blieb in ihrer Selbständigkeit erhalten. Die fehlenden Rechnungen im Liber receptorum im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert deuten auf Unregelmäßigkeiten hin. Nicht alle Vorsteher des Schottenklosters widmeten sich ihrer Aufgabe als Konservatoren der Universität Erfurt mit gleicher Hingabe. Einige scheinen ihr nicht nachgekommen zu sein. Von Abt Alanus (1505 – 1507) und Abt Johannes I. (1507) sind uns keine einschlägigen Nachrichten überkommen. Der letztere muß in Lebenswandel und Wirtschaftsführung versagt haben und beging Klosterflucht469. Das Tentamen bemerkt zum Jahr 1510, daß einige der Vorgänger des Abtes Benedictus ihr Amt als Konservator vernachlässigt haben470. Darin dürfte die Erklärung für das soeben erwähnte Nachlassen der Ausstellung von Lizenziatorien zu suchen sein. Wenn die Konservatoren ihrer Aufgabe nicht nachkamen, war es sinnlos, sich die Erlaubnis geben zu lassen, vor ihnen zu prozessieren. Erst unter Abt Benedictus (1507 – 1517)471 kehrten wieder geregelte Zustände ein. Von ihm wurde bemerkt, daß er im Jahre 1510 das Amt eines Conservator, Judex et Custos Matriculae universitatis, das einige seiner Vorgänger vernachlässigt hätten, wieder aufnahm472. Ebenso war er als Schützer der Privilegien der Stadt Erfurt tätig473. Benedictus scheint noch einmal versucht zu haben, den prekären Stand des Klosters zu verbessern. Im Jahre 1510 wurde die Kirche des Schottenklosters wiederhergestellt474. Doch im Kloster bereitete sich ein bedeutender Umschwung vor475. Nach Abt Benedikt ging die Leitung von den Iren auf die Schotten über. Dieses Ereignis scheint in das Jahr 1518 zu fallen476. Der Dienst des Konservators wurde davon nicht berührt.
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Hammermayer, Neue Beiträge 217. Quod aliqui ex suis decessoribus neglexerunt (Hammermayer, Neue Beiträge 217). 471 Weissenborn, Acten II, 274 a 18 – 21 (abbas monasterii S. Iacobi Scotorum academie nostre conservator donavit accensis gymnasii 2 sol.; 1512 Ost.). 472 Hammermayer, Neue Beiträge 217. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 116 f. 473 StA Erfurt 0 – 0 A XXIX Nr. 6 (30. Januar 1517). 474 Arndt, Die Baulast 27. 475 Hammermayer, Neue Beiträge 218. 476 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 110. Vgl. Mai, Das Schottenkloster St. Jakob in Regensburg 19. 470
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II. Nachblüte und Niedergang Gegen Ende des 15. Jahrhunderts bereitete sich in der Stadt Erfurt eine Gärung vor. Sie hatte eine doppelte Wurzel, eine ideologische und eine wirtschaftliche. Durch Universitätslehrer wie Conrad Muth477 wurden Kirche und kirchliche Autorität, akademische Sitten und studentischer Gehorsam systematisch untergraben und die Saat des Hasses, der Verachtung und der Empörung ausgestreut478. Satiren kommen unter Studenten bekanntlich allezeit gut an, und wer vor nichts Respekt hat, vermag leicht geistreich zu sein. Die wirtschaftliche Lage in Erfurt war ungünstig; die Stadt hatte sich finanziell übernommen. Ihre hohe Verschuldung mit deren Folgeerscheinungen erzeugte Mißmut und Aufbegehren. 1509 war der öffentliche Bankrott der Stadt da. Es brachen wirtschaftlich bedingte soziale Unruhen aus. Sie hielten das ganze Jahr über an und setzten sich 1510 fort479. Auch die Universität und das Studium wurden davon in Mitleidenschaft gezogen480. Am 4. August 1510 erfolgte der Sturm auf das Collegium maius481. In den Unruhen der Jahre 1509/10 waren Recht und Gerechtigkeit ohnmächtig. Zumal die geistlichen Waffen versagten gegenüber der entfesselten Gewalt. Der Konservator war machtlos. Die Erfurter Universität erlitt einen schweren Schlag und große Verluste. Ihre Blütezeit war vorbei. Unter dem Rektor Johannes Lupi (1510) nahm die Rechnung wieder ein normales Aussehen an. Der Titel ,,De licenciatoriis“ fehlte nicht482. Bei seinem Nachfolger, Konrad Dulcis (1510/11), gewann er stärkere Ausdehnung483. Der Rektor Johannes Schönemann (1511) wies nur sechs Lizenziatorien nach, die er ausgestellt hatte484. Unter seinem zweiten Nachfolger, Heinrich Eberbach (Sommersemester 1512), stieg ihre Zahl etwas an485. An den Schluß seiner Rechnung schrieb er: Item ad tutandum conservatorium missi ad Romanam Curiam D. Joanni Weidemann X Floreni Auri. Das war eine gewichtige Bemerkung. Das Konservatorium sollte bewahrt, d. h. erneuert werden. Es war hinfällig geworden. Das Konservatorium, das Papst Calixt III. für die Dauer von 50 Jahren bewilligt hatte, war am 20. November 1506 verfallen486. In den folgenden Jahren bestand daher keine rechtliche Ermächtigung für die Tätigkeit der Erfurter Konservatoren. Dennoch scheinen sie ihren 477
181. 478 479
148. 480
Über ihn vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, passim, vor allem 178 – Braun, Geschichte der Heranbildung des Klerus in der Diöcese Würzburg I, 60. Neubauer, Das tolle Jahr von Erfurt, passim; Kampschulte, Die Universität Erfurt I, 120 –
Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 175 – 188. Neubauer, Das tolle Jahr von Erfurt 79. 482 Liber receptorum I fol. 112v. 483 Liber receptorum I nach fol. 112v. 484 Liber receptorum I fol. 113v. 485 Liber receptorum I fol. 114v 486 Vgl. X l, 29, 4 und 24. 481
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Dienst teilweise weiterhin versehen zu haben. Nun kennt das kanonische Recht die gesetzliche Ergänzung fehlender Hirtengewalt487. Die gesetzlichen Grundlagen der Suppletion im Dekretalenrecht sind dürftig. Außer C. 3 q. 7 c. 1 und X 2, 27, 24 ist dafür nicht viel anzufiihren488. Um so eifriger beschäftigte sich die Rechtslehre mit diesem Institut. Während die Anwendung der Suppletion auf die ordentliche Hirtengewalt unbestritten war, setzte sich ihre Beziehung auf die delegierte Hirtengewalt nur zögernd durch, war aber wohl im 14. Jahrhundert bezüglich der allgemeinen Delegation gesichert489. Als Grundlage der Suppletion wurde der allgemeine Irrtum (error communis), später auch der Zweifel (dubium positivum et probabile) gelten gelassen. Wie weit sich die Erfurter Kanonisten auf das Prinzip Ecclesia supplet berufen oder berufen konnten, ist bislang nicht auszumachen. Jetzt jedenfalls beruhigte man sich nicht mehr bei diesem Auskunftsmittel. Man hatte wohl den Termin übersehen. Nun erinnerte man sich an diese Tatsache und beeilte sich, ihr Rechnung zu tragen. Es lag dem Rektor und der Universität daran, die Konservatorengerichtsbarkeit zu erhalten. Zu diesem Zweck wurden zehn Goldgulden aufgewendet. Sie wurden an den Agenten oder Prokurator490 der Erfurter Universität beim Apostolischen Stuhl überwiesen. Es scheint sich dabei um den aus der Diözese Hildesheim stammenden bekannten Prokurator an der Römischen Rota Johannes Weydemann (Widemann, Wedemann) zu handeln491. Er wird eine Supplik an Papst Julius II. gerichtet492 und eine Verlängerung des Privilegs erwirkt haben. Noch schienen die Dinge ihren normalen Lauf zu nehmen. In der Rektoratsperiode des Johannes Werlich (1512/13) sind 14 Lizenziatorien ausgestellt worden493, in der des Andreas Schill (1513) deren zwölf494, in jener des Heinrich Drolmeyer aus Lich (1514/15) deren e1f495. Unter dem Rektor Johannes Hoch (1515) wuchs
487 Horst Herrmann, Ecclesia supplet, Das Rechtsinstitut der kirchlichen Suppletion nach c. 209 CIC (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 24), Amsterdam 1968. 488 Herrmann, Ecclesia supplet 76 – 79. 489 Herrmann, Ecclesia supplet 84 – 87. 490 Über die Tätigkeit der Prokuratoren in Rom vgl. z. B. Schmiedel, Nikolaus Lubich 28 – 40; Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 46 f., 55, 67, 87, 92 f., 112, 155 f.; Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, 375, 495. 491 Nikolaus Hilling, Die römische Rota und das Bistum Hildesheim am Ausgange des Mittelalters (1464 – 1513), Hildesheimische Prozeßakten aus dem Archiv der Rota zu Rom (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte Heft 6), Münster i. W. 1908, 140 (Reg.); H. Herbst, Dr. Johannes Weidemann und seine Bibliothek: Sachsen und Anhalt 7, 1931, 348 – 359; Pilvousek, Die Prälaten des Kollegiatstiftes St. Marien in Erfurt, Reg., vor allem 173 – 178; Weiß, Die Kirchenpolitik des Erfurter Rates 168. 492 Über das Supplikenregister Julius’ II. vgl. Katterbach, Inventario dei Registri delle suppliche 68 – 79. Eine von mir veranlaßte Nachforschung nach der Supplik verlief ergebnislos. 493 Liber receptorum I fol. 115r–115v. 494 Liber receptorum I fol. 116r–116v. 495 Liber receptorum I fol. 118v.
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die Zahl der gewährten Genehmigungen wieder an496. Engelbert Menze brauchte nichts zu entrichten, weil er der famulus des Doktors Hermann Dörsten war. Burkard Balbach bekam das Dokument kostenlos, weil er der Pedell des Konservators des Studiums, des Abtes des Schottenklosters, war. Johannes Scheffer hatte gleich zwei Lizenziatorien erbeten und erhalten. Johannes Wolff und Johannes Grißlinck zahlten drei Schneeberger, quia una causa et una citacio. Georg Balbach, der Notar des Gerichts zur Roten Tür (= des Archidiakons, der mit dem Propst des Marienstiftes identisch war)497, empfing das Dokument kostenlos. Wie er brauchten der Magister Jakob Mellarii, Matheus Üldermann (ob petitionem Domini Licenciati Henningi Gosslariensis) und Heinrich Rüdiger (Senior Canonicus BMV) nichts zu zahlen. In diesem Rektorat wurde auch wieder eine eigene Rubrik ,,De recognicionibus“ ausgeworfen. Als Anlässe wurden z. B. genannt: die simplici Testimonio, de biennio completo. Unter dem Rektor Maternus Pistorius (1516) wurde die normale Zahl von Lizenziatorien ausgestellt498. Unter seinem Nachfolger Heinrich Leonis aus Berka (1516/17) war es nicht anders499, und so hielt es an unter dem Rektor Bernhard Ebeling (1517)500. Von einer irgendwie gearteten Erschütterung des Vertrauens zu den Konservatoren ist bis zu diesem Zeitpunkt nichts zu spüren. Doch machte sich gegen Ende des Jahres 1517 ein Nachlassen der Zahl der ausgestellten Dokumente bemerkbar. Der Rektor Michael Textoris (1517/18) nannte in seinem Rechenschaftsbericht unter der Überschrift ,,De licenciatoriis“ lediglich drei Namen501. Unter dem nächsten Rektor Mathias Meyer waren es einige mehr502. III. Der Ausgang Geistige, religiöse und politische Umwälzungen lassen am Anfang nicht selten eingewurzelte Ubungen und Gewohnheiten scheinbar unangetastet. Erst bei dem Ausziehen ihrer Konsequenzen erkennt man, daß ihnen die Grundlage abhanden gekommen ist. So verhielt es sich auch mit der Einrichtung der Konservatoren. Noch schien sie zu funktionieren. Der Rektor Jakob Horn (1519/20) verzeichnete noch einmal eine beträchtliche Zahl von ausgestellten Lizenziatorien, von deren Empfängern alle außer drei, darunter Gratiosus pater abbas scottorum, zehn alte Groschen bezahlten503. Von einem Erfurter Schottenabt mit Namen Gratiosus ist bisher nichts bekannt. Unter dem Rektorat des Ludwig Platz (1520) wurden unter 496
Liber receptorum I fol. 119v–120r. Vgl. dafür z. B. die Urkunde des Offizials vom 23. März 1398 (Beyer, Urkundenbuch der Stadt Erfurt II, 796 f. Nr. 1113: in domo habitationis nostre ad rubeam ianuam) oder jene vom 20. Januar 1357 (ebenda II, 375 f. Nr. 472: die beiden Büttel zu der roten Tür). 498 Liber receptorum I fol. 122v. 499 Liber receptorum I fol. 124v–125r. 500 Liber receptorum I fol. 126r. 501 Liber receptorum I fol. 126v. 502 Liber receptorum I fol. l27v–128r. 503 Liber receptorum I fol. 130v. 497
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der Überschrift ,,Recepta ex licenciatoriis sigillo seu signetis“ an erster Stelle die recht zahlreichen Namen der Empfänger von Genehmigungen zum Prozessieren vor dem Konservator aufgeführt504. Auch der Rektor Crotus Rubianus (1520/2 l)505 stellte noch 14 (bezahlte) Lizenziatorien aus506. Es ist bekannt, daß er zu den Parteigängern Luthers gehörte. Dessen Bewegung machte sich auch in Erfurt bemerkbar507. Luther selbst weilte auf dem Weg zum Reichstag in Worms vom 6. bis 8. April 1521 in Erfurt und nahm im dortigen Augustinerkloster Wohnung. Mit seinem Besuch waren heftige Erregungen und Ausschreitungen gegen die Geistlichen verbunden508. Animositäten gegen sie hervorzurufen, war nicht schwer. ,,Bekanntlich ist zu allen Zeiten und in allen Ländern der Klerus ein dankbarer Gegenstand für Angriffe aller Art gewesen“509. Es blieb nicht bei Feindseligkeiten gegen die Kleriker. Allgemeine Unsicherheit riß ein. Recht und Gesetz, darunter auch die Satzung der Universität, verfielen der Verachtung, Gehorsam war verpönt. In den Monaten Mai bis Juni 1521 kam es zu Plünderungen, Gewalttaten und Brandstiftungen in Erfurt510. Die Ausschreitungen waren der Ausbruch lange gespeicherter Unzufriedenheit und bewußt geschürter Demagogie. Das Studium wurde schwer beeinträchtigt. Die Zahl der Studenten ging stark zurück. Seit 1522 nahm die Menge der Immatrikulationen rapide ab511. Die Amtszeit des Rektors wurde von einem halben auf ein ganzes Jahr ausgedehnt. Die Gerichtsbarkeit der Konservatoren ging zurück. In der Rektoratsperiode Martins von der Marthen (1521) wurden neun Lizenziatorien ausgegeben512. Der Rektor Henning Blomberg (1522) rechnete 51 alte Groschen für die Gewährung 504
Liber receptorum I fol. 131v. Ignaz Döllinger, Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekenntnisses, 1. Bd., Regensburg 1846, 138 – 142; E. Einert, Johann Jäger aus Dornheim, ein Jugendfreund Luthers (Erster Teil), Festschrift zum 10. November 1883 herausgegeben vom Verein für thüringische Geschichte und Altertumskunde, Jena 1883; Walther Brecht, Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum, Phil. Diss. Göttingen, Straßburg 1903; Kampschulte, Die Universität Erfurt II, 43 – 105; Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 251 f. 506 Liber receptorum I fol. 133r. 507 Bob Scribner, Die Eigentümlichkeit der Erfurter Reformation, in: Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 –1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 241– 254; Christian Peters, Erfurt ist Erfurt, wird’s bleiben und ist’s immer gewesen, Luthers Einwirkungen auf die Erfurter Reformation, in: Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 – 1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 255 – 275. 508 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 255 – 266. 509 Theodor Th. Neubauer, Aufgaben und Probleme der Ortsgeschichte dargestellt an der Geschichte der Stadt Erfurt: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 38, 1917, 1 – 77, hier 72 f. 510 Kampschulte, Die Universität Erfurt II, 106 – 140; Weiß, Die Kirchenpolitik des Erfurter Rates 127 – 141. 511 Vgl. die Angaben bei Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis III, 26 f. 512 Liber receptorum I fol. 136v. 505
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dieses Dokumentes ab513. Der Rektor Otto Graf von Henneberg (1522/23) verzeichnete dagegen nur vier Lizenziatorien514. Rembert Remberti (1524) nahm lediglich 31 alte Groschen für zwei Dokumente dieser Art ein515. Unter dem Rektorat des Anton Leuffer (1525) wurde keine einzige Genehmigung zur Prozeßführung vor dem Konservator erteilt516. Die äußeren Umstände dürften zur Erklärung dieser Tatsache genügen. Unfrieden und Unruhe breiteten sich infolge der lutherischen Bewegung fast überall aus. Im Lande herrschten Gewalttat und Unsicherheit. Das Recht galt nichts mehr. Am 28. April 1525 rückten die aufständischen Bauern in Erfurt ein517. Die Besetzung der Stadt und die Plünderung des Klerus verbreiteten Angst und Schrecken. Auch nach dem Abzug der Bauern am 5. Mai 1525 kehrte die Ordnung nicht zurück. Die katholische Religionsausübung war in Erfurt verboten. Der Konservator war unfähig, gegen die von Demagogen geschürten Ausbrüche anarchischer Tendenzen irgend etwas zu unternehmen. Seine Gerichtsbarkeit vermochte in dieser Lage nicht wirksam zu werden; sie siechte dahin. Im Rektorat des Eoban Draco (1526/27) war die Lage in bezug auf die Konservatorengerichtsbarkeit nicht besser als vorher518. Maternus Pistoris (1527/28) verzeichnete die Ausstellung eines einzigen Lizenziatoriums519. Heinrich Eberbach (1528 – 30) hatte in den beiden ersten Perioden seines Rektorates keine Einnahmen aus dieser Quelle520. Erst in der dritten wurden 40 antiqui leonis (sic) von zwei derartigen Dokumenten abgerechnet521. Der Rektor Nikolaus Rotendorffer (1531/ 32) vermerkte keine einzige Abgabe eines Lizenziatoriums522 ; ebenso war es im Rektorat des Johannes Schonemann (1532/33)523 und in jenem des Johannes Edessem (1533/34)524. In den folgenden Jahren wurde gelegentlich noch ein Lizenziatorium ausgestellt525. Aber es bestand kein Zweifel, daß die Konservatorengerichtsbarkeit in Erfurt keine Zukunft hatte. Weltliche und geistliche Stände hatten sich wiederholt und dringlich über die Aufstellung von Konservatoren beklagt. Die Bewegung Luthers bot die Gelegenheit, mit ihnen aufzuräumen. Doch war ihre Beseitigung nur der Teil eines weit umfassenderen Angriffs. In einer Zeit zunehmender Gesetzlosigkeit, ja Verwilderung und angesichts der aufpeitschenden Agi513
Liber receptorum I fol. 137r. Liber receptorum I fol. 138v. 515 Liber receptorum I fol. 140r. 516 Liber receptorum I fol. 141r–141v. 517 Kampschulte, Die Universität Erfurt II, 202 – 260. 518 Liber receptorum I fol. 142r. 519 Liber receptorum I fol. 143r. 520 Liber receptorum I fol. 144r. 521 Liber receptorum I fol. 144v. 522 Liber receptorum I fol. 146r–147v. 523 Liber receptorum I fol. 148r. 524 Liber receptorum I fol. 149r–149v. 525 Liber receptorum I fol. 151v, 154v, 156v. 514
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tation gegen die Kirche und ihre Autorität mußte die Macht des geistlichen Schwertes überhaupt unwirksam werden. Wo die kirchliche Jurisdiktion, die amtliche Banngewalt und der Klerus insgesamt dem Spott verfielen und der Verachtung preisgegeben wurden, konnte sich eine Einrichtung wie die der päpstlichen Konservatoren selbstverständlich nicht mehr behaupten. Noch war die Stelle des Erfurter Konservators besetzt. Abt David Cuming (1518 – 1525), der erste schottische Abt, hatte sie inne526. Er scheint der Vertrauensmann des Heiligen Stuhles gewesen zu sein527. Daß Leo X. ihn und den Propst der regulierten Chorherren zu Erfurt, Melchior Wigand, mit der Untersuchung und Entscheidung einiger exkommunizierter Untertanen der Stadt Erfurt beauftragte, läßt darauf schließen, daß auch der erwähnte Propst noch als Konservator tätig war. Ihn hatte der Papst zuerst allein mit der Rechtssache befaßt528. In den religiösen Streitigkeiten der Zeit war Abt Cuming zumindest nicht klarsichtig529. Wie so viele meinte er der Revolution durch Entgegenkommen und Beschwichtigen begegnen zu können. Auf ihn folgte Abt Jakob I. (1525 – 1542). Von ihm wird noch einmal bezeugt, daß er den Dienst des Judex et Conservator universitatis tatsächlich ausübte530. Sein Nachfolger, Abt Andreas Hunter (1542 – 1561), war der letzte Konservator der Erfurter Universität. Sein Versuch, eine Institution aufrechtzuerhalten, der die geistige Grundlage entzogen worden war, hat etwas Rührendes an sich. Am 3. August 1551 lud er auf Antrag des Magister fabricae der Severikirche, Heinrich Coci, den Studenten und Vikar des Severistiftes Hermann Herdorff vor sein Gericht531. Mit Andreas Hunter ging die Stelle eines Konservators der Erfurter Universität ein532. Die Universität beteiligte sich im Jahre 1561 unter dem Rektor Gottfried Bergmann (1559 – 61) mit einem Taler an den Kosten des Begräbnisses ihres letzten Konservators, des Abtes Hunter533. Eine Institution, die über anderthalb Jahrhunderte zum Nutzen der Universität Erfurt und von deren Angehörigen Bestand gehabt hatte, war beseitigt.
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Weissenborn, Acten II, 302 a 9 – 11 (abbas scholarum huius universitatis conservator gratis pro honore universitatis; 1518 Ost.). Vgl. Hammermayer, Neue Beiträge 218; Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 117; III, 149. 527 StA Erfurt 0 – 0 A XXIX Nr. 8 und 9 (1. Dezember 1518). 528 StA Erfurt 0 – 0 A XXIX Nr. 7 (5. März 1518). 529 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis III, 149. 530 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis III, 149 f.; Hammermayer, Neue Beiträge 219. 531 DA Erfurt Marienstift II Nr. 336 a (Verlust älteren Datums). Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis III, 150. 532 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis III, 150. 533 Liber receptorum I fol. 203v. In Köln kam vereinzelt die Feier der Exequien für einen verstorbenen Konservator durch die Universität vor (Keussen, Die alte Universität Köln 8).
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2. Abschnitt: Struktur und Tätigkeit der Erfurter Konservatoren 1. Kapitel: Der Rechtscharakter der Konservatoren I. Der Name Das Wort Conservator bedeutet so viel wie Erhalter, Retter, Schützer. Mit ihm wird die Aufgabe ausgedrückt, die der damit bezeichneten Person gestellt ist; sie hat Rechte und Privilegien zu bewahren und zu verteidigen. Eben dies war die Aufgabe der von den Päpsten bestellten Konservatoren. Sie sollten die Rechte und Privilegien der Personen und Einrichtungen, für die sie beauftragt wurden, schützen. Die Formulare der Päpste für ihre Ernennung bezeichneten sie als Conservatores et Iudices. Auch die Statuten der Erfurter Universität von 1447 nannten sie iudices et conservatores. In beiden Wendungen war also dem Wort conservatores der Ausdruck iudices beigegeben. Darin war eine wichtige Aussage enthalten. Das Wort iudex besagte in mittelalterlicher Zeit nicht allein den Inhaber richterlicher Gewalt, sondern allgemein den Träger hoheitlicher Befugnisse, den Besitzer von Jurisdiktion. In diesem Sinne wurde es in der Verbindung mit Conservator gebraucht; es bezeichnete den kirchlichen Hoheitsträger, dem Kirchengewalt übertragen war. Manchmal wurde die Titulatur der Konservatoren noch erweitert. Das Tentamen sprach am Anfang des 16. Jahrhunderts vom officium Conservatoris, Judicis et Custodis Matriculae universitatis534. Mit dem Wort Matriculae dürften die Immatrikulierten gemeint sein. Der Abt Thaddaeus bezeichnete sich in der Urkunde vom 24. Mai 1452 als iudex et conservator iurium privilegiorum libertatum rerum et bonorum venerabilium virorum dominorum magistrorum doctorum atque scholarium almae universitatis studii ibidem (sc. Erfordiae) una cum certis nostris in hac parte collegis cum clausula Quatenus vos vel duo aut unus vestrum etc. a sacrosancta generali synodo Basiliensi dudum ante protestationem animorum (sic)535 dominorum principum sacri Romani imperii electorum factam specialiter deputatus536. Der Konservator gebrauchte hier fünf Ausdrücke, um den Inhalt dessen anzugeben, was er schützen sollte: Rechte, Privilegien, Freiheiten, Sachen und Güter. Er gab weiter an, wem er seine Einsetzung verdankte, nämlich dem Konzil von Basel. Aber er berief sich nicht einfachhin auf diese Versammlung, sondern vermerkte den Zeitpunkt, vor dem die Ernennung durch sie erfolgt war. Es ist die öffentliche Erklärung (protestatio) der Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches. Es handelt sich dabei um die schon oben erwähnte Ankündigung ihrer Neutralität in dem Streit zwischen dem Konzil von Basel und Papst Eugen IV., die am 17. März
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Hammermayer,. Neue Beiträge 219. Hier dürfte ein Lesefehler vorliegen. 536 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 231 (Nr. 287). 535
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1438 in Frankfurt am Main erfolgte537. Diese Erklärung bedeutete eine Zäsur in der Geschichte des Baseler Kirchenrates. Was nachher von ihm beschlossen wurde, sollte nach dem Willen der Kurfürsten im Deutschen Reich keine Verbindlichkeit beanspruchen können, etwaige Ernennungen sollten unwirksam sein. Schon lange (dudum) vor dieser Erklärung war nun, wie es in dem Titel hieß, das Konservatorenschreiben von dem Baseler Konzil ausgestellt worden. Es sollte damit dokumentiert werden, daß die Bestellung zum Konservator in jene Tagungsperiode des Baseler Konzils fiel, in der seine Autorität noch unbestritten war. Der Zusatz ist vermutlich aus der Befürchtung zu verstehen, die Ernennung zum Konservator und folgeweise dessen Gerichtsbarkeit könnten unter Hinweis auf die schismatische Wendung in der Spätzeit der Baseler Versammlung angefochten werden. Das Auftragsschreiben der Konservatoren hieß litterae conservatoriarae538 oder litterae conservatoriae539, littera conservatoria540 bzw. bloß conservatoria541. Das Konservatorenschreiben mit dem Incipit ,,Militanti ecclesie“ trug die Überschrift ,,Conservatoria iuxta formam concessam per dominum Clementem in concilio Viennensi542. Auch die Urkunde Kardinal Alemans vom 21. Juli 1442 sprach von (littera) conservatoria543. Die Statuten der Universität Erfurt von 1447 nennen das Bestellungsschreiben conservatorium (Rubr. XV in.). Auch die Einrichtung und Stellung des Konservators wurde kurz conservatorium genannt544. Es ist wohl zu ergänzen: privilegium oder indultum. II. Ernennung 1. Die Stellung des Antrags Konservatoren wurden vom Apostolischen Stuhl an sich auf Antrag bestellt. Jedoch war die Übung, bestimmten Institutionen solche zu geben, häufig derart gewohnheitsmäßig geworden, daß auf die Erwähnung derjenigen, die um die Bestellung eingekommen seien, wenig zu geben ist. Die Antragsteller waren normalerwetse die Personen oder Einrichtungen, die in den Genuß des Schutzes eines Konservators kommen wollten. Bonifaz IX. nannte als solche in seinem Schreiben die Magistri und Doktoren sowie die Scholaren der Universität Erfurt. Die Dreiheit magistri, doctores et scolares war ein feststehender Ausdruck, der überaus häufig 537 Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters I, 5.–7. Aufl., Freiburg i. Br. 1925, 343 f. 538 Friedberg, Corpus Iuris Canonici II, 982. 539 Tellenbach, Repertorium Germanicum II, 1 S. 39*. 540 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum II, 442. 541 So gewöhnlich in den Supplikenregistern. 542 Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 321. 543 StA Erfurt 0 – 1 VII–461. 544 Z. B.: Liber receptorum I fol. 114v. Vgl. Frenz, Die Kanzlei der Päpste der Hochrenaissance 74.
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vorkam. Sie mußten das größte und unmittelbare Interesse an der Bestellung von Konservatoren haben; andere konnten sich lediglich mittelbar und, wie zu zeigen sein wird, gewöhnlich mißbräuchlich Gewinn davon erhoffen. Es war eben eine erhebliche Erleichterung, daß der Prozeßgegner vor dem am Ort befindlichen oder jedenfalls hier Gericht haltenden Konservator belangt werden konnte. Das Wort supplicatum in dem Schreiben Bonifaz’ IX. weist den Antrag der Erfurter Universität als eine Supplik545 aus, d. h. eine Bittschrift zur Erlangung einer Gnade. Die Verbindung mehrerer Bitten in einem Rotulus war üblich546. Der Papst bewilligte die Bitte mit dem Fiat-Vermerk und dem ersten Buchstaben seines ursprünglichen Vornamens547. Das Datum unter den Suppliken besagte den Tag der Gewährung der Gnade und wurde in das entsprechende päpstliche Schreiben übernommen548. Größtes Gewicht wurde auf die zum Kurialstil gehörigen Klauseln gelegt549. Wenn die vorgeschriebenen zusätzlichen Klauseln im Supplikenregister fehlten, stellte die Kanzlei die Bulle bzw. das Schreiben nach dem gewöhnlichen Formular aus550. Der Antrag auf Bewilligung von Konservatoren mußte begründet werden, und so geschah es auch im Falle der Erfurter Universität. Freilich ist die Begründung stereotyp. Es sei, so hieß es in der bewilligenden Urkunde, den genannten Universitätsangehörigen nicht leicht möglich, für ihre einzelnen Klagen den Apostolischen Stuhl anzugehen, und daher hätten sie an ihn die Bitte gerichtet, auf geeignete Weise Vorsorge zu treffen. Das Schreiben Bonifaz’ IX. weiß also ebensogut wie die ihm vorangehende Supplik, daß die Angehörigen der Universität Erfurt ihre Beschwerden beim Apostolischen Stuhl hätten vorbringen können (habere recursum). Doch war es aus zeitlichen und finanziellen Gründen nicht möglich, von dem Recht, den Gesamtbischof der Kirche anzugehen, Gebrauch zu machen. Daher sah der Papst das Hilfsmittel darin, Conservatores et Judices zu bestellen, welche die erwähnten Mitglieder der Universität schützen sollten gegen ungebührliche Belästi545 Über das Supplikenwesen vgl. Tellenbach, Repertorium Germanicum II, 1 S. 4 l*–47*; Bruno Katterbach, Specimina Supplicationum ex Registris Vaticanis (= Subsidiorum Tabularii Vaticani Volumen II extra), 2 Tle., Rom 1927; Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, II, 2. Aufl., Berlin 1958, 1 – 25, 104 – 115; O. Doerr, Supplik: LThK IX, 1937, 908; Herde, Beiträge 102 – 113; K. A. Fink, Supplik: LThK IX, 2. Aufl., 1964, 1190 f. Eine gedrängte, aber instruktive Darstellung der Suppliken und ihrer Behandlung am Apostolischen Stuhle bei Katterbach, Specimina Supplicationum I, S. V–XVII. Zu den Supplikenregistern vgl. die Einleitung bei Katterbach, Inventario dei Registri delle suppliche VII–XX. 546 Katterbach, Specimina Supplicationum I, S. VII–VIII. Zur Genehmigung mehrerer, vereint vorgetragener Bitten vgl. Pitz, Supplikensignatur 46 f. 547 Zu der Unterschrift unter den Suppliken vgl. Katterbach, Specimina Supplicationum I, S. IX–XII. 548 Katterbach, Specimina Supplicationum I, S. XIII; Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 65. 549 Über die Derogationsklausel Non obstantibus premissis ac constitutionibus et ordinationibus apostolicis ceterisque in contrarium facientibus quibuscumque cum clausulis vgl. Katterbach, Specimina Supplicationum I, S. VI. 550 Pitz, Supplikensignatur 28 f., 42 f.
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gungen, Beschwernisse, Schäden und Unrechttaten. Sie sollten (nur) auf Ersuchen der Begünstigten oder ihrer rechtlichen Vertreter tätig werden und ihnen zur Wiedererlangung ihres Besitzes und ihrer Rechte bzw. zum störungsfreien Besitz derselben verhelfen. Ein unaufgefordertes, selbständiges Einschreiten der Konservatoren war nicht vorgesehen. Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 begründeten die Notwendigkeit der Bestellung von Konservatoren vor allem mit der Rücksicht auf Angehörige der Universität, die von auswärts der Stadt und von weit abgelegenen Territorien kommen (Rubr. XV). Für sie war es eine erhebliche Erleichterung, ihren Prozeßgegner am Studienort belangen zu können. 2. Das Recht der Ernennung Die Konservatoren, von denen hier die Rede ist, sind die päpstlichen, denn sie wurden vom Papst ernannt. Der Papst sah, wie das Schreiben Bonifaz’ IX. ausweist, in ihrer Aufstellung ein geeignetes Mittel, um den Beschwerden der Universitätsangehörigen für die Vergangenheit und für die Zukunft abzuhelfen. Die Gewährung von Konservatoren ist ein Ausdruck der Unmittelbarkeit der päpstlichen Vollgewalt. Kraft ihrer kann der Papst überall und jederzeit, ohne sich der Mittlerschaft anderer hierarchischer Instanzen wie der Bischöfe oder der Oberbischöfe (z. B. Metropoliten) zu bedienen, unmittelbar eingreifen551. Die Bestellung der Konservatoren war vom gemeinen Recht nicht vorgesehen; sie standen außerhalb der ordentlichen Gerichtsorganisation. Ihre Ernennung war Ausnahmerecht, das an die Stelle des verdrängten regelmäßigen Rechtes trat, d. h. sie war ein Privileg552. Die Statuten von 1447 nannten die Bestellungsschreiben der Konservatoren daher richtig privilegia (Rubr. XV in.). Dieses Privileg schränkte die ordentliche Gerichtsbarkeit ein bzw. schloß sie für die Begünstigten aus. Da es also eine Benachteiligung Dritter in sich schloß, muß es als privilegium odiosum gelten. Weil es eine Ausnahme vom gemeinen Recht machte, war es ein privilegium contra ius. Es gab die Berechtigung zu einem Tun und hatte darum den Charakter eines privilegium affirmativum. Da es einem bestimmten Personenkreis gewährt wurde, ist es als persönliches Privileg zu bezeichnen. Dieses Privileg wurde erworben durch hoheitliche Verleihung des Papstes. Ein päpstlicher Gesandter, gleich welchen Ranges, konnte Konservatoren normalerweise nicht ernennen553. Kardinäle durften Konservatoren nur bei Erledigung oder Behinderung des Apostolischen Stuhles bestellen554. Nach dem Beispiel der Päpste ernannten auch Bischöfe555 und Fürsten556 Konservatoren; von ihnen soll an dieser Stelle nicht die Rede sein. Es war von kirchli551
G. May, Affectio papalis: LThK I, 2. Aufl., 1957, 166. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 136 – 139. 553 Ferraris, Prompta Bibliotheca II, 1278. 554 Ferraris, Prompta Bibliotheca II, 1277 – 1278. 555 Hageneder, Die geistliche Gerichtsbarkeit in Ober- und Niederösterreich 88 f. 556 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 42. 552
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cher Seite anerkannt, daß weltliche Fürsten Konservatoren für Kirchen und Kleriker bestellen konnten, um sie gegen Laien, vor allem mächtige Laien zu schützen557. 3. Die Bestellung Die Konservatoren wurden durch ein Reskript ernannt, d. h. durch Verwaltungsakt des Papstes558. Reskripte sind dem Wortsinn nach Rückschreiben, also schriftliche Bescheide einer kirchlichen Behörde, die auf einen Antrag hin eine Verfügung treffen und dadurch für den Empfänger subjektives Recht schaffen. Da sich das Reskript mittelbar auf Rechtsstreitigkeiten bezog, wird man es als ein Justizreskript ansprechen müssen. Die Bestellung von Delegierten erfolgte durch Reskripte in der Form der littera cum filo canapis559. Briefe mit Hanfschnur gaben Befehle560. Das in dem Schreiben Bonifaz’ IX. verwendete Wort mandamus zeigt, daß es sich dabei um einen päpstlichen Auftrag handelte, der einen Befehl und eine Bevollmächtigung einschloß. Die Aufgabe der Konservatoren wurde von dem Schreiben Bonifaz’ IX. zusammengefaßt in die Worte, sie sollten der Gerechtigkeit zum Vollzug verhelfen (iustitie complementum). Das Reskript Bonifaz’ IX. wurde in forma gratiosa ausgestellt, bedurfte also keines Vollstreckers und begann seine Wirksamkeit mit dem Tag der Ausstellung (a data presencium). III. Die Art der übertragenen Gewalt 1. Der Besitz von Jurisdiktion Die Bestellungsschreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. sprachen den Konservatoren iurisdictio aut potestas561 zu und ließen so ihre hoheitliche Stellung erkennen. Gegen Schluß derselben war noch einmal von iurisdictio vestra et cuiuslibet vestrum die Rede. Die Schreiben sprachen auch vom exercitium und von der explicatio der Jurisdiktion, die den Konservatoren übertragen wurde. Die Konservatoren besaßen also eine potestas, eine kirchliche Gewalt. Es handelte sich dabei nicht um Weihe-, sondern um Hirtengewalt; nicht der ordo, sondern die iurisdictio war berührt. Die Konservatoren besaßen somit iurisdictio. Es ist dies die Gewalt, die Kirche gemäß dem Willen ihres Stifters zu ordnen und zu regieren. Die Jurisdiktion kann im äußeren und im inneren Bereich ausgeübt werden. Im Falle der Konservatoren wurde Jurisdiktion für den äußeren Bereich übertragen, denn sie sollten sich mit Handlungen und Verhältnissen befassen, die in die äußere Erscheinung traten.
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Ferraris, Prompta Bibliotheca II, 1278. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 103 – 105. 559 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 182. 560 Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre I, 82; Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 21 f. 561 Vgl. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 28. 558
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2. Vollziehende und richterliche Gewalt Die Konservatoren waren Hoheitsträger, Inhaber kirchlicher Jurisdiktion. Die iurisdictio läßt sich unterscheiden in Gesetzgebung, Verwaltung (Vollziehung) und Rechtsprechung. Von ihrer Gewalt auszuscheiden ist die Gesetzgebung; zur Setzung abstrakter und allgemeiner Normen waren sie nicht befugt. Wohl aber kamen ihnen die beiden übrigen Funktionen der Jurisdiktion zu. Die Konservatoren besaßen einmal Exekutivgewalt. Sie waren Exekutoren, die für die Einhaltung und Durchsetzung des Rechts sowie für die Gewährleistung erteilter Gnadenerweise Sorge zu tragen hatten. Sie sollten die Universität und deren Angehörige schützen und verteidigen, vor allem über die Erhaltung ihrer Freiheiten und Privilegien wachen. Diesem Auftrag kamen sie nach durch Mahnungen und Warnungen, Gebote und Verbote562. Um den Schutz effektiv zu machen, durften sie Zensuren563 verhängen. Sie besaßen also, wie unten noch näher auszuführen sein wird, Strafgewalt. Was die Konservatoren in ihrer Eigenschaft als Exekutoren auf dem Gebiete des Strafrechts ausübten, war Verwaltungsstrafrechtspflege. Die Konservatoren besaßen sodann richterliche Gewalt. Schon im 13. Jahrhundert ist unbestreitbar, daß mancher Konservator gewisse Funktionen wahrnahm, die dem Richter eigen sind. Das Verfahren, wie einfach und abgekürzt immer es sein mag, trug Züge eines richterlichen Prozesses. Hostiensis weiß, daß den Konservatoren richterliche Befugnisse übertragen werden können564. Es bildeten sich zwei Arten von Konservatoren aus; es gab conservatores puri, denen die richterliche Gewalt abging, es gab aber auch conservatores mixti, welche die Befugnis hatten, als erkennende Richter tätig zu werden565. In diesem Falle besaßen die Konservatoren das Recht und erforderlichenfalls die Pflicht, gemäß den prozessualen Erfordernissen vorzugehen. Für die Universität Erfurt ist von Anfang an klar, daß ihre Konservatoren mit richterlicher Gewalt ausgestattet waren. Sie durften nach den Bestellungsschreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. die iudicialis indago vornehmen, wann immer der Sachverhalt ein solches Vorgehen erforderte. Wer ein Gerichtsverfahren durchführt, an dessen Ende der typische Rechtsprechungsakt, das Urteil, steht, der ist Richter. Ebenso ermächtigte das Baseler Konzil die Konservatoren der Erfurter Universität, (auch) in Sachen zu erkennen, que iudicialem requirunt indaginem566. Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 bezeichneten das Tätigwerden der Konservatoren als presidere (Rubr. XV, 1). Damit ist das richterliche Tun bezeichnet. An derselben
562 Vgl. die processus monitorii des Abtes Thaddaeus gegen Rat und Stadt Leipzig (PosernKlett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 218 Nr. 280) (1451). 563 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 346 – 350. 564 Hénaff, Les conservateurs apostoliques dans la doctrine canonique 245, 249. 565 Ibid. 260. 566 DA Erfurt Urkunden III Nr. 62 und I Nr. 1045.
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Stelle war von den dies iuridice567, den Gerichtstagen, die Rede, an denen also Rechtsprechung betrieben wurde. Die Statuten von 1447 sprachen weiter von Schriftsätzen, die in iudicio vorgelegt werden (Rubr. XV, 2). Darunter ist das Prozeßrechtsverhältnis zu verstehen. Ebenso war die Rede von der Verwaltung der Gerechtigkeit, die den Konservatoren obliegt (Rubr. XV, 4). Eben dies ist die vornehmste Aufgabe des Richters, der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Die Statuten verwendeten endlich die typischen Gerichtstermini wie lis (Rechtsstreit), causa (Rechtsfall), agere (klagen), actor (Kläger), litigare (vor Gericht streiten), appellare (Berufung einlegen), iudicare (richten, Recht sprechen), um das Tun der Konservatoren zu beschreiben. So kann es keinem Zweifel unterliegen, daß sie als richterliche Personen tätig waren. 3. Das Verhältnis zu der ordentlichen Gerichtsbarkeit Die Konservatoren standen außerhalb der ordentlichen Gerichtsorganisation. Sie waren nicht in den Instanzenzug568: bischöfliches Gericht – Metropolitangericht – päpstliche Gerichtshöfe eingeordnet. Ihre Vollmacht war eine außerordentliche. Die Päpste waren überzeugt, daß diese Durchbrechung der Gerichtsorganisation notwendig war. Die Studienanstalten (und ihre Mitglieder) waren ein empfindliches Instrument, dessen Rechte und Freiheiten geschützt werden mußten. Es bestand nach dem Urteil der Päpste das gebieterische Bedürfnis, bei gewissen Rechtsverletzungen sogleich und unverzüglich einzugreifen. Wenn die Konservatoren nur bei notorischen Rechtsverletzungen einschritten, traten sie der ordentlichen Gerichtsorganisation kaum zu nahe. Anders war es, wenn sie reguläre Streitverfahren durchführten. In diesen Fällen war die Gefahr gegeben, daß ihre Einsetzung die ordentliche Gerichtsorganisation beeinträchtigte. Ihre Stellung als Richter war noch in anderer Hinsicht eine außerordentliche. Von einer Ablehnung wegen Befangenheit569 ist nicht die Rede, und von der Möglichkeit der Berufung570 gegen ihre Entscheidungen ist ebenfalls nichts gesagt. Damit entfielen zwei gewichtige Mittel, deren sich ein Beklagter bedienen konnte, um sich gegen wirkliches oder vermeintliches Unrecht zur Wehr zu setzen. 4. Die Vollmacht zur Verhängung von Zensuren Ein Grundsatz des kanonischen Rechts besagte, daß ein Hoheitsträger jene Vollmachten besitzen mußte, ohne die er seinen Dienst nicht ausüben konnte571. Er traf auf die Konservatoren zu. Sie sollten dem Unrecht vorbeugen, indem sie 567
Eigentlich müßte es maskulinisch dies iuridici heißen. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 321 – 324. 569 X 2, 27, 20; 2, 28, 41 § 1. 570 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 340 – 344. 571 Regulae Iuris in Sexto Nr. 35 und 80. 568
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Mandate und Inhibitorien ausgehen ließen, und sie hatten die Befugnis, die Rechtsbrecher dazu anzuhalten, ihr Unrecht wiedergutzumachen. Wenn sie ihre Mahnungen und Warnungen, ihre Befehle und Entscheidungen nicht hätten durch Sanktionen bewehren können, wäre ihre Bestellung wirkungslos gewesen; ohne die Strafgewalt hätten sie ihren Dienst nicht wirksam ausführen können. In der Tat sollten die Konservatoren nach den Bestellungsschreiben der Päpste Bonifaz’ IX. und Martins V. nicht unbewehrt ihres Amtes walten; vielmehr wurde ihnen das geistliche Schwert anvertraut. Dies besagt die Klausel contradictores per censuram ecclesiasticam compescendo in den Urkunden, mit denen sie beauftragt wurden. Die Konservatoren durften, wie es dort hieß, gegen die Urheber von Besitzentziehungen und -störungen sowie gegen Ungehorsame ohne Rücksicht auf deren Stand und Stellung, falls es nützlich ist, kirchliche Zensuren verhängen, zu deren Durchsetzung erforderlichenfalls der weltliche Arm angerufen werden sollte. Die Androhung und die Verhängung von Zensuren waren geeignet, potentielle Straftäter von der Begehung von Straftaten abzuhalten, Straftaten zu ahnden, die Bestraften zu bewegen, sich zu bessern und den angerichteten Schaden wiedergutzumachen sowie jene zu beugen, welche die Amtsführung der Konservatoren behinderten. Bei dem Einsatz der Strafmittel waren sie von einschränkenden Förmlichkeiten weitgehend frei. Hostiensis ließ sogar Fälle gelten, in denen der Konservator ohne vorangehende kanonische Mahnung die Exkommunikation verhängen könne572. IV. Die Übertragung durch Delegation 1. Delegierte Gewalt Die Jurisdiktion wird nach der Übertragungsweise in iurisdictio ordinaria und delegata unterschieden. Die ordentliche Jurisdiktion ist mit einem Amt verbunden, hängt gleichsam an dem Amt und wird mit diesem und durch dieses übertragen. Die delegierte Jurisdiktion wird unabhängig von einem Amt und ohne dessen Mittlerschaft übertragen. Sie gestattet, einer Person hoheitliche Befugnisse zu vermitteln, ohne daß sie zum Inhaber eines Amtes gemacht wird. Der Besitz von Jurisdiktion allein begründet noch kein Amt. Dazu sind kirchenamtliche Errichtung und objektive Perpetuität erforderlich. Diese beiden Elemente fehlten der Einrichtung der Konservatoren. Es bestand nicht ein auf Dauer bestimmter Geschäftsbereich hoheitlicher Art, der einmal errichtet worden war und immer wieder neu mit einem Inhaber besetzt werden mußte. Der Papst übertrug vielmehr auf Antrag bestimmten Personen für gewisse Zeit durch besonderen, immer wieder zu erneuernden Auftrag Vollmachten, die sie kraft des Amtes oder der Würde, das bzw. die sie innehatten, nicht besaßen. Ihre Gewalt kann somit nicht als ordentliche, aus dem Amte fließende bezeichnet werden. Wenn sie keine ordentliche Jurisdiktion besaßen, dann kann es nur eine delegierte gewesen sein. Die Notwendigkeit der Erneuerung des Konservatorenprivilegs ist ein Hinweis darauf, daß hier delegierte, nicht ordentliche 572
Hénaff, Les conservateurs apostoliques dans la doctrine canonique 262.
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Gewalt übertragen wurde. Die Konservatoren waren Delegierte des Apostolischen Stuhles. Für diese Charakterisierung sprechen auch andere Indizien. Als Bonifaz VIII. die Konstitution ,,Statuimus“ Innozenz’ IV. in seine Dekretalensammlung aufnahm, reihte er sie unter dem Titel XIV des ersten Buches ,,De officio et potestate iudicis delegati“ ein, wie es seit den ersten Sammlungen geschehen war573. Dadurch wurde von Amtes wegen bekundet, daß der Konservator eine Art delegierter Richter darstellte. Weiter befreiten die Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. ausdrücklich von ihnen entgegenstehenden Vorschriften über die delegierten Richter und Konservatoren; sie schlossen aus, daß ihnen Konstitutionen über die delegierten Richter und Konservatoren entgegengehalten werden können. Die Päpste waren offensichtlich der Ansicht, daß die Konservatoren den delegierten Richtern unterfallen. Die Konservatoren waren also im Besitze delegierter Gewalt. Ihre Bestellung geschah, was die Übertragungsweise angeht, ab homine, d. h. durch Verwaltungsakt des Papstes, und nicht a iure, durch Gesetz574. Bedeutung und Umfang der Delegation wurden aus den Titeln ,,De rescriptis“575 und ,,De officio et potestate iudicis delegati“576 des Liber Extra erkannt. Der Abt Thaddaeus nannte seine Position als Konservator eine commissio577. Dies ist ein terminus technicus für die Delegation578. Die Befugnisse der Delegierten wurden von dem Auftragsschreiben bestimmt579. Auch die Vollmacht der Konservatoren ergab sich aus dem Inhalt des Reskripts, mit dem sie bestellt wurden. Es konnten ihnen mithin im Einzelfall mehr oder weniger Vollmachten gegeben werden, als die Regel ist. Doch ist eine große Gleichmäßigkeit der Beauftragung unverkennbar. Es handelte sich dabei, was den Umfang der Gewalt betrifft, nicht um eine besondere Delegation, die für einen Fall oder für mehrere Fälle gegeben wurde, sondern um eine allgemeine, nämlich für alle Fälle der Beeinträchtigung der Universität und ihrer Angehörigen. Mit Rücksicht auf die regelmäßig angebrachte Befristung kann man von einer Dauerdelegation sprechen580. 2. Solidarische Delegation Wohl in der Mehrzahl der Fälle wurde nicht eine einzige Person zum Konservator bestellt, sondern man beauftragte etliche, gewöhnlich drei Personen. Die Delegation mehrerer kann nun in verschiedener Weise vorgenommen werden. 573 Peter-Josef Keßler, Untersuchungen über die Novellen-Gesetzgebung Papst Innocenz’ IV., I. Teil: ZRG Kan. Abt. 31 (1942) 142 – 320, hier 145. 574 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 281. 575 X 1, 3, 1 – 40. 576 X 1, 29, 1 – 43. 577 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 231 (1452). 578 X 1, 3, 3; 1, 29, 5. 579 X 1, 3, 3; 1, 3, 5; 1, 29, 5. 580 So Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 413.
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Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen kollegialer und solidarischer Delegation581. Die kollegiale Delegation besteht darin, daß alle Delegierten zugleich und gemeinsam vorgehen müssen, andernfalls die jurisdiktionelle Handlung nichtig ist582. Wenn einer der kollegial Delegierten ausfällt, erlischt grundsätzlich auch die Gewalt der übrigbleibenden Delegierten. Diese Weise der Delegation mehrerer eignete sich nicht für die Konservatoren der Universität. Ihr regelmäßiges Zusammenwirken wäre schon daran gescheitert, daß sie nicht alle denselben Wohnsitz hatten. So blieb nur die solidarische Delegation583. Sie bot viele Vorteile, vor allem jenen, daß jeder der Delegierten allein vorgehen darf. Wer sich zuerst der Sache annimmt, schließt die anderen aus; wenn einer den übertragenen Auftrag in Angriff nimmt, dürfen sich die übrigen nicht einmischen. Wird er jedoch an der Erledigung der Sache gehindert oder gibt er sie auf, so können (und müssen) die anderen in sie eintreten. Das Mandat der solidarischen Delegation erlischt nicht mit dem Ausfall eines Delegierten. Die Jurisdiktion gilt als dauernd belassen zu Lebzeiten des Auftraggebers, wenn jeweils einer der delegierten Richter handelt und der andere in sein Vorgehen eintritt584. Die Bestellungsschreiben der Konservatoren der Universität Erfurt lassen deutlich erkennen, daß sie diese Art der Delegation mehrerer vorsahen. Die solidarische Delegation konnte durch verschiedene Formeln ausgedrückt werden. So geht die Wendung vobis et vestrum singulis585 auf diese Weise der Delegation. Auch die Formel ut omnes, aut duo, vel unus eorum mandatum apostolicum exsequantur oder eine ähnliche ist nach VI 1, 14, 8 Kennzeichen der solidarischen Delegation von Richtern und Exekutoren. Schließlich ist der Ausdruck in den Bestellungsschreiben der Erfurter Konservatoren quatenus vos vel duo aut unus vestrum typisch für die solidarische Delegation, d. h. für jene Übertragung von Jurisdiktion, welche die Beauftragten ermächtigt, samt oder sonders, also auch jeder für sich, zu handeln. Weiter unten tauchte in den Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. die Wendung vobis et unicuique vestrum auf, die ebenfalls die solidarische Delegation anzeigt. Es war eine besondere Vergünstigung, daß die Päpste es dem einzelnen Konservator erließen, nur bei einem kanonischen Hindernis von einer Rechtssache abstehen zu dürfen, und daß sie ihm gestatteten, auch ohne ein solches in das von einem anderen begonnene und dann aufgegebene Verfahren einzutreten. Die perpetuata potestas et iurisdictio, von der die Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. sprachen und die für alle angefangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Rechtssachen erteilt wurde, kam selbstverständlich für die erstmalige Bestellung von Konservatoren nicht voll zum Tragen, weil es eben solche bisher nicht gegeben hatte.
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Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 282. X 1, 29, 16. 583 X 1, 3, 13; 1, 29, 21 § 1. 584 VI 1, 14, 8. 585 Z. B.: VI 5, 2, 12.
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3. Die Erlaubnis zur Subdelegation Nicht immer ist ein Delegierter in der Lage, den ihm übertragenen Auftrag auszuführen. Es kann sich die Notwendigkeit ergeben, die empfangene delegierte Vollmacht weiterzugeben, d. h. eine Subdelegation vorzunehmen586. Im allgemeinen gilt der Grundsatz: Je höherrangig ein Delegierter ist, desto dringender ist das Bedürfnis, aber auch desto wahrscheinlicher ist die tatsächliche Vornahme der Subdelegation. Die Delegaten des Papstes besaßen grundsätzlich die Befugnis, die ihnen delegierte Vollmacht weiterzugeben587. Ihre (vielfach hohe) Würde ließ die persönliche Erledigung des ihnen erteilten Auftrags häufig nicht zu. Dies war auch bei den Konservatoren der Erfurter Universität der Fall. Sie und jeder von ihnen konnten subdelegieren. Diese Befugnis war in den Bestellungsschreiben ausgedrückt durch die Worte per vos vel alium seu alios. Davon wurde in weitem Umfange Gebrauch gemacht. So traten zu den Konservatoren deren Ersatzmänner, die Unterkonservatoren (Subconservatores); sie sind als Subdelegierte anzusehen. 4. Die Empfänger der Gewalt Die zu Konservatoren ernannten Personen erhielten Jurisdiktionsgewalt übertragen; sie waren delegierte Richter. Jurisdiktion kann normalerweise nur Klerikern übertragen werden588. Doch nicht jeder Kleriker war dafür geeignet. Die vom Apostolischen Stuhl delegierten Richter handelten in Stellvertretung des Papstes, und deswegen hatten sie eine überlegene Position gegenüber jenen, deren Sache sie zu entscheiden hatten589. Die päpstlichen Delegierten mußten daher eine höhere kirchliche Stellung innehaben. Die Gründe dafür sind drei. Einmal wurde dadurch auf den hohen Rang des Deleganten verwiesen. Sodann wurde auch ihre eigene Position hervorgehoben. Schließlich wurde ihre Tätigkeit gegenüber kirchlichen Hoheitsträgern erleichtert. Die Delegierten mußten daher Bischöfe, Dignitäre oder Inhaber von Personaten an Dom- und Stiftskirchen, Domkanoniker, Äbte, Generalvikare oder Konventualprioren sein590. Diese Vorschriften galten auch für die Konservatoren. Doch traf Bonifaz VIII. eine Einschränkung; er ließ bloße Domkanoniker nicht als Empfänger von Konservatorien zu591. Daß die Konservatoren Dignitäre sein mußten und es nicht genügte, wenn sie Kathedralkanoniker waren, wird in einer Handschrift des Formularium audientiae eigens hervorgehoben592. Es wird üblich gewesen sein, daß dem Papst Vorschläge unterbreitet wurden, welche
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Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 282. X 1, 29, 3 und 28 sowie 43; 2, 28, 62. 588 D. 89 c. 5; X 1, 2, 10; X 2, 1, 2. 589 X 1, 29, 11. 590 VI 1, 3, 11; 1, 14, 15; Clem. 1, 2, 2. 591 VI 1, 14, 15. 592 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum II, 45. 587
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Personen als Konservatoren in Frage kamen, was von Rechts wegen zulässig war593. Unter den kirchlichen Personen, die zu Konservatoren ernannt wurden, nahmen die Äbte594 lange Zeit die erste Stelle ein. Anscheinend traute man ihnen ein hohes Maß an Gerechtigkeitsgefühl, Menschenkenntnis, Unbefangenheit und Unabhängigkeit zu und nahm wohl auch an, daß sie entweder in der Lage seien, selbst das Recht zu verwalten, oder imstande seien, sich rechtskundige Personen herbeizuziehen. Neben ihnen kamen vor allem die Dekane der Dom- und Stiftskapitel595 für den Dienst der Konservatoren in Frage. Da eine gesteigerte Kenntnis des kanonischen Rechts für die Delegierten nicht vorgeschrieben war und nicht vorausgesetzt wurde, lag es nahe, daß diese sich entweder rechtskundiger Beisitzer bedienten oder vor sie gebrachte Sachen an Subdelegierte abgaben. Bonifaz VIII. erwartete, daß die Delegierten ihren Dienst in Städten oder bedeutenden Orten ausübten, wo leicht Kenner des Kirchenrechts herbeigezogen werden konnten596. V. Die Dauer und der Verlust der Vollmacht 1. Dauer Für den iudex delegatus galt der Grundsatz, daß seine Befugnisse bezüglich der noch nicht in Angriff genommenen Rechtssachen mit dem Tode des Ausstellers erlöschen597. Dasselbe bestimmte Bonifaz VIII. für die Konservatoren598. Doch ging die Praxis andere Wege. Es ist eine Eigenart der erhaltenen Konservatorenurkunden, daß sie in der Mehrzahl eine zeitliche Begrenzung der in ihnen erteilten Vollmacht vorsahen. Die Frist, für die Konservatoren bestellt wurden, wurde wohl durch Benedikt XII. auf fünf Jahre begrenzt599. Dafür existiert ein aufschlußreicher Hinweis. Am 25. Januar 1338 berichteten die Abgesandten des Hamburger Rates aus Avignon, der Vizekanzler des Papstes, Petrus de Prato, Kardinalbischof von Palestrina, und Gwilhelmus de Norwico, ein Auditor sacri palacii des Papstes, verträten die Ansicht, das Konservatorium für die Hamburger Kanoniker sei mit dem Tode des Ausstellers600 erloschen, andere seien jedoch gegenteiliger Auffassung; sie bemühten sich, eine Erklärung des Papstes darüber zu erhalten. Dieses und andere Konservatorien seien durch den Papst nicht ausdrücklich widerrufen, aber künftige 593
X 1, 29, 25 und 34 sowie 35. Joseph Baucher, Abbés: DDC I,1935, 29 – 62. 595 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 451; Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II, 92 – 97; P. Torquebiau, Chapitres de chanoines: DDC III, 1942, 530 – 595, hier 547 f., 566 f. 596 VI 1, 3, 11. 597 X 1, 29, 19 und 20. 598 VI 1, 14, 15. 599 Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 413 A. 6. 600 Dies war Johannes XXII. 1322. Vgl. Anton Hagedorn (Hrsg.), Hamburgisches Urkundenbuch II, Hamburg 1939, 428 – 430 Nr. 551. 594
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Konservatorien seien auf fünf Jahre beschränkt601. Es ist denkbar, daß es sich so verhält. Doch zeigt sich in der Folgezeit eine große Mannigfaltigkeit, was die Dauer der Konservatorenschreiben angeht. Dafür einige Beispiele. Dem Domkapitel von Cambrai bewilligte Clemens VI. die erbetenen conservatores perpetui informa concilii Viennensis602. Diese Konservatoren wurden also für ständig bestellt. Jean Ogier, Dekan von Beaune, erhielt dagegen statt des erbetenen fünfjährigen Konservatoriums lediglich ein solches für drei Jahre603. Auch der Kanoniker Johannes de Pistorio mußte sich mit Konservatoren begnügen, die (statt der ewünschten fünf) nur für drei Jahre bestellt wurden604. Engelbert, der erwählte Bischof von Lüttich, bat gegen die Bedrückungen des Herzogs von Brabant und anderer Adliger um conservatores sine prefinitione temporis in forma Viennensis concilii. Der Bescheid lautete: Fiat ad quinquennium in forma de conservatoribus, R.605. Der Bischof mußte sich also mit Konservatoren begnügen, die lediglich für fünf Jahre gegeben wurden. Abt und Konvent des Klosters St.-Amand-en-Pévèle in der Diözese Tournai erbaten conservatores in forma dudum concessa prelatis Ytalicis in concilio Viennensi. Sie erhielten sie für drei Jahre606. Pierre de Foresta, erwählter Bischof von Tournai, bat um eine conservatoriam ad quinquennium cum distantia duarum dietarum et conservatores ut informa und erhielt sie607. Die Gründe, weshalb dem einen Bittsteller sein Antrag voll und ganz, dem anderen nur teilweise genehmigt wurde, sind für die rückschauende Betrachtung nur schwer oder gar nicht erkennbar. Innozenz VI. gewährte am 28. April 1354 eine littera conservatoria ad quinquennium ut in forma concilii Viennensis608. Dem Kloster Lobbes gab er statt des für fünf Jahre erbetenen Konservatoriums ein solches für drei Jahre609. Dem Lorenzkloster außerhalb der Mauern von Lüttich bewilligte er dagegen das auf fünf Jahre befristete Konservatorium610. Der auf drei oder fünf Jahre beschränkte Zeitraum der Bestellung von Konservatoren dürfte sich nicht bewährt haben. Er machte die allzu häufige Erneuerung der einschlägigen Reskripte erforderlich. Man ging deshalb dazu über, erforderlichenfalls die Ernennung für eine längere Frist zu gewähren. Papst Bonifaz IX. 601 Richard Salomon † (Bearb.), Rat und Domkapitel von Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts, Teil 1. Die Korrespondenz zwischen dem Hamburger Rat und seinen Vertretern an der päpstlichen Kurie in Avignon 1337 bis 1359 (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg Bd. IX, Teil 1), Hamburg 1968, 5. 602 Berlière, Suppliques de Clément VI S. 154 Nr. 665 (21. Februar 1344). 603 Ibid. S. 159 Nr. 679 (fiat informa ad triennium R., 7. März 1344). 604 Ibid. S. 163 Nr. 690 (23. März 1344). 605 Ibid. S. 201 Nr. 817 (4. März 1345); S. 202 Nr. 818 (4. März 1345); S. 220 f. Nr. 890 (4. August 1345, ohne Zeitangabe). 606 Ibid. S. 259 Nr. 1016 (22. Juni 1346). 607 Ibid. S. 470 Nr. 1805 (24. September 1349; fiat in forma, R.). 608 Berlière, Suppliques d’Innocent VI S. 186 Nr. 451. 609 Ibid. S. 198 Nr. 477 (30. Mai 1354). 610 Ibid. S. 275 Nr. 646 (16. Juni 1355).
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entschied anscheinend je nach den Umständen, für welche Dauer Konservatorien ausgefertigt wurden. Die Konservatoren der Universität Erfurt wurden jedenfalls von ihm für 20 Jahre ernannt. Nicht gegenüber allen Antragstellern verfuhr er so großzügig. Dem Dompropst und dem Domkapitel zu Hildesheim bewilligte Bonifaz IX. die Conservatoria lediglich für fünf Jahre611. Man hat gemeint, daß, weil der Konservator von einem bestimmten Papst bestellt wurde, er seine Jurisdiktion mit dem Tode des Papstes verlor. Doch das ist nicht so. Bonifaz IX. fügte seinem Schreiben für die Universität Erfurt ausdrücklich hinzu, daß es durch seinen, des Ausstellers, Tod nicht erlöschen sollte; es sollte vielmehr für 20 Jahre Geltung haben. Die Delegation der Konservatoren erlosch also mit Ablauf der in ihrem Auftragsschreiben angegebenen Frist, wobei diese mit dem Erhalt des Schreibens zu laufen begann612. Da das Privileg befristet war, mußte es vor Ablauf der Zeit jeweils erneuert werden. Dies läßt sich aus den Akten nachweisen. Da das Schreiben Bonifaz’ IX. am 15. April 1390 ausgestellt wurde, endigte der Zeitraum von 20 Jahren mit Ablauf des 15. April 1410. Dieser Termin fiel mit dem Höhepunkt des Großen Schismas zusammen. Es ist ungewiß, an welchen der drei Prätendenten auf den päpstlichen Stuhl sich die Erfurter Universität mit der Bitte um Erneuerung wandte. Wahrscheinlich ging sie Alexander V. oder Johannes XXIII. an; denn sie hatte nachweislich Beziehungen zu den Päpsten der Pisaner Observanz. Doch ist es noch nicht möglich, dafür einen Beleg zu liefern. Selbstverständlich ist auch denkbar, daß der Ablauf der Frist, für die Konservatoren bestellt worden waren, übersehen wurde. Schließlich ist möglich, daß man sich angesichts der verworrenen Lage in der Kirche bei der Überlegung beruhigte, die Jurisdiktion werde nicht fehlen, wenn es ungewiß sei, bei wem sie einzuholen sei. Mit Martin V. hatte die Kirche wieder ein unbestrittenes irdisches Oberhaupt. Die Universität Erfurt verspürte die Notwendigkeit, bei ihm um die Erneuerung des Konservatorenprivilegs einzukommen. Sie muß erfahren haben, daß manche Hochschulen vom Apostolischen Stuhl ein unbefristetes Konservatorium erwirkt hatten, das sie der Notwendigkeit enthob, es immer wieder verlängern zu lassen, und sie strebte danach, ein solches zu erlangen. Die Universität reichte eine Bittschrift bei Martin V. ein, in der u. a. um die Ausstellung eines dauernden Konservatoriums (conservatoriam perpetuis temporibus duraturam) in der Form ,,Militanti ecclesie“613 und um die Gewährung der Vollmacht, daß die Konservatoren über vier Tagereisen Entfernte vor Gericht ziehen dürfen, gebeten wurde. Der Papst gewährte am 3. Januar 1418 die Bitte ,,in forma“614, d. h. die Supplik wurde genehmigt, jedoch nur in genereller Weise, ohne spezielle Verfügungen, nach dem gewöhnlichen 611 Hoogeweg, Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim VI, 676 f. Nr. 1026 (18. Mai 1391). 612 X 2, 28, 12. 613 Vgl. Tangl, Die päpstlichen Kanzleiordnungen 321 – 324. 614 Pitz, Supplikensignatur 29.
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Formular; es wurde weder ein dauerndes Konservatorium, sondern nur eines mit zehnjähriger Dauer zugesagt, noch dem Antrag betreffend die gerichtliche Belangung weit entfernter Personen stattgegeben615. Es ist nun nicht sicher, daß die Petentin versucht hat, aufgrund der solcherart einschränkend genehmigten Supplik ein Reskript expedieren zu lassen. Jedenfalls war die Universität Erfurt damit offensichtlich nicht zufrieden. Sie versuchte es wenig später erneut, kam wieder um die Gewährung eines dauernden Konservatoriums beim Papst ein und brachte die leicht abgeschwächte Bitte vor, den Konservatoren zu gestatten, nicht über vier Tagereisen Entfernte vor Gericht ziehen zu dürfen. Der Papst gewährte am 7. Mai 1418 ein Konservatorium für zehn Jahre; von der letztgenannten Bitte war nicht die Rede616. Ob das Reskript in dieser Form ausgestellt wurde, ist ebenfalls nicht bekannt; wahrscheinlich ist es nicht, wie eben schon bemerkt wurde. Bevor die Frist ablief, für welche die Konservatoren ernannt waren (falls ein Konservatorium für die Dauer von zehn Jahren ausgestellt worden war), bat die Universität den Papst erneut um ein dauerndes Konservatorium ohne Rücksicht auf entgegenstehende Konstitutionen. Sie erhielt am 20. Dezember 1426 wiederum nur ein solches für zehn Jahre617. Auch diese genehmigte Supplik scheint nicht in ein entsprechendes Reskript umgemünzt worden zu sein. Gewiß ist, daß die Universität es gelegentlich versäumt hat, um die Erneuerung des Konservatoriums einzukommen, so daß sie zeitweise der Konservatoren entbehrte. Im folgenden Jahr brachte sie erneut ihre Bitte um ein ständiges Konservatorium vor. Ungerührt davon bewilligte der Papst am 11. Februar 1427 ein solches lediglich für zehn Jahre618. Der Apostolische Stuhl ließ sich dieserhalb nicht erweichen. Es werden einmal fiskalische Gründe gewesen sein, die für die Befristung der Konservatorenbestellung sprechen. Zum anderen dürfte aber auch der Ausnahmecharakter der Konservatorengerichtsbarkeit den Heiligen Stuhl veranlaßt haben, sie nicht total zu verfestigen. Die wiederholte Antragstellung ist nur dann verständlich, wenn nicht jedesmal nach der Gewährung der Bitte ein Reskript ausgestellt wurde. Es ist bekannt, daß die Register zahlreiche Suppliken enthalten, die zwar genehmigt wurden, für die aber keine entsprechenden Bullen bzw. Schreiben existieren, weil der Bittsteller es unterließ, sich solche ausstellen zu lassen619. Die einzige erhaltene Konservatorenurkunde Martins V. trägt das Datum vom 11. Februar 1427. Diesmal hat also die Petentin auf der Ausstellung eines Schreibens bestanden. Aber die Universität beruhigte sich dabei nicht. Im Jahre 1429 wurde sie erneut wegen eines zeitlich unbeschränkten Konservatoriums (absque prefinicione temporis) vorstellig. Die Bitte war mit dem Gesuch des Naumburger Bischofs verbunden, ein zehnjähriges Konservatorium für sich und seine mensa episcopalis zu gewähren. Der Papst entschied am 29. Mai 1429: fiat 615
Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 108 fol. 144r. Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 112 fol. 31v. 617 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 205 fol. 117r. 618 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 208 fol. 60v. Vgl. ebenda Reg. Lat. 301 fol. 109v. 619 Diener, Die großen Registerserien 40. 616
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pro utroque620. Diesmal war also die Bitte der Universität erfolgreich. Martin V. genehmigte das Konservatorium für die Universität, wie gewünscht wurde, ohne zeitliche Begrenzung. Mit diesem Verständnis der genehmigten Supplik stimmt überein, daß der Kardinal Aleman in seiner Urkunde vom 21. Juli 1442 für die Universität Erfurt erwähnte, die Päpste hätten ihr einen conservatorem perpetuum gewährt621. Das der genehmigten Supplik entsprechende Reskript ist bisher jedoch nicht aufgefunden worden. 2. Verlust Die kollegiale Delegation erlischt, wenn einer der Delegierten ausfällt. Bei dieser Weise der Jurisdiktionsübertragung ist ja das Zusammenwirken ihrer Träger erfordert und unerläßlich. Wenn nur einer fehlt, ist die zur Bedingung gemachte Zusammensetzung der Delegationsgruppe nicht mehr gegeben. Die solidarische Delegation bleibt dagegen in der Regel bestehen, solange überhaupt einer der Delegierten am Leben bzw. handlungsfähig ist. Bei der solidarischen Delegation wird die Jurisdiktion für alle Delegierten erhalten, wenn einer von ihnen davon Gebrauch macht. Hier soll der Zweck in jedem Falle erreicht werden, dessentwegen die Delegation erfolgte. Die Überlieferung der Tätigkeit der Konservatoren der Erfurter Universität ist wenig günstig. Es ist bislang unmöglich festzustellen, ob alle drei Konservatoren gleichzeitig und nebeneinander ihren Dienst ausgeübt haben oder ob jeweils einer die anfallenden Rechtssachen bearbeitete. Der Umfang ihrer Tätigkeit kann annähernd aus der Zahl der erteilten Lizenziatorien erschlossen werden. Die Schwierigkeit, die Dauer und der Ausgang der Verfahren sind freilich daraus nicht zu erkennen. VI. Der Schutz vor entgegenstehenden Bestimmungen Die Bestellung von Konservatoren war vielen lästig. Vor allem die Träger der ordentlichen Gerichtsbarkeit dürften ihrer Ernennung häufig widerstrebt haben. Aber auch die Beklagten mochten gegen die Außerkraftsetzung des prozessualen Grundsatzes: Actor sequitur forum rei aufbegehren. Sie werden regelmäßig Unterstützung bei ihren Landesherren gefunden haben. So kam es, daß man der Gerichtsbarkeit der Konservatoren teilweise mit Pressionen und Gewalt, teilweise mit rechtlichen Mitteln zu begegnen suchte. Zu den letzteren gehörten vorzugsweise Dekretalen früherer Päpste, welche die Befugnisse der Konservatoren weit mehr beschränkten als die späteren Reskripte. Um die Anführung entgegenstehender Vorschriften, welche die Bestellung der Konservatoren um ihren Erfolg gebracht hätten, zunichte zu machen, mußte in die Ernennungsschreiben eine entsprechende 620 621
Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 247 fol. 34v. StA Erfurt 0–l VII–461.
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Formel aufgenommen werden; so geschah es auch. Es sind dies die sogenannten Non-Obstantien622. Sie mußten bereits in der Supplik erscheinen. 1. In dem Schreiben Bonifaz’ IX. Der Apostolische Stuhl war im Mittelalter außerordentlich freigebig in der Aufrichtung von Ausnahmerecht durch die Gewährung von Privilegien. Wenn es sich um gegensetzliche Privilegien handelte, mußte das entgegenstehende gemeine Recht aus dem Wege geräumt werden, wenn anders der Empfänger in den Genuß der ihm gewährten Vergünstigung kommen sollte. Die Vielzahl der vom Apostolischen Stuhl erteilten Privilegien konnte weiter leicht dazu führen, daß sie miteinander in Widerstreit gerieten und eines das andere unwirksam machte. Um diese unerwünschte Wirkung zu verhüten, mußten in den Urkunden Vorkehrungen dagegen getroffen werden. Diese doppelte Sorge läßt sich auch in den Reskripten zur Ernennung der Erfurter Konservatoren erkennen. Der Apostolische Stuhl gab Indulte, daß jemand weder exkommuniziert, suspendiert oder interdiziert noch außerhalb bestimmter Orte oder über sie hinaus vor Gericht geladen werden könne durch päpstliche Schreiben, die nicht voll und ganz und wortwörtlich ein solches Indult und die dadurch begünstigten Personen, Orte, gesellschaftlichen Gruppen (ordinibus) und Eigennamen erwähnen. Diese Indulte sollten nach dem Schreiben Bonifaz’ IX. dem Wirken der Konservatoren nicht entgegengehalten werden können. Ebenso erteilte der Heilige Stuhl allgemeine oder besondere Vergünstigungen, die ausdrücklich oder zur Gänze in päpstliche Schreiben eingefügt werden mußten oder die wortwörtlich in besonderer Weise erwähnt werden mußten, wenn in sie eingegriffen werden sollte. Auch diese Vergünstigungen sollten der Ausübung der Gewalt, die Bonifaz IX. den Konservatoren gab, nicht abträglich sein. Das Schreiben Bonifaz’ IX. schloß schließlich aus, daß ihm Vorschriften entgegengehalten werden könnten, die verboten, Personen über eine bestimmte Zahl vor Gericht zu ziehen oder gerichtlich zu belangen. 2. In dem Schreiben Martins V. Die Non-obstantibus-Klausel in der Urkunde Martins V. schloß einmal die Berufung auf die Dekretale Bonifaz’ VIII. ,,Hac constitutione“ und wohl auch die vorhergehende ,,Statuimus“ aus. In der Dekretale Bonifaz’ VIII. war, wie oben erwähnt, die Gerichtsbarkeit der Konservatoren auf offenkundige Vergehen eingeschränkt; jene, die einen förmlichen Prozeß erfordern, waren von ihrer Jurisdiktion ausgenommen. Diese Beschränkung fiel durch dieses Schreiben weg. Die Urkunde 622
Arthur Giry, Manuel de Diplomatique, Paris 1894, Neudruck: Hildesheim 1972, 557, 695; Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 10, 20, 38; Pitz, Supplikensignatur 28, 30, 36, 68, 129; Brigitte Meduna, Studien zum Formular der päpstlichen Justizbriefe von Alexander III. bis Innocenz III. (1159 – 1216): die non obstantibus-Formel (= Österreichische Akademie der Wissenschaften Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte, 536. Bd.), Wien 1989.
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Martins V. enthielt obendrein eine Generalklausel, welche die Anführung anderer Konstitutionen der Päpste über die delegierten Richter und Konservatoren und über die zahlenmäßige Begrenzung der vor Gericht zu ziehenden Personen, ja überhaupt aller, die der Gewalt der Konservatoren und deren freier Ausübung irgendwie entgegengehalten werden könnten, für unzulässig erklärte. Ebensowenig sollte die Jurisdiktion der Konservatoren durch ein Indult des Heiligen Stuhls unwirksam gemacht werden können, daß jemand nicht mit Zensuren belegt oder nicht außerhalb bzw. jenseits bestimmter Gebiete vor Gericht gezogen werden dürfe durch ein päpstliches Schreiben, das dieses Indult und die darin enthaltenen Personen und Orte, Orden und Eigennamen, nicht vollständig und ausdrücklich erwähnt623. Endlich sollte keine andere allgemeine oder besondere Gnade (indulgentia) des Apostolischen Stuhles, gleich welchen Wortlauts, die Jurisdiktion der Konservatoren hindern können, außer wenn das gegenwärtige Konservatorium ausdrücklich ausgesprochen oder zur Gänze eingefügt würde und wenn es wörtlich in besonderer Weise erwähnt würde. Jeder der zu Konservatoren Ernannten durfte in ein Verfahren, das ein anderer eröffnet hatte, jederzeit eintreten und es fortsetzen, auch wenn derjenige, der es begonnen hatte, durch kein kanonisches Hindernis aufgehalten wurde624. Vom Datum des vorliegenden Auftragsschreibens an kam allen drei Ernannten für alle vorgenannten Rechtssachen, ob sie begonnen oder noch nicht begonnen, gegenwärtig oder zukünftig seien, ununterbrochene Gewalt und Jurisdiktion zu, so daß sie mit der Kraft und Festigkeit vorgehen konnten, wie wenn die erwähnten Geschäfte vor ihnen begonnen worden wären und ihre Jurisdiktion durch Ladung oder auf andere Weise rechtmäßig dauernd belassen hervorgetreten wäre. Die vorerwähnte Konstitution über die Konservatoren und eine andere gegensätzliche sollten all dem in dem gegenwärtigen Konservatorium Angeordneten nicht entgegenstehen. 2. Kapitel: Die Zuständigkeit der Konservatoren I. Die persönliche Zuständigkeit Die Konservatoren waren hohe Geistliche, die vom Papst in der Absicht und mit dem Auftrag bestellt wurden, den begünstigten Personen oder Einrichtungen zur Erhaltung ihrer Rechte zu verhelfen, wozu sie mit delegierter richterlicher Gewalt ausgestattet wurden. Konservatorien wurden Einzelpersonen625, Personengesamtheiten und Anstalten gewährt. Besonders eifrig im Erbitten und Empfangen von Konservatoren waren die Regularen, d. h. Personen, die in einem Orden feierliche 623 Eine päpstliche Indulgenz vom 28. Juli 1253, daß jemand nur mit päpstlichem Spezialmandat exkommuniziert werden kann, bei Herde, Beiträge 252 f. 624 Das Wort articulus besagt hier den prozessualen Schritt, die richterliche Maßnahme. 625 Es kam vor, daß ein Kanoniker der Diözese Utrecht, der an der römischen Universität Theologie studierte, den Papst um die Einsetzung von Konservatoren bat, die ihm den ungestörten und unverkürzten Bezug der Einkünfte zweier Benefizien sichern sollten (Herde, Audientia Litterarum Contradictarum I, 349; II, 676 Formel).
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Gelübde abgelegt hatten, vor allem die Mendikanten626. Sie besaßen gewöhnlich zahlreiche päpstliche Privilegien, die vom Weltklerus argwöhnisch betrachtet und nicht ganz selten bekämpft oder mißachtet wurden. Um die befürchteten oder erfahrenen Angriffe abzuwehren, erbaten sie das zusätzliche Privileg der Bestellung von Konservatoren. Diese hatten die Exemtionsprivilegien der Religiosen gegen Eingriffe der Ordinarien zu schützen. Für den Raum der Mainzer Erzdiözese gibt es eine Fülle von Belegen. Ich erwähne einige Beispiele. Am 4. Oktober 1242 ließen die drei Konservatoren des Ordens der reuigen Schwestern der heiligen Maria Magdalena in Mainz eine Mahnung ausgehen627. Der Abt Berthold von Paulinzella war am 8. Februar 1312 Konservator des Erfurter Schottenklosters628. Der Scholaster des Mainzer Petersstiftes fungierte am 22. Juli 1331 als Konservator des Klaraklosters in Mainz629. Am 29. Mai 1370 ernannte Papst Urban V. die Dekane von St. Stephan in Mainz, St. Marien in Erfurt und St. Martin in Minden für drei Jahre zu Konservatoren des Stiftes St. Simon und Juda in Goslar630. Am 21. Oktober 1373 machte der Konservator des Predigerordens von sich hören631. Die Personen, die einen Konservator erhielten, erlangten dadurch manche Vorteile. Allein seine Bestellung bezeugte das Interesse des Apostolischen Stuhles am Schutz der begünstigten Personen. Die Tatsache, daß ein Konservator bestellt war, verlieh ihnen einen allgemeinen Schutz. Sodann konnte dieser eine jurisdiktionelle Wirksamkeit entfalten, wenn immer die seinem Schutz Befohlenen ihn um Hilfe anriefen. Er vermochte erforderlichenfalls rasch einzugreifen, war nicht an die prozessualen Förmlichkeiten gebunden und konnte durch die Verhängung von Zensuren die Störer spürbar treffen. Freilich hatte die Einrichtung auch ihre Mängel. Der häufigste Mißbrauch, der den Konservatoren angelastet wurde, war, daß sie die Grenzen ihrer Vollmacht zum Schutz der Religiosen überschritten und somit der Jurisdiktion der Ordinarien Eintrag taten. 1. Die Klageberechtigten Das Ernennungsschreiben Bonifaz’ IX. nannte als Personen, die durch die Aufstellung von Konservatoren begünstigt werden sollten, die Magistri, Doktoren und Studenten der Universität Erfurt. Der Rektor wurde darin nicht eigens namentlich aufgeführt. Wohl aber ist seiner in dem Schreiben Martins V. gedacht. Danach könnte es scheinen, als ob lediglich die akademischen Lehrer und ihre Schüler berechtigt gewesen wären, die Konservatoren anzugehen. Doch diese Ansicht ist 626
236.
Heribert Holzapfel, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens, Freiburg i. Br. 1909,
627 Johann Friedrich Bochmer/Friedrich Lau (Hrsg.), Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt I, Frankfurt 1901, 65 Nr. 130. 628 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster I, 532 Nr. 951. 629 Ludwig Baur (Hrsg.), Hessische Urkunden V, Darmstadt 1873, 265 f. Nr. 293. 630 Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 334 Nr. 677. 631 Ibid. 359 f. Nr. 746.
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unzutreffend. Die Befugnisse der Konservatoren erstreckten sich auf die Universität und alle ihre Angehörigen. Dazu zählten die Immatrikulierten (Intitulierten), die Angestellten der Korporation, die Bediensteten der Scholaren sowie die Handwerker und Händler, deren Unternehmen Bezug zum Funktionieren der Universität hatten632. Sie wurden zusammengefaßt mit dem Wort Supposita. Dieser Ausdruck findet sich beispielsweise in der Urkunde des Kardinals Aleman für die Erfurter Universität vom 21. Juli 1442633. Ebenso wurden in der Supplik, welche die Universität Erfurt an Papst Calixt III. (1456) richtete, als Antragsteller nach Rector magistri Doctores scolares studentes noch alia supposita der Hochschule genannt634. Sie, aber auch nur sie waren berechtigt, den Konservator anzurufen. Der Konservator mußte bei jeder Klage, die bei ihm eingebracht wurde, prüfen, ob der Kläger die prozessuale Rollenfähigkeit besaß, also Glied der Universität war. Nur bei positivem Ergebnis der Prüfung konnte er zur Klage zugelassen werden. Allerdings wurde ihm diese Arbeit regelmäßig von der Universität abgenommen. Indem jeder, der den Konservator angehen wollte, vorher beim Rektor um die Lizenz einkommen mußte, war sichergestellt, daß nur Personen, die auf den Schutz des Privilegs Anspruch hatten, vor ihm erschienen. Der Konservator vergaß gewöhnlich nicht, bei seinem Vorgehen auf die Tatsache der Zugehörigkeit zu der privilegierten Körperschaft hinzuweisen. In dem Schreiben vom 14. Juli 1452, in dem Abt Thaddaeus die verhängten Strafen der Exkommunikation und des Interdikts aufhob, erwähnte er eigens, daß der Kläger, Johannes von Allenblumen, ein Mitglied der Erfurter Universität sei635. Auch aus dem Liber receptorum ist die weite Ausdehnung der Zugehörigkeit zur Universität über den Kreis der Lehrer und Studenten hinaus zu belegen. So taucht unter den Empfängern eines Lizenziatoriums der pincerna porte celi auf636. Ein andermal war es der pincerna burse sancti georgii637. Diener und Hausgenossen von Universitätslehrern und Äbten traten ebenfalls auf638. An erster Stelle interessieren freilich die Studierenden als Kläger. Durch die Aufnahme in die Matrikel wurde der Student Mitglied der Universität und deren Privilegien teilhaftig (Rubr. IV, 2). Die Einschreibung in die Matrikel der Universität hieß intitulatura. Das Wort Immatrikulation begegnet erst spät. Im Jahre 1507 taucht im Liber receptorum zum ersten Mal der Titel ,,De immatriculatis“ auf, wo
632 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 66 f.; The Victoria History of the County of Cambridgeshire and the Isle of Ely, ed. by L. F. Salzman/J. P.C. Roach/R. B. Pugh/ C. R. Elrington/A. P. M. Wright, 6 Bde., Oxford 1938 – 1978, III, 82. 633 StA Erfurt 0–l VII–461. 634 Archivio Segreto Vaticano Reg. Suppl. 495 fol. 68v. 635 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 233 Nr. 288. 636 Liber receptorum I fol. 30r ; fol. 47v. 637 Liber receptorum I fol. 37r. 638 Liber receptorum I fol. 47v.
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es früher regelmäßig hieß: ,,De residuo intitulature.“639 Für die Einschreibung war eine gestaffelte Gebühr zu entrichten (Rubr. IV, 2 – 4). Im Liber receptorum sind regelmäßig Einnahmen aus der Bezahlung noch ausstehender Beträge für die Aufnahme in das Universitätsverzeichnis angegeben. Die Entrichtung der restlichen Summe war Voraussetzung für die Ausstellung der Lizenziatorien. Wer nicht die volle Immatrikulationsgebühr beglichen hatte, durfte nicht vor dem Konservator einen Prozeß führen640. Die bloße Immatrikulation genügte jedoch nicht, um in den Genuß eines Lizenziatoriums zu kommen. In Erfurt mußte die Zugehörigkeit zu der Universität, außer durch die Intitulation, durch den Nachweis tatsächlichen Studierens bewiesen werden (Rubr. IV, 13 und 16). Wer nicht studierte, durfte sich der Privilegien und Freiheiten der Universität nicht bedienen (Rubr. IX, 14). Der gegenwärtig noch im Studium befindliche Universitätsangehörige hieß actu studens (Rubr. XV, 7). Die Universität hatte mit der mißbräuchlichen Inanspruchnahme der Konservatoren leidvolle Erfahrungen gemacht. Die Statuten von 1447 rechneten mit Immatrikulierten, die sich nicht des Studiums wegen hatten einschreiben lassen, sondern aus fremden Motiven, z. B. um Streitsachen zu betreiben (ut lites foveat, Rubr. IV, 13). Die Konservatoren sollten die Universität als Korporation insgesamt und deren Angehörige gegen Beeinträchtigungen schützen. Doch lag das Schwergewicht ihrer Tätigkeit im Bereich privater Streitigkeiten. ,,Der Universitäten haben sie sich aber trotz aller Kämpfe, denen dieselben ausgesetzt waren, weit seltener angenommen als der Einzelnen.“641 Diese Feststellung trifft auch für Erfurt zu642. Die Konservatoren der Universität waren zuständig für Rechtsstreitigkeiten der Universitätsangehörigen. Diese wurden dadurch in die Lage versetzt, ihre Klagen gegen jedweden Gegner vor dem Gericht des Konservators anzubringen. Damit war der Satz Actor sequitur forum rei für sie außer Kraft gesetzt. Die Konservatorengerichtsbarkeit stellte tatsächlich das Prinzip, ,,daß der Kläger dem Beklagten in seinen Gerichtsstand nachzugehen habe, nahezu auf den Kopf“643. Die meisten Universitätsangehörigen, die den Konservator angingen, dürften keine Erfurter gewesen sein. Die Statuten erklärten, daß die Konservatoren vor allem den Auswärtigen, Fremden (extraneos) und den von weither Gekommenen unentbehrlich erschienen (Rubr. XV, in.). Im Vergleich mit der Gesamtzahl der Studenten war die Menge derer, die den Konservator angingen, nicht hoch. ,,Sie übten ihre Gerichtsbarkeit in allen Fällen aus, wo ein Mitglied der Universität als Kläger auftrat; ja selbst dann, wenn
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Liber receptorum I fol. 103r. Weissenborn, Acten I, 296 b, 18 – 19. 641 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 68. 642 Im Rechenschaftsbericht für das Rektorat des Wintersemesters 1432/33 finden sich Aufwendungen der Universität für Gerichtskosten angegeben (Liber receptorum I fol. 14r.). 643 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 69. 640
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auch der Beklagte der Universität angehörte, von einer Verletzung der Privilegien also gar keine Rede sein konnte, sehen wir sie zuweilen tätig.“644 2. Einzelregelungen Die Gerichtsgewalt über die Studenten verteilte sich auf den Erzbischof und den Rektor der Universität. Das Recht der Studenten, vom Rektor gerichtet zu werden, war in gewissem Umfang anerkannt645. Erfurt gehörte angeblich zu den Universitäten, welche die volle Gerichtsbarkeit kraft bischöflicher Verleihung besaßen646. Doch sind an dieser Aussage gewisse Einschränkungen anzubringen. Ein Angehöriger der Universität durfte ein anderes Mitglied derselben nur vor dem Rektor gerichtlich belangen, außer dieser stimmte zu, daß der betreffende sein Verfahren vor einem anderen Richter anhängig machte (Rubr. III, 22 c; wiederholt in IX, 2). ,,Der Conservator als solcher erhielt keine Gerichtsbarkeit über den zu Schützenden, sondern über dessen Gegner, er konnte also nur auf Klage der Universitätsangehörigen, nicht gegen sie urteilen.“647 Die graduierten und studentischen Mitglieder der Universität durften einen Bürger oder Einwohner der Stadt Erfurt vor dem Rektor der Universität, den Konservatoren oder dem Erfurter Ordinarius gerichtlich belangen, es sei denn, diese betrieben Rechtsverweigerung (Rubr. III, 22 b; wiederholt in IX, 1). Gegenüber den Erfurtern gab es also für die Universitätsangehörigen grundsätzlich drei Möglichkeiten, ein Verfahren anzustrengen. Im besonderen konnte der Rektor Bürger der Stadt, die sich gegen Studenten verfehlt hatten, vorladen. Erfurt war damals ein ansehnliches Gemeinwesen. Am Ende des 15. Jahrhunderts gebot der Rat von Erfurt über zwei Städte, Erfurt und Sömmerda, sowie 83 Dörfer. Auch die fünf erzbischöflichen Küchendörfer und das dem großen Spital gehörige Dorf Hain können zu seinem Machtbereich gerechnet werden. Die Ausdehnung des Gebietes betrug etwa 610 Quadratkilometer. Die Bevölkerung zählte zwischen 42 000 und 50 000 Einwohner648. Besonderes galt für die Personen, die in irgendeiner Hinsicht dem Erzbischof als Grund- oder Lehnsherrn unterstanden. Es bestand eine Vereinbarung zwischen dem Provisor und der Universität über die Anhängigmachung von Rechtssachen, diese Personen betreffend. Der Provisor war der Vertreter des Mainzer Erzbischofs in Erfurt, der dessen Rechte als Grundherr wahrnahm, die Gerichtsgefälle und die Freizinsen einzog und den verbliebenen Teil des Marktmeisteramtes innehatte649. Er 644 645
204. 646
Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 68. Weissenborn, Acten I, 12, 21, 28. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I,
Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 63 f. Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 62. 648 Neubauer, Zur Geschichte 10 f. 649 Waehler, in: Neubauer, Das tolle Jahr von Erfurt XII. 647
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hatte seine Amtsräume im Mainzer Hofe. Dort befanden sich auch sein Personal und das Gefängnis für Kleriker, Mainzer Bedienstete und Angestellte650. Die Vereinbarung datiert vom 23. Juli 1427651 und fällt somit in die Regierungszeit des Erzbischofs Konrad III. von Dhaun (1419 – 1434). Er ist bekannt durch die unglücklichen Kämpfe mit der Landgrafschaft Hessen und den Konflikt mit den Mainzer Bürgern652. Die Vereinbarung ist überschrieben (in MIB 46): Littera renuntiationis privilegii Universitatis Erffordensis quod non trahantur vasalli officiales aut servitores ac proprietarii ecclesie Maguntinensis ad conservatores studii bzw. (in MIB 56): Rectoris et Studii Universitatis Erffurdensis Mandatum. Die doppelte Bezeichnung ist nicht widersprüchlich. Das Dokument ist einmal eine Verzichtserklärung, insofern der Ausübung eines Rechtes entsagt wird; es ist zum anderen ein Befehl, weil den Angehörigen der Universität etwas geboten wird. Die Erklärung geht von Rektor und Universität aus, die dabei gleichzeitig im Namen der Konservatoren sprechen. Rektor und Universität leisten darin Verzicht auf die Benutzung des Konservatorenprivilegs gegenüber sogleich zu nennenden Personen. Für Privilegien gilt ja grundsätzlich die Freiheit des Gebrauchs, und so besteht auch die Möglichkeit, auf ihn zu verzichten653. Das Dokument setzt damit ein, daß päpstliche Privilegien und Konservatorien des Apostolischen Stuhles und entsprechende Beglaubigungsschreiben (Vidimus) der Universität gewährt sind, daß sie aber, auf die Gerechtigkeit des Mainzer Erzbischofs und seiner für Thüringen aufgestellten Generalrichter vertrauend, sie hinsichtlich eines bestimmten Personenkreises nicht gebrauchen wollen. Der Verzicht auf den Gebrauch ist an die Bedingung geknüpft, daß die genannten Personen vor dem Erzbischof und seinen Richtern vor Gericht zu erscheinen und dem gerichtlichen Erkenntnis sich zu fügen bereit sind. Es handelt sich dabei um Menschen, die zu dem Mainzer Erzbischof in einer besonderen, freilich unterschiedlichen rechtlichen Beziehung stehen. Dies sind einmal Lehnsleute (vasallos), also wohl gewöhnlich Angehörige der Ritterschaft, dann Amtsleute (officiales)654, weiter Diener (servitores) und schließlich Eigentümer (proprietarii). Gegenüber den genannten Personen wollen Rektor und Konservatoren ihre Gerichtsbarkeit nicht ausüben. Damit wird den Studenten und Angehörigen der Universität im allgemeinen und im einzelnen verboten, jemanden von den genannten Leuten vor den Konservatoren oder einem von ihnen gerichtlich zu belangen. Falls dennoch diesem Verbot zuwider einer aus dem solchermaßen befreiten Personenkreis vor den Konservator gezogen werden sollte, der sich nicht 650
Benary, Die Vorgeschichte 42. StA Würzburg MIB 46 fol. 304r ; MIB 56 fol. 142v–143r. 652 Jürgensmeier, Das Bistum Mainz 151 – 156. 653 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III, 816. 654 Ich verstehe darunter weltliche Bedienstete, nicht etwa die richterlichen Vertreter der Archidiakone. Im Liber receptorum I fol. 118v ist die Rede von dem officialis viride ianue. Richtiger wäre es wohl, die betreffenden Personen als officiati zu bezeichnen. Von officiati des Mainzer Erzbischofs ist in Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster II, 127 – 129 Nr. 259 (1347) die Rede. 651
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auf seine Befreiung beruft, so wird der Rektor auf Ersuchen des Erzbischofs oder seiner Richter sogleich anordnen, daß er an seine Richter gewiesen wird. Diese Erklärung wurde als promissum et condictum bezeichnet. Promissum besagt das Versprechen, also die Zusage einer künftigen Leistung, sei dies nun ein Tun oder ein Unterlassen. Condictum ist ebenfalls die Zusage; das Wort bringt inhaltlich wohl nichts Neues, sondern dient lediglich der Verstärkung des Ausdrucks promissum. Der Verzicht auf den Gebrauch des Konservatorenprivilegs gegenüber den Personen, die dem Mainzer Erzbischof rechtlich verpflichtet waren, fand Aufnahme in die Statuten der Universität aus dem Jahre 1447. Die Rechtsbeistände waren danach gehalten, die Rechtssache, deretwegen sie angegangen werden, zu prüfen und auf die Personen, die belangt und vor Gericht gezogen werden sollen, zu achten. Wenn sie feststellten, daß es sich um Angehörige der Dienerschaft (familia) oder in besonderer Weise dem Mainzer Erzbischof Unterworfene (wie Lehnsmänner, Hofangestellte und Bedienstete oder irgendwie anders aufgrund von Amt und Anstellung ihm Unterworfene) oder um einen Bewohner von Stadt oder Bezirk Erfurt handelt, dann hatten sie dies dem Rektor zu melden. Der Rektor mußte vor der Ausstellung eines Lizenziatoriums bedenken, daß nach der Übereinkunft und der Anerkennung zwischen der Universität und dem Provisor des Mainzer Erzbischofs solche Personen nicht vor das Gericht des Konservators gezogen werden sollen oder daß wenigstens, wenn Rektor und Universität dennoch ersucht werden, die Sache anzunehmen, die beklagte Partei an ihren Richter oder an die Römische Kurie, wenn es der zu überweisenden Partei so gefällt, gewiesen werden solle. Der Rektor mußte von dem Kläger, bevor er die Erlaubnis zur Prozeßführung vor dem Konservator gab, das eidliche Versprechen entgegennehmen, daß er die Überweisung geduldig hinnehmen und ebenso dulden werde, daß er selbst überwiesen wird, wenn der Konservator so entscheiden wird, ohne Widerspruch zu erheben. Das geschah, damit Friede und Eintracht zwischen dem Mainzer Erzbischof, der Stadt Erfurt und der Universität unbeschädigt bewahrt wurden. Von den Konservatoren wurde erwartet, daß sie sich an die Abmachung halten (Rubr. XV, 13). Der 1427 erstmals erklärte Verzicht ist offensichtlich später wiederholt worden. Am 3. Juli 1503 sprachen Rektor und Universität erneut die Enthaltung von der Ausübung ihres Rechtes aus, Bedienstete und Hörige des Erzbischofs vor das Gericht des Konservators zu ziehen.655 3. Geographische Beschränkungen Auch die übrigen prozessualen Gegner von Universitätsangehörigen konnten nicht ohne Beschränkung vor das Gericht der Konservatoren geladen werden. Es bestand eine Begrenzung der Distanz, die sich nach der Entfernung vom Gerichtsort berechnete. Bestimmungen dieser Art hatten ein hohes Alter. Schon Can. 37 des Vierten Laterankonzils (1215) verbot die Ladung vor Gericht von Personen, die 655
StA Würzburg MIB 56 fol. 142v.
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mehr als zwei Tagereisen entfernt wohnten656. Doch waren von dieser Vorschrift mehr als einmal Dispensen erteilt worden657. Die Erfurter Konservatoren waren anfangs daran gebunden, niemanden vorzuladen, der weiter als zwei Tagereisen von ihnen entfernt war. Die beiden Bestellungsschreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. enthielten am Schluß eine Non-obstantibus-Klausel. Sie hatte den Zweck, das darin Gewährte gegen Einwände, die von früheren päpstlichen Verordnungen oder Verfügungen hergeleitet wurden, zu schützen. Dem Vorgehen der Konservatoren sollte nicht die Dekretale Bonifaz’ VIII. ,,Hac constitutione“658 entgegengehalten werden dürfen. Darin war bestimmt, daß die Konservatoren außerhalb der Städte oder Diözesen, in denen sie aufgestellt waren, gegen niemanden vorgehen oder jemanden, der über eine Tagereise von der Diözesangrenze wohnte, vor ihr Gericht ziehen durften. Das Schreiben Bonifaz’ IX. befreite nun ausdrücklich von diesen Vorschriften. In seinem Konservatorium wurde die Entfernung, bis zu der Ladungen erlaubt waren, auf zwei Tagereisen ausgeweitet. Bei diesem Stande blieb es zunächst. Das ursprüngliche Privileg des Baseler Konzils beschränkte die Vollmacht der Konservatoren, Personen vorzuladen, dahin, daß sie nicht an einen Ort, der weiter als zwei Tagereisen von der Grenze ihrer Diözese entfernt lag, zitiert werden durften. Nun erwies sich, wie die Erfurter Universität der Versammlung plausibel machte, diese Beschränkung als hemmend. Der Baseler Kongreß willfahrte daher ihrem Begehren auf Ausdehnung. Das Privileg vom 14. Mai 1445 gestattete den Konservatoren, Beklagte bis zu drei Tagereisen von der Grenze ihrer Diözese vorzuladen659. Damit konnte ihre Gerichtsbarkeit beträchtlich weiter ausgreifen. Das Privileg wurde von der Erfurter Universität für gültig gehalten, obwohl es von einer Versammlung ausgestellt war, die zu diesem Zeitpunkt unzweifelhaft schismatisch war. Der Abt Thaddaeus berief sich im Jahre 1451 auf seine Befugnis, gegen Personen vorzugehen, die drei Tagereisen entfernt wohnten (quod habeat procedere per tres dietas)660. Den unrechtmäßigen Charakter der Baseler Versammlung zu dem Zeitpunkt, an dem die Erweiterung des Kreises derer, die vor Gericht gezogen werden durften, vorgenommen wurde, ließ er offensichtlich unberücksichtigt.
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X 1, 3, 28. Z. B.: Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. I, 1123–1124 Nr. 2080 (1. September 1234); Bd. II, 368 –369 Nr. 3116 (22. April 1236). 658 VI 1, 14, 15. 659 DA Erfurt Urkunden III Nr. 62 und I Nr. 1045. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 142 A. 784. 660 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220 (1451). 657
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II. Die sachliche Zuständigkeit 1. In dem Schreiben Bonifaz’ IX. Die Aufgabe der Konservatoren war nach dem Schreiben Bonifaz’ IX. die Gewährung von Schutz für die Universitätsangehörigen (efficacis defensionis presidio assistentes). Die erste Ernennungsurkunde von Konservatoren der Universität Erfurt begann formelhaft, daß sich die Universitätsangehörigen über Störung oder Entzug ihrer Rechte, Besitzungen und Einkünfte beschwert hätten, die ihnen von geistlichen und weltlichen Personen widerfahren seien. Als jene, über die sich die Angehörigen der Erfurter Universität beim Papst beklagt hatten, nannte das Schreiben Bonifaz’ IX. (formelhaft) Erzbischöfe, Bischöfe und andere Prälaten der Kirchen und Klöster, Kleriker und kirchliche Personen sowohl aus dem Ordens- wie aus dem Weltklerikerstand. Dazu traten außerhalb des geistlichen Standes Herzöge, Markgrafen, Grafen, Barone, Adlige, Ritter und Laien, Stadtgemeinden und Personengesamtheiten von umwallten Plätzen, Burgflecken, Dörfern und anderen Orten sowie Einzelpersonen der Städte und Diözesen und verschiedener anderer Gegenden. Die Beschreibung der Personen und der Orte war selbstverständlich formelhaft; sie war gleichzeitig absichtlich umfangreich und unbestimmt gehalten, damit ja niemand ausgelassen wurde von jenen, gegen die sich die Beschwerden der Universität richteten. Doch zeigte sich darin auch der entschiedene Wille, Recht und Gerechtigkeit selbst gegen Hochgestellte und Mächtige durchzusetzen. Darum hob das Schreiben Bonifaz’ IX. eigens hervor, daß die Konservatoren ihren Dienst ohne Ansehen der Person erfüllen sollten, also ohne Rücksicht auf Würde, Stand, Grad, Weihe und Stellung. Die Angriffe, über die sich nach dem Schreiben Bonifaz’ IX. die Angehörigen der Erfurter Universität beklagten, betrafen das Vermögen, Sachen, Privilegien und Freiheiten. Es wurden ihnen gravamina, iacturae, iniuriae und molestiae und (weiter unten) violentiae zugefügt. Auch diese beiden Aufzählungen waren selbstverständlich konventionell und stereotyp; es sollte weder bei den geschädigten Gegenständen noch bei den Schädigungen irgend etwas vergessen werden. Gravamia ist allgemeiner Sammelbegriff für Beschwerden, Bürden, Lasten, die jemandem zu Unrecht auferlegt werden. Iacturae sind Verluste, Schäden. Iniuriae sind alle Rechtsverletzungen, nicht etwa nur Beleidigungen. Molestiae sind rechtlich erhebliche Beschwerden und Belästigungen. Violentiae sind Handlungen der Gewaltanwendung. Schließlich war in dem Schreiben Bonifaz’ IX. auch noch von damna die Rede, also Schädigungen, vor allem Vermögensverlusten und Sachbeschädigungen. Das Schreiben Bonifaz’ IX. bezeichnete die Haltung, aus der die Bedrängnisse der Universitätsangehörigen erwachsen, als temeritas, d. h. Verwegenheit, und sagte von den Tätern, daß sie sich nicht scheuten, den Namen Gottes vergeblich anzurufen. In all diesen Fällen sollte der Konservator befugt sein, auf die Klage von Universitätsangehörigen hin einzuschreiten.
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2. In dem Schreiben Martins V. Auch der (stereotype) Motivbericht für den Erlaß des Schreibens Martins V. ging aus von der Klage des Rektors, der Magistri, der Doktoren und der Studenten der Universität, die sich gegen geistliche und weltliche Große, kirchliche und weltliche Personen, Gemeinden und Einzelpersonen richtete. Die Beschwerde hatte die widerrechtliche Inbesitznahme von Gütern und Rechten bzw. die Besitzstörung in bezug auf diese Güter und Rechte zum Gegenstand. Die Übeltäter, denen mit der Aufstellung der Konservatoren begegnet werden sollte, waren in dem Schreiben Bonifaz’ IX. als iniuriatores, molestatores et presumptores bezeichnet. In dem Schreiben Martins V. traten dazu noch die occupatores und detentores. Praesumptiones sind Anmaßungen, d. h. Inanspruchnahmen von Dingen oder Leistungen, die des Rechtsgrundes entbehren. Occupationes sind Besitzergreifungen von Sachen, die einem nicht gehören. Detentiones sind Zurückbehaltungen von Sachen, die einem anderen zukommen. Diese Aufzählung legt die Vermutung nahe, daß vor dem Konservator in der großen Überzahl der Fälle Vermögensstreitigkeiten ausgetragen wurden. Die Urkunde des Kardinals Aleman vom 21. Juli 1442661 sprach von causae et iniuriae, über die der Konservator zu erkennen habe, und nannte die vor Gericht gezogenen Personen iniuriatores et debitores. III. Die tatsächlichen Streitpunkte Das urkundliche Material über tatsächlich vorgekommene Verfahren vor den Konservatoren der Universität Erfurt ist schmal. Es muß daher versucht werden, durch Vergleiche und Rückschlüsse einen Einblick in ihre Tätigkeit zu gewinnen. 1. Geldsachen Die Klagen, welche Studenten vor die Kölner Konservatoren brachten, hatten meist Schuldforderungen, dann auch Versäumnis der Zahlung von Jahresrenten und Verstöße gegen das Erbrecht, gelegentlich auch persönliche Verletzungen zum Gegenstand662. In Erfurt war es wohl nicht anders. Die meisten Verfahren wurden um Geldschulden geführt, soweit es möglich ist, aus den spärlichen Quellen Erkenntnisse zu gewinnen. Aus der Höhe der Gebühren, die für die Ausstellung der Lizenziatorien entrichtet wurden, läßt sich schließen, daß gewöhnlich um finanzielle Leistungen gestritten wurde. In einem Fall ging der Streit um die Zahlung eines Zinses, die nicht zu gehöriger Zeit erfolgt war663. Bei anderer Gelegenheit wurde bemerkt: quia iniuriarum664, also vielleicht eine Beleidigungsklage. Leider sind diese Mitteilungen äußerst selten. Manchmal wurde angegeben, um welchen 661
StA Erfurt 0 – 1 VII–461. Keussen, Die alte Universität Köln 8. 663 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220 (1451). 664 Liber receptorum I fol. 41r. 662
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Streitgegner es sich handelt. So wurde z. B. bemerkt: habet licenciam agendi contra plures militares665. Hier wurde also wohl gegen Ministeriale prozessiert. Einer, Volkmarus de Grussen, erbat das Lizenziatorium, um gegen die Karmeliten in Querfurt zu klagen666. 2. Die Zession von Forderungen Es kam nicht selten vor, daß Universitätsfremde sich im Zusammenwirken mit Universitätsangehörigen die Vorteile der Konservatorengerichtsbarkeit zum eigenen Gewinn zunutze machten. Vor allem Scholaren klagten Forderungen Dritter als Zessionare vor den Konservatoren ein667. Damit hatte es folgende Bewandtnis. Zession668 ist die Abtretung einer Forderung an einen anderen, die durch Vertrag zwischen dem bisherigen Klageberechtigten (Zedenten) und dem neuen (Zessionar) erfolgt. Derjenige, dem die Forderung abgetreten worden ist, kann jetzt in seinem (eigenen) Namen die Klage erheben. Diese Möglichkeit machten sich geschäftstüchtige Supposita der Universitäten zunutze. Mit Hilfe der Zession von Forderungen an Universitätsangehörige war es möglich, völlig universitätsfremde Sachen durch Scheingeschäfte vor den Richterstuhl des Konservators zu bringen669. In Köln war in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Übertragung von Forderungen an Studenten gang und gäbe670. Es kam vor, daß Immatrikulationen einzig in der Absicht vorgenommen wurden, sich dadurch den Vorzug der Konservatorengerichtsbarkeit zu verschaffen671. Wer einen Prozeß vor dem weltlichen Gericht verloren hatte, erneuerte – nach Intitulation – das Verfahren vor dem Konservator672. In Köln wurde daher die Klage laut, daß jene, welche sich an die Konservatoren um Rechtsschutz wandten, keine echten Studenten seien673. Die Universität suchte dem Mißbrauch zu begegnen. Der Rektor durfte einem, der mandata judicialia von den Konservatoren der Universität oder ihren Stellvertretern haben wollte, kein Zeugnis ausstellen, wenn er nicht zuvor in die Hände des Rektors einen Eid ablegte, daß er im Studium zu bleiben beabsichtige und daß er seine Sache für gerecht halte und sie nicht arglistig, betrügerisch oder per transportum betreibe674. Eine Vorschrift des päpstlichen Legaten Johannes Carjaval von 1449 erwähnte Personen, die sich allein zu dem Zweck an der Universität Köln immatrikulieren lassen, damit sie Forde665
Liber receptorum I fol. 36r. Liber receptorum I fol. 35v. 667 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 69. 668 Klaus Luig, Zur Geschichte der Zessionslehre (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte Bd. 10), Köln – Graz 1966. 669 Beispiel bei Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft 23 f. 670 Keussen, Die alte Universität Köln 10. 671 Keussen, Die Stadt Köln 84. 672 Keussen, Die Stadt Köln 84. 673 Keussen, Die alte Universität Köln 9. 674 Bianco, Die alte Universität Köln I Anlagen S. 17 (Nr. 45). 666
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rungen, die ihnen von andern durch Scheinzession übertragen werden, vor den Konservatoren eintreiben können. Diese werden daher veranlaßt, daß sie nur dann aufgrund der Klage eines Universitätsangehörigen, die auf einer abgetretenen Forderung beruht, eine Zitation ausgehen lassen dürfen, wenn der Kläger in Gegenwart des Richters und des Notars auf die Evangelien schwöre, daß die Abtretung nicht arglistig und vorgetäuscht, sondern ohne Nebenabreden, einfach und wahrhaftig sei675. Die Universität Köln ordnete 1482 an, daß niemand ein Verfahren vor dem Konservator anstrengen dürfe, ohne vorher ihre oder wenigstens des Rektors und der vier Dekane Erlaubnis eingeholt zu haben676. In Erfurt schritt man ebenfalls von Universitäts wegen gegen den Mißbrauch der Konservatorengerichtsbarkeit ein. Die Statuten von 1447 verboten strikt das Angehen des Konservators durch Universitätsangehörige in einer Vermögensstreitigkeit, bei der die Klage abgetreten worden war, außer wenn die Zession der Forderung rechtmäßig und nicht in der Absicht erfolgt war, die Gerichtszuständigkeit zu ändern, und wenn sie einer aufnahmefähigen Person, nicht einer höheren oder mächtigeren Person und ohne Betrug gemacht war; wenn so die abgetretene Sache geprüft und der, welcher über sie prozessieren wollte, gehört worden war, gab der Rektor dem Konservator unter Beidrückung des Siegels schriftlich die Erlaubnis, sie zu behandeln, worauf dieser die Ladung ergehen ließ und die Gerechtigkeit verwaltete (Rubr. XV, 4). Die Verantwortung für die Ehrlichkeit der Zession lag also in erster Linie bei dem Zessionar; auf sein Zeugnis mußte sich der Rektor (oder sein Vertreter) stützen. Doch wurden auch andere an dem Verfahren Beteiligte in Pflicht genommen. So mußte der Anwalt die Ernsthaftigkeit der Zession durch einen besonderen Eid bekräftigen (Rubr. XV, 14)677. In einem Nachtrag zu Rubr. XV, 4 befaßten sich die Erfurter Statuten noch einmal mit der Abtretung von Klagen an Universitätsangehörige (Rubr. XV, 15). Danach durfte kein Angehöriger der Universität durch den Rektor zur Klage in einer abgetretenen Sache zugelassen werden, wenn nicht diese zuvor durch den geheimen Rat der Universität geprüft war. Wurde sie dabei als vernünftig und nicht vorgetäuscht (simulata) befunden, gab der Rat dem Zessionar die Erlaubnis, die Sache zu betreiben. Der geheime Rat der Universität bestand aus dem Rektor und je zwei Vertretern jeder Fakultät (Rubr. VII). Die Einschaltung des Rates geschah offensichtlich in der Absicht, die Prüfung der Aufrichtigkeit der Abtretung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die Mitglieder des Rates waren durch die Beteiligung an der Gerichtsbarkeit des Rektors bis zu einem gewissen Grade juristisch geschult.
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Bianco, Die alte Universität Köln I, 91 A. 1. Vgl. Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft 24 f.; Keussen, Die alte Universität Köln 9. 676 Keussen, Die alte Universität Köln 9. 677 Weissenborn, Acten I, 30. Vgl. Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 69.
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3. Kapitel: Die Weisen der Ausübung der Konservatorengewalt Die Bestellungsschreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. gaben an, welches Verfahren die Konservatoren einzuschlagen hatten, um ihrem Auftrag, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, zu genügen. Sie unterschieden bei den Angelegenheiten, in denen die Konservatoren tätig werden sollten, zwei Arten. Die einen waren jene, que iudicialem requirunt indaginem, die anderen solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Bei den ersteren sollten sie summarie et de plano sine strepitu et figura iudicii, bei den letzteren prout qualitas eorum exegerit vorgehen. Aus historischen und sachlichen Gründen empfiehlt es sich, mit den Fällen zu beginnen, die ohne iudicialis indago erledigt werden sollten678. I. Das Vorgehen bei notorischen Vergehen 1. Der Verzicht auf die prozessuale Untersuchung Ursprünglich war die Jurisdiktion der Konservatoren auf die notorischen Fälle679 beschränkt, und stets blieben sie befugt, in solchen einzugreifen. Bei diesen Gelegenheiten war die Offenkundigkeit des Unrechts von fundamentaler Wichtigkeit, weil sie die Bedingung für das Tätigwerden des Konservators auf dem Verwaltungswege war. Der Begriff der Notorietät wurde von der Kanonistik im Anschluß an C. 2 q. 1 c. 15 entwickelt. Dort ist das Prinzip aufgestellt: Manifesta accusatione non indigent. Bei offenkundigen Verfehlungen bedurfte es keiner Anklage; es entfiel der ganze Akkusationsprozeß680. Der eben genannte Grundsatz wurde noch mehrfach wiederholt681. Eine offenkundige Tatsache ist in sich selbst evident und braucht nicht bewiesen zu werden; es erübrigt sich daher ein prozessuales Beweisverfahren. Der Beweis, den dieses erbringen sollte, ist durch die Offenkundigkeit des Vergehens geliefert. In diesem Sinne führte Gratian im Dictum p. C. 2 q. 1 c. 16 aus: in talibus iudiciarius ordo non requiritur. Der Inhaber der Strafgewalt konnte somit in derartigen Fällen ohne die Durchführung eines Gerichtsverfahrens zur Bestrafung des Schuldigen schreiten. Es wurde allerdings die unbestreitbare Evidenz der
678
Nicolaus München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 2 Bde., 2. Ausgabe, Köln/Neuß 1874; Otto Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter, II. Bd.: Texte (= Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft 26. Heft), Paderborn 1915. 679 Zum Verfahren bei Notorium vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 446 – 449. 680 C. 2 q. 1 cc. 4 und 7; C. 2 q. 3 c. 5; C. 3 q. 6 c. 5; C. 4 q. 5 c. 1; X 5, 1. 681 Z.B.: X 5, 1, 9.
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Rechtsverletzung gefordert. Nur ein Vergehen, das so öffentlich bekannt war, daß es notorisch war, bedurfte weder eines Anklägers noch der Zeugen682. Was für Vergehen angenommen war, wurde bald auf Tatsachen überhaupt ausgedehnt. In diesem Sinne statuierte C. 2 q. 1 c. 17: In manifesta et nota plurimis causa non sunt querendi testes. Dieser weitere Grundsatz wurde im Dekretalenrecht mehr als einmal ausgesprochen683. Es ist ohne weiteres einsichtig, daß er das Beweisverfahren in tiefgehender Weise modifizierte. Denn Zeugen waren und sind nun einmal das häufigste und wichtigste Beweismittel. Der Verzicht auf sie mochte die Arbeit des Richters erleichtern und das Verfahren beschleunigen, minderte jedoch die Gewißheit des Beweises und die Sicherheit der Entscheidung. Innozenz III. nahm den doppelten Grundsatz: manifesta accusatione non indigent und: nec in eis est ordo iudiciarius observandus in eine berühmt gewordene Dekretale auf684. Das Vertrauen auf die Evidenz von Verfehlungen zeitigte eine weitere prozessuale Folge. Wenn ein Urteil auf Notorietät beruhte, konnte grundsätzlich keine Berufung dagegen eingelegt werden685. Innozenz III. nahm allerdings jene Fälle von der Inappellabilität aus, in denen die Berufung von Rechts wegen ausdrücklich zugestanden wurde686. 2. Die Offenkundigkeit Für offenkundige Vergehen und Tatsachen wurden im Corpus Iuris Canonici die Ausdrücke manifestum und notorium verwendet687. In der Dekretale ,,Quum olim“ war der Begriff manifesta (offensa) beschrieben688. Danach war eine Rechtsverletzung offenkundig, wenn der Täter ein Geständnis ablegte, wenn ein rechtmäßiger Beweis geführt wurde oder wenn die Sache so evident war, daß sie durch keine Machenschaft verborgen werden konnte. In dieser Erklärung war das zusammengefaßt, was später als notorium iuridicum und notorium facti bzw. evidentia rei unterschieden wurde. Papst Urban III. brachte ein Beispiel für einen manifesten Fall689. Das notorium war ursprünglich ein Teil des manifestum. Es bezog sich auf Tatsachen, die deswegen offenkundig waren, weil sie material und formal öffentlich bekannt waren, die weder geheim noch zweifelhaft waren, so daß sie durch keine Ausflüchte verheimlicht oder geleugnet werden konnten. Die Notorietät bezog sich also sowohl auf die Tatsache als auch auf die Schuld. Ein Beispiel für ein factum notorium ist in X 1, 7, 3 geliefert. Ein Vergehen war dann öffentlich und notorisch, 682
X 3, 2, 8. X 1, 6, 23; X 1, 17, 10; X 2, 21, 3; VI 5, 11, 12. 684 X 2, 24, 21. 685 X 2, 28, 13; 2, 28, 14; 2, 28, 61. 686 X 2, 28, 53. 687 Sie stehen in X 2, 24, 21 zusammen: in manifestis et notoriis. 688 X 5, 40, 24. 689 X 4, 14, 2. 683
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wenn nullus inficiationi locus penitus exsistebat690. Bei notorischen Verbrechen war das gesamte in der Nähe befindliche Volk Zeuge691. Es brauchte nicht mehr einzeln befragt zu werden, um einen Beweis zu führen. Der öffentliche Ruf, der durch die Evidenz der Tatsache sich verbreitete, bewirkte die Notorietät, wie Papst Johannes XXII. bemerkte692. Papst Alexander III. stellte manifestum und notorium nebeneinander, wobei er für das notorium die Freiheit von Ungewißheit forderte693. Papst Innozenz III. bezeichnete ein Vergehen als notorisch, das so (ex evidentia) öffentlich bekannt ist, daß es durch keine Machenschaft verheimlicht werden kann694. Das war die tatsächliche Notorietät. Papst Lucius III. nannte ein Verbrechen notorisch, dessentwegen jemand in kanonischer Weise verurteilt wird695. Damit war die rechtliche Notorietät bezeichnet. Papst Gregor IX. vollzog die Gleichsetzung von manifestum und notorium, als er letzteres durch Urteil, gerichtliches Geständnis und evidentia rei eintreten ließ696. 3. Das Erfordernis der Untersuchung Wenn ein Vergehen offenkundig war und ein Beweis nicht geführt zu werden brauchte, weil er bereits vorlag, dann ergibt sich daraus an sich, daß der Konservator sogleich die Verfolgung aufnehmen konnte und sollte, wenn er sichere Kenntnis von der Rechtsverletzung erlangte. Sein Vorgehen vermochte der Einwand, das Vergehen sei nicht notorisch, nicht zu verhindern. Wenn ein Bestreiten der Notorietät, etwa durch den Rechtsverletzer, genügt hätte, die Vollmacht des Konservators außer Funktion zu setzen, dann wäre seine Bestellung sinnlos gewesen. Bei Vergehen, die offenkundig waren und wo ein Gerichtsverfahren sich erübrigte, sollten die Konservatoren je nach Beschaffenheit derselben vorgehen. Mit den Worten prout qualitas eorum exegerit gab der Papst den Konservatoren das Handeln frei. Er durfte selbst den Weg bestimmen, auf dem er der Rechtsverletzung begegnen wollte. Die Freiheit des Vorgehens ist typisch für die Ausübung von Exekutivgewalt. Der Konservator sollte also in diesen Fällen den Verwaltungsweg beschreiten, selbstverständlich mit der Einschränkung, daß der Gerechtigkeit Genüge geschehe. Auch bei notorischen Fällen und beim Vorgehen auf dem Verwaltungswege mußten die elementaren Forderungen eines gerechten Handelns erfüllt sein. Ein Minimum an Untersuchung war auch bei Evidenz der Rechtsverletzung erforderlich. Denn es mußte das Vorliegen der Tat nach objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen gesichert sein. Der Konservator war also in dem Falle, in 690
X 5, 34, 15. X 5, 34, 15. 692 Extr. comm. 2, 2, 1. 693 X 2, 28, 14. 694 X 3, 2, 8. 695 X 3, 2, 7. 696 X 3, 2, 10. 691
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dem er zum Schutz gegen Unrecht und Gewalt angegangen wurde, gehalten, zu prüfen, ob die Klage wirklich einen offensichtlichen Rechtsverstoß zum Gegenstand hatte. Zu diesem Zweck dürfte es häufig erforderlich gewesen sein, den vermeintlichen Rechtsbrecher zu zitieren, um ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten. Falls sich die Klage als begründet erwies, durfte der Konservator eine kirchliche Zensur verhängen, um Abhilfe zu schaffen. Am Schluß der Untersuchung stand der Spruch (sententia), durch den entschieden wurde, was Rechtens sein sollte. Wo die geforderte Evidenz der Tatbegangenschaft nicht vorlag, war es dem Konservator verwehrt, auf dem Verwaltungswege vorzugehen. II. Das Vorgehen aufgrund gerichtlicher (prozessualer) Untersuchung Nur die Notorietät eines Falles gestattete das Vorgehen des Konservators auf dem Verwaltungswege und den Verzicht auf ein gerichtliches Verfahren. War sie nicht gegeben, mußte ein gerichtliches Verfahren eingehalten werden. Indago iudicialis ist die prozessuale Untersuchung, die unter Einhaltung der Gerichtsordnung in unsicheren, zweifelhaften Fällen in Gang gesetzt wird, um die Wahrheit aufzufinden und ein gerechtes Urteil zu sprechen. Der ordo iudiciarius ist in den des ordentlichen697 und jenen des Summarprozesses698 zu unterscheiden. 1. Der ordentliche Prozeß Der ordentliche streitige Prozeß ist durch die beiden Grundsätze der Schriftlichkeit und der Verhandlungsmaxime bestimmt. Er vollzieht sich in drei Etappen. Die erste Phase ist durch die Momente der Einreichung der Klageschrift, der Litispendenz, der Litiskontestation und der Feststellung der strittigen Tatsachen gekennzeichnet. Die zweite Phase ist das Beweisverfahren. Die Positionen des Klägers bzw. des Beklagten sind zu beweisen. Die Parteien kämpfen durch den Versuch, Beweis und Gegenbeweis zu führen, miteinander. Nach Erschöpfung des Beweisstoffes erfolgt der Aktenschluß. Die dritte Phase des Verfahrens enthält die richterliche Entscheidung und deren Vollstreckung. Das Urteil ist schriftlich niederzulegen und den Parteien vorzulesen sowie abschriftlich zu übersenden. In der Regel wird das Urteil nach Ablauf der Berufungsfrist von zehn Tagen rechtskräftig und ist damit vollstreckbar. Es ist erkennbar, daß das ordentliche Streitverfahren mit seinem methodischen Vorgehen hervorragend geeignet war, in strittigen Rechtssachen der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Gleichzeitig wird deutlich, daß seine Förmlichkeiten und Fristen es zeitraubend und kostspielig machten. Wegen dieser Nachteile war es nicht geeignet, die Zwecke erreichen zu helfen, deretwegen die Konservatoren aufgestellt wurden. 697
Zum ordentlichen Zivilprozeß vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 231 – 333; zum feierlichen Strafverfahren ebenda 363 – 417. 698 Zum summarischen Zivilprozeß vgl. ebenda 334 – 362; zum summarischen Strafverfahren ebenda 418 – 467.
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2. Das summarische Verfahren Die Konservatoren sollten wirksam eingreifen können, und das besagte, sie sollten rasch dem Unrecht wehren können, ohne die Förmlichkeiten eines ordentlichen Gerichtsverfahrens. Für die notorischen Fälle war dies auf dem Verwaltungswege möglich. Die zweifelhaften Fälle mußten dagegen der cognitio iudicialis unterworfen werden, und dazu waren die Konservatoren der Erfurter Universität befugt. Die Bestellungsschreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. hoben ausdrücklich hervor, daß die frühere, noch von Bonifaz VIII. angeordnete Einschränkung der Tätigkeit der Konservatoren auf manifestae iniuriae et violentiae und das mit Strafe bewehrte Verbot, sich auf Fälle einzulassen, die eine gerichtliche Untersuchung erfordern, nicht gelten sollten. Die prozessuale Untersuchung konnte nun auf einem doppelten Wege erfolgen. Es ist zu unterscheiden zwischen der cognitio plena und der cognitio de plano. Der ordentliche Prozeß war, wie oben erklärt, dem Zweck, dessentwegen die Konservatoren aufgestellt waren, nicht dienlich. So blieb nur das abgekürzte Verfahren üblich. Die Befugnis, dieses anzuwenden, war nicht neu. Schon Papst Gregor IX. gestattete den Konservatoren ein summarisches Vorgehen (sine iudiciorum strepitu, simpliciter et de plano)699. Die so entstehenden conservatores mixti durften, weil sie echte Richter waren, von der cognitio iudicialis Gebrauch machen. Was zunächst für Einzelfälle gewährt war, das wurde im 14. Jahrhundert allgemein gestattet, nämlich auf dem Gerichtswege vorzugehen und sich dafür eines abgekürzten Verfahrens zu bedienen. Das besagte die Wendung, die Erfurter Konservatoren sollten, wo erforderlich, die iudicialis indago anwenden und dabei summarie et de plano sine strepitu et figura iudicii handeln. Dieser Ausdruck war technischer Natur und verwies auf den Summarprozeß700. Er kam sowohl in streitigen als auch in Strafsachen zur Anwendung. Zu der Zeit, in der Konservatoren für die Universität Erfurt bestellt wurden, war der Summarprozeß längst ausgebildet. Die Worte simpliciter et de plano ac sine strepitu iudicii et figura sind dem Konzil von Vienne (1311) entnommen und von dort in die Clementinen übergegangen701. Das Konzil von Vienne hat auch die Grundzüge des Summarverfahrens beschrieben702. Es bezeichnete als unerläßlich die Ladung und Vereidigung, die Beweiserhebung, die Verteidigung, die schriftliche Abfassung des Urteils und dessen förmliche Verkündung. Dagegen konnte und sollte auf die Klageschrift, die Streitbefestigung, die Gerichtsferien, die volle Einhaltung von Fristen und Terminen, aufschiebende und verzögernde Einreden und Berufungen, Streitigkeiten und Zwiste der Parteien, Anwälte und Rechtsbeistände sowie überflüssige Zeugen verzichtet werden. Wie erkennbar ist, schöpfte das Summarverfahren einige seiner Grundsätze aus dem vorangehenden Vorgehen bei Notorietät des Deliktes. Beson699 Auvray, Les registres de Grégoire IX Bd. I, 1123 – 1124 Nr. 2080 (1. September 1234); Bd. II, 1011 – 1012 Nr. 4341 (14. Mai 1238). 700 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 328 f., 335 f. 701 Clem. 2, 1, 2; 5, 11, 2. 702 Clem. 5, 11, 2.
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ders vorteilhaft waren die folgenden Eigentümlichkeiten. Die Klage konnte mündlich vorgetragen und daraufhin zu Protokoll genommen werden, was die Einleitung des Prozesses erheblich erleichterte. Der Entfall der Litiskontestation gestattete die augenblickliche Eröffnung des Beweisverfahrens bzw. des Kontumazialverfahrens703. Die Verkürzung der Fristen, deren Ansetzung und Einhaltung den ordentlichen Prozeß so lang machten, ersparte viel Zeit. Noch einer weiteren erheblichen Erleichterung des Verfahrens sei gedacht. Die Bestellungsschreiben für die Konservatoren der Erfurter Universität enthielten dort, wo von der Vollmacht, kirchliche Zensuren zu verhängen, die Rede war, die Bestimmung, die Konservatoren sollten appellatione postposita ihrem Auftrag, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, nachkommen. Die erwähnte Klausel schloß die Appellation an den Deleganten aus704. Damit sollte jeder Einspruch, der den Gang des Verfahrens aufhalten konnte, ausgeschaltet werden, wie sich aus dem verdeutlichenden Zusatz ergibt, der in anderen Konservationsschreiben beigefügt ist: omni appellatione processum causarum quovis modo respicienti postposita705. Wo die Inappellabilität festgesetzt war, vermochte eine dennoch eingelegte Berufung weder die Devolution noch die Suspension der Entscheidung zu bewirken; diese wurde sogleich rechtskräftig und vollstreckbar706. Doch blieb die Klausel wohl manchmal unbeachtet. Gelegentlich wurde gegen Entscheidungen des Konservators Berufung an den Apostolischen Stuhl eingelegt707. Dazu waren die apostoli, d. h. das Überweisungsschreiben zu erbitten, die gebotene Frist einzuhalten und die gesetzliche Form zu beobachten708. Jedes gerichtliche Verfahren wurde eröffnet mit der Ladung709 des Beklagten bzw. Beschuldigten; sie war grundlegend für das weitere Vorgehen. Ohne die Ladung konnte das Verfahren nicht seinen Lauf nehmen; etwa dennoch vorgenommene richterliche Handlungen hatten keinen rechtlichen Bestand. Die Ladung erfolgte normalerweise mündlich oder schriftlich durch den Gerichtsboten, der den Vorzuladenden aufsuchte. Doch der weitverbreitete Widerstand gegen die geistliche Gerichtsbarkeit sowie allgemeine Unsicherheit auf den Wegen gestatteten häufig nicht, die Zitation auf diese Weise vorzunehmen. Dann bot sich die Ediktalzitation an. Sie geschah durch öffentliche Bekanntmachung der richterlichen Vorladung von der Kanzel der Kirche oder auf öffentlichen Plätzen bzw. durch Anschlag an der Tür der Kirche oder eines anderen öffentlichen Gebäudes710. Die Ediktalladung hatte 703
Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 327 f. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I, 192. 705 Magnum Bullarium Romanum III, 3 S. 18. 706 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 525. 707 Z.B.: Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 219 – 222 Nr. 282 (1451). 708 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220. 709 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 91 f. 710 X 2, 14, 10; Clem. 2, 1, 1. Vgl. Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 13, 210, 252 f. 704
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auch dann ihre Stelle, wenn der Vorzuladende nicht anzutreffen war oder den Empfang der Ladung verhinderte711. Ediktalzitation war schließlich notwendig beim Kontumazialverfahren, um den Ungehorsam des Vorzuladenden festzustellen. Die Konservatoren waren ursprünglich nicht befugt, die Ediktalladung vorzunehmen. Das Bedürfnis danach war jedoch vorhanden. Die Erfurter Universität stellte daher den Antrag, dem Konservator die Befugnis zur Ediktalladung zu erteilen. Die Urkunde des Kardinals Aleman vom 21. Juli 1442 gibt als Grund dafür, daß sie für den Konservator die Vollmacht zur Ediktalladung erbat, an, daß für die Ladung des Boten kein sicherer Zugang bestehe (tutus non habetur accessus)712. Es war also die Unsicherheit, die Vorzuladenden durch persönliche Aushändigung der Zitation zu erreichen, welche nach dieser Weise der Ladung rief. Das Überbringen der Ladung wurde häufig durch List oder Gewalt verhindert. Der Legat des Baseler Konzils ließ sich von dieser Begründung überzeugen und bewilligte die erbetene Befugnis. Von der Möglichkeit zur Ediktalladung sollte der Konservator Gebrauch machen secundum quod iuris equitas suadet713. III. Die Verwendung von Zensuren Die erhaltenen Materialien, die von der Tätigkeit der Konservatoren Kunde geben, lassen keinen Zweifel daran, daß sie in ihren Verfahren häufig von Zensuren714 Gebrauch machten. Die Konservatoren bewehrten ihre Befehle, Mahnungen, Verbote und Entscheidungen regelmäßig mit Strafdrohungen. Am häufigsten wurde die Exkommunikation715, nicht selten (auch) das Interdikt716 angewendet. Die Zensuren wurden nicht nur angedroht, sondern auch verhängt. Besonders zu Beginn und beim Abschluß des Verfahrens war die Strafverhängung häufig. Wer sich weigerte, der Ladung des Konservators zu folgen, wurde mit einer Zensur belegt. Wer dem Spruch bzw. Urteil des Konservators nicht nachkam, verfiel ebenfalls einer Zensur. Die Urkunde des Subkonservators Hermann Schindeleib vom 16. Dezember 1407717 läßt ahnen, wie oft das Kontumazialverfahren eröffnet werden mußte, weil die Belangten der Ladung des (Sub-)Konservators keine Folge leisteten. Zensuren sind kirchliche Strafen, die Gläubigen geistliche Güter entziehen. Sie wirken daher nur auf Personen, denen an den übernatürlichen Schätzen etwas liegt. Diese aber treffen sie empfindlich. Denn sie hängen an diesen Gütern, und sie verlangen nach ihnen; sie entbehren sie schmerzlich, wenn sie ihnen entzogen 711
X 2, 6, 5 § 1. StA Erfurt 0–l VII–461. 713 StA Erfurt 0 – 1 VII–461. 714 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht II, 119 – 261. 715 Georg May, Bann. IV. Alte Kirche und Mittelalter: TRE V, 1980, 170 – 182. 716 Georg May, Interdikt: TRE XVI, 1987, 221 – 226. 717 DA Erfurt Urkunden I Nr. 874. 712
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werden. Für gläubige Menschen hatten die Zensuren daher etwas Schreckerregendes an sich. Sie suchten zu vermeiden, daß sie davon betroffen wurden, oder zu erreichen, daß sie so bald wie möglich von ihnen befreit wurden. Solange die Glaubensgrundlage intakt war, besaßen die Inhaber der Strafbefehlsgewalt in den Zensuren ein wirksames Mittel, die Menschen zur Beobachtung ihrer Befehle und Entscheidungen zu veranlassen. Als infolge der lutherischen Bewegung die Autorität der kirchlichen Oberen ins Wanken geriet, verloren die Zensuren ihren Schrecken und damit ihre Wirkung. Auch von da her mußte in den Territorien, die von dieser Bewegung erfaßt waren, die Gerichtsbarkeit der Konservatoren zu Ende gehen. Exkommunikation und Interdikt konnten ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie den Betroffenen, aber auch der Gesellschaft bekanntgemacht wurden. Dazu dienten die Kirchenorganisation und die gottesdienstlichen Versammlungen. Zur Verkündung der Exkommunikation wurden die Dienste der Pfarrseelsorger in Anspruch genommen. Sie hatten die Strafen innerhalb der (Sonntags-)Messe den Gläubigen von der Kanzel mitzuteilen. Solange die Kundgabe nicht erfolgt war, konnten die Strafen ihre Sanktionskraft nicht zeitigen. Die Feinde der geistlichen Gerichtsbarkeit suchten nun die Bekanntgabe häufig zu unterbinden, und zwar auf doppelte Weise. Sie fingen einmal die Träger der Strafmandate ab und setzten sie gefangen oder nahmen ihnen wenigstens die Dokumente weg. Sie verboten sodann den Seelsorgsgeistlichen, die Strafsentenzen zu verkünden. Auf diese Weise wurde nicht selten der Einsatz der geistlichen Strafmittel um seine Wirkung gebracht. Die Nachteile und die Schäden der häufigen Verwendung von Zensuren und der damit verbundenen Inanspruchnahme der Seelsorger waren auch damals schon offenkundig. Es ist einmal mißlich, jemanden an den geistlichen Gütern zu strafen, die das religiöse Leben des Christen nähren und seine Verbindung mit der Kirche tragen. Ihr (lange dauernder oder häufig wiederholter) Entzug kann ihn von der Schätzung und vom Gebrauch der übernatürlichen Werte abbringen und entwöhnen; seine christliche Persönlichkeit muß dadurch Schaden nehmen. Es ist sodann betrüblich, daß immer nur ein und dasselbe Strafmittel, wenn auch mit gewissen Abstufungen718 und Verschärfungen719, angewandt wurde. Eine ausreichende Differenzierung nach Schwere des Vergehens und Grad der Verhärtung des Täters war regelmäßig nicht gewährleistet. Die Exkommunikation ist nun einmal die schwerste Kirchenstrafe. Ihr Einsatz gegen jemanden, der einer gerichtlichen Ladung nicht Folge leistete, mußte als Mißverhältnis empfunden werden und ist auch so empfunden worden. Es leuchtet auch ein, daß eine Waffe, die so oft und so leichthin verwendet wurde, stumpf werden mußte. Weithin entstand eine latente Geneigtheit, die Exkommunikation und das Interdikt nicht mehr ernst zu nehmen, was bei pas718
Wie excommunicatio minor und maior, excommunicatio latae und ferendae sententiae, excommunicatio reservata und non reservata, excommunicatus toleratus und vitandus. 719 Aggravationes. Vgl. Rieder, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 236 – 238.
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sender Gelegenheit manifest wurde. Die zahlreichen Fälle der Nichtbeachtung verhängter Zensuren reden dieserhalb eine deutliche Sprache720. Es ist schließlich klar, daß sich Erbitterung und Empörung gegen die Träger der Strafgewalt, vielleicht sogar gegen die Institution, die sie ihnen verliehen hatte und in deren Namen sie ausgeübt wurde, ausbreiten mußte. Der Seelsorgeklerus bekam diese Auflehnung als erster zu spüren. Es nimmt daher nicht wunder, daß sich viele Pfarrer und Kirchenrektoren der leidigen Pflicht, im Gottesdienst die Verhängung von Zensuren verkünden und auf diese Weise den Gottesdienst mit der Handlangerschaft für Besitzstreitigkeiten belasten und verfremden zu müssen, entzogen. In Voraussicht dieser Verweigerung wurden sie ebenfalls mit Zensuren bedroht. Angesichts dieser Tatsachen stellt sich die Frage, ob es sich nicht empfohlen hätte, die Verteidigung der Rechte der Universität in die Hände der weltlichen Gerichtsbarkeit zu legen, d. h. das Institut der geistlichen Konservatoren aufzugeben. Ihre bejahende Beantwortung muß sich dem Einwand stellen, daß die Inhaber der weltlichen Gerichtsbarkeit ganz überwiegend nicht gewillt waren, die freiheitliche Stellung der Universitäten und ihrer Angehörigen zu wahren und zu verbürgen. Die Umwandlung derselben in Staatsanstalten in den Ländern, die von der lutherischen Bewegung erfaßt wurden, bestätigt die Berechtigung dieser Überlegung. Man muß auch die schwierige Lage bedenken, in der sich die Konservateren befanden. Wenn man bemängelt, daß Gläubige nach erfolgter Zitation wegen Nichterscheinens vor Gericht mit der Exkommunikation belegt wurden, so ist zu fragen, welches andere Mittel den Richtern zur Verfügung gestanden hätte, um sie zu zwingen, sich auf die gegen sie angestrengte Klage einzulassen. Gegen Personen, die weder Kleriker noch Ordensleute waren, versagten Disziplinarmaßnahmen, wie sie in der Hand der religiösen Vorgesetzten der genannten Kreise waren. Es blieben nur Exkommunikation und Interdikt als Zwangsmittel übrig. Den kirchlichen Autoritäten des Mittelalters entging nicht, daß die Zensuren häufig ihren Zweck nicht erreichten. Wenn der geistliche Druck versagte, blieb nur der Rückgriff auf den weltlichen Zwang, die Anrufung des brachium saeculare721. So gestanden auch die Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. den Erfurter Konservatoren erforderlichenfalls die Anrufung des weltlichen Arms zu. Wenn die Schuldigen sich weigerten, sich ihrem Spruch zu unterstellen, wenn Rechtsbrecher ihre Weisungen mißachteten und den kirchlichen Zwangsmitteln trotzten, blieb nichts übrig, als die staatliche Macht um Hilfe zu bitten. Aber dieser Ausweg stand häufig, wohl in der Mehrzahl der Fälle nicht offen. Denn es ist zu fragen, ob die Inhaber des brachium saeculare überhaupt bereit waren, Amtshilfe zu leisten. Damit konnte im allgemeinen gerechnet werden, wenn die Territorialgewalt in den Händen geistlicher 720
Im Gerichtsbuch heißt es von einem Erfurter Bürger nostras sententias et censuras parvipendendo in illis ultra tres annos temere persorduit (1498, DA Erfurt Gerichtsbuch fol. 219r). 721 R. Laprat, Bras séculier (Livraison au): DDC II, 1937, 981 – 1060.
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Fürsten lag, obwohl auch hier Widerstand gegen die Sondergerichtsbarkeit nicht selten war. Vom weltlichen Arm war dagegen regelmäßig Beistand nicht zu erwarten, wenn die Landeshoheit einer weltlichen Dynastie zustand. In den meisten Fällen war das Gegenteil der Fall. Statt der kirchlichen Gerichtsbarkeit Unterstützung zu leihen, suchte sie ihr entgegenzuwirken. Unter diesen Umständen blieb nichts anderes übrig als der Einsatz der geistlichen Zuchtmittel. IV. Die Verfahren vor dem Angehen des Konservators Dem Rektor wurde die Kontrolle über die Vorschriften betreffend das Verfahren vor den Konservatoren zur Pflicht gemacht (Rubr. III, 24). Bevor die Konservatoren der Universität Erfurt in Aktion treten konnten, mußten einige Voraussetzungen erfüllt werden. Wer sich ihre Dienste zunutze machen wollte, hatte eine Art Vorverfahren zu durchlaufen; es war durch die Statuten der Universität geregelt722. Die Gerichtsbarkeit der Konservatoren wurde einseitig von den Angehörigen der Universität gewünscht und begehrt; anderseits war sie eine Quelle von Belästigungen, Bedrohungen und Konflikten. Die Universität war daher bestrebt, das Angehen der Konservatoren, soweit wie möglich, überflüssig zu machen oder wenigstens aus Konflikten herauszuhalten. 1. Der Versuch des Vergleichs Streitvermeidung ist in der Regel dem gerichtlichen Austrag eines Streites vorzuziehen. Aus dieser Erwägung setzten die Statuten der Universität Erfurt von 1447 die Pflicht des Rektors und der Konservatoren mit ihren Räten fest, vor Eintritt in den Streit und nachher in jeder Phase des Streites darauf hinzuarbeiten, soweit es ihnen möglich ist, daß die Streitparteien freundschaftlich einen Vergleich723 schließen (amicabiliter se componant) (Rubr. XV, 7). Die erhaltenen Quellen zeigen, daß diese Bestimmung nicht toter Buchstabe blieb. Der (Sub-)Konservator forderte die Beklagten regelmäßig auf, sich mit den Klägern durch Vergleich oder durch Schiedsgericht zu einigen (in amicicia vel in iure componant)724. Der Vergleich ist die vertragliche Beendigung eines Rechtsstreits zwischen zwei Streitparteien. Er kann in jedem Stadium eines Verfahrens abgeschlossen werden. Doch nicht jeder Moment ist gleich günstig dafür. Der Konservator war gehalten, den Augenblick abzupassen, in dem sein Vorschlag, sich freundschaftlich zu vergleichen, die größte Aussicht auf Annahme der Parteien hatte. Der Vergleich schafft Recht zwischen den Parteien und kann mit Rechtsmitteln, wie sie sonst gegen Endurteile zur Verfügung stehen, nicht angegriffen werden. Was sich allgemein von der geistlichen Gerichtsbarkeit des Mittelalters sagen läßt, das gilt auch von jener 722
Rubrica XV der Statuten von 1447 (Weissenborn, Acten I, 28 – 31). R. Naz, Composition: DDC III, 1942, 1258 – 1267; derselbe, Transaction: ebenda VII, 1965, 1314 – 1319. 724 DA Erfurt Urkunden I Nr. 874. 723
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der Konservatoren: Viele Prozesse, in denen mit Exkommunikation und Interdikt nicht gespart worden war, endigten mit einem friedlichen Vergleich725. 2. Die Gerichtsbarkeit des Rektors Vor dem Angehen der Konservatoren sollten (vor allem) Studenten die Gerichtsbarkeit des Rektors (und seiner Räte) in Anspruch nehmen (Rubr. XV, 7). Die Universitäten besaßen gewöhnlich das Vorrecht, nicht den ordentlichen Gerichten unterworfen zu sein, sondern über eine eigene Gerichtsbarkeit zu verfügen. Diese ging nicht nur über Disziplinarsachen, sondern auch über Streit- und Strafsachen. Der Ursprung der eigenen Gerichtsbarkeit war die Verleihung durch den Landesherrn oder den Papst. Die Gerichtsbarkeit der Universität Erfurt ist sicher bezeugt. Die Anstalt besaß, wie oben erwähnt, die Gerichtsbarkeit über die ihr Angehörigen aufgrund bischöflicher Verleihung726. Sie lag grundsätzlich in der Hand des Rektors727. Wenn eine friedliche Schlichtung nicht erreicht wurde, dann sollte die Sache zuerst – vor allem zwischen Studenten und anwesenden Parteien und gegenwärtig im Studium Befindlichen – vor dem Rektor und seinen Räten verhandelt werden (Rubr. XV, 7). Man zog die interne Streitentscheidung dem Verfahren vor außerhalb der Universität stehenden Richtern vor. Kein Mitglied der Universität durfte einen anderen oder ein anderes Mitglied derselben Universität vor einen Richter ziehen außer vor den Rektor der Universität unter der Strafe des Ausschlusses von der Universität (Rubr. III, 22 c). Selbstjustiz war den Studenten eigens untersagt (Rubr. IX, 8). Daß der Rektor die streitige Gerichtsbarkeit für Klagen der Graduierten und Studierenden besaß, ergibt sich aus der Satzung der Universität (Rubr. III, 22 b und 22 c; IX, 1 und 2). Die Ausdrücke in iudiciis, in iudicio presidere, presidenciam, assessores und causas contenciosas (Rubr. VII, 1) sowie in iudicio und actus iudiciarios (Rubr. X, 2) lassen keinen Zweifel an der Zivilgerichtsbarkeit des Rektors zu. Er hatte die volle Gerichtsbarkeit in Streitsachen erster Instanz. Geringfügige Sachen entschied er allein, bei gewichtigeren Angelegenheiten hatte er Beisitzer heranzuziehen. Sodann besaß der Rektor die Gerichtsbarkeit in Strafsachen. Er hatte die Verfehlungen der Studenten (excessus studencium de universitate) mit dem Beirat seiner Räte zu bestrafen. Magistri, Doctores und Lizenziaten durfte er nicht allein richten, sondern mußte die Sache an die Universität abgeben. Ebenso hatte er in Fällen zu verfahren, in denen eine Schwierigkeit auftrat (Rubr. III, 12). Es ist aber die Frage, wieweit seine Strafgewalt reichte, d. h. welche Verfehlungen ihr unterfielen. In jedem Falle lag die Vollmacht, Übertretungen der Satzung zu bestrafen, bei der Universität (Vorrede zu den Statuten von 1447). In Rubr. VI, 7 ist excessus eindeutig 725
Z.B.: Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 232 f. Nr. 288 (1452). Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 63 f. 727 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 210. 726
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ein Verstoß gegen die Satzung der Universität. Ähnlich scheint es in Rubr. VI, 10 sowie in Rubr. VIII, 13; IX, 6; XI, 6 und 8 zu sein. Umgang mit verdächtigen Frauen gehört wohl hierher (Rubr. XI, 3 und 4). Dazu traten einige andere Vergehen. Die Statuten rechneten mit Beleidigung, tätlichen Angriffen und Körperverletzung, die vor den Rektor kamen (Rubr. XI, 2). Im ganzen gesehen, wurde der Bereich der universitären Disziplinargewalt kaum überschritten. Kapitalverbrechen waren, wie die Strafen erkennen lassen, der Gerichtsbarkeit des Rektors entzogen. Schwere geistliche Vergehen, wie z. B. Häresie, unterlagen der Gerichtsbarkeit des Ortsoberhirten, also des Mainzer Erzbischofs. Zur Bestrafung der Vergehen stand eine reiche Skala von Strafen zur Verfügung (Rubr. XI). Zumeist waren Geldstrafen vorgesehen. Weitere Strafen waren Suspension vom Lehramt (für Magistri und Doctores) und Ausschluß aus der Universität (Rubr. XI, 1), die Lieferung von Wachs (cera) sowie die Einziehung von Gegenständen (Rubr. XI, 2) und Sachen (Rubr. XI, 7). Die Rektoren rechneten für ihre Amtszeit auch den Titel ,,De penis“ ab, der mitunter beträchtlich anschwoll728. Gelegentlich wurde das Vergehen, dessentwegen ein Universitätsangehöriger bestraft wurde, angegeben729. Auch der Rektor bediente sich bei der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit des Summarprozesses. Der Konservator besaß keine Gerichtsbarkeit über die Universitätsangehörigen, sondern nur über deren (prozessuale) Gegner. 3. Das Prozessieren gegen Mächtige Der Konservator war Richter und als solcher zur Gerechtigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet. Die Tatsache, daß er zum Schutz der Privilegien der Universität und ihrer Angehörigen bestellt war, durfte bei seiner Prozeßführung nicht zu Ungunsten des Beklagten in Anschlag gebracht werden. Die Statuten der Universität Erfurt wiesen ihn darauf ausdrücklich hin. Wenn ein im Studium Befindlicher einen nicht im Studium Befindlichen oder einen Auswärtigen vor den Konservatoren gerichtlich belangen wollte, so hieß es da, dann mußte der Richter die Waage in seinen Händen haben und die Waagschalen mit gleichem Gewicht wägen, so daß beim Richter weder Liebe noch Haß, weder Furcht noch Erwartung der Belohnung eine Stelle hatten (Rubr. XV, 7). Diese richtigen Ermahnungen vermochten der Gerichtsbarkeit der Konservatoren freilich kaum mehr Akzeptanz zu verschaffen. Denn ihre Gegner waren der Ansicht, daß die Einrichtung schon an sich eine Begünstigung der Universitätsangehörigen in sich schloß. So erklären sich die Behinderung und die Mißachtung, die sie der Tätigkeit der Konservatoren widerfahren ließen. Die Statuten der Universität sprechen von Bedrohungen, Fehdeankündigungen und Schäden, welche der Universität und noch mehr der Stadt Erfurt wegen der Konservatoren entstanden seien (Rubr. XV, in.). 728 729
Z.B.: Liber receptorum I fol. 21r und v. Z.B.: Liber receptorum I fol. 24v.
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Die schlechten Erfahrungen, welche die Universität in der Vergangenheit mit Bedrückungen, die in der Gerichtsbarkeit der Konservatoren ihren Anlaß hatten, gemacht hatte, veranlaßten sie, in den Statuten von 1447 gewisse Vorkehrungen für deren Ausübung zu treffen. Es handelte sich um Fälle, in denen der Kläger einen so starken und mächtigen Gegner hatte, daß von daher der Universität oder der Stadtgemeinde bzw. einem von deren Angehörigen Schaden, Ärgernis, Gefahren oder Fehde drohen könnten oder würden. Dann mußte der Kläger versprechen, daß er es geduldig hinnehmen werde, daß die Sache an die Römische Kurie abgegeben wird; denn dann bestehe keine Hoffnung, daß er hier (in partibus) mit seiner Klage Erfolg haben könnte. Wenn der Kläger eine gerechte Beschwerde haben kann, dann soll er Appellation einlegen oder den Streit aufgeben oder die Verfolgung seines Rechtes auf eine günstigere Zeit verschieben (Rubr. XV, 6). Aus diesen Bestimmungen ist zu erkennen, daß die Universität die Realität richtig einschätzte. Gegen politisch einflußreiche und militärisch mächtige Gegner bestand regelmäßig keine Aussicht, daß sich ein geregeltes Verfahren durchführen und ein eventuelles Urteil vollstrecken ließen. Entweder man resignierte oder versuchte, den Streit an den Apostolischen Stuhl zu bringen. Aber diese letztere Möglichkeit war mit hohen Kosten verbunden, die der durchschnittliche Universitätsangehörige nicht zu tragen vermochte. An anderen Universitätsorten war die Lage kaum anders. Auch die Stadt Köln bekam von mächtigen Landesherren Schwierigkeiten wegen der Gerichtsbarkeit der Konservatoren730. Es ist bezeugt, daß Ritter wegen Konservatorialprozessen der Stadt die Fehde ansagten oder androhten731. V. Das Verfahren des Johannes von Allenblumen contra Leipzig Aus der Mitte des 15. Jahrhunderts sind Urkunden erhalten, die es gestatten, ein vor dem Erfurter Konservator, Abt Thaddaeus, geführtes Verfahren zu rekonstruieren. Der Kläger war Johannes von Allenblumen, Doktor der Dekrete, der Vizedominus des Mainzer Erzbischofs in Erfurt732. Die Beklagte war die Stadt Leipzig, vertreten durch Bürgermeister und Stadträte733. Der Streit ging um Zinsen, welche die Stadt Leipzig angeblich dem Johannes von Allenblumen vorenthielt. Als Mitglied der Universität Erfurt erhob er vor dem Konservator Klage. Es gelang ihm, seine Berechtigung zweifelsfrei darzutun. Der Konservator ließ eine und nur eine Mahnung 730
Keussen, Die Stadt Köln 85 – 87. Keussen, Die alte Universität Köln 11. 732 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 219 (1451). Vgl. Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft 219; Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 331 f. und Reg. S. 461; NDB I, 201 f. Johannes von Allenblumen vermag ich im Liber receptorum erst 1456 zu entdecken (Liber receptorum I fol. 52r). 733 Zur Verfassung der Stadt Leipzig vgl. Wustmann, Geschichte der Stadt Leipzig I, 68 – 94; derselbe, Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Leipziger Rats, in: Wustmann, Quellen zur Geschichte Leipzigs II, 57 – 352. 731
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an die Leipziger ergehen (monuit peremptorie)734. Sie enthielt den Befehl, innerhalb von neun Tagen, die der Ausführung der Mahnung unmittelbar folgten, den zurückbehaltenen Zins dem Gläubiger zu übergeben735. Die Mahnung war von der Drohung begleitet, daß bei Nichterfüllung der Forderung die Schuldner, Bürgermeister und Rat, exkommuniziert und die Bürgerschaft interdiziert werden würden736. Wie zu erkennen ist, war der Konservator von der Berechtigung der Forderung des Klägers überzeugt, hielt sie offensichtlich für evident und verzichtete darum auf die Vorladung des Beklagten. Dagegen legten die Betroffenen Berufung beim Apostolischen Stuhl ein. Der Syndikus und Prokurator von Rat und Bürgerschaft Leipzig begründete die Weigerung, den Befehlen des Erfurter Konservators nachzukommen, mit dem gemeinen Recht737, warf also dem Konservator rechtswidriges Vorgehen vor. Im einzelnen begründete er seine Appellation wie folgt. Einmal sei der Konservator schlicht unzuständig. Zuständig seien allein die ordentlichen Richter. Der Rat der Stadt Leipzig erklärte sich bereit, vor Gericht zu erscheinen coram … iudicibus ordinariis spiritualibus et temporalibus738. Der Syndikus und Prokurator der Stadt Leipzig sprach sodann dem Konservator die Gerichtsgewalt ab (nullam in dominos meos praedictos habens iurisdictionem delegatam vel ordinariam); falls er sie doch besessen habe, so sei sie durch die Einlegung der Berufung suspendiert739. Zudem habe sich der Konservator gegen folgende Punkte des gemeinen Rechts verfehlt. Er sei in der Sache so vorgegangen, daß er eine Mahnung, die mit der Drohung von Exkommunikation und Interdikt bewehrt war, an Rat und Stadt Leipzig gerichtet habe nulla conventione sive citatione sive aliqua iudiciali confessione praemissa740. Es mangelte also nach Ansicht der Appellanten an der Notorietät, die das Vorgehen des Konservators gerechtfertigt hätte. Sie hätte durch Vorladung (und entsprechende Aussage der Beklagten) oder durch gerichtliches Geständnis herbeigeführt werden müssen, aber es fehlte an beidem. Der Syndikus und Prokurator des Rates und der Bürgerschaft von Leipzig warf dem Konservator vor, durch das Versäumnis der Ladung rechtswidrig gehandelt zu haben, weil citatio est primum et fundamentum ordinis iudiciarii, sic quod quis primo citandus est741. In dem Appellationsschreiben wurde ihm weiter vorgehalten, quod in praeiudicium dominorum meorum non citatorum non confessorum nec convictorum eosdem iudicavit ei etiam 734
Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220. Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220. 736 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220. 737 Cum tamen domini mei habeant ius commune pro se, cum liberi homines existant et ius commune resistat petenti conservatorem (Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220). Das letzte Wort ist meine Konjektur. 738 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 218 Nr. 280. 739 Ebenda 220 (1451). 740 Ebenda 218 Nr. 280 (1451). 741 Ebenda 220 (1451). 735
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monuit peremptorie742. Außer der Ladung fehlten auch gerichtliches Geständnis oder gerichtlicher Beweis. Schließlich erinnerte der Syndikus und Prokurator von Stadt und Gemeinde daran, daß von Rechts wegen eine bestimmte Ordnung bei der Verhängung von Strafen einzuhalten sei, und diese könne nicht mit dem Interdikt beginnen743. Zur Unterstützung verwies er auf die Beschlüsse des päpstlichen Legaten Nikolaus von Cues, worin verboten werde, wegen Geldschulden die Einstellung des Gottesdienstes oder das Interdikt zu verhängen744. Mit dem letzteren Hinweis hatte es folgende Bewandtnis. Nikolaus von Cues führte, wie erwähnt, 1451/52 eine Visitationsreise durch Deutschland durch. Dabei hielt er mehrere Konzilien ab745. Auf dem Provinzialkonzil zu Magdeburg im Juni 1451 wurden Bestimmungen gegen leichtfertige Verhängung des Interdikts erlassen746. In Minden wurde das Verbot, wegen Geldschulden das Interdikt zu verhängen, wiederholt747. Im November 1451 wurde auf dem Mainzer Provinzialkonzil erneut gegen die Verhängung des Interdikts wegen Geldschulden Stellung bezogen748. Ähnlich war es auf der Kölner Provinzialsynode im Februar/März 1452749. Die Vorschriften bezüglich des Interdikts gingen teilweise auf Bestimmungen des Baseler Konzils zurück750, was den deutschen Universitäten, die eine wunderliche Begeisterung für diese Versammlung an den Tag legten, besonders sympathisch sein mußte. Die Vorschriften der von dem päpstlichen Legaten abgehaltenen Synoden machten sich nun die Leipziger bei ihrer Appellation gegen das Verfahren des Erfurter Konservators zunutze. Sie erinnerten daran, daß nach ihnen der Richter, der 742
Ebenda 220 (1451). Ebenda 220 (1451). 744 Ebenda 220. 745 Die durch Nikolaus von Cues 1451/2 gehaltenen Konzilien und gegebenen Verordnungen: Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 237 – 283. 746 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae V 426 – 429; Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 252 – 257. Über die Magdeburger Provinzialsynode im Juni 1451 und deren Bestimmungen gegen leichtfertige Verhängung des Interdikts vgl. auch Pastor, Geschichte der Päpste I, 477 – 480. 747 Würdtwein, Nova Subsidia Diplomatica XI, 385 – 399; Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 260 – 263. 748 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae V, 398 – 412; Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 276 – 279, 467 – 478. 749 Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae V, 413 – 420; Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 279 – 282, 479 – 488. 750 Vgl.: Die genehmigten Beschlüsse des Konzils zu Basel, die auf die in Deutschland gehaltenen Privinzialkonzilien und Diözesansynoden Einfluß hatten, in: Binterim, Pragmatische Geschichte VII, 210 – 218, hier 213: 21. Sitzung des Konzils zu Basel: Interdikte sollen nicht über ganze Orte oder Gemeinden verhängt werden wegen Verbrechen von Privatpersonen, es sei denn der Herr oder Obere des Ortes oder der Gemeinde weigere sich, einen offenkundigen und erklärten Exkommunizierten auf die Aufforderung des Richters auszuweisen oder zur Genugtuung anzuhalten. 743
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sich gegen das Verbot vergehe, wegen Geldschulden das Interdikt zu verhängen, ein halbes Jahr seiner richterlichen Tätigkeit enthoben sei751. Dieser Verfehlung habe sich der Erfurter Konservator schuldig gemacht; mithin sei er suspendiert. Er habe sogleich zu Beginn seines Vorgehens unter Außerachtlassung der Ladung das Interdikt gegen die Leipziger verhängt (nimis exorbitanter et indiscrete), ohne Rücksicht auf die Strafdrohung des Legaten. Er sei sodann nach Einlegung der Berufung, die seine vermeintliche oder wirkliche Jurisdiktion suspendiert habe, auf dem eingeschlagenen Wege weitergegangen und habe erneut Exkommunikation und Interdikt angedroht752. Somit sei das Vorgehen des Konservators rechtswidrig. Dem Syndikus und Prokurator der Stadt Leipzig war bekannt, daß der Konservator sich auf seine Vollmacht berief, nach dem Summarprozeß vorzugehen753. Aber er bestritt die Auslegung, die der Erfurter Schottenabt seinem Auftragsschreiben gab. So, wie dieser sie verstehe, habe der delegans principalis die in Frage stehende Klausel nicht gemeint. Denn er habe gleich hinzugefügt: in aliis vero prout qualitas eorum exegerit, faciatis iustitiae complementum. Dieselbe Klausel finde sich auch in anderen Konservationsschreiben754, und deswegen dürfe sich der Abt nicht eine so ausgedehnte Berichtigung der Rechte zuschreiben zu dem Zweck, daß auch andere ein wenig von der Jurisdiktion behalten könnten, vorbehaltlich des Rechtes, hinzuzufügen, zu berichtigen etc., wie es Brauch und Gewohnheit sei (ut est moris atque styli)755. Es waren gewichtige rechtliche Gründe, welche die Stadt Leipzig gegen das Verfahren des Abtes Thaddaeus ins Feld führte. Sie fand dabei Unterstützung bei den Bischöfen von Merseburg und Naumburg. Deren Widerstand gegen das Vorgehen des Erfurter Konservators ist belegt756. Die beiden Ordinarien traten mit dem Klerus ihrer Diözese der Appellation der Leipziger bei und geboten ihren Geistlichen unter Androhung der Exkommunikation, ihr ebenfalls beizutreten und weitere prozessuale Akte des Abtes weder anzunehmen noch zu verkünden. Hier liegt also ein Beispiel dafür vor, wie selbst Prälaten die Wirksamkeit des Konservators zu hindern suchten. Der Abt ließ sich davon nicht abhalten. Innerhalb von nicht einmal sechs Tagen ging er von neuem gegen die Leipziger vor. Er gebot ihnen unter Androhung von Exkommunikation und Interdikt ein für allemal (peremptorie), den rückständigen 751 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220. Vgl. Schannat/Hartzheim, Concilia Germaniae V, 415 (Kölner Provinzialkonzil). 752 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220 f. 753 In qua praedictus pater abbas se iactitat habere potestatem procedendi summarie simpliciter et de plano, sine strepitu et figura iudicii etiam in illis, quae iudicialem requirunt indagationem (Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 221; 1451). 754 Z.B.: Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig II (= Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae 2. Haupttheil IX. Bd.), Leipzig 1870, 156 – 158 Nr. 182 (27. Juni 1396), hier 157. 755 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 221. 756 Ebenda 218 Nr. 280.
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Zins zu entrichten oder in seiner Wohnung zu erscheinen und den Grund anzugeben, weshalb sie zur Zahlung nicht verpflichtet seien. Falls sie nicht eins von beiden täten, würden sie schriftlich exkommuniziert bzw. interdiziert757. Immerhin ist hier ein Fortschritt bezüglich des Verfahrens zu erkennen. Dieses Mal ließ der Abt eine Ladung ergehen. Der Konservator setzte in dem ersten Mahnverfahren, dem keine Ladung voranging, eine Frist von neun Tagen, in dem zweiten eine solche von sechs Tagen für die Erfüllung der streitigen Forderung, diesmal aber mit der Möglichkeit, an seinem Gerichtsort zu erscheinen und die Weigerung, den verzögerten Zins zu bezahlen, zu begründen758. Damit gab er den Beklagten die Möglichkeit, Einwendungen gegen die Zahlungsaufforderung vorzubringen. Doch die Leipziger ließen sich darauf nicht ein. Sie legten, obwohl dies für überflüssig erachtet wurde, von neuem Berufung ein. Der Abt wiederum ließ sich dadurch nicht stören. Er konstatierte lediglich, daß Ladung und Mahnung unbeachtet geblieben und die dafür gesetzten Fristen ergebnislos verstrichen seien. Der Prozeßstellvertreter des Klägers ersuchte ihn, das Verfahren gegen die Schuldner fortzuführen und die öffentliche Ladung (citationem ad valvas)759 zum Vorbringen von Einwendungen gegen den ihm erteilten Auftrag zu beschließen. Der Konservator kam diesem Ersuchen nach. Die Schuldner brachten jedoch weder mündlich noch schriftlich etwas gegen sein Bestellungsschreiben vor. Der Prozeßstellvertreter stellte daraufhin den Antrag, im Säumnisverfahren gegen sie vorzugehen. Daraufhin verhängte der Abt gegen alle und jeden einzelnen die Exkommunikation und über die Stadt Leipzig das Interdikt760. Dem gesamten Klerus der Diözese Merseburg und besonders der Stadt Leipzig wurde befohlen, an Sonn- und Festtagen im Gottesdienst die Verhängung von Exkommunikation und Interdikt über Bürgermeister, Rat und Gemeinde Leipzig bekanntzumachen. Den Geistlichen wurden, falls sie dem Befehl nicht nachkämen, Exkommunikation und Suspension angedroht, die innerhalb von drei Tagen nach vorheriger kanonischer Mahnung, die in diesem Schreiben zu erblicken sei, verhängt würden. Die Kleriker hatten den Vollzug des ihnen gewordenen Auftrags schriftlich zu melden. Den Boten, der dieses Schreiben zu den Empfängern brachte, sollten sie über etwa ihm drohende Gefahren unterrichten und ihn nach Kräften schützen761. Diese Bemerkungen geben eine Ahnung von den Schwierigkeiten, mit denen die Tätigkeit der Konservatoren zu kämpfen hatten. Der Rat, die Bürgermeister und die Stadtgemeinde von Leipzig waren nun wegen Säumnis (pro contumacia) exkommuniziert bzw. interdiziert. Doch damit war der Höhepunkt des Rechtsstreites erreicht. Ob der Kläger einsah, daß er auf prozessualem Wege nicht zum Ziele kam, oder ob Verhandlungen zwischen den Parteien aufgenommen wurden, ist nicht bekannt. In jedem Falle beschloß man eine 757
Ebenda 220 f. Ebenda 220 (1451). 759 Vgl. dazu Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 252 f. 760 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 231 f. 761 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 231 f. Nr. 287 (24. Mai 1452). 758
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außerprozessuale Beilegung des Streites. Der Kläger und die Beklagten schlossen einen freundschaftlichen Vergleich. Damit waren die verhängten Strafen gegenstandslos geworden. Auf Antrag des Prozeßstellvertreters des Klägers sprach der Abt die Schuldner insgesamt und einzeln von der Exkommunikation zur Sicherheit (ad cautelam) und die Gemeinde vom Interdikt ebenfalls zur Sicherheit (ad cautelam)762 los. Den Geistlichen wurde die Verkündung dieser Strafaufhebung befohlen. Wer wegen der Strafverhängung Gewissensbisse hatte, dem sollte eine heilsame Buße auferlegt werden763. Die Handschrift, in der dieser Fall niedergelegt ist, fügt hinzu: Anno 52, in crastino divisionis apostolorum 16. Julii in Lipzk occulte intimata nec publicata nec denunciata764. Das heißt: Die Strafaufhebung wurde nicht öffentlich verkündet; ich vermute, daß diese Unterlassung sich dadurch erklärt, daß schon der Strafausspruch gar nicht bekanntgemacht worden war; dann war es selbstverständlich untunlich, die Lossprechung der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Wenn es sich so verhält, dann ist die Notiz ein weiterer Beitrag zu der Geschichte des Widerstandes, auf den die geistliche, speziell die Konservatorengerichtsbarkeit im späten Mittelalter stieß. 4. Kapitel: Personelle und sachliche Voraussetzungen der Wirksamkeit der Konservatoren I. Personal 1. Subkonservatoren Die Statuten von 1447 sprechen stets von den Konservatoren in der Mehrzahl. Der Heilige Stuhl hatte die Gewohnheit, regelmäßig deren drei zu ernennen; so geschah es auch in Erfurt. Doch sie übten ihre Vollmacht häufig nicht persönlich aus, sondern bestellten Vertreter. Das Vertretungswesen hat in der Kirche eine lange Geschichte765. Die Weitergabe von Vollmachten wurde im Bereich der delegierten Gewalt in besonderer Weise ausgebaut. Der Delegat des Papstes war allgemein ermächtigt, bei Verhinderung die Subdelegation vorzunehmen766. Die Konservatoren galten als delegierte Richter und wurden dementsprechend behandelt. Die Ernennungsschreiben gestatteten ihnen die Subdelegation. Von dieser Ermächtigung machten sie in weitestem Umfang Gebrauch. Die Konservatoren übertrugen ihren Dienst häufig auf Subkonservatoren am Orte der Universität767. Dies ist beispielsweise aus Köln768 und aus Heidelberg769 bekannt. In Erfurt war es nicht anders. Die 762
Vgl. dazu Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, 354. Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 232 f. Nr. 288 (14. Juli 1452). 764 Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 233. 765 Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV, 924 (Reg.: vicarius). 766 Vgl. X 1, 29, 3; X 1, 29, 28; X 1, 29, 43; X 2, 28, 62. 767 Stein, Die akademische Gerichtsbarkeit in Deutschland 68. 768 Keussen, Die alte Universität Köln 7. 763
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Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V. dispensierten ausdrücklich von Bestimmungen, welche untersagten, daß die Konservatoren ihre Vollmacht anderen übertragen. Diese Befugnis machten sich die Konservatoren zunutze. Sie bestellten Subkonservatoren. Der Konservator Henning von Salza nannte seine Urkunde vom 23. November 1400770 nostre subdelegationis littere. Sie besagen, daß, wer immer aufgrund derselben für die Ausführung des päpstlichen Konservatorenauftrags herangezogen wird, von ihm mit seiner Stellvertretung betraut wird (in mandatis committimus plenarie tenore presencium vices nostras). Die Subkonservatoren gaben in ihrer Selbstbezeichnung präzise an, welches ihre Stellung war. Einer von ihnen nannte sich iudex et subconservator iurium privilegiorum libertatum bonorum et rerum venerabilium virorum dominorum magistrorum doctorum et scolarium alme universitatis studii erffordensis a venerabili domino … iudice conservatore principali una cum certis suis in hac parte collegis cum illa clausula quatenus vos vel duo aut unus vestrum per vos vel alium seu alios etc. a sede apostolica specialiter deputato subdeputatus771. Der Charakter der subdelegierten Gewalt kommt in den drei letzten Worten deutlich zum Ausdruck. Der Subkonservator war Delegierter eines vom Apostolischen Stuhl Delegierten. Leider bleiben die Namen der meisten Subkonservatoren für uns im Dunkeln. Es ist zu vermuten, daß der Schottenabt in der Regel Angehörige des Erfurter Geistlichen Gerichts zu dieser Aufgabe heranzog. Nach Erich Kleineidam ließen sich die Äbte von einem Rechtslehrer der Universität vertreten, wozu sie ihn subdelegierten772. Ein derartiger Fall ist bekannt. Am 28. Mai 1498 war Simon Voltzke Subkonservator773. Er ist eine wohlbekannte Persönlichkeit. Als Rektor der Universität (Wintersemester 1491/92), Erfurter Siegler und Mainzer Generalkommissar war er sowohl mit der Hochschule als auch mit dem Generalgericht und dem Erzbischof eng verbunden774. Die Bestellung eines Subkonservators bedeutete nicht, daß der Konservator die Gerichtsbarkeit völlig oder auch nur bei einem bestimmten Fall aus der Hand gab. Er konnte sie vielmehr jederzeit wieder persönlich ausüben oder einem anderen übertragen. Es kam auch vor, daß Konservator und Subkonservator bei ein und derselben Rechtssache Hand in Hand arbeiteten. In einem Falle hatte der Konservator die Ladung ergehen lassen, während der Subkonservator das anschließende Kontumazialverfahren durchführte, wobei er aber den Zitierten auferlegte, entweder vor ihm oder dem Konservator zu erscheinen775. 769
Weisert, Die Verfassung der Universität Heidelberg 38. DA Erfurt Urk. I Nr. 838. 771 DA Erfurt Urk. I Nr. 874. 772 Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis IV, 65. 773 DA Erfurt Gerichtsbuch fol. 234r. 774 Martin Hannappel, Mainzer Kommissare in Thüringen, insbesondere die Erfurter Generalkommissare und die Siegler Simon Voltzke und Johannes Sömmering: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 36, 1942, 146 – 209, hier 176; Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis II, 100, 211. 775 DA Erfurt Urk. I Nr. 874. 770
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Prozeßrecht
2. Rechtskundige Beisitzer Die Konservatoren waren häufig keine geschulten Juristen. Um sich in der ihnen anvertrauten Materie zurechtzufinden, bedurften sie eines Kenners des Rechts. So zogen sie einen Rechtsgelehrten oder deren mehrere als Assessor bzw. Assessoren heran. Die Statuten der Universität Erfurt rechneten an einer Reihe von Stellen damit, daß sich die Konservatoren beraten lassen, der consiliarii bedienen (z. B. Rubr. XV, 7). Die Räte scheinen besonders bei dem Versuch, einen Rechtsstreit durch gütlichen Vergleich abzuwenden oder zu beenden, von Nutzen gewesen zu sein. Dank des juristischen Augenmaßes, das ihnen eigen war, vermochten sie Lösungen vorzuschlagen, die beiden Seiten akzeptabel erschienen. Sie wurden auch erforderlichenfalls bei der Abschätzung der Gerichtskosten herangezogen. Die Namen der meisten Beisitzer sind nicht überliefert. Von Dr. Gerhard In Curia ist bekannt, daß er viele Jahre Assessor der Konservatoren war776. Was weitere Personen angeht, deren die Konservatoren bedurften, so ist anzunehmen, daß sie sich des Personals des Erfurter Generalgerichts bedienten777. 3. Rechtsbeistände, Bevollmächtigte und Schreiber Zum Funktionieren der Gerichtsbarkeit waren weitere Personen erforderlich, sei es von seiten der Parteien, sei es auf seiten des Richters. Da die Parteien regelmäßig rechtsunkundig waren, bedienten sie sich vielfach der Prozeßbevollmächtigten778 und der Rechtsbeistände779, um ihre Sache zu führen. Es war Aufgabe des Gerichts, dafür zu sorgen, daß die beiden Kategorien von Gehilfen zur Verfügung standen. Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 forderten, daß die Konservatoren Rechtsbeistände (advocati), Prozeßbevollmächtigte (procuratores) und Schreiber (notarii) unterhalten (Rubr. XV, 2). Sie mußten ausnahmslos an der Erfurter Universität ihre akademischen Grade erworben haben; Universitätsfremde durften zu den genannten Verrichtungen nur mit besonderer Erlaubnis des Rektors und der Universität zugelassen werden (Rubr. XV, 2). Die Statuten von 1447 verlangten weiter, daß Rechtsbeistände, Bevollmächtigte und Schreiber ihr Amt zuverlässig und gesetzmäßig ausüben, wie sie es in ihrem Amtseid beschworen haben (Rubr. XV, 3). Von ihrer Redlichkeit und Zuverlässigkeit hingen zum erheblichen Teil Verlauf, Dauer, Ausgang und Kosten des Verfahrens ab.
776 Guido Kisch, Die Anfänge der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1459– 1522 (= Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel XV), Basel 1962, 41, 43, 47, 58, 66, 146 f., 150 – 153, l55, 162, 180, 187 f., 194, 211, 216; Muther, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft 227 f.; Overmann, Urkundenbuch der Erfurter Stifter und Klöster III, 168 f. Nr. 242 (19. Januar 1461). 777 May, Die geistliche Gerichtsbarkeit 121. 778 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I 290 – 304. 779 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 79 – 82.
Konservatoren
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Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 ließen neben Doktoren und Lizentiaten auch alte Bakkalarien beider Rechte oder eines von beiden Rechten als Rechtsbeistände zu, wenn sie nur ihren Dienst unter der Leitung eines Doktors oder Lizentiaten verrichteten, dem sie ihre Schriftsätze zur Überprüfung vorlegten (Rubr. XV, 2). Die Rechtsbeistände mußten die vor Gericht eingereichten Schriftsätze mit ihrer Unterschrift versehen; fehlte sie, durften sie nicht entgegengenommen und durfte jener, der sie vorwies, nicht gehört werden (Rubr. XV, 2). Der Rechtsbeistand hatte vor Aufnahme seiner Tätigkeit einen Eid zu leisten (Rubr. XV, 14). Darin beschwor er, seine Dienstleistung treu zu erbringen und sorgfältig vorzunehmen. Er werde, so versprach er, nicht die Gegenpartei begünstigen, indem er mit ihr geheimes Einverständnis suche oder auf ihr Bitten oder ihre Belohnung hin ihre Sache vertrete780. Er werde eine aussichtslose oder ungerechte Sache nicht wissentlich annehmen, ebensowenig eine abgetretene Klage, wenn sie nicht wenigstens auf den ersten Blick als kanonisch und aus vernünftigem Grund und nicht böswillig, um den Gerichtsstand zu ändern, abgetreten erscheint; wenn die Unbilligkeit und die Ungerechtigkeit einer Sache ihm klar geworden sind, werde er von seinem Dienst abstehen. Eine gerechte Sache werde er nicht in schlechter Absicht in die Länge ziehen; er werde mit seinem Klienten nicht ein Übereinkommen treffen über einen Teil des Rechtsstreites. Die Bestimmungen des kanonischen Rechts und der Universität Erfurt über die Beachtung der Gerichtsordnung werde er nach Kräften gewissenhaft beobachten. Aus diesem Inhalt des Eides ist zu erkennen, welche Fehler und Mängel bei der Tätigkeit der Rechtsbeistände unterlaufen konnten. Der Bevollmächtigte hatte wie der Rechtsbeistand vor Antritt seines Dienstes einen Eid zu leisten (Rubr. XV, 14). Er mußte versprechen, seine Dienstleistung treu zu erbringen. Er werde nicht seinen Auftraggeber durch Begünstigung des Gegners aufgrund von Bitte oder Bestechung verraten (prevaricator)781. Ungerechte, unbillige und aussichtslose Sachen oder abgetretene Klagen werde er nicht ohne Befragung eines erfahrenen Anwalts und des Rektors der Universität annehmen. Wenn er Klarheit über die Unbilligkeit oder die Ungerechtigkeit einer Sache gewonnen habe, werde er von ihr abstehen. Er werde nicht mit seinen Auftraggebern eine Übereinkunft über einen bestimmten Teil des Rechtsstreites treffen. Er werde auch seine Klienten nicht dazu verleiten, falsche Aussagen zu machen oder rechtsverdrehend (calumpniose) ihre Sache zu vertreten oder zu verteidigen782. Er selbst werde nichts Unwahres vor Gericht vorbringen. Die Schriftsätze, die er im eigenen Namen oder als Bevollmächtigter herausgehen lasse, werde er nicht durch Rasuren verändern783. Die Bestimmungen des kanonischen Rechts und der Universität Erfurt betreffend das Gerichtsverfahren werde er getreu und nach Kräften ohne Betrug beobachten.
780
Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht II, 538. Vgl. dazu Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 157. 782 Vgl. ebenda 25 – 27. 783 Vgl. ebenda 41 f.
781
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Prozeßrecht
Alle diese Einzelheiten lassen erkennen, worauf es beim Dienst des Prozeßbevollmächtigten ankam. Der Dienst der Gerichtsschreiber oder Notare war in allen Verfahren von höchster Wichtigkeit784. Ihnen waren fachliche Kenntnisse ebenso notwendig wie charakterliche Zuverlässigkeit. Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 ließen Bakkalarien und nichtgraduierte Studenten (scolares simplices), wenn sie nur in ihrem Fach erfahren sind, als Notare zu (Rubr. XV, 2). Der Notar hatte ebenfalls vor Antritt seines Dienstes einen Eid zu leisten (Rubr. XV, 14). Er mußte versprechen, seinen Dienst treu und sorgfältig auszuüben. Er werde nicht als Förderer oder Bevollmächtigter in Gerichtssachen auftreten, die vor seinem Richter verhandelt werden. In den Verfahren, in denen er als Notar bestellt wird, werde er alle wesentlichen gerichtlichen Handlungen in sein Handbuch schreiben. Alles, was verhandelt wird, und alle Schriftstücke und Urkunden und sämtliche rechtmäßigen Dokumente, überhaupt alles, was in den Verfahren vorgelegt wird, werde er zuverlässig in ein Verzeichnis aufnehmen. Abschriften werde er auf Beschluß des Richters den Bittstellern anfertigen. Geheime Dinge des Verfahrens, vor allem Aussagen der Zeugen, werde er, wenn sie nicht offengelegt werden, nicht offenbaren. Mit diesen Vorschriften versuchte man zu gewährleisten, daß die Notare ihre Aufgabe einwandfrei verrichteten. Auch die Boten785 mußten einen Eid leisten (Rubr. XV, 14). Sie hatten zu beschwören, daß sie ihren Dienst getreu und ohne Benachteiligung nach bestem Können und Wissen erfüllen wollen. Sie würden die Schriftstücke und prozessualen Akten, die ihnen anvertraut werden, persönlich an die bestimmten Orte bringen und über die getreue Ausführung ihrer Aufträge Bericht erstatten. Wenn sie sich nachlässig (culpabilis) zeigen und die Streitparteien deswegen Schaden davontragen, würden sie auf ihre Kosten und mit ihrer Arbeit Schadenersatz leisten. Die Bestimmungen, welche die Universität in bezug auf die Ordnung des Gerichtsverfahrens erläßt, werden sie getreu beobachten. II. Gerichtsort und Gerichtszeit 1. Gerichtsort Der Gerichtsort786 der in Erfurt wohnhaften Konservatoren war selbstverständlich die Stadt Erfurt. Indes gestatteten die Schreiben Bonifaz’ IX. und Martins V., die Funktion des Konservators auch außerhalb der Orte, in denen die drei Dignitäre, die ernannt wurden, ihren Wohnsitz hatten, wahrzunehmen (eciam si sint extra loca 784
Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 76 – 78, 111 – 113; München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 77 f. 785 Vgl. Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 75, 76, 89; München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 78 f. 786 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 89 f.
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in quibus deputati estis Conservatores et Judices), befreiten also ausdrücklich von Vorschriften, die verboten, daß Konservatoren außerhalb der Stadt, wo sie bestellt wurden, gegen jemanden vorgehen. Wieweit die Konservatoren von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, ist leider nicht bekannt. Das Gebäude, in dem der jeweilige Konservator seine Tätigkeit ausübte, richtete sich nach seiner geistlichen oder beruflichen Zugehörigkeit. Der Abt Thaddaeus hatte seinen Dienstraum in dem Schottenkloster (in curia habitationis suae bzw. nostrae habitationis)787. Der Propst des Reglerstifts saß in prepositura sua hora vesperorum zu Gericht788. Wenn Angehörige des Generalgerichts für Thüringen zu Subkonservatoren bestellt wurden, übten sie ihre Tätigkeit selbstverständlich in den Räumen dieser Behörde aus. Die Verhandlungen fanden dann im Kreuzgang des Erfurter Mariendomes statt. Mitunter wurde auch in der Severikirche, d. h. wohl in den angrenzenden Räumen, Gericht gehalten789. 2. Gerichtszeit Nicht jeder Tag war für die Abhaltung von Gerichtssitzungen geeignet790. Papst Gregor IX. hatte die Tage angegeben, an denen die gerichtliche Tätigkeit ruhen mußte791. Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 begrenzten die Tage, an denen die Konservatoren ihres Amtes walten durften, auf zwei792, nämlich den Donnerstag und den Freitag zur Stunde der Terz und der Vesper793, d. h. um 9 und um 15 Uhr, falls diese beiden Tage Gerichtstage waren; andernfalls sollten sie ihren Dienst am nächstfolgenden Gerichtstag verrichten. Sie sollten ihre Ladungen, Mahnungen und Termine auf einen dieser Tage und eine dieser Stunden ergehen lassen (Rubr. XV, 1). Aus der Ansetzung von zwei Tagen, an denen vor- und nachmittags Sitzungen gehalten wurden, läßt sich schließen, daß der Anfall an Rechtssachen nicht ganz gering gewesen sein kann. III. Gerichtskosten und Entlohnung 1. Gerichtskosten Die bei Prozessen anfallenden Kosten waren beträchtlich, jedenfalls wenn sich das Verfahren in die Länge zog. Die Gebühren waren in Geld zu bezahlen. Der
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Posern-Klett, Urkundenbuch der Stadt Leipzig I, 220 (1451); I, 232 (1452). May, Die geistliche Gerichtsbarkeit 121 A. 31. 789 DA Erfurt Gerichtsbuch fol. 158r (1497); fol. 234r (1498). 790 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, 88 f. 791 X 2, 9, 5. 792 Vgl. Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 73. 793 Die ursprünglich am Abend gehaltene Vesper wurde im Mittelalter in den Nachmittag hineingerückt und regelmäßig um 15 Uhr gehalten. Vgl. Valentin Thalhofer, Handbuch der katholischen Liturgik II, Freiburg i. Br. 1890, 385, 469 – 471. 788
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Prozeßrecht
Liber receptorum kennt eine beträchtliche Anzahl von Geldsorten794. Unter den Münzen herrschte eine bunte Vielfalt. Der Gulden war wohl in der Zeit des 15. Jahrhunderts die häufigste deutsche Münze. Dementsprechend oft wird er im Liber receptorum erwähnt, und zwar unter dem Namen florenus. Es handelte sich in Erfurt wohl um den rheinischen Gulden (Rubr. II, 8). Einmal ist die Rede von V florenos in auro, sed non de pondere795. An anderer Stelle wird von floreni mali gesprochen, sed non de pondere796. Auch ein aureus nummus797 ein florenus ungaricus oder ungarialis798 und ein dimidiatus florenus799 kommen vor. Überaus häufig ist von alten und neuen Groschen die Rede. Die Statuten der Universität kennen die grossi misnenses parvi seu antiqui (Rubr. XV, 5)800 und den grossus novus (Rubr. XV, 11). Groschen ist die volkssprachliche Wiedergabe von denarius grossus (= dicker Pfennig). Gelegentlich treten Beifügungen auf wie grossi antiqui monete leonine801. Manchmal wird bei den alten Groschen der Zusatz gemacht usualis monete802. Ebenfalls kommen Sexagenen oft vor. Der Liber receptorum verzeichnet sexagene bone803, sexagene leonine804, sexagena nove monete805 und sexagene melioris monete Snebergensis806. Sexagena ist das lateinische Wort für Schock. Die Sexagene bezog sich auf die Groschen (Rubr. II, 6). Eine Sexagene Groschen war
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Carl Friedrich von Posern-Klett, Münzstätten und Münzen der Städte und geistlichen Stifter Sachsens im Mittelalter (= Sachsens Münzen im Mittelalter 1. Theil), Leipzig 1846; Ernst Kroker, Handelsgeschichte der Stadt Leipzig, Die Entwicklung des Leipziger Handels und der Leipziger Messen von der Gründung der Stadt bis auf die Gegenwart (= Beiträge zur Stadtgeschichte VII), Leipzig 1925, 53 f.; Walter Hävernick, Das ältere Münzwesen der Wetterau bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck XVIII. 1), Marburg a. d. Lahn 1936; Walter Hävernick/Eberhard M. v. Mertens/ Arthur Suhle, Die mittelalterlichen Münzfunde in Thüringen (= Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission Bd. IV), Jena 1955; Walther Haupt, Kleine sächsische Münzkunde (= Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege Beiheft 5), Berlin 1968; Hans Krusy, Gegenstempel auf Münzen des Spätmittelalters, Frankfurt/Main 1974, 76 – 85; Leitzmann, Das Münzwescn und die Münzen Erfurts, passim; Raymond Weiller, Die Münzen von Trier, Erster Teil, Erster Abschnitt Beschreibung der Münzen: 6. Jahrhundert – 1307 (= Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtsurkunde XXX), Düsseldorf 1988. 795 Liber receptorum I fol. 102v. 796 Liber receptorum I fol. 105v. 797 Liber receptorum I fol. 85v. 798 Liber receptorum I fol. 146v, 147r u. ö. 799 Liber receptorum I fol. 115r. 800 Zum Meißner Groschen vgl. Haupt, Kleine sächsische Münzkunde 51 – 54, 56 – 59, 64 – 66. 801 Liber receptorum I fol. 86v. 802 Z.B.: Liber receptorum I fol. 84v. 803 Liber receptorum I fol. 88v, 114v. 804 Liber receptorum I fol. 140r. 805 Liber receptorum I fol. 85v. 806 Liber receptorum I fol. 87v.
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ein Gulden. Immer wieder wurden auch Snebergenses807 oder nivenses808. verzeichnet. Einmal heißt es: presentati fuerunt vigenti schnebergenses VIII denarii monete adulterine809. Ein andermal bemerkte der Rektor, er habe beim Antritt seines Amtes im Geldbeutel 12 Schnebergenses in varia moneta vorgefunden810. Damit hat es folgende Bewandtnis. Der abgehende Rektor mußte dem ankommenden Rechnung legen (Rubr. II, 9). Bei dieser Gelegenheit übergab er ihm auch die vorhandenen Geldbeträge. Der Name Schnebergenses ist von dem sächsischen Schneeberg abgeleitet. In der späteren Bergstadt Schneeberg wurde seit der Mitte des 15. Jahrhunderts geschürft. Man fand Silber, seit 1470 in großen Mengen, so daß im Jahre 1478 im Stadtgebiet 57 Zechen bestanden811. Im Jahre 1500 wurde in der Stadt eine eigene Münze errichtet, welche die Schneeberger Groschen (Schnebergenses grossi) schlug. Daneben traten Zahlungen in Denarii leonini812, denarii813, solidi814, in bestimmten Summen monete erffordensis815 und in moneta misnensis816 auf. Das Meißner Geld scheint die beherrschende Stellung im Zahlungsverkehr von Erfurt eingenommen zu haben. Das Geld, das die Universität einnahm, diente verschiedenen Zwecken. An dieser Stelle ist allein auf die Ausgaben einzugehen, die im Zusammenhang mit den Konservatoren stehen. Für die Ausstellung der Konservatorenurkunde durch den Apostolischen Stuhl war eine Taxe zu entrichten, die gewöhnlich mit dem Gnadenbrief zu einer Summe zusammengefaßt wurde817. Unter Bonifaz IX. bemaß sich die Taxe für eine Bulle nach dem Inhalt und den Anfangsworten818. Der Rektor Nikolaus de Crutheym gab 40 Gulden für das Konservatorium aus819. Bei dieser 807
Liber receptorum I fol. 94v. Vgl. Haupt, Kleine sächsische Münzkunde 75. Liber receptorum I fol. 130r, 135v. 809 Liber receptorum I fol. 119r. 810 Liber receptorum I fol. 141r. Ebenso fol. 143r. 811 Carl Lehmann, Chronik der freien Bergstadt Schneeberg, 3 Tle., Schneeberg 1837 – 1840, I, 27 – 55, 76 f.; Walter Schlesinger (Hrsg.), Sachsen (= Handbuch der historischen Stätten Deutschlands 8. Bd.), Stuttgart 1965, 320 – 323; Posern-Klett, Münzstätten und Münzen 201 f. 812 Liber receptorum I fol. 136r. 813 Liber receptorum I fol. 119r. 814 Liber receptorum I fol. 125r. 815 Liber receptorum I fol. 85r. Vgl. dazu Günther Röblitz, Erfurter Münzgeschichte bis zur ersten Talerprägung 1548, in: Ulman Weiß (Hrsg.), Erfurt 742 – 1992, Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte, Weimar 1992, 331 – 345; Posern-Klett, Münzstätten und Münzen 53 – 95. 816 Liber receptorum I fol. 134v. Vgl. Gerhard Krug, Die meißnisch-sächsischen Groschen 1338 bis 1500, Berlin 1974. 817 Herde, Beiträge 191 f. Über die Gebühren bei der Expedition päpstlicher Urkunden vgl. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 79 f. 818 Max Jansen, Zum päpstlichen Urkunden- und Taxwesen um die Wende des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Festgabe Karl Theodor von Heigel zur Vollendung seines sechzigsten Lebensjahres gewidmet, München 1903, 146 – 159, hier 147. 819 Liber receptorum I fol. 9v (1426). 808
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Summe ist zu bedenken, daß das Dokument von dem in Rom befindlichen Papst einzuholen war. Erheblich günstiger konnte das Schriftstück erlangt werden, als das Konzil von Basel tagte, auf dem ja die Erfurter Universität häufig vertreten war und zu dem sie enge Beziehungen unterhielt. Die Kosten für das von dieser Versammlung ausgestellte Konservatorium beliefen sich, wie die Abrechnung des Rektors Diether von Isenburg (1434)820 ausweist, nur auf sechs Gulden821. Die Statuten von 1447 begründeten die Einforderung von gestaffelten Gebühren für die Erlaubnis zum Angehen des Konservators mit den Kosten für das Erwirken des Konservatoriums (Rubr. XV, 5). Diese Bemerkung beweist, daß das ständige Konservatorium, welches Martin V. und das Baseler Konzil ausgestellt hatten, entweder von den folgenden Päpsten nicht anerkannt wurde oder jedenfalls das Bedürfnis nach seiner Bestätigung bestand. Das Lizenziatorium wurde, wie oben erwähnt, nur Angehörigen der Universität gewährt. Allerdings war der Kreis derselben, wie ebenfalls bereits bemerkt wurde, weit gezogen. Die Namen der Empfänger von Lizenziatorien wurden regelmäßig in den Liber receptorum eingetragen. Nicht immer waren jedoch dem Rektor die Namen derer, die ein Lizenziatorium erhalten und die dafür fällige Gebühr entrichtet hatten, erinnerlich. So schrieb beispielsweise Heinrich von Bottelstedt (1440): feria quarta ante Marie Magdelene recepi a quodam pro licenciatorio XV grossos822. Für die Ausstellung des Lizenziatoriums war eine Gebühr zu entrichten. So war es anscheinend überall üblich. In Prag beispielsweise war für die Erlaubnis, den Konservator anzugehen, eine Geldsumme zu bezahlen, worüber der Rektor ein besiegeltes Dokument erließ. Der Konservator war gehalten, ohne dieses keine Vorladung eines Beklagten ausgehen zu lassen823. Die Erfurter Statuten von 1447 legten die Höhe der Gebühr fest; sie bemaß sich nach dem Streitwert der Sache. Bei einem Streitwert bis zu 25 Goldstücken waren 10, bis zu 50 Goldstücken 15, bis zu 100 Goldstücken 30 kleine oder alte Meißner Groschen dem Rektor zu entrichten. Wenn der Streitwert die Summe von 100 Goldstücken überschritt, war die Gebühr vom Rektor und von seinen Räten nach Gutdünken festzusetzen, wobei jedoch die Beschaffenheit der Person und die Erfordernisse der Sache in Rechnung zu stellen waren (Rubr. XV, 5). Nach Ausweis des Liber receptorum wurden am häufigsten 10 alte Groschen abgeliefert, d. h. der Streitwert der Sache lag nicht über 25 Goldstücken. Es kamen auch Zwischensummen vor wie 12, 8 oder 9 alte Groschen824. Gelegentlich lesen wir von 30 und 42 alten Groschen, die bezahlt wurden825. Unter dem Rektorat des Ludwig Platz (1520) entrichteten die Empfänger der Lizenzia820
Weissenborn, Acten I, 160 – 161. Idem exposuit VI florenos pro Conservatorio missos ad Concilium Basiliense: Liber receptorum fol. 15v. Vgl. Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis I, 142 A. 783. 822 Liber receptorum I fol. 20v. 823 Tomek, Geschichte der Prager Universität 58. 824 Z.B.: Liber receptorum I fol. 30r, 31r. 825 Liber receptorum I fol. 31r. 821
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torien regelmäßig drei Schnebergenses826. Bei der Berechnung der Gebühr für die Gewährung dieser Dokumente wurden die sozialen Verhältnisse immer in Rechnung gestellt. So heißt es bei einem Ordensangehörigen, der nur sieben Groschen zahlt: quia pauper monachus827. Ein anderer wurde von der Gebühr verschont quia orphanus et pauper828. Auch die Geringfügigkeit der Sache wurde bedacht. Bei einem Magister wird gesagt, er habe nur sechs Groschen gezahlt, quia causa fuit solum V florenorum829. Als einem anderen Bittsteller nur sechs Groschen für das Lizenziatorium abgenommen wurden, fügte man zur Erklärung bei: quia iniuriarum830. Gelegentlich mußte der Empfänger eines Lizenziatoriums die ursprünglich gezahlte Gebühr ergänzen, vielleicht weil der Streitwert höher war, als man anfangs angenommen hatte831. Es kam vor, daß jemand, der ein Lizenziatorium erhalten hatte, die Gebühr schuldig blieb832. Unter dem Rektor Rudolph de Sutwolden (1460/ 61) findet sich die Eintragung: Quidam magistri et doctores et quidam altus nobilis licenciam receperunt sed nihil ab eis receptum833. Ein andermal wird angemerkt: pro licencia nichil dedit834. Eine beträchtliche Anzahl von Genehmigungen zum Angehen der Konservatoren wurde kostenlos ausgestellt. Als Begründung für die unentgeltliche Gewährung von Lizenziatorien wird schon 1423 angegeben: quia est servitor suus und: quia servivit facultati arcium835. 1424 lauten die Erklärungen: quia pauper et famulus Domini Konemundi de Bissingen oder: quia fuit familiaris Domini rectoris oder bloß: prothonotarius Domini lantgrafii Thuringie836. Lange Zeit mußten auch die Magistri die Gebühr bezahlen837. Doch wurden sie später häufig von ihr freigestellt. An einer Stelle steht die Bemerkung: Pluribus Magistris data sunt licenciatoria qui nichil dederunt ob reverenciam magisterii838. An einer anderen: Plures magistri gratis obtinuerunt licenciatoria839. In einem Rechenschaftsbericht folgen unter der Ankündigung: Sequentes infra gratis obtinuerunt licenciam sieben Namen, wovon vier solche von Magistri waren840. Ähnlich war es in dem Vizerektorat des Johannes 826
Liber reccptorum I fol. 131v. Liber receptorum I fol. 35v (1455). 828 Liber receptorum I fol. 50r. 829 Liber receptorum I fol. 35v (1455). 830 Liber receptorum I fol. 41r. 831 Liber receptorum I fol. 48v (Heinrich Milbach). 832 Liber receptorum I fol. 19r. 833 Liber receptorum I fol. 43r. 834 Liber receptorum I fol. 44r. 835 Liber receptorum I fol. 6v. 836 Liber receptorum I fol. 7r. 837 Liber receptorum I fol. 30r. 838 Liber receptorum I fol. 45r. 839 Liber receptorum I fol. 46v. 840 Liber receptorum I fol. 47v. 827
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Milbach841. Aber es kam auch später immer wieder vor, daß Magistri die Gebühr entrichteten842. Wer mit dem derzeitigen Rektor in einer näheren Beziehung stand, erhielt das Dokument ebenfalls kostenlos843. Auch der pincerna in porta celi gehörte zu den Begünstigten, die das Lizenziatorium unentgeltlich enthielten, und zwar ob reverenciam rectoris844. Der Kaplan des Schottenabtes empfing das Lizenziatorium gratis propter dominum Abbatem845. Dominus Henricus Sartorius antiquus officialis brauchte ebenfalls keine Gebühr zu bezahlen846. Gelegentlich erfolgte die Gratisausstellung mit dem Zusatz: propter Deum847. Diese Worte, gleichbedeutend mit den anderen pro deo, besagen, daß der betreffende Empfänger arm war848. Die Universität Erfurt fiel mit ihrer Praxis der Gebühren nicht aus dem Rahmen. Auch die Statuten der Universität Köln trafen Anordnungen über die Gebühren, die dem Rektor für seine im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Konservatoren stehenden Bemühungen zu entrichten waren. Für das den Konservatoren oder ihren Stellvertretern vorzulegende Zeugnis der Zugehörigkeit zur Universität und für das dem Mandat der Konservatoren beizufügende Siegel durfte er nicht mehr als 12 kleine grossi Turonenses, für das Schutzsiegel samt Verbot nicht mehr als vier alte königliche grossi Turonenses oder deren Gegenwert fordern oder nehmen, es sei denn, es würde ihm freiwillig und wissentlich mehr angeboten849. 2. Entlohnung Die Statuten der Erfurter Universität von 1447 setzten die Gebühren für die Tätigkeit der Konservatoren fest. Sie betrugen für die einfache Ladung ohne Darlegung des Sachverhaltes oder der Rechtslage zehn alte Groschen, für die Ladung oder Mahnung mit Darlegung des Sachverhaltes oder der Rechtslage 20 alte Groschen, für das einem einzelnen zugestellte Exkommunikationsschreiben ebenfalls 20 alte Groschen, für das Verschärfungsschreiben (litera aggravatoria) gegen solche, die Gemeinschaft mit einem Exkommunizierten halten, ein halbes Schock (Groschen). Für die weiteren prozessualen Schritte, nämlich für die Anheftung an die Tore für 6, 9 usw. Tage (was allerdings nicht üblich sei) und so weiter bis zur Anrufung des weltlichen Armes, war jeweils ein Gulden zu entrichten, wenn nicht 841
Liber receptorum I fol. 48r. Liber receptorum I fol. 49r. 843 Z.B.: Liber receptorum I fol. 66v (ob reverenciam rectoris). 844 Liber receptorum I fol. 47v. 845 Liber receptorum I fol. 40v. 846 Liber receptorum I fol. 66v. 847 Z.B.: Liber receptorum I fol. 68r. 848 Vgl. Frenz, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit 79. 849 Bianco, Die alte Universität Köln I Anlagen S. 20 (Nr. 55); vgl. Keussen, Die alte Universität Köln 9. 842
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die Mühe und der Umfang der Schreiben größer war, was der Beurteilung des Richters und seiner Räte und, wenn es angebracht erschien, des Rektors überlassen blieb (Rubr. XV, 7). Aus dieser Aufstellung ist zu erkennen, daß das Prozessieren ziemlich kostspielig war. Ein Siegler war im Betrieb der Konservatorengerichtsbarkeit nicht vorgesehen. Der Konservator durfte die Siegeleinnahmen in Empfang nehmen und sie mit seinem Notar oder Schreiber und dem Schreiber seiner Urkunden teilen, und zwar nach dem Maßstab, daß der Notar einen oder den dritten Teil, der Richter zwei Drittel bekam (Rubr. XV, 7). Für das Lossprechungsschreiben von der einfachen größeren Exkommunikation einer Person war ein Gulden zu zahlen; wenn es unter 40 Personen waren, mußten zwei Gulden aufgebracht werden; wenn es mehr waren oder es sich um eine Gesamtheit (universitatem) handelte, waren vier Gulden fällig. Wenn ein mit Zustimmung der Gegenpartei Losgesprochener in dieselbe Strafe zurückfiel, von der er losgesprochen worden war, weil er dem Befehl des Richters nicht nachkommt, vor allem wenn er ihn völlig unbeachtet läßt, mußte der neuerlich Loszusprechende das Doppelte der vorgenannten Summe bezahlen, es sei denn, der Richter und der Notar wollten milder an ihm handeln oder die Beschaffenheit der Person bzw. andere Umstände legten ein milderes Vorgehen nahe (Rubr. XV, 8). Für die Lossprechung von einem Verschärfungsschreiben gegen solche, die mit einem Exkommunizierten Gemeinschaft halten, waren vier Gulden zu entrichten (Rubr. XV, 9). Es gab also trotz der Taxtabelle einen gewissen Spielraum bei der Bemessung der Kosten. Rechtsbeistände, Bevollmächtigte und Notare konnten zu Beginn des Verfahrens Angeld850 je nach den Erfordernissen der Sache annehmen: der Rechtsbeistand einen, zwei oder drei Gulden, der Bevollmächtigte einen halben, einen ganzen oder anderthalb Gulden; der Notar mußte sich am Anfang des Rechtsstreits mit der Summe zufriedengeben, die er für das Schreiben einer Ladung erhielt, außer die Partei wollte ihn freiwillig durch eine größere Leistung verpflichten. Nach der Streitbefestigung konnten Rechtsbeistand und Bevollmächtigter das Doppelte erhalten, was sie vorher erhielten; für das Übrige mußten sie das Ende des Rechtsstreits abwarten oder sie erhielten, was ihnen durch Schätzung bestimmt wurde, wobei die früheren Einnahmen einberechnet und von dem Schätzwert abgezogen wurden (Rubr. XV, 10). Der Notar hatte die Prozeßakten nach Art eines Verzeichnisses (per modum registri) zu schreiben. Jede Seite zählte 34 Zeilen, jede Zeile sieben Redewendungen (dicciones)851. Das ganze Blatt mußte demnach 68 Zeilen haben. Für jedes Blatt durfte der Notar einen neuen Groschen nehmen, für Abschriften zwei alte Groschen. Für Abschriften der Klageschriften und anderer Dokumente war die Kostentabelle der ordentlichen Gerichtsbarkeit (stilus ordinariorum) zu beachten (Rubr. XV, 11). Für das Urteilsinstrument bzw. -schreiben, an dem der Richter wegen des Siegelaufdrucks teilhat, schätzte der Richter die Gebühr. 850 851
Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 80, 117 f. Vgl. Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter 80, 115.
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Wenn er mit seiner Schätzung zu hoch ging, ermäßigten der Rektor und seine Räte die Summe gemäß ihrer Einschätzung des Streites, der Beschaffenheit der Streitsache oder des Geschäftes und der aufgewandten Mühe; dabei war auch die Lage der beteiligten Person in Betracht zu ziehen (Rubr. XV, 12). Die Rechtsbeistände, Bevollmächtigten und Schreiber werden auf die erwähnten Einnahmen angewiesen gewesen sein, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Jedenfalls dann, wenn sie kein ertragreiches Benefizium besaßen, hatten sie ihr Auskommen aus den ihnen obliegenden Tätigkeiten zu gewinnen. Im Iuramentum Notariorum ist von dem Gehalt (sallarium) des Notars die Rede. Anders stand es um den Rektor. Es waren nicht gerade arme Männer, die dieses Amt bekleideten. Dennoch mögen in ihrem Rektorat manche Ausgaben angefallen sein, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, ihnen eine Aufwandsentschädigung zukommen zu lassen. Der Rektor hatte daher während der Dauer seiner Amtszeit Anspruch auf den dritten Teil aller Einnahmen (Rubr. III, 6). Die Statuten von 1447 schrieben vor, daß der gewesene Rektor dem neuen Rektor innerhalb von acht Tagen nach dessen Eidesleistung Rechenschaft von seinen Ein- und Ausnahmen abzulegen hatte (Rubr. III, 5).
Schluß Die Einrichtung der Konservatoren war ein Mittel, mit dem kirchlichen und nichtkirchlichen Personen, Organisationen und Anstalten rechtlicher Schutz gewährt werden sollte. Im privilegienfreundlichen Mittelalter kamen unzählige Antragsteller um ihre Ernennung ein. Die Supplikenregister reden dieserhalb eine deutliche Sprache. Die Bestellung von Konservatoren durch den Papst war ein Ausdruck der Unmittelbarkeit der Primatialgewalt. Auch die Universitäten des Mittelalters begehrten und erlangten regelmäßig die Bestellung von Konservatoren. Ihre empfindliche Organisation und ihre hervorgehobene Stellung riefen nach einem besonderen rechtlichen Schutz. Die Universität Erfurt schloß sich in dieser Hinsicht ihren Vorgängerinnen an. Von Anbeginn bis zu dem Einbruch im 16. Jahrhundert legte sie Wert darauf, päpstlich bestellte Konservatoren zu haben. Es ist hier meines Wissens zum ersten Mal versucht worden, die verfügbaren Daten ihrer Existenz und ihres Wirkens zu erheben und ihr rechtliches Wesen zu durchdringen. Es ist bedauerlich, daß viele Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind, keine Antwort finden konnten. Die Namen vieler Konservatoren bzw. Subkonservatoren sind nicht bekannt. Bezüglich der Tätigkeit der Konservatoren und der Subkonservatoren ist wenig urkundliches Material überliefert. Man kann nur auf die Zukunft hoffen. Vielleicht glücken hie und da Funde, die es gestatten, das hier Vorgelegte zu ergänzen oder zu korrigieren. Dennoch steht zu erwarten, daß diese fragmentarischen Ausführungen ein wenig Licht über eine Einrichtung verbreiten, die zu ihrem Teil mitgeholfen hat, Recht und Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Das Mainzer Metropolitangericht als Berufungsinstanz der Mainzer Kirchenprovinz im 17. und 18. Jahrhundert Einleitung Der Mainzer Erzbischof hatte ein doppeltes Amt. Er war Oberhirt seines Bistums und Vorsteher seiner Kirchenprovinz.1 Dieser Doppelstellung entsprach die zweifache Rechtsprechungsgewalt. Er war ordentlicher Richter seiner Erzdiözese und Berufungsrichter für die Suffraganbistümer. Im kirchlichen Instanzenzug waren die Diözesanbischöfe die erste Instanz und war der Metropolit die zweite Instanz.2 Nun wurde der Mainzer Erzbischof gewöhnlich nicht persönlich in der Rechtsprechung tätig, sondern ließ sie durch bestellte Richter ausüben. Rechtlich gesehen war er Gerichtsherr zweier Gerichtshöfe, des Diözesangerichtes, in Mainz Vikariatsgericht oder kurz Vikariat genannt, und des Metropolitangerichtes, jahrhundertelang als Pronotariatsgericht oder abgekürzt Pronotariat bezeichnet.3 Von letzterem soll an dieser Stelle die Rede sein. Dabei ist eine Frage nicht zu umgehen, nämlich wohin in der Diözese des Mainzer Metropoliten von erstinstanzlichen Urteilen die Berufung ging. Plöchl schreibt richtig, daß es keine gemeinrechtliche Regelung des Instanzenzuges in den Fällen gab, in denen das Gericht des Metropoliten als Erste Instanz tätig wurde.4 Nach Sägmüller hatten die Erzdiözesen entweder ein einheimisches besonderes Gericht als zweite Instanz, oder es war ihnen vom Papst ein 1 Rudolf von Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes, 2 Bde., Graz 1886/98, I, S. 543 – 547; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1914, I, S. 435 – 441; Handbuch der Diözese Mainz. Hrsg. von der Bischöflichen Kanzlei 1931, Mainz 1931, S. 7; Friedhelm Jürgensmeier, Das Bistum Mainz. Von der Römerzeit bis zum II. Vatikanischen Konzil (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 2. Bd.), Frankfurt a.M. 1988, S. 37 – 42; Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 5., durchges. Aufl., Köln/Wien 1972, S. 364 – 379; Georg May, Geistliche Ämter und kirchliche Strukturen, in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 2. Erzstift und Erzbistum Mainz. Territoriale und kirchliche Strukturen von Günter Christ und Georg May. Hrsg. von Friedhelm Jürgensmeier, Würzburg 1997, S. 445 – 592, hier S. 462 – 473. 2 X 2, 28, 66; VI 1, 16, 1; VI 2, 15, 3. Vgl. Nicolaus München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 2 Bde., 2. Ausgabe, Köln/Neuß 1874, I, S. 518 f.; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, S. 321 – 324. 3 Karl Bauermeister, Studien zur Geschichte der kirchlichen Verwaltung des Erzbistums Mainz im späteren Mittelalter: AfkKR 97, 1917, S. 501 – 535, hier 527. 4 Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. IV. Das katholische Kirchenrecht der Neuzeit. Zweiter Teil, Wien, München 1966, S. 367.
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bischöfliches Offizialat dazu bestellt.5 Beides traf für das Erzbistum Mainz nicht zu. Hier behalf man sich auf folgende Weise. Der größere Teil des Diözesangebietes war in Kommissariate eingeteilt, die ein Gericht erster Instanz unterhielten, von dem an das Mainzer Gericht appelliert wurde.6 Lediglich für das Untererzstift,7 wo keine Außenkommissariate bestanden, fehlte es an einer zweiten Instanz. Die Verfahren wurden sogleich am Mainzer Gericht geführt, und von seinen Urteilen wurde an den Apostolischen Stuhl Berufung eingelegt bzw. hätte eingelegt werden müssen. Doch behalf man sich hier mit der Einsetzung von speziellen Commissiones bzw. einer Commissio perpetua, von denen an das Plenum des Vikariates appelliert wurde.8 An ihre Stelle trat durch die Verordnung vom 25. September 17849 für das Untererzstift das Judicium ecclesiasticum (Tit. IV § 4). Damit war in der Mainzer Erzdiözese ein lückenloser Rechtszug mit zwei Instanzen vorhanden.
5 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, S. 322. Ähnlich wie Sägmüller Friedrich H. Vering, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Oesterreich und die Schweiz, 3., umgearb., sehr verb. und verm. Aufl., Freiburg i. Br. 1893, S. 693. 6 Johannes Wolf, Historische Abhandlung von den geistlichen Kommissarien im Erzstifte Mainz, besonders von denen im Eichsfelde, Göttingen 1797; Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung (sic) der Archidiakonate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1897, S. 122 – 277; Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mittelalters. Das Generalgericht zu Erfurt (= Erfurter Theologische Studien Bd. 2), Leipzig 1956; Arno Wand, Das Eichsfeld als bischöfliches Kommissariat 1449 – 1999. Ein Amt macht Geschichte (= Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte Bd. 41), Leipzig 1999; Jürgensmeier, Das Bistum Mainz, S. 325 – 329. 7 Das untere Erzstift reichte von Niedermörlen über Höchst, Mainz, Bingen bis Oberlahnstein. Der Ausdruck kommt in den Quellen wiederholt vor. So war am 9. Dezember 1468 im Mainzer Domkapitel von dem „Unterstift um Mainz herum“ die Rede (Die Protokolle des Mainzer Domkapitels 1. Bd. Die Protokolle aus der Zeit 1450 – 1484. Bearb. von Fritz Herrmann. Verglichen und zum Druck vorb. von Hans Knies, Darmstadt 1976, S. 235 Nr. 530). Die „untere Landschaft“ taucht auf am 20. Januar 1528 (Die Protokolle des Mainzer Domkapitels. 3. Bd. Die Protokolle aus der Zeit des Erzbischofs Albrecht v. Brandenburg 1514 – 1545. Bearb. u. hrsg. von Fritz Herrmann, Paderborn 1932, S. 370). Vgl. Herbert Pohl, Hexenglaube und Hexenverfolgung im Kurfürstentum Mainz. Ein Beitrag zur Hexenfrage im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (= Geschichtliche Landeskunde Bd. 32), Stuttgart 1988, S. XI, 30 (Karte des Unteren Erzstiftes), 32, 34 – 66; Anton Philipp Brück, Serta Moguntina. Beiträge zur mittelrheinischen Kirchengeschichte (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 62), Mainz 1989, S. 92. 8 Bei Entscheidungen der Commissio perpetua heißt es dementsprechend: Pedellus Lamby Junior nomine Defensoris Matrimonii appellat ad plenum Vicariatum et petit apostolos reverentiales decerni (DA Mainz 1/501, S. 223, 27. September 1771; vgl. 1/502, S. 17, 29. September 1773). 9 DA Mainz 1/72b, S. 1364 – 1464.
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I. Die Gerichte der Suffraganbistümer 1. Bestand Die Mainzer Kirchenprovinz umfaßte im 17. und 18. Jahrhundert folgende Diözesen: Augsburg, Chur, Eichstätt, Halberstadt, Hildesheim, Konstanz, Paderborn, Speyer, Straßburg, Verden, Worms und Würzburg. Das am 5. Oktober 1752 zum exemten Bistum erhobene Fulda wurde am 31. Dezember 1755 dem Mainzer Metropolitanverband angegliedert.10 Das im Jahre 1794 zum Fürstbistum erhobene Korvey, das zuvor als „Paderborn mit Corvey“ geführt wurde,11 erschien danach als Suffragan der Mainzer Metropole.12 Das ursprünglich zur Kirchenprovinz Mainz gehörige Bistum Bamberg hatte sich seit dem 13. Jahrhundert eine exemte Stellung verschafft.13 Die Suffraganbistümer Prag14 und Olmütz15 wurden im Jahre 1344 der Mainzer Jurisdiktion entzogen.16 Die Bistümer Halberstadt17 und Verden18 gingen der katholischen Kirche durch die Einführung des Luthertums verloren. Das Restitutionsedikt vom 6. März 162919 schien noch einmal ihre Rückführung zum katholischen Glauben zu bringen. Doch der Westfälische Friede erklärte es als un10 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1779, Mainz 1779, S. 2; Josef Leinweber, Die Fuldaer Äbte und Bischöfe, Frankfurt a. M. 1989, S. 155 – 157; Werner Kathrein, Fulda: LThK IV, 3. Aufl., 1995, Sp. 218 – 220. 11 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1784, Mainz 1784, S. 2. 12 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1796, Mainz 1796, S. 4; Georg Föllinger, Corvey. Von der Reichsabtei zum Fürstbistum. Die Säkularisation der exemten reichsunmittelbaren Benediktiner-Abtei Corvey und die Gründung des Bistums 1786 – 1794 (= Paderborner Theologische Studien Bd. 7), München, Paderborn, Wien 1978; Ulrich Faust, Corvey: LThK II, 3. Aufl., 1994, Sp. 1328 f. 13 Bruno Neundörfer, Bamberg: LThK I, 3. Aufl., 1993, Sp. 1381 f.; Erich Freiherr von Guttenberg (Bearb.), Das Bistum Bamberg. Erster Teil. Der Germania sacra Zweite Abteilung Erster Band. I. Teil, Berlin 1937, S. 36 – 43. 14 Kurt A. Huber, Prag: LThK VIII, 3. Aufl., 1999, Sp. 494 – 497. 15 Josef Matzka, Das Bistum Olmütz von 1281 – 1578 (vom Spätmittelalter bis zur Renaissance) (= Schriftenreihe des Sudentendeutschen Priesterwerkes Königstein/Taunus Bd. XX), Königstein/Ts. 1975, S. 21; Rudolf Grulich, Olmütz: LThK VII, 3. Aufl., 1998, Sp. 1048 f. 16 Jürgensmeier, Das Bistum Mainz, S. 138. 17 Georg May, Die deutschen Bischöfe angesichts des Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, Wien 1983, S. 284 – 287; Clemens Brodkorb, Halberstadt: LThK IV, 3. Aufl., 1995, Sp. 1153 f. 18 May, Die deutschen Bischöfe, S. 346 – 353; Vinzenz Schweitzer, Die Wahl des Grafen Berthold v. Königsegg zum Bischof von Verden i. J. 1629: Römische Quartalschrift 19, 1905, S. 3 – 13; E. Weise, Verden: LThK X, 2. Aufl., 1965, Sp. 674 f. 19 Michael Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (= Jus Ecclesiasticum Bd. 44), Tübingen 1993 (S. 184 – 194 Text); Konrad Repgen, die Römische Kurie und der Westfälische Friede. Idee und Wirklichkeit des Papsttums im 16. und 17. Jahrhundert Bd. I, 1. und 2. Teil (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bd. XXIV und XXV), Tübingen 1962/65, I, 1, S. 157 – 189.
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gültig (Art. XVII § 3 IPO). Nach dem Friedensinstrument von Osnabrück fiel das Hochstift Halberstadt an Brandenburg (Art. V § 23 und XI § 1 IPO),20 das Hochstift Verden an Schweden (Art. X § 7 IPO). Papst Innozenz X. (1644 – 1655) erklärte in dem Breve „Zelo Domus Dei“ vom 20. November 164821 alles, was in dem Friedensschluß der katholischen Religion, dem Gottesdienst, dem Seelenheil, dem Apostolischen Stuhl, der römischen Kirche und den ihr untergebenen Kirchen, der Ordnung und dem Status der Kirche zuwider ist, für ungültig. Das besagte: Der Apostolische Stuhl betrachtete die Jurisdiktion der Bischöfe, deren Bistümer dem Protestantismus zugeführt worden waren, nicht als aufgehoben. Der Mainzer Metropolit sah dementsprechend die beiden erwähnten Diözesen nach wie vor als seinem Verband zugehörig an. Nach dem Tode des Bischofs Leopold von Halberstadt bat sein Generalvikar Johann Philipp von Schönborn (1647 – 1673)22 um Übertragung der geistlichen Funktionen. Der Erzbischof machte kraft seiner Autorität als Metropolit den Friedrich von Deutsch zum Vicarius in spiritualibus per Episcopatum Halberstadiensem.23 Deutsch war seit 17. Januar 1642 Generalvikar Leopolds gewesen.24 Nach seinem im Jahre 1676 erfolgten Tode ernannte der brandenburgische Kurfürst den Placidus Meinders zum Generalvikar für das Fürstentum Halberstadt; dieser erbat sich vom Mainzer Metropoliten die Delegation für sein Amt. 25 Im April 1667 war Valerio Maccioni vom Heiligen Stuhl zum Apostolischen Vikar der nordischen Missionen ernannt worden.26 Am 23. April 1669 machte ihn Erzbischof Johann Philipp von Schönborn seinerseits zum mainzischen Generalvikar in Pontificalibus et Spiritualibus u. a. für Halberstadt.27. Doch die Zuständigkeit des Mainzer Metropoliten zu dieser Ernennung wurde von seiten des Apostolischen Stuhls bezweifelt.28 Am 7. Oktober 1669 wurde daher das Bistum Halberstadt vom Papst dem Apostolischen Vikar Valerio Maccioni zur geistli-
20 Franz Wagner, Die Säkularisation des Bistums Halberstadt und seine Einverleibung in den Brandenburgisch-Preußischen Staat 1648 – 1650. Phil. Diss. Münster i.W., Wernigerode a.H. 1905. 21 Bullarium Privilegiorum ac Diplomatum Romanorum Pontificum T. VI, Rom 1760, S. 173 – 175. Das Breve wurde 1650 veröffentlicht und zurückdatiert. 22 Friedhelm Jürgensmeier, Johann Philipp von Schönborn (1605 – 1673) und die Römische Kurie. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 28), Mainz 1977. 23 DA Mainz 1/004, S. 152r-153r (5. Oktober 1665). Vgl. Johannes Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens. Ihre Entstehung, ihre Entwicklung und ihre Verwalter. Ein Beitrag zur Geschichte der nordischen Missionen, Paderborn 1919, S. 39. 24 Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, S. 28. 25 Ludwig Kaas, Die geistliche Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche in Preussen in Vergangenheit und Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung des Westens der Monarchie, 2 Bde. (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 84.–87. Heft), Stuttgart 1915/16, I, S. 48 f. 26 Kaas, Die geistliche Gerichtsbarkeit I, S. 49. 27 Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, S. 39 f. 28 Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, S. 40.
Das Mainzer Metropolitangericht als Berufungsinstanz
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chen Betreuung übertragen.29 Auch die Diözese Verden wurde dem Apostolischen Vikariat des Nordens zugewiesen.30 Die Diözesen, welche die Stürme des 16. (und 17.) Jahrhunderts überstanden hatten, unterhielten ausnahmslos ein Gericht erster Instanz.31 Die Bezeichnung war verschieden. So erscheint in den Akten des Mainzer Metropolitangerichtes das Consistorium Wormatiense,32 das Consistorium Herbipolense,33 gleichbedeutend damit der Vicariatus Herbipolensis, der vom Mainzer Metropolitangericht auch als judex ordinarius bezeichnet wurde,34 das Consistorium Hildesiense35 bzw. der Officialis Hildesheimensis,36 das Consistorium Eichstettense,37 das Consistorium Spirense38 oder das Episcopale Consistorium Spirense39 bzw. der officialis Spirensis,40 das Consistorium zu Augsburg41 oder das Episcopale Augustanum,42 der officialis Paderbornensis,43 oder das Offizialat zu Paderborn44 bzw. die officiales (sic) curiae Episcopalis Paderbornensis,45 das Consistorium Episcopale Fuldense46 bzw. das Consistorium zu Fulda47 und das Vicariat zu Constanz,48 der Vicariatus Constantiensis,49 das Consistorium Constantiense50 oder der Officialis Constantiansis.51 Das Gericht der Diözese Straßburg wurde als Judices (sic) Argentinenses,52 als 29
Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, S. 39. Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens, S. 82. 31 Zur kirchlichen Gerichtsbarkeit vgl. Vering, Lehrbuch, S. 673 – 756; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, S. 311 – 389. 32 DA Mainz 1/203, S. 190 (22. Juni 1699); 1/032, S. 168 (20. Juni 1735; 1/607, S. 19 (27. Juni 1748). 33 DA Mainz 1/202, S. 159 (27. Juli 1685); 1/209, S. 100 (17. September 1722); 1/208, S. 171 (1. Juli 1723). 34 DA Mainz 1/606, S. 323 (23. August 1747). 35 DA Mainz 1/610, S. 109 (18. Dezember 1760). 36 DA Mainz 1/208, S. 199 (9. März 1724). 37 DA Mainz 1/209, S. 2 (16. Januar 1721); 1/027, S. 322 (11. April 1726). 38 DA Mainz 1/208, S. 268 (16. August 1725). 39 DA Mainz 1/202, S. 149 (4. Juni 1688). 40 DA Mainz 1/202, S. 65 (15. Februar 1685); 1/019, S. 518 (18. November 1715). 41 DA Mainz 1/027, S. 374 (19. Juli 1726). 42 DA Mainz 1/613, S. 19 (23. Februar 1769). 43 DA Mainz 1/201, S. 141 (18. August 1672). 44 DA Mainz 1/043, S. 241 (17. Juli 1752). 45 DA Mainz 1/209, S. 137 (29. April 1723). 46 DA Mainz 1/618, S. 87 (27. April 1775). 47 DA Mainz 1/030, S. 225 (29. Oktober 1731). 48 DA Mainz 1/041, S. 365 (7. September 1750). 49 DA Mainz 1/619, S. 197 (20. Januar 1780). 50 DA Mainz 1/607, S. 28 (27. Juni 1748). 51 DA Mainz 1/610, S. 111 (18. Dezember 1760). 52 DA Mainz 1/208, S. 261 (14. Juni 1725). 30
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Officialis Argentinensis53 und als Consistorium Argentinense54 bezeichnet. Auch in Bistümern, die nicht zur Mainzer Kirchenprovinz gehörten und die gelegentlich mit irgendwelchen Anliegen an das Mainzer Metropolitangericht herantraten, bestand jeweils ein Gericht erster Instanz. So ist die Rede vom Consistorium Bambergense,55 vom Vikariat zu Regensburg, das in demselben Zusammenhang als Konsistorium bezeichnet wird,56 vom Consistorium57 bzw. Offizialat zu Breslau,58, vom Offizialat59 bzw. officialatus Treverensis zu Koblenz60 sowie vom Chur-Cöllnischen Vicariats-Prothonotarius,61, vom officialatus Curiae Salisburgensis62 und vom Erzbischöflichen Konsistorium zu Wien.63 2. Verhältnis Das Verhältnis des Mainzer Metropolitangerichtes zu den Gerichten der Suffraganbistümer war nicht immer ungetrübt. Die Spannungen, die zwischen den Sprengeln bzw. deren Oberhirten bestanden, übertrugen sich anscheinend auf deren Behörden. In deren Folge kam es zu ernsthaften Behinderungen der Rechtspflege. Mehr als einmal mußten Prokuratoren Klage führen, daß sich die Judices a quo nicht um die Beschlüsse und Urteile des Metropolitangerichtes kümmerten.64 Die Judices Argentinensis waren nicht gewillt, einem gutgemeinten Rat, den ihnen das Metropolitangericht gegeben hatte, Folge zu leisten.65 Bekannt ist vor allem die Rivalität zwischen Speyer und Mainz. Das Speyerer Diözesangericht war besonders harthörig gegenüber Weisungen des Mainzer Metropolitangerichtes.66 Selbst der Speyerer Promotor fisci erschien nicht sogleich nach der ersten Ladung vor dem Metropolitangericht.67 Dazu kamen gewisse Unsicherheiten bezüglich der Zuständigkeit. So war umstritten, ob das Metropolitangericht als Gerichtshof erster Instanz tätig werden konnte, wenn ein Suffraganbischof von einem Untergebenen derselben 53
DA Mainz 1/607, S. 19 (27. Juni 1748); 1/610, S. 106 (11. Dezember 1760). DA Mainz 1/617, S. 59 (26. März 1779); 1/619, S. 51 (26. März 1779). 55 DA Mainz 1/041, S. 22 (26. Januar 1750). 56 DA Mainz 1/028, S. 185 (15. Januar 1728); 1/037, S. 128 (17. Mai 1745). 57 DA Mainz 1/026, S. 122 (4. Mai 1724). 58 DA Mainz 1/026, S. 71 (16. März 1724). 59 DA Mainz 1/032, S. 172 (23. Juni 1735). 60 DA Mainz 1/019, S. 6 (15. Januar 1714). 61 DA Mainz 1/037, S. 347 (20. Dezember 1745). 62 DA Mainz 1/203. S. 46 (13. Februar 1693). 63 DA Mainz 1/034, S. 165 (18. Juni 1742). 64 DA Mainz 1/209, S. 379 (30. Januar 1727): spretis processibus ipsi insinuatis inhibitorialibus metropoliticis. 65 DA Mainz 1/208, S. 261 (14. Juni 1725). 66 DA Mainz 1/607, S. 96 (23. Januar 1749); S. 155 – 156 (19. Juni 1749). 67 DA Mainz 1/607, S. 77 (28. November 1748). 54
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beklagt wurde.68 Dem Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal (1774 – 1802) war die Empfindlichkeit der Suffraganbischöfe hinsichtlich des ungeschmälerten Erhalts ihrer Diözesanjurisdiktion bewußt, und er war gewillt, sie zu schonen. Am 24. August 1789 schrieb er dem Metropolitangericht (in bezug auf die Klage eines Klerikers gegen den Promotor fisci, ob processus beschlossen oder abgelehnt werden sollten), die Curia Metropolitica solle alles vermeiden, was die Suffragane zum Anlaß nehmen könnten, zu behaupten, der Mainzer Metropolit trachte danach, seine Jurisdiktion über die kanonischen Grenzen auszudehnen, und sei Mitursache, daß sie die kirchliche Disziplin unter ihrem Klerus nicht gehörig zu handhaben vermöchten.69 Das Metropolitangericht antwortete darauf, daß in Sachen, die einen Suffragan oder dessen Kurie unmittelbar betreffen, weder Processus erkannt noch sonst ein Dekret publiziert würden, ehe es vom Erzbischof genehmigt sei.70 Damit war die Aufsicht des Metropoliten gewährleistet. Der Rechtszug von den Gerichten der Suffraganbistümer zu dem Mainzer Metropolitangericht war anscheinend manchen Parteien und Regierungen nicht willkommen. So ist einmal die Rede davon, daß sich die pars appellata der Metropolitanjurisdiktion entziehen wolle und daher eine Zitation zum Consilium Regium Colmariense erlangt habe.71 Der Streit wurde zwischen dem Kloster Moyenmoutier (Medianum) und einem Geistlichen namens Reischstätter um dessen Kompetenz geführt. In Frankreich hatte man unter gallikanischen Prinzipien den appel comme d’abus eingeführt.72 In den österreichischen Ländern suchte der virulente Josephinismus73 der Metropolitanjurisdiktion Abbruch zu tun. Die josephinistische Kirchenpolitik strebte danach, die Unterstellung einheimischer Bistümer unter auswärtige Metropoliten zu beseitigen.74 So wurden die Appellationen nach Mainz nicht gern gesehen. Solches wird aus den vorderösterreichischen Landen (Freiburg) berichtet. Dort wollte man angeblich das Appellationsverfahren vor zwei einheimischen Prälaten geführt sehen.75 In Mainz wurden die einschlägigen Tendenzen und Pläne aufmerksam beobachtet. In der Sitzung des Metropolitangerichtes vom 19. Mai 1791 zeigte der Geistliche Rat Joseph Hieronymus Karl Kolborn76 an, daß 68 Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. III. Das katholische Kirchenrecht der Neuzeit. Erster Teil, 2., erweit. Aufl., Wien, München 1970, S. 248 f. 69 DA Mainz 1/622, S. 325 f. (27. August 1789). 70 DA Mainz 1/622, S. 326 f. (27. August 1789). 71 DA Mainz 1/208, S. 210 (11. Mai 1724). 72 Ludwig Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz III. Teil, 2. Hälfte, Speyer 1959, S. 141. 73 Peter F. Barton, Josephinismus: TRE XVII, 1988, 249 – 255; Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 584 – 592. 74 Zu den Plänen, keine Appellationen an „ausländische“ Metropoliten zuzulassen, vgl. J.R. Kusˇej, Joseph II. und die äußere Kirchenverfassung Innerösterreichs (Bistums-, Pfarr- und Kloster-Regulierung). Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Staatskirchenrechtes (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 49. und 50. Heft), Stuttgart 1908, S. 129, 156, 177. 75 DA Mainz 1/613, S. 174 f. (30. Mai 1770); S. 184 – 186 (24. September 1770). 76 Friedhelm Jürgensmeier, Kolborn: LThK VI, 3. Aufl., 1997, Sp. 175.
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dem Vernehmen nach der Bischof von Konstanz77 mit den österreichischen Erzherzögen verhandele, um dadurch die bisherigen Streitigkeiten um die geistliche Jurisdiktion beizulegen. Von österreichischer Seite bestreite man ferner dem Bischof als Richter erster Instanz nicht die Jurisdiktion in causis civilibus ecclesiasticorum, aber die Appellation von dieser ersten Instanz wolle man nicht an den Metropoliten laufen lassen, sondern sie an die weltlichen Landstände weisen.78 Diese Absicht war ein schwerwiegender Eingriff in die kirchliche Jurisdiktion.
II. Die Organisation des Mainzer Metropolitangerichtes 1. Bezeichnung Für das Mainzer Metropolitangericht waren verschiedene Bezeichnungen üblich. Am 3. September 1682 sprach es von sich als dem Consistorium Archiepiscopale Moguntinum.79 Achtzig Jahre später war vom forum Metropoliticum80 und von der Metropolitana Curia die Rede.81 Das Mainzer Metropolitangericht konnte aber auch bei der Publikation einer Entscheidung schreiben, diese sei geschehen in Archiepiscopali Moguntino Vicariatu.82 Denn Konsistorium und Vikariat waren ineinander integriert. Das Metropolitangericht bezeichnete sich auch als dicasterium.83 Dieser Begriff ließ die Eigenart des gerichtlichen Charakters der Behörde nicht erkennen. Die Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus des Erzbischofs Franz Ludwig (1729 – 1732)84 nannten die zweite Instanz, das Metropolitangericht, Consistorium (Tit. XIV § 2). Das gleiche Wort wurde aber auch für beide Instanzen des Mainzer geistlichen Gerichtes gebraucht (Tit. XV § 2). Die richterlichen Mitglieder des Konsistoriums wurden als Consistoriales bezeichnet (Tit. XV § 3). Auch Erzbischof Philipp Karl (1732 – 1743) faßte in seiner Verordnung85 unter dem Ausdruck Consistorium beide Instanzen des Mainzer geistlichen Gerichtes zusammen (Präambel). Er gebrauchte das Wort Tribunal als gleichbedeutend mit Vicariatus (Tit. I). Das Vicariat war in der Tat ein Gericht, wenn es streitige Sachen in den Formen des kanonischen Prozesses behandelte und entschied. Das Gericht zweiter Instanz wurde ebenfalls als Tribunal bezeichnet (Tit. III § 2). Aus diesen wechselnden Bezeichnungen ergibt sich die enge personelle Verzahnung der geistlichen Behörden des Mainzer Erzbischofs. Nicht ist daraus zu 77
Maximilian Christoph von Rodt (1775 – 1800). DA Mainz 1/623, S. 68 f. Vgl. S. 74 (26. Mai 1791). 79 DA Mainz 1/202, S. 21. Ebenso S. 40 (19. Januar 1684) u. ö. 80 DA Mainz 1/610, S. 294 (18. März 1762). 81 DA Mainz 1/609, S. 223 (8. März 1759). 82 DA Mainz 1/203, S. 28 (17. April 1692). Ebenso S. 41 (22. Dezember 1692) u. ö. 83 DA Mainz 1/208, S. 240 (1. März 1725). 84 Mainz 1729. 85 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini, Mainz 1738. 78
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schließen, daß Verwaltungsangelegenheiten nicht von Gerichtssachen unterschieden worden wären. 2. Rang Das Metropolitangericht berief sich bei seinen Entscheidungen auf die auctoritas Metropolitica, mit der es handle.86 Hinter ihm stand der Mainzer Erzbischof in seiner Eigenschaft als Vorsteher der Kirchenprovinz; von ihm leitete es seine Autorität ab. Auf die Achtung seines Rangs und seiner Würde legte das Gericht großen Wert. Häufig ist in den Akten die Rede davon, eine Maßnahme gereiche in summi huius Judicii Metropolitici vilipendium.87 Das Gericht hatte einen eigenen stylus huius iudicii Metropolitani.88 Wer an einem Verfahren an ihm teilnahm, hatte sich zu verhalten prout styli in hocce Judicio.89 Im Metropolitangericht existierten Formularbücher, die von dem Sekretär verwaltet wurden.90 Nach ihnen ergingen die prozessualen Handlungen des Gerichtes. Die Urteile des Metropolitangerichts sind in seinen Protokollen wortwörtlich enthalten.91 Regelmäßig bezeichneten sich die Richter in ihren Urteilen als secunda instantia.92 3. Unterscheidungen Die enge Verzahnung von Gericht und Verwaltungsbehörde führte nicht zu Vermischung und Verwirrung der Kompetenzen und der Verfahren. Die Organisation des Mainzer Generalvikariats hielt einmal die Verwaltungs- und die Gerichtssachen, sodann die Gerichtssachen erster und zweiter Instanz, schließlich unter den Gerichtssachen zweiter Instanz die Protonotarial- und die Appellationssachen auseinander. Zu ersterem: Verwaltungsangelegenheiten wurden in den Formen des Verwaltungsverfahrens, Gerichtssachen gemäß den Förmlichkeiten des kanonischen Prozesses erledigt. Daß Metropolitangericht und Generalvikariat sachlich auseinandergehalten wurden, ergibt sich beispielsweise aus der Anfrage des Metropolitangerichts beim Generalvikariat (in einer Ehenichtigkeitsklage), ob es Dispens vom Hindernis der Schwägerschaft erteilt habe.93 Verwaltungs- und Prozeßsachen wurden grundsätzlich an verschiedenen Tagen der Woche behandelt. Die Sessions- und Audienztage für die geistlichen Sachen waren der Montag, für die
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DA Mainz 1/210, S. 189 (23. Juni 1756). Z. B.: DA Mainz 1/203, S. 177 (20. November 1698). 88 DA Mainz 1/002, S. 331 (4. Februar 1660). 89 DA Mainz 1/203, S. 29 (24. April 1692). 90 DA Mainz 1/617, S. 343 (13. Dezember 1781). 91 DA Mainz 1/601, S. 13 (19. Februar 1728). 92 Z. B.: DA Mainz 1/201, S. 147 (22. Dezember 1672); S. 148: (causa) quae coram Nobis in secunda vertebatur Instantia. 93 DA Mainz 1/623, S. 62 (12. Mai 1791). 87
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Prozeß- und Appellationssachen der Donnerstag.94 Zum zweiten: Die erstinstanzlichen Sachen waren beim Vikariatsgericht, die zweitinstanzlichen beim Metropolitangericht anzubringen. Es gab je einen Sekretär für die erstinstanzlichen95 und für die zweitinstanzlichen Gerichtssachen.96 Die Hof- und Staats-Kalender unterschieden seit der Neuordnung von 1784 zwischen dem Erzbischöflichen General-Vikariat (2. Instanz) und dem Erzbischöflichen geistlichen Gericht und Siegelamt (1. Instanz).97 Das Generalvikariat tagte danach am Montag, Dienstag und Donnerstag (Appellationssachen), das geistliche Gericht am Mittwoch und Samstag. Zum dritten: Zweitinstanzliche Sachen, die in erster Instanz in den Suffraganbistümern verhandelt worden waren, und solche, die in den Kommissariaten oder Kommissionen des Mainzer Erzbistums ihre erste Instanz gehabt hatten, wurden als causae Prothonotariales von den causae Appellationis unterschieden.98 Es war eben ein Unterschied, ob Richter einer fremden oder der eigenen Diözese in erster Instanz geurteilt hatten. Nur im ersten Fall konnte die zweite Instanz im strengen Sinne als Metropolitangericht angesprochen werden. 4. Personal Die Personen, die das Metropolitangericht bildeten, waren identisch mit jenen, die zum Vikariatsgericht gehörten, und diese waren wiederum dieselben, die im Generalvikariat auch die Verwaltungssachen erledigten. Allerdings wurde sorgfältig darauf geachtet, daß nicht ein und dieselbe Person die gleiche Sache in zwei Gerichtsinstanzen behandelte. Die Mainzer Hof- und Staats-Kalender führten das Personal des Vikariates sorgfältig auf. So war das Erzbischöfliche Generalvikariat zu Anfang des Jahres 1779 wie folgt zusammengesetzt. Es bestand aus dem Generalvikar, dem Provikar, dem Offizial (oder Protonotarius Metropoliticus), dem Siegler, dem Fiscalis major, zwölf (wirklichen) und elf Titular-Geistlichen Räten, drei Assessoren, dem Secretarius in Metropoliticis und dem Secretarius in Vicarialibus, je zwei Registratoren und Kanzlisten, den Advokaten und den Prokuratoren.99 Die Geistlichen Räte ehrenhalber und das subalterne Personal ausgenommen, waren alle genannten Personen in richterlicher Funktion tätig. Lange Zeit wurden zu Beginn des Protokolls jeweils die Mitglieder des Generalvikariats angegeben, die in einer Sitzung anwesend waren. Selten freilich tagte das Gericht in voller Besetzung. Meistens waren nur einige Mitglieder anwesend. Am 9. Mai 1715 be94 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. X § 3; Kurmainzischer Hofund Staats-Kalender, Auf das Jahr 1779, Mainz 1779, S. 21. 95 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. VII §§ 1 – 3. 96 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. VI §§ 1 – 3. 97 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1786, Mainz 1786, S. 15 – 20 (GV), 21 (GG); Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender auf das Jahr 1794, Mainz 1794, S. 17 – 22 (GV), 23 (GG). 98 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. XV § 1. 99 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1779, Mainz 1779, S. 16 – 21.
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fanden sich beispielsweise im Metropolitangericht lediglich die Räte Krämer, Haaren, Hegers, Kirchner, Emerich und Beringer.100 Am 19. September 1782 waren im Metropolitangericht anwesend der Generalvikar, der Provikar, der Siegler, die Herren Haunold, Turin, Hirn, Hellesdorff (sic), Chandelle, Schmelzer und zwei Accessiten; abwesend waren der Fiskal, Heimes, Koch und der Accessit Gundlach.101 In der benachbarten Diözese Worms waren die Verhältnisse ähnlich.102 Zum dortigen „Bischöflichen Generalvikariat und Konsistorium“ gehörten der Generalvikar, der Provikar, der Offizial und fünf (wirkliche) Geistliche Räte.103 Die Verhandlungen im Metropolitangericht erfolgten in kollegialer Weise. Der Einzeloffizial104 war in der Mainzer Erzdiözese nicht eingeführt. Die richterliche Person, die den Namen Offizial führte, war nur einer der erkennenden Richter, allerdings mit bestimmten Funktionen der Gerichtsverwaltung betraut. Das Kollegium der richterlichen Personen entschied nach Stimmenmehrheit, wie sich aus den rechtlichen Bestimmungen zweifelsfrei ergibt. In den Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus des Erzbischofs Franz Ludwig wurde dem Offizial aufgetragen, die Stimmen zu sammeln und den Beschluß nach der Mehrheitsentscheidung dem Protokoll beizufügen (Tit. IV § 2). Ähnlich hieß es in den Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini des Erzbischofs Philipp Karl, der Offizial diktiere die Beschlüsse „secundum … Conclusa pleni Vicariatus“ (Tit. III § 3). Eigens hervorgehoben wurde, daß der Entscheid über die Annahme einer Berufung bzw. über deren Ablehnung der Mehrheit der Mitglieder des Konsistoriums bedurfte.105 Das Protokoll bezeugt diese Praxis. Die Ablehnung einer Appellation z. B. erfolgte nach Äußerung des Berichterstatters mit Stimmenmehrheit: Facta relatione Domini Officialis cum voto per unanima.106 5. Ort und Zeit der Sitzungen Nach den Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus des Erzbischofs Franz Ludwig war der ordentliche Gerichtsort das Haus „auff der
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DA Mainz 1/206, S. 21. DA Mainz 1/620, S. 171. 102 Das Bistum Worms. Von der Römerzeit bis zur Auflösung 1801. In Verbindung mit Andreas Urban Friedmann, Burkard Keilmann, Paul Warmbrunn und Hans Ammerich, hrsg. von Friedhelm Jürgensmeier (= Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte 5. Bd.), Würzburg 1997, S. 231. 103 Der geistliche und weltliche Staat des Bisthums und Fürstenthums Worms (angeheftet dem Hof- und Staats-Kalender für 1779), S. 8 f. 104 Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 370 f. 105 Nisi major pars Consistorii vota sua dederit in scriptis (Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. XIV § 2). 106 DA Mainz 1/616, S. 256 (15. Januar 1778). 101
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Rhent“.107 Die Urteile wurden dementsprechend verkündet in loco Judicii solito.108 Gerichtstag war nach diesen Ordinationes der Donnerstag, und zwar für beide Instanzen (Tit. XII § 5). Die Verwaltungssachen wurden am Montag erledigt (Tit. XII § 4). Die Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini des Erzbischofs Philipp Karl hielten an dieser Einteilung fest (Tit. X § 3). Nicht immer ließ sie sich lückenlos durchführen. So lassen sich Verhandlungen des Metropolitangerichts auch an Montagen nachweisen.109 Die Sitzungen sollten von acht bis zwölf Uhr andauern.110 Die Zahl der Sachen, die im Metropolitangericht an einem Sitzungstag verhandelt wurden, war sehr verschieden. Es konnten vier111 oder nur eine sein.112 In der Sitzung vom 16. Januar 1738 kamen 17 verschiedene Angelegenheiten zur Verhandlung.113 In der Sitzung vom 30. März 1786 befaßte sich das Metropolitangericht mit sechs Schwängerungs- bzw. Verlöbnissachen.114 6. Das Verhältnis zum Erzbischof Die Mainzer Erzbischöfe mögen sich in unterschiedlichem Maße für die Tätigkeit ihrer Rechtsprechungsorgane interessiert haben. Vom letzten Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal ist bekannt, daß er über ihr Handeln genau unterrichtet sein wollte. Die Protokolle der Sitzungen waren einzusenden und wurden von ihm mit seinen Bemerkungen (cum Inscriptis) zurückgeschickt. Der Erzbischof beobachtete die Tätigkeit des Metropolitangerichtes sorgfältig und teilte ihm seine Beobachtungen gegebenenfalls mit.115 So fragte er beispielsweise an, ob alle Geistlichen Räte bei Abfassung eines bestimmten Urteils anwesend gewesen seien.116 Einmischungen in die Verfahren sind indes nicht festzustellen. Am 20. April 1788 schrieb der Erzbischof dem Metropolitangericht, er lasse sich zwar nie „in die Materialien eines Processes“ ein, sondern überlasse dies lediglich den Pflichten der beim Metropolitangericht angestellten Räte und dem Gutbefinden der Parteien, falls sie glaubten graviert zu sein, weitere Rechtsmittel zu ergreifen. Doch könne er nicht zugeben, daß bei der Rechtspflege gegen geltende Verordnungen 107 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit XII § 1. Vgl. Wolfgang Dobras, Die kurfürstliche Stadt bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1462 – 1648), in: Mainz. Die Geschichte einer Stadt. Hrsg. von Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz, Mainz 1998, S. 227 – 263, hier S. 245. 108 DA Mainz 1/613, S. 118 (15. März 1770). 109 Z. B.: DA Mainz 1/614, (5.1., 3.2., 23.3., 6.7., 13.7. usw. 1772). 110 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. XII § 3; Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. X § 2. 111 DA Mainz 1/203, S. 153 (16. Januar 1698). 112 DA Mainz 1/203, S. 155 (15. Februar 1698). 113 DA Mainz 1/603, S. 119 – 124. 114 DA Mainz 1/621, S. 323 – 329. 115 DA Mainz 1/619, S. 167 f. (2. Dezember 1779). 116 DA Mainz 1/619, S. 225 (9. März 1780).
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verstoßen werde. In solchen Fällen sei beim Gesetzgeber – dem Erzbischof – eine authentische Interpretation einzuholen.117 Erthal drängte auf rasche Erledigung der Streitsachen.118 Monatlich hatte ihm das Metropolitangericht eine Tabelle einzuschicken, welche Sachen bei ihm anhängig waren.119 Als der Erzbischof die Tabelle der im Metropolitangericht anhängigen Sachen für Januar 1788 eingesehen hatte, bemerkte er mißfällig, daß die Erledigung verschiedener Causae noch nicht erfolgt sei, obwohl die Sporteln schon geraume Zeit bezahlt seien. Wenn diese Causae in der nächsten Tabelle wieder „ohnberichtigt“ erschienen, werde er die Akten einem anderen Referenten zuweisen lassen.120 Die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen Streitsachen beendigt wurden, hing eben in hohem Maße von der Arbeit des Berichterstatters ab. So sehr das Metropolitangericht um rasche Erledigung des Verfahrens bemüht war, so wenig ließ sich stets die lange Dauer der Prozesse vermeiden. Als sich der Erzbischof erkundigte, weshalb eine seit mehr als zwei Jahren eingebrachte Sache nicht weiter gediehen sei, gab das Metropolitangericht zur Antwort, daß die Parteien es bisher versäumt hätten, die Originalprotokolle, auf die es ankomme, vorzulegen.121 Infolge von Ursachen, die das Metropolitangericht nicht zu vertreten hatte, kam es manchmal zu sehr langer Dauer der Verfahren. Ein Beispiel: Das Augsburger Diözesangericht hatte sein Urteil in einer Streitsache am 20. Juni 1754 gefällt. Die Entscheidung des Mainzer Metropolitangerichtes erging am 7. Juli 1757.122
III. Die streitigen Gegenstände Das Mainzer Metropolitangericht war für alle Gegenstände zuständig, die in die Kompetenz der geistlichen Gerichtsbarkeit123 gehörten und in zweiter Instanz verhandelt wurden. Doch lassen sich Schwerpunkte seiner Tätigkeit ausmachen, einige seien genannt. 1. Verlöbnis- und Ehesachen An der Spitze der Fälle stehen unzweifelhaft Streitsachen um Verlöbnisse und Ehen, wobei eine große Mannigfaltigkeit obwaltete. Am häufigsten waren es Sponsaliensachen,124 die vor das Metropolitangericht gebracht wurden. Beispiels117
DA Mainz 1/622, S. 76 – 78 (24. April 1788). DA Mainz 1/620, S. 543 f. (4. März 1784). 119 DA Mainz 1/620, S. 490 (11. Dezember 1783). 120 DA Mainz 1/622, S. 29 f. (21. Februar 1788). 121 DA Mainz 1/622, S. 214 f. (22. Januar 1789). 122 DA Mainz 1/210, S. 317. 123 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II, S. 311 – 318; Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, S. 433 f. 124 Georg May, Die kirchliche Eheschließung in der Erzdiözese Mainz seit dem Konzil von Trient (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 97), Mainz 1999, S. 43 – 218. 118
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weise seien folgende Fälle angeführt. Aus Paderborn kam eine Klage wegen eines Verlöbnisses, der Satisfaktion und des Arrestes über die dos zwischen dem Franz Lorenz Bisping und der Sophia Catharina Steinecker vor das Metropolitangericht.125 Aus dem Bistum Fulda wurde eine Streitsache wegen sponsalia, resaltus et impraegnatio nach Mainz gebracht.126 Am 18. September 1704 ergingen gleich zwei Entscheidungen des Metropolitangerichtes, in denen jeweils der Mann bzw. die Frau verurteilt wurden, die Ehe mit dem Prozeßgegner einzugehen.127 Ein andermal bestätigte das Metropolitangericht den Spruch erster Instanz mit den lapidaren Worten: aut ducat aut dotet,128 prolem, alimenta, expensas puerperii et ablactationis iuxta stylum Curiae Judicis a quo persolvat.129 Überaus zahlreich waren Alimentationsklagen.130 In einem Falle wurde der Berufungskläger von der Klage auf Eingehung der Ehe losgesprochen, während das Urteil der ersten Instanz in bezug auf die Schwängerung und den Unterhalt der Nachkommenschaft bestätigt wurde.131 Um die Gewährung der Erlaubnis zur Eheschließung mit Leibeigenen (homines proprii) stritten die Regierung von Baden-Baden und der Abt von Schwarzach132 vor dem Metropolitangericht. Das Gericht fällte das Urteil, daß Leibeigene des Abtes nicht ohne vorherige manumissio133 kopuliert werden dürften.134 Der Straßburger Offizial hatte die Maria Magdalena Müller verurteilt, ihrem Ehemann Friedrich Müller beizuwohnen. Das Metropolitangericht verwarf das Urteil und ordnete die Trennung der beiden Eheleute an, bis der Mann rechtmäßige Beweise der Besserung seines Lebens und des friedlichen Zusammenlebens geben würde.135 Auch aus der Diözese Eichstätt kam eine Trennungssache nach Mainz.136 Der Augsburger Offizial hatte den Franz Andreas Maria von Vacano und die Ehefrau Aloysia von Tisch und Bett geschieden. Der Ehemann legte dagegen Berufung ein, und das Metropolitangericht gab ihm recht. Da die (genügenden) Gründe der Trennung nicht feststünden, hätten die beiden friedlich zusammenzuleben.137 Aus 125
DA Mainz 1/601, S. 263 f. (28. Juni 1731). DA Mainz 1/614, S. 302 f. (7. Juli 1773): Anna Maria Volcker – Valentin Hartmann. 127 DA Mainz 1/204, S. 162 f. 128 Zu diesem Prinzip vgl. Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes II, S. 138 A. 103. 129 DA Mainz 1/208, S. 188 (9. Dezember 1723): Andreas Wannot – Magdalena Recher. 130 Z. B.: DA Mainz 1/623, S. 372 f. (30. Januar 1794); S. 376 – 378 (6. Februar 1794); S. 380 – 382 (13. Februar 1794); S. 407 – 413 (27. März 1794); S. 606 f. (2. Juli 1795). 131 DA Mainz 1/204, S. 49 (1. Dezember 1701): ab in puncto promissi matrimonii instituta actione absolvendum ac desuper decretam ac emanatam inhibitionem de non contrahendo alia sponsalia cassandam, in coeteris vero impraegnationem et alimentationem prolis concernentibus punctis priorem sententiam confirmandam esse. 132 Karl Suso Frank, Schwarzach: LThK IX, 3. Aufl., 2000, Sp. 325. 133 F.-W. Henning, Leibeigenschaft: HRG II, 1978, Sp. 1761 – 1772. 134 DA Mainz 1/609, S. 107 – 109. 135 DA Mainz 1/210, S. 177 f. (3. Juni 1756). 136 DA Mainz 1/602, S. 242 f. (5. Juli 1736): Ehepaar Mahler. 137 DA Mainz 1/210, S. 183 (23. Juni 1756). 126
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Augsburg kam auch eine Klage wegen Nichtigkeit der Ehe nach Mainz.138 Das Metropolitangericht gab dem Augsburger Vikariat auf, über die Glaubwürdigkeit der Francisca Mayer, welche die Impotenz ihres Mannes beschworen hatte, den Siebenhändereid ihrer Verwandten abzunehmen. Falls nicht so viele Personen erreichbar seien, durften es auch weniger sein, beim Fehlen von Verwandten (propinquorum) konnten es auch Nachbarn sein (vicinis).139 2. Geistliche Stellen Nicht selten waren der Streitpunkt eines Verfahrens, das vor dem Metropolitangericht geführt wurde, die Besetzung geistlicher Stellen und die Verpflichtungen bzw. die Rechte der Stelleninhaber. Aus Augsburg kam die Sache eines Pfarrers, der um seine Congrua140 kämpfte, vor das Metropolitangericht.141 Das Kloster St. Etto (Ettenheimmünter) in der Straßburger Diözese stritt mit dem Pfarrer Franz Mang in Riegel/Diözese Konstanz um die transactio über die Congrua des Pfarrers. Die Pfarrei war dem Kloster inkorporiert.142 Wenn der Streit um das Pfarramt ging, gab das Metropolitangericht dem Diözesangericht den Befehl, während der Streitigkeiten der Berufung einen geeigneten Kleriker für die Seelsorge zu bestellen und sowohl dem Vertreter als auch dem appellierenden Pfarrer bis zum Ergehen des Endurteils die Congrua zu bestimmen.143 Aus Würzburg kam der Streit zwischen der Abtei Amorbach und dem Promotor fisci um die Besetzung der Pfarrei und Frühmesserei Buchen mit einem Regularen an das Metropolitangericht.144 Die Karmeliten in Hirschhorn klagten in zweiter Instanz gegen den Speyerer Promotor fisci um die Aufrechterhaltung im Quasibezirk des Rechtes, einen Religiosen ihres Ordens auf die Pfarrei Eppingen zu präsentieren.145 Eine Konstanzer Streitsache über die Residenz eines Benefiziaten und die Verpflichtung, die erste Messe an Sonn- und Festtagen zu lesen, kam ebenfalls vor das Mainzer Metropolitangericht.146 Aus Paderborn wurde eine Patronatsstreitigkeit nach Mainz gebracht.147 Die Vicarii Gregoriani der Speyerer Domkirche Klippel und Bischlepp führten ihren Rechtsstreit mit dem Promotor fisci der Speyerer Kurie beim Mainzer Metropolitangericht ein. Es ging hierbei um die Aufrechterhaltung des Besitzes oder Quasi138 DA Mainz 1/602, S. 13 f. (28. Januar 1734): Anton und Barbara Storck aus Schwabmünden. 139 DA Mainz 1/606. S. 219 (2. Januar 1747). Vgl. S. 279 f. (4. Mai 1747): Nichtigerklärung der Ehe wegen Impotenz des Mannes. 140 R. von Scherer, A. Lehmkuhl, Congrua: KL III, 2. Aufl., 1884, Sp. 938 – 944. 141 DA Mainz 1/623, S. 51 (14. April 1791). 142 DA Mainz 1/208, S. 5 f. (22. Februar 1720). 143 DA Mainz 1/605, S. 193 (5. August 1743). 144 DA Mainz 1/606, S. 34 f. (3. Juni 1745). 145 DA Mainz 1/609, S. 94 f. (13. April 1758). 146 DA Mainz 1/210, S. 184 f. (23. Juni 1756). 147 DA Mainz 1/602, S. 170 f. (24. November 1735).
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besitzes des Patronatsrechtes der Pfarrei Langenbrücken.148 Aus Straßburg wurde eine Streitsache um die Wiedererstattung der Pfarreinkünfte der Kirche zu Herbolzheim in Mainz verhandelt. Appellationskläger waren der Erzpriester und der Kämmerer des Landkapitels zu Lahr, Appellationsbeklagter war der Studiosus Martin Keller.149 Der Pfarrer Andreas Weinum zu Schweighausen in der Diözese Straßburg, der auf die Pfarrei Reichstett präsentiert war, legte Berufung ein gegen den Fiskal der Straßburger Kurie wegen der Frage der Gültigkeit der Präsentation.150 Der Peter Schmitz, Vikar am Speyerer Dom, brachte seine Berufungsklage wegen Entzug der Vikarie aufgrund mehrerer delicta carnis gegen den Speyerer Fiskal vor das Metropolitangericht.151 Der Kanoniker Johann Jacob Duras vom Speyerer Stift St. Guido führte eine Berufungsklage gegen den Speyerer Promotor fisci wegen dauernden Entzugs des Kanonikats und der Präbende in Mainz ein.152 Aus Worms kam die Klage des Caspar Adolph Heimes, Canonicus Domicellarius Senior der Stiftskirche BMV, gegen den Servaz Franz Brentano, Canonicus Domicellarius Junior der Kirche, wegen admissio ad residentiam et Capitulum dieser Kirche nach Mainz.153 Aus der Diözese Augsburg wurde die Appellationssache des Liber Baro de Rehlingen in Laufen gegen die Baronin Maria Corona de Rehlingen in Knöringen nach Mainz gebracht. Der Streit ging um den dritten Teil der Kompetenz154 von fünfzig Gulden, die dem Pfarrer in Burgau jährlich zu zahlen waren.155 Ebenfalls aus Augsburg wurde der Rechtsstreit um das Patronatsrecht auf die Pfarrkirche in Hurlach zwischen einem Teil des Kollegiatkapitels St. Moritz gegen den anderen Teil in Mainz eingeführt.156 3. Pfarrechte Auch um die Pfarrechte konnte gestritten und die Sache beim Metropolitangericht eingebracht werden. Die Pfarrer Kaintz in Berolzheim und Georg Mayer in Burgheim/Diözese Augsburg brachten ihren Rechtsstreit um die novalia157 und die Pfarrgrenzen vor die zweite Instanz.158 Aus Eichstätt wurde eine Streitsache zwischen dem Pfarrer Johannes Schmitt in Pietenfeld einerseits und dem Promotor fisci der Bischöflichen Kurie Eichstätt sowie den Pfarrangehörigen in Landershofen 148
DA Mainz 1/607, S. 120 f. (27. März 1749). DA Mainz 1/606, S. 126 f. (5. Mai 1746). 150 DA Mainz 1/606, S. 137 f. (26. Mai 1746). 151 DA Mainz 1/606, S. 139 f. (26. Mai 1746). 152 DA Mainz 1/61, S. 51 f. (23. Dezember 1762). Vgl. S. 56 (19. Januar 1763). 153 DA Mainz 1/605, S. 203 – 205 (5. September 1743). 154 Permaneder, Competenz: KL III, 2. Aufl., 1884, Sp. 761. 155 DA Mainz 1/601, S. 210 (14. Dezember 1730). 156 DA Mainz 1/601, S. 228 (15. Februar 1731). 157 Zum Zehnt und seinen verschiedenen Arten vgl. H.-J. Becker, Zehnt: HRG V, 1998, Sp. 1629 – 1631. 158 DA Mainz 1/601, S. 441 (27. August 1733). 149
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anderseits in Mainz verhandelt. Der Streitpunkt war die Frage, ob die Filialbewohner die Osterkommunion in der Mutterkirche empfangen müßten und ob der Pfarrer im Besitz der filialitas bzw. des Pfarrechtes belassen würde.159 Aus Konstanz kam eine Berufungsklage nach Mainz wegen Trennung der Filialkirche Hohenrechberg von der Mutterkirche Waldstetten. Sie wurde eingebracht vom Kapitel Ellwangen (Elwacensis) gegen die Gemeinde Hohenrechberg.160 Das Ritterstift BMV und zu den hl. Aposteln Petrus und Paulus in Bruchsal und sein Prediger stritten gegen den Fiskal der Speyerer Kurie um das jus funerandi.161 Consul und Senatus der Stadt Munderkingen lagen in zweiter Instanz im Streit mit dem Prälaten in Marchthal (Obermarchtal)162 um die Verwaltung der Güter der Fabrik der Pfarrkirche in Munderkingen und anderer Benefizien ebenda.163 4. Baupflicht Häufig waren Prozesse wegen der Baupflicht164 an Kirchen und Pfarrhäusern. Aus Konstanz kam die Streitsache, wer die Kirche und die pfarrlichen Gebäude in Thiengen zu erbauen habe, vor das Metropolitangericht.165 Das Augsburger Kathedralkapitel brachte einen Rechtsstreit wegen der concurrentia ad restaurationem aedium Parochialium in Sonthofen nach Mainz.166 Aus der Diözese Würzburg wurde die Kontroverse zwischen den Gemeinden Hochstatt (Hohestadt) und Acholshausen in Mainz eingeführt. Sie drehte sich um die Aufteilung der Hand- und Spanndienste167 für die Reparatur und die Erweiterung der Kirche in Acholshausen zwischen den beiden Gemeinden.168 5. Zehnt In zahlreichen Fällen wurden Zehntstreitigkeiten vor das Metropolitangericht gebracht.169 Die Gemeinde Seeg in der Diözese Augsburg stritt mit ihrem Pfarrer in zweiter Instanz um die decimae minores.170 Aus der Diözese Straßburg kam ein Streit über den Graszehnten (puncto decimarum foeni) zwischen dem Kloster Schuttern einerseits und den Einwohnern und der Gemeinde Sasbach anderseits vor 159
DA Mainz 1/613, S. 200 – 202 (5. Dezember 1770). DA Mainz 1/614, S. 33 f. (4. Juli 1771). 161 DA Mainz 1/601, S. 351 f. (11. September 1732). 162 Rudolf Reinhardt, Marchtal: LThK VI, 3. Aufl., 1997, Sp. 1307 f. 163 DA Mainz 1/206, S. 50 f. (19. Dezember 1715). 164 Hans Paarhammer, Baulast, kirchliche: LThK II, 3. Aufl., 1994, Sp. 89 f. 165 DA Mainz 1/210, S. 186 f. (23. Juni 1756). 166 DA Mainz 1/604, S. 55 – 57 (7. April 1740). 167 G. Theuerhauf, Frondienst: HRG I, 1971, Sp. 1306 – 1309. 168 DA Mainz 1/609, S. 131 f. (5. Juli 1758). 169 DA Mainz 1/605, S. 135 f. (24. Januar 1743); S. 176 f. (30. Mai 1743). 170 DA Mainz 1/601, S. 99 (5. Mai 1729). 160
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das Metropolitangericht.171 Aus der Diözese Konstanz wurde die Streitsache um den Großzehnt zwischen dem Freiherrn von Freiberg und dem Pfarrer Ferdinand Mack in Gundershofen in Mainz eingeführt.172 Die Stadt Philippsburg führte einen Berufungsprozeß gegen den Promotor fisci saecularis von Speyer wegen des Empfangs der Kleinzehnten in Natur.173 Aus Würzburg kam eine Appellationssache betreffend das jus Albergariae (Herbergsrecht)174 zwischen dem Kloster Neustadt und dem Pfarrer zu Steinfeld, Caspar Höpfner, nach Mainz.175 6. Geldschuld und Nachlässe Weniger häufig waren zweitinstanzliche Verfahren um Geldschuld oder um Nachlässe. Die strittigen Beträge dürften häufig so geringfügig gewesen sein, daß ein Rechtsstreit darüber nicht lohnte. Außerdem gab es eine Summa appellabilis, 176 die vorliegen mußte, damit in zweiter Instanz darum gestritten werden durfte. Aus Worms kam eine Berufungssache nach Mainz zwischen dem Ritterstift in Wimpfen und der Witwe Wahl wegen einer Geldschuld von 500 Gulden.177 Der Pfarrer in Sulz/Diözese Straßburg, Franz Joseph Fuard, prozessierte in zweiter Instanz gegen den Praetor in Molsheim, Franz Schneider, um die Bezahlung von 31 Ohm und sechs Maß Wein.178 Der Doktor Betz brachte einen in Speyer erstinstanzlich verhandelten Rechtsstreit mit den Kapuzinern der rheinischen Provinz wegen einer Schenkung unter Lebenden vor die zweite Instanz.179 Joseph Rutger, Erbe des verstorbenen Kanonikers Buschgen, stritt in zweiter Instanz gegen Benedict Remmel und die Gemeinde Schifferstadt und Peter Tretter in Harthausen wegen des damnum datum ex negotiatione Tabacaria.180 Aus Würzburg wurde der Streit zwischen den Erben eines Pfarrers in Mainz eingeführt.181 Eine Augsburger Appellationssache betraf die Klage des Juden Neuburger gegen die übrigen Gläubiger des verstorbenen Freiherrn von Freyberg.182 Aus Konstanz kam der Streit um eine jährliche 171
DA Mainz 1/601, S. 71 (9. Dezember 1728). DA Mainz 1/603, S. 184 f. (18. September 1738). 173 DA Mainz 1/608, S. 20 f. (27. Mai 1751). 174 K.D. Sievers, Herberge: HRG II, 1978, Sp. 82 – 84. 175 DA Mainz 1/601, S. 156 f. (16. März 1730). 176 Zu diesem Begriff vgl. G. Buchda, Appellation: HRG I, 1971, Sp. 196 – 200, hier Sp. 198. Am 4. Januar 1779 schrieb das Metropolitangericht an das Hildesheimer Vikariat, daß das erzbischöfliche Vikariat gegen die angesonnene Festsetzung der Summa appellabilis von 150 Gulden (jedoch ohne die Zinsen mitzurechnen) in Fällen, wo kein immerwährendes praejudicium obwaltet, nichts zu erinnern habe (DA Mainz 1/617, S. 27, 4. Januar 1779). 177 DA Mainz 1/602, S. 101 f. (3. März 1735). 178 DA Mainz 1/608, S. 129 f. (13. April 1752). 179 DA Mainz 1/609, S. 161 – 163 (20. September 1758); S. 209 – 211 (24. Januar 1759). 180 DA Mainz 1/606, S. 269 f. (20. April 1747). 181 DA Mainz 1/608, S. 435 (12. September 1754). 182 DA Mainz 1/606, S. 61 f. (9. September 1745). 172
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Pension von 150 Gulden rheinischer Münze zwischen Franz Christoph Rischer und Franz Theodor Savio nach Mainz.183 In dem Streit zwischen dem Kanoniker Marcus Antonius Zeiger von der Stiftskirche zum hl. Petrus in Augsburg mit dem Pfarrer Joseph Simon von Stock in Oberroth war der Gegenstand das locatum conductum (Miet- oder Pachtvertrag).184 Wie sich aus diesen Beispielen ergibt, wurde das Metropolitangericht auch mit vielen Streitsachen befaßt, die Kenntnis des Zivilrechts voraussetzten.
IV. Die Vornahme der Berufung an das Mainzer Metropolitangericht Die Appellation ist die Anrufung eines höheren Richters in der Absicht, von ihm eine Entscheidung zu erlangen, ob das Urteil des Unterrichters gesetzmäßig ist oder nicht und demgemäß entweder bestätigt oder geändert (bzw. verworfen) werden muss. 1. Das Urteil erster Instanz Das Mainzer Metropolitangericht war Berufungsinstanz. Die Appellation ging stets vom niederen Richter „ad altiorem judicem“.185 Der Ausgangspunkt für ein Verfahren vor dem Mainzer Metropolitangericht war daher das Urteil der unteren Instanz, von dem sich eine Partei oder beide Parteien186 beschwert fühlten. Die Appellation war vor dem iudex a quo innerhalb von zehn Tagen vom Augenblick der Publikation des Urteils anzumelden, entweder mündlich sogleich nach Verkündung des Urteils187 oder schriftlich danach. Der Libellus Appellationis bzw. die Scedula Appellationis wurde dem Vorrichter übergeben.188 Der Appellant drückte darin seine Beschwernis beispielsweise mit folgenden Worten aus: Cum suus Dominus principalis … a modo lata sententia se gravatum sentiat ac salvo Dominorum Judicum respectu se magis gravari pertimescat.189 Appellation konnte nicht nur gegen Endurteile, sondern auch gegen manche Zwischenurteile vorgebracht wer-
183
DA Mainz 1/601, S. 99 f. (5. Mai 1729). DA Mainz 1/607, S. 167 f. (14. August 1749). 185 DA Mainz 1/045, S. 349 (14. Oktober 1754). 186 Appellation beider Parteien: DA Mainz 1/203, S. 74 (1. April 1694). 187 Appellat et provocat stante pede et viva voce ad superiorem Judicem competentem Apostolos una cum actis instantissime requirendo et ad quaevis solennia se offerendo (DA Mainz 1/203, S. 74, 1. April 1694); ad superiorem quemcunque competentem Judicem stante pede et viva voce appellat et provocat, apostolos una cum actis et rationibus decidendi instanter instantius et instantissime requirendo, ac se ad quaevis solennia offerendo, copiam sententiae in debita forma petens (DA Mainz 1/203, S. 196, 5. Oktober 1699). 188 DA Mainz 1/501, S. 504 (30. Juni 1773). 189 DA Mainz 1/203, S. 196 (5. Oktober 1699). 184
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den.190 Der Appellant durfte innerhalb der Appellationsfrist selbständig appellieren oder nach Ablauf der Frist die Adhäsion, d. h. das Vorbringen von Beschwerdepunkten zu der Appellation der gegnerischen Partei, erklären.191 Der Appellant hatte vom Unterrichter Apostoli dimissorii192 zu erbitten, d. h. eine Bescheinigung, daß die Berufung eingelegt sei und welche Meinung er über die Einlegung der Appellation habe.193 Sie wurden vom Mainzer Metropolitangericht Apostoli reverentiales genannt,194 manchmal auch als Apostoli testimoniales bezeichnet.195 In den Apostoli reverentiales erklärte der iudex a quo, er habe gegen die Appellation nichts einzuwenden. In den Apostoli refutatorii erklärte er, er halte die Berufung für verwerflich.196 Welcher Art die Apostoli waren, hatte freilich auf den Verlauf des weiteren Appellationsverfahrens keinen Einfluss. Der obsiegenden Partei lag begreiflicherweise daran, daß die Appellation als unbegründet bezeichnet wurde, und sie suchte dafür rechtliche Gründe. Der Prokurator Culman begründete beispielsweise seinen Antrag, auf Apostoli refutatorii zu erkennen, mit dem Satz: quandoquidem appellatio contumaci non competat.197 Ähnlich erklärte der Prokurator Dupuis das gleiche Begehren.198 2. Dem Metropolitangericht vorzulegende Dokumente Dem Metropolitangericht waren zur Einbringung der Berufung eine Reihe von Dokumenten bzw. Akten vorzulegen. Der Appellant hatte einmal nachzuweisen, daß er bei der niederen Instanz die Berufung eingelegt habe. Zu diesem Zweck wurde dem Oberrichter ein Zeugnis des Unterrichters vorgewiesen, das die Einlegung der Berufung bescheinigte.199 Manchmal ist vom instrumentum appellationis,200 gelegentlich vom libellus appellationis summarius201 die Rede. Der Appellant
190 DA Mainz 1/201, S. 134 (7. April 1672); 1/206, S. 220 (4. Mai 1719). Der Gerichtsbeschluß lautete freilich in diesem Falle: Appellationi deferri non potest. Vgl. Conc. Trid. Sess. 24 Can. 20 de ref. 191 DA Mainz 1/009, S. 204 (17. September 1693). Vgl. VI 1,6,4. 192 C. 2 q. 6 c. 24. Vgl. F. Merzbacher, Apostelbrief: HRG I, 1971, Sp. 195 f. 193 Clem. 2,12,1. 194 Z. B.: DA Mainz 1/610, S. 137 (4. März 1761). 195 DA Mainz 1/002, S. 211 (19. September 1657). 196 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 534 – 537. 197 DA Mainz 1/203, S. 28 (17. April 1692). 198 Cum lis in contumaciam partis adversae sit acceptata pro contestata et etiam sententia sit lata de qua appellatio non potest dari (DA Mainz 1/203, S. 41, 22. Dezember 1692). 199 DA Mainz 1/205, S. 30 (20. Dezember 1707): attestatum interpositae appellationis; 1/210, S. 152 (18. März 1756): documentum interpositae appellationis. 200 DA Mainz 1/203, S. 177 (20. November 1698). 201 DA Mainz 1/205, S. 5 (28. Februar 1707).
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mußte sodann das Urteil des Unterrichters in forma probante vorlegen,202 d. h. als beweiskräftige Urkunde, denn davon fühlte er sich beschwert. Auf Antrag beschloß das Gericht, bei dem Berufung eingelegt wurde, regelmäßig: Indulgentur utrique parti petitae Copiae in forma probante.203 Die appellierende Partei hatte weiter bei der höheren Instanz die Annahme der Berufung zu erbitten. Zu diesem Zweck wies sie die Supplica pro decernendis appellationis processibus vor.204 Im Protokoll findet sich dann der Eintrag: Procurator Schmidt nomine appellantis exhibet ad protocollum humillimam Supplicam pro decernendis processibus plenariis.205 Dazu kam die Beschwerdeschrift, der libellus gravaminum.206 Darin war anzugeben, von welchem Teil des Urteils des Vorrichters der Appellant sich beschwert fühlte.207 Die Beschwerdeschrift mußte in Recht und Tatsachen begründet sein.208 In den causae Prothonotariales, d. h. den aus den Suffraganbistümern eingeführten Prozessen, mußten der libellus gravaminum und die Supplik in lateinischer Sprache abgefaßt sein.209 Es kam darauf an, den libellus gravaminum rechtzeitig, d. h. intra currens adhuc fatale vorzulegen.210 Für die (Anfertigung und) Einreichung des libellus gravaminum erbat die appellierende Partei häufig eine längere Frist.211 Ein Prokurator bat, daß das Metropolitangericht, da er wegen der Knappheit der vom judex a quo angesetzten Frist den libellus gravaminum noch nicht vorlegen konnte, ad advertendum praejudicium a Judice a quo comminatum ein decretum de nihil innovando erlasse. Das Metropolitangericht kam der Bitte nach und erließ ein decretum inihibitorium und gab ihm eine Frist von fast neun Monaten.212 Der Prokurator der appellierenden Partei hatte schließlich die verschlossenen und versiegelten Akten der Vorinstanz dem höheren Gericht und der Gegenpartei vorzulegen.213 Der iudex a quo war verpflichtet, die Prozeßakten mit den Apostoli innerhalb von 30 Tagen auszuhändigen.214 Hier gab es öfters Schwierigkeiten. Manche Unterrichter ließen
202
DA Mainz 1/203, S. 5 (28. April 1689): sententiam in forma probante petens; 1/205, S. 37 (8. März 1708); 1/604, S. 35 (24. Dezember 1739). 203 DA Mainz 1/203, S. 5 (28. April 1689). 204 DA Mainz 1/613, S. 13 (13. Februar 1769); 1/203, S. 159 (6. März 1698). 205 DA Mainz 1/203, S. 11 (16. August 1690). 206 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. XIV § 3. Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 554. 207 DA Mainz 1/203, S. 33 (11. September 1692); 1/205, S. 53 (16. August 1708); S. 59 (13. Oktober 1708). 208 DA Mainz 1/205, S. 38 (8. März 1708): in jure et facto fundatum libellum gravatorialem. 209 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. III § 1. 210 DA Mainz 1/610, S. 294 (18. März 1762). 211 DA Mainz 1/610, S. 156 (17. April 1761): bis 6. September 1761. 212 DA Mainz 1/610, S. 251 (17. Dezember 1761). 213 DA Mainz 1/203, S. 159 (6. März 1698); 1/613, S. 135 (26. April 1770). 214 C. 2 q. 6 c. 24: Trid. Sess. 13 Can. 2 de ref.; Sess 24 Can. 20 de ref.
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sich auch durch vielfache Bitten nicht bewegen, die Akten herauszugeben.215 Das Augsburger Konsistorium wurde von dem Metropolitangericht gemahnt, die aufgelaufenen Akten der ersten Instanz auszuliefern.216 Ein Prokurator wies die Urkunde vor, mit der die Übersendung der Akten aus Paderborn erbeten wurde. Aber trotz multivariae sollicitationes sei sie bisher nicht erfolgt. Er erbat deswegen vom Metropolitangericht ulteriores compulsoriales.217 Ein anderer Prokurator erklärte, er habe fast vier Jahre lang die Akten der Vorinstanz nicht haben können.218 Wenn der Berufungskläger die Akten der ersten Instanz innerhalb der festgesetzten Zeit nicht beibrachte, stellte der Prokurator des Beklagten gewöhnlich den Antrag, die Richter möchten einen endgültigen Termin dafür festsetzen, bei dessen Verstreichen die Sache an die erste Instanz zurückgegeben werden sollte.219 Der Appellant hatte endlich dem unteren Richter nachzuweisen, daß er die Appellation bei der höheren Instanz eingebracht habe. Das Straßburger Diözesangericht hatte einem Appellanten für den Nachweis, daß er die Berufung in Mainz eingebracht habe, eine Frist von 40 Tagen festgesetzt. Diesem erschien der Zeitraum zu kurz, der Anwalt konnte in dieser Frist den libellus gravaminum nicht erstellen. So bat er das Metropolitangericht, den terminus hominis auf den terminus legis oder wenigstens auf zwei Monate auszudehnen. Das Mainzer Gericht nahm die prorogatio fatalis auf zwei Monate vor.220 Wenn die erforderlichen Unterlagen vollständig vorlagen und die Vorschriften des Prozeßrechtes eingehalten waren, entschied das Metropolitangericht: hanc causam ad hoc Archiepiscopale Dicasterium legitime devolutam.221 Im gegenteiligen Fall hieß es: Appellationem ad hocce Judicium Metropolitanum non esse devolutam, adeoque petitos processus decernendos non esse.222 Oder das Gericht entschied: decernimus et declaramus causam hanc ad Nos non devolutam proinde ad priorem D. Judicem … remittendam esse.223 Falls etwas fehlte, bestand es auf der Ergänzung. Wenn die Berufung angenommen wurde, heißt es im Protokollbuch des Protonotariatsgerichtes: acceptatur appellatio.224 Die Annahme der Appellation durch den iudex ad quem wurde auch mit den Worten ausgedrückt: 215 DA Mainz 1/209, S. 385 (13. März 1727): cum sui principales acta a d. Judice priore post habitas multas sollicitationes usque huc habere non potuerint (Würzburg). 216 DA Mainz 1/209, S. 346 (29. August 1726): ut sententiam et acta in hac causa ventilata, in forma probante, vel dictae Dahlhofferin (= der Appellationsklägerin) extradat, vel ad hocce Judicium metropoliticum transmittat, eum in finem ut ex iis liquere possit, quando sententia publicata, an et quomodo ab eadem appellatio interposita, in consequenti an ad hocce Judicium metropoliticum devoluta sit et ibidem acceptari possit et valeat. 217 DA Mainz 1/208, S. 139 (10. Dezember 1722). Vgl. S. 140 (17. Dezember 1722). 218 DA Mainz 1/611, S. 131 (15. September 1763). 219 DA Mainz 1/205, S. 233 (27. April 1713). 220 DA Mainz 1/604, S. 37 f. (23. Januar 1740). 221 DA Mainz 1/206, S. 211 (2. März 1719). 222 DA Mainz 1/206, S. 204 (16. Januar 1619). 223 DA Mainz 1/002, S. 315 (24. September 1659). 224 DA Mainz 1/208, S. 15 (27. Mai 1720).
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Decernuntur petiti processus225 oder: Decernuntur petiti processus plenarii.226 In einer aus Würzburg eingeführten Sache heißt es im Protokoll ohne Angabe von Gründen: Denegantur petiti processus.227 Ein andermal faßte das Metropolitangericht den Beschluß: propter Summam non appellabilem et alias causas denegantur petiti processus.228 Die Freiheit, zu appellieren, war nicht unbegrenzt, sondern mannigfaltig beschränkt.229 So brachte einmal der Prokurator der Gegenpartei gegen die appellierende Partei vor: quandoquidem in causis liquidis et cenfessatis nulla detur appellatio, hinc petit refutatorios gratiose decerni.230 Ein anderer Prokurator machte geltend, daß es in re iudicata und a decretis inhaesivis keine Appellation gebe.231 Nicht selten kam es zwischen den Prokuratoren zu heftigem Streit, ob die Appellation rechtmäßig oder nulliter et maxime frivole eingelegt worden sei.232 3. Devolutiv- und Suspensiveffekt Der Übergang einer Streitsache von der niederen zur höheren Instanz hatte mehrere Wirkungen. An erster Stelle stand der Devolutiveffekt, d. h. die Sache ging zur Entscheidung an die höhere Instanz über. An zweiter Stelle stand der Suspensiveffekt; er hatte zur Folge, daß das Urteil des Vorrichters nicht vollstreckt werden durfte. Nicht immer gingen Devolutiv- und Suspensiveffekt zusammen.233 Häufig führte das Gericht234 oder eine Partei235 den Grundsatz an: pendente appellatione nihil innovandum sit. Damit wurden beide Effekte angesprochen. Bei einer aus Aschaffenburg eingeführten Appellationssache bemerkte das Vikariatsgericht, daß in Alimentationsangelegenheiten „kein effectus suspensionis platz findet“.236 Es begab sich freilich manchmal, daß der Vorrichter unerachtet der eingelegten Berufung in der Sache weiter fortfuhr.237 Handlungen, die der Vorrichter nach Einlegung der Berufung vornahm, galten als attentata,238 die in vilipendium jurisdictionis Metropolitanae begangen wurden, denen mit einem mandatum attentatorum revo225
DA Mainz 1/203, S. 10 (10. April 1690); 1/610, S. 303 (14. und 19. April 1762). DA Mainz 1/205, S. 19 (22. Juli 1707). 227 DA Mainz 1/205, S. 27 (17. November 1707). 228 DA Mainz 1/615, S. 103 (9. Februar 1775). 229 X 2, 28, 5 § 1; X 2, 28, 13; X 2, 28, 14; X 2, 28, 32; VI 2, 15, 3 § 5; Conc. Trid. Sess. 13 Can. 1 de ref.; Sess 22 Can. 7 de ref.; Sess 24 Can. 20 de ref. 230 DA Mainz 1/009, S. 40 (17. April 1692). 231 DA Mainz 1/206, S. 187 (11. August 1718). 232 DA Mainz 1/206, S. 244 (23. November 1719). 233 DA Mainz 1/607, S. 47: cum in possessorio et restitutione fructuum lata sit sententia quae non habet effectum suspensivum (5. September 1748). 234 DA Mainz 1/610, S. 44 (19. Juni 1760). 235 DA Mainz 1/611, S. 67 (23. Februar 1763). 236 DA Mainz 1/052, S. 143 (20. April 1761). 237 DA Mainz 1/607, S. 31 (15. Juli 1748). 238 X 2, 28, 49. 226
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catorium begegnet werden mußte.239 Wenn der Berufungskläger in Erfahrung brachte, daß der Richter erster Instanz die Entscheidung der zweiten nicht abwarten wollte (quatenus iudex a quo pendente hac appellatione attentare praesumat), erbat er vom Mainzer Metropolitangericht ein Verbot (petit arctiores inhibitoriales cum revocatione forte iamdum commissorum attentatorum gratiose decerni).240 Der Prokurator Zaunschiffer legte dem Metropolitangericht einen Auszug aus dem Protokoll des Paderborner Offizialates vor, aus dem sich ergab, daß die processus appellationis in Mainz dem Offizialat ordnungsgemäß bekannt gemacht worden waren, daß aber der Judex a quo dies nicht beachtete und weiter gerichtliche Handlungen vornahm (continuo attentetur).241 In dem Sponsalienstreit aus Augsburg zwischen der Barbara Ott und dem Pfeiffer hatte dieser in maximum hujus Judicii Metropolitici vilipendium stante litis pendentia eine andere Frau geheiratet. Das Metropolitangericht verurteilte ihn deswegen zu einer Geldstrafe von 150 Gulden und trug deren Vollstreckung dem Augsburger Vikariat auf.242 Ein Appellationsverfahren aus Speyer war beim Metropolitangericht in Mainz anhängig und noch nicht entschieden. Der Offizial der Bischöflichen Kurie zu Speyer beachtete die wiederholten vom Metropolitangericht ausgegangenen Verbote nicht und erließ in non exiguum Jurisdictionis Metropolitanae vilipendium am 10. September 1721 ein Vollstreckungsdekret an Dekan und Kapitel des Stiftes St. German, was nur als attentatum bezeichnet werden konnte. Das Metropolitangericht gab ihm den ernsten Befehl, der Anordnung der heiligen Kanones und der seinem Metropoliten geschuldeten Achtung eingedenk zu sein und zur Vollstreckung des erwähnten Dekrets und in dieser Sache nicht weiter voranzugehen oder sich etwas herauszunehmen. Andernfalls werde es zur Erklärung der Strafen, die seinen Verboten beigegeben waren, unfehlbar schreiten.243 4. Der Kampf der Prokuratoren Die Appellation mußte bei der höheren Instanz nicht nur eingeführt, sondern verfolgt werden.244 Für die Einführung der Appellation setzte der iudex a quo eine peremtorische Frist fest.245 In einem Zwischenurteil wurde vom Obergericht festgestellt, daß die Appellation rechtmäßig gültig eingelegt (interpositam) und richtig eingeführt (introductam) worden sei.246 Häufig finden sich Wendungen wie die folgende: appellatio habetur pro introducta et quatenus appellans intra spatium 239
DA Mainz 1/210, S. 120 f. (11. Dezember 1755). DA Mainz 1/202, S. 148 (13. Mai 1688). 241 DA Mainz 1/603, S. 200 (15. Januar 1739). 242 DA Mainz 1/603, S. 222 f. (13. März 1739). 243 DA Mainz 1/208, S. 91 (18. Dezember 1721). 244 DA Mainz 1/613, S. 12: appellationem inde interpositam in hocce Reverendissimo Judicio Metropolitico rite introducere et prosequi (4. Februar 1769). Vgl. X 2, 27, 17. 245 X 2, 28, 5.57.69. 246 DA Mainz 1/203, S. 155 (17. Februar 1698). 240
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duorum mensium exhibuerit libellum gravaminum fiet puncto decernendorum processum quod Juris.247 Im Mainzer Metropolitangericht galten folgende Fristen. Die Berufungen mußten innerhalb von vier Monaten im Metropolitangericht eingeführt und innerhalb der nächsten zwei Monate weiterbetrieben werden.248 Das heißt: Die appellierende Partei hatte in diesem Zeitraum mit ihren Anträgen und Darlegungen den prozessualen Kampf zu eröffnen und fortzuführen. Allein vermochte sie dies nicht. Deswegen wurden die Appellanten vom Metropolitangericht darauf hingewiesen, daß sie einen procurator hic receptus mit der Prozeßführung zu beauftragen hatten.249 Als Ausweis seiner Bestellung diente das mandatum procuratorium.250 Der Prokurator hatte seinerseits sich der Dienste eines Anwalts zu versichern.251 In der zweiten Instanz mußte die klägerische Partei ihr Vorbringen von neuem beweisen, also Articuli probatoriales vorlegen mit der Benennung von Zeugen usw.252 Nun begann das Ringen der Parteien vor dem Metropolitangericht. Der Appellationsrichter übermittelte die Rechtfertigungsschrift der Appellanten (den libellus gravaminum) dem Appellaten in Abschrift, damit er dazu Stellung nehme. Der Appellat hatte seine Entgegnung vorzubringen, wobei er seinerseits das Urteil in seinem ganzen Umfang angreifen konnte.253 Die Protokolle des Metropolitangerichts sind angefüllt mit Anträgen und Gegenanträgen der Prokuratoren. Da wurden Einreden (exceptiones) vorgebracht,254 und da ist die Rede vom replicandum,255 duplicandum256 und triplicandum.257 Nach den Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini mußte alles, was in der zweiten Instanz vorgelegt wurde, in lateinischer Sprache abgefaßt sein (Tit. XI § 1). Dasselbe hatten die Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus (Tit. XV § 1) bestimmt. Nicht alle Mitglieder des Gerichts machten sich den gesamten Prozeßstoff zu eigen. Es wurde, wie in Kollegialgerichten üblich, für jede Sache ein Berichterstatter bestellt, der sich mit dem Sachverhalt vertraut zu machen, dazu gutachtlich Stellung zu nehmen und die Entscheidung vorzubereiten hatte. Nach den Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus oblag die Verteilung der Akten in der 247
DA Mainz 1/609, S. 191 (4. Dezember 1758). Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit XIV § 2. 249 DA Mainz 1/617, S. 176 (15. Juni 1780). Zu den Advokaten und Prokuratoren vgl. Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. X; Ordinationes ArchiEpiscopalis Vicariatus Moguntini Tit. VIII. 250 DA Mainz 1/205, S.7 (24. März 1707). 251 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. VIII §§ 4 und 5. 252 DA Mainz 1/101, S. 71 (13. September 1731). 253 VI 1, 6, 4. 254 DA Mainz 1/203, S. 40 (22. Dezember 1692); 1/205, S. 51 (16. August 1708); 1/610, S. 302 (1. April 1762); 1/610, S. 309 (29. April 1762). 255 DA Mainz 1/205, S. 26 (17. November 1707). 256 DA Mainz 1/205, S. 14 (26. Mai 1707). 257 DA Mainz 1/205, S. 25 (17. November 1707); S. 44 (26. April 1708); S. 48 (28. Juni 1708). 248
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zweiten Instanz dem Offizial (Tit. IV § 1), d. h. er bestellte einen Berichterstatter (Referenten). Dieser sammelte den Prozeßstoff und suchte ihn zu durchdringen und rechtlich einzuordnen. Häufig findet sich daher in den Protokollen der Vermerk: ad Referentem.258 5. Das Urteil Normalerweise stand am Schluß des in zweiter Instanz geführten Prozesses das Urteil.259 Der Text des Urteils des Metropolitangerichtes begann stets mit den Worten: Judices Sanctae Moguntinae Sedis pro tribunali sedentes solum Deum et justitiam pro oculis habentes dicimus et pronunciamus.260 Im Inhalt des Urteils wurde Stellung genommen zum Urteil der Vorinstanz. Wenn der Spruch der ersten Instanz bestätigt wurde, geschah dies mit den Worten: in prima instantia bene iudicatum, male appellatum.261 Wenn er dagegen verworfen wurde, hieß es im Urteil: male iudicatum, bene appellatum.262 Nicht selten wurde ein Teil des Urteils des Richters der ersten Instanz bestätigt, ein anderer Teil verworfen. Dann stand im Urteil zweiter Instanz einmal bene iudicatum, male appellatum, sodann bene appellatum, male iudicatum.263 Der Prokurator jener Partei, die in der zweiten Instanz obsiegt hatte, bedankte sich sogleich nach Verkündung des Urteils bei den Richtern und erbat sich eine Abschrift desselben in beweiskräftiger Form (in forma probante).264 Der Prokurator der Partei, die unterlegen war, erklärte zumeist, daß er in Erfüllung seiner Pflicht Berufung einlege. Es heißt dann im Protokoll: Linz nomine Falckenberg satisfaciendo officio … appellabat et prococabat265 oder: Procurator Culman satisfaciendo officio suo inhaeret coram Notario et testibus nuper interpositae appellationi.266 Meist schlug der Prokurator der obsiegenden Partei dem Gericht vor, entweder abweisende Apostoli (Apostoli refutatorii) zu beschließen oder wenigstens der Gegenpartei eine kurze Frist zur Einführung der Berufung zu setzen (parti adversae ad introducendam appellationem brevem Terminum hominis praefigi). Wenn die Richter die zweite Möglichkeit wählten, setzten sie eine Frist von z. B. drei Monaten fest (pro termino hominis spacium 3 mensium).267 Manchmal ordnete ein Urteil des Metropolitangerichtes die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (restitutio in integrum) an.268 258
Z.B.: DA Mainz 1/610, S. 65 (21. August 1760; S. 152 (2. April 1761) u. ö. Vgl. die häufige Formel: in proxima feretur sententia (DA Mainz 1/009, S. 258, 4. März 1694). 260 DA Mainz 1/201, S. 37v (12. Februar 1665). 261 DA Mainz 1/201, S. 53v (2. Dezember 1666); 1/206, S. 221 (4. Mai 1719). 262 DA Mainz 1/610, S. 290 (18. März 1762). 263 DA Mainz 1/202, S. 14 f. (19. Februar 1682). 264 DA Mainz 1/203, S. 5 (28. April 1689). 265 DA Mainz 1/203, S. 28 (17. April 1692). 266 DA Mainz 1/203, S. 159 (13. März 1698). 267 DA Mainz 1/203, S. 107 (19. September 1695). 268 DA Mainz 1/201, S. 76 (19. April 1668). 259
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6. Die Desertion der Berufung Manche Berufungen wurden in der zweiten Instanz nicht weiterverfolgt. So stellten die Mainzer Richter von einer Hildesheimer Appellationssache fest: interpositam Appellationem vitio desertionis subiacere.269 Eine Sache, die in zweiter Instanz nicht verfolgt wurde, ging an den Richter erster Instanz zurück una cum refusione condemnationis expensarum coram Nobis factarum moderamine nostro semper salvo,270 damit dort die Vollstreckung des Urteils erfolge. Die Aufgabe der Berufung hieß Desertion.271 Die Desertion der Berufung wurde ausgedrückt mit den Worten: appellationem … interpositam fuisse desertam et vitio desertionis subiacuisse et subiacere und gleichzeitig die Folgerung angeschlossen: sententiamque Iudicis a quo in rem transisse iudicatam.272 Das Urteil des Unterrichters erwuchs damit in Rechtskraft. Die Desertion trat kraft Gesetzes ein, wenn die Berufung nicht innerhalb von vier Monaten beim Metropolitangericht eingeführt und wenn nicht innerhalb von zwei Monaten prozessuale Handlungen gesetzt wurden.273
V. Die Berufung vom Mainzer Metropolitangericht 1. Die Anrufung der höheren Instanz Mit der Entscheidung des Mainzer Metropolitangerichtes war der Rechtszug nicht erschöpft. Von der zweiten Instanz konnte an die dritte Instanz Berufung eingelegt werden. Die Appellation vom Mainzer Gericht ging normalerweise an den Apostolischen Stuhl. Sie wurde bei ersterem als dem Unterrichter eingelegt. So war die am 10. April 1658 vorgenommene Appellation an die Nobiles Clarissimi ac Consultissimi Sanctae Sedis Moguntinae Judices Aequissimi adressiert.274 Darin wurde der Grund angegeben, weshalb der Appellant sich von dem ergangenen Urteil beschwert fühle; darauf folgte die Appellation an Papst Alexander VII. (1655 – 1667) oder seinen entsandten bzw. zu entsendenden Nuntius; es schloß sich die Bitte um die Apostoli reverentiales an. Gelegentlich wurde die Appellation an den Apostolischen Stuhl unterstrichen mit dem Zusatz „primo secondo tertio appella-
269 DA Mainz 1/002, S. 215 (14. November 1657). Ebenso DA Mainz 1/002, S. 389 (6. September 1661): In Causa Appellationis Paderbornensis … dicimus et pronunciamus hanc causam vitio desertionis subiacere ac ideo velut desertam ad priorem Judicem remittendam esse. 270 DA Mainz 1/201, S. 149 (22. Dezember 1672). 271 Der Ausdruck findet sich z. B. im Summarium zu X 2,28,45. 272 DA Mainz 1/201, S. 149 (22. Dezember 1672). 273 Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Tit. XIV § 1; Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini Tit. III § 2. 274 DA Mainz 1/002, S. 243.
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re“.275 Die Appellation vom Mainzer Metropolitangericht wurde manchmal nicht nur an den Apostolischen Stuhl, sondern an jedwedes übergeordnete Gericht (ad quemcunque iudicem superiorem) eingelegt.276 Damit hielt man sich jedenfalls theoretisch die Möglichkeit offen, das Berufungsverfahren vor (päpstlichen) judices in partibus277 zu führen. Gewöhnlich wurde die Einlegung der Appellation von einem Urteil des Metropolitangerichtes in den Protokollen wie folgt beschrieben: N. N. cum principalis suus se a modo lata sententia gravatum sentiat appellat ad Curiam Romanam acta cum apostolis reverentialibus et copiam sententiae in forma probante petens.278 Das besagte: Wer an die Römische Kurie Berufung einlegte, erbat vom Metropolitangericht die Akten, die Apostoli reverentiales und eine Abschrift des Urteils in beweiskräftiger Form.279 In der Regel ging die Appellation nur von einer Partei, nämlich der unterlegenen, aus. Wenn das Urteil der zweiten Instanz beiden Parteien teilweise recht und teilweise unrecht gab, kam es indes vor, daß beide, aber selbstverständlich mit gegenteiliger Absicht, Berufung an den Apostolischen Stuhl einlegten.280 In Mainz nahm man Bedacht, sich über das Gerichtswesen am Apostolischen Stuhl zu unterrichten. Der Kanonikus und Geistliche Rat Hermann Ignaz von Straus reiste nach Rom, „umb sich in praxi Curiae zu qualificiren“.281 2. Die Stellungnahme des Metropolitangerichtes zu der eingelegten Appellation Die Appellation vom Metropolitangericht bedurfte der Annahme (Rezeption) und der Weitergabe (Delation) an das Obergericht mit apostoli reverentiales.282 In zahlreichen Fällen findet sich in den Protokollen der Satz: in honorem Sacrae Curiae Romanae defertur appellationi.283 Wenn das Metropolitangericht die Appellation annahm, wurde dem Appellanten eine Frist für deren Einführung bei dem
275 DA Mainz 1/002a, S. 88 (12. Februar 1650). Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 538. 276 DA Mainz 1/202, S. 147 (29. April 1688). 277 Zu diesem Begriff vgl. Vering, Lehrbuch, S. 528, 623, 683. So wurde beispielsweise das Offizialat der Erzdiözese Salzburg zum Judex Apostolicus bestellt (DA Mainz 1/203, S. 46, 23. Februar 1693). 278 DA Mainz 1/607, S. 231 (9. April 1750). 279 DA Mainz 1/607, S. 20 (27. Juni 1748). 280 DA Mainz 1/204, S. 4 – 6 (1. April 1700). 281 DA Mainz 1/050, S. 36 (5. Februar 1759). 282 DA Mainz 1/202, S. 135 (11. September 1687). Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 537. 283 DA Mainz 1/609, S. 156 (7. September 1758). Ebenso S. 162 (20. September 1758); S. 164 (20. September 1758); S. 168 (20. September 1758) u. ö.
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Oberrichter und den Nachweis derselben festgelegt.284 Für die Einführung der Appellation in Rom und für den Nachweis derselben gewährte das Metropolitangericht gewöhnlich eine Frist von vier Monaten.285 Gelegentlich verkürzte es die Frist für die Einbringung der Sache in Rom auf zwei Monate.286 Aus wichtigen Gründen konnte die Frist verlängert werden. In einer Würzburger Appellationssache setzten die Mainzer Richter für das Einbringen der Sache in der dritten Instanz eine Frist von fünf Monaten.287 Wenn die Appellation in Rom verfolgt wurde, erschien ein Notarius Apostolicus mit zwei Zeugen vor dem Mainzer Gericht, machte die Übernahme der Prozeßführung durch die Rota bekannt (insinuabat processus a sacra Rota Romana) und erbat sich unter Berufung darauf die Akten (et petebat vigore eorundem actorum conscriptionem et extradationem).288 Wenn eine Partei die Appellation an den Heiligen Stuhl zu diskreditieren suchte, brachte sie vor, daß sie leichtfertig (frivola) sei.289 In einem Falle warf der Prokurator der einen Partei der anderen, die eine Berufung ins Auge faßte, vor, diese sei lediglich beabsichtigt, um die Sache in die Länge zu ziehen (utpote frivole et ad protrahendam causam matrimonialem privilegiatam solummodo interpositam), und daher bat er, sie nicht weiterzugeben (nullatenus deferri, sed Apostolos refutatorios gratiose decerni).290 Apostoli refutatorii waren das Schreiben des Unterrichters, das die (empfehlende) Weitergabe der Berufung, die Delation, ablehnte.291 Im Protokoll findet sich dann der Vermerk: Salva Sanctae Sedis Apostolicae auctoritate et nostra erga eam reverentia decernuntur refutatorii.292 Einmal faßte das Metropolitangericht den Beschluß: Quamvis appellatio notorie sit frivola, tamen in honorem sacrae Curiae Romanae eidem defertur.293 Die Berufung hatte, wie erwähnt, stets Übergangswirkung, aber nicht immer aufschiebende Wirkung.294 Das Gericht vermerkte diesen Unterschied mit den Worten: defertur appellationi solummodo quoad effectum devolutivum non autem suspensivum.295 In einem Fall wurde der Kläger von dem Eheversprechen losgesprochen. Die Beklagte legte Berufung nach Rom ein. Ihr ungeachtet durfte der Kläger eine andere Ehe eingehen (licentia transeundi ad 284 Defertur appellationi et parti appellanti ad eandem introducendum et de introducta docendum spatium 2 Mensium praefigitur (DA Mainz 1/607, S. 218, 26. Februar 1750). 285 DA Mainz 1/613, S. 19 (23. Februar 1769). Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 545 – 547. 286 DA Mainz 1/607, S. 47 (5. September 1748). 287 DA Mainz 1/204, S. 224 (29. April 1706). 288 DA Mainz 1/207, S. 128 (14. Januar 1717). 289 DA Mainz 1/002a, S. 99 (4. Mai 1650). Zu diesem Begriff vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 527 f. 290 DA Mainz 1/203, S. 156 f. (27. Februar 1698). 291 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 536 f. 292 DA Mainz 1/208, S. 45 (16. Januar 1721). 293 DA Mainz 1/207, S. 51 (12. September 1715). 294 München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 550. 295 DA Mainz 1/608, S. 408 (27. Juni 1754).
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alia vota), wenn er zuvor eine Kaution in Höhe von 1000 Gulden hinterlegte für die eventuell zu leistende Entschädigung.296 Als der Prokurator gegen diese Entscheidung wie gegen die erste Berufung einlegte, blieb das Gericht bei seinem Beschluß.297 In zahlreichen Fällen hielt das Metropolitangericht die Appellation für ungerechtfertigt. Es heißt dann im Protokoll: Decernuntur refutatorii.298 Vor allem in Eheversprechungs- und Schwängerungssachen erkannte das Metropolitangericht nicht selten auf Apostoli refutatorii.299 Wenn die Gegenpartei nicht erreichen konnte, daß Apostoli refutatores (sic) ausgestellt wurde, beantragte sie, der appellierenden Partei eine kurze Frist (brevem terminum hominis) für die Ein- und Fortführung der Berufung festzusetzen.300 Nicht jeder Berufungswillige gab sich mit der Verweigerung der empfehlenden Weitergabe der Appellation zufrieden. Wenn das Metropolitangericht die Delation der Appellation ablehnte, dann kam es vor, daß der Kläger von diesem Spruch an die Römische Kurie appellierte.301 Dafür zwei Beispiele. Aus der Diözese Speyer kam die Berufungsklage des Andreas Hoffmann, Pfarrers in Zeiskam, gegen den Promotor fisci Episcopalis Curiae Spirensis wegen einer von diesem vorgenommenen Inquisition vor das Mainzer Metropolitangericht. Die Berufungsinstanz beurteilte das Vorgehen des Promotors als nichtig und schlecht (sublata inquisitione) und sprach den Kläger von dem ihm zur Last gelegten Verbrechen frei (ab imputatis criminibus absolvendum) und setzte ihn in alles, was ihm durch den Promotor fisci in der ersten und zweiten Instanz entzogen worden war, wieder ein. Der Promotor wurde zu den Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen verurteilt. Der Prokurator Knorr legte daraufhin im Namen des Speyerer Fiskus Berufung gegen das Urteil ein. Der Prokurator Rudolphi widersprach ihm, bedankte sich für das Urteil und forderte unter Hinweis auf das Ausbleiben des Promortors in der zweiten Instanz die Abweisung der Berufung (cum contumax non appellat, hinc petit refutatorios decerni). Das Gericht entsprach dem Antrag und erkannte tatsächlich auf Apostoli refutatorii. Daraufhin legte der Knorr erneut Berufung ein und zeigte an, quod semper velit esse ultimus in appellando.302 Dagegen war nichts zu machen. Ähnlich war es in dem folgenden Falle. Der Franz Heinrich Hahn, Kanoniker des St. Guidostiftes zu Speyer, appellierte gegen den Promotor fisci und den Dekan des Stiftes wegen seiner Unverbesserlicherklärung, seiner Suspension und seiner Arreste. Der Prokurator blieb dem Verfahren in der zweiten Instanz fern. Diese sprach den Hahn vor der (ad cautelam aufgehobenen) Suspension frei, hob die Arreste auf 296
DA Mainz 1/608, S. 331 – 334 (22. November 1753). Das Verfahren hatte in der zweiten Instanz am 19. Juli 1752 begonnen. 298 DA Mainz 1/205, S. 12 (14. April 1707). 299 DA Mainz 1/210, S. 64 f. (26. Juni 1755). 300 DA Mainz 1/203, S. 161 (20. März 1698). 301 DA Mainz 1/206, S. 228 (10. Juli 1719). 302 DA Mainz 1/601, S. 8 f. (29. Januar 1728). 297
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die Einkünft (fructibus … tam praebendalibus quam praesentialibus frumentorum, vinorum et pecuniarum) auf und stellte sie ihm zurück, bis die ihm vorgeworfenen Verbrechen (crimina) im Metropolitangericht rechtlich bewiesen sein würden und der Berufungskläger seiner Unverbesserlichkeit voll überführt sein würde. Der Promotor fisci wurde in alle Gerichtskosten, die seit Einlegung der Berufung entstanden waren, der Dekan in die Kosten, die der Berufungskläger seinem Vertreter für die Erfüllung der Verpflichtungen des Kanonikates und der Präsenz schuldete, verurteilt. Der Dekan wurde außerdem wegen Ungehorsams und Verachtung des Metropolitangerichtes als exkommuniziert erklärt. Bezüglich der Berufung von diesem Urteil wiederholte sich dasselbe Spiel. Der Prokurator des Promotor fisci appellierte an die Römische Kurie. Der Kanonikus Hahn forderte, die Appellation abzuweisen, cum contumax non appellet. Das Gericht erkannte auf Apostoli refutatorii. Der Prokurator appellierte erneut ita ut semper sit ultimus in appellando.303 Die Appellation gegen die Verweigerung der Apostoli reverentiales wurde vor einem Notar und vor Zeugen ausgesprochen.304 Von der Ausstellung der Apostoli refutatorii verschieden war die Weigerung, die Appellation überhaupt anzunehmen. Der Pfarrer Gerhardi hatte ein Dekret des erzbischöflichen Siegelamtes zu Erfurt erlangt, mit dem er unzufrieden war. Er appellierte davon nach Rom, obwohl ihm die Appellation als höchst frivol bereits vom Mainzer Gericht abgeschlagen worden war. Als er keine Ruhe gab, wurde ihm befohlen, die Appellation nicht weiter zu betreiben, sub poena suspensionis.305 In einer Augsburger Streitsache, in der beide Parteien gegen das Urteil zweiter Instanz an die Römische Kurie Berufung einlegten, entschied das Metropolitangericht: Denegantur petiti processus.306 Verfahren an der Römischen Kurie würden die Sache in die Länge ziehen, deren Entscheidung häufig dringend war. 3. Die Stellung zur Gerichtsbarkeit des Apostolischen Stuhles und des Nuntius Die Appellation an den Apostolischen Stuhl konnten der Metropolit und das Metropolitangericht nicht hindern. Denn der Papst ist der oberste Richter der Kirche.307 Ihm seine Gerichtsbarkeit bestreiten ist so viel wie seine primatiale Stellung leugnen. Dazu konnte sich kein katholischer Bischof bereit finden. Geradezu allergisch aber reagierte das Mainzer Metropolitangericht, wenn es vernahm, daß statt an es an den Apostolischen Nuntius Berufung eingelegt wurde. Denn die Gerichtsbarkeit der ständigen päpstlichen Gesandten wurde von ihm in keiner Instanz 303
DA Mainz 1/601, S. 14 f. (19. Februar 1728). DA Mainz 1/205, S. 16 (9. Juni 1707). 305 DA Mainz 1/039, S. 352 f. (14. August 1747); Pfarrer Gerhardi zu Ridershausen (Rittershausen). 306 DA Mainz 1/206, S. 221 (4. Mai 1719). 307 Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, S. 389 f. 304
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anerkannt. Dabei ist eine wachsende Verhärtung der Haltung zu beobachten. Am 13. Oktober 1649 appellierte eine Partei vom Urteil des Iudicium Prothonotariatus Moguntinensis, nachdem die Sache in erster Instanz in Speyer verhandelt worden war, an den Apostolischen Nuntius. Das Gericht entschied: Decernuntur refutatorii.308 Die Möglichkeit der Berufung wurde also damals nicht bestritten. Anders lag der folgende Fall. Der Bischof von Chur, Johann VI. Flugi von Aspermont (1636 – 1661), appellierte in seinem Streit mit dem Abt von Weingarten, Dominik I. Laymann (1637 – 1673), an den Nuntius in Luzern, der Abt von Weingarten an das Mainzer Metropolitangericht. Erzbischof Johann Philipp von Schönborn beschwerte sich bei Papst Innozenz X. (1644 – 1655) und Kardinal Colonna darüber, daß der Nuntius Francesco Boccapaduli die Appellation angenommen habe, weil dadurch das Metropolitangericht herabgesetzt werde.309 Die latente oder offene Feindseligkeit gegen die Nuntiaturgerichtsbarkeit kündigte sich an. Virulent wurde die antirömische Strömung unter den Erzbischöfen Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1763 – 1774) und Friedrich Karl Joseph von Erthal (1774 – 1802). Dem Prokurator Hubert, der das Kloster in Frauenalb310 vertrat, bedeutete das Metropolitangericht, er solle der Kölner Nuntiatur schriftlich remonstrieren, daß die Appellation der Gemeinde in Öttigheim contra omnem observantiam an den Kölner Nuntius gerichtet worden sei, während die Berufung vom Metropolitangericht unmittelbar an den Heiligen Stuhl zu gehen habe, und daß sie daher nichtig sei.311 In dem in diesen Zusammenhang gehörigen Schreiben an die Regierung zu BadenBaden war von dem „unfug der ahn Herrn nuntium zu Cöllen unternommenen appellation“ die Rede.312 Die Opposition gegen die Nuntiaturgerichtsbarkeit verschärfte sich in den folgenden Jahrzehnten und mündete in offene Proteste der Metropoliten. Schon Nr. 29 der Koblenzer Artikel vom 13. Dezember 1769 forderte die Einhaltung des Instanzenzuges: Bischof – Erzbischof – Papst, wollte den Papst binden, stets Richter in partibus aus der betreffenden Nation zu ernennen, und beschloß das Aufhören der Gerichtsbarkeit der Nuntien.313 Ausführlich wurden dieselben Desiderate vorgebracht in der Emser Punktation vom 25. August 1786.314 Hier wurde sogar die Einrichtung einer dritten Instanz in jeder Kirchenprovinz empfohlen. Die Nuntien aber sollten sich in keiner Instanz in eine Sache einmischen.
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StA Würzburg Aschaffenburger Archivreste 218/LVIII Nr. 4. Jürgensmeier, Johann Philipp von Schönborn, S. 184. 310 Barbara Henze, Frauenalb: LThK IV, 3. Aufl., 1995, Sp. 72 f. 311 DA Mainz 1/610, S. 69 (4. September 1760). 312 DA Mainz 1/610, S. 85 (22. September 1760). 313 Des kurtrierischen Geistlichen Rats Heinrich Aloys Arnoldi Tagbuch über die zu Ems gehaltene Zusammenkunft der vier Erzbischöflichen deutschen Herren Deputirten die Beschwerde der deutschen Natzion (sic) gegen den Römischen Stuhl und sonstige geistliche Gerechtsame betr. 1786. Hrsg. von Matthias Höhler, Mainz 1915, S. 30 – 34, 253 – 265. 314 Tagbuch, S. 171 – 183. 309
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Für den Apostolischen Stuhl hatte die Gerichtsbarkeit der Nuntien eine theoretische und eine praktische Seite. Theoretisch betrachtet, war sie ein Ausfluß des päpstlichen Universalepiskopats.315 Als Bischof der gesamten Kirche konnte der Papst überall Jurisdiktion ausüben. Praktisch gesehen, erblickte der Apostolische Stuhl in der Gerichtsbarkeit der Nuntien ein Mittel, den Parteien entgegenzukommen und ihnen die Prozeßführung zu erleichtern. Die Römische Kurie bestand daher nicht in allen Fällen, in denen Berufung an sie eingelegt wurde, darauf, daß der Prozeß in Rom geführt wurde, sondern gab ihn an einen Nuntius ab. Ein Beispiel. In der Streitsache, des Mainzer Stephansstiftes gegen das Augustinerkloster hatte das Mainzer Vikariatsgericht (1. Instanz) das Urteil zugunsten des Klosters gesprochen. Das Stift appellierte sogleich an den Apostolischen Stuhl;316 denn zu dieser Zeit existierte für Streitsachen aus dem Unterstift keine zweite Instanz in Mainz. Einige Monate später ging die Commissio Apostolica ad partes ein und wurde auf den Nuntius zu Köln ausgestellt.317 Das Verfahren sollte also im Deutschen Reich, und zwar vom Kölner Nuntius, geführt werden. Der Dechant des Stephansstiftes, Loth, erbot sich, die Akten für den Nuntius in Köln zu übersetzen. Das Vikariatsgericht lehnte das Anerbieten mit dem Bemerken ab, es gezieme sich nicht, daß die Akten der Partei selbst ausgehändigt werden; sie müßten vielmehr im Vikariat übersetzt werden.318 Die Sache des Stiftes St. Stephan gegen die Augustiner wurde dann in zweiter Instanz in Köln vor dem Gericht des Nuntius verhandelt.319 Die römischen Prozesse waren dem Metropolitangericht vorzuweisen, damit es sie anerkenne.320 Man sah sich in Mainz die prozessualen Akten, die vom Apostolischen Stuhl oder vom Nuntius ausgingen, sorgfältig an. Ein monitorium des Apostolischen Stuhles bekannt zu machen, das vom Kölner Nuntius vorgewiesen wurde, lehnte das Vikariatsgericht ab, weil es durch Rasuren verfälscht sei.321 In der Klagesache des ehemaligen Pfarrers von Lorch Michael Stassen gegen den gegenwärtigen Pfarrer von Lorch Johann Jakob Heimbach entschied das Mainzer Vikariatsgericht (1. Instanz) teilweise zugunsten des Heimbach; doch beide Parteien legten Berufung ein.322 Am 16. September 1694 erging ein weiteres Urteil des Vikariatsgerichtes, wonach der Heimbach in den früheren Stand eingesetzt wurde. Stassen appelierte von diesem Urteil stante pede et viva voce cum omnibus solem-
315
Georg May, Ego N.N. Catholicae Ecclesiae Episcopus. Entstehung, Entwicklung und Bedeutung einer Unterschriftsformel im Hinblick auf den Universalepiskopat des Papstes (= Kanonistische Studien und Texte Bd. 43), Berlin 1995. 316 DA Mainz 1/009, S. 114 f. (22. Dezember 1692). 317 DA Mainz 1/009, S. 162 (18. Mai 1693). 318 DA Mainz 1/009, S. 162 f. (18. Mai 1693). 319 DA Mainz 1/009, S. 217 (12. November 1693). 320 DA Mainz 1/1/613, S. 56: exhibet processus romanos … petit eosdem pro insinuatis haberi offerendo se copiam ad actu exhibere (8. Juni 1769). 321 DA Mainz 1/009, S. 179 (18. Juni 1693). 322 DA Mainz 1/009, S. 103 f. (25. November 1692).
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nitatibus ad Judicem quemcunque superiorem.323 Die Appellationssache Michael Stassen gegen Dompropst und Pfarrer in Lorch wurde von der Römischen Kurie dem päpstlichen Nuntius in Köln durch Delegation übertragen.324 Das Vikariat bestand darauf, die Commissio Apostolica im Original oder in authentischer Abschrift einzusehen, bevor es die inhibitio insinuata weitergab (deferri).325 Das wirksamste Mittel, die Rechtsprechung des Nuntius zu unterbinden, war die Weigerung, ihm die Prozeßakten auszuliefern. Davon machte das Metropolitangericht Gebrauch. Am 13. Juli 1750 ließ es dem Speyerer Bischöflichen Viakriat schreiben, ne acta in hac causa ventilata extradat maxime cum attentatum Illustrissimi Domini nuntii Coloniensis contra observantiam immemorialis temporis tendat in summum praejudicium jurium tum Episcopalium tum Metropoliticorum.326 Als der vom Nuntius bestellte Kommissar Zwangsbriefe (compulsoriales) an den Judex a quo und eine Pönalzitation an den Dekan von Allerheiligen ausgehen ließ, wurde dies als neues attentatum in praejudicium Jurisdictionis Metropoliticae angesehen. Das Metropolitangericht befahl dem Judex a quo, die acta causae dem Nuntius nicht auszuliefern und von ihm nichts anzunehmen, und verbot dem Dekan, sich bei dem Nuntius oder seinem Delegaten einzufinden.327 In einem anderen Fall brachte der Horradam namens seines Bruders vor, daß dieser an die Nuntiatur zu Köln appelliert habe und daß die processus „würcklich erkant und überschickt“ worden seien, die er zu insinuieren gedenke. Das Vikariatsgericht entgegnete, daß „mann bey alhiesigen (sic) Vicariat ahn den Nuntium keine appellation und ihme (sic) also disfalß keine Jurisdiction gestatte“; darum werde er „mitt seinen (sic) ohnbefugten nichtigen begehren und processibus hiermitt abgewiesen“.328 Geradezu gereizt reagierte das Mainzer Metropolitangericht, wenn an den Nuntius als zweite Instanz, also mit Auslassung des Metropolitangerichtes, appelliert wurde. Zu einer Wormser Appellationssache über die praecedentia canonicalis, die an den Nuntius in Köln gegangen war, faßte das Gericht den Beschluß, dem Erzbischof sei vorzutragen, daß solchen Brufungen an die Kölner Nuntien von den Suffraganbistümern des Mainzer Stuhles – mit Übergehung desselben – immer widersprochen worden sei.329 Im vorliegenden Falle müsse um so mehr Widerspruch angemeldet werden, weil die Einleitung des Prozesses beschlossen worden sei, nachdem das Urteil des Wormser Vikariatsgerichtes praetermissis fatalibus appellationis in Rechtskraft erwachsen sei.330 Das Gericht stellte dem Erzbischof 323
DA Mainz 1/009, S. 324. DA Mainz 1/009, S. 339 (29. November 1694). 325 DA Mainz 1/009, S. 339 (29. November 1694). 326 DA Mainz 1/607, S. 255 f. 327 DA Mainz 1/607, S. 267 (27. August 1750). 328 DA Mainz 1/009, S. 44 (24. April 1692). 329 DA Mainz 1/202, S. 167 (30. Juni 1678). 330 Zu diesem Hindernis der Berufung vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht I, S. 520. 324
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anheim, zur Aufrechterhaltung der Autorität des Metropoliten an den Nuntius zu schreiben. Es scheint, daß um diese Zeit das Metropolitangericht auch bezüglich der Appellationen an den Apostolischen Stuhl unsicher geworden war. Am 19. April 1773 meldete es dem Erzbischof, daß von dem erzbischöflichen Vikariat in drei aus Suffraganbistümern auf dem Weg der Berufung eingelaufenen Sachen betreffs Würzburg und Eichstätt bereits die Urteile eröffnet seien; davon sei nach Rom appelliert und auch um die Auslieferung der Akten angestanden worden. Das Gericht fragte an, ob es dem Begehren der Appellanten willfahren dürfe.331 Der Erzbischof gab am 23. April 1773 nach dem Protokoll keine eindeutig bejahende Antwort, verlangte aber, daß vordersamst alle objecta litis, von denen Appellation nach Rom eingelegt werde, nebst einer kurzen species facti ihm angezeigt würden.332 Anscheinend wollte er einen Überblick über die Berufungen gewinnen, um dann entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. Am 3. Mai 1773 lag im Metropolitangericht eine Aufstellung aller Streitgegenstände, von denen Appellation nach Rom eingelegt worden war, wie es der Erzbischof befohlen hatte, um ihm überreicht zu werden.333 Am 11. Mai 1773 antwortete der Erzbischof auf das Schreiben des Metropolitangerichts vom 3. Mai. Er wolle es, so hieß es darin, geschehen lassen, daß die über die angeführten drei Gegenstände eingelegten Appellationen deferiert würden.334 Erthal versuchte, auch andere Oberhirten – wie den Abt von Corvey335 – gegen die Nuntiaturen einzunehmen. Lange Zeit gab es Zwist mit widerspenstigen Bistümern, die sich der Quarantäne gegen die Nuntien nicht anschließen wollten. In eineigen deutschen Diözesen, darunter vor allem im Würzburger Bistum,336 obwaltete die Observanz, entweder an die Kölner Nuntiatur oder an das erzbischöfliche Vikariat Berufung einzulegen.337 Für die Diözese Konstanz bot sich die Nuntiatur in Luzern als Appellationsinstanz an.338 Auch mit dem Bistum Fulda gab es Friktionen. Am 31. März 1773 übersandte der Erzbischof dem Metropolitangericht ein Schreiben des Bischofs zu Fulda, das sich auf Appellationen an die Nuntiatur zu Köln bezog, und forderte das Gericht auf, „auf den verfolg dieses geschäffts ferner das sorgfältige augenmerck zu richten“.339 Das Vikariat machte zu dem Vorgang: Fuldische Appellation an die Nuntiatur zu Köln folgende Bemerkungen. 1. Aus 331
DA Mainz 1/614, S. 259 f. DA Mainz 1/614, S. 264 (26. April 1773). 333 DA Mainz 1/614, S. 266 (3. Mai 1773). 334 DA Mainz 1/614, S. 277 (13. Mai 1773). 335 Föllinger, Corvey, S. 87. 336 DA Mainz 1/617 (1778 – 1781), S. 37, 39, 48, 54, 66, 70, 83, 85 f., 110, 136 f., 145, 161 f., 171, 185, 186, 196, 197, 209, 210, 211 f. 337 Tagbuch, S. 311. 338 DA Mainz 1/203, S. 178 (6. Dezember 1698). 339 DA Mainz 1/614, S. 264 f. (26. April 1773). 332
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dem Schreiben des Fuldaer Vikariats sei ersichtlich, daß die acta primae instantiae zur Zeit noch der Nuntiatur versagt bleiben sollen. 2. Aus dem Protokoll ergebe sich kein wahrer Ernst, das von hieraus erlassene Dekret nach seinem ganzen Umfang zu erschöpfen. 3. Der Appellant lasse sich beigehen, seine sträflich ergriffene Appellation an den Kölner Nuntius ohne Scheu mit mehreren Beispielen zu rechtfertigen. Das erzbischöfliche Vikariat halte dafür, das von ihm entworfene Schreiben an den römischen Agenten Fargna340 abgehen zu lassen, es auch an den Wiener Residenten von Bree341 zur Unterrichtung zu senden. Doch müsse daran erinnert werden, daß von seiten des Hauses Österreich neuerdings befohlen worden sei, keine einzige Appellation aus den österreichischen Landen an das erzbischöflich mainzische Vikariat gelangen zu lassen, weshalb vordersamst und bevor zu Wien ein Schritt in dieser Sache getan werde Auskunft darüber von dem Wiener Residenten eingeholt werden solle.342 Der Erzbischof billigte das Vorgehen.343 Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß die Erwartung, in der Frage der Nuntiaturgerichtsbarkeit die Unterstützung des österreichischen Herrscherhauses zu gewinnen, zumindest eine zweischneidige Sache war. Am 21. Juli 1773 leitete der Erzbischof dem Metropolitangericht einen Bericht des römischen Agenten Fargna vom 7. Juli 1773 und ein von diesem dem Kardinalstaatssekretär überreichtes Promemoria zu. Er verwies auf eine „unächte stell“ in der Beilage, die der Agent zurückstellen solle, weil sie von Mainz aus nicht zugegeben und noch weniger selbst geäußert werden könne.344 Fargna war zwar bemüht, den Standpunkt des Mainzer Metropoliten an der Römischen Kurie nachdrücklich zu vertreten, verfuhr jedoch nicht immer mit der erforderlichen Klugheit und Sorgfalt. Am 2. August und am 27. September 1773 lagen weitere Berichte von ihm vor.345 Fargna handelte jedoch nicht im Sinne des Mainzer Vikariates. Aus übertriebenem Eifer fertigte er eine neue nota an und überreichte sie dem Kardinalstaatssekretär,346 in der er sich lediglich auf das Mainzer Promemoria bezog. Das Vikariat riet, man solle ihm befehlen, bei der nächsten Unterredung mit dem Staatssekretär seine vorige nota nach dem unter dem 13. August an ihn abgegangenen Schreiben zu widerrufen und auszulegen. Ebenso solle man ihn auffordern, keine Schriften für den Mainzer Hof zu verfassen und zu überreichen, wenn es ihm nicht aufgetragen werde.347 Durch Verhandlungen mit der Römischen Kurie
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Johanna Baptist Fargna war kurfürstlich mainzischer Minister, Agent zu Rom (Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1779, Mainz 1779, S. 91). 341 Gerhard von Bree war kurfürstlicher mainzischer Geheimer Rat und Ministerresident am Kaiserhof (Chur-Maynzischer Hof- Staats und Stands-Kalender, Auf das Jahr Nach unsers Herrn und Heilands Gnaden-reichen Geburt MDCCLXVII, Mainz 1767, S. 94). 342 DA Mainz 1/614, S. 277 – 279 (13. Mai 1773). 343 DA Mainz 1/614, S. 279 (24. Mai 1773). 344 DA Mainz 1/614, S. 307 (16. Juli 1773). 345 DA Mainz 1/614, S. 308, 327. 346 DA Mainz 1/614, S. 331 f. (4. Oktober 1773). 347 DA Mainz 1/614, S. 331 f. (4. Oktober 1773).
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ließ sich der Konflikt nicht beilegen, vor allem wenn sie so ungeschickt geführt wurden, wie es bei Fargna der Fall war. 4. Die römischen Gerichte Am Heiligen Stuhl war grundsätzlich die Heilige Römische Rota das zuständige Gericht dritter Instanz.348 Doch wurden auch andere Behörden richterlich tätig. So ging eine Streitsache aus Mainz an die Signatura Justitiae.349 Der Prokurator Jakob Schlebusch legt am 9. Dezember 1784 dem Metropolitangericht ein päpstliches Dekret vor, kraft dessen die Entscheidung einer Sache (aus der Speyerer Diözese) in appellatione der Konzilskongregation delegiert worden sei.350 Es handelte sich dabei um eine Klage gegen den Promotor fisci. Einmal ist die Rede von einer päpstlichen „Appell-Commission“.351 Der Heilige Stuhl hatte also anscheinend für diesen Fall eine besondere Gruppe von Richtern bestellt. In Rom nahm das Verfahren damit seinen Anfang, daß das Gericht die in dem Verfahren angefallenen Akten anforderte (extraditio actorum).352 Diese mußten ins Lateinische übersetzt werden, was beträchtliche Kosten mit sich brachte.353 Erst recht war die Prozeßführung in Rom teuer. Zahllose Berufungen, die an den Heiligen Stuhl eingelegt worden waren, wurden daher nicht verfolgt. Die Motive für die Desertion waren freilich unterschiedlich. Ein Prokurator erklärte, sein Prinzipal wolle von der in Rom eingelegten Appellation aus Achtung vor dem Metropolitangericht, aber ohne Nachteil für die Zukunft, abstehen und darauf verzichten.354 Man gewinnt nicht selten den Eindruck, daß die Ankündigung der Berufung an den Apostolischen Stuhl lediglich den Zweck hatte, die Unzufriedenheit der unterlegenen Partei mit dem Richterspruch zum Ausdruck zu bringen, ohne daß eine feste Absicht vorlag, die Berufung zu verfolgen. Aber selbst dann, wenn sie in Rom eingeführt worden war, wurde sie häufig nicht weiterbetrieben. Ein Prokurator wies das Metropolitangericht darauf hin, daß über ein Jahr vergangen sei, seitdem die Gegenpartei den Nachweis geführt hatte, daß die Appellation in der Römischen Kurie eingeführt sei, und bat es, sie für aufgegeben zu erklären (pro deserta declarari). Das Gericht kam 348 J.H. Bangen, Die römische Curie, ihre gegenwärtige Zusammensetzung und ihr Geschäftsgang, Münster 1854, S. 292 – 344; Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes I, S. 492 – 494; Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, S. 189, 417; George Phillips, Kirchenrecht VI, Regensburg 1864, S. 449 – 497. 349 DA Mainz 1/607, S. 156 f. (26. Juni 1749): causam hanc in Signatura Iustitiae receptam esse et illic ventilari. Vgl. Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes I, S. 495 f.; Phillips, Kirchenrecht VI, S. 498 – 508. 350 DA Mainz 1/620, S. 698 (9. Dezember 1784). Vgl. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, S. 422 f.; Scherer, Handbuch des Kirchenrechtes I, S. 511 – 514. Zum Verfahren vor den römischen Kongregationen vgl. Vering, Lehrbuch, S. 701 – 703. 351 DA Mainz 1/014, S. 80 (27. August 1703). 352 DA Mainz 1/014, S. 80 (27. August 1703), S. 144 (13. März 1704). 353 DA Mainz 1/025, S. 179 (12. Juli 1723); 1/047, S. 212 (17. Mai 1756). 354 DA Mainz 1/616, S. 95 (21. August 1776).
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dem Antrag nach, erklärte die Berufung als verlassen und wies die appellierende Partei an den Richter der früheren Instanz (prioris instantiae) für die Vollstreckung.355 5. Die Einrichtung einer dritten Instanz in Mainz Um Appellationen an den Heiligen Stuhl gänzlich zu vermeiden, plante der Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal die Einrichtung einer dritten Instanz in Mainz. Am 10. Dezember 1785 gab er dem Generalvikariat auf, ein Gutachten zu erstellen, „was für eine ständige Einrichtung wegen der dritten Instanz allenfalls getroffen werden könne“.356 Vorerst ging es um einen Einzelfall, nämlich um das Verfahren zwischen dem Kollegiatstift St. Bartholomäus in Frankfurt357 gegen den Dumont. Die Sache war wohl in erster Instanz vor dem Judicium ecclesiasticum und in zweiter Instanz vor dem Gericht des Mainzer Stuhles, das mit dem Metropolitangericht identisch war, verhandelt worden. Am 7. Januar 1786 ordnete der Erzbischof an, die Geistlichen Räte Franz Philipp Franck, Hermann Josef Hober und Franz Christoph Scheidel sollten die dritte Appellationsinstanz ausmachen, jedoch vor Verkündung eines Urteils dasselbe samt Relation (an ihn) einschicken.358 Die drei genannten Personen waren Wirkliche Geistliche Räte und als solche Mitglieder des Erzbischöflichen Generalvikariates.359 Die dritte Instanz wurde jedoch nicht für ständig, sondern nur für diesen Fall eingerichtet. Dafür spricht, daß die bestellten Richter sich als Commissarii bezeichneten.360 Sie fragten beim Erzbischof an, ob sie in dieser Sache die Parteien noch handeln lassen oder ob sie bloß, „wie bei hiesigem Revisorio361 gebräuchlich“, lediglich nach den Acta priora sprechen sollten. Der Erzbischof gab zur Antwort, sie sollten sich an das Verfahren halten, das bei dem kurfürstlichen Revisorium üblich sei.362 Mit dieser Lösung waren die Beteiligten nicht zufrieden. Ein Prokurator machte geltend, die Kommission sei Surrogatum Curiae Romanae, und dort sei es den Parteien gestattet, in via ordinaria procedere.363 Das Kollegiatstift St. Bartholomäus stellt sogar beim Erzbischof den Antrag, an 355
DA Mainz 1/613, S. 105 (24. Januar 1770). Inskript zum Protokoll des Metropolitansgerichts vom 17. November 1785 (DA Mainz 1/621, S. 209). 357 Günter Rauch, Pröpste, Propstei und Stift von Sankt Bartholomäus in Frankfurt. 9. Jahrhundert bis 1802 (= Studien zur Frankfurter Geschichte Heft 8), Frankfurt a.M. 1975. 358 Inskript zum Protokoll des Metropolitangerichts vom 15. Dezember 1785 (DA Mainz 1/621, S. 243); S. 261 f. (19. Januar 1786). 359 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1786, Mainz 1786, S. 16. 360 DA Mainz 1/621, S. 321 f. (23. März 1786). 361 Zum Mainzischen Revisionsgericht vgl. Chur-Maynzischer Staats-, Hof- und StandsCalender, Auf das Jahr Nach unseres Herrn und Heylands Jesu Christi Gnaden-reichen Geburt MDCCLVIII, Mainz 1758, S. 62; Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1785, Mainz 1785, S. 122 f. 362 DA Mainz 1/621, S. 323 f. (30. März 1786). 363 DA Mainz 1/621, S. 327 f. (30. März 1786). 356
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Stelle der dritten Instanz oder des Revisoriums die Akten an eine auswärtige Universität364 zu schicken oder den Kommissaren noch mehrere Rechtsgelehrte beizuordnen. Das Metropolitangericht hielt nichts davon, an eine auswärtige Universität zu gehen. Dort gebe es nicht immer eine genügende Anzahl von Rechtsgelehrten, um einem Dicasterium formatum gleichgeachtet zu werden und ein gründlich ausgearbeitetes Responsum oder ein mit genauer Überlegung abgegebenes Urteil erwarten zu können. Doch sollten den Kommissaren die Assessoren Karl Joseph Winterheld, Johann Scheld, Christian Schick und Balthasar Friedrich Keller, von denen keiner in der ersten oder zweiten Instanz gegenwärtig gewesen sei, beigeordnet werden.365 So geschah es auch. Die Assessoren Winterheld, Scheld, Schick und Keller wurden der an Stelle der dritten Instanz ernannten „Appellation“ zur Entscheidung beigeordnet.366 Die vier genannten Personen waren Mitglieder des Erzbischöflichen geistlichen Gerichts und Siegelamtes zu Mainz.367 Bei diesem Vorgang ist zu beachten, daß es sich hier um einen Fall handelte, der nicht aus einer der Suffraganbistümer nach Mainz gebracht wurde, sondern der in der Erzdiözese selbst spielte.
Schluß Der Gerichtsbarkeit und dem Gerichtswesen wurde in der Erzdiözese Mainz stets sorgfältige Beachtung geschenkt.368 Die Vielfalt der Gerichte im Erzbistum Mainz und deren Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte können hier nicht dargestellt werden. Als Oberhirt seines Bistums unterhielt der Mainzer Erzbischof Gerichte erster Instanz, als Vorsteher seiner Kirchenprovinz stand er dem Gericht zweiter Instanz vor. Die Gerichte erster und zweiter Instanz in der Stadt Mainz waren dem erzbischöflichen Vikariat integriert. Eines war dem Metropoliten und dem Metropolitankapitel stets bewußt, daß nämlich die auctoritas Metropolitica entscheidend auf dem funktionierenden Gericht zweiter Instanz in Mainz beruhte. Aus den zahlreichen Suffraganbistümern der Mainzer Kirchenprovinz kam eine beeindruckende Fülle von Appellationen an das Metropolitangericht. Sie wurden in rechtlich einwandfreier Weise und regelmäßig in einer angemessenen Frist erledigt. Ein Zeichen für die Sorgfalt und die Unparteilichkeit, mit denen das Metropolitangericht an die Urteile der Vorinstanz heranging, scheinen mir die zahlreichen Urteile zu sein, in denen der Spruch des Vorrichters teilweise bestätigt, teilweise abgeändert wurde.369 Was zunächst als umständlich erscheinen möchte, nämlich die kollegiale Verhandlungsweise, erwies sich dank des Austausches der Ansichten und 364
Vgl. P. Conring, Spruchtätigkeit (der Fakultäten): HRG IV, 1990, Sp. 1787 – 1791. DA Mainz 1/621, S. 361 f. (11. Mai 1786). 366 DA Mainz 1/621, S. 379 f. (30. Juni 1786). 367 Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1786, Mainz 1786, S. 21. 368 Z.B.: Ludwig Falck, Rechtsprechung und Verwaltung im spätmittelalterlichen Mainz: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde N.F. 36, 1978, S. 63 – 85. 369 Z.B.: DA Mainz 1/208, S. 200 (9. März 1724). 365
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unter der Herrschaft des Mehrheitsprinzips als förderlich. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß zumindest von einem Suffragan, dem Bischof von Speyer, August von Limburg-Stirum (1770 – 1797),370 gewisse Gravamina gegen das Mainzer Metropolitangericht vorgebracht wurden, die sich auf die angebliche oder wirkliche Mißachtung der bischöflichen Gewalt bezogen.371 So gut für die Gerichtsbarkeit in der zweiten Instanz gesorgt war, so prekär blieb die drittinstanzliche Rechtsprechung, weil in Mainz bezüglich der Wahrung der Metropolitanautorität beträchtliche Empfindlichkeit obwaltete. Die Berufung an den Apostolischen Stuhl sah man nicht gern, mußte man aber aus Gründen der hierarchischen Ordnung geschehen lassen. Die Gerichtsbarkeit der Nuntien wurde dagegen in jeder, vor allem in der zweiten Instanz, in Mainz als unerträglicher Eingriff in die Metropolitanrechte angesehen. Die wiederholt unternommenen Versuche, die Gerichtsbarkeit des Kölner Nuntius auszuschalten, führten jedenfalls außerhalb der Erzdiözese nicht zum Ziel. Bistümer wie Fulda, Würzburg und Speyer ließen sich weder die Verhandlung einer in Rom eingebrachten Berufungssache vor dem Nuntius noch die unmittelbare Appellation an diesen verbieten. Im Zusammenhag mit den Ereignissen des ausgehenden 18. Jahrhunderts entfiel die Metropolitanstellung von Mainz und damit auch das Metropolitangericht. Was dem Bistum Mainz verblieb, war die erstinstanzliche Rechtsprechung.
370 J. Brein, Limburg-Stirum: LThK VI, 1934, Sp. 576 f.; Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz III, 2, S. 120 – 127, 134 – 138. 371 Tagbuch, S. 310 – 313 (18. Mai 1787).
Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert
Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30 – 43 IPO) auf dem Westfälischen Friedenskongreß Einleitung Die Unruhe und der Unfriede, die durch die Glaubensspaltung in die Länder des Deutschen Reiches gekommen waren, riefen nach Abhilfe oder Milderung. Man sah ein geeignetes Mittel darin, daß die Angehörigen jener Konfession, die von der des Landesherrn abwich, ausgewiesen wurden bzw. daß ihnen gestattet wurde, das Land zu verlassen. Der Augsburger Religionsfriede1 gewährte daher in § 24 den Untertanen das Recht der Auswanderung aus religiösen Gründen. Das ius reformandi, der Bekenntnisbann des Landesherrn, wurde fortan durch das ius emigrandi der Untertanen eingeschränkt. Die Bestimmungen des Religionsfriedens waren nun nicht in jeder Hinsicht eindeutig und wurden dementsprechend verschieden ausgelegt2. Dies gilt auch für das ius emigrandi. So vertrat die protestantische Publizistik einhellig die Meinung, das vom Augsburger Religionsfrieden gewährte beneficium emigrandi sei eine Wohltat, die allein zugunsten der protestantischen Untertanen wirke, indem sie es in das Belieben der Anhänger des Augsburger Bekenntnisses stelle, entweder in ein Land auszuwandern, in dem es öffentliche protestantische Religionsausübung gebe, oder im Lande (katholischer Landesherren) zu bleiben, darin den Glauben privat zu pflegen und sich nicht an dem katholischen Bekenntnis beteiligen zu müssen3. Ein Zwang zur Auswanderung durch den Landesherrn war nach dieser Auslegung unzulässig. Die Katholiken beharrten dagegen darauf, daß der Religionsfriede lediglich ein ius emigrandi kenne und daß jede Obrigkeit befugt sei, in ihrem Gebiet das ius reformandi auszuüben mit der Wirkung, daß fremdkonfessionelle Untertanen, die sich ihm nicht fügen wollten, ausgewiesen werden könnten. Diese Auslegung war zweifellos die richtige. Der Augsburger Religionsfriede sah außer den zwei Möglichkeiten, sich entweder dem Bekenntnis des Landesherrn anzuschließen oder das Land zu verlassen, keine weitere vor. Von der 1 Karl Zeumer (Bearb.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit (= Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht 2. Bd.), Leipzig 1904, 282 – 311, hier 288. 2 Vgl. Georg May, Zum ,ius emigrandi‘ am Beginn des konfessionellen Zeitalters: AfkKR 155, 1986, 92 – 125. 3 Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (= Ius Ecclesiasticum Bd. 6), München 1968, 168 f.
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Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert
privaten Religionsübung als einer dritten Möglichkeit war mit keiner Silbe die Rede. Trotz dieser klaren Rechtslage beharrten die Protestanten auf ihrer Meinung. In diesem Streit suchte der Westfälische Frieden4 zu klären und zu schlichten. Der einschlägige Art. V IPO gab sich als ,,declaratio“ der dunklen und streitigen Gegenstände des Augsburger Religionsfriedens, wie Art. V § 1 IPO erklärte, behauptete also, er sei bloße authentische Interpretation des Augsburger Religionsfriedens, solle dessen Zweifel lösen und dessen Lükken füllen. Aber gleichzeitig wurde der ,,declaratio sive transactio“ derselbe Rang wie dem Passauer Vertrag und dem Augsburger Religionsfrieden zugebilligt, nämlich eine ,,constitutio imperii“ zu sein (Art. V §§ 1, 16 IPO). Der hier in Frage stehende Art. V IPO war ein Bestandteil des Friedensvertrages zwischen dem Kaiser und Schweden, aber innerhalb desselben eine ,,compositio inter Caesarem, Electores Principes et status Imperii inita“ (§ 47 [50] IPM), also eine Vereinbarung zwischen dem Kaiser, den Kurfürsten, den Fürsten und den Ständen des Deutschen Reiches. Das ius bzw. beneficium emigrandi wurde im wesentlichen in Art. V §§ 30 – 43 IPO geordnet. Im folgenden soll, soweit es der Raum gestattet, gezeigt werden, welches der Weg zu den wichtigsten dieser Bestimmungen war.
I. Die Entstehung und der Austausch der Religionsgravamina 1. Die protestantischen Gravamina Die Protestanten waren von Anfang an entschlossen, ihre religiös-kirchlichen (wie ihre politischen) Beschwerden zum Gegenstand der Friedensverhandlungen5 4
Zeumer, Quellensammlung 332 – 379. Als Hauptquelle kommt immer noch Johann Gottfried von Meiern, Acta Pacis Westphalicae Publica. Oder Westphälische Friedenshandlungen und Geschichte, 6 Tle., Hannover 1734 – 1736 in Betracht. Daneben sind Carl Wilhelm Gärtner, Westphälische FriedensCantzley, 9 Tle., Leipzig 1731 bis 1738 und Adam Adami, Relatio Historica de Pacificatione Osnabrugo-Monasteriensi, Leipzig 1737 unentbehrlich. Dazu kommen jetzt die von Konrad Repgen herausgegebenen Acta pacis Westphalicae. Ich erwähne davon: Fritz Dickmann/ Kriemhild Goronzy/Emil Schieche/Hans Wagner/Ernst Manfred Wermter (Bearb.), Instruktionen. Bd. 1: Frankreich, Schweden, Kaiser (= APW Serie I Bd. 1), Münster/Westf. 1962; Wilhelm Engels/Elfriede Merla (Bearb.), Die kaiserlichen Korrespondenzen. Bd. 1: 1643 – 1644 (= APW Serie II Abt. A Bd. 1), Münster/Westf. 1969; Wilhelm Engels (Bearb.), Die kaiserlichen Korrespondenzen. Bd. 2: 1644–1645. Mit einem Nachtrag von Karsten Ruppert (= APW Serie II Abt. A Bd. 2), Münster/Westf. 1976; Ernst Manfred Wermter (Bearb.), Die schwedischen Korrespondenzen. Bd. 1: 1643 – 1645 (= APW Serie II Abt. C Bd. 1), Münster/ Westf. 1965; Wilhelm Kohl (Bearb.), Die schwedischen Korrespondenzen. Bd. 2: 1645 – 1646 (= APW Serie II Abt. C Bd. 2), Münster/Westf. 1971; Gottfried Lorenz (Bearb.), Die schwedischen Korrespondenzen. Bd. 3: 1646 – 1647 (= APW Serie II Abt. C Bd. 3), Münster/ Westf. 1975; Winfried Becker (Bearb.), Protokolle. Bd. 1: Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie (= APW Serie III Abt. A Bd. 1), Münster/Westf. 1975; Fritz Wolff/Hildburg Schmidtvon Essen (Bearb.), Protokolle. Bd. 4: Die Beratungen der katholischen Stände. 1. 1645 – 1647 (= APW Serie III Abt. A Bd. 4, 1), Münster/Westf. 1970; Günter Buchstab (Bearb.), Protokolle. 5
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in Osnabrück und Münster zu machen. Folgerichtig enthielten bereits die Anträge, die sie Mitte März 1645 überreichten, den Wunsch, u. a. das ius emigrandi geklärt zu sehen6. Die Protestanten hatten in den Schweden7 harte, ja in mancher Hinsieht unerbittliche Verfechter ihrer Belange. Die Schweden nahmen sich auch der protestantischen Religionsgravamina intensiv an; sie spielten in der Korrespondenz ihrer Gesandten keine geringe Rolle8. Die Schweden reihten die Religionsgravamina ihrer Glaubensgenossen in globo in die Proposition ein, die am 1./11. Juni 16459 den Gesandten des Kaisers übergeben wurde. Dagegen erwähnten die Franzosen in ihrer ersten Proposition10 die Religionsbeschwerden nicht. Sie erklärten schon zu Anfang, daß sie bezüglich der Beschwerden weder etwas für die Protestanten noch für die Katholiken tun würden11. Die Katholiken konnten daher zu ihrer herben Enttäuschung während der ganzen Friedensverhandlungen niemals mit der nachhaltigen Unterstützung Frankreichs rechnen. Am 18. Juli 164612 beklagten sich die kaiserlichen Gesandten bitter darüber, daß die Franzosen bei den kirchlichen Gravamina den Katholiken schon öfters Hilfestellung versprochen, aber bisher nichts davon gehalten hätten; auch künftig sei von ihnen nichts zu erwarten. Die Katholiken wehrten sich lange gegen die Behandlung der Religionsfragen auf dem Friedenskongreß, vermochten sie aber nicht zu verhindern. Die Kaiserlichen erklärten, die inneren Angelegenheiten des Reiches gingen die Schweden nichts an13. Der Kurfürst von Sachsen teilte die Ansicht des Kaisers, daß der Friedenskongreß nicht zu dem Zweck berufen werde, um innerBd. 6: Die Beratungen der Städtekurie Osnabrück 1645 – 1649 (= APW Serie III Abt. A Bd. 6), Münster/Westf. 1981; Helmut Lahrkamp (Bearb.), Varia. Bd. 1: Stadtmünsterische Akten und Vermischtes (= APW Serie III Abt. D Bd. 1), Münster/Westf. 1964; Joachim Foerster/ Roswitha Philippe (Bearb.), Diarium Volmar. 2 Tle. (= APW Serie III Abt. C Bd. 1), Münster/ Westf. 1984. Die letzte umfassende Darstellung ist Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 5. Aufl., hg. von Konrad Repgen. Mit Nachtrag des von 1964 – 1984 erschienenen Schrifttums zum Westfälischen Frieden und zum Dreißigjährigen Krieg, zusammengestellt von Winfried Becker, Münster/Westf. 1985. Immer noch nützlich sind Karl Ludwig von Woltmann, Geschichte des Westphälischen Friedens, 2 Tle., Leipzig 1808/09, Friedrich Karl Wild, Geschichte des westphälischen Friedens nebst einem kurzen Abriß des dreißigjährigen Krieges, Nördlingen 1848 und Moriz (sic) Ritter, Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede: HZ 101, 1908, 253 – 282. 6 Meiern I, 382 f. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 182. 7 Clas Theodor Odhner, Die Politik Schwedens im Westphälischen Friedenscongress und die Gründung der schwedischen Herrschaft in Deutschland, Gotha 1877. 8 Ich verweise auf Kohl, Die schwedischen Korrespondenzen II, 28, 75, 107, 109 f., 130, 133, 141, 149, 157, 164, 166 f., 188, 320, 331 f., 338 f., 354, 357, 364, 366, 387, 396, 410, 413, 415, 422 f., 478, 491, 504, 515. 9 Meiern I, 435 – 442. Vgl. Wermter, Die schwedischen Korrespondenzen I, 630 – 653; Odhner, Die Politik Schwedens 98 f.; Wild, Geschichte des westphälischen Friedens 36. 10 Meiern I, 443 – 448. 11 Wild, Geschichte des westphälischen Friedens 35. 12 Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 674 f. 13 Wild, Geschichte des westphälischen Friedens 37.
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deutsche Fragen zu regeln14. Doch angesichts der protestantisch-schwedischen Einheitsfront blieb dem Kaiser nichts übrig, als die Religionsbeschwerden in die Traktandenliste aufzunehmen15. Die kaiserliche Proposition vom 25. September 164516 an die Reichsstände erhob die Gravamina zum Gegenstand der Beratung, allerdings nicht durch die drei ordentlichen Kollegien, sondern durch die konfessionellen Corpora17. Die Protestanten hatten ihren Willen durchgesetzt. Von diesem Zeitpunkt an blieben die Beschwerden, wenn auch mit Unterbrechungen, ein Gegenstand der Verhandlungen auf dem Friedenskongreß zwischen den Schweden und dem Kaiser sowie zwischen den protestantischen und den katholischen Reichsständen bis zum Jahre 164818; die Erörterungen folgten im allgemeinen der Reihenfolge, die in der Proposition der Schweden angegeben war. Am Kaiserhof hätte man es gern gesehen, wenn die Beschwerden wenigstens rasch erledigt worden wären. In der Instruktion Kaiser Ferdinands III. (1637 – 1657) vom 16. Oktober 164519 wurde als erstes Ziel der Verhandlungen die Vergleichung oder Vereinigung der Stände in bezug auf die Amnestie und die Gravamina angegeben. Aber diese Absicht konnte nicht erreicht werden. Die Frage der Gravamina schleppte sich vielmehr jahrelang hin. Die Hartnäckigkeit und die Zähigkeit der Protestanten zahlten sich aus. Sie verstanden es, diesbezüglich im Deutschen Reich im wesentlichen ihre Intentionen durchzusetzen, während sie in den kaiserlichen Erblanden20 weniger erfolgreich waren. Protestanten wie Katholiken bildeten je einen Ausschuß, der sich mit den Gravamina befaßte, die Deputatio ad Gravamina. In dem protestantischen Gremium war Wolfgang Konrad von Thumbshirn, der Gesandte von Sachsen-Altenburg, für die Religionsbeschwerden zuständig21. Der Erste Entwurf der evangelischen Stände zu den Propositionen der beiden Kronen und der kaiserlichen Responsionen vom 27. Oktober/6. November 164522 enthielt auch die Beschwerden wegen des ius emigrandi. 14
Dickmann, Der Westfälische Frieden 358. Meiern I, 618 – 623, hier 621. 16 Meiern I, 615 – 617. Vgl. Engels, Die kaiserlichen Korrespondenzen II, 489 – 493. 17 K. Repgen, Corpus Evangelicorum: LThK III, 2. Aufl., 1959, 64 f.; Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Die Einfügung der konfessionellen Ständeverbindungen in die Reichsverfassung (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte e. V. 2), Münster/Westf. 1966. 18 Die Phasen der Verhandlungen werden sorgfältig abgegrenzt bei Gerhard Schmid, Bestrebungen und Fortschritte in der Frage der konfessionellen Gleichberechtigung auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Phil. Diss. Jena, Jena 1952. 19 Dickmann u. a., Instruktionen I, 440 – 452, hier 441. 20 E. C. Hellbling, Erblande: HRG I, 1971, 966 – 968. 21 Dickmann, Der Westfälische Frieden 344. 22 Meiern I, 740 – 765. In diesem Entwurf waren auch grundsätzliche Ausführungen zum Religionswesen gemacht. So hieß es, die Bestellung und Anordnung der öffentlichen Religionsübung etc. hänge unmittelbar vom ius territoriale ab, und das ius reformandi sei das vornehmste ius superioritatis. Es fand sich darin auch der Satz: ,,Cujus est Regio, ejus est de Religione dispositio.“ 15
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Das Projekt ging aus von dem ius sacrorum, das von dem ius territoriale abhänge, ja es sei das vornehmste ius superioritatis. Der Augsburger Religionsfriede habe es den evangelischen Untertanen katholischer Obrigkeiten freigestellt, zu bleiben oder sich anderswohin zu wenden. Zum Beweis führte der Entwurf die Deklaration König Ferdinands II. an, wonach die Untertanen bei der hergebrachten evangelischen Religionsübung belassen werden sollten. 1575 sei dieses Dokument in Regensburg vorgelegt worden. Doch habe man den Anhängern des Augsburger Bekenntnisses die öffentliche wie die private Religionsübung entzogen. Im öffentlichen und im privaten Recht habe man sie zurückgesetzt. Wer das ius emigrandi gebrauchen wolle, dem werde es so schwer gemacht, daß er das meiste zurücklassen müsse. Es werde ihm ein (zu) kurzer Termin zum Verkauf seines Besitzes angesetzt und noch vor dem Verkauf die volle Nachsteuer verlangt; nach Ablauf des Termins werde ihm nicht gestattet, ,,das Gut wieder zu beziehen“; so werde mancher gezwungen, sein Vermögen ,,um ein liederliches hinzuschlagen“, das er gleichwohl hernach aus Mangel der Justiz ,,langsam und beschwerlich erlanget“. Viele solche Kaufpreise seien unter allerlei Vorgaben konfisziert worden. Manchmal seien Eltern ihre Kinder vorenthalten worden. ,,An vielen Orten“ sei die Auswanderung den Untertanen ganz verweigert und seien sie zum katholischen Glauben gezwungen worden. Auch wo einer Obrigkeit nicht das ius territorii zustehe, habe man die Protestanten ausgewiesen. Gefordert wurden die Abstellung dieser Härten, die Wiedereinführung der öffentlichen evangelischen Religionsübung, wo sie vorher bestanden habe, vor allem wo sie durch pacta oder praescriptiones hergebracht sei, die Gewährung dieser Religionsübung, wo sie bisher nicht bestehe, die Abschaffung der Ausweisung evangelischer Untertanen und ihre Aufnahme in Länder mit katholischer Obrigkeit sowie ihre rechtliche Gleichstellung mit den Katholiken. Hier wurden schwerwiegende Vorwürfe erhoben. Sie reichten von der Erschwerung bis zu der Verhinderung der Auswanderung. Es wurde der Anschein erweckt, als sei es den Urhebern um die Gewährleistung des ius emigrandi zu tun; erst der weitere Fortgang sollte erweisen, daß den Protestanten nicht am Abzug, sondern am Bleiben gelegen war. Dieser Entwurf wurde in der Folgezeit von den evangelischen Ständen beraten23. Dabei traten manche Ungereimtheiten zutage. So bemängelte beispielsweise der Vertreter von Lübeck, als die städtischen Gesandten am 18. November 1645 in Osnabrück über die Gravamina sprachen, daß bei dem Emigrationsrecht die Belege fehlten24. Schon in diesem Stadium der Verhandlungen verwandten sich die Schweden für die Forderungen der Protestanten. Am 20. November 1645 trug der schwedische Gesandte Johan Adler Salvius den kaiserlichen Gesandten die Beschwerde der Protestanten vor, daß ihre Glaubensgenossen in den Erblanden ausgewiesen würden. Dieses Verfahren sei wider den Augsburger Religionsfrieden, worin das ius emigrandi ein beneficium sei, das man aber in eine 23 24
Meiern I, 765 – 801, vor allem 779 – 784 (Gravamina). Buchstab, Protokolle VI, 29.
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,,poenam et odium“ verwandelt habe25. Damit war der bekannte polemische Standpunkt der protestantischen Publizistik eingenommen. Gleichzeitig war aber das Hauptziel der Bestrebungen der Protestanten angegeben: Ihre Glaubensgenossen sollten, in der Religionsübung unbehindert, in den katholischen Ländern verbleiben dürfen, um dort durch biologische Vermehrung und Übertrittspropaganda weiter an Boden zu gewinnen26. Die kaiserlichen Gesandten wiesen demgegenüber auf das Sektenwesen hin. Der Kaiser habe nicht gegen den Religionsfrieden gehandelt, sondern nur das Beispiel der protestantischen Reichsstände nachgeahmt, die Andersgläubige fortgeschafft und die Maxime aufgestellt hätten, daß ein Untertan der Religion seines Herrn folgen oder das Land räumen müsse27. Diese Erwiderung war zutreffend, aber sie entbehrte ebenso der Nachweise der Fakten wie die protestantische Behauptung. In den Beratungen, welche die evangelischen Stände Mitte November 1645 in Osnabrück über ihr Gutachten vom 6. November 1645 pflogen28, wurden auch die Gravamina neu gefaßt29. Das ,,Vollständige Gutachten der Evangelischen Stände zu Osnabrück“, das auf die Propositionen der beiden Kronen und die kaiserlichen Responsionen hin ausgeliefert wurde (November 1645)30, folgte im allgemeinen dem Entwurf und enthielt also auch das Gravamen bezüglich des ius emigrandi. Es wurde noch eingefügt, daß diejenigen, die zum katholischen Glauben gezwungen worden seien, ,,mit abscheulichen Pflichten und Reversen dabey zu verbleiben“ seien ,,verbunden worden“. Am 15./ 25. Dezember 164531 wurden die evangelischen Gravamina offiziell den Kaiserlichen und den Schweden übergeben32. Im Augsburger Religionsfrieden, hieß es darin, sei festgesetzt worden, daß die evangelischen Untertanen katholischer Stände nicht wegen ihres Bekenntnisses zum Abzug genötigt werden dürften, so daß sie entweder im Lande bleiben und ihre Religion ausüben oder freiwillig auswandern könnten. Im Gegensatz dazu sei ihnen nicht nur die öffentliche, sondern auch die private Religionsübung entzogen worden; ebenso habe man ihnen untersagt, in der Nachbarschaft den Gottesdienst zu besuchen und Hausandacht zu halten; schließlich seien sie in bürgerlicher und wirtschaftlicher Hinsicht benachteiligt worden. Auch habe man sie vom protestantischen Bekenntnis abwendig machen wollen. Das Dokument klagte sodann über die Erschwerung oder Verweigerung des ius emigrandi. Die Auswanderer müßten das meiste zurücklassen, der Termin zum 25 26
57. 27
Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 479. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 344 f.; Schmid, Bestrebungen und Fortschritte
Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 480. Meiern I, 765 – 801. 29 Meiern I, 779 – 784. 30 Meiern I, 801 – 831, hier 819. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 345. 31 Meiern II, 138. Vgl. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 84 – 91; Matthias Koch, Geschichte des Deutschen Reiches unter der Regierung Ferdinands III., 2 Bde., Wien 1865/66, hier II, 186 f. 32 Text: Meiern II, 522 – 537. Vgl. Adami Relatio Historica 137 – 146; Odhner, Die Politik Schwedens 154. 28
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Verkaufen sei zu knapp bemessen, es werde ihnen eine Nachsteuer ausgepreßt, nach Ablauf des Termins werde ihnen nicht gestattet, das Gut wieder zu beziehen, so schlage mancher sein Vermögen um geringen Preis los, viele Kaufpreise seien schwer zu erlangen oder ganz konfisziert, angefallene Erbschaften unterschlagen worden, von den dem Ministerium verordneten Legaten werde die Nachsteuer gefordert, teilweise würden den Eltern ihre Kinder vorenthalten, an vielen Orten werde die Emigration ganz verweigert, die Menschen würden mit Gefängnis und anderen schweren Zumutungen zum päpstlichen Glauben gezwungen und mit Reversen verpflichtet, dabei zu bleiben, Stände, die ein bloßes ius communionis vel retentionis besitzen, hätten es benutzt, um die Evangelischen auszuschaffen, auch gegen den Willen des Genossen oder Herrn. Daran schlossen sich die Forderungen an, welche die Protestanten erhoben. Ihren Bekenntnisangehörigen sei das publicum exercitium religionis, wo es vordem bestanden, und zumal, wo es durch pacta, oder praescriptiones hergebracht sei, auch fürderhin zu vergönnen, jenen, die es nicht haben, müsse gestattet werden, es einzurichten; niemand solle wegen der protestantischen Religion gezwungen werden, seine Habe zu verkaufen, niemandem aus diesem Grunde verwehrt werden, als Untertan, Bürger oder Vasall angenommen zu werden, niemand deswegen von Ämtern oder Gemeinschaften ausgeschlossen werden. Dies war zweifellos ein Maximalprogramm der ,,Konfessionisten“. Die erste protestantische Gravaminaschrift geriet, wie richtig gesagt wurde, ,,zu einer Zusammenstellung der extremsten protestantischen Wünsche“33. Die Protestanten begehrten die ,,Freistellung“ oder ,,Autonomie“, d. h. die allgemeine Zulassung der Ausübung des Augsburger Bekenntnisses im ganzen Deutschen Reiche. Von dieser Maßnahme errechneten sie sich die weitere Ausdehnung des Protestantismus und die endliche Vernichtung des Katholizismus. Jetzt wurde es offenkundig, wie wenig ihnen daran gelegen war, daß die katholischen Stände evangelische Untertanen auswandern ließen, daß sie vielmehr das Ziel hatten, ihre Glaubensgenossen als Missionare ihrer Lehre in den katholischen Ländern zu belassen und ihnen dort öffentliche oder wenigstens private Religionsübung zu verschaffen. Schon gar nicht vermochten sie sich mit der Ausweisung zu befreunden, strebten vielmehr mit aller Macht und immer neuen Ansätzen danach, den Auswanderungszwang zu beseitigen; das ius emigrandi sollte allein zugunsten der Untertanen wirken. Dabei beriefen sich die Urheber des Textes auf den Augsburger Religionsfrieden. Selbstverständlich war die Auslegung, die diesem hier gegeben wurde, unzutreffend; die von den Protestanten behauptete Alternative – Gewissensfreiheit im Lande oder freiwillige Auswanderung aus dem Lande – hatte es nie gegeben. Sie stand vielmehr in schärfstem Widerspruch zu dem von ihnen aufgebrachten und im Augsburger Re-
33 Gerhard Schmid, Konfessionspolitik und Staatsräson bei den Verhandlungen des Westfälischen Friedenskongresses über die Gravamina Ecclesiastica: Archiv für Reformationsgeschichte 44, 1953, 203 – 223.
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ligionsfrieden reichsrechtlich anerkannten ius reformandi34. Die Katholiken erkannten diesen schwachen Punkt und insistierten daher in den folgenden Verhandlungen unnachgiebig auf dem Reformationsrecht, das eben das Recht zur Ausweisung in sich schloß. Es fällt auf, daß in dem Dokument der Protestanten ein überaus starker Akzent auf die materielle Seite der Auswanderung gelegt wurde. Die darauf bezüglichen Bestimmungen wurden in der Folgezeit immer mehr erweitert und ausgefeilt. Vermutlich waren die Urheber dieser Schrift von der Aussicht, die darin enthaltenen Forderungen in vollem Umfang durchzusetzen, selbst nicht überzeugt. Aber sie ließen sich von dem taktischen Prinzip leiten, daß, wer alles verlangt, wenigstens viel erhält, und die Entwicklung der Verhandlungen gab ihnen recht.
2. Die Antwort der Katholiken Bereits in diesem Stadium der Verhandlungen zeigte sich deren Grundzug: Die Protestanten waren im Angriff, die Katholiken in der Verteidigung. Die größere Geschicklichkeit in der Argumentation war eindeutig auf seiten der Protestanten. Die Katholiken mußten jetzt zu dem Vorbringen der Protestanten Stellung nehmen. Auf ihrer Konferenz vom 20. Dezember 164535 bemerkte die katholische Deputatio ad Gravamina, daß die Beschwerde der Protestanten betreffs des ius emigrationis genauer Nachprüfung bedürfe. Die Katholiken waren zu diesem Zeitpunkt wohl noch der Meinung, es sei den Protestanten lediglich um die Abstellung von Härten bei der Anwendung der Ausweisung zu tun, und sie könnten sie zufriedenstellen, wenn sie in diesem Punkt Entgegenkommen bewiesen; sie begriffen noch nicht, daß ihnen die Waffe der emigratio necessaria völlig entwunden werden sollte. Bald darauf taten die katholischen Stände, was in der Situation das einzig richtige war: Sie gingen zum Gegenangriff vor, d. h. sie stellten ihre Religionsbeschwerden zusammen. Am 29. Januar/8. Februar 164636 wurden die Gravamina der Katholiken37 den Gesandten von Württemberg und Kulmbach in Münster sowie den Mediatoren und den Gesandten Schwedens und Frankreichs übergeben. Hier interessiert lediglich der Punkt des ius emigrandi. Dazu wurde erklärt, die von den Protestanten behauptete Möglichkeit der Wahl, entweder in katholischen Ländern zu bleiben oder (freiwillig) auszuwandern, existiere nicht. Die zur Unterstützung herangezo-
34 K. Schlaich, Jus reformandi: HRG II, 1978, 498 – 502. Immer noch nützlich ist Burkhard von Bonin, Die praktische Bedeutung des ius reformandi. Eine rechtsgeschichtliche Studie (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 1. Heft), Stuttgart 1902, Nachdruck: Amsterdam 1962. 35 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 82 f. 36 Meiern II, 258, 537 f. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 345; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 191 f. 37 Text: Meiern II, 539 – 565. Vgl. Adami Relatio Historica 149 – 170; Wolff, Protokolle IV, 1 S. 94 – 100.
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gene sogenannte Declaratio Ferdinandea38 könne dafür nicht angeführt werden, denn sie sei den Katholiken nicht mitgeteilt worden und finde sich nicht in den Reichstagen zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens; erst 1575 hätten die Protestanten sie vorgebracht. Für ihre Unwirksamkeit wurde eine Anzahl von rechtlichen Gründen angeführt. Die Katholiken beschwerten sich dann ihrerseits, daß ihre Untertanen von den Protestanten zu deren Religion verführt oder verlockt würden. Wo die katholischen Stände ihren Untertanen die Ausübung der Augsburgischen Konfession gestattet hätten, da hätten diese die Nachsicht zum Schaden der Stände benutzt. Die Protestanten hätten alle Katholiken in ihren Gebieten entweder ausgewiesen oder zum Protestantismus gezwungen. Daher könnten sie es nicht übelnehmen, wenn die Katholiken gemäß dem Augsburger Religionsfrieden ihre fremdkonfessionellen Untertanen auswiesen. Schließlich erklärten die katholischen Stände, daß die Untertanen, die ,,der Religion halben (sic) sich nicht bequemen, sondern lieber hinweg ziehen wollten“, wegen Ansetzung zu kurzer Termine verkürzt oder anderswie gegen ,,Fug und Billigkeit“ belästigt und beschwert würden, ,,dessen hat man keine eigentliche Nachricht“. Wenn die Protestanten also auf diesem Gravamen beharrten, müßten sie Belege erbringen. Falls wirklich etwas Ungebührliches geschehen sei, erböten sich die Katholiken, Abhilfe zu schaffen. Wie zu erwarten war, wiesen die Katholiken die Auslegung, welche die Protestanten dem einschlägigen Artikel des Augsburger Religionsfriedens gaben, zurück. In dieser Hinsicht war die Verknüpfung von ius reformandi und ius emigrandi ein durchschlagendes Argument. Die Ablehnung der Ferdinandeischen Erklärung war ebenfalls unanfechtbar. Denn sie war kein Bestandteil des Religionsfriedens, und es fehlte ihr die notwendige amtliche Veröffentlichung39. Es ehrt die Katholiken, daß sie ihre Bereitschaft zur Abstellung von etwa vorgekommenen Härten beim Abzug von Protestanten erklärten, aber taktisch klug war es nicht. Besser hätten sie mit einer solchen Erklärung bis zu dem Augenblick gewartet, wo ihnen Tatsachen auf den Tisch gelegt worden wären. 3. Die Instruktionen des Kaisers Da die Schweden darauf bestanden, mit dem Kaiser über die Religionsbeschwerden zu verhandeln, bedurften die kaiserlichen Gesandten der Weisung, wie sie in dieser Hinsicht vorzugehen hatten. Zweimal kam der Kaiser in seinen Instruktionen ausführlich auf den Punkt. zu sprechen. Am 11. Januar 164640 belehrte Ferdinand III. seine Gesandten zum erstenmal, wie sie sich bezüglich der 38 Karl Brandi, Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555. Kritische Ausgabe des Textes mit den Entwürfen und der königlichen Deklaration, 2., erweit. und verb. Aufl., Göttingen 1927, 52 – 54. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 10. 39 Konrad Repgen, Die Römische Kurie und der Westfälische Friede. Bd. I: Papst, Kaiser und Reich 1521 – 1644. 1. Tl. (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom Bd. 24), Tübingen 1962, 72 A. 71. 40 Ruppert, Die kaiserlichen Korrespondenzen III, 125 – 151, hier 141 – 143 und 149.
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Gravamina zu verhalten hätten. Er erklärte zu dem (9.) protestantischen Gravamen über das ius emigrandi, in der Antwort der katholischen Stände im § ,,Wann auch endtlich“ sei nachgewiesen, daß das beneficium emigrandi necessarium sei, d. h., daß die Untertanen, die sich nicht zu der Religion ihrer Obrigkeit bekennen wollen, aus dem Lande weichen müßten, wie der Augsburger Religionsfriede im § ,,Eß soll auch“ (= § 23) und im § ,,Wo aber“ (= § 24) festgesetzt habe. Bei dieser Bestimmung solle es bleiben. Was die Frage nach den Fakten der Übereilung und Verhinderung bei der Auswanderung betreffe, lasse er, der Kaiser, es wie die katholischen Stände bei der Erklärung bewenden, daß er davon nichts wisse und daß er es den Protestanten, falls sie anderer Meinung seien, überlasse, den Nachweis zu führen. Beim 20. Gravamen der Protestanten verwies er die Gesandten auf das 9. Gravamen und das beneficium emigrationis; für seine Erbländer ließ er – anders als die Antwort der katholischen Stände – keine Berufung der Landstände auf Privilegien, Pakten und andere Titel, welche iura religionis und freie Religionsübung begründen sollten, zu. Der Kaiser stellte sich mithin auf den Standpunkt des Augsburger Religionsfriedens. Er führte richtig die §§ 23 und 24 vereint an. Denn der § 24 des Religionsfriedens war nur im Zusammenhang mit dem § 23 zu verstehen und sachgerecht auszulegen; das Auswanderungsrecht war ja eine Einschränkung des Reformationsrechts. Für die Erbländer lehnte er kategorisch die Reduzierung des ius reformandi, mit der im Deutschen Reich zu rechnen war, ab. Entsprechend dieser Weisung verhielten sich fortan die kaiserlichen Gesandten. Maximilian Graf Trauttmansdorff handelte nach der Maxime: Festbleiben in bezug auf die österreichischen Erblande, Nachgeben in bezug auf das Reich. In der umfangreichen Instruktion vom 27. Februar 164641 gab Ferdinand III. seinen Gesandten erneut Weisungen für die Behandlung der protestantischen Gravamina. Er wiederholte seinen schon früher kundgegebenen Standpunkt, daß er sich in seinen eigenen schlesischen Fürstentümern die Änderung der Religion so wenig nehmen lasse, wie andere Fürsten sie gestatteten. Bei den übrigen Fürstentümern verbleibe es bei dem Religionsvergleich. In dieser Instruktion zeigte es sich, daß der Kaiser auch in den Erbländern, näherhin in Schlesien42, zu gewissen Konzessionen, die dem uneingeschränkten ius reformandi (und damit dem Ausweisungsrecht) zuwiderliefen, bereit war. Hier lagen ja auch frühere Verträge bzw. Zusagen vor. Für Schlesien ist an die kaiserliche Resolution vom 30. Mai 1635 zu erinnern43. Mit diesen Instruktionen war nichts vergeben, aber auch nichts gewon41
Ruppert, Die kaiserlichen Korrespondenzen III, 279 – 311, hier 309 f. Hugo Weczerka, Geschichtliche Einführung, in: Hugo Weczerka (Hrsg.), Schlesien (= Handbuch der historischen Stätten. Kröners Taschenausgabe Bd. 316), Stuttgart 1977, XVI–XCIII, hier LXII. 43 Jean Dumont, Corps universel diplomatique du droit des gens VI, 1, Amsterdam, Den Haag 1728, 100 f. Vgl. Karl Gustav Helbig, Der Prager Friede. Nach handschriftlichen Quellen des königlich sächsischen Hauptstaatsarchivs: Historisches Taschenbuch 3. Folge 9. Jgg., Leipzig 1859, 571 – 643, hier 623. 42
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nen. Der Kaiser war sich wohl zu dieser Zeit noch nicht bewußt, mit welcher Hartnäckigkeit die Protestanten auf Festigung und Ausweitung ihrer Positionen drängen würden. Diese begriffen dagegen sogleich ihre Chance; sie setzten einen Fuß in die um einen Spalt geöffnete Tür und suchten, sie aufzudrücken.
II. Die Verhandlungen zwischen den Religionsparteien im Frühjahr 1646 1. Die Media compositionis der Protestanten Jetzt war der Zug wieder an den protestantischen Ständen, und sie zögerten nicht, aktiv zu werden. Die Media compositionis der Protestanten, die am 26. Februar/8. März 164644 übergeben wurden, forderten das publicum exercitium religionis für die Anhänger des Augsburger Bekenntnisses, wenn dies nicht zu erreichen sei, dann wenigstens das privatum exercitium. Protestanten solle die Aufnahme in katholischen Ländern nicht verweigert, sie dürften in bürgerlicher Hinsicht nicht schlechter gestellt werden als die Katholiken. Erneut wurde verlangt, daß kein evangelischer Untertan um seiner Religion willen gezwungen werden könne, seine Habe zu verkaufen und aus dem Lande zu ziehen. Wer freiwillig auswandern wolle, dem dürfe dies nicht wegen seiner Eigenschaft als Leibeigener oder aus einem anderen Grunde verwehrt werden; ebensowenig solle ihm der Abzug durch Reverse, außerordentliche Nachsteuer oder unübliche Abfindung für die Leibeigenschaft erschwert werden. Die Media brachten nichts Neues; die Protestanten beharrten auf ihrer Position, und diese hieß: Einführung bzw. Garantie der Religionsübung für Anhänger der Augsburger Konfession unter katholischen Landesherren und Abschaffung des Zwangs zur Emigration.
2. Die Antwort der Katholiken Die Katholiken hatten sich nun mit den Media compositionis der Protestanten zu befassen. Sie wußten um die Gefahr, die von dem Bleiben der Anhänger des Augsburger Bekenntnisses im Lande ausging. Auf der Plenarkonferenz der katholischen Stände vom 3. März 1646 trat der Gesandte von Kurbayern dafür ein, daß das ius emigrationis nicht voluntarium, sondern necessitatis sei. Wenn fremdkonfessionelle Untertanen ,,gelitten werden“ müßten, werde daraus Rebellion erwachsen45. Der Deutschmeister stimmte ihm zu46. Diese katholischen Stände faßten also zuerst den politischen Aspekt der Anwesenheit von Prote44 Meiern II, 568 – 572; Adami Relatio Historica 221 – 229. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 192 f.; Wolff, Protokolle IV, 1 S. 117 f. 45 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 127. 46 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 131.
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stanten in katholischem Land ins Auge. Sie fürchteten davon Verschwörung und Aufruhr. Für die Berechtigung ihrer Befürchtung lagen genügend einschlägige Erfahrungen innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches vor. Die befürchtete Schwächung der Staaten durch die Religionsmischung der Untertanen blieb in der Folgezeit ein gewichtiges Motiv, weshalb die Katholiken das Recht der Ausweisung hartnäckig behaupteten. Auf ihrer Plenarkonferenz vom 12. März 164647 wiesen die katholischen Stände die Media compositionis der evangelischen Stände zurück. Ihre Gegenvorschläge, die den Protestanten am 7./17. März 164648 übergeben wurden, lehnten es ab, den andersgläubigen Untertanen die Entscheidung darüber zu überlassen, ob sie bleiben oder auswandern wollten; vielmehr stehe es den Ständen zu, sie zu behalten oder ihnen ,,den Ab- und Auszug anzukündigen und aufzutragen“. Das solle ohne Benachteiligung durch zu kurze Frist oder andere Beschwernis geschehen. Gegenüber den Landständen und der landsässischen Ritterschaft wurde ,,Moderation“ versprochen. Auch die Katholiken beriefen sich auf den Augsburger Religionsfrieden, aber sie interpretierten ihn anders und richtiger als die Protestanten. Es zeigte sich erneut, daß das Emigrationsrecht nicht richtig verstanden wurde, wenn man es nicht aufs engste mit dem Reformationsrecht, von dem es eben eine Ausnahme war, zusammensah49. Ein erstes Nachgeben der Katholiken kündigte sich in dem zugesagten rücksichtsvollen Verhalten der Obrigkeit gegenüber dem (mittelbaren) Adel an. 3. Weitere Gespräche Im April und Mai 1646 führten die Stände in Osnabrück unmittelbare Verhandlungen über die Gravamina. Die erste Sitzung fand am 12. April, die letzte am 5. Mai 1646 statt50. Katholiken und Protestanten tauschten ihre Argumente betreffend die Religionsfreiheit und damit auch das ius reformandi aus51. Die entscheidende Frage war: Haben die Untertanen darüber zu bestimmen, ob sie von dem ius emigrandi Gebrauch machen wollen, oder steht es der Obrigkeit zu, sie zu dulden oder auszuweisen? Eine Einigung wurde nicht erreicht. Am 3./13. April 47
Adami Relatio Historica 230 – 234; Wolff, Protokolle IV, 1 S. 155 – 161. Meiern II, 578 – 584, hier 582. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 193 f.; Ruppert, Die kaiserlichen Korrespondenzen III, 422 f., 428 f.; Annegret Knoch, Die Politik des Bischofs Franz Wilhelm von Wartenberg während der Westfälischen Friedensverhandlungen (1644 – 48). Phil. Diss. Bonn, Bonn 1966, 81 – 84; Karsten Peter Karl Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß (1643–1648). Phil. Diss. Bonn (= Schriftenreihe zur Erforschung der Neueren Geschichte Bd. 10), Münster 1979, 250. 49 Bei Meiern II, 700 – 711 werden die von Katholiken und Protestanten bezüglich des ius emigrandi vorgebrachten Argumente erörtert. 50 Meiern II, 584 – 629. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 352 f. 51 Meiern II, 723 – 725: Fundamenta Romano-Catholicorum, die Emigration der Untertanen betreffend; S. 725 – 732: Fundamenta etlicher Evangelicorum circa ius emigrandi; S. 732 – 745: Refutatio Fundamentorum Romano-Catholicorum, das ius emigrandi betreffend. 48
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164652 lehnten die Protestanten es ab, die katholischen Gegenmedia zur Grundlage der Verhandlungen zu machen, weil diese auf dem Boden des (für sie nicht akzeptablen) Prager Friedens standen. Am 14./24. April 164653 überreichte der Vertreter von Sachsen-Altenburg im Namen der evangelischen Stände die ,,Praeliminaria“ für die Gravamina. Eine Kategorie von Protestanten in einem Land mit katholischem Landesherrn sollte in jedem Falle und vor allen anderen sichergestellt werden: Wer das exercitium publicum des Augsburger Bekenntnisses unter katholischer Obrigkeit vor oder nach dem Religionsfrieden besessen habe, dem sei es zu belassen bzw. zurückzugeben. Was die übrigen Untertanen betreffe, so beharrten die Protestanten auf der Forderung, daß die Evangelischen in katholischen Ländern nicht ausgewiesen werden dürften und daß ihnen wenigstens die devotio domestica (mit Beiziehung eines Geistlichen bei Kasualfällen) gestattet werden müsse. Das sei nicht allein den jetzt vorhandenen evangelischen Untertanen zuzugestehen, sondern auch jenen, die künftig zu der evangelischen Religion übertreten oder von anderswoher einwandern würden54. Der immer noch auf Ausbreitung und Zugewinn gerichtete Zug des Protestantismus kam in dieser Position deutlich zum Ausdruck. Durch Einwanderung von Protestanten und durch Übertritte von Katholiken ließ sich, so hoffte man, in manchem Land ein Übergewicht der Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses herstellen. Die Protestanten mußten sich darüber im klaren sein, daß diese Vorschläge, trotz des Zurückgehens auf die häusliche Religionsübung, für die Katholiken inakzeptabel waren. Denn sie beseitigten das Ausweisungsrecht der Obrigkeit, die schärfste, vielfach aber auch die einzige Waffe gegen die Agitation der Konfessionisten. Auf dieses Ansinnen konnte sich kein katholischer Landesherr einlassen; ein jeder wußte um die Sogkraft der Erleichterungen, die das Augsburger Bekenntnis den Menschen versprach und die ihm immer neue Anhänger zuzuführen geeignet waren. Wenn nicht klare Trennung geschaffen wurde, waren die Gefahren unübersehbar. Die Protestanten erkannten, daß sie von den katholischen Ständen ein Eingehen auf ihre Wünsche nicht erwarten konnten. Am 14./24. April 164655 bat daher eine Deputation der evangelischen Stände die kaiserlichen Gesandten in Osnabrück, die Frage der Gravamina in den Verhandlungen mit den Schweden einer Lösung zuzuführen. Inzwischen kamen die Kaiserlichen mit einem Friedensprojekt heraus. Ihr Entwurf vom 8. Mai 164656 klammerte die Frage der Religions52
Meiern II, 590 – 596. Meiern II, 608 – 615; Paulus Volk, Der Friedensbevollmächtigte Adam Adami aus Mülheim a. Rh. bei den Verhandlungen in Münster und Osnabrück (1645 – 1648). Aus unbekannten Briefen: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere das alte Erzbistum Köln 142/143, 1943, 84 – 146, hier 100 – 102. 54 Meiern II, 613. 55 Meiern II, 631 – 633. 56 Meiern III, 66 – 73 (,,Ungefährer Entwurf“), hier 69. Vgl. Kohl, Die schwedischen Korrespondenzen II, 259 – 262, 303 – 312; Ruppert, Die kaiserliche Politik 210 – 213. 53
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freiheit der Untertanen aus und überließ ihre Regelung der zwischen Kaiser, Kurfürsten, Fürsten und Reichsständen eingegangenen Compositio, die aber durch den Vertrag zwischen dem Kaiser und den Schweden Bestätigung empfangen sollte. Die Katholiken pflogen vom 9. bis 27. Mai l64657 erneut Beratungen über die Gravamina. An dem ius emigrandi necessarium rüttelte niemand. Daß den Andersgläubigen genügend Zeit für die Auswanderung gewährt wurde, war dem Vertreter Kurbayerns selbstverständlich (14. Mai 1646)58. In allem übrigen aber standen sich im Mai/Juni 1646 die Ansichten der beiden Religionsparteien in bezug auf die ,,Autonomie“ so schroff wie eh und je gegenüber. Das Gutachten der katholischen Stände über die Gravamina vom 23. Mai l64659 führte aus, die nachgesuchte Autonomie sei dem Augsburger Religionsfrieden zuwider und deshalb nicht zu gestatten. Die Nichtkatholiken hätten sich wegen des ius emigrandi nicht zu beschweren. Die Katholiken hätten nicht die Absicht, die Emigranten „zu drücken“, sondern wollten sie mit Mäßigkeit (Temperament) behandeln, damit sie sich nicht ,,mit Fug“ zu beklagen hätten. Das neue Gutachten, das den kaiserlichen Gesandten am 29. Mai 164660 übergeben wurde, wiederholte diese Position. Die ,,Hauptsächliche Erklärung“ der Katholiken über die Religions-Gravamina, die am 1./11. Juni 164661 den evangelischen Ständen in Osnabrück übergeben wurde, sah bezüglich des ius emigrandi lapidar vor: ,,Darüber hat die Obrigkeit zu verordnen.“ Hinsichtlich der Frist und der Nachsteuer wollten sie nach Billigkeit handeln. Dabei habe es ,,sein Bewenden“. – Diese Abfertigung machte auf die Protestanten keinen Eindruck. In ihrer Replik der 55 Punkte (= ,,Fernere Erklärung“) vom 9./19. Juni 164662 bestanden sie darauf, daß kein Evangelischer zum Abzug gezwungen werden dürfe. Wenn er jedoch abwandere, dürfe keine Beschwernis erfolgen. Ja, sie stellten erneut die Forderung, daß Evangelische sich in katholische Länder sollten begeben dürfen und daß ihnen dort ,,Belehnung, Bürger-Recht und Reception nicht verweigert“ werden solle. – Es war protestantisches Prinzip, den Gegner durch Konsequenz zu ermüden. Ausgehend von dem Zustand der Erschöpfung, in dem sich die Katholiken befanden, und angesichts der dringenden Notwendigkeit, Frieden zu schließen, glaubten die Protestanten ihre Forderungen durchsetzen zu können, wenn sie nur nicht nachließen, sie vorzubringen. In der Tat trug diese Taktik erste Früchte. Trauttmansdorff zeigte sich zuerst in Fragen, die nicht den Grundsatz, sondern die Weise der Ausführung betrafen, kompromißbereit. Am 20. Juni
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Wolff, Protokolle IV, 1 S. 220 – 299. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 232. Vgl. ebenda 259. 59 Gärtner IX Nr. 145 S. 805 – 819, hier 815. 60 Gärtner IX Nr. 167 S. 942 – 949. 61 Meiern III, 153 – 155, Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 227 f. 62 Meiern III, 160 – 170, hier 165 (Dictatum 9. Juni 1646). Vgl. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 299 – 370; Schmid, Bestrebungen und Fortschritte 89; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 228 – 230; Ruppert, Die kaiserliche Politik 255. 58
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164663 erklärte er den kursächsischen Gesandten, der Kaiser sei nicht bereit, den Evangelischen in den Erbländern das exercitium religionis einzuräumen, doch könnten die Frist für die Auswanderung auf sieben oder acht Jahre ausgedehnt und der excursus mittels connivendo nachgesehen werden, in Schlesien sollten Fürsten und Stände (außerhalb der Erbfürstentümer) bei ihrer Religion verbleiben dürfen, mit Breslau sei eine besondere Transaktion aufgerichtet. Trauttmansdorff schlug also eine beträchtliche Verlängerung des Zeitraums vor, in dem fremdkonfessionelle Untertanen ihre Wohnsitzverlegung zu betreiben hatten. Die von ihm angebotene Konzession schien geringfügig, aber sie war es nicht. Denn auf dem Weg über eine lange Auswanderungsfrist ließ sich, wie die Erfahrung bewies, zumindest in manchen Fällen der Abzug überhaupt vermeiden. Doch dieses Entgegenkommen reichte den Protestanten nicht aus.
III. Die Verhandlungen mit maßgeblicher Teilnahme der Schweden 1. Die Gespräche zwischen Trauttmansdorff und Oxenstierna im Juli 1646 Da die Stände mit ihren Beratungen über die Gravamina nicht recht vorankamen, setzten sich die Gesandten der beiden entscheidenden Großmächte zusammen. Im Juli 1646 fanden eingehende Beratungen zwischen Trauttmansdorff und Graf Johan von Oxenstierna statt64. Die Schweden insistierten unnachgiebig auf der Religionsfreiheit für die Protestanten in den kaiserlichen Erblanden. Die Gesandten des Kaisers konnten hier nicht nachgeben. Am 7. Juli 164665 erklärten sie dem Oxenstierna, der Kaiser wolle bezüglich der Erblande nichts weiter gewähren, als daß die Emigrationsfrist auf ca. sieben oder acht Jahre ausgedehnt werde und daß man das Auslaufen zum lutherischen Gottesdienst ,,nit so gnaw auffsehen“ wolle. Das war die Wiederholung eines früheren Angebotes. 2. Erneuter Austausch zwischen Katholiken und Protestanten Die weiteren und endlichen Kompositionsvorschläge der Kaiserlichen, die am 2./12. Juli 164666 übergeben wurden, konzedierten als wichtigstes Zugeständnis den Bekenntnisstand des Normaljahres 1624. Wer als Protestant damals die öffentliche 63
Meiern III, 187 f. Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 358 f.; Ruppert, Die kaiserliche Politik 257. 64 Meiern III, 87 – 92, 189 – 191. 65 Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 660. 66 Meiern III, 193 – 199 (Dictatum 6./16. Juli 1646). Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 156; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 241 f.
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Religionsübung hatte, der sollte sie behalten. Das Projekt beharrte dagegen dabei, daß das beneficium emigrandi sowohl den Untertanen als auch der Obrigkeit zustehe, doch solle es letztere mit Mäßigung ausüben. Der Untertan sei nicht schuldig, mit Beschwerung seines Gewissens im Lande zu bleiben, die Obrigkeit sei nicht verpflichtet, Untertanen, die sich der Reformation (= Ordnung des Religionswesens durch die Obrigkeit) nicht unterwerfen wollen, im Lande zu dulden. Bezüglich der Erblande waren wieder der verlängerte Termin zur Auswanderung (7 – 8 Jahre) und die Dissimulation des Auslaufens sowie die Ausnahmen für Schlesien bewilligt. Die Kaiserlichen Übergaben ihre Vorschläge den evangelischen Gesandten in Münster als eine Äußerung der katholischen Stände67. Tatsächlich bestand jedoch keine Einigkeit zwischen Kaiserlichen und Katholiken, wie sich aus deren Erklärung vom 17. September 164668 ergab. Die Protestanten zeigten sich unnachgiebig. Die Verhandlungen ihrer Gesandten in Münster69 mit dem Unvorgreiflichen Aufsatz70 blieben bei der Forderung nach pflichtmäßiger Duldung der Protestanten, die keine Religionsübung besaßen oder die künftig zum Augsburger Bekenntnis übertreten würden. Wenn der württembergische Gesandte Johann Konrad Varnbüler am 20./30. Juli 164671 bereit war, den Emigrationszwang für künftig zum Protestantismus übertretende Untertanen zu konzedieren, so koppelte er doch dieses Zugeständnis mit dem seiner Aufhebung gleichkommenden Verlangen, die Emigration solle nicht eher geschehen, als bis 20 Jahre verflossen seien. Die Protestanten beharrten auf ihrem Standpunkt72. Dem erneuten Drängen auf Freistellung der Untertanen in den Erblanden gegenüber erklärten die kaiserlichen Gesandten am 4. August 164673 einigen protestantischen Vertretern, der Kaiser lasse sich hier nichts vorschreiben. Er und die katholischen Stände ließen den Protestanten in ihren Ländern freie Hand, verlangten diese aber auch für sich. Der Gewissensfreiheit der Untertanen sei durch das ius emigrandi Genüge geschehen, und dadurch sei dieser Streit im Augsburger Religionsfrieden klar entschieden. Doch die Protestanten waren nicht gewillt, sich damit zufriedenzugeben. Ihre mit dem Namen des Ortes Lengerich verbundene Gegenerklärung, die am 14./24. August 164674 den Kaiserlichen und den Schweden übergeben wurde, stellte erneut ein Maximalprogramm auf. Evangelische Untertanen katholischer Obrigkeiten, die kein exercitium religionis haben, die sich jetzt zur Augsburger Konfession bekennen oder künftig ihr zu67
Meiern III, 192. Meiern III, 352, 363. 69 Meiern III, 199 – 279. 70 Meiern III, 279 – 286. 71 Meiern III, 250. 72 Meiern III, 301 – 306. 73 Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 684. 74 Meiern III, 330 – 340, hier 337 f. Vgl. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 335 – 370; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 246 f.; Odhner, Die Politik Schwedens 156 f.; Ruppert, Die kaiserliche Politik 259 f. 68
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wenden möchten (wie auch umgekehrt katholische Untertanen evangelischer Obrigkeiten), sollten neben ihren Kindern und ihrem Gesinde nicht gezwungen werden, um der Religion willen ihre Habe zu verkaufen und aus dem Lande zu ziehen, sondern sie sollten häuslichen Gottesdienst haben und dem öffentlichen Gottesdienst ihres Bekenntnisses in der Nachbarschaft beiwohnen, ihre Kinder in evangelische Schulen schicken oder Privatlehrer halten, in Notfällen, bei Taufen und zur Versehung der Kranken evangelische Prediger herbeiholen dürfen. In wirtschaftlicher und bürgerlicher Hinsicht sollten sie keine Benachteiligung erleiden. Wenn es aber eines katholischen oder evangelischen Untertanen ,,selbst eigene Gelegenheit mit sich bringet, das Seinige zu verkauffen“ und sich anderswohin zu wenden, solle ihnen die billige Distractio der Güter nicht schwer gemacht werden, sondern sie sollten berechtigt sein, selbige bis dahin durch einen Verwalter administrieren zu lassen, und es sollte ihnen auch freistehen, sich zu Zeiten, der Notdurft nach, dahin zu verfügen. Solche freiwillige Emigration dürfe niemandem unter Vorgabe der Leibeigenschaft oder anderswie verwehrt noch durch Vorenthaltung der Papiere, durch Reverse, ungewöhnliche Nachsteuer oder höhere Abfindung der Leibeigenschaft (als üblich) beschwert werden. – Erneut wird die Strategie der Protestanten klar. Nach diesem Papier sollte es überhaupt keine Ausweisung fremdkonfessioneller Untertanen geben. Selbst jetzt und künftig zum Protestantismus übergehende Untertanen katholischer Landesherren sollten nicht vertrieben werden dürfen. Wieviel den Protestanten am Bleiben im Lande gelegen war, ergibt sich aus dem Angebot, sich mit der häuslichen Religionsübung, allerdings samt deren umfangreichen Annexen, zu begnügen; vermutlich nährten sie die Hoffnung, daß diese sich im Laufe der Zeit werde zur privaten oder öffentlichen Religionsübung erweitern lassen. Nur eines mußte um jeden Preis verhindert werden: das Verschwinden der protestantischen Bewohner aus dem Lande. Wenn sie wichen, war die Hoffnung auf weitere Eroberungen dahin. Wenn sie dagegen blieben, konnten sie sich vermehren und ihre Umgebung für ihre Religion gewinnen. Deswegen nahmen die Protestanten in den Katalog ihrer Forderungen auch künftig zum Protestantismus übergehende Personen auf. Auf dieser Basis war eine Einigung undenkbar. Die Verhandlungen schliefen daher zunächst ein75. Einzelne Protestanten begriffen, daß sich zumindest die Autonomie für nach Friedenschluß übertretende oder zuziehende andersgläubige Untertanen nicht werde durchsetzen lassen76. Die Katholiken ahnten selbstverständlich, in welche Richtung die Gedanken der Protestanten gingen. Der Vertreter von Kurbayern erklärte am 12. September 164677 zu Nr. 15 der protestantischen Gegenerklärung vom 14. August 1646, die Zuteilung des ius emigrandi lediglich an die Untertanen, nicht an die Herren, sei ,,unbillig und widerrechtlich“; sie gäbe dem Untertan mehr Recht als dem Herrn und eröffne 75
Dickmann, Der Westfälische Frieden 359. Meiern III, 346 – 352, hier 348 und 350. 77 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 340.
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überall der Häresie Tür und Tor. Hier klang auch das religiöse Motiv bei dem Beharren auf der emigratio necessaria an. In Bayern wußte man um die Verführungskraft einer Religion, die gleichzeitig als ursprünglich und zeitgemäß galt, vor allem aber bequem war. Die für sie werbende Propaganda war wirksam nur zu unterbinden, wenn ihre Träger aus dem Land geschafft wurden. Die Katholiken stellten in ihrer Erklärung vom 7./17. September 164678, die den Kaiserlichen am 8./ 18. September 164679 übergeben und den evangelischen Ständen am 14./24. September 164680 durch die kaiserlichen Gesandten in Osnabrück eröffnet wurde, in der Positionsbestimmung der Protestanten vom 14./24. August 1646 Widersprüche fest81 und formulierten dazu ihre Bedenken82. Aber damit kamen sie schlecht an. Die Protestanten wiesen diese Behauptung sogleich zurück83. Die Verhandlungen waren am toten Punkt. 3. Die kursächsische Vermittlung Jetzt wurde der kursächsische Einfluß84 spürbar. Die Media zu den Gravamina der Evangelischen85, welche die kursächsischen Gesandten unterbreiteten, zeichneten sich wie die meisten Stellungnahmen aus dieser Quelle durch Augenmaß und den Willen zur Gerechtigkeit aus. Der sächsische Kurfürst lehne es ab, so erklärten seine Gesandten, die katholischen Stände dazu zu zwingen, evangelische Untertanen gegen ihren Willen zu behalten oder anzunehmen. Es sei eine Ungleichheit, daß es den Evangelischen freigestanden habe, die Katholiken aus ihrem Lande zu schaffen, daß es aber den Katholiken verboten sei, gleiches mit ihren evangelischen Untertanen zu tun. Allerdings sollten die Evangelischen dort, wo sie die evangelische Religionsübung zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens und bis jetzt oder im Jahre 1624 hergebracht hätten oder Concessiones, Vergleiche oder anderes vorlägen, dabei belassen werden. Wo aber dergleichen nicht zu finden oder keine alte Schutz- und Schirm-Gerechtigkeit vorhanden sei, ,,da ist gleichwohl der Buchstab des Religion-Friedens (sic) klar, daß kein Stand des anderen Unterthanen beschützen, oder in einige Weg vertheidigen solle, dabey es billig unter denjenigen sein Verbleiben behält, die sich nicht nur mit blossen Worten, auf den ReligionsFrieden beziehen, sondern auch denselben in der That zu halten gemeynet seyn“. Der sächsische Kurfürst ging mit dieser Stellungnahme frontal gegen die Maxi78
Meiern III, 355 – 363. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 370 A. 2. Vgl. ebenda 366 – 370. 80 Meiern III, 353. 81 Meiern III, 352 – 355. 82 Meiern III, 355 – 363. 83 Unvorgreifliche gedancken uff der herrn kaysserlichen plenipotentiarien zu Ossnabrügg nomine catholicorum denn evangelischen deputirten mündlich angedeuter erklärung in puncto gravaminum (Meiern III, 370 – 372). 84 Hans Joachim Schreckenbach, Kursachsen auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Phil. Diss. Leipzig, Leipzig 1952. 85 Meiern III, 349 – 352. 79
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malforderungen der protestantischen Stände an. Das ius emigrandi war seiner Meinung nach (auch) ein ius necessarium. Er belegte dies mit einer geschichtlichen Erinnerung. Die Protestanten bestritten regelmäßig, daß sie Untertanen der Religion wegen aus dem Lande gewiesen hatten. Schon sehr früh war ja an der Legende vom freiwilligen, ja begeisterten Übergang der gesamten Bevölkerung vom ,,Papsttum“ zum ,,Evangelium“ gebastelt worden. Hier wurde von dem vornehmsten evangelischen Reichsstand eingeräumt, daß es Ausweisungen von Katholiken aus protestantischen Territorien gegeben hatte. Mochten sie auch noch so lange zurückliegen, so waren sie doch eine Tatsache. Was nun der einen Religionspartei recht gewesen war, das mußte der anderen billig sein. Doch wollte der sächsische Kurfürst die Religionsübung, die im Jahre 1624 bestanden hatte, garantiert wissen, und diese Festlegung schloß selbstverständlich die Landesverweisung aus. Die kursächsische Vermittlung hatte das Normaljahr 1624 am 13./23. Juni 1646 in die Verhandlungen über die Religionsbeschwerden eingebracht86. Der Vorschlag war von den Kaiserlichen in ihrer Erklärung vom 2./12. Juli 164687 akzeptiert worden. Die Gesandten von Brandenburg-Kulmbach und Württemberg stimmten ihm zu in ihren ,,Unvorgreiflichen Gedanken“ vom August 164688. Damit schien ein brauchbarer Kompromiß gefunden. 4. Die Verhandlungen mit den Schweden Die Protestanten rechneten sich aus, daß sie ihren Zielen näherkommen würden, wenn Kaiserliche und Schweden sich zusammensetzten. Am 3. Oktober 164689 unterbreitete eine Deputation der evangelischen Stände den kaiserlichen Gesandten in Osnabrück den Wunsch, sie sollten weiter mit den Schweden über die Gravamina verhandeln sowie die Verhandlungen zwischen den Ständen in Osnabrück wieder eröffnen. So geschah es denn auch. Trauttmansdorff und Isaak Volmar verhandelten erneut mit den Schweden. Johan Adler Salvius reiste am 23. Oktober 1646 nach Münster zu den Verhandlungen mit den Kaiserlichen und blieb dort bis 30. November90. Vom 24. bis 27. November 1646 führten Volmar und Salvius die Gespräche91. Salvius legte folgende Gedanken für die Religionsgravamina vor92. Die Untertanen fremder Konfession, denen die öffentliche Religionsübung weder durch pactum noch durch langen Gebrauch oder Privileg zustehe und die innerhalb von zwei Jahren seit der Veröffentlichung des Friedens ihre Namen vor der Behörde oder vor dem Notar und Zeugen bekennen, ebenso 86
Meiern III, 188 (23. Juni 1646). Meiern III, 191 – 193. 88 Meiern III, 346 – 349. 89 Meiern III, 373 – 375. 90 Odhner, Die Politik Schwedens 165 – 201. 91 Meiern III, 423 – 434 (mit falschem Datum). 92 Meiern III, 425 – 434. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 263 f.; Ruppert, Die kaiserliche Politik 263. 87
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ihre Abkömmlinge und Hausgenossen, sollten niemals gezwungen werden dürfen, wegen der Religion ihre Güter zu verkaufen und das Land zu verlassen, sondern sie sollten berechtigt sein, zu Hause frei ihre Religion auszuüben und in der Nachbarschaft der öffentlichen Religionsübung, wo und sooft sie wollen, beizuwohnen, ihre Kinder auf auswärtige evangelische Schulen zu schicken oder zu Hause durch Privatlehrer unterrichten zu lassen sowie aus der Nachbarschaft Geistliche für Trauung, Taufe und Wegzehrung herbeiholen zu dürfen. Weiter sollten sie in bürgerlicher und wirtschaftlicher Hinsicht den Untertanen der herrschenden Religion gleichgestellt werden. Die freie Möglichkeit des Abzugs bei Verkauf oder Behalten der Güter sollte ihnen garantiert bleiben, die erforderlichen Zeugnisse sollten den Auswanderern nicht vorenthalten werden. Wer nach Ablauf der zwei Jahre zu einem anderen Bekenntnis (als dem herrschenden) übergehe oder auf irgendeine Weise Güter erwerbe, und wem dann die Pflicht auferlegt werde, auszuwandern, dem sollten 15 Jahre Frist eingeräumt werden, in denen er seine Güter verkaufen oder auch behalten könne, wobei sie im letzteren Falle durch Verwalter, die der Religion des Landes angehören, aus dem er fortzieht, sollten verwaltet werden können und wobei er, wenn es die ratio rei familiaris et oeconomiae forderte, sollte hingehen und drei bis vier Wochen dort verweilen können. Die Untertanen, denen während der 15 Jahre die migratio necessaria auferlegt werde, sollten dieselben Rechte genießen wie jene, die freiwillig abzögen. – Die Schweden bewährten sich erneut als geschickte und entschiedene Vertreter protestantischer Interessen. Salvius hatte sich die Vorstellungen der Protestanten zu eigen gemacht, aber auch einige originale Einzelheiten beigesteuert. Das Bleiben jener fremdkonfessionellen Untertanen, die im Normaljahr Religionsübung besaßen, war in diesem Stadium der Verhandlungen kein Problem mehr; es war jetzt beinahe selbstverständlich, jedenfalls für die Schweden und die Kaiserlichen. Wohl aber war noch die Lage jener prekär, denen der Schutz des Normaljahrs nicht zugute kam. Bei ihnen setzte Salvius an. Die zu dieser Zeit unter katholischen Landesherren lebenden Protestanten und ihre Nachkommen sollten nicht ausgewiesen werden dürfen. Es sollten also protestantische Stämme in katholischem Land bleiben, die sich entwickeln, vermehren und ausbreiten konnten. Diese Aussicht war ganz im Sinne der evangelischen Stände. Ein neues Moment war der Vorschlag, die Gewissensfreiheit solle (lediglich) jenen Untertanen (und deren Nachkommen) zustehen, die sich innerhalb von zwei Jahren seit Friedensschluß bei der Obrigkeit melden würden. Die Meldung wurde selbstverständlich in der Absicht vorgesehen, das Bekenntnis zur Augsburgischen Konfession notorisch zu machen und gegen jede Bestreitung zu sichern, also um stärkeren Schutz zu erlangen. Mit der amtlichen Registrierung war eine unanfechtbare Grundlage evangelischer Gemeindebildung geschaffen, und wer sich hatte als Protestant eintragen lassen, der war für alle Zukunft dem ius emigrandi necessarium entzogen. Die scheinbare Einschränkung der Zeit für die Meldung durch die Frist, innerhalb der man sich als zum Augsburger Bekenntnis gehörig angeben konnte, war in Wirklichkeit ein kluger Schachzug im Dienste evangelischer Interessen. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Für einen Registrie-
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rungsakt war sie nicht erforderlich. Wohl aber hätte sie den protestantischen Emissären die Chance geboten, eine neue Abfallbewegung ins Leben zu rufen. Die protestantische Bevölkerung wäre in dieser Zeit beträchtlich vermehrt worden. Die verlangte Gleichberechtigung protestantischer Untertanen mit katholischen war ebenfalls ein wohlüberlegter Vorschlag des Salvius. Denn die dadurch erlangte wirtschaftliche Macht ließ sich vortrefflich zugunsten der konfessionellen Interessen einsetzen. Gemäß diesem Vorschlag war die unfreiwillige Auswanderung lediglich für nach Abschluß des Friedens zum Protestantismus übergehende Personen vorgesehen, aber unter erheblich erschwerten Bedingungen. Am bemerkenswertesten an dem Programm, das Salvius hier entwickelte, war der Vorschlag einer fünfzehnjährigen Frist für den Abzug dieses Personenkreises aus einem Territorium. Es ist ausgeschlossen, daß ein Abzugswilliger so viele Jahre benötigen sollte, um sich nach einer Bleibe in einem Land mit protestantischem Herrn umzusehen. Es gab damals viele Länder, die dringend Menschen brauchten und freudig Einwanderer aufnahmen. Es was darum nicht schwer, binnen kurzer Frist eine neue Heimat zu finden. Auch die Schwierigkeit, die Güter zu verkaufen, kann nicht der wahre Grund für die Forderung nach einer so langen Frist zur Vorbereitung der Auswanderung sein. Nirgendwo war die Zahl der Abzugsbereiten so hoch, daß die im Lande Verbleibenden oder von auswärts Zuziehenden nicht imstande gewesen wären, die zu veräußernden Güter zu erwerben, oder daß die Veräußerung erheblich unter Wert hätte erfolgen müssen. Man kann sich somit kaum vorstellen, daß die Frist von 15 Jahren in Wahrheit deswegen gewählt wurde, weil der Abziehende ihrer bedurfte. Außerdem war sie so lang, daß sie bei dem Auswandernden einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit ausmachte. Bei der erheblich geringeren Lebenserwartung der Menschen in der damaligen Zeit wären kostbare Jahre verstrichen, die dem Aufbau der neuen Existenz hätten zugute kommen können. So läßt sich die Länge der Frist nur mit Überlegungen begründen, die nicht in der Person des Auswandernden lagen. Innerhalb von fünfzehn Jahren konnten in der Geschichte des Territoriums und seines Fürsten erhebliche Wandlungen geschehen. Vermutlich war es in erster Linie dieser Gesichtspunkt, der Salvius veranlaßte, mit bemerkenswerter List so viele Jahre zu fordern. In dieser Zeit, so wähnte er wohl, hatte man sich an die Gegenwart fremdkonfessioneller Untertanen gewöhnt, hatten sich diese vielleicht unentbehrlich gemacht, fand ein erzwungener Abzug das Mitleid der katholischen Bevölkerung oder stieß gar auf deren Widerstand, ließ sich eine Bewegung gegen die Ausweisung ins Leben rufen, war womöglich an der Spitze des Landes der Sohn dem Vater gefolgt, was nicht selten mit einer Änderung der Politik verbunden war, hatten die lokalen Autoritäten gewechselt, was alles zusammenwirken mochte, daß an einen Vollzug der Ausweisung nicht mehr gedacht wurde.
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Im November 1646 wurden noch einmal Gespräche zwischen Protestanten und Katholiken ohne die Schweden und die Kaiserlichen geführt93. Sie blieben ergebnislos wie die früheren, und Schweden und Kaiserliche traten erneut zusammen. Auf der Plenarkonferenz der katholischen Stände vom 29. November 164694 unterrichtete der Vertreter von Kurmainz sie über die Verhandlungen, welche die Kaiserlichen mit den Protestanten geführt hatten. Danach hatten diese wiederum libertas credendi für alle gefordert, die keine protestantische Religionsübung aufgrund von pacta hätten. Salvius habe vorgeschlagen, daß, wer in der Gegenwart die Ausübung der Augsburger Konfession habe, sie für sich und seine Nachkommen behalten solle, wer sie nicht habe, sondern die Religion erst später ändere, solle 15 Jahre als Frist für die Auswanderung erhalten. Der Vertreter von Kurbayern erklärte dazu, kein Landesherr werde sich in diesem Punkt etwas vorschreiben lassen95. Von allgemeiner Freistellung der Untertanen wollte auch niemand etwas wissen. Die Vertreter von Osnabrück und Konstanz wandten sich eigens gegen die Frist von 15 Jahren96.
IV. Die Verhandlungen in der Sackgasse 1. Endliche Erklärung der Katholiken Am 21. November/1. Dezember 164697 übergab Trauttmansdorff die endgültigen Vergleichsvorschläge bezüglich der Gravamina, datiert vom 20./30. November 1646. Was die hergebrachte öffentliche Religionsübung von Protestanten in katholischen Territorien, das ius reformandi und das beneficium emigrandi betreffe, hieß es darin, solle es dabei bleiben, doch sollten die Obrigkeiten ,,billige und christliche Temperamenta“ gebrauchen, damit sich niemand zu beschweren brauche. Diese Formel, die im wesentlichen in den Westfälischen Frieden als Art. V § 30 IPO einging, war alles andere als eindeutig. Vor allem erlitt sie durch die folgenden Bestimmungen schwerwiegende Modifikationen. Aber sie findet sich fortan beinahe stereotyp in den meisten sich ablösenden Projekten der Kaiserlichen. Mit der öffentlichen Religionsübung, wie sie im Normaljahr bestand, hatten sich die Kaiserlichen abgefunden. Die ,,Endliche Erklärung“ stellte sodann erneut heraus, daß das beneficium emigrandi ,,nicht nur den Unterthanen, sondern auch dero Obrigkeit 93
Schreiben der evangelischen Gesandten in Münster an jene in Osnabrück über die erste Konferenz mit den Katholiken in puncto Gravaminum vom 11./21. November 1646 (Meiern III, 412 – 418). 94 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 461. 95 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 464. 96 Wolff, Protokolle IV, 1 S. 463, 465, 467, 469, 470, 471, 473, 475, 476. 97 Meiern III, 434 – 442 (,,Endliche Erklärung“). Vgl. Dickmann, Der Westfälische Frieden 362; Wolff, Protokolle IV, 1 S. 478 – 493; Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 750 f. (1. Dezember 1646); Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 266 – 270; Ruppert, Die kaiserliche Politik 263; Odhner, Die Politik Schwedens 201.
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zu guten (sic) kommen“ solle. Letzterer wurde zugestanden, daß sie ,,aus Christlicher Sanfftmüthigkeit, freyem Willen und lautern Gnaden“ fremdkonfessionellen Untertanen die Duldung gewähren könne. Vom Willen des katholischen Landesherrn sollte es also abhängen, ob Protestanten toleriert wurden, d. h. auf ihre Ausweisung verzichtet wurde. Dieser Vorschlag legte die Entscheidung über das Bleiben in die Hand der Obrigkeit. Die Aussicht, auf dem Gnadenwege Duldung zu erlangen, lockte die Protestanten nicht. Sie wollten rechtlich gesichert sein. Aber die Möglichkeit des Bleibens im Lande infolge Toleranz war ausgesprochen, und sie wurde nicht mehr fallengelassen. Beachtlich war das Zugeständnis der Weitergeltung der ,,Vorkommniß und Geding“, die über die Religionsübung zwischen Reichsständen und Untertanen aufgerichtet worden waren, von den Erblanden abgesehen. In diesen Ländern wollte der Kaiser, Böhmen, Ober-, Unter- und Innerösterreich sowie Mähren ausgenommen, dort lebende protestantische Obere und politische Standespersonen bis Ende 1656 dulden. Das war eine befristete Ausnahme vom ius reformandi für Schlesien, aber lediglich für eine bestimmte Schicht der Bevölkerung. Trauttmansdorff zeigte erneut seinen guten Willen. Er stellte jetzt eine Zehnjahresfrist für die Abziehenden in Aussicht. Ihre Güter sollten ihnen verbleiben dürfen. Schritt für Schritt gewannen die Protestanten mit ihren Forderungen an Boden. In den Gesprächen Trauttmansdorffs mit den Protestanten wurde deutlich, daß der Abzug aus der Heimat zur damaligen Zeit nicht die Schrecken hatte, welche die Tendenzliteratur damit verband. Es war gar nicht einmal nötig, daß die Auswandernden das Reich des Habsburgers verließen. Denn dort gab es Gebiete, in denen die öffentliche Ausübung der Augsburger Konfession gestattet war. Am 7. November 164698 wies Trauttmansdorff die Gesandten von Sachsen-Altenburg und Sachsen-Weimar darauf hin, daß die Protestanten in den Erblanden sich ohne weiteres in Ungarn und Schlesien niederlassen könnten, dort sei Platz genug. Trauttmansdorff hatte in der ,,Endlichen Erklärung“ nicht für die Gesamtheit der Katholiken gesprochen. Es wurden vielmehr nur ,,etzliche vornehme katholische Stände“ als Mitverfasser genannt. Die Mehrzahl der Katholiken teilte die darin vertretenen Positionen nicht, hielt es vielmehr mit dem Iudicium theologicum des Dillinger Jesuiten Heinrich Wangnereck, das Ende 1646 erschien und das die Gleichstellung der Protestanten mit den Katholiken, wie sie bei dem ius reformandi vorlag, verwarf, weil die Ketzerei lediglich geduldet werden könne99.
98
Foerster/Philippe, Diarium Volmar I, 731. Ludwig Steinberger, Die Jesuiten und die Friedensfrage in der Zeit vom Prager Frieden bis zum Nürnberger Friedensexekutionshauptrezeß 1635 bis 1650 (= Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte V. Bd., 2. u. 3. Heft), Freiburg i. Br. 1906, 63 – 77. Vgl. Knoch, Die Politik 122 f. 99
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2. Abweisung durch die Protestanten Aber nicht nur die prinzipienfesten Katholiken, auch die Protestanten in Osnabrück stimmten den Aufstellungen in der ,,Endlichen Erklärung“ nicht zu. Ihre Stellungnahme100 ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. In keinem Falle wollten sie das Recht zur Ausweisung ,,also simpliciter“ zugeben101. Die (jetzt lebenden) Protestanten und ihre Abkömmlinge sollten nicht wegen der Religion zur Auswanderung gezwungen werden dürfen. Um sie in den Schutz vor der Ausweisung gelangen zu lassen, sollten sie sich innerhalb von zwei Jahren nach Veröffentlichung des Friedens als Anhänger der Augsburger Konfession bekennen. Wer danach protestantisch werde oder als Protestant durch Erbfall, Heirat oder anderswie in katholische Lande komme, solle zum Verkauf seiner Güter eine Frist von 15 Jahren erhalten und frei von einem Abzugsgeld sein; wer nicht verkaufen wolle, müsse zwar nach 15 Jahren aus dem Lande ziehen, solle jedoch befugt sein, seine Güter durch katholische Haushalter zu bestellen, auch ohne besondere Erlaubnis und Paß ab- und zuzuziehen und, sooft es nötig sei, einen Monat lang auf den Gütern zu verbleiben. Die 15 Jahre sollten von dem Tage an berechnet werden, da einem Untertan das praeceptum emigrationis zum dritten Mal eröffnet werde; das ediktalische allgemeine Gebot (zur Abwanderung) solle hierin nicht statthaben. – Es ist leicht zu erkennen, daß diese Stellungnahme der Protestanten sich die Gedanken des Salvius zu eigen gemacht hatte. Immerhin gaben sie jetzt grundsätzlich zu, daß eine erzwungene Abwanderung möglich sein sollte, aber nur für eine einzige Gruppe, eben jene, die neu zu dem Augsburger Bekenntnis übertraten, und auch das nur unter erschwerten Bedingungen, die, wie sie wohl hofften, den Abzug ganz zu vereiteln geeignet waren. Besonders bedeutungsvoll war die Einfügung des Erfordernisses eines dreimaligen besonderen Gebotes zum Abzug. Eine an die Allgemeinheit gerichtete Aufforderung zum Abzug der fremdkonfessionellen Untertanen sollte völlig unbeachtlich sein. Rechtliche Wirkung hatte nur ein besonderes, d. h. namentlich an bestimmte Personen gerichtetes Gebot, abzuziehen. Dieses mußte nicht einmal, sondern dreimal, selbstverständlich mit zeitlichem Abstand, erfolgen. Hier wurde die ausweisende Obrigkeit gewissermaßen in die Zange genommen, wurde ihre Geduld auf die Probe gestellt und ihre Konsequenz getestet. In der Zeit, die zwischen den Mandaten verging, konnten Schritte unternommen werden, um ihre Wirkung hintanzuhalten. Der Protestantismus verstand sich auf die Behandlung der Öffentlichkeit, er wußte, wie man Stimmung macht. Es ließen sich Sympathisanten, Helfer oder auch nur Mitleidige mobilisieren, die bei den Behörden zugunsten der Ausgewiesenen intervenierten. Es ließen sich ärztliche Zeugnisse beschaffen, die bescheinigten, daß zur Zeit eine lange und/oder beschwerliche Reise aus gesundheitlichen Gründen undurchführbar sei. So waren die Protestanten mit
100 Meiern III, 444 (,,Differentiae“, darunter das jus emigrandi necessarium et non voluntarium); IV, 8 – 28 (8 – 16, 16 – 28). 101 Meiern IV, 14.
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großem Geschick dabei, weiterhin für ihr Ziel, die Ausweisung zu beseitigen, zu arbeiten.
V. Die Verhandlungen im Februar/März 1647 1. Die Erklärung der Kaiserlichen vom 12./22. Februar 1647 Von Februar bis April 1647 verhandelten die Kaiserlichen allein mit den Schweden über die religiösen Gravamina102. Trauttmansdorff trat als Sprecher der katholischen Seite, Salvius der evangelischen auf. Aber während letzterer fünf Gesandte der protestantischen Reichsstände neben sich hatte, fehlte dem ersteren die Unterstützung der katholischen Reichsstände. Darin lag ein gefährliches Moment der Unsicherheit. Die Konferenzen begannen am 28. Januar/7. Februar 1647. Sie waren im allgemeinen von ermüdender Eintönigkeit; der Vorrat an Argumenten war erschöpft. Salvius erklärte, die Katholiken hätten die Emigration zur notwendigen machen wollen, während die Evangelischen sie allezeit für eine freiwillige gehalten hätten103. Darauf erwiderte Trauttmansdorff sofort: ,,Aber anders practiciret; man lasse die Pfaltz reden; item Hessen.“ Die Protestanten wehrten sich erneut gegen die Ausweisungsmöglichkeit. Sie behaupteten, die Katholiken seien aus protestantischen Gebieten und Städten nicht vertrieben worden. Auch würden die Juden geduldet104. Trauttmansdorff arbeitete daraufhin den Unterschied in der Rechtsstellung zwischen Juden und Christen scharf heraus. Er ließ sich auch nicht durch das Argument beeindrucken, in Ungarn würden die Protestanten geduldet, begründete diese Tatsache vielmehr mit der politischen Notwendigkeit der Türkenabwehr. Thumbshirn und Heinrich Langenbeck wollten das ius reformandi auf die Bestimmung des exercitium publicum eingeschränkt, nicht aber auf Glaubenszwang oder Ausweisung ausgedehnt wissen. Darauf antwortete Trauttmansdorff, es sei nicht nötig, viel davon zu reden. ,,Wolte Gott, man hätte nur viele Leute; wer nicht bleiben wolle, könne wegziehen und sich an Lutherische Ort begeben“105. Damit gab er zu verstehen, daß jeder Landesherr angesichts des Menschenmangels daran interessiert sei, seine Untertanen zu behalten, daß aber um der Gewissensfreiheit willen der Abzug ermöglicht werden müsse. Salvius schlug erneut vor, die jetzt im Lande lebenden fremdkonfessionellen Untertanen und ihre Abkömmlinge zu dulden und sie zu diesem Zweck aufzuzeichnen106. Trauttmansdorff rekurrierte seinerseits auf das spatium emigrandi von zehn Jahren107. 102
Meiern IV, 39 – 117. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 202; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 344 – 349; Schmid, Bestrebungen und Fortschritte 116 – 137; Dickmann, Der Westfälische Frieden 363. 103 Meiern IV, 61. 104 Meiern IV, 62. 105 Meiern IV, 62. 106 Meiern IV, 65.
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Man schritt wieder zum Austausch von Entwürfen der abzuschließenden Vereinbarung. Die Erklärung der Kaiserlichen vom 12./22. Februar 1647108 ging nicht weiter als die Endliche Erklärung vom 1. Dezember 1646. Es blieb beim ius reformandi und ius emigrandi im bisherigen Verständnis. Was die protestantischen Untertanen unter katholischer Obrigkeit angehe, die behaupteten, die öffentliche Religionsübung des Augsburger Bekenntnisses hergebracht zu haben, wie allgemein, was die Freistellung der Religion betreffe, solle es, weil den Obrigkeiten ratione territorii et superioritatis das ius reformandi zustehe und den Untertanen das beneficium emigrandi im Religionsfrieden zugestanden worden sei, dabei bleiben, und die Obrigkeiten sollten billige und christliche Temperamente gebrauchen, damit sich derentwegen niemand zu Recht beschweren müsse. Das beneficium emigrandi komme jedoch nicht nur den Untertanen, sondern auch den Obrigkeiten zugute; der Untertan müsse nicht mit Beschwerung seines Gewissens unter einer fremdkonfessionellen Obrigkeit bleiben, die Obrigkeit müsse nicht einen Untertanen, der sich ihrer Reformation nicht fügen wolle, dulden (außer was sie aus christlicher Sanftmut, freiem Willen und lauter Gnaden nachsehen wolle). Wo zwischen Reichsständen einerseits, Landständen109 und Untertanen andererseits ,,sonderbahre Vorkomniß und Geding“110 aufgerichtet worden seien, da solle dies fürderhin unverbrüchlich gehalten werden. Was die Erblande angehe, lasse sich indes der Kaiser weder in politicis noch ecclesiasticis ,,einige Maaß noch Ordnung“ vorschreiben und vor allem nicht das ius reformandi entwinden. Aus Gnade, nicht aus pactum, auch nicht durch die folgende Erklärung, wolle er die Oberen und politischen Standespersonen in seinen Erblanden (außer Böhmen, Ober-, Innerösterreich und Mähren) Augsburger Konfession, die dort wohnen, bis Ende 1656 dulden. Wenn sie danach emigrieren und ihre Güter nicht hätten verkaufen können, sollten sie auf vorherige Anmeldung zum Besorgen derselben einreisen dürfen. – Noch blieben die kaiserlichen Vertreter fest. Über das Zugeständnis des Schutzes jener Untertanen vor Ausweisung, die im Normaljahr öffentliche Religionsübung besaßen, gingen sie nicht hinaus. Von Duldung der Angehörigen des Augsburger Bekenntnisses, die sich darauf nicht berufen konnten, war noch nicht die Rede. Das verheißene Bleiben bis 1656 bezog sich lediglich auf den Adel in Schlesien und Niederösterreich. Die Aufnahme der letzteren Landschaft ist zu beachten; sie blieb bis zum endlich abgeschlossenen Friedensvertrag erhalten. Dem Gravamen der Protestanten bezüglich der Modalitäten der Auswanderung kam die Erklärung insofern entgegen, als der Abzug schonend vor sich gehen sollte.
107
Meiern IV, 65. Meiern IV, 78 – 86. Vgl. Knoch, Die Politik 143 f. 109 A. v. Reden-Dohna, Landständische Verfassungen: HRG II, 1978, 1578 – 1585. 110 Vgl. dazu H. R. Hagemann, Gedinge: HRG I, 1971, 1428 f.
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2. Die Erklärung der Protestanten vom 27. Februar/9. März 1647 Die Protestanten zeigten sich von dem Vorschlag der Kaiserlichen unbeeindruckt. Die ,,Endliche Erklärung“, die sie am 27. Februar/9. März 1647111 den schwedischen Gesandten übergaben, verlangte in ausführlichen Wendungen die Wiederherstellung der Religionsübung, die im Normaljahr durch pacta, Privilegien oder lediglich longo usu eingeführt war. Wer das öffentliche exercitium religionis durch pacta, Herbringen oder Privilegien nicht habe, aber sich innerhalb eines halben Jahres nach Veröffentlichung des Friedens als Evangelischer oder Katholik angebe, ebenso die Abkömmlinge und Ehegatten sollten der Religion wegen nicht zum Verkauf der Güter oder aus dem Land zu ziehen gezwungen werden, sondern Gewissensfreiheit und häusliche Religionsübung (mit den üblichen Annexen derselben) erhalten. Wer seinen katholischen oder evangelischen Untertanen die öffentliche Religionsübung gestatten wollte, dem stehe dies frei. Niemanden dürfe aus religiösen Gründen bürgerliche oder wirtschaftliche Benachteiligung treffen. Wer freiwillig abziehe, dem dürfe dies nicht verwehrt oder irgendwie erschwert werden. Wer sich erst nach dem halben Jahr zum Protestantismus bekenne oder durch Erbschaft, Heirat oder sonstwie Güter (in katholischem Land) erwerbe, dem solle von der Zeit an, da ihm durch besonderes Gebot zum dritten Mal die Emigration befohlen wird, eine Frist von 15 Jahren zugestanden werden, innerhalb derer er entweder seine Güter verkaufen und ohne Abzugsgeld anderswohin ziehen oder ohne Veräußerung der Güter, die er durch Angehörige der herrschenden Religion verwalten lassen könne, auswandern müsse. Auch jene, die gezwungen auswanderten, sollten während der 15 Jahre dieselben Rechte genießen wie die freiwillig Auswandernden. In den Reichsstädten bleibe es bei dem Zustand des Jahres 1624. Dieses Dokument lehnte sich wiederum eng an den Entwurf des Salvius an und war dementsprechend unnachgiebig. Vor allem hielt es an der fünfzehnjährigen Auswanderungsfrist fest. Indes reduzierte es die Zeit, innerhalb der sich die Protestanten ohne öffentliche Religionsübung im Normaljahr als solche zu erklären hatten, von zwei Jahren auf sechs Monate. Es war in der Tat nicht zu begründen, weshalb zur Abgabe einer derartigen Erklärung zwei Jahre notwendig sein sollten, es sei denn, man hatte bezüglich dieser Frist bestimmte Hintergedanken. Hinzuweisen ist auch auf die immer sorgfältigere Ausgestaltung des Rechts, die zurückgelassenen, nicht veräußerten Güter zu besuchen. Dies geschah nicht ohne Absicht. Denn die Güter gaben bis zu einem gewissen Grade wirtschaftliche Macht, und diese ließ sich unter Umständen in propagandistische Tätigkeit für das eigene Be-
111 Meiern IV, 89 – 99 (lat.), 99 – 109 (dt.). Vgl. Adami Relatio Historica 427 – 433; Wolff, Die Protokolle IV, 1 S. 504 – 522; Knoch, Die Politik 144; Odhner, Die Politik Schwedens 203; Ruppert, Die kaiserliche Politik 277 f.; Woltmann, Geschichte des Westphälischen Friedens II, 189 f.
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kenntnis ausnützen. Das spätere Phänomen des österreichischen Kryptoprotestantismus112 hat hier eine seiner Wurzeln. 3. Die Antwort der Kaiserlichen vom 5./15. März 1647 Als Salvius die Forderungen der Protestanten am 27. Februar/ 9. März 1647 an Trauttmansdorff übergab, war dieser empört113. Allein mit Zorn läßt sich keine Diplomatie machen. Die Kaiserlichen zeigten sich daher weiterhin konnivent. Am 21. Februar/3. März 1647114 gestand Volmar dem Salvius zu, daß den Mediaten das exercitium religionis, das sie 1624 besessen hatten, gelassen werde. Die neue und ,,letzte“ Declaratio der kaiserlichen Bevollmächtigten, die am 5./15. März 1647115 den schwedischen Gesandten übergeben wurde, machte in Nr. XII die üblichen grundsätzlichen Ausführungen. Was die öffentliche oder private Religionsübung der Protestanten betreffe, müsse es beim ius reformandi und beim beneficium emigrandi bleiben. Das war die inzwischen stereotyp gewordene Formel, die aber sehr viel offenließ. Es war bald klar, daß jene Untertanen fremder Konfession, die im Normaljahr infolge von Verträgen oder Privilegien öffentliche Religionsübung besaßen (1. Kategorie), diese behalten sollten, und daß damit der Anlaß für die Auswanderung und das Recht zur Ausweisung entfielen. Anders war es um diejenigen bestellt, denen die genannten Rechtstitel fehlten. Dazu hieß es jetzt in der Erklärung, die katholischen Reichsstände versprächen, daß sie gegen jene, die 1624 sola conniventia116 oder invitis suis Superioribus den usus und das exercitium der Augsburger Konfession hatten (2. Kategorie), wie gegen jene, die kein exercitium durch usus erlangt hatten, aber der Augsburger Konfession zugetan seien (3. Kategorie), sich ,,benignos et clementes“ zeigen würden, so daß niemand Ursache habe, sich zu beklagen, wenn die Untertanen nur ihre Pflicht gegen die Obrigkeit erfüllten117. In Art. XIII wies die Declaratio den Versuch, dem Kaiser in seinen Erblanden das ius reformandi zu nehmen, ab. Indes wolle er bis Ende des Jahres 1656 niemandem (außerhalb von Böhmen, Mähren, Ober- und Niederösterreich) auferlegen, wegen der Religion auszuwandern, sondern sie nachsichtig dulden. Die anderen werde er milde behandeln, und bei Auswanderung der Religion halber werde er jenen, die ihr Vermögen nicht bequem verkaufen können, den freien Zugang zur Besichtigung und Besorgung ihrer Güter gestatten. Die schlesischen Herzöge von Brieg, Liegnitz, Münsterberg und Öls und die Stadt Breslau sollten in freier Ausübung der Augs112
Vgl. M. Schmidt, Österreich: RGG IV, 3. Aufl., 1960, 1588 – 1595, hier 1592. Meiern IV, 115. 114 Meiern IV, 177, 178. 115 Meiern IV, 118 – 128, hier 123 f. Vgl. Adami Relatio Historica 436 – 441; Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 352 f. 116 Nachsicht, stillschweigende Duldung. 117 Meiern IV, 123 f. 113
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burgischen Konfession verbleiben gemäß der Konzession von 1635118. Die Lande, in denen ein befristeter Auswanderungsschutz Platz greifen sollte, variierten in den aufeinanderfolgenden Projekten der Kaiserlichen. Hier waren es Innerösterreich, Vorderösterreich und Schlesien, falls nicht ein Schreibfehler vorliegt und, statt Niederösterreich, Innerösterreich zu lesen ist. Nach Art. XV sollten Protestanten, die keine Religionsübung in katholischen Ländern hatten (3. Kategorie), ,,cum rerum et fortunarum suarum praecipiti jactura“ auszuwandern nicht angehalten werden; sie dürften, ,,dum Superiorum suorum clementia et gratia tolerantur“, also solange sie geduldet würden, nicht benachteiligt werden. Wer auf gerechten Befehl oder freiwillig auswandere, könne seine Güter verkaufen oder behalten. Die emigratio voluntaria oder necessaria dürfe nicht erschwert werden. Die Frist zur Auswanderung müsse wenigstens fünf Jahre, von dem ersten öffentlichen Befehl an gerechnet, betragen, die Verlängerung um zweimal fünf Jahre sei möglich119. – Die Möglichkeit der Ausweisung war hier beibehalten, aber auf fremdkonfessionelle Untertanen ohne jede Religionsübung beschränkt. Solange weder Auswanderung noch Ausweisung erfolgte, sollten sie grundsätzlich mit den Angehörigen der herrschenden Religion gleichberechtigt sein. Die in diesem Dokument gegebene Garantie, daß Personen ohne Religionsübung im Jahre 1624 bestimmte Rechte haben sollten, wurde hier ausdrücklich (und deutlicher als in der Endfassung des Friedensinstrumentes) auf die Zeit eingeschränkt, während (dum) der sie im Lande geduldet wurden. Damit war einschlußweise erklärt, daß ihre Ausweisung zulässig war. Besonders starkes Gewicht war auf die materielle Seite des Abzugs gelegt; er durfte nicht zum Vermögensverlust führen. Zum erstenmal tauchte hier die Fünfjahresfrist, und zwar für jede Kategorie von Auswanderern auf, die aber u. U. zu einer Fünfzehnjahresfrist ausgedehnt werden konnte. Sie gab der Obrigkeit ein stärkeres Druckmittel in die Hand, weil die Verlängerung jeweils nachgesucht werden mußte. Die Schweden leisteten hinhaltenden Widerstand. Wie bereits im November 1646120 und künftig am 21./31. August l647121 gegenüber Volmar mißbilligte Salvius am 5./15. März l647122 das auf der Territorialgewalt beruhende Reformationsrecht. Die Kaiserlichen erlaubten sich demgegenüber gewisse geschichtliche Erinnerungen. Am 7./17. März 1647123 hielt Trauttmansdorff den Gesandten der Protestanten vor, bei der Reformation und auf dem Augsburger Religionsfrieden hätten die Katholiken zusehen müssen, wie die katholischen Untertanen protestantischer Obrigkeiten vertrieben und zum Verkauf ihrer Güter gezwungen worden seien, und jetzt sollten sie ihre protestantischen Untertanen behalten und ihnen öffentliche und 118
Meiern IV, 124. Meiern IV, 125. 120 Meiern III, 425 – 434 (Aufsatz des Salvius über den Punctus Gravaminum). 121 Meiern IV, 62 – 65. 122 Meiern IV, 112 f., 117. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 203 f. 123 Meiern IV, 128 – 131. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 353 – 355. 119
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private Religionsübung gewähren. Die Evangelischen möchten den katholischen Ständen, deren Rechte nicht von ihnen, sondern von Gott und dem Römischen Reiche stammten, nicht eine Toleranz abverlangen, die sie selbst nie ausgeübt hätten und (auch jetzt) nicht ausüben würden. – Trauttmansdorff bediente sich des beliebten Arguments Et tu. So richtig seine Ausführungen waren, so waren die Katholiken doch gegenüber den Protestanten insofern in einer ungünstigen Position, als sie an (beabsichtigte) Ausweisungen in der Gegenwart (oder Zukunft) dachten, die begreiflicherweise den Zeitgenossen sehr spürbar waren, während sie die Protestanten lediglich auf solche in der Vergangenheit verweisen konnten, die zum größten Teil schon in Vergessenheit geraten waren. Das Projekt der Protestanten, das am 8./18. März 1647124 den Schweden übergeben wurde, wich von der Declaratio ultima Caesareanorum, die am 5./ 15. März 1647 den Schweden exhibiert worden war, insofern ab, als Art. XII nach der Evangelicorum Declaratio in puncto Gravaminum, die am 27. Februar/9. März 1647 den Schweden übergeben worden war, modifiziert werden sollte; dasselbe sollte mit Art. XV geschehen. Das heißt: Die Protestanten blieben bei ihren Forderungen. Es war ungewiß, wie es weitergehen sollte. 4. Die Konzessionen der Kaiserlichen vom 19./29. März 1647 Am 16./26. und 17./27. März 1647 verhandelten Salvius und Volmar weiter125. Die kaiserliche Neufassung des Art. 12 vom 19./29. März 1647126 sah vor, daß, wer im Jahre 1624 außerhalb der kaiserlichen Erblande, aufgrund von Verträgen, Herkommen oder Gewohnheit die öffentliche Religionsübung besaß, diese für alle Zeiten behalten sollte, und daß, wer im Jahre 1624 sola conniventia, ohne pactum, die protestantische Religionsübung hatte, wieder darin einzusetzen war. Wer damals keine öffentliche Religionsübung besaß, von dem sollte gelten: inviti quidem emigrare non cogantur, sed patienter tolerentur, wenn sie sich nur ruhig, friedlich und pflichttreu verhielten. Die übrigen Vorschriften bezüglich Verträgen über die Religionsübung und die freiwillige Auswanderung blieben unberührt und hielten sich im bisherigen Rahmen. – Es ist sogleich zu erkennen, daß hier eine neue Phase von Zugeständnissen der Kaiserlichen begann. Es ging einmal um den Rechtstitel für die Religionsübung im Normaljahr. Um sie zu behalten, sollte conniventia, also (bloße) Nachsicht, genügen. Wenn der katholische Landesherr die protestantische Religionsübung lediglich aus Ohnmacht oder Schwäche dissimuliert hatte, ohne sich positiv zu äußern127, dann sollte dieses Verhalten ein 124
Meiern IV, 132 – 152. Meiern IV, 152 – 173. 126 Meiern IV, 156 f. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 280 f. 127 Vgl. Georg May, Die deutschen Bischöfe angesichts der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts, Wien 1983, 94 u. ö. 125
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hinreichender Grund sein, um bei dem exercitium religionis verbleiben zu dürfen. Sodann betraf die weitergehende Konzession den Personenkreis, der 1624 keine öffentliche Religionsübung besaß. Darunter waren verschiedene Gruppen zusammengefaßt. Einmal zählten dazu jene, die im Jahre 1624 lediglich private Religionsübung hatten. Sodann rechneten diejenigen dazu, die Religionsübung erst nach dem Normaljahr, aber vor dem Friedensschluß erlangt hatten. Schließlich mußten auch die Personen, die zwar Protestanten waren, aber niemals eine Religionsübung gewonnen hatten, darin einbezogen werden. Sie alle sollten vor Ausweisung geschützt sein. Das Bleibendürfen, die Duldung bezog sich allerdings nur auf die jetzt lebenden Protestanten, nicht auf ihre Nachkommen und erst recht nicht auf künftig zum Augsburger Bekenntnis übergehende Personen. Damit hatte Trauttmansdorff eine weitgehende Zusage gemacht und war den Wünschen der Protestanten an entscheidender Stelle entgegengekommen. Denn das war ja ihr Hauptbestreben, daß ihre Konfessionsgenossen ohne Rücksicht auf die Religionsübung im Normaljahr in Ländern mit katholischer Obrigkeit bleiben durften. Lediglich in der Ausgestaltung der devotio domestica war er ihnen noch nicht gefolgt. Auch bei der Neufassung des Art. 13128 kam Trauttmansdorff den Protestanten entgegen. Danach sollten die evangelischen Fürsten von Brieg, Liegnitz, Münsterberg und Öls sowie die Stadt Breslau in der freien Ausübung des Augsburger Bekenntnisses verbleiben. Den Adligen in den übrigen schlesischen Herzogtümern, die unmittelbar unter der königlichen Kammer standen, und jenen, die augenblicklich in Niederösterreich weilten, sollte gestattet werden, daß sie wegen des evangelischen Glaubens nicht zur Auswanderung gezwungen werden, sofern sie nur ihre Pflicht erfüllten. Das geschah in gratiam intervenientium und allein zugunsten der Bekenner des Augsburger Bekenntnisses129. – Mit dieser Konzession war, was die in Frage kommenden Länder angeht, die in den Genuß des Schutzes vor Ausweisung kommen sollten, der endgültige Stand erreicht, der Aufnahme in das Friedensinstrument fand. Lediglich was die Personen betrifft, war noch eine Einschränkung gemacht: Nur der Adel, nicht die Untertanen wurden vom ius expellendi ausgenommen. Salvius war mit diesen Konzessionen freilich noch nicht zufrieden und drängte weiter. Ende März 1647 forderte er wenigstens in jedem Kreis oder Viertel der Erblande zwei evangelische Kirchen. Trautmansdorff war höchstens bereit, eine Kirche zu konzedieren, versicherte aber, evangelische Angehörige des Herren- oder Ritterstandes würden in gratiam intervenientium nicht ausgewiesen werden130. In Schreiben an den Kaiser ging Trauttmansdorff noch weiter. Er plädierte dafür, in jenen Teilen Schlesiens, in denen aufgrund der Prager Resolution 128
Meiern IV, 157 f. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 281. Die Frage, ob die Reformierten, die Bekenner des Helvetischen Bekenntnisses, dazu gehörten, war damals noch nicht entschieden. Vgl. N. Paulus, Bekenntnisschriften: LThK II, 1931, 114 – 118, hier 116 f. 130 Meiern IV, 157 f., 165 – 167, 171 – 173. 129
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die Religionsübung nicht freigegeben war, die Errichtung einer lutherischen Kirche zuzugestehen131. Unter den katholischen Ständen breitete sich angesichts der Konzessionen, welche die Kaiserlichen den Schweden gemacht hatten, wachsende Besorgnis aus. Sie sahen sich nach Unterstützung um. In dem Gespräch, das die Deputation der katholischen Stände am 2. April 1647132 mit den französischen Gesandten führte, verrieten sie ihre Sorge wegen zu weitgehender Zugeständnisse der Kaiserlichen betreffs der Autonomie. Heinrich Herzog von Longueville zeigte sich wohlunterrichtet, daß die Protestanten lediglich Toleranz für ihre Konfessionsgenossen verlangten, damit sie nicht ausgewiesen würden. Der kurbayerische Vertreter erwiderte, daß daraus innerhalb kurzer Zeit die Auslöschung der (katholischen) Religion folgen werde, und Claude du Mesme Graf d’Avaux pflichtete ihm bei. Ein wirksamer Einsatz der Franzosen zugunsten der katholischen Position kam jedoch weder jetzt noch später zustande.
VI. Die Vorschläge der Kaiserlichen vom April/Mai 1647 1. Der Punctus Gravaminum vom 7./17. April 1647 Der Vorschlag der Kaiserlichen vom 19./29. März 1647 lag auf dem Tisch, und sie konnten jetzt kaum mehr dahinter zurückgehen. Am 7./17. April l647133 traten sie mit einem vollständigen Vorschlag zu einem Instrumentum Pacis hervor. Der Punctus Gravaminum Instrumento Caesareanorum ita insertus vom 7./17. April 1647134 enthielt die üblichen einleitenden, grundsätzlichen Ausführungen über die durch usus erlangte öffentliche oder private protestantische Religionsübung, das ius reformandi und darin eingeschlossen das beneficium emigrandi. Der Text sah sodann die Religionsfreiheit jener vor, die 1624 die protestantische (bzw. katholische) Religionsübung (usum et exercitium) besaßen, auch wenn es nicht durch pactum, sondern nur sola conniventia war. Jene aber, die jetzt in unmittelbaren Gebieten verweilten und keine öffentliche Religionsübung durch usus hatten, dürften nicht gegen ihren Willen gezwungen werden, auszuwandern, sondern seien zu dulden, wenn immer sie sich als zuverlässige Untertanen verhielten. Wenn sie aber freiwillig auswandern wollten, sollte ihnen der Verkauf oder das Behalten ihrer Güter freigestellt sein. Die Auswanderung sollte nicht erschwert werden dürfen; insbesondere sollten die erforderlichen Zeugnisse ausgestellt werden. Entsprechend der kaiserlichen Resolution, die dem Prager Frieden an131
Ruppert, Die kaiserliche Politik 281. Wolff, Protokolle IV, 1 S. 525 – 530. 133 Meiern IV, 180 – 190. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 202; Ruppert, Die kaiserliche Politik 288. 134 Meiern IV, 180 – 190. 132
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gehängt war, sollte der jetzige Zustand der Religion in den Fürstentümern Brieg, Liegnitz, Münsterberg und Öls sowie in der Stadt Breslau beibehalten werden. Die Ausdehnung dieser Gnade auf die schlesischen Erbfürstentümer wurde indes abgelehnt. Das landesherrliche Reformationsrecht sollte jedoch in den unmittelbaren Erbfürstentümern Schlesiens nicht gegen die Grafen, Freiherren und Adeligen Anwendung finden, und diese sollten nicht genötigt werden, wegen ihrer Religion ihre Güter herzugeben oder aus dem Lande zu ziehen. Wenn sie auswandern wollten, sollte es ihnen freistehen, ihre Güter zu verkaufen oder zu behalten; in letzterem Falle sollten sie freien Zutritt ins Land zur Besorgung ihrer Angelegenheiten erhalten. Das gleiche sollte den niederösterreichischen Grafen, Freiherren und Adeligen gewährt werden, die jetzt dort weilten (de praesenti degentes). – Dieser Entwurf enthielt die bisherigen Zugeständnisse an die Protestanten und übernahm an zahlreichen Stellen die Formulierungen, die sie vorgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen beharrten bei ihren Konzessionen vom 19./ 29. März 1647. Deren wichtigster Punkt war die Duldung der fremdkonfessionellen Untertanen ohne öffentliche Religionsübung im Jahre 1624. Die Ausweisung allein wegen abweichender Religion war in dem Projekt überhaupt nicht mehr vorgesehen. Allerdings war von denen, die nach Veröffentlichung des Friedens die Religion wechseln würden, mit keinem Wort die Rede, und dieses Schweigen konnte und mußte wohl dahin ausgelegt werden, daß gegen diese Gruppe die erzwungene Auswanderung zur Anwendung kommen konnte. Die Konzessionsbereitschaft der Kaiserlichen wurde von den Protestanten nicht honoriert. Diese gingen vielmehr genau den Punkt an, den die Kaiserlichen offengelassen hatten. Am 20. April 1647135 beharrten die Vertreter von SachsenAltenburg bei den kaiserlichen Gesandten darauf, daß den Protestanten Toleranz in dem Sinne gegeben werde, daß nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch die zukünftigen Anhänger dieser Religion, also für immer, darunter umfaßt sein sollten oder wenigstens keiner von ihnen vor 15 Jahren ausgewiesen werde. Sie erhielten zur Antwort, daß die Katholiken sich nicht weiter treiben lassen wollten, vor allem weil diese Konzession dem Religionsfrieden und der Praxis im Reich widerstrebe. Diese Abweisung irritierte die Protestanten nicht. Sie exhibierten am 4./14. April 1647136 neuerdings ihre Wünsche den Schweden. In Nr. XII (§ ,,Quantum“) wurde die Beibehaltung der öffentlichen oder privaten Religionsübung des Jahres 1624 festgesetzt. In Nr. XIII wurden die Verträge betreffs der Religionsübung aufrechterhalten; Untertanen ohne öffentliche Religionsübung im Jahre 1624, die sich innerhalb von drei Monaten (trimestre) nach Veröffentlichung des Friedens zu einer abweichenden Religion bekennen, sollten nicht zum Verkauf der Güter und zum Abzug gezwungen werden, sondern die Hausandacht genießen, in der Nachbarschaft den öffentlichen Gottesdienst besuchen und die Kinder in Schulen ihres Bekenntnisses schicken oder zu Hause unterrichten dür135 136
Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 834. Meiern IV, 193 – 204.
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fen; für Eheschließung, Taufe und Versehung sollten Geistliche herbeigeholt werden dürfen; für den freiwilligen Abzug waren zahlreiche Kautelen vorgesehen; wer sechs Monate (semestre) nach Friedensschluß seine Religion wechselte oder durch Erbschaft, Heirat oder anderswie Güter erwarb, sollte von dem Zeitpunkt an, wo ihm durch persönliches Mandat dreimal der Abzug befohlen worden war, 15 Jahre Zeit haben, um entweder seine Güter zu verkaufen und ohne Abzug vom Erlös auszuwandern oder seine Güter durch Angehörige der herrschenden Religion verwalten zu lassen, wobei es ihm unbenommen sein sollte, dorthin für drei bis vier Wochen zurückzukehren, um die notwendigen Geschäfte zu erledigen. – Mit bestechender Konsequenz verfochten die Protestanten ihre Ziele. Die private Religionsübung im Jahre 1624 war aufgenommen, die Meldung der Angehörigen einer Minderheitskonfession nicht vergessen, wenn auch jetzt der Zeitraum auf ein Vierteljahr reduziert war, der Religionswechsel wenigstens durch eine lange Bleibefrist geschützt. Die Schweden waren mit diesem Programm einverstanden. Ihr Projekt, das am 14./24. April 1647137 den Kaiserlichen ausgeliefert wurde, enthielt erneut Höchstforderungen. Der Punctus Gravaminum war ,,auf die vor diesem geschlossene Weise gantz ungeändert eingerichtet“. Trauttmansdorff erklärte dazu, er würde selbst, wenn er in Stockholm im Gefängnis säße, Bedenken tragen, es zu unterschreiben. In den neuen Vorschlägen der Kaiserlichen, die am 30. April/10. Mai 1647 überreicht wurden138, war für 1624 das publicum und privatum exercitium zugestanden, als Gründe waren pactum und sola conniventia angegeben, für die Untertanen ohne öffentliche oder private Religionsübung war Toleranz festgesetzt ohne Möglichkeit der Ausweisung, aber auch ohne Erlaubnis zur Heranholung von Geistlichen, die nach Veröffentlichung des Friedens Übertretenden sollten eine fünfjährige Frist zum Abzug erhalten, die zweimal verlängert werden konnte. Die Protestanten sahen in ihrer Erklärung, die sie am 4./14. Mai 1647139 den Schweden übergaben, die Festlegung eines Termins, innerhalb dessen sich die fremdkonfessionellen Untertanen bei der Obrigkeit melden konnten, als unerläßlich an, um die Gewissensfreiheit zu sichern. Sie gingen aber jetzt bei den Untertanen ohne Religionsübung auf einen Monat Frist für die Anmeldung zurück. Die Möglichkeit zur Heranziehung von Geistlichen für die mit Hausandacht Ausgestatteten wurde fallengelassen. Für die später die Religion Wechselnden wurde erneut eine Frist von 15 Jahren gefordert. In der Konferenz vom 5./15. Mai 1647140 kam man einer Einigung nahe. Die Protestanten widerstrebten nur noch der von den Kaiserlichen an den Anfang gesetzten Regel ,,de jure Reformandi, annexo Juri Territoriali betreffend“ und beklagten, daß die Duldung der ohne Religionsübung im Jahre 1624 im Lande Befindlichen sich lediglich auf die praesentes beziehe, nicht auf deren Kinder und Abkömmlinge. Aber zu dieser letzten Konzession waren die 137
Meiern IV, 487 f.; V, 457 – 468. Meiern IV, 515 – 519. 139 Meiern IV, 522 f. 140 Meiern IV, 519 f. Vgl. Schmid, Bestrebungen und Fortschritte 133. 138
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Kaiserlichen nicht bereit. Sie waren sich bewußt, daß sie die Grenzen dessen, was viele Katholiken zuzugeben bereit waren, längst überschritten hatten. 2. Die Formula Caesareanorum vom 14./24. Mai 1647 Die Formula Caesareanorum über die kirchlichen Gravamina, die den schwedischen Gesandten übergeben und von diesen wiederum am 14./24. Mai 1647 den Protestanten vorgelegt wurde141, ging auf das ius reformandi und das beneficium emigrandi in der üblichen Weise ein. Hier waren auch die Untertanen in den Schutz des Normaljahres einbezogen, die damals lediglich die private Religionsübung besaßen. Wer 1624 keine öffentliche oder private Religionsübung besaß, sollte geduldig ertragen werden und der Hausandacht obliegen sowie in der Nachbarschaft dem öffentlichen Gottesdienst seiner Konfession beiwohnen und seine Kinder dort oder durch Hauslehrer unterrichten lassen dürfen. Wer freiwillig auswandern wolle, dem sollte es gestattet sein, seine Güter entweder zu veräußern oder zu behalten. Die freiwillige Auswanderung sollte nicht behindert oder erschwert werden dürfen. Jene endlich (Illi denique), die nach Veröffentlichung des Friedens die Religion wechseln, müßten innerhalb von zehn Jahren das Land verlassen. Wenn sie Schwierigkeiten beim Verkauf ihrer Güter oder beim Finden eines neuen Wohnsitzes (auch aus eigenem Verschulden) hatten, sollte ihnen ex superabundanti eine nochmalige Frist von fünf Jahren eingeräumt werden. Eine weitere Verlängerung war nicht zulässig. Die gezwungen Auswandernden sollten dieselben Vergünstigungen genießen wie die freiwillig Auswandernden. Die Formula erhielt die Zusagen aufrecht, die für die schlesischen Fürstentümer Brieg, Liegnitz, Münsterberg, Öls sowie für die Stadt Breslau gegeben worden waren. Es blieb auch bei den Bestimmungen für die unmittelbar zur Kammer gehörenden Herzogtümer Schlesiens. Die Herren sollten nicht zur Auswanderung gezwungen werden, und es sollte ihnen die lutherische Religionsübung in benachbarten Orten gestattet sein. Bei freiwilligem Abzug sollte ihnen, falls sie ihre Güter nicht bequem veräußern konnten, der Besuch ihrer Güter eingeräumt werden. Wie schon vorher wurde auch diesmal hinzugefügt, daß die Vergünstigungen nur den Anhängern der Augsburgischen Konfession gelten sollten. – Das Entgegenkommen in dieser Formula ging außerordentlich weit. Beachtlich war die Ausdehnung des Ausweisungsverbots auf Untertanen mit lediglich privater Religionsübung im Normaljahr. Die erzwungene Auswanderung war lediglich für die nach Friedensschluß die Religion Wechselnden zugelassen, und zwar mit der von den Protestanten geforderten langen Frist von bis zu fünfzehn Jahren142. Die 141
Meiern IV, 536 – 547, hier 541 f. Diese Gruppe wurde fortan mit den Worten ,,Illi denique“ eingeführt, die hier (IV, 543) Verwendung fanden; in § 37 des Friedensvertrages werden sie mit ,,illis vero“ bezeichnet. 142
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Kaiserlichen mußten wissen, daß sich die Katholiken nicht dazu verstehen würden, sie zu akzeptieren.
VII. Die Einigung zwischen Kaiserlichen und Schweden 1. Der Endliche Vergleich Auf der Basis dieser Vorschläge einigten sich die Kaiserlichen und die Schweden. Der Endliche Vergleich vom 24. Mai 1647143 zwischen Kaiserlichen und Schweden sah eine ausgefeilte Regelung der ,,Autonomie“ vor. Der irgendwie, auch longo usu oder sola conniventia begründete Besitzstand der öffentlichen oder privaten Religionsübung (mit Annexen) im Jahre 1624 sollte erhalten bleiben bzw. wiederhergestellt werden. Fremdkonfessionelle Untertanen ohne öffentliche oder private Religionsübung in diesem Jahre sollten geduldet werden und Gewissensfreiheit (mit deren Zubehör) genießen. Sie durften in bürgerlicher und wirtschaftlicher Hinsicht nicht benachteiligt werden. Wer nach Veröffentlichung des Friedens seine Religion wechselte, müsse innerhalb von 10 Jahren abziehen. Bei Schwierigkeiten, die Güter zu verkaufen oder den Wohnsitz zu verlegen, solle ihm eine weitere Frist von fünf Jahren konzediert werden. Danach aber gebe es keine Toleranz mehr. Den gezwungen Auswandernden sollten dieselben Wohltaten zukommen wie den freiwillig Abziehenden. – Die Schweden konnten mit der gefundenen Einigung zufrieden sein, vor allem weil sie den erzwungenen Abzug auf ein Minimum reduzierte. Jetzt genügte auch die private evangelische Religionsübung im Jahre 1624, um darin belassen zu werden. Diese Religionsübung konnte (außer auf pactum und privilegium) auch bloß auf longus usus oder sola conniventia, also schwachen Titeln, beruhen; sie genügten, um darin belassen zu werden. Das schon früher aufgenommene patienter tolerentur blieb erhalten: Fremdkonfessionelle Untertanen ohne öffentliche oder private Religionsübung durften im Lande bleiben. In diesem Dokument war die Ausweisung nur noch für die Gruppe jener vorgesehen, die nach Friedensschluß zu einer fremden Konfession übergehen würde. Daß diesem Personenkreis eine (insgesamt) fünfzehnjährige Frist für die Auswanderung zugestanden werden sollte, war eine beachtliche Konzession. Denn hier handelte es sich immerhin nach kanonischem Recht um das Delikt der Häresie. Es ist verständlich, daß sich die Protestanten mit diesem Entwurf zunächst zufriedengaben.
143 Meiern IV, 548 – 550. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 215; Wild, Geschichte des westphälischen Friedens 50; Woltmann, Geschichte des Westphälischen Friedens II, 209 – 211; Ruppert, Die kaiserliche Politik 293.
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2. Das Instrumentum Trauttmansdorffianum Die gefundene Einigung bezüglich der Gravamina konnte in das Gesamtprojekt des Friedensvertrages übernommen werden. Am 3./13. Juni 1647144 veröffentlichten die Kaiserlichen ihren neuen Entwurf des Friedensvertrages, das sogenannte Instrumentum Trauttmansdorffianum. Das Instrumentum Pacis der Kaiserlichen, das am 3. Juni 1647 in der Mainzer Kanzlei aufgesetzt wurde, befaßte sich in Art. XII zunächst in der gewohnten Weise mit dem ius reformandi und damit auch mit dem beneficium emigrandi. Wer 1624 öffentliche oder private Religionsübung besaß, dem wurde sie garantiert (1. Gruppe). Es sah sodann einmal die Duldung jener fremdkonfessionellen Untertanen vor, die 1624 weder öffentliche noch private Religionsübung besaßen (2. Gruppe). Wenn sie freiwillig auswandern wollten, sollten sie die Wahl haben, ihre Güter zu behalten oder zu veräußern. In ersterem Falle war freie Rückkehr zur Besichtigung vorgesehen. Die freiwillige Auswanderung sollte unter keinem Vorwand verhindert oder erschwert werden dürfen; insbesondere sollten die erforderlichen Zeugnisse nicht verweigert werden dürfen. Nach der Publikation des Friedens übertretende Untertanen (3. Gruppe) sollten ausgewiesen werden können, aber nur innerhalb einer Frist von zehn Jahren. In Ausnahmefällen sollte ihnen eine neuerliche Spanne von fünf Jahren gewährt werden. Aber auch denen, die gezwungen wurden, auszuwandern, sollten dieselben Vergünstigungen zukommen wie jenen, die freiwillig abzogen. – Überblickt man den Verlauf der Verhandlungen, so ist auf den ersten Blick erkennbar, daß das Instrumentum gegenüber dem Dokument des 30. November 1646 beträchtlich zugunsten der Protestanten verändert war. Die entscheidenden Abweichungen waren die Erhaltung der Religionsübung des Normaljahres, der Schutz der im Zeitpunkt des Friedensschlusses im Lande weilenden Protestanten ohne Religionsübung im Jahre 1624 vor Ausweisung und die langjährige Frist bei Ausweisung der nach Friedensschluß abfallenden Katholiken oder zuziehenden Protestanten. Es nimmt nicht wunder, daß die Protestanten mit dem Instrumentum Trauttmansdorffianum im wesentlichen zufrieden waren145. Sie waren entschlossen, hinter die darin gemachten Konzessionen nicht mehr zurückzugehen. Allerdings waren ihre Wünsche damit noch nicht restlos erfüllt.
144
Meiern IV, 557 – 590. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 218; Ritter, Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede 275; Joachim F. Foerster, Kurfürst Ferdinand von Köln. Die Politik seiner Stifter in den Jahren 1634 – 1650 (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte e. V. 6), Münster/Westf. 1976, 317; Knoch, Die Politik 158; Dickmann, Der Westfälische Frieden 461; Ruppert, Die kaiserliche Politik 296 f. 145 Ruppert, Die kaiserliche Politik 298.
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VIII. Das Ringen um das Instrumentum Trauttmansdorffianum 1. Die Bedenken der katholischen Stände Die katholischen Stände nahmen das Instrumentum Trauttmansdorffianum reserviert auf146. Der Bischof von Osnabrück, Franz Wilhelm von Wartenberg, wehrte sich sogar entschieden dagegen147. Die Bedenken der Katholiken betrafen u. a. die Vorschriften bezüglich des ius emigrandi. Sie beschwerten sich darüber148, daß eine Fünfzehnjahresfrist viel zu lange sei, wie die kaiserlichen Gesandten am 18. Juni 1647 den Protestanten erklärten. Der Grund für ihre Beschwerde sei, es würde so (das Bleiben der Protestanten) in infinitum hinauslaufen, indem in 15 Jahren die Familie mit vielen Kindern vermehrt sei, welche dann auch geduldet werden sollten. Diese Besorgnis war nicht aus der Luft gegriffen. Es war zu befürchten, daß man bei jedem Kind die fünfzehnjährige Wartefrist von neuem beginnen lassen würde. Trauttmansdorff suchte am 19. Juni 1647149 die katholischen Stände zu beruhigen. Was insbesondere den wohl zehnmal umgearbeiteten Punkt der Autonomie angehe, über den man vielfach geklagt habe, so könne mehr nicht erreicht werden; indes sei er dergestalt abgefaßt, daß man, wenn man die Andersgläubigen vorsichtig beobachte, hundert Veranlassungen erhalten werde, die Eigenwilligkeit der Protestanten zu beschneiden und aller mißfälligen Protestanten auch ohne Erwartung des langen Termins sich zu entledigen. Trauttmansdorff meinte wohl, die Protestanten würden den katholischen Landesherren durch aggressives Verhalten Anlaß bieten, die Frist für das Bleiben zu verkürzen, etwa indem sie es an dem debitum obsequium und der subiectio fehlen ließen, von denen der spätere Art. V § 34 IPO sprach. Es gelang ihm jedoch nicht, die Katholiken zu beschwichtigen. Sie erklärten den Kaiserlichen, daß sie zu dem, was diese mit den Schweden abgemacht hätten, nicht Stellung nehmen könnten, ohne neue Weisungen von ihren Fürsten eingeholt zu haben150. Wangnereck trat erneut auf den Plan und unterzog das Instrumentum Trauttmansdorffianum scharfer Kritik151. Das Normaljahr wurde abgelehnt, weil es fast allein den Protestanten zugute komme, gebe es doch zwar viele Protestanten in katholischen Territorien, aber nur wenige Katholiken in protestantischen, und weil es der re146
Ludwig Freiherr von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus von der Wahl Innozenz’ X. bis zum Tode Innozenz’ XII. (1644 – 1700) (= Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters 14. Bd., 1. Abt.), 1.–7. Aufl., Freiburg i.Br. 1929, 87. 147 Knoch, Die Politik 162 – 166. Über Franz Wilhelm von Wartenherg vgl. May, Die deutschen Bischöfe angesichts der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts 130 f., 160 – 164, 298, 352 f., 664. 148 Meiern IV, 617, 619. 149 Meiern IV, 621 – 625, hier 623. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 218 f. 150 Adami Relatio Historica 482, 485; Odhner, Die Politik Schwedens 218. 151 Meiern IV, 590 – 607.
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gula territorialis widerspreche. Dasselbe gelte für die Pflicht zur Duldung fremdkonfessioneller Untertanen, die 1624 keine Religionsübung besaßen. Die Zehnjahresfrist für nach Friedensschluß Übertretende gar führe zur tödlichen Bedrohung der katholischen Religion; sie biete den Protestanten Gelegenheit zur Propaganda und eröffne die Möglichkeit, die Frist zu verlängern; wenn sie nämlich heuchlerisch vorgäben, katholisch geworden zu sein, dann beginne die Frist von neuem. – Man wird dieser Stellungnahme die Berechtigung nicht gänzlich absprechen können. Wie die Verhältnisse lagen, ließen sich jedoch dogmatische Prinzipien nicht mehr ohne Bruch in die Lebenswirklichkeit überführen. Hier entschied die Macht, und sie war überwiegend auf seiten der Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses. Das endlich am 11. Oktober 1647 den Kaiserlichen vorgelegte Gutachten der Katholiken152 zu dem Instrumentum Trauttmansdorffianum enthielt mannigfache Bedenken. Sie insistierten auf dem Passauer Vertrag und dem Augsburger Religionsfrieden als Grundlage des Friedensschlusses in bezug auf die Gravamina. Zu den einzelnen Punkten, denen sie glaubten nicht zustimmen zu können, gehörten u. a. die Säkularisation der Kirchengüter und die Autonomie. Die Durchbrechung des Normaljahres zugunsten der Protestanten wurde abgelehnt. Die fünfzehnjährige Emigrationsfrist, aber noch mehr die verlangte Duldung aller derer, die im Jahre 1624 keine Religionsübung besaßen, stießen auf Widerstand. Die Katholiken wollten die Toleranz wenigstens auf die praesentes eingeschränkt und nicht auf die posteri et futuri ausgedehnt wissen153. Diese Stellungnahme war nur von begrenztem Wert, weil sie zwar von vielen katholischen Ständen getragen wurde, aber unter ihnen die mächtigsten fehlten. Es war vorauszusehen, daß sie keine Wende in den Verhandlungen würde herbeiführen können. Am 7./17. Dezember 1647154 überreichte Volmar den Schweden und den Protestanten die (allerdings) abgeschwächte Erklärung der Katholiken über das kaiserliche Friedensinstrument, näherhin über die Punkte der Amnestie und der Gravamina. Die Katholiken forderten danach, daß die Worte: ,,Hoc tamen“ (§ 31) bis ,,Sive autem“ (§ 35) ausgelassen würden und daß man bei dem bleibe, was der Augsburger Religionsfrieden festgelegt habe. Das hieß: Es sollte die öffentliche und die private Religionsübung des Jahres 1624 nicht anerkannt werden, und es sollten diejenigen, die im Jahre 1624 keine Religionsübung hatten, nicht geduldet werden. Positiv ausgedrückt: Das ius reformandi sollte in vollem Umfang wiederhergestellt und lediglich durch das beneficium emigrandi eingeschränkt werden. Man kann sich nicht denken, daß die Kaiserlichen im Ernst annahmen, diese Bedenken hätten Aussicht auf Berücksichtigung. So weitgehende Forderungen waren in diesem Zeitpunkt noch weni152 Teilweise bei Meiern IV, 767 – 770; Adami Relatio Historica 486 – 491. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 384 – 386; Odhner, Die Politik Schwedens 236 f.; Ruppert, Die kaiserliche Politik 318; Knoch, Die Politik 198 f. 153 Meiern IV, 768. 154 Meiern IV, 821 – 825. Vgl. Odhner, Die Politik Schwedens 240 f.; Knoch, Die Politik 199.
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ger durchzusetzen als am Beginn der Verhandlungen. Aber es gehörte eben zu deren Charakter, daß einem Gewähren immer wieder ein Zurückziehen folgte. Am 7./17. Dezember l647155 übergaben die kaiserlichen Gesandten den Vertretern von Kursachsen die (mit Forderungen der Katholiken vermischten) Notae des kaiserlichen Hofes, wie das kaiserlich-schwedische Friedensinstrument einzurichten sei. Danach sollte der § ,,Quantum deinde“ (= § 30) erhalten bleiben. Dagegen könne man die §§ ,,Hoc tamen non obstante“ (= § 31), ,,Pacta autem“ (= § 33), ,,Illi vero Catholicorum Subditi“ (= § 34) bis ,,Sive autem Catholici“ (= § 35) katholischerseits nicht zugeben, weil das gegen das vorher gewährte ius reformandi sei. Es sollten also nach diesen Einwendungen die Religionsübung nicht vom Normaljahr abhängig gemacht und erst recht denen keine Religionsübung und Duldung gewährt werden, die sie erst nach 1624 erlangt hatten156. Auch der Kaiser meinte, daß der § ,,Illi vero“ bis ,,Sive autem Catholici“ auszulassen sei wie auch die Bestimmung über Verträge des Landesherrn mit den Untertanen. Der § ,,Sive autem“ (= § 35) solle mit Tilgung der Worte: Mercatorum, opificum aut tribuum communione bis § ,,Illi denique“ beibehalten werden. Den § ,,Illi denique“ (= die Religion wechselnde Untertanen) mit seiner fünfzehnjährigen Bleibefrist könnten und wollten die Katholiken nicht zugeben; er laufe auch gegen den Religionsfrieden157; außerdem hätten die Schweden zugestimmt, ihn wegzulassen. – An diesem Dokument ist vor allem bemerkenswert die Weigerung des Kaisers, Verträge des Landesherrn mit seinen Untertanen über die Religionsübung durch den Friedensvertrag garantieren zu lassen. Denn solche waren in den kaiserlichen Erblanden zwar abgeschlossen worden158, sie waren aber nach Ansicht des Hofes durch die folgenden Unbotmäßigkeiten und Rebellionen hinfällig geworden. Dagegen wollte der Kaiser an dem Prinzip des Normaljahres nicht rütteln. 2. Das Nachgeben der Protestanten in der Emigrationsfrist Zu Beginn des Jahres 1648 traten die Protestanten unmittelbar in die Besprechung der Religionsgravamina mit den Kaiserlichen ein159. Am 10./20. Januar 1648 verhandelten sie über Volmars ,,Temperamenta“160. Am 11./21. Januar 1648 übergaben sie den Kaiserlichen und den Katholiken ihre Declarationes Ultimae161. Darin bestanden sie im wesentlichen auf dem Instrumentum Trauttmansdorffianum. An 155
Meiern V, 544 – 558. Meiern V, 549 f. 157 Meiern V, 550. 158 Vgl. z. B. May, Die deutschen Bischöfe angesichts der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts 519. 159 Meiern IV, 865, 867 f., 905 – 922. 160 Darunter ist der Text zu verstehen, der bei Meiern IV, 821 – 825 steht. 161 Meiern IV, 877 – 880. 156
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Stelle einer zehnjährigen Frist für die Auswanderung wollten sie sich jedoch in § 12 mit einer sechsjährigen zufriedengeben. Bei dem § 14 ,,A sola“ wurde der Zusatz angebracht, daß die Untertanen wegen der Religionsänderung, solange der Streit um ein Territorium im Gange sei, nicht zur Auswanderung gezwungen werden dürften. Am 24. Januar/3. Februar l648162 exhibierten die Katholiken ihre Declarationes Ultimae den Kaiserlichen, den Schweden und den Protestanten. Es sollte der § ,,Quantum deinde“ (= § 30) belassen, dagegen sollten die §§ ,,Hoc tamen“ (= § 31), ,,Pacta autem“ (= § 33), ,,Illi vero“ (= § 34), ,,Sive autem“ (= § 35) und ,,Illi denique“ (die später Übertretenden) ausgelassen werden. Anstelle der ausfallenden Texte sollte ein neuer eingeführt werden, der Andersgläubige lediglich vor wirtschaftlicher und bürgerlicher Benachteiligung zu schützen vorsah und vor allem an der freiwilligen wie erzwungenen Auswanderung festhielt. Mit diesen Forderungen war das gesamte Instrumentum Trauttmansdorffianum in Frage gestellt und auf den Stand von 1555 zurückverwiesen. Der Austausch von Vorschlägen ging weiter. Am 29. Januar/8. Februar 1648163 übergab Volmar einen neuen Entwurf der Gravamina. Er brachte die bisher abgesprochenen Veränderungen und gewisse Abschwächungen. In dem die Nr. XII einleitenden § ,,Quantum deinde“ war nicht mehr, wie in früheren Projekten, vom publicum oder privatum exercitium Augustanae Confessionis die Rede. Der öffentlichen oder privaten Religionsübung im Normaljahr war also nicht mehr gedacht, die darüber abgeschlossenen Verträge waren nicht erwähnt164. Das ius reformandi war dagegen entschieden betont. Wenn ein Untertan lieber auswandern und seine Habe verkaufen als sich der Religion seines Oberen anpassen wolle, so hieß es, sei ihm das ohne Erschwerung zu gestatten165. Restriktiv waren auch die Ausnahmen in den Erblanden behandelt. Für Schlesien waren lediglich den Fürsten von Brieg, Liegnitz, Münsterberg und Öls sowie der Stadt Breslau die freie evangelische Religionsübung zugesagt; von dem Adel in den Kammerfürstentümern war nicht die Rede166. Es war vorauszusehen, daß diese Zurücknahmen auf den Widerstand der Protestanten stoßen würden. Sie waren damit erwartungsgemäß nicht einverstanden167. Die fürstlich-sächsischen Gesandten hielten es für ausgemacht, daß die zwei Gruppen von Protestanten, die entweder 1624 öffentliche Religionsübung besaßen oder die jetzt als solche in katholischen Ländern lebten, nicht zu emigrieren schuldig sein sollten. Bei den nach Friedensschluß Übertretenden seien sie schon von 15 auf 6 Jahre zurückgegangen und auch künftig bereit, über die Frist zu reden. Um die Zeit zur Auswanderung wurde 162
Meiern IV, 922 – 930. Meiern IV, 948 – 966. 164 Meiern IV, 962. 165 Meiern IV, 962. 166 Meiern IV, 963. 167 Meiern IV, 966 – 989. 163
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Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert
lebhaft verhandelt. Auf seiten der Protestanten zeigte sich Bereitschaft, nachzugeben. Am 11./21. Januar 1648168 traten die kurbrandenburgischen Gesandten dafür ein, den terminus emigrationis auf sechs Jahre zu stellen. Am 16./26. Januar 1648169 deuteten die braunschweigischen Gesandten an, man könne mit dem terminus emigrationis auf fünf Jahre heruntergehen. Am 16./26. Januar l648170 erklärte der kursächsische Gesandte im Namen seines Herrn, man könne die Frist für die Auswanderung von 15 Jahren auf die Hälfte herabsetzen. Die Katholiken erklärten dazu, die Schweden hätten bereits zugestimmt, daß dieser ganze Paragraph ausgelassen werde171. Es sollte also von den nach Friedensschluß die Religion Wechselnden überhaupt nicht die Rede sein, was bedeutet hätte, daß sie dem ius reformandi ohne Schutz und Schonung ausgeliefert worden wären. Das zuzugeben waren, wie gleich zu zeigen sein wird, die Protestanten nicht gewillt. Am 11. Februar 1648172 meinte der kursächsische Gesandte erneut, die Emigrationsfrist solle auf sechs oder noch weniger Jahre herabgehandelt werden. Der brandenburgische Kurfürst meinte, wie seine Gesandten am 13. Februar 1648173 gegenüber den Kaiserlichen erklärten, es genüge eine Emigrationsfrist von drei Jahren. Am 13. Februar 1648174 sagten die Kaiserlichen erneut, die Schweden hätten zugestimmt, den § ,,Illi denique“ auszulassen. Darauf erwiderte Johann Fromhold, diese Zustimmung sei unter Vorbehalt der Zustimmung der Protestanten erfolgt. Diese aber dachten nicht daran, die wichtige Bestimmung unter den Tisch fallen zu lassen. Noch einmal entzündete sich an diesem Punkt die Kontroverse. Am 22. Februar 1648175 erklärte der Vertreter von Kurmainz, wenn die im katholischen Land lebenden Protestanten nach dem Text ,,Illi vero“ (= § 34) auf Lebenszeit geduldet werden müßten und die neu abfallenden Personen durch ,,Illi denique“ eine so lange Frist zur Auswanderung erhielten, so sehe er Gefahr für das Erzstift. Ebenso argumentierte der Vertreter von Kurtrier. Der Gesandte von Kurbayern verlangte, bei ,,Illi vero“ das Wort ,,privatum“ auszulassen, weil es gefährlich ausgedehnt werden könne, der Text ,,Illi denique“ sei unerträglich. Die Kaiserlichen hörten sich das an, ohne eine Verheißung zu machen. In der Konferenz mit den Katholiken am 22. Februar 1648176 sprachen sie sich dafür aus, dem Text ,,Quodsi vero subditus“ (= § 36) eine Dreijahresfrist anzuhängen.
168
Meiern IV, 881. Meiern IV, 901. 170 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 961. 171 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 961 f. 172 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 984. 173 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 988 f. 174 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 989. 175 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 998 f. 176 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1000. 169
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3. Der Entwurf der Kaiserlichen vom 22. Februar/3. März 1648 Die abschließenden Religionsverhandlungen177 zwischen Kaiserlichen und Schweden begannen am 18./28. Februar 1648. In den Nebenzimmern warteten die evangelischen und katholischen Gesandten auf ihre Einbeziehung bzw. Konsultation. Am 22. Februar/3. März l648178 wurden die Verhandlungen über die Autonomie aufgenommen. Am 22. Februar/3. März 1648179 legten die Kaiserlichen bezüglich der Autonomiebestimmungen des Instrumentum Trauttmansdorffianum dar, die Katholiken wollten zwar die Anerkennung der errichteten Verträge über die Religionsübung zugestehen, dagegen wollten sie usum et observantiam anni 1624 et praescriptionem (= § 31) nicht zugeben, d. h., der Schutz des Normaljahres sollte lediglich dann greifen, wenn pactum oder privilegium vorlag, was selbstverständlich eine erhebliche Einschränkung der Personen, die in den Genuß des Schutzes gelangten, bedeutete; dabei beriefen sie sich auf die Meinung namhafter katholischer Stände180. Zur gesetzlichen Duldung der fremdkonfessionellen Untertanen ohne öffentliche oder private Religionsübung im Jahre 1624 wollten sie sich nicht verpflichten. Doch wollten sie, wie die Kaiserlichen versicherten, die Emigrationes ,,auf leydentliche Conditiones stellen, ja die Leute wohl gar dulten: alleine sich darzu per Legem Publicam zu verbinden, das hielten sie unrathsam zu sein, damit sie die Unterthanen desto besser in der Furcht halten könnten“181. In jedem Falle sollte bei Auswanderung lediglich eine Dreijahresfrist zum Abzug eingeräumt werden. Von denen, die künftig die Religion ändern würden, wollten die Kaiserlichen ,,gar nichts hören“182. Dagegen machten die Protestanten Front183. Sie dachten nicht daran, hinter das zurückzugehen, was ihnen einmal angeboten worden war. Die Kaiserlichen begriffen, daß man auf diese Weise nicht zum Ende der Beratungen kommen werde. 4. Das Projekt der Kaiserlichen vom 24. Februar/5. März 1648 Am 24. Februar/5. März 1648184 kam ein revidiertes Autonomieprojekt der Kaiserlichen heraus. In Art. 12 § ,,Hoc tamen“ (= § 31) war bei der (allein genannten) öffentlichen Religionsübung ,,longo usu“ aufgenommen, fehlte aber das gefährliche, den Protestanten günstige Wort observantia. In § ,,Sive autem“ (= § 35) war lediglich eine wenigstens zweijährige Frist (non minor biennio) vor177
Meiern V, 470 – 507. Vgl. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II, 454 – 459. Meiern V, 501 – 540. 179 Meiern V, 501 – 504. 180 Meiern V, 503. 181 Meiern V, 501. 182 Meiern V, 503. 183 Meiern V, 504. 184 Meiern V, 505 – 507. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 334.
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gesehen. In Art. 13 wurde nun die Konzession für den Adel in den schlesischen Kammerfürstentümern und in Niederösterreich wieder eingefügt. Allerdings war nur von den Adeligen, nicht von den Untertanen die Rede, denen der Schutz vor Ausweisung zugesagt wurde. Von einer erzwungenen Ausweisung sprach das Dokument mit keinem Wort. Doch stand der Satz darin, es könne geschehen, daß ein Untertan lieber auswandern und seine Habe veräußern als sich der Religion seines Oberen anpassen wolle185. Darin lag eine gefährliche Unbestimmtheit. Mittelbar war die bekannte Alternative: Annahme der herrschenden Religion oder (freiwilliger bzw. befohlener) Abzug ausgesprochen. Den Protestanten waren die Verbesserungen gegenüber dem vorhergehenden Projekt nicht weitgehend genug. Vor allem die zweijährige Bleibefrist mußte ihnen unzureichend erscheinen. Protestanten und Katholiken wurden von dem Stand der Verhandlungen unterrichtet. Am 25. Februar/6. März 1648186 berichteten die Schweden den Protestanten, daß die Kaiserlichen bei den unter das Normaljahr fallenden Personen das exercitium privatum und die observantia ausließen, daß sie bei den Personen ohne Religionsübung im Normaljahr und bei den nach Friedensschluß Übertretenden auf der Dreijahresfrist zur Auswanderung beharrten, daß sie die Evangelischen in den Städten in Zünften nicht dulden und bezüglich der Erblande nicht nachgeben wollten. Der Vertreter von Sachsen-Altenburg beanstandete diese Haltung der Kaiserlichen und forderte, daß die (ohne Religionsübung im Normaljahr) in katholischem Territorium lebenden Protestanten bis zum Lebensende oder wenigstens für 15 Jahre im Lande bleiben könnten. Bezüglich der nach Friedensschluß Übertretenden gab er sich mit der Dreijahresfrist zur Vorbereitung des Abzugs zufrieden. Auch müßten wieder die häusliche Religionsübung etc. für die im Lande Bleibenden und die Schutzbestimmungen für die Emigranten aufgenommen werden. Die anderen protestantischen Vertreter stimmten dem Gesandten von Sachsen-Altenburg bei, und so wurde beschlossen. Die Protestanten verlangten, daß in den §§ ,,Hoc tamen“ und ,,Pacta autem“ das exercitium privatum eingefügt werde187. Am 28. Februar/9. März 1648188 wurde aus Osnabrück berichtet, bezüglich des exercitium publicum und privatum im Jahre 1624 per pacta et longum usum hätten die Katholiken nachgegeben, nicht aber per observantiam et conniventiam. Ebenso hätten sie bei den jetzt lebenden Protestanten und den künftig zum Protestantismus Übertretenden auf einem dreijährigen Termin für den Abzug bestanden. Am 2./12. März 1648189 verzeichnete der Bericht keinen Fortschritt. Wie die Kaiserlichen am 6. März 1648190 den Katholiken mitteilten, stimmten die Schweden und die Protestanten nicht zu, daß bei ,,Hoc tamen“ (= § 31) das pri185
Meiern V, 506 f. Meiern V, 521 – 524. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 335. 187 Meiern V, 511. 188 Meiern V, 515. 189 Meiern IV, 516 – 519. 190 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1005. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 335. 186
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vatum exercitium ausgelassen werde, beharrten auf dem Text ,,Illi vero“ (= § 34), der den Protestanten auf Lebenszeit das Verbleiben in katholischem Gebiet sichere, und seien bei jenen Untertanen, die erst nach dem Frieden sich zum Protestantismus bekennen würden (,,Illi denique“), mit einer Dreijahresfrist einverstanden. Die Katholiken191 behielten ihr Mißtrauen gegen das privatum exercitium. Sie wollten auch die Texte ,,Illi vero“ (= § 34) und ,,Illi denique“ draußengelassen wissen. Sie forderten, daß, wenn dies nicht durchzusetzen sei, die Katholiken ebenfalls auf Lebenszeit geduldet würden. Wenn den Protestanten die drei Jahre zu wenig seien, könne man hinsichtlich jener, die bleiben dürften, auf fünf Jahre gehen, allerdings mit der Bedingung, daß es bezüglich derer, die künftig die Religion wechseln, bei der Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens bleibe; man solle diesen zwei Jahre bewilligen und nicht mehr. Hier ist die Fünfjahresfrist greifbar, die dann in § 37 Aufnahme fand. Am 26. Februar/7. März 1648192) gaben die Kaiserlichen in den Verhandlungen mit den Schweden zu, für das Normaljahr das exercitium privatum aufzunehmen (= § 31), bestanden aber für die Personen ohne Religionsübung im Jahre 1624 und für die nach Friedensschluß Übertretenden auf der Dreijahresfrist (bei der Auswanderung oder Ausweisung). Die Fünfzehnjahresfrist für den Abzug war damit jedenfalls erledigt. Auch die Protestanten ohne Religionsübung im Jahre 1624 blieben der zwangsmäßigen Emigration unterworfen. Die Katholiken lieferten lediglich einen knappen Beitrag zu der endlichen Fassung. Die katholischen Kurfürsten meinten am 13. März 1648193, bei den Worten ,,Illi vero“ (= § 34) und ,,Illi denique“ sollten die Fristen von fünf und drei Jahren beigefügt werden. So geschah es auch. Die Schweden setzten auch noch durch, daß statt conniventia (in § 31) die Worte ,,sola denique observantia“ eingesetzt wurden. Sie fürchteten, daß, wenn conniventia beibehalten würde, die Gewissensfreiheit bloß ,,von der Gnade des Gegentheils“ abhängen würde194. Mit Hartnäckigkeit drängten Protestanten und Schweden auf weitere Konzessionen für die Lutheraner in Schlesien. Daß sie nicht ausgewiesen werden sollten, war ihnen bereits zugesagt. Nun sollte den Verbleibenden die protestantische Religionsübung gesichert werden. Im Mai 1647 hatte Trauttmansdorff vom Kaiser die Genehmigung erhalten, in den schlesischen Erbfürstentümern den Protestanten einige Kirchen zu bewilligen195. Die Protestanten hatten sich überlegt, welche Orte dafür in Frage kommen sollten. Der kursächsische Gesandte erklärte nun am 26. Januar 1648196, der Kaiser solle einwilligen, daß in Schweidnitz, Münsterberg und Großglogau außerhalb der Mauern der Städte eine evangelische Kirche erbaut 191
Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1005 f. Meiern V, 524 – 528. 193 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1013. 194 Meiern V, 534 f. 195 Ruppert, Die kaiserliche Politik 293. 196 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 961. 192
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Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert
werde. Die Kaiserlichen bemerkten dazu, sie hätten keinen Befehl, solches in das Friedensinstrument hineinkommen zu lassen197. Die Kaiserlichen hatten die Erbauung von drei Kirchen in Schlesien bereits zugesichert, aber eben nur mündlich; die Protestanten wünschten die Aufnahme der Zusage in den Friedensvertrag. Am 11. Februar l648198 drängte der kursächsische Gesandte erneut darauf, daß die vom Kaiser in den Fürstentümern Schweidnitz, Jauer und Großglogau bewilligten Kirchen in das Friedensinstrument aufgenommen würden. Die Kaiserlichen gaben wiederum zur Antwort, dafür hätten sie keinen Befehl. Am 24. Februar/5. März 1648199 berichteten die Schweden, sie hätten im Gespräch mit den Kaiserlichen gefordert, den Landständen und Untertanen neben der Gewissensfreiheit in jedem Kreis oder Viertel wenn nicht zwei oder drei, so doch wenigstens eine Kirche zu gewähren. Auch Oxenstierna forderte am 7. März 1648200 im Namen der evangelischen Stände und seinem eigenen, daß die drei Kirchen im Friedensinstrument ausgesprochen würden. Am 3./13. März 1648201 hatten die kaiserlichen Gesandten endlich die Zustimmung ihres Herrn in der Hand, daß die drei Kirchen in das Friedensinstrument aufgenommen werden könnten, und sie fügten in dieses die Konzession ein, außerhalb von Jauer, Glogau und Schweidnitz je eine Kirche erbauen zu lassen202. Wiederum hatte die Hartnäckigkeit der Protestanten in einem Einzelpunkt den Sieg davongetragen. 5. Die Einigung vom 8./18. März 1648 Inzwischen waren die Verhandlungen zum Abschluß gediehen. Am 8./18. März 1648203 wurde der Autonomieartikel von den Unterhändlern angenommen. Der Vergleich trug die Unterschriften von Johannes Crane, Georg Reigersperger, Johan Adler Salvius und Wolfgang Konrad Thumbshirn. Er bedeutete für die Katholiken eine Niederlage. Sie nahmen jetzt hin, daß auch die bloße private Religionsübung im Jahre 1624 verbürgt wurde und daß protestantische Untertanen unter katholischen Landesherren, die sich auf (bloße) observantia in der (öffentlichen oder privaten) Religionsübung des Normaljahrs berufen konnten, vor Ausweisung gesichert waren. Ebenso räumten sie die Zubilligung der devotio domestica an die fremdkonfessionellen Untertanen, die den Schutz des Normaljahres nicht besaßen, ein. Daß die nicht veräußerten Güter der Abziehenden von Personen, die der Landesreligion angehörten, zu verwalten seien, wie es in früheren Projekten verlangt worden war, entfiel jetzt. Die Adligen und ihre Untertanen in den unmittelbar zur 197
Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 962. Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 984, 985. 199 Meiern V, 509. 200 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1007. 201 Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1014 f., 1016. 202 Meiern V, 533 f., 535 f. 203 Meiern V, 538 – 540. Vgl. Ruppert, Die kaiserliche Politik 336 f.; Knoch, Die Politik 208; Ohdner, Die Politik Schwedens 251 – 253. 198
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königlichen Kammer gehörenden schlesischen Fürstentümern sowie die gegenwärtigen Adeligen in Niederösterreich erhielten aufgrund der Intervention der Schweden und der protestantischen Stände die Zusage, daß sie wegen ihres Glaubens nicht auswandern müßten. Das verbleibende Recht zur Ausweisung war verklausuliert. Daß nach Veröffentlichung des Friedens die Religion wechselnde Untertanen ausgewiesen werden konnten, war zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich von allen zugegeben. Anders war es um jene Anhänger einer fremden Religion bestellt, die 1624 keine anerkannte Religionsübung besaßen. Ihnen war in den sich ablösenden Projekten die Duldung (mit devotio domestica) zugestanden worden. Die entsprechende Bestimmung blieb auch jetzt erhalten. Doch wurde gleichzeitig festgesetzt, daß sie ausgewiesen werden konnten. Dieser Punkt war somit das typische Beispiel eines nicht gelungenen Kompromisses. Der entscheidende Widerspruch lag zwischen dem § ,,Placuit“ (= § 34) einerseits und den §§ ,,Quod si“ (= § 36) und ,,Conventum“ (= § 37) andererseits vor. Beide Male ging es um jene zwei Gruppen fremdkonfessioneller Untertanen, die 1624 weder öffentliche noch private Religionsübung hatten oder sich erst nach Veröffentlichung des Friedens der fremden Konfession anschlossen. Sie wurden – bis auf einen Punkt – als eine Einheit behandelt. Während der § ,,Placuit“ für sie das ,,patienter tolerentur“ vorsah, also das Bleiben im Lande mit Gewissensfreiheit und Hausandacht anordnete, rechneten die §§ ,,Quod si“ und ,,Conventum“ mit ihrer freiwilligen oder erzwungenen Auswanderung. Eine unterschiedliche Behandlung war lediglich bezüglich der Abzugsfrist festgelegt. Für die Gruppe der schon beim Friedensschluß im Lande befindlichen fremdkonfessionellen Personen wurde eine fünfjährige, für jene der nach Friedensschluß übertretenden Personen eine dreijährige Frist zum Abzug vorgesehen (§ ,,Conventum“ = § 37). Die Frist zur Auswanderung bzw. Ausweisung wurde gegenüber früheren Entwürfen also verkürzt. Es war bedeutsam, daß jetzt offen ausgesprochen wurde: Wer 1624 nicht im Besitz der öffentlichen oder privaten Religionsübung war, kann ausgewiesen werden. Angesichts des gesamten Tenors dieses Dokumentes ist es verständlich, daß auf katholischer Seite die Besorgnisse keineswegs ausgeräumt waren. In einem Schreiben vom 14. März 1648 äußerte Wartenberg Bedenken zur Frage der Autonomie, die vor allem die Frist zur Auswanderung betrafen204. 6. Der Punctus Gravaminum vom 14./24. März 1648 Der Punctus Gravaminum, auf den sich die Kaiserlichen und die Schweden am 14./24. März 1648 in Osnabrück einigten205, führte dann an den endgültigen Text der Friedensurkunde heran. In dem § ,,Quantum“ (= § 30) blieb das mit dem ius territorii et superioritatis verbundene ius reformandi exercitium religionis erhalten und wurde das im Augsburger Religionsfrieden gewährte beneficium emigrandi 204
Knoch, Die Politik 314. Meiern V, 562 – 576. Vgl. Foerster/Philippe, Diarium Volmar II, 1022 f.; Pastor, Geschichte der Päpste XIV, 1 S. 91 f. 205
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anerkannt in den nun schon so lange mitgeschleppten Formulierungen. In dem § „Hoc tamen“ (= § 31) wurde die öffentliche oder private Religionsübung, wie sie im Jahre 1624 war, gleichgültig, ob sie sich aus Vertrag, Privileg, langem Gebrauch oder sola observantia herleitete, mit Annexen erhalten. Abweichungen waren nur mit gegenseitiger Zustimmung der unmittelbaren Stände und ihrer Untertanen möglich. Wer in dieser Übung gestört worden war oder sie verloren hatte, war wieder in sie einzusetzen. In dem § „Pacta autem“ (= § 33) wurde die Beständigkeit aller getroffenen Vereinbarungen über die öffentliche oder private Religionsübung festgestellt, sofern sie nicht der observantia von 1624 entgegen waren. Nach dem § ,,Placuit“ (= § 34) sollten jene, die 1624 weder öffentliche noch private Religionsübung besaßen, und die anderen, die nach Veröffentlichung des Friedens zu einer abweichenden Religion übertreten würden, geduldet werden (patienter tolerentur) und häusliche Andacht besitzen sowie in der Nachbarschaft dem öffentlichen Gottesdienst ihrer Religion beiwohnen und ihre Kinder in ihrem Glauben erziehen dürfen. Nach dem § ,,Quodsi verso“ (= § 36) sollten beide Gruppen freiwillig auswandern dürfen oder ausgewiesen werden können (aut a territorii domino iussus fuerit) mit dem nun schon gewohnten Schutz für ihr Vermögen. Nach dem § ,,Conventum autem“ (= § 37) galt, daß, wer zur Zeit des Friedens einer fremden Religion zugehörte, ohne daß er öffentliche oder private Religionsübung hatte, eine Frist von wenigstens fünf Jahren für die Vorbereitung der Auswanderung erhalten, wer die Religion erst nach Verkündigung des Friedens wechselte, eine solche von wenigstens drei Jahren bekommen sollte, nisi tempus magis laxum et spatiosum impetrare potuerint. Allen, freiwillig oder gezwungen Auswandernden sollten die erforderlichen Papiere ausgestellt, keinem sollten ungewohnte Reversalien auferlegt werden vel decimationibus substantiae secum exportatae plus aequo extensis praegraventur, multo minus spontaneam suscipientibus emigrationem, servitutis aut ullo alio praetextu impedimentum inferatur. In Art. 13 wurden in die den bezeichneten schlesischen Adligen (die unmittelbar unter der königlichen Kammer standen) aufgrund der Intervention Schwedens und der Stände Augsburgischer Konfession gewährten Vergünstigungen auch deren subditi aufgenommen, d. h. der Kaiser versprach, sie nicht zum Abzug zu zwingen wegen ihres Bekenntnisses, und gestattete ihnen die Religionsübung in der Nachbarschaft. Wenn sie bei freiwilliger Auswanderung ihr Vermögen nicht veräußern wollten oder dies nicht bequem tun konnten, sollte ihnen der freie Zugang quoties libuerit für die Verwaltung offenstehen. Außerdem versprach der Kaiser, daß in den unmittelbar unter seiner Kammer stehenden schlesischen Herzogtümern von den Anhängern des Augsburgischen Bekenntnisses auf eigene Kosten drei Kirchen gebaut werden dürften, nämlich außerhalb der Städte Schweidnitz, Jauer und Glogau nahe bei der Stadtmauer an Stellen, die der Kaiser bezeichnen würde. Damit war der Wortlaut festgelegt, der in das endgültige Friedensinstrument Aufnahme fand.
Art. V §§ 30 – 43 IPO
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Schluß Es war ein weiter Weg von dem relativ schlichten § 24 des Augsburger Religionsfriedens, der zum erstenmal den Abzug aus einem Lande in ein anderes aus religiösen Gründen gestattete, zu der komplizierten Regelung des beneficium emigrandi, wie es der Westfälische Frieden in Art. V §§ 30 – 43 IPO festlegte. Sie trägt deutlich kompromißhafte Züge. Die völlige Freistellung der Religionsübung der Untertanen und damit verbunden das Verbot jeder Ausweisung konnten die Protestanten nicht durchsetzen. Wohl aber gelang es ihnen, alle jene ihrer Konfessionsgenossen vor erzwungener Auswanderung zu bewahren, die im Normaljahr öffentliche oder private Religionsübung besaßen (§ 31). Die Katholiken hatten hier nachgeben müssen. Auch bezüglich der Konfessionsangehörigen, die 1624 weder öffentliche noch private Religionsübung besaßen oder die nach Veröffentlichung des Friedens ihr Bekenntnis wechselten, hatten die Protestanten unstreitig erfolgreich verhandelt. Denn für diese beiden Gruppen wurde die Toleranz mit Gewissensfreiheit angeordnet (§ 34), und es wurde ihnen eine Anzahl von Rechten garantiert (§ 35). Die befohlene Duldung hätte an sich die erzwungene Auswanderung ausgeschlossen; denn man kann nicht gleichzeitig das Bleiben im Lande gebieten und das Anordnen des Abzugs gestatten. Aber eben dies tat der Westfälische Frieden. Er stellte dem § 34 die §§ 36 und 37 entgegen. Das Recht zur Ausweisung jener Untertanen einer fremden Konfession, die im Normaljahr keine (öffentliche oder private) Religionsübung hatten oder die nach Veröffentlichung des Friedens zu jener Religion übertraten, wurde hier eindeutig ausgesprochen. Das heißt: Die Duldung und die damit verbundenen Rechte galten nur solange, wie der Abzug nicht befohlen wurde. Die Katholiken sahen dies als eine politische und religiöse Notwendigkeit an. Nur so ließ sich nach ihrer Überzeugung und allen Erfahrungen dem Sog des Protestantismus entgegenwirken und die Ruhe im Lande sichern. Die Zukunft mußte erweisen, wie Gewinn und Verlust sich auf die beiden Religionsparteien verteilten.
Das ius emigrandi nach dem Westfälischen Friedensinstrument I. Das ius reformandi Um das ius emigrandi zu verstehen, ist es notwendig, vom ius reformandi1 auszugehen; denn das erstere stellt sich als eine Auswirkung und eine Milderung des letzteren dar. 1. Die Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens Das ius reformandi war das Recht, das Religionswesen in einem Lande zu bestimmen. Ein ius reformandi hatten deutsche Fürsten von dem Tage an in Anspruch genommen, als sie daran gingen, in ihren Gebieten die katholische Religion abzuschaffen und die Religion Martin Luthers bzw. das Augsburger Bekenntnis einzuführen. Der Augsburger Religionsfriede2 gebrauchte den Ausdruck ius reformandi nicht, kannte aber die damit bezeichnete Sache. Er gewährte den Reichsständen die Befugnis, das Religionswesen ihres Gebietes und damit ihrer Untertanen zu bestimmen. In § 15 kann man eine mittelbare Anerkennung des ius reformandi der protestantischen Reichsstände finden. Damit war eine Entscheidung von großer Tragweite gefallen. Das Deutsche Reich zog sich fortan weitgehend aus der Ordnung des Religionswesens zurück und überließ sie den Ländern. Die Reichsstände erhielten das Herrschaftsrecht über die Religion. Der Bekenntnisstand und das Kirchenwesen eines Territoriums wurden dem Willen des Landesherrn überantwortet. Die Religion wurde menschlicher Verfügung unterstellt und ausgeliefert. Gleichzeitig wurde die Religionsübung eines jeden Landes gegen Eingriffe von außen sichergestellt. Kein Reichsstand durfte einen anderen Reichsstand oder dessen Untertanen dazu zwingen, die eigene Religion anzunehmen, oder letztere gegen 1 J. Marx, Reformationsrecht, in: Kirchenlexikon X, 21897, 891 f.; B. v. Bonin, Die praktische Bedeutung des ius reformandi. Eine rechtsgeschichtliche Studie (= Kirchenrechtliche Abhandlungen 1), Stuttgart 1902, Nachdruck: Amsterdam 1962; K. Schlaich, Jus reformandi, in: HRG II, 1978, 498 – 502. 2 Text des Abschieds des Augsburger Reichstages vom 25. September 1555 bei K. Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit (= Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht 2), Leipzig 1904, 282 – 311; K. Brandi, Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555. Kritische Ausgabe des Textes mit den Entwürfen und der königlichen Deklaration, Göttingen 21927, 32 – 52. Vgl. F. Merzbacher, Augsburger Religionsfriede, in: HRG I, 1971, 259 f.; G. Pfeiffer, Augsburger Religionsfriede, in: TRE IV, 1979, 639 – 645; M. Heckel, Augsburger Religionsfriede, in: EvStL I, 31987, 111 – 117.
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ihre Obrigkeit in Schutz zu nehmen (§ 23). Die Religionspolitik ging allerdings auf und nach dem Reichstag von Augsburg seltsame Wege. Sie stand unter dem (später) formulierten Schlagwort: Cuius regio, eius religio.3 Die Protestanten verfochten auf dem Augsburger Friedenskongreß den Grundsatz der konfessionellen Geschlossenheit für die Gebiete mit protestantischem Landesherrn, während sie in Territorien mit katholischem Landesherrn den Untertanen die ,,Freistellung“, d. h. die Freiheit, zum Protestantismus überzugehen und ihre Religion auszuüben, gewährt sehen wollten. Die Katholiken nahmen das von den Protestanten erfundene und von ihnen zunächst scharf bekämpfte Prinzip, als es Reichsrecht geworden war, auch für sich in Anspruch, um so die konfessionelle Einheit ihrer Territorien zu sichern bzw. herzustellen. Der Westfälische Frieden4 befaßte sich ausgiebig mit dem ius reformandi exercitium Religionis.5 In Art. V § 30 IPO erscheint es erstmalig unter diesem Ausdruck. Dort wird erklärt, daß den unmittelbaren Ständen mit dem Recht der Landeshoheit aufgrund allgemeiner, über das ganze Reich verbreiteter Übung auch das Recht, die Religionsübung zu reformieren, zustehe (competat). Der Westfälische Frieden gewährte also den Reichsständen das ius reformandi nicht (erstmalig), sondern er erkannte es lediglich als ihnen (bereits) zustehend an. 2. Der Inhalt des ius reformandi Das ius reformandi besagte einmal, daß den Reichsständen für sich persönlich das Recht zukam, die Religion zu wählen, die sie bekennen wollten. Das bedeutete zum Zeitpunkt des Augsburger Religionsfriedens die Freiheit, vom katholischen Glauben zum Augsburger Bekenntnis überzugehen.6 Der umgekehrte Vorgang wurde damals nicht ins Auge gefaßt, weil er (noch) nicht aktuell war und weil sich seine Zulässigkeit von selbst verstand. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß im Recht der Konfessionswahl das Recht des Konfessionswechsels enthalten war. Das ius reformandi hatte sodann zum Inhalt, daß der Landesherr befugt war, das Religionswesen in seinem Territorium zu bestimmen, d. h. im damaligen Zeitpunkt das Land dem Luthertum zuzuführen und die katholische Religion zu unterdrücken. Als Folgerung daraus besagte das ius reformandi des Landesherren den Bekenntnis3
M. Heckel, Cuius regio – eius religio, in: HRG I, 1971, 651 – 658. Text: Zeumer, Quellensammlung 332 – 379; Anhang zu K. L. v. Woltmann, Geschichte des Westphälischen Friedens, 2 Tle., Leipzig 1808/09, II, nach S. 374. Vgl. M. Koch, Geschichte des Deutschen Reiches unter der Regierung Ferdinands III., 2 Bde., Wien 1865/66, II 488 – 515; G. Winter, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 1893, 595 – 600; Fr. Friedrich, Das Zeitalter des Barock. Kultur und Staaten Europas im 17. Jahrhundert, Stuttgart 1954, 201 – 206; M. Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (= Deutsche Geschichte 5), Göttingen 1983, 181 – 209; derselbe, Westfälischer Frieden, in: EvStL II, 31987, 3970 – 3974. 5 C. Fr. Rosshirt, Das Staatsrechtliche Verhältnis zur Katholischen Kirche in Deutschland, seit dem westphälischen Frieden, übersichtlich dargestellt, Schaffhausen 1859. 6 Vgl. §§ 17 und 18. 4
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zwang für die Untertanen. Der Fürst konnte ihnen gebieten, die Religion anzunehmen, der er selbst folgte. Der Westfälische Frieden brachte mannigfache Schranken an dem ius reformandi an; sie veränderten das Recht beträchtlich. Mit Bedacht wurde der Ausdruck ius reformandi durch die Worte exercitium Religionis ergänzt. Die Befugnis, die dem Landesherrn zukam, bestand jetzt darin, die Übung der Religion, nicht die Religion selbst, zu ordnen. Das Recht, seinen Untertanen den Religionswechsel zu gebieten, sollte fortan ausgeschlossen sein. Doch blieb die Befugnis des Landesherrn erhalten, Untertanen, denen nicht der Schutz des (gleich zu erwähnenden) Normaljahres zu Hilfe kam, für seinen Glauben in Anspruch zu nehmen und sie bei Ablehnung dieses Verlangens als Heterodoxe aus dem Territorium auszuweisen. 3. Die Inhaber des ius reformandi Der Augsburger Religionsfrieden gestand die Aufrichtung des lutherischen Religionswesens den Kurfürsten, Fürsten und Ständen des Reiches zu (§ 15).7 Andere besaßen diese Befugnis nicht. Der Westfälische Frieden sprach das ius reformandi exercitium Religionis den unmittelbaren Reichsständen, seien sie geistlich oder weltlich, zu (Art. V § 30 IPO). Zu diesen gehörten die Kurfürsten, die Reichsfürsten und die Reichsstädte. Art. V § 28 IPO gab aber auch der freien und unmittelbaren Reichsritterschaft,8 der die Reichsstandschaft abging, das ius reformandi, und Art. V § 29 IPO erwähnte es eigens für die Reichsstädte.9 Die nicht seltene Intervention von außen erklärt es, daß nach Art. V § 30 IPO keinem unmittelbaren Stand das Recht, das ihm aufgrund seiner Territorialherrschaft in Religionssachen zukam, behindert werden durfte. 4. Die Quelle des ius reformandi Nach Art. V § 30 IPO war das ius reformandi der Reichsstände mit dem ius territorii et superioritatis, d. h. dem Recht der Territorialobrigkeit, der Landeshoheit,10 verbunden. So wird der vorsichtige Ausdruck cum bei iure Territorii et Superioritatis verstanden werden müssen. Diese Verbindung wurde dann noch abgesichert durch den Hinweis auf die im ganzen Reich seit geraumer Zeit allgemein übliche Praxis: ex communi per totum Imperium hactenus usitata praxi. Der Ausdruck ius territorii et superioritatis war geläufig. So sprach beispielsweise Art. VIII § 1 IPO vom ius territoriale tam in ecclesiasticis quam politicis, welches den 7
E. Kaufmann, Kurfürsten, in: HRG II, 1978, 1277 – 1290; H. J. Becker, Kurfürstenrat, in: HRG II, 1978, 1290 – 1293; G. Theuerkauf, Reichsfürsten, -stand, -rat, in: HRG IV, 1986, 573 – 576. 8 V. Press, Reichsritterschaft, in: HRG IV, 1986, 743 – 747. 9 P. Eitel, Reichsstädte, in: HRG IV, 1986, 754 – 760. 10 W. Sellert, Landeshoheit, in: HRG II, 1978, 1388 – 1394.
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Reichsständen zukomme, und in Art. VIII § 4 IPO wurden die Rechte der Landeshoheit aufgezählt. Die Verknüpfung des ius reformandi mit der Landeshoheit war nichts Neues. Schon § 8 des Prager Friedens11 vom 30. Mai 1635 hob den Zusammenhang des ius reformandi mit der Landeshoheit hervor. Das ius reformandi wurde nicht als ein Bestandteil des ius territorii et superioritatis ausgegeben, sondern als ein den Territorialherren aufgrund der langen gemeinsamen Übung zugewachsenes Recht; diese letztere war seine Quelle. Die Verbindung des ius reformandi mit der Landeshoheit bezeichnete auch eine Grenze. Mit schwächeren Formen der Herrschaft war es nicht verknüpft. Wer nur die Lehnshoheit,12 die Kriminalgerichtsbarkeit oder das Patronatsrecht besaß, dem kam das ius reformandi nicht zu (Art. V §§ 42 und 44 IPO). 5. Die besonderen Verhältnisse zwischen Lutheranern und Reformierten Der Augsburger Religionsfrieden nahm lediglich die Katholiken und die Lutheraner in seine Bestimmungen auf, wobei die ersteren als die Anhänger der alten Religion, die letzteren als die Augsburger Konfessions-Verwandten bezeichnet wurden. Die Reformierten, die sich zumindest von dem Unveränderten Augsburger Bekenntnis distanzierten13 und von der Mehrzahl der Lutheraner nicht als zum Augsburger Bekenntnis gehörig anerkannt wurden, waren von dem Frieden ausgeschlossen (§ 17). Nun hatten sich die Reformierten seit Jahrzehnten bemüht, unter die Angehörigen des Augsburger Bekenntnisses eingereiht zu werden. Auf dem Westfälischen Friedenskongreß14 war es ihnen von Anbeginn der Verhandlungen peinlich, daß man sie eigens erwähnte und nicht einfach zu den Augsburgischen Konfessions-Verwandten rechnete.15 Die Kalvinisten legten größten Wert darauf, nicht nur zu den Protestanten, sondern auch zu den Bekennern der Confessio Augustana gezählt zu werden.16 Für die Reformierten verwandten sich auf dem Friedenskongreß vornehmlich Kurbrandenburg und Hessen-Kassel, grundsätzlich auch die Schweden, zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls die Niederländer.17 Dagegen 11 J. Du Mont, Corps universel diplomatique du droit des gens VI, 1, Amsterdam/Den Haag 1728, 88 – 99 (Friedensinstrument), 99 – 100 (Nebenrezeß), 100 – 101 (Resolution betreffend Schlesien). 12 K.-H. Spiess, Lehn(s)recht, Lehnswesen, in: HRG II, 1978, 1725 – 1741. 13 B. Lohse, Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana), in: TRE IV, 1979, 616 – 628; J. M. Kittelson, Confessio Tetrapolitana, in: ebd. VIII, 1981, 173 – 177. 14 Koch, Geschichte des Deutschen Reiches II 509 – 511; H. Richter, Die Verhandlungen über die Aufnahme der Reformierten in den Religionsfrieden auf dem Friedenskongreß zu Osnabrück 1645 – 48, phil.Diss. Leipzig, Berlin 1906; E. Koch, Die staatsrechtliche Gleichordnung der Reformierten mit den Lutheranern, in: L. Bäte (Hrsg.), Der Friede in Osnabrück 1648. Beiträge zu seiner Geschichte, Oldenburg 1948, 81 – 109. 15 Richter, Verhandlungen 13. 16 Ebd. 66 – 69. 17 Ebd. 9 f., 15, 45 f., 51.
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waren die kursächsischen Gesandten bis zuletzt Gegner der Gleichstellung von Lutheranern und Reformierten, weil sie letztere nicht zum Augsburgischen Bekenntnis zu rechnen vermochten; aber sie konnten für ihren Standpunkt keine Mehrheit finden. Art. VII § 1 IPO nahm die Reformierten ausdrücklich (neben den Lutheranern und den Katholiken) in den Augsburger Religionsfrieden und in den Westfälischen Frieden auf. Bei der Formulierung des Textes von Art. VII § 1 war von kalvinistischer Seite um völlige Eindeutigkeit gerungen worden.18 Der brandenburgische Kurfürst hatte die Ersetzung der Worte inter illos durch die anderen inter hos gefordert, hatte sich jedoch nicht durchsetzen können.19 Die Worte inter illos (statt inter hos) ließen nämlich gegenteilige Interpretationen zu. Wenn man sie (lediglich) auf die Augsburgischen Konfessions-Verwandten bezog, dann wurden durch sie die Reformierten als Konfessions-Verwandte anerkannt. Wenn man sie aber (allgemein) auf die Reichsstände bezog, dann besagten sie entweder die (selbstverständliche) Zugehörigkeit zu den Reichsständen oder die Etablierung einer dritten Konfession neben Katholiken und Anhängern der Augsburger Konfession (= Lutheranern). Trotz des Mangels letzter Eindeutigkeit ist der Text in Art. VII § 1 IPO doch wohl dahin zu verstehen, daß bei den der Augsburgischen Konfession Zugehörigen (inter illos) eine Gruppierung unterschieden wird, die Reformati genannt werden, daß also die Zugehörigkeit der Reformierten zu den Augsburgischen Konfessions-Verwandten außer Zweifel gestellt wird, und daß gleich danach die Lutheraner und die Reformierten unter dem Begriff Protestantes zusammengefaßt werden. Der Westfälische Frieden kennt somit nicht drei, sondern nur zwei Religionen, die einander rechtlich gleichgestellt sind, die Katholiken und die Protestanten, wobei allerdings die letzteren sich in zwei Teile spalteten, deren gegenseitiges Verhältnis im Art. VII § 1 IPO in seinen Grundzügen festgelegt wurde. Mit den Katholiken und den Protestanten war die Zahl der anerkannten Religionen erschöpft. Art. VII § 2 IPO ließ die Rezeption oder auch nur die Duldung einer weiteren Religion im Heiligen Römischen Reich nicht zu. Derartige, zum reformatorischen Bekenntnis zu zählende Religionen existierten damals in nicht zu überschauender Zahl. Von den Augsburgischen Konfessions-Verwandten wurden beispielsweise die Hussiten und die Pikarden unterschieden; in Ungarn kamen dazu die Antitrinitarier.20 Es sei weiter an die Wiedertäufer erinnert.21 Sie alle hätten an sich in keinem Gebiet toleriert werden dürfen, sondern überall ausgewiesen werden
18 Über die schwierige Entstehung des Art. VII IPO vgl. K. A. Menzel, Neuere Geschichte der Deutschen seit der Reformation, 6 Bde., 1.–3. Bd.: Breslau 21854, 4.–6. Bd.: Breslau 1855, hier IV 252 – 258. 19 Richter, Verhandlungen 70 f. 20 J. Foerster, R. Philippe (Bearb.), Diarium Volmar, 2 Tle. (Acta Pacis Westphalicae Serie III Abt. C Diarien), Münster/Westf. 1984, I 479 f. 21 H. Fast, Täufer, in: RGG VI, 31962, 601 – 603.
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müssen. Tatsächlich schlug die Entwicklung mancherorts eine andere Richtung ein.22 Wenn die Reformierten den Lutheranern rechtlich gleichgestellt wurden, mußte ihnen auch das ius reformandi zugestanden werden, denn es war mit der Landeshoheit verbunden (Art. V § 30 IPO). Es war aber unmöglich, daß das ius reformandi von einer Gruppierung der Augsburger Bekenntnisangehörigen gegenüber einer anderen ausgeübt wurde; denn damit hätte man die beiderseitige Zugehörigkeit zu diesem Bekenntnis in Frage gestellt. Lutheraner und Reformierte verzichteten daher gegenseitig auf das ius reformandi. Mit dem ius reformandi entfiel die emigratio necessaria. Im Verhältnis der protestantischen Konfessionen zueinander gab es keine Pflicht zur Auswanderung und kein Recht zur Ausweisung. Dazu kamen weitere Schutzvorschriften. Art. VII § 1 IPO erhielt die Verträge, Privilegien, Reversalien und Bestimmungen, die zwischen den protestantischen Staaten und mit ihren Untertanen abgeschlossen bzw. erlassen worden waren, aufrecht. Es sollte also der Zustand weiterbestehen, der zur Zeit des Abschlusses des Friedens herrschte. Für den Konfessionswechsel zwischen protestantischen Reichsständen war somit das Jahr 1648 Normaljahr. Art. VII § 1 IPO hob besonders die Gewissensfreiheit eines jeden innerhalb der protestantischen Staaten hervor. Art. VII § 1 IPO sprach dann davon, daß die Religionsstreitigkeiten innerhalb der Protestanten bisher nicht beigelegt worden seien und künftigem Ausgleich vorbehalten blieben, daß also Lutheraner und Reformierte zwei Teile (duae partes) bildeten, unter denen eine Übereinkunft über das ius reformandi getroffen worden sei, und zwar erfuhr es eine einschneidende Einschränkung. Es wurden zwei Fälle ins Auge gefaßt, einmal, daß ein Landesherr von der einen protestantischen Konfession zu der anderen übertrat, sodann, daß ein Landesherr auf irgendeine Weise die Herrschaft in einem Lande mit anderer (protestantischer) Konfession gewann. In beiden Fällen durfte er an seinem Hofe Religionsdiener seiner Konfession halten (Art. VII § 1 IPO) und etwa sich bildenden Gemeinden seiner Konfession die immerwährende freie Religionsausübung einräumen (Art. VII § 2 IPO). Hatte er erst einmal Gemeinden seines Bekenntnisses die Religionsausübung gestattet, konnte ein Nachfolger sie nicht mehr verbieten (a successoribus non auferendum); sie wurden also insofern einer Konfession gleichgestellt, die den Schutz des Normaljahres genoß. Im übrigen mußte er den religiösen Stand des Landes unverändert lassen. So durfte er die öffentliche Religionsausübung und die kirchlichen Vorschriften nicht ändern, den Angehörigen der anderen Konfession nichts von ihrem Besitz nehmen oder ihnen nicht Religionsdiener der eigenen Konfession aufdrängen sowie sie nicht irgendwie in ihrer Religionsausübung behindern oder belästigen. Die Angehörigen der Landesreligion behielten oder bekamen dann das Recht, ihre Kirchen- und Schuldiener zu bestellen, und diese waren von einer kirchlichen Behörde derselben Religion zu prüfen und zu ordinieren, während der Landesherr lediglich zu bestätigen hatte. 22 Über die Duldung von Sekten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. A. Tholuck, Das kirchliche Leben des siebzehnten Jahrhunderts, 2 Abth., Berlin 1861/62, II 229.
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Diese eingehenden Vorschriften waren von großer Tragweite. Was für das Verhältnis der beiden protestantischen Bekenntnisse festgelegt worden war, das ließ sich nämlich auch mutatis mutandis auf das Verhältnis von Katholiken und Protestanten anwenden. So ist sicher, daß die Frage, ob der Landesherr, dessen Konfession verschieden war von der seiner Untertanen, befugt sei, den Anhängern seiner eigenen Konfession eine Religionsausübung zu gestatten, die über die bloße Hausandacht hinausging, auch wenn sie diese im Normaljahr nicht besessen hatten, richtigerweise zu bejahen war.23 Denn die Verhinderung der öffentlichen Religionsausübung eines fremden Bekenntnisses war kein Recht, das der herrschenden Religion zu eigen war. Allerdings war diese Einräumung auf das exercitium religionis innocuum zu beschränken, schloß also das exercitium religionis nocuum aus. Ein exercitium religionis innocuum war jenes, das gewährt wurde, ohne daß der Mehrheitsreligion an ihrem Eigentum oder anderen Rechten Eintrag geschah. Dahin ist § 63 des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 180324 zu verstehen.
II. Die Schranke des Normaljahres Eine unüberschreitbare Schranke für das ius reformandi war der religiöse Besitzstand der Religionsübung im Normaljahr. 1. Die Einführung Der Gedanke an einen bestimmten Zeitpunkt, der für Fragen des Besitzes an Kirchengut maßgebend sein sollte, hatte schon auf dem Augsburger Religionsfrieden eine Rolle gespielt. In § 19 tauchte eine Normaljahrsregelung auf, die sich auf den Passauer Vertrag (vom 2. August 1552)25 bezog. Auch auf dem Westfälischen Friedenskongreß wurde ein Normaljahr (bzw. Normaltag)26 ins Spiel gebracht. Der Streit welches dies sein sollte, hatte lange angehalten. Die Jahre 1612, 1618, 1620, 1624, 1627, 1629 und 1630 wurden von verschiedenen Seiten, in wechselnden Situationen und mit variierender Begründung ins Spiel gebracht. Das Normaljahr 1624 wurde von den sächsischen Gesandten Johann Ernst Pistoris und Johann Leuber vorgeschlagen und von Graf Maximilian von Trauttmansdorff zur Annahme gebracht.27 Diese Entscheidung war von großer Tragweite. Denn das Normaljahr hatte z. B. die Wirkung, daß zahlreiche geistliche Territorien für alle Zukunft dem Protestantismus übergeben wurden (Art. V §§ 14 und 25 IPO), weil sie eben im 23
Vgl. v. Moy, Religionsbeschwerden, in: Kirchenlexikon X, 21897, 1011 – 1013; Diendorfer, Simultaneum, in: ebd. XI, 21899, 325 – 332. 24 Zeumer, Quellensammlung 439 – 460, hier 454. 25 Zeumer, Quellensammlung 282. 26 Diendorfer, Normaljahr, in: Kirchenlexikon IX, 21895, 498 – 500; H. C. Hafke, Normaljahr, in: HRG III, 1984, 1038 f. 27 Menzel, Geschichte IV 245.
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Jahre 1624 in der Hand der Protestanten waren. Das Jahr 1627 oder 1629 wäre als Normaljahr der Sache der Katholiken erheblich günstiger gewesen als frühere Jahre. Aber keines von beiden war durchzusetzen. 2. Die Auswirkungen für das ius reformandi Die entscheidende Wirkung der Aufstellung eines Normaljahres war die Aufhebung des ius reformandi hinsichtlich des Personenkreises, dem dieses zu Hilfe kam. Für die rechtlich beachtenswerte Religionsausübung war der Stand in irgendeinem Zeitpunkt des Jahres 1624 maßgebend. Wer damals öffentliche oder private Religionsausübung28 besaß, die von der herrschenden Konfession abwich, dem blieb sie erhalten (Art. V § 31 IPO); ein irgendwie gearteter Eingriff des Landesherrn war ausgeschlossen. Das Normaljahr verhütete, daß der rechtliche Bestand der Religionsausübung der Untertanen durch die Zugehörigkeit des Landesherrn zu einer fremden Konfession oder durch seinen Konfessionswechsel gefährdet wurde. Das Normaljahr wirkte auch bei Unterbrechung der Religionsausübung. Wem der religiöse Besitzstand des Jahres 1624 später verlorengegangen war, der war in ihn wieder einzusetzen (Art. V §§ 31 und 32 IPO). Dabei war es gleichgültig, ob sich der Besitz der Religionsübung auf Vertrag, Privileg, langen Gebrauch oder bloße Observanz gründete. Das Normaljahr galt in jedem Fall, außer der Landesherr und die Untertanen hätten sich freiwillig über eine Änderung der Religionsübung geeinigt (Art. V § 33 IPO). Vom Normaljahr 1624 gab es nun gewisse Abweichungen. Für die Unterpfalz, Baden und Württemberg wurde das Jahr 1618 als Normaljahr festgesetzt (Art. IV §§ 6, 24, 26 IPO). Doch wurde in der Unterpfalz (zugunsten der Lutheraner) bestimmt, daß für den kirchlichen Zustand der Augsburgischen Konfessions-Verwandten das Jahr 1624 entscheidend sein sollte (Art. IV § 19 IPO). Für die Katholiken in der Kurpfalz hatte das Normaljahr 1618 schlimme Folgen; sie mußten in den meisten Orten, da ihnen die öffentliche Religionsausübung versagt wurde, neuerdings auswandern.29 Der bayerische Kurfürst behielt in der Oberpfalz das (nicht durch das Normaljahr eingeschränkte) ius reformandi (Art. IV § 3 IPO).30 In den Reichsstädten war für die Religionsausübung der 1. Januar 1624 maßgebend (Art. V § 29 IPO). Je nach dem Stand der Dinge durfte in ihnen entweder nur der katholische oder nur der protestantische Gottesdienst oder durften beide Gottesdienste ausgeübt werden. 28 Zu diesem Unterschied vgl. J. B. Sägmüller, Der Begriff des exercitium religionis publicum, exercitium religionis privatum und der devotio domestica im Westfälischen Frieden, in: ThQ 90 (1908) 255 – 279. 29 K. Th. Dumont (Hrsg.), Schriften und Reden von Johannes Cardinal von Geissel, Erzbischof von Köln, 3 Bde., Köln 1869/70, III 511. 30 R. Dollinger, Das Evangelium in der Oberpfalz, Neuendettelsau 1952, 116 – 119; A. Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983, 252.
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III. Die Pflicht zur Toleranz, ihr Inhalt und ihre Grenze Der Westfälische Frieden führte zum erstenmal im Deutschen Reich von Vertrages wegen die Toleranz31 in den zwischenkonfessionellen Beziehungen ein; sie war jedoch beschränkt und von der Entscheidung des Landesherrn abhängig. 1. Der Kreis der begünstigten Personen Die fremdkonfessionellen Untertanen, die im Normaljahr öffentliche oder private Religionsausübung besessen hatten, bedurften nicht der Toleranz, denn sie besaßen ein Recht (Art. V § 31 IPO). Anders stand es um zwei weitere Gruppen. Es handelte sich einmal um jene fremdkonfessionellen Untertanen, die in keinem Teil des Jahres 1624 öffentliche oder private Religionsausübung besessen hatten (Art. V §§ 34, 36 und 37 IPO). Sie hatten die Religionsausübung entweder erst nach dem Normaljahr oder niemals erlangt. Sodann waren jene fremdkonfessionellen Untertanen gemeint, die nach Veröffentlichung des (Westfälischen) Friedens zu einer Religion übergingen, die von jener des Landesherrn verschieden war (Art. V §§ 34, 36 und 37 IPO). Beim Abschluß des Friedens gehörten sie noch der Landesreligion an; nachher wandten sie sich davon ab und einer anderen Religion zu. Dieser Fall war auf unermüdliches Drängen der Protestanten hin in das Friedensinstrument aufgenommen worden. Damit war den Untertanen die Freiheit des Religionswechsels, genauer des Überganges von einer anerkannten Konfession zu einer anderen, einschlußweise gewährt. Diese beiden Gruppen wären nach der Ankündigung des Art. V § 30 IPO und den Stipulationen des Art. V §§ 30 bis 33 IPO unter das volle, lediglich durch das ius emigrandi eingeschränkte ius reformandi des Landesherrn gefallen. Aber die unaufhörlichen Bemühungen der Protestanten hatten ihnen einen Sonderstatus verschafft. 2. Die Pflicht zur Toleranz Die Untertanen, die im Jahre 1624 weder öffentliche noch private Religionsausübung besessen hatten, sowie jene, die nach Veröffentlichung des Friedens ihre Religion wechselten, waren nach Art. V § 34 IPO zu dulden (patienter tolerentur). Die Worte patienter tolerentur besagen, daß der Landesherr nicht befugt war, diese Untertanen zu nötigen, zu seiner Religion überzutreten. Sie bedeuteten dagegen nicht, daß er sie im Lande behalten mußte. Der Landesherr konnte ihnen vielmehr den Aufenthalt in seinem Territorium versagen, d. h. sie ausweisen, wie sich aus Art. V §§ 36 und 37 IPO eindeutig ergibt. Aber damit war seine Befugnis erschöpft. Der Landesherr, der auf die ihm nach Art. V § 36 IPO mögliche Ausweisung der durch das Normaljahr nicht geschützten Andersgläubigen verzichtete, durfte sie 31 Pohle, Toleranz, in: Kirchenlexikon XI, 21899, 1857 – 1870; A. Scharnagl, Toleranz, in: StL V, 51932, 394 – 396; R. Hofmann, Toleranz, in: StL VII, 61962, 1007 – 1013.
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dann nicht zum Glaubenswechsel zwingen. Darin lag die Toleranz, die Art. V § 34 IPO einführte. Allein, ob ein Landesherr sie gewähren wollte oder nicht, war seiner Entscheidung überlassen. 3. Der Inhalt der Toleranz Die Toleranz bezog sich erstens auf das Gebiet der Religion, auch der zu dieser gerechneten Erziehung. Sie war eng verbunden mit der in dem einschlägigen Satz des Art. V § 34 IPO unmittelbar folgenden Gewissensfreiheit (conscientia libera); toleriert wurde um der Gewissensfreiheit willen. Wer toleriert wurde, durfte einmal in seinem Hause den Übungen seiner Religion in privater Weise obliegen und dabei weder einem Untersuchungsverfahren unterworfen werden noch darin gestört werden. Die spätere Lehre und Praxis unterschied die devotio domestica in devotio simplex und devotio qualificata. Die Worte domi devotioni suae … privatim vacare sind offen für die Auslegung sowohl als devotio domestica simplex, die ohne einen Geistlichen gehalten wurde, als auch als devotio domestica qualificata, wo ein Geistlicher hinzugezogen wurde.32 Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht jedoch für die erstere Weise der Hausandacht.33 Wer Toleranz erlangt hatte, durfte aber sodann auch in der Nachbarschaft, wo immer seine Religion öffentlich ausgeübt wurde, beliebig oft am Gottesdienst teilnehmen. Bei der damaligen Gemengelage konfessionell verschiedener Gebiete und Orte war diese Chance an vielen Stellen relativ leicht wahrzunehmen. An der Toleranz nahmen nicht nur diejenigen teil, denen sie jetzt ausdrücklich gewährt wurde, sondern auch ihre Nachkommen. Die Schulen waren zu der damaligen Zeit ein Annex der Religionsübung, wie sich aus Art. V § 31 IPO ergibt. Darum durften die Angehörigen der Minderheitskonfession nicht daran gehindert werden, ihre Kinder auswärts (in Schulen ihres Bekenntnisses) oder daheim durch Hauslehrer (ihrer Religion) unterrichten zu lassen. Die Toleranz griff zweitens in Art. V § 35 IPO über das religiöse Gebiet hinüber in das bürgerliche.34 Die fremdkonfessionellen Untertanen durften nicht wegen der Religion verächtlicher Behandlung unterworfen werden. Vielmehr sollte ihnen Gleichheit im Genuß der bürgerlichen Rechte gewährt werden. So war es verboten, sie von den wirtschaftlichen Zusammenschlüssen fernzuhalten, sie im Erbgang schlechter zu stellen, ihnen den Genuß der öffentlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen zu versagen, sie von den Friedhöfen und dem ehrenhaften Begräbnis auszuschließen. Wie der Ausdruck in similibus zeigt, waren in § 35 nur Beispiele aufgezählt für bürgerlich-rechtliche Beziehungen, in denen die Gleichbehandlung trotz der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit herrschen sollte. Anders stand es dagegen in öffentlich-rechtlicher Beziehung. Hier war kraft eines Umkehr-
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Zu der letzteren Absicht bekennt sich Bonin 70 – 74. (Mejer) E. Friedberg, Toleranz, in: RE XIX, 31907, 824 – 834, hier 832. 34 Menzel, Geschichte IV 248 f. 33
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schlusses aus § 35 Gleichheit nicht geboten. Die Dissidenten konnten also z. B. von Ämtern und Behörden ferngehalten werden. 4. Die Grenze der Toleranz Untertanen, die zu keinem Zeitpunkt des Jahres 1624 öffentliche oder private Religionsübung besessen hatten, blieben grundsätzlich dem ius reformandi des Landesherrn unterworfen. Ebenso unterlagen ihm jene, die sich nach der Promulgation des Friedens einer Religion zuwendeten, die von jener des Landesherrn abwich. Das ius reformandi bestand darin, daß in beiden Fällen dem Landesherrn die Entscheidung überlassen war, ob er die dissentierenden Einwohner im Lande belassen oder ob er sie zur Auswanderung nötigen wollte. Die Pflicht zur Toleranz (§ 34) bestand also nur, solange nicht ausgewandert oder ausgewiesen (§ 35) wurde.35 Es ist bemerkt worden, daß die Bestimmung, welche die Ausweisung gestattet, ,,sich in der Osnabrücker Friedensurkunde nur schüchtern ans Licht“ wagt und daß sie ,,gewissermaßen nur die Ausnahme legalisieren“ will;36 denn ihr geht voran die Vorschrift, welche die Toleranz und die Gewissensfreiheit gebietet: ,,sollen nachsichtig geduldet und nicht gehindert werden“. Es ist ebenso festgestellt worden, daß, wenn man allein auf diese Sätze schaut, damit dem Prinzip cuius regio, illius religio der ,,Todesstoß“ versetzt schien, daß aber der Friedensschluß diesen Grundsatz ausdrücklich bestätigt hatte und daß hier folglich einer der im Text des Friedens nicht seltenen Fälle vorlag, ,,wo ein offener Widerspruch zu Tage tritt“.37 ,,Eine sinngemäße, logische Erläuterung würde ihn vielleicht so lösen können, daß der Friede das Recht des Bekenntniszwangs, abgesehen vom Normaljahr, anerkannte, statt der Anwendung aber Duldung empfahl, die freiwillige Auswanderung als eine Begünstigung der Unterthanen auffaßte und die Zwangsausweisung nur gegen solche für geboten hielt, die ihren staatlichen Pflichten nicht gehorsam nachkamen, sondern den religiösen Frieden störten“.38 Über den letzten Punkt wird sogleich zu sprechen sein.
IV. Das ius emigrandi 1. Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens Der Augsburger Religionsfriede hatte das ius reformandi grundsätzlich im vollen Umfang gewährt. Seine einzige Beschränkung geschah durch die Statuierung
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Menzel, Geschichte IV 249. C. Spannagel, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die deutsche Geschichte, in: Fr. Philippi (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Ein Gedenkbuch zur 250jährigen Wiederkehr des Tages seines Abschlusses am 24. Oktober 1648, Münster 1898, 7 – 29, hier 16. 37 Spannagel 16. 38 Ebd. 16. 36
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des beneficium emigrandi.39 Dieses war das Recht der Freizügigkeit aus dem Grunde der (abweichenden) Konfession. Das beneficium emigrandi leitet also seinen Ursprung von dem ius reformandi her, das die protestantischen Landesherren in Anspruch nahmen, und es trat zuerst in der Form auf, daß diese Obrigkeiten katholische Untertanen auswiesen. Es war, rechtlich gesehen, ein Fortschritt, wenn den Untertanen die Abwanderung auch aus eigenem Entschluß, ohne obrigkeitlichen Befehl, gewährt wurde. Eben dies geschah im Augsburger Religionsfrieden. In § 24 wurde den Anhängern eines von der Religion des Landesherrn abweichenden Bekenntnisses die Auswanderung gestattet. Sie durften ihr Vermögen mitnehmen und hatten lediglich eine Nachsteuer40 zu entrichten. Auch Leibeigene41 durften von dem ius emigrandi Gebrauch machen. Aber da ihr Abzug dem Herrn einen wirtschaftlichen Verlust brachte, mußte zuvor die Leibeigenschaft abgelöst werden; es war also eine Zahlung an den Leibherrn zu leisten. Der Augsburger Religionsfriede eröffnete mithin den Untertanen eine Alternative; sie lautete: entweder Bekenntnis zu der Religion des Landesherrn oder Auswanderung. Wer das erstere nicht wählte, mußte das zweite tun; er durfte nicht bloß auswandern, sondern er mußte auch abziehen. Das Recht der Auswanderung war also von Anfang an infolge seiner Verbindung mit dem Reformationsrecht auch ein Recht zur Ausweisung.42 Nach Dickmann war das vom Augsburger Religionsfrieden statuierte ius emigrandi sogar ,,mehr … eine Ausweisungsbefugnis des Landesherren in Ausübung des jus reformandi“ als ein Recht der Untertanen.43 Es hieß gegen Buchstaben und Geist des Augsburger Religionsfriedens angehen, wenn die Protestanten aus dem Recht der Untertanen, auszuwandern, ein Recht, im Lande zu bleiben und dort die protestantische Religion auszuüben und weiterzugeben, zu machen versuchten.44 Das ius emigrandi war für das Individuum und für das Reich von wohltätiger Wirkung und trug daher zu Recht den Namen beneficium emigrandi. Es befreite einmal den einzelnen von Gewissensdruck. Er besaß die Möglichkeit, sich der Religion anzuschließen, die ihm sein Gewissen zu wählen gebot. Wer um seines Heiles willen einer anderen als der herrschenden Religion angehören zu müssen glaubte, dem war es unbenommen, dies zu tun; nur hatte er dann das Land zu verlassen und sich in ein anderes zu begeben, in dem er seinem Bekenntnis nachleben konnte. Das ius emigrandi wirkte sodann friedenstiftend und konfliktverhütend. Im Lande herrschte 39
Fr. Merzbacher, Beneficium emigrationis dissidentium, in: HRG I, 1971, 370 f. A. Erler, Auswanderung, in: HRG I, 1971, 274 – 276; Deutsches Rechtswörterbuch I, 1914 – 1932, 352 – 355 (Abzug), 356 f. (Abzugsgeld); Fr. Stier-Somlo, Nachsteuer, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft IV, 1927, 170 f.; F. Solleder, München im Mittelalter, München 1938, 204 f. 41 F.-W. Henning, Leibeigenschaft, in: HRG II, 1978, 1761 – 1772. 42 Richtig Bonin 49. 43 Fr. Dickmann, Der Westfälische Frieden, 5. Aufl., hg. v. K. Repgen. Mit Nachtrag des von 1964 – 1984 erschienenen Schrifttums zum Westfälischen Frieden und zum Dreißigjährigen Krieg, zusammengestellt von W. Becker, Münster/Westf. 1985, 10. 44 M. Heckel, Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, in: ZSavRG, Kan.Abt. 45 (1959) 141 – 248, hier 205. 40
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dank der Anwanderung der dissentierenden Bewohner religiöse Einheit und Einigkeit. Gleichzeitig verhütete das ius emigrandi das Eingreifen gleichkonfessioneller Reichsstände zugunsten jener Untertanen, die dem ius reformandi unterlagen. Der Westfälische Frieden tastete das ius emigrandi grundsätzlich nicht an.45 Art. V § 30 IPO erwähnte ausdrücklich, daß das beneficium emigrandi (schon) vom Augsburger Religionsfrieden gewährt worden sei und jetzt lediglich bestätigt werde. Dennoch wurde das ius emigrandi in beträchtlichem Umfang modifiziert. Einmal wurde der Kreis der Destinatäre eingeschränkt (Art. V § 31 IPO). Zum anderen wurde das Recht erheblich ausgebaut (Art. V §§ 35 – 37 IPO). Die Alternative für die (ohne Schutz des Normaljahres) im Lande befindlichen Dissidenten hieß jetzt nicht mehr: entweder Bekenntnis des Landesherrn oder Abzug, sondern sie lautete: entweder Geduldetwerden mit dem verbleibenden Recht zur Auswanderung oder Ausweisung. Fremdkonfessionelle Untertanen hatten mithin folgende Möglichkeiten. Entweder der Landesherr duldete sie. Dann durften sie unter den Bedingungen des Art. V §§ 34 und 35 IPO entweder im Lande bleiben oder nach Art. V §§ 36 und 37 IPO auswandern. Oder er duldete sie nicht. Dann mußten sie gemäß Art. V §§ 36 und 37 IPO das Land verlassen. Wenn die Duldung nicht ausgesprochen wurde, der (dissidentische) Untertan aber auch nicht auswandern wollte, mußte er sich als Angehöriger der Landesreligion in Anspruch nehmen lassen, d. h. deren Forderungen entsprechen. Die Möglichkeit, für sich die Gewissensfreiheit oder gar die Religionsfreiheit zu erzwingen, bestand nicht. 2. Emigratio voluntaria und necessaria Um die doppelte Seite des ius emigrandi als freiwilliger und erzwungener Abzug war in den Verhandlungen, die zum Westfälischen Frieden führten, erbittert gerungen worden. Die Protestanten, die ihre Länder wirklich oder angeblich katholikenrein gemacht hatten, waren begreiflicherweise an einer befohlenen Auswanderung fremdkonfessioneller Untertanen nicht interessiert, vielmehr, wegen ihrer Glaubensgenossen in Ländern mit katholischem Herrn, ihr offenkundig abgeneigt. Sie vertraten darum hartnäckig die Ansicht, das Recht der Auswanderung wirke als beneficium lediglich zugunsten der Untertanen. Die Katholiken waren dagegen um keinen Preis zu bewegen gewesen, auf das Recht zur Ausweisung von Untertanen einer abweichenden Religion zu verzichten; denn nur mit diesem Mittel konnten sie der religiösen und politischen Gefahr, die erfahrungsgemäß von der protestantischen Minderheit in ihren Territorien ausging, begegnen. Darum bestanden sie darauf, daß die Inanspruchnahme des beneficium emigrandi für den, der sich dem ius reformandi des Landesherrn nicht beugen wollte, pflichtmäßig sei. Tatsächlich blieb die Freiheit des Abzugs aus religiösen Gründen in jedem Falle, also auch bei 45 Koch II 502 – 504; Bonin 58 f.; F. Schröder, Der Mensch zwischen Heimat und Fremde. Das Verhältnis von Staat und Kirche zum wandernden Menschen in der europäischen Geschichte, Stuttgart 1960, 39 f.
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erzwungener Abwanderung, eine ,,Wohltat“, weil sie eben vom Bekenntniszwang befreite. Darum war die Auslegung, welche die Katholiken dem fraglichen Passus des Augsburger Religionsfriedens gaben, richtig. Soviel sie den Protestanten während der Friedensverhandlungen nachgegeben hatten, in diesem Punkt waren sie festgeblieben und hatten sich schließlich auch durchgesetzt.46 Im Unterschied zum Augsburger Religionsfrieden sprach der Westfälische Frieden das Recht zur Ausweisung an zwei Stellen ausdrücklich aus. Art. V § 36 IPO unterschied den Untertan, der aus eigenem Antrieb abwanderte (sua sponte emigrare voluerit), von dem anderen, der auf Befehl abzog (a Territorii Domino iussus fuerit), und Art. V § 37 IPO führte die Unterscheidung zwischen voluntarie und coacte emigrantes ein. Doch wurde die Emigration jetzt gegenüber dem Augsburger Religionsfrieden rechtlich erheblich ausgebaut. Wenn die dissentierenden Untertanen freiwillig auswanden wollten oder der Landesherr ihnen die Auswanderung befahl, dann trat eine Reihe von Schutzklauseln für sie ein. Einmal durfte (im ersten Fall) ihre Auswanderung nicht gehindert werden (Art. V § 36 IPO). Diese Stipulation war alles andere als überflüssig. Denn in einer Zeit des Menschenmangels, vor allem im Norden und Osten des Reiches, hatten viele Landesherren alles Interesse daran, die Einwohner im Lande zu halten und sie nicht durch Abwanderung zu verlieren.47 Da konnte es durchaus vorkommen, daß der Abzug erschwert oder verhindert wurde.48 Darum bestimmte Art. V § 37 IPO a.E., daß der freiwilligen Auswanderung kein Hindernis in den Weg gelegt werden durfte, wie es bereits § 24 des Augsburger Religionsfriedens getan hatte (unverhindert männiglichs zugelassen und bewilligt). Sodann wurde eine Reihe weiterer Bestimmungen getroffen, welche den Auswandernden zugute kamen, die weiter unten behandelt werden. 3. Durch das ius emigrandi begünstigte Personen Das Recht der Auswanderung war von Reiches wegen streng auf religiöse Gründe beschränkt. Der Augsburger Religionsfrieden hatte das beneficium emigrandi nur solchen Untertanen eingeräumt, die einen Glauben bekannten, der von jenem des Gebietsherrn abwich. Kraft Umkehrschlusses ist zu folgern, daß das ius emigrandi den Anhängern der Landesreligion nicht zustand. In dieser Beschränkung lag freilich in einer Zeit mangelnder Freizügigkeit eine Gefahr verborgen, jene nämlich, daß sich Angehörige der herrschenden Konfession wirklich oder zum Schein der Minderheitsreligion zuwandten, um auf diese Weise ihr Ziel, aus dem Lande zu kommen, zu erreichen.49 Die Freiheit, auszuwandern, war ja von vielen 46 G. Schmid, Bestrebungen und Fortschritte in der Frage der konfessionellen Gleichberechtigung auf dem Westfälischen Friedenskongreß, phil.Diss. Jena, Jena 1952, 183. 47 A. Erler, Auswanderung, in: HRG I, 1971, 274 – 276; H. Holzhauer, Landesflucht und Auswanderungsfreiheit: ebd. II, 1978, 1370 – 1374. 48 Bonin 49. 49 Vgl. G. May, Zum ,ius emigrandi‘ am Beginn des konfessionellen Zeitalters, in: AfkKR 155 (1986) 92 – 125, hier 118 f.
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Menschen, gleich welcher Religion, heiß begehrt. Nur in relativ wenigen Fällen war der Wunsch nach Abzug religiös motiviert. Viel häufiger lagen wirtschaftliche, soziale oder politische Gründe vor. Es ist auch unzutreffend, daß nur Druck die Menschen aus der Heimat trieb. Der Drang nach Verbesserung der Lebensqualität, die Berichte von Ausgewanderten über ihre günstige Lage, die Sehnsucht nach Erlebnis und Abenteuer, ja sogar Zufall, Laune und Stimmungen konnten ursächlich werden für die Abwanderung.50 Es gab Gegenden, deren Bewohner durch eine regelrechte Wanderlust geprägt waren. In einem Artikel aus dem Jahre 1832 wird beschrieben, ,,wie leicht“ der Pfälzer seine Heimat verläßt. ,,Niemand ist weniger an die Scholle gebunden als er.“ Nirgendwo gebe es so viele Auswanderer, ,,nicht aus Not …, sondern aus Caprice, aus Beweglichkeit“.51 Die Freiheit zur Auswanderung war jedoch nicht häufig. Es brauchte regelmäßig eine Erlaubnis der Obrigkeit, um abziehen zu dürfen, und sie wurde selten gewährt. Die Menschenarmut vieler Länder rief nach Einwanderern und widerriet dem Abzug. Zahlreiche deutsche Länder erließen im 18. Jahrhundert Auswanderungsverbote.52 Wie leidenschaftlich der Wunsch nach Abzug war, ergibt sich aus der Tatsache, daß ihm nicht selten unter erheblichen wirtschaftlichen Verlusten nachgegeben wurde. Wem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Landkreis Birkenfeld die herrschaftliche Erlaubnis zur Auswanderung (in die österreichischen Länder) nicht erteilt wurde, der schied heimlich aus seiner Heimat, wobei er sein gesamtes Vermögen zurückließ.53 Eine freie, der Erlaubnis nicht bedürftige Auswanderung gab es bis zum 19. Jahrhundert nicht. Erst der Entwurf der Verfassung des Deutschen Reiches von 1848 sah den Grundsatz der Auswanderungsfreiheit vor.54 Die Verfassung Preußens vom 31. Januar 1850 schaffte die Vorschriften über die Auswanderungserlaubnis und über die Nachsteuer ab (Art. 11).55 Diese Tatsache gilt es im Auge zu behalten, wenn man das beneficium emigrandi in seiner doppelten Ausgestaltung als Abzugsund Ausweisungsrecht begreifen will.
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Fr. Burgdörfer, Die Wanderungen über die Deutschen Reichsgrenzen im letzten Jahrhundert, in: Allgemeines Statistisches Archiv 20 (1930) 161 – 196, 383 – 419, 536 – 551, hier 383 – 391. 51 O. Jung, ,,Der Trieb zur Auswanderung in die neue Welt“, in: Pfälzische Heimatblätter 5 (1957) 36 f. 52 U. Scheuner, Die Abwanderungsfreiheit in der Verfassungsgeschichte und im Verfassungsrecht Deutschlands, in: Festschr. R. Thoma, Tübingen 1950, 199 – 224, hier 210; P. Marschalck, Deutsche Überseewanderung im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur soziologischen Theorie der Bevölkerung (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 14), Stuttgart 1973, 32 f. 53 R. Carius, Das ehemalige Kirchspiel Reichenbach. Reichenbach, Frauenberg, Hammerstein, Ausweiler (Landkreis Birkenfeld) (= Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld, Sonderheft 9), o. O. 1963, 97. 54 E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, I Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 31978, 358. 55 Ebd. 502.
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Der Westfälische Frieden folgte insofern dem Augsburger Religionsfrieden, schränkte aber den Personenkreis, dem das ius emigrandi zustand, bedeutend ein. Es kam selbstverständlich auch weiterhin nur Anhängern der Minderheitskonfession zugute, jedoch nicht mehr allen. Aus Art. V § 36 IPO ergibt sich, daß das ius emigrandi lediglich von jenen fremdkonfessionellen Untertanen in Anspruch genommen werden konnte, die in dem betreffenden Lande keine öffentliche oder private Religionsausübung besaßen. Denjenigen Angehörigen einer vom Bekenntnis des Landesherrn abweichenden Religion, die im Normaljahr öffentliche oder private Religionsübung hatte, stand dagegen das ius emigrandi nicht mehr zu. Diese Einschränkung ergibt sich aus dem Zweck des beneficium emigrandi. Er war darin gelegen, dem, der danach verlangte, die Übung seiner Religion zu verschaffen, indem ihm der Abzug in ein Territorium gestattet wurde, wo sie öffentlich ausgeübt wurde. Wer die Religionsübung bereits besaß, für den konnte es kein Bedürfnis geben, das Land zu verlassen. Zum anderen durfte sich auf das beneficium emigrandi berufen, wer nach Veröffentlichung des Religionsfriedens seine Religion ändern würde. Diese Vorschrift war nur auf konfessionell geschlossene Territorien ohne öffentliche oder private Religionsübung eines abweichenden Bekenntnisses anwendbar. Denn mit dem Übertritt besaß der Untertan in seiner Heimat nicht mehr die Möglichkeit der Religionsübung; um sie ihm zu verschaffen, durfte er abziehen. Der Übertritt in einem Lande mit öffentlicher oder privater Religionsübung einer Minderheitsreligion konnte nicht verhindert werden, berechtigte aber nicht zum Abzug. Denn in diesem Falle hatte der Übertretende die Möglichkeit zur Religionsübung seines Bekenntnisses im eigenen Lande. Im Augsburger Religionsfrieden hatte das Recht der Leibeigenen, aus religiösen Gründen das Land zu verlassen, eine Formulierung gefunden, die nicht völlig eindeutig war, sondern zu Zweifeln Anlaß gab und infolgedessen verschieden ausgelegt wurde. Der Vorbehalt der ,,Gerechtigkeiten und Herkommen der Leibeigenen halben“ (§ 24) bedeutete an sich nur, daß es im Gutdünken der Herren stand, ob sie die Leibeigenen ,,ledig zu zehlen oder nicht“ bereit waren.56 Darüber hinaus wurden aber ihrem Abzug nicht ganz selten Schwierigkeiten bereitet. Es kam offensichtlich vor, daß ihnen das beneficium verweigert wurde, und es bildete sich die Meinung heraus, daß es vom Willen des Herrn abhänge, ob er seine Leibeigenen auswandern lassen wolle. Wie immer es um die Auslegung der fraglichen Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens bestellt war, der Westfälische Frieden überließ es nicht mehr den Herren, ob sie ihre Leibeigenen ziehen lassen wollten, sondern gebot, ihnen kein Hindernis zu bereiten, wenn sie wegen ihrer Religion auswandern wollten (Art. V § 37 IPO). Dabei war selbstverständlich vorausgesetzt, daß sie den gerechten Bedingungen Genüge leisteten.
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Bonin 48.
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4. Die Frist zum Abzug Der Augsburger Religionsfriede hatte (weder für den freiwilligen noch für den erzwungenen) Abzug eine Zeitspanne festgesetzt. Aus diesem Versäumnis ergaben sich Ungewißheiten, Schwierigkeiten und Belästigungen entweder für die Auswandernden oder für die Landesherren, die den Abzug anordneten. Vor allem wurde von den Emigranten über zu kurze Fristen und die damit verbundenen Unzuträglichkeiten geklagt. In den Westfälischen Friedensverhandlungen war um die Frist für den Abzug heiß gerungen worden. Die Protestanten hatten ihre ursprüngliche Forderung, eine Zeitspanne von 15 Jahren für die Emigranten zu erlangen, zurückschrauben müssen. Die Frist, die schließlich zugestanden wurde, betrug für diejenigen, die im Normaljahr 1624 keine Religionsübung gehabt hatten, fünf Jahre, für jene, die ihre Religion erst nach der Promulgation des Friedens geändert hatten, drei Jahre (Art. V § 37 IPO). Die Fünfjahresfrist kam auch denjenigen zugute, die, um den kriegerischen Wirren zu entgehen, nicht in der Absicht, ihren Wohnsitz zu verlegen, anderswohin ausgewandert waren und nach Friedensschluß in ihre Heimat zurückkehren wollten. Die Differenz der Fristen erklärt sich aus der unterschiedlichen Lage der beiden Gruppen. Die einen wurden als Protestanten vorgefunden, als der Frieden in Kraft trat, die anderen wechselten zum Protestantismus erst über, als er schon verkündet war. Darum wurde der ersten Kategorie mehr Entgegenkommen gezeigt als der zweiten. Die Frist von fünf bzw. drei Jahren war lang. Für ihre Festsetzung hatten mehrere Überlegungen gesprochen. Einmal mußte es für die Obrigkeiten abschreckend sein, daß sie die Dissidenten erst nach relativ langer Zeit loswerden konnten, und manche mochten sich davon bestimmen lassen, überhaupt auf Ausweisung zu verzichten. Sodann konnte sich in der Zeitspanne etwas in der Regierung des Landes ändern, sei es durch den dynastischen Wechsel, sei es durch Einflüsse von außen, und diese Änderungen konnten sich zugunsten der potentiellen Emigranten auswirken. Schließlich war die Frist den Abziehenden in mehrfacher Hinsicht hilfreich. Sie konnten sich in Ruhe und ohne Hast das Land aussuchen, in dem sie sich niederlassen wollten, und sie vermochten ebenfalls alle Überstürzung bei der Veräußerung ihres Vermögens bzw. bei der Bestellung von Verwaltern desselben zu vermeiden. Es war eigens vermerkt, daß es den Auswandernden bzw. Ausgewiesenen unbenommen war, zu versuchen, eine längere Bleibefrist zu erhalten (Art. V §37 IPO). Es war in das Ermessen des Landesherrn gestellt, ob er sich bereit fand, eine Verlängerung zu gewähren.
5. Das Schicksal des Vermögens von Auswanderern Der Augsburger Religionsfriede sah für die Abziehenden lediglich die ,,Verkauffung ihrer Haab und Güter“ vor (§ 24). Von der Möglichkeit, sie zu behalten, war nicht die Rede. Man wollte offensichtlich eine klare Trennung, und sie war nur möglich, wenn die Dissidenten für immer aus dem Lande wichen, ohne die Möglichkeit zu erhalten, aus irgendwelchen Gründen, sei es auch nur für kurze Zeit,
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zurückzukehren. Da wirtschaftliche Überlegungen auch beim Abzug aus religiösen Gründen wohl höchst selten völlig auszuschalten waren, konnte jedoch in dieser Beschränkung ein retardierender Faktor erblickt werden, und er sollte ausgeschaltet werden. Der Westfälische Frieden zeigte sich daher in dieser Hinsicht entgegenkommend. Er stellte es den Auswanderern bzw. den Ausgewiesenen frei, ihr Eigentum entweder zu behalten oder zu veräußern. Diese doppelte Möglichkeit war in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Sie gestattete erstens, einen günstigen Zeitpunkt, je nach Marktlage, abzuwarten für den Verkauf des Besitzes. Sie erlaubte zweitens das Behalten der Güter und der damit verbundenen wirtschaftlichen Macht. Wer sein Vermögen nicht veräußerte, durfte es durch ihm geeignet erscheinende Personen verwalten lassen. Und was noch viel weitergehend war: Er durfte, sooft er die Notwendigkeit glaubhaft machen konnte, frei und ohne besondere Erlaubnis (sine literis commeatus) an dem Ort, wo die Güter lagen, erscheinen, um sie zu besichtigen, Rechtsstreite zu führen und Abgaben einzuheben (Art. V § 36 IPO). Diese letzte Gelegenheit war für die protestantische Propaganda in der alten Heimat von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Der Kryptoprotestantismus in Österreich ist ohne sie nicht zu erklären. 6. Das Verbot ungebräuchlicher Belastungen und Verpflichtungserklärungen und das Gebot der Ausstellung der Papiere Um die Auswanderung nicht zu erschweren, wurde eine Reihe weiterer Vorschriften zugunsten der Emigranten in das Westfälische Friedensinstrument aufgenommen. Den Auswandernden oder Ausgewiesenen durften einmal nicht übermäßige Belastungen ihres Vermögens auferlegt werden (Art. V § 37 IPO). Eine Nachsteuer hatte schon der Augsburger Religionsfriede für zulässig erklärt, aber eben nur die übliche, nicht eine außergewöhnliche, überhöhte, und so war wohl auch die Vorschrift des Westfälischen Friedens zu verstehen (decimationibus substantiae secum exportatae plus aequo extensis). Den Auswandernden oder Ausgewiesenen durften auch nicht ungebräuchliche Verpflichtungserklärungen auferlegt werden (Art. V § 37 IPO). Hierbei ist an mannigfache Dinge zu denken. So war es beispielsweise unzulässig, den Emigranten aufzuerlegen, ein bestimmtes Land aufzusuchen oder zu meiden. Es durfte ihnen nichts abverlangt werden, was zu den Rechten, die ihnen das Friedensinstrument bezüglich ihres Vermögens gewährte, im Widerspruch stand, etwa sich nicht wieder im Ursprungsland sehen zu lassen, obwohl dort unveräußerte Güter zurückgelassen worden waren. Um den Auswanderern oder Ausgewiesenen die Gründung einer Existenz und das wirtschaftliche Fortkommen zu ermöglichen, gebot Art. V § 37 IPO, ihnen die erforderlichen Zeugnisse über ihre Geburt, ihre Abstammung (ingenuitas), ihre Freilassung (bei früheren Leibeigenen), ihren Beruf (noti opificii) und ihre Unbescholtenheit auszustellen. Der Augsburger Religionsfriede hatte nur bestimmt, daß die Auswanderer ,,an ihren Ehren und Pflichten unentgolten seyn“ sollten (§ 24).
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V. Die Ausnahmen von der emigratio necessaria 1. In den kaiserlichen Erblanden Das landesherrliche ius reformandi galt überall, wo es nicht ausdrücklich eingeschränkt wurde. Eine solche Einschränkung war in den Erblanden57 des Kaisers nicht erfolgt. Die habsburgischen Erblande waren jene Gebiete, die, als westlich der Leitha liegend, von Ungarn und den italienischen Territorien unterschieden wurden. Das Haus Habsburg hatte Erfahrungen mit dem Protestantismus, die weit über hundert Jahre zurückreichten. Daraus gelangte Kaiser Ferdinand III. zu der festen Entschlossenheit, den Protestanten in seinen Erblanden weder das exercitium publicum noch das exercitium privatum Religionis zu gewähren. Er konnte in den jahrelangen Verhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongreß diese Position im wesentlichen behaupten. In den genannten Territorien galt kein Normaljahr. Der Besitzstand der Religionsübung der protestatischen Untertanen in den Erblanden wurde durch den Westfälischen Frieden grundsätzlich nicht geschützt. Jedoch wurde eine Ausnahme für Schlesien gemacht. In den schlesischen Erblanden erhielten die Protestanten, gemessen an den übrigen Erblanden des Kaisers, einen Sonderstatus. Hier wurde die emigratio necessaria empfindlich beschnitten. Eine weitere, aber eingeschränkte Ausnahme galt für Niederösterreich. Die kaiserlichen Gesandten waren auf dem Westfälischen Friedenskongreß angewiesen, für Schlesien lediglich die Bestätigung der Bestimmungen des Prager Friedens von 163558 zuzugeben. Der Kaiser hatte damals seine Absichten, wie er mit Schlesien zu verfahren gedenke, in einer unter dem (falschen) Namen Prager Nebenrezeß laufenden Resolution niedergelegt.59 Danach sollten die protestantischen Herzöge zu Brieg, Liegnitz (-Wohlau) und Öls sowie die Stadt Breslau und ihre Untertanen bei der Ausübung der ungeänderten Augsburgischen Konfession verbleiben dürfen. Sie erhielten also insofern Religionsfreiheit. Auch der Herzog Heinrich Wenzel zu Münsterberg-Bernstadt sollte mit seinen Untertanen in Religionssachen in Ruhe gelassen werden. In allen anderen Fürstentümern und Herr57
E. C. Hellbling, Erblande, in: HRG I, 1971, 966 – 968. Du Mont, Corps universel diplomatique du droit des gens VI, 1, 88 – 99. Vgl. Menzel, Geschichte IV 142 f., 144 f. 59 Du Mont, Corps universel diplomatique du droit des gens VI, l, 100 f. Vgl. H. Palm, Die Konjunktion der Herzöge von Liegnitz, Brieg und Oels mit den Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg und der Krone Schweden in den Jahren 1633 – 1635, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthumskunde Schlesiens 3 (1860) 227 – 368, hier 351 – 365; C. Grünhagen, Geschichte Schlesiens, 2 Bde., Gotha 1884/86, II 267 – 274; G. Jaeckel, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Kampfes der evang. Schlesier um ihre Religionsfreiheit. Teil V, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte N. F. 42 (1963) 25 – 49; K. Engelbert, Das Bistum Breslau im Dreißigjährigen Kriege, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 23 (1965) 85 – 148; 24 (1966) 127 – 181; 25 (1967) 201 – 251, hier 227; L. Petry, Politische Geschichte unter den Habsburgern, in: L. Petry/J. J. Menzel (Hrsg.), Geschichte Schlesiens II. Die Habsburgerzeit 1526 – 1740, Darmstadt 1973, 1 – 135, hier 85 f.; W. Marschall, Geschichte des Bistums Breslau, Stuttgart 1980, 85. 58
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schaften, die Kaiser,60 König und die katholischen geistlichen und weltlichen Fürsten unmittelbar besaßen, behielt der Kaiser für sich (und seine Erben und Nachkommen) das Recht vor, eine Religionsänderung vorzunehmen. Wie die Verhältnisse lagen, konnte dies nur Abschaffung des Protestantismus bedeuten. Wer sich dazu nicht bequemen wollte, der sollte binnen drei Jahren, gelegentlich auch binnen längerer Zeit, seine Habe verkaufen und abziehen, vorausgesetzt, daß er sich inzwischen still und friedlich verhalte und die Lasten des Landes mittrage. Für diese Territorien war also beabsichtigt, sie gänzlich zum katholischen Glauben zurückzuführen. Nun setzte auf dem Westfälischen Friedenskongreß eine beinahe pausenlose Offensive der Schweden und der protestantischen Reichsstände zugunsten der Anhänger der Augsburger Konfession in den habsburgischen Erbländern ein.61 Der Kaiser zeigte sich schon früh geneigt, zu der Zusage zu stehen, die er im Zusammenhang mit dem Prager Frieden für Schlesien gemacht hatte. Aber damit waren die Schweden und die Protestanten nicht zufrieden. Immer wieder drängten sie auf Erweiterung der lutherischen Religionsausübung in Schlesien selbst, aber auch in den übrigen Erblanden. Schrittweise wichen die kaiserlichen Unterhändler vor dem Druck zurück. Die endgültigen Bestimmungen des Westfälischen Friedens gingen daher, vor allem infolge der schwedischen Macht, über den Prager Frieden hinaus. Die schlesischen Fürsten Augsburger Konfession, nämlich die Herzöge in Brieg, Liegnitz,62 Münsterberg63 und Öls, behielten für ihr Land, die Stadt Breslau für sich die freie Übung des Augsburger Bekenntnisses (Art. V § 38 IPO). Den erwähnten schlesischen Fürsten und der Stadt Breslau wurde Religionsfreiheit ex gratia Caesarea et Regia eingeräumt. In den Herzogtümern Schlesiens, die unmittelbar der königlichen Kammer64 unterstanden, gestand der Kaiser zu, daß die protestantischen Untertanen wegen ihrer Religion nicht verpflichtet werden sollten, auszuwandern. Wenn sie freiwillig auswanderten, durften sie ihre liegenden Güter behalten oder veräußern und erhielten im ersten Falle freien Zutritt für deren Beaufsichtigung und Besorgung (Art. V § 39 IPO). Für diese Gebiete entfiel also die emigratio necessaria. Das Recht der freiwilligen Auswanderung blieb den Einwohnern dagegen erhalten. Die lutherischen Bewohner der Erbfürstentümer sollten weiter berechtigt sein, außerhalb der Grenze den Gottesdienst ihrer Religion zu besuchen. Wie sich erweisen sollte, wurde diese Möglichkeit reichlich benutzt.65 60 Die kaiserlichen Erbfürstentümer waren Glogau, Sagan, Schweidnitz-Jauer, Münsterberg und Breslau, die Landeshauptstadt ausgenommen. 61 Koch II 504 f.; Marschall 86; Engelbert 250; Petry 90 – 93. 62 Wohlau wird hier nicht genannt, weil es zur damaligen Zeit mit Liegnitz verbunden war. 63 Das Fürstentum Münsterberg kam zu Unrecht in das Friedensinstrument, denn es stand unmittelbar unter der Krone. Der Herzog von Ols führte den Titel dieses Fürstentums, obwohl er es 1569 verloren hatte (Petry 92). 64 D. Willoweit, Kammergut, in: HRG II, 1978, 584 – 586. 65 H. Weczerka, Geschichtliche Einführung, in: H. Weczerka (Hrsg.), Schlesien (= Kröners Taschenausgabe 316), Stuttgart 1977, XVI–XCIII, hier LXIII.
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Den Protestanten der Erbfürstentümer wurde Gewissensfreiheit eingeräumt; sie wurden weder gezwungen, katholisch zu werden, noch auszuwandern. Man mußte sich schon damals sagen, daß mit dieser Bestimmung die Wiederherstellung der religiösen Einheit in Schlesien nicht möglich sein werde. Außerdem durften die Protestanten in Schweidnitz, Jauer und Glogau66 außerhalb der Mauern je eine Kirche für ihren Gottesdienst errichten (Art. V §§ 39 und 40 IPO). Daß die lutherischen Bewohner der Erbfürstentümer die devotio domestica pflegen durften, wurde in Art. V § 39 IPO nicht ausdrücklich gesagt, ergibt sich jedoch aus zwei Überlegungen. Einmal waren Duldung und Hausandacht in Art. V § 34 IPO eng miteinander verknüpft worden. Wer im Lande toleriert wurde oder gar, wie in den schlesischen Erbfürstentümern, nicht ausgewiesen werden durfte, dem stand damit ohne weiteres die devotio domestica zu.67 Zu demselben Ergebnis kommt man, wenn man bedenkt, daß die schlesischen Protestanten den Gottesdienst in der Nachbarschaft, also beispielsweise im Fürstentum Liegnitz, besuchen durften; wem das Auslaufen gewährt wurde, dem konnte die häusliche Andacht nicht verwehrt werden, denn ersteres war ein Mehr an Recht als das letztere.68 Auch Norbert Conrads geht davon aus, daß in den schlesischen Erbfürstentümern seit dem Westfälischen Frieden die ,,private“ Religionsausübung – gemeint ist die devotio domestica – erlaubt gewesen sei,69 und Dorothee von Velsen ist der Ansicht, daß den Bewohnern der Erbfürstentümer Gewissensfreiheit, also auch die Hausandacht, zugesichert wurde.70 Mit der Konzession, (drei) eigene Kirchen erbauen zu dürfen, war die Grenze der devotio domestica weit überschritten. Die Errichtung von Gottesdienstgebäuden war ein Element, das der öffentlichen oder wenigstens der privaten Religionsübung eigen war. In Art. V § 41 IPO hatten sich die Schweden und die Protestanten ausbedungen, daß es ihnen unbenommen sei, in Zukunft auf Erweiterung der Religionsfreiheit und der Religionsausübung in den schlesischen und den übrigen Territorien des Kaisers und des Hauses Österreich zu dringen. Sie haben diese Vorschrift sehr eifrig erfüllt, vor allem in der Altranstädter Konvention vom 1. September 1707.71 Art. I § 3 des Vertrages von Altranstädt setzte fest, daß in 66 Weczerka, Schlesien 493, 209 (Friedenskirche in Jauer mit Einzugsbereich bis zu 70 km), 131; G. Grundmann, Der evangelische Kirchenbau in Schlesien (= Bau- und Kunstdenkmäler des Deutschen Ostens Reihe C Schlesien 4), Frankfurt a. M. 1970, 18 – 21. 67 J. J. Moser, Von der Teutschen Religions-Verfassung, Frankfurt/Leipzig 1774, 132. 68 Vgl. A. Egler, Das Exercitium religionis catholicae publicum in Alzey 1685 – 1687, in: Alzeyer Geschichtsblätter 21 (1986) 56 – 70, hier 61. 69 N. Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707 – 1709 (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 8), Köln/ Wien 1971, 42. 70 D. v. Velsen, Die Gegenreformation in den Fürstentumern Liegnitz-Brieg-Wohlau. Ihre Vorgeschichte und ihre staatsrechtlichen Grundlagen (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 15), Leipzig 1931, 14. 71 Conrads 317 – 329; H .G. Schmidt, Die Konvention von Altranstedt vom 22. August 1707. Festschr. zur 200 Jahr-Feier (= Festschriften für Gustav-Adolf-Vereine 48), Leipzig 1907.
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den Orten, in denen die öffentliche Ausübung der Augsburgischen Religion verboten war, Hausgottesdienste gestattet waren. Es durften auch Hauslehrer gehalten und die Kinder nach auswärts in protestantische Schulen geschickt werden. Die Protestanten durften Amtshandlungen von protestantischen Geistlichen außerhalb der Orte, wo sie keine öffentliche Religionsübung hatten, vornehmen lassen. Zu Kranken durften protestantische Geistliche herbeigeholt werden.72 Auf seiten des Kaisers wurde die Altranstädter Konvention als mit dem Westfälischen Frieden in Übereinstimmung stehend angesehen.73 Allerdings wurde nicht übersehen, daß, was auf dem Westfälischen Frieden durch kaiserlichen Gnadenakt bewilligt worden war, nunmehr vertraglich ausbedungen wurde.74 Was dem Adel und seinen Untertanen in den schlesischen Erbfürstentümern zugestanden worden war (Art. V § 39 IPO), das sollte auch den gegenwärtig in Niederösterreich weilenden Adligen, nicht aber den Untertanen, zukommen. Das hieß: Sie durften nicht zur Emigration und zur Aufgabe ihrer Güter gezwungen werden, und sie durften den Gottesdienst in benachbarten Orten besuchen.75 Auch hier ist anzunehmen, daß die devotio domestica gestattet war. 2. In den verpfändeten und eingelösten Ländern Die Protestanten in Schlesien und die Adligen in Niederösterreich waren nicht die einzigen, die vor der Ausweisung durch den Landesherrn geschützt waren. Es kamen weitere Gruppen, ja ganze Länder dazu. Eine eigentümliche Erscheinung des öffentlichen Rechtes des alten Deutschen Reiches war die Möglichkeit, ein Land (oder eine Ortschaft) zu verpfänden.76 Die ständige Knappheit an Geld veranlaßte viele Landesherren, Territorien oder Teile derselben an andere Personen oder Körperschaften als Pfand für den Empfang von Kapitalien zu übertragen. Die Verpfändungen dauerten nicht selten über Jahrzehnte, ja manchmal über Jahrhunderte. Verpfändete Länder (oder Orte) konnten nun wieder eingelöst werden. Damit änderte sich u. U. die Religion der Obrigkeit. Für diesen Fall wurde eine Schutzvorschrift in den Westfälischen Frieden aufgenommen. Wenn Länder, die verpfändet waren, eingelöst wurden, durfte der Einlöser zwar die öffentliche Ausübung 72
R. Hoppe, Der Vertrag von Altranstädt 1707, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte N. F. 36 (1957) 124 – 149, hier 136; K. Engelbert, Die Konvention von Altranstädt 1707, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 16 (1958) 243 – 264, hier 263. 73 Conrads 44 – 46. 74 Ebd. 46 f. 75 E. Tomek, Kirchengeschichte Österreichs, II Innsbruck/Wien 1949, 526 f.; Gr. Mecenseffy, Geschichte des Protestantismus in Österreich, Graz/Köln 1956, 181; K. Gutkas, Geschichte des Landes Niederösterreich, St. Pölten 51974, 250; I. Gampl, Staat – Kirche – Individuum in der Rechtsgeschichte Österreichs zwischen Reformation und Revolution (= Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten 15), Wien/Köln/Graz 1984, 27; K. Gutkas, Geschichte Niederösterreichs, München 1984, 139. 76 G. Landwehr, Pfandschaft, in: HRG III, 1984, 1688 – 1693.
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seiner eigenen Religion einführen, aber nicht die fremdkonfessionellen Untertanen zur Auswanderung oder zur Aufgabe ihrer Religion zwingen (Art. V § 27 IPO). Doch durfte er die öffentliche Übung der bisherigen Religion durch Vertrag mit den Untertanen aufheben. Anders stand es um die private Religionsübung; sie war für den einlösenden Landesherrn intangibel. In Gebieten, deren Besitz streitig war, sollte bis zum endgültigen Austrag des Streites der Herr, der im Jahre 1624 den Besitz hatte, bezüglich der öffentlichen Religionsübung dieselben Rechte besitzen wie die übrigen Landesherren; aber er durfte nicht, solange der Streit nicht entschieden war, Untertanen, die zu einer anderen Religion übertraten, aus dem Lande treiben (Art. V § 43 IPO). Das ius emigrandi wurde hier für die Dauer des Streites suspendiert. An den Orten, die der Landeshoheit mehrerer Reichsstände verschiedener Konfession unterstanden,77 mußten die Religionsverhältnisse in dem Zustand bleiben, in dem sie am 1. Januar 1624 gewesen waren (Art. V § 43 IPO). Hier war also wieder der Normaltag entscheidend. Die religiöse Lage konnte an diesem Tag so gewesen sein, daß sie die Ausweisung verbot, weil z. B. beide Religionen öffentliche oder private Religionsausübung besaßen.
Würdigung Der Westfälische Frieden enthielt eine differenzierte, teilweise komplizierte Regelung des ius emigrandi. Er schraubte es einmal zurück auf jene Dissidenten, die im Normaljahr weder öffentliche noch private Religionsübung besessen hatten. Wem diese Religionsübung zukam, der durfte aus religiösen Gründen weder auswandern noch ausgewiesen werden. Zum anderen suchte er die freiwillig oder gezwungen Auswandernden in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht möglichst zu schonen und zu sichern. Die Bleibefrist und das Behaltendürfen der Güter sind markante Punkte dieser Regelung. Schließlich beschränkte er die Ausweisung in möglichst weitem Umfang. Es gab Ausnahmen von der emigratio necessaria und Suspendierungen derselben. Ein Kern des ius expellendi blieb jedoch erhalten. Er betraf jene, denen das Normaljahr nicht zu Hilfe kam oder die erst nach Veröffentlichung des Friedens ihre Religion wechselten. Ihnen durfte der Abzug auferlegt werden, und zwar war dazu lediglich das abweichende Bekenntnis die Voraussetzung, nicht etwa ein gegen die Untertanenpflichten verstoßendes Verhalten. Im ganzen gesehen war das beneficium emigrandi wohltätig sowohl für den einzelnen wie für die Gemeinschaft. Es diente der Gewissensfreiheit, und es wirkte friedensfördernd und konfliktvermeidend.
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D. Willoweit, Kondominat, in: HRG II, 1978, 997 – 999.
Die §§ 37 und 65 des Reichsdeputationshauptschlusses Vorbemerkungen Der Reichsdeputationshauptschluß ist eine reichsgesetzliche Ausführungsbestimmung des Friedens von Lunéville, den der Kaiser am 9. Februar 1801 mit Frankreich geschlossen hatte. Darin trat Kaiser Franz II. das ganze linke Rheinufer namens des Deutschen Reiches an Frankreich ab. Die erblichen deutschen Fürsten sollten nach Art. 7 des Friedensvertrages für die linksrheinischen Verluste eine Entschädigung im Schoße des Reiches erhalten, wobei von vornherein an die geistlichen Gebiete und die Reichsstädte gedacht war. Zur Durchführung der Entschädigung durch Säkularisation wurde eine Reichsdeputation einberufen, deren Verhandlungen am 24. August 1802 in Regensburg begannen. In der sechsundvierzigsten Sitzung am 25. Februar 1803 wurde der Reichsdeputationshauptschluß (= RDHS) angenommen. Er erwuchs durch das Reichsgutachten der Reichskollegien vom 24. März 1803 und das kaiserliche Ratifikations-Kommissionsdekret vom 27. April 1803 formell als Reichsgrundgesetz in Rechtskraft. Die außerordentliche Reichsdeputation, die durch Reichsgutachten vom 2. Oktober 1801 bestellt wurde, bestand aus vier Mitgliedern des Kurfürstenkollegiums, Kurmainz, Kurböhmen, Kursachsen und Kurbrandenburg, und vier Mitgliedern des Fürstenkollegiums, Bayern, Württemberg, Hessen-Kassel und dem Hoch- und Deutschmeister. Sie handelte unter einem doppelten Zwang: dem der sog. vermittelnden Mächte, Frankreich und Rußland, und der eigenen Interessen mehrerer ihrer Mitglieder, die bereits im Einverständnis mit den vermittelnden Mächten durch Besetzung der für sie vorgesehenen Gebiete vollendete Tatsachen geschaffen hatten. Kurbrandenburg spielte in der Reichsdeputation die beherrschende Rolle – in steter Kollusion mit Frankreich –, Bayern, Württemberg und Hessen-Kassel stimmten regelmäßig mit ihm. Kursachsen allein war unparteiisch. Kurmainz schwankte hin und her. Kurböhmen und der Hoch- und Deutschmeister standen meist allein. Die wesentlichen Teile des RDHS stellen materiell ein französisches Diktat dar. Die Minister der vermittelnden Mächte legten der Reichsdeputation in ihrer ersten Sitzung vom 24. August 1802 den ersten Entschädigungsplan vor, den diese in der
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dritten Sitzung vom 8. September 1802 im allgemeinen annahm1. Auf Grund der vielen eingelegten Reklamationen der deutschen Fürsten legten die Minister einen zweiten Entschädigungsplan, den sog. allgemeinen Plan vor, der von der Reichsdeputation in ihrer dreizehnten Sitzung vom 9. Oktober 1802 unverzüglich angenommen wurde2. Der in manchem veränderte zweite Plan wurde mit Beifügung der Gegenstände, die der Reichsdeputation zur Bestimmung überlassen waren, als dritter Entschädigungsplan in der dreißigsten Sitzung vom 23. November 1802 angenommen und von den Ministern der vermittelnden Mächte genehmigt3. Die wegen der Pariser Konvention und der Beschwerden der Schweiz erforderliche neue Fassung machte einen vierten Entschädigungsplan notwendig, der in der sechsundvierzigsten Sitzung vom 25. Februar 1803 angenommen wurde4. Der RDHS erfaßt nicht alle kirchlichen Rechtsträger in gleicher Weise. Er steht unter zwei Grundgedanken: einerseits den Bestand und Güterbesitz jener Einrichtungen zu erhalten und zu gewährleisten, die unmittelbar der religiösen und karitativen Betreuung des Volkes dienen, anderseits jene Einrichtungen aufzuheben und zu enteignen, die nicht zu dem genannten Zwecke erforderlich erschienen. Von daher lassen sich drei Gruppen von kirchlichen Rechtsträgern unterscheiden, die jeweils verschieden behandelt wurden: die erste Gruppe wurde in ihrem Bestande und ihrem Güterbesitze erhalten, die zweite wurde enteignet und aufgehoben, die dritte wurde in ihrem Bestande gewährleistet, aber aufgehoben5.
I. § 65 RDHS 1. Entstehung der Bestimmung in den Verhandlungen der Reichsdeputation Über das Schicksal der frommen und milden Stiftungen, die kein Element der Kirchenverfassung bilden, hatten die beiden von den vermittelnden Ministern vorgelegten Entschädigungspläne I und II keine allgemeine und grundsätzliche Bestimmung enthalten. Diese Frage wurde erst durch den Subdelegaten des Hoch- und Deutschmeisters in einer bedeutsamen Rede auf der sechzehnten Sitzung der Reichsdeputation vom 16. Oktober 1802 angeschnitten. In seinen Ausführungen über die geistlichen Lande, welche ganz oder doch größtenteils mit den Residenz1 Protokoll der außerordentlichen Reichsdeputation zu Regensburg. 2 Bde. Regensburg 1803, I S. 3 ff., 45 ff.; Beilagen zu dem Protokolle. 4 Bde. Regensburg 1803, I S. 19 ff. 2 Protokoll I S. 221 ff.; Beilagen II S. 19 ff. 3 Protokoll II S. 566 ff. 4 Protokoll II S. 833 ff. 5 Vgl. Eugen Isele, Die Säkularisation des Bistums Konstanz und die Reorganisation des Bistums Basel, dargestellt mit besonderer Berücksichtigung der Entstehung und Rechtsnatur des Diözesanfonds: Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, hrsg. von Ulrich Lampert, Bd. 3, Basel und Freiburg 1933, S. 63.
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städten der bisherigen geistlichen Regenten an einen weltlichen Regenten übergehen, sprach er die Überzeugung aus, ,,daß die milden Stiftungen, z. B. Armen-, Witwen- und Waisen-Anstalten, sie seien auf Sozietäts-, Kameral- oder Steuerfond gegründet, Universitäten, geist- und weltliche Seminarien, da sie zum öffentlichen Wohl gestiftet sind, ohnehin außer aller Vermutung liegen, daß einer oder der andere der neuen Landesherren diese in einer anderen Absicht, als solche zu verbessern, weislos berühren, vielmehr solche unter der sichersten Aufsicht und Administration, wobei sich die landesherrliche Oberaufsicht von selbsten verstehe, belassen werde“6. Kurbrandenburg stimmte in der achtzehnten Sitzung am 21. Oktober 1802 diesen Ausführungen zu und bemerkte, daß fromme und milde Stiftungen ,,wie jedes Privateigentum heilig gehalten werden“ müßten, ,,so ungezweifelt sie auch unter der landesherrlichen Oberaufsicht und Leitung stünden“7. Der letzte Punkt wurde auch von Bayern in der neunzehnten Sitzung vom 23. Oktober 1802 betont8. Württemberg trat ihm bei9. Im Conclusum der zwanzigsten Sitzung vom 26. Oktober 180210 lag dann schon der Text in der Fassung vor, wie er am 27. Oktober 1802 an den kaiserlichen Bevollmächtigten abgesandt11, von diesem gebilligt12, in den Hauptschluß vom 23. November 1802 übergegangen13 und vom RDHS vom 25. Februar 1803 endgültig übernommen wurde14. 2. Der Inhalt des § 65 RDHS Der Wortlaut des § 65 ist: ,,Fromme und milde Stiftungen sind wie jedes Privateigentum zu konservieren, doch so, daß sie der landesherrlichen Aufsicht und Leitung untergeben bleiben“. Der Sinn dieser Bestimmung kann nach der Geschichte ihrer Entstehung nicht zweifelhaft sein. (1) Die frommen und milden Stiftungen gehören zu jener Gruppe von kirchlichen Rechtsträgern, die sowohl in ihrem Bestande gewährleistet als auch in ihrem Güterbesitze erhalten werden. Ihr Vermögen steht im Eigentum der betreffenden juristischen Person. Als Privateigentum ist es unantastbar. (2) Es war nach der Absicht des Initiators dieser Bestimmung, des Subdelegierten des Hoch- und Deutschmeisters, grundsätzlich nicht daran gedacht, in die stiftungsmäßige Verfassung dieser Institute einzugreifen. Sie waren ,,unter der sichersten Aufsicht und Administration“ zu belassen. Daß damit die Stiftungsorgane 6
Protokoll I S. 286 f. Protokoll I S. 355. 8 Protokoll I S. 375. 9 Protokoll I S. 387. 10 Protokoll I S. 421. 11 Beilagen II S. 270 ff., 276. 12 Beilagen II S. 281 ff. 13 Protokoll II S. 611. 14 Protokoll II S. 922. 7
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gemeint waren, erhellt aus der Beifügung, daß sich die landesherrliche Oberaufsicht von selbst verstehe. (3) Ungeachtet der Erhaltung der stiftungsgemäßen Organe und der stiftungsgemäßen Verwendung des Vermögens bleiben die frommen und milden Stiftungen der Aufsicht und Leitung des Landesherren untergeben. Es wird damit nichts Neues eingeführt, insofern die Stiftungen auch bisher unter landesherrlicher Aufsicht standen. Die Bemerkung, daß die frommen und milden Stiftungen der landesherrlichen Aufsicht untergeben bleiben, erschien deswegen als notwendig, weil diese Kontrolle durch einen weltlichen Landesherren auch einem Zeitalter, das ,,sich an den Gedanken der Säkularisation gewöhnt hatte und am liebsten mit den kirchlichen Gütern auch die von der Kirche bisher ausgeübten Funktionen auf den weltlichen Staat übertragen, also ,säkularisiert‘ hätte“15, nicht ganz so selbstverständlich erschien wie die Aufsicht durch einen geistlichen Landesherren. Es wird mithin dadurch sichergestellt, daß die neuen – weltlichen – Landesherren beanspruchten, in die als Ausfluß der Landeshoheit angesehene Oberaufsicht über die Stiftungen, die durch die Absetzung der geistlichen Regenten frei geworden war, einzurücken. 3. Auswirkung in der Geschichte Die Schwäche des Reichs und seine bald folgende Auflösung verhinderten eine wirksame Kontrolle der Ausführung des RDHS im Ganzen und des § 65 im besonderen. Obwohl man allerorts die Unantastbarkeit der frommen und milden Stiftungen grundsätzlich anerkannte16, kam es doch zu Übergriffen der Vollzugsorgane17. Vor allem die Inkameration, d. i. die Einziehung des Vermögens frommer und milder Stiftungen zu der landesherrlichen Kammer ohne förmliche Aufhebung oder Verwandlung seiner bisherigen Eigentumsqualität, gefährdete das Gut selbst und machte die Unterhaltung der Stiftung unsicher18. Die bewegte Klage des Konstanzer Generalvikars Frhr. von Wessenberg auf dem Wiener Kongress in seiner Denkschrift vom 27. November 1814, jene frommen und milden Stiftungen, deren Erhaltung der § 65 RDHS angeordnet hatte, seien seither z. T. willkürlich ihrem Zweck entfremdet und ihrer stiftungsgemäßen Verwaltung entzogen worden, und seine Forderung, eine Bestimmung in die Bundesakte aufzunehmen, daß alle frommen und milden Stiftungen wiederhergestellt, für ihren Zweck erhalten und in 15 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. IV: Die religiösen Kräfte. Freiburg i. Br. 1937, S. 6. 16 Vgl. für Preußen: z. B. Wilhelm Richter, Preußen und die Paderborner Klöster und Stifter 1802 – 1806. Paderborn 1905, S. 35; für Bayern: z. B. Edith Ringelmann, Die Säkularisation des Hochstifts und des Domkapitels Passau. Passau 1939, S. 53. 17 Maximilian Pfeiffer, Beiträge zur Geschichte der Säcularisation in Bamberg. Bamberg 1907, S. 74. 18 Johann Ludwig Klüber, Übersicht der diplomatischen Verhandlungen des Wiener Congresses überhaupt und insonderheit über wichtige Angelegenheiten des teutschen Bundes. 3 Abt. Frankfurt a.M. 1816, III S. 416 f.
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ihren stiftungsmäßigen Verwaltungsrechten unbehelligt belassen werden müßten19, verhallten ungehört. Indes hielt es z. B. der Rat der Reichsstadt Frankfurt a. M. auf den Vorschlag seines Syndikus Seeger, eines scharfsinnigen Juristen von ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, für angebracht, die Verhältnisse der katholischen Wohlfahrtspflege, also der drei bedeutenden kirchlichen Armenstiftungen, unverändert zu lassen und nur eine weltliche Oberaufsicht einzuführen, die allerdings von der größten Stiftung, dem Privat-Armeninstitut, als unzulässig mit Erfolg abgewiesen wurde20.
II. § 37 RDHS 1. Entstehung aus dem Plan der vermittelnden Mächte und den Verhandlungen der Reichsdeputation Die Bestimmungen des § 37 RDHS gehen in ihrem ersten Teil zurück auf den ersten Entschädigungsplan, wo sie unter Nr. 3 der considérations générales erscheinen, und finden sich auch im zweiten Entschädigungsplan als Ziffer 3 in § 3421. Der Text ist beidemale gleich mit geringen grammatikalischen Veränderungen. Er lautet nach dem zweiten Entschädigungsplan: ,,Les biens et revenus, appartenans aux Hôpitaux, Fabriques, Universités, Colleges, et autres Fondations pieuses, comme aussi ceux des Communes de l’une des deux rives du Rhin situés sur l’autre rive, devront en demeurer distraits, et mis à la disposition des Gouvernemens respectifs“. Die Trennung der betreffenden Einrichtungen von ihren Gütern und Einkünften auf der anderen Seite des Rheins war eine Folge des Friedensschlusses von Lunéville, ihre Enteignung dagegen ein arger Übergriff. Frankreich kam mit dieser Gewalttat übrigens auch den Wünschen deutscher Fürsten entgegen22. Dennoch erhob sich kein allgemeiner Widerspruch. Allein Kurmainz brachte einen Zusatzantrag ein. Die Kurfürstlich-Mainzische Universität war für die kurfürstlichen Lande beider Rheinseiten bestimmt und hatte ihre Güter und Einkünfte auf beiden Rheinseiten. Während des Krieges ging ein Teil der Professoren aller Fakultäten auf die rechte Rheinseite und setzte in Aschaffenburg die Vorlesungen fort; sie bezogen die Einkünfte der rechten Rheinseite. Der andere Teil blieb in Mainz und erhielt dort den Lehrbetrieb aufrecht; er bezog die Einkünfte der linken Rheinseite. Der Subdeligierte stellte nun den Antrag, daß der Universität zu Aschaffenburg die auf der rechten Rheinseite verbliebenen Güter, wo immer sie auch liegen mögen, ganz erhalten bleiben sollten, daß mithin unter den Gouverne19
Klüber III S. 432 ff. Ernst Georg Gerhard, Geschichte der Säkularisation in Frankfurt a. M.: Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 69. Heft, Paderborn 1935, S. 127 ff. 21 Beilagen 1 S. 29; II S. 41. 22 Vgl. Heinrich Reichert, Studien zur Säkularisation in Hessen-Darmstadt. Erster Teil: Die Säkularisation der Kurmainzer Ämter 1802 – 1803. Mainz 1927, S. 73 und Anm. 7. 20
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mens respectifs der Landesherr dieser Universität verstanden werden müsse23. Kurbrandenburg gab in der sechzehnten Sitzung vom 16. Oktober 1802 seine Zustimmung zu dem kurmainzischen Antrag zu erkennen, denn dieser Wunsch ,,sei an sich so billig und scheine den gerechten Gesinnungen der vermittelnden Mächte so sehr zu entsprechen, daß man von diesseits keinen Anstand nehme, auf eine Kommunikation zu näherer Bestimmung dieses Grundsatzes mit den vermittelnden Mächten anzutragen“24. Nachdem auch die Vertreter der anderen Mächte dem brandenburgischen Vorschlag beigetreten waren, nahm man in das Conclusum II der sechzehnten Sitzung für die Minister der vermittelnden Mächte die Bemerkung auf: ,,So scheine bei dem 3. Prinzip in Ansehung derjenigen litterarischen Institute, welche zwar auf einer Rheinseite etablirt, jedoch aber für die Lande der beiden Rheinseiten bestimmt gewesen und auch auf beiden Rheinseiten Güter und Einkünfte gehabt hätten, billig zu sein, daß bei denselben, wenn sie auf der rechten Rheinseite fortbestehen, unter den Worten: Gouvernemens respectifs ihr Landesherr und der Ort, wo solche Institute wirklich fortgesetzt seien, verstanden werden“25. Der kaiserliche Bevollmächtigte gab bereits am 18. Oktober 1802 seine Zustimmung26. Die Minister Frankreichs und Rußlands erklärten indes in der gemeinsamen Note vom 19. Oktober 1802: ,,Par les mots: Gouvernemens respectifs à la fin du 3eme principe § 34 les Gouvernemens médiateurs ont entendu, quant à la droite du Rhin, les Gouvernemens locaux. Ils ont pensé que s‘il se trouvait des objets qui ne fussent pas dans le territoire des Princes ayant eu droit à des indemnités, il en serait disposé par tel réglement que la Députation jugerait convenable“27. Damit waren – nach der Absicht der vermittelnden Mächte – die Güter und Einkünfte der in Frage stehenden Institute, die in Gebieten lagen, deren Landesherren ein Recht auf Entschädigung hatten, der Disposition dieser Landesherren überlassen, jene, die nicht in solchen Gebieten lagen, gemäß einer von der Reichsdeputation zu treffenden Regelung zu verwenden. Der unparteiische Vertreter Kursachsens versuchte jedoch in der achtzehnten Sitzung vom 21. Oktober 1802 dem Recht zum Siege zu verhelfen. Er ging davon aus, daß § 34 n. 3 des Entschädigungsplanes die Scheidung der Pertinenzgüter und Gefälle zwischen Frankreich und Deutschland bestimme. Davon abgesehen, gelte der Grundsatz, daß die Säkularisation durch Entschädigung dem Rechte eines Dritten in dem Entschädigungslande nicht nachteilig sein könne. Die Einschränkung des Deputationsantrags durch die Minister der vermittelnden Mächte scheine daher diese Auslegung zu fordern, ,,daß diejenigen litterarischen Institute, welche diesseits noch fortwähren, auch ihre in den säkularisierten sowohl als anderen Landen besitzende Güter und Renten nach wie vor behalten. Denn da diese Kor23
Protokoll I S. 257 f. Protokoll I S. 296. 25 Protokoll I S. 304; Beilagen II S. 127. 26 Beilagen II S. 129 f. 27 Beilagen II S. 137. 24
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porationen selbst der Säkularisation nicht unterworfen sind, so würde es ungerecht sein, den entschädigten Fürsten auch jene Güter und Renten als einen unerwarteten zufälligen Zuwachs zuzueignen, welche ihre vorige weltliche Bestimmung behalten sollen“. Man würde sonst solchen Korporationen, die keine Säkularisations- und Entschädigungsobjekte wären, ihr nötiges Privateigentum diesseits des Rheins nehmen28. Der kursächsische Antrag setzt voraus, daß jene Güter und Gefälle weiterbestehender litterarischer Institute diesen selbstverständlich erhalten bleiben, die in Gebieten liegen, deren Landesherr keinen Anspruch auf Entschädigung für linksrheinische Verluste hat. Er fordert sodann, daß die Güter und Gefälle der weiterbestehenden litterarischen Institute diesen auch dann erhalten bleiben, wenn sie in Gebieten liegen, deren Landesherren ein Recht auf Entschädigung für linksrheinische Verluste haben, und zwar sowohl wenn sie in den alten Gebieten dieser Landesherren liegen oder eingehen als auch wenn sie in den durch die Säkularisation zur Entschädigung erworbenen Gebieten liegen oder eingehen. Kurbrandenburg fand sich indes nicht einmal zu einem Kompromiß bereit, etwa derart, daß den litterarischen Instituten ihre Güter und Gefälle in den alten Gebieten zur Entschädigung berechtigter Landesherren belassen wurden, sondern stellte sich voll und ganz hinter die Note der Minister der vermittelnden Mächte; es sei ,,durch die in der französisch-russischen Note enthaltene Auslegung der Worte: Gouvernemens respectifs … entschieden, daß den Gouvernemens derjenigen Orte auf der rechten Rheinseite, worinnen Mainzer Universitätsgüter gelegen, solche zugehören sollen. Da es aber der Disposition der Deputation zugleich überlassen sei, zu bestimmen, wem diejenigen Güter und Gefälle der Mainzer Universität zukommen sollen, welche in dem Lande eines zu keiner Entschädigung berechtigten Fürsten liegen, so scheine Recht und Billigkeit zu erfordern, von Deputations wegen festzusetzen, daß solche Güter, Gefälle oder Kapitalien der Mainzer Universität, da sie nicht aufgehoben werden, verbleiben müßten“29. Bayern, Württemberg, Hessen-Kassel und Kurmainz schlossen sich Kurbrandenburg an30, der Hoch- und Deutschmeister trat dem kursächsischen Vorbringen bei31, Kurböhmen legte eine allgemeine Verwahrung gegen alle Vorschläge der Entschädigungspläne ein, die ohne Rücksicht auf die österreichischen Eigentums- und Landeshoheitsrechte entworfen worden seien32. In dem Conclusum I der achtzehnten Sitzung wurde vorgeschlagen, festzusetzen, ,,daß einem solchen litterarischen Institute seine Güter und Einkünfte, die es noch in andern Landen, als welche den zur Entschädigung berechtigten Herren gehörten, besitze, nicht entzogen werden möchten“33. In dem am 23. November 28
Protokoll I S. 334. Protokoll I S. 335. 30 Protokoll I S. 341, 341 f., 343, 345. 31 Protokoll I S. 341. 32 Protokoll I S. 346. 33 Protokoll I S. 347. 29
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1802 in der dreißigsten Sitzung verlesenen Hauptschlusse war § 37 bereits in der endgültigen Fassung34. So blieb es im RDHS vom 25. Februar 180335. 2. Der Inhalt des § 37 RDHS Der Wortlaut des § 37 ist in deutscher und französischer Sprache der folgende: ,,Die auf der einen Rheinseite befindlichen Güter und Einkünfte, welche Spitälern, Fabriken, Universitäten, Kollegien und andern frommen Stiftungen wie auch Gemeinden der andern Rheinseite gehörten, bleiben davon getrennt und der Disposition der respektiven Regierungen überlassen, d. h. so viel die rechte Rheinseite betrifft der Regierung derjenigen Orte, wo sie liegen oder erhoben werden. Jedoch sollen die Güter und Einkünfte solcher litterarischer Anstalten, die ehemals beiden Rheinseiten gemeinschaftlich waren und dermalen auf dem rechten Rheinufer fortgesetzt werden, diesen auf der rechten Rheinseite fortdaurenden (!) Anstalten verbleiben, insofern sie nicht in Gebieten entschädigter Fürsten liegen.“ ,,Les biens et revenus appartenans aux hôpitaux, fabriques, universités, Collèges, et autres fondations pieuses, comme aussi ceux des communes de l’une des deux rives du Rhin situés sur l’autre rive, doivent en demeurer distraits, et sont mis à la disposition des Gouvernemens locaux; et il est entendu, que les biens et revenus appartenans aux institutions littéraires précedement communes aux deux rives, et aujourd’hui continuées à la droite, lesquels ne sont pas situés dans le territoire des Princes indemnisés, resteront attachés aux dites institutions continuées à la droite du Rhin.“
(1) Zum Verständnis des § 37 RDHS ist davon auszugehen, daß die Lunéviller Grenzziehung nicht nur zusammengehörige Gebiete und Stämme auseinanderriß, sondern auch Körperschaften, Anstalten und Stiftungen auf der einen Seite des Rheins von ihren Besitzungen und Einkünften trennte, soweit diese auf der anderen Seite des Rheins lagen. Dadurch wurde nicht nur auf dem ganzen linken Rheinufer die Landeshoheit der französischen Republik begründet, sondern es wurden in der Folge auch erhebliche Umwälzungen in den Eigentumsverhältnissen hervorgerufen. (2) In den Fällen einer solchen Trennung durch die Grenzziehung wird durch § 37 RDHS bestimmt, daß die Trennung eine endgültige sein soll (bleiben davon getrennt – doivent en demeurer distraits). Die Spitäler, Kirchenfabriken, Universitäten, Kollegien und andern frommen Stiftungen, aber auch die bürgerlichen Gemeinden der rechten Rheinseite verloren alle Rechte auf der linken Rheinseite und umgekehrt. Diese Trennung war nicht nur eine völkerrechtliche durch die Staatsgrenze zwischen der französischen Republik und dem Deutschen Reich, sondern auch eine privatrechtliche, d. h. die juristischen Personen verloren jeden Anspruch auf jene Güter und Einkünfte, die ihnen bisher auf der anderen Seite des Rheins zustanden. 34
Protokoll II S. 600 f. Protokoll II S. 906. Zu diesen Verhandlungen ist auch zu vergleichen: Adam Christian Caspari, Der Deputations-Receß mit historischen, geographischen und statistischen Erläuterungen und einer Vergleichungs-Tafel. 2 Teile. Hamburg 1803, I S. 206 und II S. 281. 35
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(3) Die Güter und Einkünfte auf der nunmehr zu einem fremden Staat gehörigen Seite des Rheins wurden der Disposition der betreffenden Regierungen überlassen. Darüber, wer unter diesen Regierungen zu verstehen sei, konnte sich im französischen Einheitsstaat kein Zweifel erheben, wohl aber im Deutschen Reich, das in zahlreiche Staaten zerfiel – auch noch nach durchgeführter Säkularisation. Es wurde darum der – ursprünglich französisch projektierte – Begriff der Gouvernemens respectifs dahin präzisiert, daß darunter auf dem rechten Rheinufer die Gouvernemens locaux zu verstehen seien, d. i. die Regierungen jener Orte, wo die Güter liegen oder die Einkünfte erhoben werden (wie allein der deutsche Text erläuternd hinzufügt). Damit war klargestellt, daß die Güter und Einkünfte der fraglichen Institute zum Dispositionsgut gehören sollten. (4) Da die Disposition, d. i. die Verfügungsgewalt der Anfallberechtigten in keiner Weise, auch nicht durch eine Zweckbestimmung beschränkt ist, ist eine unbelastete und bedingungslose Übergabe anzunehmen. Es blieb den neuen Landesherren unbenommen, die Güter und Einkünfte den betreffenden Instituten zu treuer Hand zu bewahren, es blieb ihnen auch unbenommen, sie in ihr Eigentum überzuführen (vgl. dazu § 42 RDHS). Es ist jedoch zu betonen, daß auch im zweiten Falle der Bestand der juristischen Personen selbst nicht unmittelbar angegriffen wurde. § 37 RDHS verfügt keine Aufhebung von Spitälern, Fabriken, Universitäten, Kollegien und anderen frommen Stiftungen oder gar von bürgerlichen Gemeinden. Sie gingen nur, falls der neue Landesherr von seiner Verfügungsmacht Gebrauch machte, jener Güter und Einkünfte verlustig, die auf der anderen Seite des Rheins lagen. (5) Eine Ausnahme von dieser Regel wurde nur für eine bestimmte Art juristischer Personen gemacht, die litterarischen Anstalten, die ehemals den wissenschaftlichen Bedürfnissen der Bewohner beider Seiten des Rheins dienten und die nun auf dem rechten Rheinufer fortgeführt wurden. Die Güter und Einkünfte auf dem linken Rheinufer waren auch für sie verloren. Aber von den Gütern und Einkünften auf dem rechten Rheinufer sollte ihnen ein Teil verbleiben, nämlich jener Teil, der in den Landen von Fürsten lag, die nicht wegen erlittener Verluste auf dem linken Rheinufer entschädigt wurden. Der andere Teil ihrer Güter und Einkünfte, der in den Landen von Fürsten lag, die entschädigt wurden, war restlos verloren, ob er nun in den alten Landen dieser Fürsten oder in den neuerworbenen Landen lag.
III. Das Verhältnis von § 65 RDHS zu § 37 RDHS 1. Zwischen den beiden §§ 37 und 65 RDHS bestehen erhebliche Unterschiede (1) § 65 RDHS wurde von einem deutschen Fürsten konzipiert und liegt auch nur in deutscher Sprache als einziger authentischer vor. § 37 RDHS wurde in seinem Kern von den Ministern der vermittelnden Mächte konzipiert, der französische Text
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Religionsrecht im 17. und 19. Jahrhundert
jedenfalls seines ersten Teils ist der originelle Text und sowohl der französische als auch der deutsche Text sind authentisch. (2) § 65 RDHS ist von der gleichen Sorge für die religiöse und karitative Versorgung des Volkes und von der gleichen Achtung vor dem Privateigentum eingegeben wie der inhaltlich verwandte und in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang verhandelte § 63 RDHS. § 37 RDHS schreitet über Bedenken rechtlicher und moralischer Art hinweg, konserviert nicht das Privateigentum und beraubt die rechtsrheinischen frommen und milden Stiftungen möglicherweise aller oder eines Teiles ihrer Subsistenzmittel. (3) § 65 RDHS betrifft nur fromme und milde Stiftungen, also grundsätzlich nur kirchliche juristische Personen. § 37 RDHS betrifft nicht nur fromme und milde Stiftungen, sondern auch bürgerliche (Zivil-) Gemeinden. § 65 RDHS betrifft die frommen und milden Stiftungen als solche samt ihrem Zubehör, § 37 RDHS nur die Güter und Einkünfte frommer und milder Stiftungen bzw. der Gemeinden. (4) § 65 RDHS umfaßt alle frommen und milden Stiftungen innerhalb des Reichsgebiets ohne Ausnahme. § 37 RDHS beschäftigt sich nur mit den Gütern und Einkünften jener frommen und milden Stiftungen, die durch den Friedensschluß von 1801 von ihrem Rechtsträger durch die Grenze getrennt wurden. (5) § 65 RDHS will unter den frommen und milden Stiftungen nicht das Pfründengut und Kirchenstiftungsgut sowie die Schulfonds begreifen, für die bereits in § 63 RDHS eine Garantie gegeben wurde. § 37 umfaßt auch das Fabrikgut und Unterrichtsanstalten. (6) § 65 RDHS steht im Einklang mit dem verwandten § 63 RDHS. Die beiden §§ 65 und 63 ergänzen sich. § 37 RDHS weicht von beiden §§ ab und stellt eine lex specialis gegenüber der lex generalis dar. (7) § 65 RDHS unterwirft die frommen und milden Stiftungen der landesherrlichen Aufsicht und Leitung, die aber kein Verfügungsrecht über diese beinhalten. § 37 RDHS überläßt die Güter und Einkünfte der betroffenen frommen und milden Stiftungen der Disposition der Landesherren, womit ein Verfügungsrecht über diese Güter und Einkünfte übertragen wird. 2. Trotz der erwähnten Unterschiede bestehen zwischen den beiden §§ gewisse Ähnlichkeiten36 (1) Sowohl § 65 wie § 37 RDHS tasten nicht den Bestand der frommen und milden Stiftungen an, und zwar § 65 in keiner Weise, § 37 jedenfalls nicht unmit36 Die ,,Gründe, wodurch die ab Seiten der Reichsgräflich-Wolfegg- und Waldseeischen Territorialherrschaft am 9. Febr. 1803 geschehene Besitznahme der in Hochderselben Territorien gelegenen bisher mit vormals Reichsstift-Rothischen amoviblen Klostergeistlichen besetzten Pfarreien und derselben Pfarrei-Einkünften, auch des juris Patronatus darüber, gerechtfertigt wird“ (Beilagen IV S. 473 ff.) überschätzen die Ähnlichkeit zwischen § 65 und § 37 RDHS und übersehen den fundamentalen Unterschied zwischen Disposition auf der
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telbar. § 65 konserviert alle frommen und milden Stiftungen ohne Einschränkung sowohl in ihrem Bestande wie in ihrem Güterbesitze. § 37 setzt das Weiterbestehen der frommen und milden Stiftungen gleichfalls voraus und trifft nur Bestimmungen über die Güter und Einkünfte der Stiftungen, die durch die Grenzziehung nunmehr in verschiedenen Staatsgebieten liegen. (2) In bezug auf jene Güter und Einkünfte, die nicht in Gebieten entschädigter Fürsten liegen, werden die auf dem rechten Rheinufer weiterbestehenden ,,litterarischen Anstalten“ nach dem zweiten Teil des § 37 RDHS wie die frommen und milden Stiftungen des § 65 RDHS behandelt, d. h. sie werden wie jedes Privateigentum konserviert.
einen Seite und Aufsicht und Leitung auf der anderen Seite, wenn sie auch klar das Prinzip der Erhaltung der frommen und milden Stiftungen, insbesondere der Ortskirchengüter betonen.
Erstveröffentlichung der Beiträge in chronologischer Reihenfolge Die §§ 37 und 65 des Reichsdeputationshauptschlusses, in: ÖAKR 9, 1958, 165 – 176 Die Infamie im Decretum Gratiani, in: AfkKR 129, 1960, 389 – 408 Die Organisation der Erzdiözese Mainz unter Erzbischof Willigis, in: Willigis und sein Dom. Festschrift zur Jahrtausendfeier des Mainzer Domes 975 – 1975 (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 24), Mainz 1975, 31 – 92 Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30 – 43 IPO) auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: ZSavRG, KA 74, 1988, 436 – 494 Das ius emigrandi nach dem Westfälischen Friedensinstrument, in: Ecclesia militans. Studien zur Konzilien- und Reformationsgeschichte. Remigius Bäumer zum 70. Geburtstag gewidmet, hrsg. von W. Brandmüller, H. Immenkötter und E. Iserloh, Bd. II, Paderborn 1988, 607 – 636 Bemerkungen zu der Kirchenrechtswissenschaft um das Jahr 1000, in: AfkKR 158, 1989, 29 – 68 Das Lehrverfahren gegen Eutyches im November des Jahres 448. Zur Vorgeschichte des Konzils von Chalkedon, in: Annuarium Historiae Conciliorum 21, 1989, 1 – 61 Die Anfänge des Gerichtes des Heiligen Stuhles zu Mainz, in: Festschrift Alfred Wendehorst zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden, Schülern, hrsg. von J. Schneider und G. Rechter (= Jahrbuch für fränkische Landesforschung 52), Neustadt/Aisch 1992, 121 – 134 Die Anfänge des Generalvikars in der Erzdiözese Mainz, in: ZSavRG, KA 79, 1993, 189 – 231 Konservatoren, Konservatoren der Universitäten und Konservatoren der Universität Erfurt im hohen und späten Mittelalter, in: ZSavRG, KA 80, 1994, 99 – 248 Exekutoren der Provinzialstatuten im Erzbistum Mainz während des hohen und späten Mittelalters, in: De Iure Canonico Medii Aevi. Festschrift für Rudolf Weigand (= Studia Gratiana XXVII), 1996, 331 – 374 Der Kanonisationsprozeß Hildegards im 13. Jahrhundert, in: 900 Jahre Hildegard von Bingen. Neuere Untersuchungen und literarische Nachweise, hrsg. von W. Podehl (= Verzeichnisse und Schriften der Hessischen Landesbibliothek, Bd. 12), Wiesbaden 1998, 27 – 43 Der Instanzenzug in der Erzdiözese Mainz, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag, hrsg. von K. Breitsching und W. Rees (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 46), Berlin 2001, 103 – 131 Das Mainzer Metropolitangericht als Berufungsinstanz der Mainzer Kirchenprovinz im 17. und 18. Jahrhundert, in: „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“. Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, hrsg. von M. Ascheri, F. Ebel und M. Heckel u. a., Köln/Weimar/Wien 2003, 523 – 560
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Erstveröffentlichung der Beiträge
Das Ehehindernis der Impotenz in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert, in: Im Dienst von Kirche und Wissenschaft. Festschrift für Alfred E. Hierold zur Vollendung des 65. Lebensjahres, hrsg. von W. Rees, S. Demel und L. Müller (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 53), Berlin 2007, 259 – 289 Der Provikar vornehmlich in der Diözese Erzdiözese Mainz, in: ZSavRG, KA 94, 2008, 159 – 210